Boethius Christianus?: Transformationen der "Consolatio Philosophiae" in Mittelalter und Früher Neuzeit 9783110214161, 9783110214154

In the Middle Ages, Boethius’ “Consolatio Philosophiae” is one of the most influential philosophical works from Late Ant

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German Pages 443 Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung: Boethius Christianus?
Boezio ‚cristiano‘ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena
Boethius unter Druck
Le Rôle des gloses dans l’interprétation chrétienne des traductions françaises: Del Confortement de Philosofie et Le Livre de Boece de Consolacion
Die Erfurter Übersetzung der Consolatio Philosophiae (1465) im Spannungsfeld von Jenseitsfurcht und Sündenvergebung
Boethius für Laien
Boethius Christianus sive Platonicus.
Quae philosophia fuit, facta philologia est.
Das Zitat aus Boethius’ Philosophiae consolatio im Breisacher Weltgericht.
The Beast Within.
Hellwig – Vallinus – van Helmont/ Knorr von Rosenroth
Der Trost der Philosophie und die christliche Tugend der Demut
Boethius im Klassenzimmer
Das Bild vor Augen – den Text im Kopf. Das Rad der Fortuna als textsubstituierendes Zeichen
The Catalan Tradition of Boethius’s De consolatione: A New Hypothesis
Le origini letterarie e filosofiche delle versioni ebraiche del De Consolatione Philosophiae di Boezio
Backmatter
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Boethius Christianus?: Transformationen der "Consolatio Philosophiae" in Mittelalter und Früher Neuzeit
 9783110214161, 9783110214154

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Boethius Christianus?

Boethius Christianus? Transformationen der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von

Reinhold F. Glei Nicola Kaminski Franz Lebsanft

De Gruyter

ISBN 978-3-11-021415-4 e-ISBN 978-3-11-021416-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druckvorlage: De´sire´e Cremer, Bonn Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Boethius’ Consolatio Philosophiae als ‚epochales‘ Wandlungsphänomen ist Gegenstand einer seit 2005 gemeinsam an der Ruhr-Universität Bochum lehrenden Gruppe von Forschern aus der Latinistik, Germanistik und Romanistik, zu denen außer den drei Herausgebern noch Bernd Bastert und Manfred Eikelmann gehören. Auf Einladung dieser Gruppe, die auch mit eigenen Beiträgen in diesem Band vertreten ist, haben sich weitere Boethius-Forscher zusammengefunden, um das mehr als ein Jahrtausend umgreifende Thema des Boethius Christianus aus den einander ergänzenden Perspektiven verschiedener Philologien und der Kunstgeschichte zu beleuchten. Über die einzelnen Schwerpunkte unserer im Modus der Frage gehaltenen Auseinandersetzung damit gibt die Einleitung der drei Herausgeber nähere Auskunft. Allen, die am Zustandekommen dieses Bandes mitgewirkt haben – den Autoren und beratenden Fachkollegen, aber auch unserer Mitarbeiterin Désirée Cremer, die uns engagiert und geduldig bei der Drucklegung unterstützt hat, sowie dem Verlag, den wir für unser Projekt gewinnen konnten, insbesondere Prof. Dr. Heiko Hartmann und Florian Ruppenstein –, danken wir herzlich für die schöne Erfahrung fruchtbarer Zusammenarbeit. Bochum und Bonn, im Dezember 2009 Reinhold Glei, Nicola Kaminski, Franz Lebsanft

Inhalt Vorwort .................................................................................................................V REINHOLD F. GLEI / NICOLA KAMINSKI / FRANZ LEBSANFT Einleitung: Boethius Christianus?.......................................................................1 ANNA MARIA BABBI Boezio ‚cristiano‘ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena ......... 19 BERND BASTERT Boethius unter Druck. Die Consolatio Philosophiae in einer KobergerInkunabel von 1473 ........................................................................................... 35 GLYNNIS M. CROPP Le Rôle des gloses dans l’interprétation chrétienne des traductions françaises: Del Confortement de Philosofie et Le Livre de Boece de Consolacion .... 71 YVONNE DELLSPERGER Die Erfurter Übersetzung der Consolatio Philosophiae (1465) im Spannungsfeld von Jenseitsfurcht und Sündenvergebung .......................... 95 MANFRED EIKELMANN Boethius für Laien. Konrad Humerys deutsche Übersetzung (vor 1467) der Consolatio Philosophiae .............................................................. 129 SUSANNA E. FISCHER Boethius Christianus sive Platonicus. Frühe mittelalterliche Kommentare zu O qui perpetua mundum ratione gubernas ........................................................ 157 REINHOLD F. GLEI Quae philosophia fuit, facta philologia est. Der Kommentar des Jodocus Badius Ascensius (1498) zur Consolatio Philosophiae des Boethius ............. 179 ULRIKE HEINRICHS Das Zitat aus Boethius’ Philosophiae consolatio im Breisacher Weltgericht. Zur Bedeutung des Medienwechsels in Martin Schongauers Bildkonzeption der Darstellung des Himmels der Seligen ................................................................................................................ 217

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Inhalt

LUUK HOUWEN The Beast Within. The Animal-Man Dichotomy in the Consolation of Philosophy ............................................................................................................ 247 NICOLA KAMINSKI Hellwig – Vallinus – van Helmont / Knorr von Rosenroth: Boethius’ Consolatio Philosophiae im Fadenkreuz einer konfessionalisierten Philologie ....................................................................... 261 FRANZ LEBSANFT Der Trost der Philosophie und die christliche Tugend der Demut. Reniers de Saint-Trond lateinischer Kommentar (ante 1381) und Colard Mansions französische Übersetzung (1477) der kommentierten Consolatio Philosophiae ............................................................ 303 STEPHAN MÜLLER Boethius im Klassenzimmer. Die Bearbeitung der Consolatio Philosophiae durch Notker den Deutschen .................................................... 333 MATTHIAS VOLLMER Das Bild vor Augen – den Text im Kopf. Das Rad der Fortuna als textsubstituierendes Zeichen .......................................................................... 355 FRANCESCA ZIINO The Catalan Tradition of Boethius’ De consolatione: A New Hypothesis .. 387 MAURO ZONTA Le origini letterarie e filosofiche delle versioni ebraiche del De Consolatione Philosophiae di Boezio ................................................................... 397 Namenregister................................................................................................... 431

Einleitung: Boethius Christianus? REINHOLD F. GLEI / NICOLA KAMINSKI / FRANZ LEBSANFT Wenn mans so hört, möchts leidlich scheinen, Steht aber doch immer schief darum; Denn du hast kein Christentum. Margarete zu Faust

Zu den am intensivsten rezipierten Texten der ausgehenden Antike gehört neben den Confessiones Augustins zweifellos die Consolatio Philosophiae des Boethius. Diese ‚Trostschrift an sich selbst‘, die der einstmals mächtigste Mann am Hof Theoderichs nach seiner Amtsenthebung und Inhaftierung im Jahr 524 n.Chr. in der Zeit vor seiner Hinrichtung verfasst hat, ist aber nicht, wie frühere Deutungen suggerierten, das authentische Dokument eines erschütternden persönlichen Schicksals, sondern ein formal ausgefeiltes literarisches Kunstwerk mit klassizistischem Anspruch sowohl in der an Cicero orientierten Prosa als auch in den vorwiegend horazischen Metren, narratologisch eine autodiegetische Fiktion, konkret eine vom Standpunkt des erlebenden Ich aus1 erzählte Krankengeschichte mit Anamnese, Diagnose, Therapie und schließlicher Heilung durch die Ärztin ‚Philosophia‘, philosophisch endlich eine fast nüchterne Bestandsaufnahme und ‚Summe‘ dessen, was die antike Philosophie im Angesicht des Verlusts aller irdischen Güter an Trostgründen aufbieten konnte.2 Boethius lebte in einer Zeit, als die großen intellektuellen Kämpfe zwischen dem Christentum und der altrömischen Religion, die Minucius Felix, Laktanz, Augustin und andere ausgefochten hatten, längst Geschichte waren, und so ist davon auszugehen, dass er nominell Christ war, ja es ist durch das Zeugnis Cassiodors gesichert, dass er sogar tatsächlich jene _____________ 1 Vgl. Reinhold F. Glei: „In carcere et vinculis? Fiktion und Realität in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge 22/1998, S. 199-213. 2 Vgl. Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, „De Consolatione Philosophiae“, BerlinNew York ²2006, S. 24ff.; dort auch zu weiteren literarischen Vorbildern sowie passim Bemerkungen zu Sprache und Stil des Boethius. Eine eigene Untersuchung zur Latinität des Boethius fehlt.

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Einleitung

trockenen Traktate über dogmatische, vor allem trinitarische Fragen verfasst hat, die im Mittelalter so viel zitiert wurden und ihn als theologische Autorität empfahlen.3 Der historische Boethius aber, der früh verwaist in der patrizischen Familie des Symmachus erzogen wurde und später in sie einheiratete, dürfte dem Christentum innerlich skeptisch gegenüber gestanden haben; immerhin war sein Schwiegervater ein Urenkel desjenigen Symmachus, der im Streit um den Altar der Victoria gegen Ambrosius die altrömische Religion verteidigt hatte. So hören wir auch nicht von geistlicher oder theologischer Erziehung, sondern von einer philosophischen Ausbildung, vermutlich beim Neuplatoniker Ammonios in Alexandria.4 Dass Boethius im Herzen und im Denken ein antiker Philosoph geblieben ist, dem in prekärer Lage nicht die christliche Heilsbotschaft, sondern nur die abstrakte Lehre der Philosophie Trost zu spenden vermochte, zeigt nichts deutlicher als eben seine letzte Schrift, die Consolatio Philosophiae: Sein Heiland war Sokrates, nicht Christus, und seine Apostel waren nicht Petrus und Paulus, sondern Platon und Aristoteles.5 In der Forschung ist die Frage nach dem Christentum des Boethius viel und letztlich ohne greifbares Ergebnis diskutiert worden.6 Dass es zwischen einem paganen spätantiken Neoplatonismus und einem vor allem durch Augustinus neuplatonisch überformten Christentum eine sehr große Schnittmenge gibt, verwundert nicht, konnte sich doch sogar jener den Neuplatoniker Proklos ausschreibende unbekannte Verfasser mystisch-apophatischer Schriften als der Paulusschüler Dionysius vom Areopag ausgeben und im Mittelalter zum „Theologus“ schlechthin avancieren. Viel Scharfsinn hat man darauf verwendet, die wenigen auch bei Boethius verbleibenden Unterschiede zwischen neuplatonischer und christlicher Theologie, v.a. in der Schöpfungs- und Seelenlehre, dingfest zu machen _____________ 3 Vgl. Hermann Usener: Anecdoton Holderi, Bonn 1877 (Nachdruck Hildesheim 1969); Michael Elsässer: „Einleitung“, in: Boethius, Die Theologischen Traktate, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Michael Elsässer, lateinisch-deutsch, Hamburg 1988, S. VII-XXXV. 4 Zur Biographie des Boethius vgl. Gruber (Anm. 2), S. 1ff.; dass die Beziehung zu Ammonios’ Philosophie bis in die Consolatio hineinreicht, wurde jüngst von Gerald Bechtle: „Der Trost der Freiheit. Das fünfte Buch der Consolatio Philosophiae des Boethius zwischen Vorlagen und Originalität“, in: Philologus 150, 2/2006, S. 265-289, deutlich gemacht. 5 Es sei hier nur an Boethius’ schriftstellerischen Lebensplan erinnert, alle Werke von Platon und Aristoteles ins Lateinische zu übersetzen und zu kommentieren. Nur einen kleinen Teil davon konnte er verwirklichen: vgl. die Angaben in Reinhold F. Glei: Art. „Boethius“, in: Siegmar Döpp / Wilhelm Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg 1998, ³2002, S. 108-110. 6 Vgl. den Forschungsbericht von Joachim Gruber: „Boethius 1925-1998 (2. Teil)“, in: Lustrum 40/1998, S. 199-259 (hier S. 232ff.).

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und gegebenenfalls wegzudiskutieren,7 doch angesichts des Fehlens jeglicher christlicher Heilsperspektive in der Consolatio handelt es sich dabei doch eher um wenn nicht philosophische, so doch konsolatorische Quisquilien.8 Ob man also, wie die Herausgeber und Autoren dieses Bandes, die Trostschrift des Boethius eher für un-, wenn nicht gar für antichristlich, zu halten geneigt ist oder ob man mit anderen zumindest keinen Widerspruch zum Christentum konstatieren will – es kann als konsensuale Prämisse für eine Erforschung der Rezeptionsgeschichte angenommen werden, dass spezifisch christliche, insbesondere soteriologische Inhalte in der Consolatio keine Rolle spielen. Dennoch galt Boethius dem Mittelalter als rechtgläubiger christlicher Märtyrer, als Opfer des arianischen, also häretischen Theoderich, obwohl religiöse Motive in der seinerzeitigen Palastintrige um Konspiration und Hochverrat gar keine Rolle gespielt hatten. Das erste Paradoxon in der Rezeptionsgeschichte des Boethius liegt also darin, dass die nichtchristliche Trostschrift christlich vereinnahmt und dadurch überhaupt erst ins Mittelalter tradiert wurde: Alkuin initiierte bekanntlich eine dezidierte interpretatio Christiana des Boethius, worin man einen fast subversiven Rezeptionsansatz sehen könnte. Hätte man den Verfasser der Consolatio – einfacher noch als Vergil, dem spätestens seit Konstantin und dem Bibelepiker Juvencus eine kryptochristliche Tendenz unterstellt wurde – doch ganz unhinterfragt als Christen betrachten und ihn so nicht als Träger eines ‚heidnischen‘ Erbes, dessen Tradierung in Frage zu stellen war oder jedenfalls besonderer Rechtfertigung bedurfte, sondern als genuin christlichen Philosophen und seine Trostschrift dazu noch als literarisch vorbildlichen, durch die prosimetrische Form geradezu idealtypischen erbaulichen Text verstehen können. Dabei wusste doch auch der mit der antiken

_____________ 7 Vgl. dazu u.a. den Beitrag von Susanna E. Fischer in diesem Band. 8 Umgekehrt ist es auch verfehlt, das konsolatorische Potential auf das Niveau des Quadriviums herunterzubrechen, wie es kürzlich Michael Fournier: „Boethius and the Consolation of the Quadrivium“, in: Medievalia & Humanistica 34/2008, S. 1-21, versucht hat: Danach spiegelt die Consolatio in ihrem Aufbau die Disziplinen des Quadriviums: B. 1 Astronomie (sensation), B. 2 Musik (imagination), B. 3+4 Geometrie (reason), B. 5 Arithmetik (intellect). Abgesehen vom zahlenmäßigen Ungleichgewicht (4 Disziplinen gegen 5 Bücher) ist die didaktische Progression des Quadriviums genau gegenläufig und kann daher nicht den Lernfortschritt der persona Boethius abbilden: vgl. dazu Reinhold F. Glei: „Im Anfang war die Zahl. Die Arithmetik als Basisdisziplin der mathematischen Künste“, in: ders. (Hrsg.), Die Sieben Freien Künste in Antike und Gegenwart, Trier 2006, S. 9-21.

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Einleitung

Rhetorik vertraute Boethiusleser des Mittelalters,9 dass sich verdächtig macht, wer allzu viele Zeugen für seine Unschuld aufmarschieren lässt. Dennoch dürfte Alkuins christliche Relektüre der Consolatio die entscheidende Weichenstellung für die außerordentlich intensive Rezeption der Consolatio Philosophiae vorgenommen haben, die durch die eindrucksvolle Zahl von über 400 Handschriften sowie durch die Übersetzung des Textes in verschiedene europäische Volkssprachen belegt ist und sich auch in der Vielzahl der lateinischen Kommentare zeigt: Von karolingischer Zeit bis ins Spätmittelalter entstehen nicht weniger als etwa 20 vollständige, meist sehr umfangreiche Erklärungsschriften, deren erste systematische Sammlung und Beschreibung Courcelle zu verdanken ist.10 Inzwischen haben wir, auch dank der weitergehenden Untersuchungen Nautas,11 zwar einen recht guten Überblick über die lateinische Kommentarlandschaft, von einer genaueren Erschließung und Bewertung dieser Quellen, vor allem der gegenseitigen Abhängigkeiten, sind wir aber noch weit entfernt, da einschlägige Editionen bis auf rühmliche Ausnahmen noch weitgehend fehlen12 und dementsprechend auch die Filiationen der lateinischen Kommentare wie die Querverbindungen zu den verschiedenen volkssprachlichen Übersetzungen und ggf. Kommentaren noch kaum untersucht sind.13 Dass sich dabei oft überraschende Einsichten ergeben, zeigen beispielsweise die neu gewonnenen Erkenntnisse bezüglich des sog. _____________ 9 Vgl. dazu Virginia Cox / John O. Ward (Hrsg.): The Rhetoric of Cicero in Its Medieval and Early Renaissance Commentary Tradition, Leiden-Boston 2006. 10 Pierre Courcelle: La Consolation de la Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et Postérité de Boèce, Paris 1967, S. 403-418. 11 Lodi Nauta: „The Consolation: the Latin Commentary Tradition, 800-1700“, in: John Marenbon (Hrsg.), The Cambridge Companion to Boethius, Cambridge 2009, S. 255-278. 12 Vorbildlich ist die Ausgabe des Kommentars von Wilhelm von Conches (gest. 1154) durch Lodi Nauta: Guilelmi de Conchis Glosae super Boetium, Lodi Nauta (Hrsg.) (CCCM 158), Turnhout 1999. Dabei handelt es sich immerhin um den bedeutendsten Kommentar des 12. Jahrhunderts; ein weiterer, ebenfalls dem 12. Jahrhundert angehörender Kommentar, der sog. Anonymus Erfordensis, wurde bereits früher von Edward T. Silk ediert, der allerdings Johannes Duns Scotus für den Autor hielt: Saeculi Noni Auctoris in Boetii Consolationem Philosophiae Commentarius, Rom 1935. Dazu und zu weiteren lateinischen Kommentaren s. den Beitrag von Reinhold F. Glei in diesem Band sowie Nauta (Anm. 11). 13 Vgl. exemplarisch: Chaucer’s Boece. A Critical Edition Based on Cambridge University Library, MS Ii.3.21, ff.9r-180v, Tim William Machan (Hrsg.), Heidelberg 2008. In der Einleitung schreibt der Herausgeber, Chaucer habe eine lateinische BoethiusVulgata benutzt, dazu die französische Übersetzung von Jean de Meun, den Kommentar von Nicholas Trevet und Glossen, die auf Remigius von Auxerre zurückgehen.

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Pseudo-Thomas, eines aufgrund der Zuschreibung an Thomas von Aquin zu großem Einfluss gelangten Kommentars des 14./15. Jahrhunderts.14 Mit der Fokussierung auf das Spannungsverhältnis von Philologie und Philosophie bzw. (christlicher) Theologie im Kommentar des Jodocus Badius Ascensius (1498) liegt hier außerdem erstmals eine detailliertere Studie zu diesem prototypisch humanistischen, eine interpretatorische Trend- und Epochenwende inszenierenden Kommentar vor. Zwar herrscht an Boethius-Sammelbänden, auch zur Boethius-Rezeption, an sich kein Mangel,15 doch erprobt der vorliegende Band eine etwas dezidiertere Perspektive und versucht, die Pluralität der Transformationen der boethianischen Consolatio in Mittelalter und Früher Neuzeit zu verdeutlichen, Forschungsergebnisse zu bündeln und Desiderate aufzuzeigen.16 Den fachlichen Schwerpunkt bilden, neben der durchgängig, sei es direkt oder indirekt, präsenten lateinischen, hier vor allem die deutsche und die romanische Text- und Diskurstradition, die durch Perspektiven auf weitere Sprachen (Hebräisch)17 und Medien (Buchillustration und Wandmalerei)18 ergänzt wird. _____________ 14 So konnte z.B. nachgewiesen werden, dass Jodocus Badius Ascensius in seinem Commentum duplex (1498) die dritte Auflage des Pseudo-Thomas im Druck von Anton Koberger (1483) verwendete; aufgrund der Benutzung des PseudoThomas durch den Verfasser der hebräischen Übersetzung, Bonafoux Bonfil Astruc, steht als terminus ante quem jetzt immerhin 1423 fest. Vgl. die Beiträge von Bernd Bastert bzw. Mauro Zonta in diesem Band; zur Verfasserfrage vgl. Exkurs I im Beitrag von Reinhold F. Glei in diesem Band. 15 Aus jüngerer Zeit: Maarten J.F.M. Hoenen / Lodi Nauta (Hrsg.): Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the „Consolatio Philosophiae“, Leiden 1997; Alain Galonnier (Hrsg.): Boèce ou la Chaîne des Savoirs. Actes du Colloque International de la Fondation Singer-Polignac, Paris 8-12 juin 1999, Louvain-LaNeuve 2003 (darin allerdings nur zwei Beiträge zur Consolatio-Rezeption); Noel Harold Kaylor Jr. / Philip Edward Phillips (Hrsg.): New Directions in Boethian Studies, Kalamazoo 2007 (Nachdrucke von Beiträgen aus der Zeitschrift Carmina Philosophiae aus den Jahren 1992 bis 2002); The Cambridge Companion to Boethius (Anm. 11; zwei Beiträge zur Consolatio-Rezeption); Philip Edward Phillips / Noel Harold Kaylor Jr. (Hrsg.): A Companion to Boethius in the Middle Ages (angekündigt). 16 Wie reichhaltig und verzweigt die Boethius-Rezeption ist, zeigt eindrucksvoll das freundlicherweise von Joachim Gruber zur Verfügung gestellte Material, das demnächst in Lustrum publiziert werden soll. 17 Vgl. die Beiträge von Francesca Ziino und Mauro Zonta, bei denen es sich (als einzige in diesem Band) aufgrund der ausgesprochenen Seltenheit einschlägiger Forschung um redigierte und leicht aktualisierte Nachdrucke handelt: Die Originalpublikationen erschienen in der Festschrift Sierra: F. Israel / A.M. Rabello / A.M. Somekh (Hrsg.): Hebraica. Miscellanea di studi in onore di Sergio J. Sierra per il suo 75o compleanno, Torino 1998, S. 571-604 (Zonta) bzw. in Carmina Philosophiae 10/2001, S. 31-38 (Ziino). – Ein Beitrag zur Rezeption des Boethius in Byzanz

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Einleitung

Ins Deutsche findet die Consolatio Philosophiae, nach der folgenreichen Wegbereitung durch Alkuin, bemerkenswert früh. Im schmalen Corpus der seit dem 8. Jahrhundert tradierten althochdeutschen Texte nimmt die Consolatio-Übertragung des St. Galler Mönchs Notker III. mit dem bezeichnenden Beinamen „Teutonicus“, entstanden um das Jahr 1000, als „the earliest continental translation“19 eine wichtige Stellung ein.20 Wiewohl der Überlieferungslage nach ein Solitär, stellt sie nicht nur für sich genommen ein bedeutsames Zeugnis intensiver Auseinandersetzung mit der boethianischen Trostschrift im Kontext monastischer Schultradition dar, sondern exponiert paradigmatisch auch zentrale Charakteristika der weiteren Rezeption im deutschsprachigen Raum bis ins 17. Jahrhundert. Zu nennen ist zunächst die in diachroner Perspektive – gerade im Vergleich mit Frankreich – auffällig diskontinuierliche Transposition in die Volkssprache. Nach Notkers um die Jahrtausendwende abgeschlossener Übertragung kommt es zu einer ersten, rund vier Jahrhunderte währenden ‚Übersetzungslücke‘ (wohingegen die lateinische Rezeption sich ungebrochen fortsetzt). Und nach genau einem, an Consolatio-Verdeutschungen ungewöhnlich reichhaltigen Jahrhundert, dem 15., tritt ab 1500 erneut eine solche markante ‚Lücke‘ auf, die bis zum Jahr 1660 reicht. Erstmals festzustellen ist sodann an Notkers Übersetzung, dass der Begriff ‚Übersetzung‘ eigentlich gar nicht so recht passt, dass er im Verhältnis zu dem textuellen Transformationsgeschehen, das sich im einzelnen im St. Galler Codex beobachten lässt, zu homogen gedacht ist. Demgegenüber erweist sich Notkers ‚Arbeit am Text‘, die bereits (freilich äußerst sachte) beim lateinischen Original ansetzt, indem sie dessen Syntax normalisiert und die Metren dadurch in Prosa auflöst, keineswegs als zielsprachenorientierte Einbahnstraße. Vielmehr, und auch dies gilt in je unterschiedlicher Weise für die nachfolgenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Übertragungen, bleibt der Rückbezug auf den lateinischen Boethius stets präsent, nicht selten ist er in einer durch die mediale Prä_____________ konnte leider nicht realisiert werden; vgl. einstweilen Nóra Fodor: Die Übersetzungen lateinischer Autoren durch M. Planudes, Diss. Heidelberg 2008, S. 197-211. 18 Vgl. die Beiträge von Ulrike Heinrichs, Matthias Vollmer und (in Teilen) von Luuk Houwen in diesem Band. 19 Nigel F. Palmer: „Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae“, in: Margaret Gibson (Hrsg.), Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 362-409, hier S. 363. Vor Notker dem Deutschen überträgt in England bereits König Alfred der Große im ausgehenden 9. Jahrhundert die Consolatio. 20 Dazu umfassend Christine Hehle: Boethius in St. Gallen. Die Bearbeitung der „Consolatio philosophiae“ durch Notker Teutonicus zwischen Tradition und Innovation, Tübingen 2002.

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sentation gesteuerten Reflexionsbewegung ausdrücklich gefordert. Dennoch erschöpft die deutsche Übertragung sich nicht in schierer Dienstleistung am Verständnis des Originals, bei Notker sowenig wie in den späteren Verdeutschungen. Vielmehr tragen die deutschen Übersetzungen, drittens, in je spezifischen Textkonstellationen zu etwas bei, das als interpretatio Christiana nach dem Befund der vorliegenden Beiträge wiederum zu plakativ und zu homogen gefasst ist. Statt dessen reicht das Spektrum vom behutsamen Umschreiben des ganz selbstverständlich als Christianus begriffenen, jedoch nicht so bezeichneten lateinischen Boethius über unterschiedliche Strategien paratextueller Rahmung des boethianischen Textes durch Kommentare oder Vorreden bis hin zum Einschub von aus der zeitgenössischen theologischen Diskussion sich speisenden selbständigen Exkursen. In diesem Zusammenhang kommt der Übersetzung in die Volkssprache bei der Prägung terminologischer Äquivalente zu Schlüsselbegriffen wie providentia, fatum, deus eine entscheidende Rolle zu. Zugleich vermag sie die (nichtlateinische) Rezeption auch durch Auslassung zu steuern; das kann ein einzelnes Wort betreffen, beispielsweise das ‚Fließende‘ der damit gegenüber Gott als präexistent sich erweisenden Materie in 3 m. 9,21 doch etwa auch, wie in der mittelniederdeutschen Übersetzung von 1464/65, das gesamte fünfte Buch der Consolatio. Der Umweg über die Übersetzung wird so zur Schaltstelle, an der die Perspektive auf den lateinischen Text eingestellt wird, ohne dass dieser selbst angetastet würde (Notkers syntaktische Normalisierungen bilden da schon das Maximum). Viertens schließlich, und auch das beginnt mit Notker, erlauben die übersetzenden und kommentierenden Transformationen der Consolatio Philosophiae, gelesen als adressatenbezogene accessus, überraschend präzise Rückschlüsse auf die Rezeptionskontexte, in denen der spätantike philosophische Text für distinkte Publikumsgruppen aktualisiert wurde und so einen Sitz im christlichen Leben erlangen konnte. Hinweise bieten hier ebenso die spezifischen Übersetzungs- und Kommentierungstechniken wie die Ausstattung der Handschriften und Drucke, insbesondere aber die Relationierung von lateinischem und deutschem Text (sowie ggf. lateinischem und/oder deutschem Kommentar) in der konkreten mise en page, wofür offenkundig nicht schon ein Standardmodell bereitsteht, vielmehr von der jeweiligen Gebrauchssituation her mit unterschiedlichen Formen experimentiert wird. Zu beobachten sind zum einen ‚engmaschig‘ verfahrende Präsentationsmodi wie in der Kolon für Kolon syntaktisch normalisierten Text, Übersetzung und Kommentierung ineinanderlegenden Conso_____________ 21 Bei Notker; vgl. dazu und zu weiteren hier angesprochenen Charakteristika von Notkers Consolatio-Version den Beitrag von Stephan Müller in diesem Band.

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Einleitung

latio-Version Notkers oder dem ersten Koberger-Druck von 1473 mit seiner Alternation zwischen Latein und Deutsch je Metrum und Prosa; zum anderen lockerere Verschränkungen bis hin zu den einsprachigen Ausgaben Humerys oder des 17. Jahrhunderts. Den Schwerpunkt deutschsprachiger Erschließung und Diskursivierung der boethianischen Trostschrift bildet am Übergang von Mittelalter zu Früher Neuzeit zweifelsohne das 15. Jahrhundert, das als Centennium geradezu gerahmt wird durch eine für 1401 belegte, wahrscheinlich verlorengegangene Übersetzung Peters von Kastl22 und durch Johann Schotts Straßburger Nachdruck des deutschen Textes aus der ersten KobergerConsolatio von 1500. Aufschlussreich ist insbesondere das beinahe synchrone Nebeneinander von fünf, vielleicht sechs, offenbar unabhängig voneinander seit den 1460er Jahren entstandenen, teils noch des handschriftlichen, teils bereits des frühen Druckmediums sich bedienenden Übertragungen,23 von denen drei – die Erfurter Handschrift MS Hamilton 46, die in drei autornahen Handschriften tradierte Übersetzung Konrad Humerys und der erste Koberger-Druck – im vorliegenden Band eingehender untersucht werden.24 Gerade in der vergleichenden Lektüre erschließen sich unterschiedliche, gleichzeitig zu denkende Rezeptionsszenarien, die bei aller Diversifizierung doch eines gemeinsam haben. Ob nämlich der boethianische Text in der Erfurter Handschrift durch die Interpolation moraltheologischer Erörterungen drängender eschatologischer Fragen gerahmt oder seinerseits zu deren Rahmen wird, ob in Humerys einsprachig deutscher Consolatio der Wechsel von Prosastücken und Metren transformiert wird in eine Abfolge von Tröstungsdialog und dem Laien nachvollziehbaren auslegenden Passagen, ob schließlich Koberger, geschäftstüchtig eine Marktlücke witternd, den zahlungskräftigen Reformklöstern der näheren und ferneren Umgebung Nürnbergs die Trostschrift als homiletischen Fundus für die Laienunterweisung aufbereitet: all diese _____________ 22 Zur nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass die deutsche Übersetzung in der zweisprachigen Druckausgabe von Anton Koberger 1473 diejenige Peters von Kastl ist, vgl. den Beitrag von Bernd Bastert in diesem Band. 23 Nachweisbar sind eine mittelniederdeutsche Übersetzung von Gerhard Foel aus Nassau (1464/65); die auf 1465 datierte, aus dem Erfurter Kartäuserkloster stammende Übersetzung in MS Hamilton 46; die vor 1467 entstandene Übersetzung Konrad Humerys; die 1473 in Nürnberg bei Anton Koberger gedruckte zweisprachige Consolatio-Ausgabe. Belegt, aber nicht überliefert ist eine Übersetzung des Niklas von Wyle (1478). Hinzu kämen, je nachdem, zu welcher Datierung man gelangt, die Münsteraner Fragmente; vgl. dazu Palmer (Anm. 19), S. 373. 24 Vgl. die Beiträge von Yvonne Dellsperger, Manfred Eikelmann und Bernd Bastert in diesem Band.

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Szenarien fügen sich plausibel in den Kontext einer in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erstarkenden Frömmigkeitsbewegung ein, die den ‚gemeinen man‘ als Adressaten ernst zu nehmen beginnt. Neben einer ersten Sondierung dieses lohnenden Untersuchungsfeldes beabsichtigen die Beiträge des Bandes auch, vergleichende Studien auf breiterem textuellen Fundament mit Blick auf die je spezifische Kommunikationssituation für einen ‚deutschen Boethius‘ als Forschungsdesiderat sichtbar zu machen. Dass es ausgerechnet die den ‚gemeinen man‘ sich auf die Fahnen schreibende, der Laienfrömmigkeit durchaus zugewandte Reformation ist, mit der im 16. Jahrhundert die Tradition der Consolatio-Verdeutschung für mehr als anderthalb Jahrhunderte abreißt, verdient als überlieferungsgeschichtliches Faktum zunächst einmal Aufmerksamkeit. Genaugenommen datiert die letzte Übersetzung, der bereits erwähnte Straßburger Nachdruck Johann Schotts, schon von 1500, so dass eine Verbindung zwischen der Reformation, die durch Luthers Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch Übersetzung in die Volkssprache enorm aufwertet und konfessionell codiert, und der Nicht-mehr-Übersetzung von Boethius’ Consolatio überhaupt erst sicher zu erweisen wäre. Eine Symptomatik der für den deutschsprachigen Raum charakteristischen ‚Übersetzungskonjunkturen‘ und ‚Übersetzungslücken‘ lässt sich so als ein Desiderat für weitere Forschung benennen, wozu der vorliegende Band allenfalls erste Deutungsansätze (Frömmigkeitsbewegung, Reformation) anzubieten vermag. Dass es jedenfalls einiges für sich hat, die zweite, kürzere ‚Lücke‘ in einem nicht nur zeitlichen Zusammenhang mit der Reformation und der sich entwickelnden konfessionellen Spaltung zu sehen, legt der an den beiden nächsten ConsolatioÜbertragungen, die in schneller Folge 1660 in Nürnberg und 1667 im oberpfälzischen Sulzbach erscheinen, gewonnene Befund nahe.25 Beide Übersetzungen, deren zweite die erste kennt und mit philologischen Argumenten scharf kritisiert, stellen allem Anschein nach einen Rückbezug auf das lateinische Original nicht mehr her, setzen vielmehr formbewusst auf das neue, durch Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey 1624 legitimierte Medium einer deutschen Literatursprache. Auch in Hinsicht auf etwaige christliche Inanspruchnahmen ist für die Übersetzungen von Johann Hellwig einerseits, Christian Knorr von Rosenroth und Franciscus Mercurius van Helmont andererseits, ungeachtet ihrer in diese Richtung deutenden Titel,26 zunächst einmal Fehlanzeige zu konstatieren. Allerdings _____________ 25 Vgl. dazu den Beitrag von Nicola Kaminski in diesem Band. 26 Severini Boethii Christlich vernünftiges Bedenken / Wie man sich bey vordringendem Gewalt und Wohlergehen der Gottlosen / auch unrechtmässigem Leiden und Ubelgehen der Frommen zu trösten habe bzw. Deß Fürtrefflichen Hoch-weisen Herrn Sever. Boetii weil. Burgermeisters

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erweist hier bei genauerem Hinsehen, zumal wenn man den intertextuellen Spuren der Paratexte folgt, in pointierter Weise das bekannte Epigramm Friedrichs von Logau unter dem Titel „Glauben“ – „Luthrisch / Päbstisch vnd Calvinisch / diese Glauben alle drey « Sind verhanden; doch ist Zweiffel / wo das Christenthum dann sey.“27 – seine zeitdiagnostische Wahrheit. ‚Den‘ Boethius Christianus vermag das 17. Jahrhundert offenbar nicht mehr ohne weiteres anzunehmen; ging es vor der Reformation graduell um unterschiedlich stark ausgeprägte Formen von Assimilierung an christliche Begriffe und Vorstellungen, so sieht man sich jetzt vor qualitative Unterschiede gestellt zwischen einem von der (als Martyrium gedeuteten) Vita her katholisch bestimmten Boethius, gegen den es von der konsolatorischen Schrift in deutscher Sprache her einen protestantischen oder womöglich überkonfessionell irenischen Boethius zu begründen gilt. An die Stelle der die mittelalterliche Tradierung erst ermöglichenden Konzeptionalisierung des Consolatio-Autors als Boethius Christianus tritt so das dissoziierende Paradigma des Konfessionalismus und mit ihm eine Verlagerung der daraus resultierenden Auseinandersetzungen in die subtextuelle Performanz. In der Romania stellt der altokzitanische Boeci aus dem frühen 11. Jahrhundert die älteste und in dieser Zeit – nicht anders als Notker in Deutschland – allein stehende ‚Verarbeitung‘ der Consolatio dar.28 Sie erfolgt im Zeichen des längst christianisierten Boethius, der in neue, mittelalterliche Texttraditionen eingeschrieben wird.29 Das kurze Boeci-Fragment formt die Consolatio tiefgreifend um. Es setzt nämlich aus der rahmenden Perspektive eines epischen Erzählers die Figur eines „Boethius“ in Szene, der, von einem gottlosen Theoderich verfolgt, durch eine böswillige politische Intrige zu Fall gekommen ist. „Boethius“ wendet sich nach seiner Gefangennahme zunächst im Gebet an Gottvater und legt Zeugnis von seinem tiefen Glauben an den dreieinigen Gott ab. Erst dann begegnet er der schönen Frau, der (namentlich so nicht genannten) „Philosophie“, deren Kleid aus christlicher Liebe und Glauben gewirkt ist. Die eigentliche romanische Übersetzungsarbeit an der Consolatio setzt gegenüber dem Boeci erst wesentlich später, und zwar zuerst in der langue d’oïl ein. Die älteste, in Burgund in Prosa angefertigte französische Über_____________ zu Rom Christlich-Vernunfft-gemesser Trost und Unterricht / in Widerwertigkeit und Bestürtzung über dem vermeinten Wohl- oder Ubelstand der Bösen und Frommen. 27 Friedrich von Logau: Sinngedichte, Ernst-Peter Wieckenberg (Hrsg.), Stuttgart 1984, S. 89 (II,1,100). 28 Der altprovenzalische „Boeci“, Christoph Schwarze (Hrsg.), Münster 1963. 29 Vgl. Maria Selig: „‚Weitergeschriebene‘ Texte. Der altokzitanische Boeci und seine lateinischen Quellen“, in: Hildegard L. C. Tristram (Hrsg.), Text und Zeitläufe, Tübingen 1994, S. 149-184.

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setzung ist erst aus der Zeit um ca. 1230 überliefert. Sie eröffnet im Unterschied zu Deutschland einen auffallend dichten, je nach Zählung zwölf oder dreizehn Glieder umfassenden Reigen von bis zum Ende des 15. Jahrhunderts sich erstreckenden französischen Versionen, die den durch Glossen bzw. Kommentare christlich erschlossenen boethianischen Text in Prosa, Vers oder als Prosimetrum bieten. Der Übersetzer, Schreiber und Drucker Colard Mansion liefert mit dem am Vorabend von Peter und Paul 1477 in Brügge gedruckten Liure de boece de consolation de phylosophye den glanzvollen Schlusspunkt der mittelalterlichen französischen Überlieferung.30 Wie die deutschen Übersetzungen steht auch die französische Texttradition von Beginn an im Zeichen des für die Zwecke geistlicher Traktats- und Erbauungsliteratur eingerichteten Boethius Christianus. Dies bedeutet, dass nicht nur rahmende Glossierung bzw. Kommentierung den ‚unchristlichen‘ Grundtext christlich deuten, sondern dieser selbst in der Übersetzung mehr oder weniger stark christlich überformt, ‚verchristlicht‘ wird. Die verschiedenen Möglichkeiten der mittelalterlichen Aneignung der Consolatio in Frankreich verdeutlichen exemplarisch drei Beiträge in diesem Band.31 Lange hatte man geglaubt, die mittelalterliche italienische Tradierung der Consolatio sei wesentlich spärlicher als im benachbarten Frankreich. Jedoch hat neuere Forschung zahlreiche bisher unbekannte, häufig allerdings nur einzelnen Teilen der Consolatio geltende Fassungen zu Tage gefördert, die im Vergleich zu Frankreich nur in jeweils äußerst wenigen Handschriften überliefert sind.32 Das vorwiegend norditalienische Korpus _____________ 30 S. zuletzt den Überblick von Glynnis M. Cropp: „Boethius in Translation in Medieval Europe“, in: Harald Kittel u.a. (Hrsg.), Übersetzung. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, Bd. 2, Berlin-New York 2007, S. 1329-1337, hier zu den französischen Fassungen S. 1330-1332. 31 S. Glynnis M. Cropp zu den Versionen I ( „Del Confortement de Philosofie. A Critical Edition of the Medieval French Prose Translation and Commentary of De Consolatione Philosophiae of Boethius contained in MS 2642 of the National Library of Austria, Vienna“, M. Bolton-Hall (Hrsg.), in: Carmina Philosophiae 5-6/1996-97, S. iii-xiii, 1-228) und VI (Le „Livre de Boece de Consolacion“, édition critique, Glynnis M. Cropp (Hrsg.), Genf 2006), Anna Maria Babbi zur (unedierten) Version VIII und Franz Lebsanft zur (ebenfalls unedierten) Version XII (bzw. XIII). – Zu einem theoretischen Modell zur Beschreibung der textuellen Verfahren der volkssprachlichen Aneignung der Consolatio, s. demnächst Franz Lebsanft: „Stufen der énonciation und mehrfache Rahmung: Textstrukturen in Colard Mansions Liure de boece de consolation de phylosophye (1477)“, in: Wolfgang Dahmen u.a. (Hrsg.), Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen, Tübingen i.Dr. (Romanistisches Kolloquium, 24). 32 Cropp (Anm. 30), S. 1332; Silvia Albesano: „Consolatio Philosophiae“ volgare. Volgarizzamenti e tradizioni discorsive nel Trecento italiano, Heidelberg 2006, S. 45-53.

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entstammt dem 14. und 15. Jahrhundert und lässt sich vorläufig nur ganz allgemein verorten, und zwar in einem städtischen Milieu und hier vor allem im Wirkungsbereich der seelsorgerisch tätigen Bettelorden. Teilweise ergeben sich Beziehungen zu Frankreich. So bietet eine aus Ligurien stammende Genueser Handschrift des 14. Jahrhunderts für die Bücher IIV eine prosimetrische Übersetzung, die von dem überaus weit verbreiteten Livre de Boece de Consolacion abhängig ist, weitere Ausschnitte aus Buch V jedoch offenbar unmittelbar nach dem lateinischen Text gestaltet.33 Eine im Veneto geschriebene Veroneser Handschrift (frühes 14. Jahrhundert) berührt sich eng mit der franko-italienischen Prosafassung Bonaventuras da Demena.34 Auch die mittelalterliche katalanische und kastilische Überlieferung der Consolatio, die vorwiegend dem multilingualen Raum der Krone von Aragonien entstammt, gehört dem 14. und 15. Jahrhundert an. Weil wichtige Textzeugen nur indirekt bekannt bzw. sogar verschollen sind und vorhandene Überlieferung nicht ediert ist, lässt sich die Entwicklung der Texttradition z.T. nur äußerst unvollkommen rekonstruieren.35 Offenbar bilden Übersetzungen der Kommentare des Dominikaners Nicolas Trevet – wir befinden uns also wie in Italien im Milieu der Bettelorden – und eines unbekannten Autors, die auch ‚Paraphrasen‘ des Textes der Consolatio enthalten, die ältesten kastilischen Fassungen auf der iberischen Halbinsel.36 Von der Trevet-Übersetzung setzt sich ein weiterer Anonymus ab, der für den Kondestabel von Kastilien Ruy López Dávalos (gest. 1428) eine kastilische Versübersetzung der Consolatio anfertigte.37 Vermutlich hatte bereits um 1360 der Dominikaner Pere Saplana eine verloren gegangene katalanische Prosaübersetzung angefertigt, die wir nur in einer von _____________ 33 Cropp (Anm. 30), S. 1332; Albesano (Anm. 32), S. 48; vgl. den Beitrag von Cropp in diesem Band. 34 Cropp (Anm. 30), S. 1330, 1332; Albesano (Anm. 32), S. 47. – Vgl. „Consolatio Philosophiae“. Una versione veneta (Verona, Biblioteca Civica, ms. 212), Anna Maria Babbi (Hrsg.), Milano 1995 und den Beitrag von Anna Maria Babbi in diesem Band. 35 Cropp (Anm. 30), S. 1332-1333; vgl. die Beiträge von Francesca Ziino und Mauro Zonta in diesem Band. 36 Cropp (Anm. 30), S. 1332-1333, mit Bezug auf Ronald G. Keightley: „Boethius in Spain. A Classified Checklist of Early Translations“, in: Alastair J. Minnis (Hrsg.), The Medieval Boethius. Studies in the Vernacular Translations of ‚De Consolatione Philosophiae‘, London 1987, S. 169-187, und Miguel Pérez Rosado: La versión castellana medieval de los „Comentarios“ a Boecio de Nicolás Trevet, Madrid, Diss. 1992. Vgl. noch Dietrich Briesemeister: „The Consolatio Philosophiae of Boethius in Medieval Spain“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 53/1990, S. 61-70. 37 Cropp (Anm. 30), S. 1333; Keightley (Anm. 36), S. 185.

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Antoni Ginebreda (auch er ein Dominikaner) bearbeiteten, handschriftlich und gedruckt überlieferten Fassung, dem libre de Consolaciò de Boeci (um 1390), lesen können. Von dieser katalanischen Version fertigte man eine kastilische, in diesem Fall nur im Druck überlieferte Übersetzung an. Saplanas Übersetzung wurde wahrscheinlich von einem anonymen Bearbeiter zur Grundlage einer zweiten katalanischen Fassung genommen, die – wie man bisher glaubte – nur als Fragment in einer aus Ripoll stammenden Handschrift, die heute in Barcelona im Archiv der Krone von Aragonien aufbewahrt wird, auf uns gekommen ist. Möglicherweise findet sich der Text jedoch „vollständig“ (so Francesca Ziino) in einer Handschrift des Historischen Archivs von Cervera. Auf dieser Basis wurde dann eine zweite kastilische Übersetzung verfasst, die wir in einer von Pedro de Valladolid angefertigten Handschrift kennen. Die von Samuel Benveniste 1412 geschriebene, bisher unedierte hebräische Übersetzung nimmt die katalanische Übersetzung Ginebredas von 1390 und nicht etwa den lateinischen Grundtext zum Ausgangspunkt, wie das wenig später (1423) Bonafoux Bonfil Astruc (‘Azaryah ben Yosef ben Abba Mari) in Italien mit seiner paraphrasierenden Version tun wird.38 Ebensowenig wie in Deutschland findet die romanische Auseinandersetzung mit der Consolatio mit dem Spätmittelalter ihr Ende, vielmehr setzt sie sich mit unterschiedlichen, länderspezifischen Schwerpunkten in der Frühen Neuzeit fort. Eine exploratorische Skizze, die sich als Kartierung eines aus diesem Band sich ergebenden, neuen Forschungsfeldes versteht, mag das verdeutlichen.39 Im 16. Jahrhundert finden sich in Italien wenigstens vier Neuübersetzungen der Consolatio, von denen drei aus einem Wettstreit hervorgegangen sind: Als deren Autoren firmieren drei bedeutende Gelehrte – Lodovico Domenichi, Benedetto Varchi und Cosimo _____________ 38 Boezio: De Consolatione Philosophiae. Traduzione ebraica di ‘Azaria ben R. Joseph Ibn Abba Mari detto Bonafoux Bonfil Astruc 5183–1423, S. J. Sierra (Hrsg.), TorinoGerusalemme 1967. Zu den beiden hebräischen Übersetzungen s. – wie oben bereits erwähnt – den Beitrag von Mauro Zonta in diesem Band. 39 Nauta (Anm. 11) erwähnt in dem Abschnitt „After the Renaissance“ (S. 273-274) keine einzige der im folgenden genannten Übersetzungen. Grundlegend ist daher immer noch A. van de Vyver: „Les traductions du De Consolatione Philosophiae de Boèce en littérature comparée“, in: Humanisme et Renaissance (sic) 6/1939, S. 247273. Was Spanien angeht, so bleibt für die Renaissance und das Siglo de Oro Marcelino Menéndez y Pelayo: Bibliografía hispano-latina clásica, Bd. 1 Acción – Catón, Madrid 1950, S. 305ff. die wichtigste Quelle. S. noch Dietrich Briesemeister: „Die Überlieferung der Consolatio Philosophiae des Boethius im mittelalterlichen Spanien“, in: Karl Hölz u.a. (Hrsg.), Sinn und Sinnverständnis. Festschrift für Ludwig Schrader zum 65. Geburtstag, Berlin 1997, S. 15-25, der wertvolle Hinweise auch für die spanischen Übersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts liefert.

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Bartoli.40 Es handelt sich um Auftragsarbeiten für Cosimo I. de’ Medici, bei dem kein Geringerer als Karl V. um eine italienische Übersetzung der Consolatio nachgesucht hatte.41 Es ist die prosimetrische und polymetrische Übersetzung Benedetto Varchis, die dem Kaiser (der auch eine französische und eine spanische Consolatio besaß) offenbar am besten gefiel und die bis ins 20. Jahrhundert immer wieder nachgedruckt wurde.42 In seinem Widmungsschreiben an Cosimo I. hebt Varchi gleichermaßen die (philosophische) Gelehrsamkeit und die (christliche) „Heiligkeit“ (santità) von Boethius hervor, doch bietet er den Text ohne die im Mittelalter übliche christliche Deutung.43 Entstammen die neuen italienischen Übersetzungen, dem Gedanken der aemulatio verpflichtet, humanistischen Kreisen, so setzt sich in Spanien im Zeitalter der Gegenreformation die dominikanische Tradition des Mittelalters mit Fray Alberto de Aguayo fort.44 Zwei weitere Übersetzungen dieser Zeit – von Jerónimo de Zurita und Pedro Sánchez (Sainz) de Viana – sind nur handschriftlich überliefert.45 In Spanien bleibt die Consolatio _____________ 40 Severino Boetio: De’ conforti philosophici, tradotto per Lodovico Domenichi, Fiorenza: Torrentino 1550; B. Severino: Della Consolazione della Filosofia. Tradotto di lingua latina in volgare Fiorentino da Benedetto Varchi, Firenze: [Torrentino] 1551; Manlio Severino Boetio Senatore et gia Console Romano: Della consolatione de la Filosofia, Tradotto da Cosimo Bartoli Gentilhuomo Fiorentino, Fiorenza: Torrentino 1551 (= 1552). – Die vierte Übersetzung ist: Anselmo Tanzi: Boetio Severino Di consolatione philosophica volgare, nuovamente revisto et di molti errori porgato, opera al tutto dignissima eccellente et bella, Milano: Vicomercato 1520; Vinegia: Sessa 1527, 1531, 1581. 41 S. Thomas Ricklin: „Quello non conosciuto da molti Libro di Boezio. Hinweise zur Consolatio Philosophiae in Norditalien“, in: Boethius in the Middle Ages (Anm. 15), S. 267-286, hier S. 284. 42 Dario Brancato: „L’epistola dedicatoria della Consolazione della Filosofia di Benedetto Varchi (1551) fra retorica e politica culturale“, in: Studi rinascimentali 1/2003, S. 85-95, hier S. 87-89 mit Verzeichnis aller Drucke der drei Übersetzungen. – Eine neue, jedoch weit weniger erfolgreiche Übersetzung erschien erst im 18. Jahrhundert: Boezio: Della Consolazione volgarizzato da maestro Alberto Fiorentino co'motti dé filosofi ed un’orazione di Tullio, volgarizzamento di Brunetto Latini, Firenze: Manni 1735. 43 Brancato (Anm. 42), S. 94. 44 Libro de Boecio Seuerino intitulado Dela consolacion dela philosophia: agora nueuamente traduzido de latin en castellano, por estilo nunca ante visto en España. Va el Metro en coplas: y la prosa por medida [por Alberto de Aguayo], Sevilla: Cromberger 1518, 1521; Sevilla: Varela 1530; Medina del Campo: Castro 1542. 45 Menéndez y Pelayo (Anm. 39), S. 310-311; Briesemeister (Anm. 39), S. 21. Die Übersetzung von Sánchez de Viana verzeichnet das Inventario general de manuscritos de la Biblioteca Nacional, Madrid 1958, Bd. 4, S. 471f. (Nr. 1577). Die Handschrift enthält auch umfangreiche „Anotaciones sobre los libros de la consolacion natural del Santo Boecio“. Einen Übersetzungsvergleich von Aguayo, Sánchez de Viana und López bietet Leonor Pérez Gómez: „Boecio y sus traductores: a

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auch im Siglo de Oro vorwiegend in den Händen von Mönchen und dient Zwecken der Laienfrömmigkeit. Das gilt etwa für die Übersetzung des Zisterziensers A(u)gustín López de Reta von 1604, welche das Buch V ausspart, weil dessen theologisch diffizile Thematik dem seelsorgerischen Zweck des Werks abträglich sei.46 Esteban Manuel de Villegas ist der erste (und möglicherweise einzige) ‚weltliche‘ Übersetzer, dessen prosimetrische und polymetrische Version im übrigen diejenige López’ verdrängt.47 Der Übersetzer wagt sogar, den Wettstreit mit Boethius aufzunehmen, wenn er behauptet, dank seiner Übersetzung hätten die Laien keinen Grund mehr, die Gelehrten zu beneiden, die das Original lesen könnten.48 Hier nimmt Villegas den Mund zu voll, denn seine Übersetzung endet mit dem zweiten Metrum des fünften Buchs. Der Rest wird auf lateinisch geboten, denn auch dieser Übersetzer, der zeitweise der Verfolgung durch die Inquisition ausgesetzt war, wagt nicht, die in der dritten Prosa von Buch V einsetzende Diskussion über den freien Willen einem Laienpublikum zu präsentieren!49 Am Ende des Jahrhunderts ist es wiederum ein Bettel_____________ propósito del metro III, 9 del De Consolatione Philosophiae“, in: Florentia iliberritana: Revista de estudios de antigüedad clásica 4-5/1993-94, S. 391-416; vgl. noch Enrique Montero Cartelle / José Ignacio Blanco Pérez: „La traducción y anotaciones a La consolación de la filosofía de Boecio por el Dr. Pedro Sánchez de Viana“, in: Humanitas. In honorem Antonio Fontán, Madrid 1992, S. 417-431. 46 Boecio: de Consolacion, traduzido y comentado por el padre Fray Augustin Lopez [...] de la orden de S. Bernardo y enriquecido con advertencias sentenciosas, y tratados espirituales, a proposito de lo que enseña Boecio, Valladolid: Bostillo 1604. S. Menéndez y Pelayo (Anm. 39), S. 312-320, hier S. 318; vgl. noch Briesemeister (Anm. 39), S. 21. 47 Los cinco libros de la consolación que compuso Severino Boecio; traducidos en lengua castellana por Don Esteuan Manuel de Villegas; con las vidas del mismo Boecio, y del rey Theodorico y vn apoyo de la Philosophia en tercetos, Madrid: Garcia de la Iglesia 1665; wir benutzen die Ausgabe Las eróticas y traducción de Boecio de Estevan Manuel de Villegas, 2 Bde., Madrid: Sancha 1774, hier Bd. 1, S. XXXIV; vgl. Bd. 2, S. a 4. Die Boethiusübersetzung findet sich in Bd. 2; 21797. 48 Ebd., Bd. 1, S. XXXII. 49 Menéndez y Pelayo (Anm. 39), S. 323; Die Ausgabe von 1774 (Anm. 47), S. 202, schreibt: „Aunque Villegas habia traducido mas de la mitad de la tercera Prosa, no quiso continuar, y le pareció mas conveniente imprimir en Latin lo restante del quinto Libro.“ Daher ergänzt diese Ausgabe das Fehlende durch die Übersetzung von Aguayo. Hat für Villegas wie für López de Reta die Consolatio also gewissermaßen ein Buch ‚zu viel‘, so wird sie im 18. Jahrhundert für einen in Deutschland wirkenden französischen Freimaurer ein Buch ‚zu wenig‘ haben, nämlich das wegen der Hinrichtung des Autors vermeintlich ungeschriebene sechste Buch, das angeblich einen christlichen Schlusspunkt gesetzt haben würde; s. Joseph Du Fresne de Francheville: La Consolation philosophique de Boëce, nouvelle traduction avec la vie de l’auteur, des remarques historiques et critiques et une dédicace masson-

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mönch aus der einflussreichen Reformbewegung der Unbeschuhten Karmeliten, der eine neue Übersetzung der Consolatio vorlegt.50 Anders als in Italien oder Spanien erscheint in Frankreich erst am Ende des 16. Jahrhunderts eine Neuübersetzung der Consolatio. Sie entsteht im Umfeld des an Justus Lipsius anknüpfenden christlichen Neostoizismus aus der Feder von Charles Le Ber.51 Aus dem 17. Jahrhundert sind wenigstens vier weitere Übersetzungen bekannt, von denen diejenige des Ex-Jesuiten und aumônier du Roi René de Ceriziers die erfolgreichste gewesen sein dürfte, weil sie den Geschmack des adligen und – im Unterschied zu Spanien – durchaus mondänen Laienpublikums am besten traf.52 Ceriziers stellte dem Werk des Boethius – offenbar jedoch nicht in Anlehnung an Johannes von Dambach53 oder Jean de Gerson54 – eine Consolation de Théologie zur Seite und publizierte beide Werke z.T. auch gemeinsam.55 _____________ nique, par un frère masson, membre de l’Académie roiale des sciences et des belles-lettres de Berlin, 2 Bde., La Haye: De Hondt (= Berlin: Roblau) 1744. 50 Consuelo de la Filosofia, escribiole en lengua latina S. Flavio Anicio Manlio Torquato Severino Boecio; traduxole a la castellana, i añadiò noticias historiales del mismo santo, F. Antonio de Iesus Maria, religioso descalzo de la reforma de N. Señora del Carmen [...] ; con una idea de toda la obra, indice de las cosas notables, Madrid: Villa-Diego 1680. – Eine Übersetzung der Consolatio scheint schließlich auch zu enthalten: Armas contra la fortuna, fabula temida de los hombres: maximas politicas y morales sobre Boethio De Consolatione Philosophica [...]: repartido en metro y prosa, sirviendo de norte Boethio a quien traducido se aplican varias digresiones compuesto por Antonio Perez Ramirez, Valladolid: Rodriguez Figueroa 1698. 51 Séverin Boèce, de la Consolation de Philosophie, traduict du latin en françois par le sieur de Malassis de Mente [= Charles Le Ber], Paris: Borel 1578; 2. Auflage Paris: Houzé 1597. Le Ber übersetzte Lipsius’ Hauptwerk: Les Six livres des politiques, ou Doctrine civile de Justus Lipsius, où il est principalement discouru de ce qui appartient à la principauté, La Rochelle: Haultin 1590; vgl. Jacqueline Lagrée: Juste Lipse et la restauration du stoïcisme. Étude et traduction des traités stoïciens „De la constance“, „Manuel de philosophie stoïcienne“, „Physique des stoïciens“ (extraits), Paris 1994. 52 Consolation de la Philosophie, traduite du latin de Boèce en françois, par le P. R[ené]. de Ceriziers, Paris: Hénault s.d.; Paris: Camusat 1636; Reims: Bernard 1636; Paris: Gourault 1638; Reims: Bernard 1640. Consolation de la philosophie par Séverin Boèce, traduit de latin en françois par M. Jean d’Ennetières, Chevalier seigneur de Maisnel, Tournay 1628; De la Consolation de la Sagesse trad. de Boece par Jean de La Bouscherie, Fontenay: Petitjean 1652; Boëce consolé par la philosophie. Traduction nouvelle par le P. Nicolas-F. Régnier, Paris: Loyson 1676. 53 Consolatio theologiae, Mainz: Schöffer ca. 1470/75; Microfiche, München 1992. 54 Mark Stephen Burrows: Jean Gerson and „De consolatione theologiae“, 1418. The Consolation of a Biblical and Reforming Theology for a Disordered Age, Tübingen 1991. 55 Les Consolations de la philosophie et de la théologie, Paris: Soly 1640; Rouen: Viret 1646; Paris: Veuve Camusat et Le Petit 1647; Rouen: Viret 1654; Lyon: Huguetan 1657; Paris: Angot 1663.

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*** Nicht von ungefähr steht diese Einleitung unter dem Motto des Urteils, das Gretchen über Fausts gewundene Antwort auf ihre sprichwörtlich gewordene Frage fällt. Das Motto, das kontrapunktisch auf die im Zentrum dieses Bandes stehenden christlichen Leser der Consolatio bezogen ist, eröffnet einen möglicherweise als überraschend empfundenen Zeithorizont, weil er weit über den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fokus hinausgeht, doch ist diese Perspektive für das Thema keineswegs unwichtig. Denn erst die vom Deismus über den Pantheismus bis zum Theismus reichenden Religionsgespräche des 18. und des 19. Jahrhunderts werden die theologischen, philosophischen und philologischen Voraussetzungen dafür schaffen, den Boethius Christianus nur noch historisch zu lesen56 und den Boethius paganus der Spätantike endgültig wiederzugewinnen.57

_____________ 56 Vgl. Charles Jourdain: „De l’origine des traditions sur le christianisme de Boèce“, in: Mémoires présentés par divers savants à l’Académie des Belles-Lettres de l’Institut Impérial de Paris, Bd. VI, 1, Paris 1860, S. 329-360; wieder in: Excursions historiques et philosophiques à travers le moyen âge, Paris 1888, S. 1-27. 57 Zur Geschichte dieses Prozesses vgl. erste Hinweise bei Gruber (Anm. 2), S. 14f.

Boezio ‚cristiano‘ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena ANNA MARIA BABBI (VERONA) The French translations of Boethius’ ,Consolatio Philosophiae’ can give us a rather clear idea of the nature and consistency of the text passages in vernacular added to the original Latin version in order to broaden and stress the range of its possible „Christian“ interpretations. The first prose translation (contained in MS 2642, Österreichische Nationalbibliothek, Vienna) maintains the accurate separation of the text and the glosses, in which the early Latin commentators place their critical explanations drawing on Christian sources. The influence of this Christian-oriented reading of the texts is at its peak with the still unpublished adaptation assigned to Bonaventura of Demena, handed down in MS fr. 821, Bibliothèque Nationale de France, Paris. This text, translated into Italian by Bonaventura himself, is characterized by a significant amplification of Christian motifs, mostly due to the moral precepts of the Gospels, but also referring to other biblical source texts: to give an example, Bonaventura includes the Ten Commandements, which do not belong to his model, assuming Boethius omitted them because they were already well known by the general public.

Il canone che innerva l’idea di una Consolatio con forti ed inequivocabili accenti cristiani nasce con le glosse al testo manoscritto e con i primi commenti latini. Ma un appoggio è già presente nell’opera boeziana. Prendiamo le tre parti mitologiche, ossia quelle che parlano di Orfeo (III, xii), Ulisse (IV, iii) e Ercole (IV, vii) o il metro III, ix („O qui perpetua mundum ratione gubernas“, ‚O tu che governi il mondo con una stabile norma‘)1: tutti questi passaggi consentono la possibilità di una interpretazione ‚cristiana‘. Gli ultimi gliconei del metro di Orfeo Vos haec fabula respicit / Quicumque in superum diem / Mentem ducere quaeritis; / nam qui Tartareum in specus / uictus lumina flexerit, / quicquid praecipuum trahit / perdit dum uidet inferos Questo mito allude a chiunque di voi / aspira ad elevare lo spirito / verso la luce del mondo celeste; / chi infatti, vinto, volge gli occhi / a riguardare l’antro del Tartaro, / perde quel che reca di più prezioso, / mentre sta a guardar il mondo inferiore

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Tutte le citazioni latine sono tratte da Anicius Manlius Severinus Boethius: Philosophiae Consolatio, Lvdovicvs Bieler (ed.), Tvrnholti 1984, „Corpus Christianorum“; le traduzioni italiane sono tratte da Ovidio Dallera: La consolazione della filosofia, introduzione di Christine Mohrmann, Milano 1976.

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sono stati spiegati fin dai primi commentatori attraverso il ricorso al vangelo di Luca, IX, 62: „Nemo mittens manum suam ad aratrum et respiciens retro aptus est regno Dei“ (‚Nessuno che pone mano all’aratro e guarda indietro è atto al regno di Dio‘). Molti concetti (e mi riferisco in particolare al metro III, ix), pur avendo come fonte diretta il Timeo, di cui sono profondamente intrisi, sono affini al libro del Genesi e a quello della Sapienza.2 Di per sé, poi, la prigionia, il martirio così come è tramandato dalla tradizione – e la morte del filosofo – avevano già offerto il destro al primo poemetto in provenzale, il Boecis, di essere omologato alle vite di santi. L’intento agiografico sotteso a questa specie di vida è palese. Ricordo anche che nei rifacimenti italiani in cui la lettura della Consolatio in chiave cristiana è forse più frequente che nella trasposizione in altre lingue, talora si parla di Boezio come di un santo. Così nel ms. 56 della Biblioteca Franzoniana di Genova (olim presso la Congregazione delle Missioni Urbane, ms. 46, sempre di Genova) leggiamo questa sorta di accessus ad auctorem: A lo nome de lo nostro Segnor ueraxe e de la gram corte de cel e de la uergem Maria, chi uoia esser nostra guia in lo so sancto reame: chaum chi ode diga amen. Questo libero in Pauia, ornao de phillossoffia, fe Boecio in prexom per soa conssollaciom; unde ello fo descapitao e sam Seuerim fo apellao, per la uita uirtuossa,3

I commentatori latini, da Remi d’Auxerre via via attraverso Guillaume de Conches, Guglielmo d’Aragona fino a Nicolas Trevet, s’appropriarono della possibilità di un’esposizione con forti componenti cristiane, sviluppandola e chiosando e interpretando il testo boeziano con l’ausilio delle Sacre Scritture e delle opere degli autori cristiani nel tentativo di far conciliare con il cristianesimo la fortissima influenza platonica della Consolatio, in un sincretismo ideologico, sulla scia di Alcuino di York, il quale – come ha

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Pierre Courcelle: La consolation de Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967. Ernesto Giacomo Parodi: „Studi Liguri“, in: Archivio glottologico italiano 14/1898, pp. 1-110; si veda l’articolo di Glynnis M. Cropp: „An Italian Translation of Le livre de Boece de Consolacion“, in: Carmina Philosophiae, Journal of the International Boethius Society 11/2002, pp. 1-8. Il corsivo è mio.

Boezio ‚cristiano’ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena

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dimostrato Pierre Courcelle – introdotto com’era alle discipline filosofiche, „utilise constamment le texte de la Consolation et l’interprète en fonction de la Révélation judeo-chrétienne“.4 Più oltre, nel suo saggio su Alcuino, Courcelle giunge a dire: Ainsi christianisée par Alcuin, la Philosophie boécienne allait régner sur les imaginations et être agréée pour l’enseignement par la plupart des esprits, du IXe au XIIe siècle.5

I primi traduttori francesi a loro volta utilizzarono spesso le interpretazioni dei commentatori. Ne è esempio il primo6 volgarizzamento (e impiego il termine di Gianfranco Folena7) francese, quello conservato nella Österreichische Nationalbibliothek di Vienna (ms. 2642) edito da Margaret Bolton-Hall.8 L’anonimo autore, probabilmente del Sud-Est della Borgogna9 mantiene infatti intatto il dettato del testo latino, in una traduzione che prevede solo l’utilizzo della prosa anche per i metri, mentre alloga nelle chiose i riferimenti ‚cristiani‘. Come afferma Margaret Bolton-Hall, il suo commento non è originale, ma It is, in fact, itself a translation of an earlier Latin compilation drawn from the commentaries of William of Conches or his revisers, Adalbold of Utrecht, the Remigian commentaries and other as yet unidentified sources.10

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Courcelle (nota 2), p. 37. Courcelle (nota 2), p. 47. Seguo la classificazione dei volgarizzamenti francesi allestita da Antoine Thomas et Mario Roques: „Traductions françaises de la ,Consolatio Philosophiae‘ de Boèce“, in: Histoire littéraire de la France 37/1938, pp. 419-488 e 543-547, e ripresa in: J. K. Atkinson / A. M. Babbi (eds.): L’«Orphée» de Boèce au Moyen Age. Traductions françaises et commentaires latins (XIIe – XVe siècles), Verona 2000. Una rassegna delle traduzioni francesi anche in Glynnis Cropp: „The Medieval French Tradition“, in: M. J. F. M. Hoenen / Lodi Nauta (eds.), Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Tradition of the ‚Consolatio Philosophiae‘, Leiden-New York-Köln 1997, pp. 243-265; sempre di Glynnis Cropp la voce „Boethius in translation in Medieval Europe“, in: Harald Kittel / Armin Paul Frank / Norbert Greiner / Theo Hermans / Werner Koller / José Lanbert / Fritz Paul (eds.), Übersetzung. Translation. Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungforschung, Berlin-New York 2007, 2. Teilband, pp. 1329-1337. 7 Gianfranco Folena: Volgarizzare e tradurre, Torino 1991. 8 „Del Confortement de Philosofie. A Critical Edition of the Medieval Prose Translation and Commentary of De Consolatione Philosophiae of Boethius, contained in MS 2642 of The National Library of Austria, Vienna“, Margaret Bolton-Hall (ed.), in: Carmina Philosophiae, Journal of the International Boethius Society 5&6/1996-1997, pp. iii-xiii, 1-228. 9 Del Confortement de Philosofie (nota 8), p. vi. 10 Del Confortement de Philosofie (nota 8), p. vi.

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Numerosi sono i riferimenti ai Vangeli, e in generale ai testi del Nuovo Testamento e degli autori cristiani, disseminati nel testo a guisa di chiosa. Il metro ix del terzo libro, come s’è detto, è quello che maggiormente si presta all’omologazione cristiana. Philosophie fait en cest [metre] invocation e pree le Criator, qui totes choses cria – ce est le Pere e le Filz e le Saint Esperit, qui sunt uns Dex e treis persones – que il otreit a l’anime de Boece parvenir la donc ele vint e avironer le fonteine de bien, qui est Jesu Crist, nostre Seignor, qui vit e regne o le Pere e o le Saint Esperit pardurablement, e dit:11 ,Filosofia fa in questo metro un’invocazione e una preghiera al Creatore, che creò ogni cosa – cioè il Padre e il Figlio e il Santo Spirito, che sono un Dio e tre persone – che conceda all’anima di Boezio di giungere là da dove venne e avvicinarsi alla fontana di bene, che è Gesù Cristo, nostro Signore, che vive e regna con il Padre e con lo Spirito Santo per sempre, e disse:‘

Questo metro, già commentato con successo da Remy d’Auxerre,12 è oggetto di una lunghissima e puntuale glossa da parte dell’anonimo borgognone. Ne riporto un passaggio, il commento ai versi 13-14: Tu triplicis mediam naturae cuncta mouentem connectens animam per consona membra resoluis E l’essenza spirituale che, presente nei tre elementi della natura / li vivifica, tu la congiungi, e la diffondi in membra adeguate

Il testo viene trattato secondo l’uso medievale, facendo seguire alla lettera (vale a dire il volgarizzamento) la glossa: La letre: Tu, Dex, enlaces l’arme moiene de treble nature, que fait esmoveir totes choses, e tu les deslies par concordable menbres. Glose: Cil qui ont leü les comenz Boece sor les ‚Introductions‘ de Porfire deivent saveir l’arme estre de trebble nature. Car l’une arme aministre tant solement la vie, l’autre, la vie e le sens, la tierce, la vie e le sens e la reizon. Por la premiere, vivent les herbes e li arbre; par la seconde, vivent totes les bestes, quar les bestes ont arme mortel, qui meurt ensemble le cors; par la tierce, vivent li home. (L’arme de l’home est pardurable: puis que ele comence a estre, jamais fin non aura. Sainz Augustins dit: ‚Dex crie chascun jor noveles armes‘. Ne devons pas creire les sentences des philosofes, de Platon e des autres, qui dient que Dex cria totes les armes del comencement del siecle e les posa es esteilles, e descendent as cors e a la mort retornent a lor esteilles. Mais ce est fals.) De cest meeme lou trait Sainz Gregoires sa auctorité, en l’exposicion que il fait sor l’Evangile Saint Mathé del jor de l’Ascension, la o Dex dist a ses apostles: ‚Alez preecher l’Evangile a tote criature‘ […].13

_____________ 11 Del Confortement de Philosofie (nota 8), p. 76. 12 Si veda Courcelle (nota 2), p. 285. 13 Del Confortement de Philosofie (nota 8), pp. 88-89.

Boezio ‚cristiano’ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena

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La lettera: Tu, Dio, leghi l’anima di triplice natura, che fa muovere tutte le cose, e tu la diffondi con membra armoniose. Glossa: Coloro che hanno letto i commenti di Boezio sulle ‚Introduzioni‘ di Porfirio devono sapere che l’anima è di triplice natura. Poiché l’una amministra solamente la vita, l’altra la vita e il senno, la terza la vita, il senno e la ragione. Per la prima, vivono le erbe e gli alberi; per la seconda vivono tutti gli animali, poiché gli animali hanno anima mortale, che muore insieme al corpo; per la terza vivono gli uomini (L’anima dell’uomo è imperitura: da quando comincia a essere, non avrà mai fine. Sant’Agostino dice: ‚Dio crea ogni giorno nuove anime‘. Non dobbiamo credere alle sentenze dei filosofi, di Platone e degli altri, che dicono che Dio creò tutte le anime dall’inizio del mondo e le pose sulle stelle, e scendendo nei corpi e dalla morte ritornano alle stelle. Ma questo è falso). Da questo stesso passaggio trae la sua autorità San Gregorio, nell’esposizione che fa del vangelo di Matteo nel giorno dell’Ascensione, quando Dio dice ai suoi apostoli: ‚Andate a predicare il Vangelo a tutte le creature‘[…].

L’esempio basterà, credo, per mostrare, 1. il metodo di procedere del traduttore; 2. l’utilizzo dei testi di Agostino e di Gregorio; 3. la lettura della Consolatio nell’ottica cristiana. Il passo sopra citato alla fine del metro boeziano III, xii su Orfeo è ad esempio, in questo primo volgarizzamento, molto esplicito e Luca non è solo alluso, ma apertamente menzionato: Iceste fable regarde a vos, o vos home, quicumques voléz mener vostre pensé en la sovereine lumiere – ce est en Deu. Quar cil li quels, vencuz, flechira ses lumieres – ce est reison e entendement – en l’enfernal fosse, il perdra quanque il aveit de bien dementres que il esgarde les enfernals choses. De ce meesme dit l’Evangile: ‚Cil qui met sa main en la charrue e esgarde arriere non est dignes del regne de Deu‘ – ce est quant li hom comence le bien, ne deit retorner au mal.14 Questa favola riguarda voi, o uomini, che volete portare il vostro pensiero alla luce suprema – cioè a Dio. Poiché colui che, vinto, girerà i suoi occhi – cioè la ragione e l’intendimento – verso la fossa infernale, perderà tutto quanto egli possedeva di bene mentre guarda le cose infernali. Di questo parla il vangelo: ‚Colui che mette mano all’aratro e guarda indietro non è degno del regno di Dio‘ – cioè quando l’uomo comincia il bene, non deve ritornare al male.

Gli altri volgarizzamenti sono forse più sobri nell’utilizzo delle fonti cristiane. Prendiamo ad esempio, tra i testi recentemente pubblicati, Le livre de Boece de Consolacion15 (versione 6) e Boeces: De Consolacion16 (versione 5). Nell’interessante versione sei, in versi e in prosa, largamente debitrice al commento di Guillaume di Conches, troviamo, sempre a proposito del

_____________ 14 Del Confortement de Philosofie (nota 8), p. 118. 15 Le livre de Boece de Consolacion, Glynnis Cropp (ed.), Genève 2006. 16 Boeces: De Consolacion. Édition critique d’après le manuscrit Paris, Bibl. Nationale, fr. 1096, avec Introduction, Variantes, Notes et Glossaires, John Keith Atkinson (ed.), Tübingen 1996.

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metro III, ix, una significativa omologazione tra le dottrine platoniche e il dettato evangelico: Et ce appelle Platon ydee ou fourme, et Boece l’appelle cy providence divine, et saint Jehan l’evangeliste l’appelle vie, disant en son evangile ‚Quod factum est in ipso vita erat‘, et ainsi c’est la concepcion ou l’ymage qui estoit en la pensee divine a l’exemple de qui ce monde sensible est fait.17 E Platone chiama questo idea o forma, e Boezio lo chiama qui provvidenza divina, e san Giovanni, l’evangelista, lo chiama vita, dicendo così nel suo Vangelo: ‚Ciò che è fatto era la vita‘ e così è la concezione o l’immagine che era nel pensiero divino all’esempio del quale questo mondo sensibile è fatto.

Il riferimento al Vangelo di Giovanni viene scelto anche nelle glosse della versione dell’anonimo borgognone: Et quels chose est la pensé de Deu, par le quel e del quel e el quel totes choses sunt feites e vivent, ensi cum Saintz Johans escrist en s’Avangile : ‚Quod factum est in ipso vita erat‘ ce que est feit en celui estoit vie.18 E cos’è il pensiero di Dio, per il quale e dal quale tutte le cose sono create, così come San Giovanni scrisse nel Vangelo: ‚Ciò che è fatto era vita‘ cioè ciò che è creato in lui era vita.

Ma forse la versione dove le impronte cristiane sono più evidenti è quella fermata nel ms. fr. 821 della BnF, tuttora inedita.19 Questo rifacimento è attribuito a Bonaventura da Demena, come si deduce dalla rubrica di f. 48rb: Coment .Bo. demande la dame se ce qe les gens appeloient venture estoit noient ou se il estoit auchune chose et qiel cose ce estoit et coment la dame respondi a ce et lui moustra qiel chose estoit aventure et por qoi se regioit et guioit l’aventure la qiele ge Bonaventure qi ne sun de Demena translateors dou .Bo. de letre en volgar fraçois pri Diex qi nos doint bone et perfeite venture selonc ce qe il sa qi n’a mestier por les meilors de nos a bien vivre et a notre saluz.20

_____________ 17 Le livre de Boece de Consolacion (nota 15), p. 174. La citazione evangelica è da Giovanni I, 3-4. 18 Del Confortement de Philosofie (nota 8), p. 84. 19 Wilhelm Meyer-Lübke: „Franko-italienische Studien, III: Das Lied von Hector und Hercules“, in: Zeitschrift für romanische Philologie X/1886, pp. 363-410; „Consolatio Philosophiae“, una versione veneta, A. M. Babbi (ed.), Milano 1995. Su questa versione si veda anche Gianfelice Peron: „Cultura e pubblico del ‚Boèce‘ franco-italiano (Paris, B.N., ms. fr. 821)“, in: Testi, cotesti e contesti del franco-italiano (Bad-Homburg, 13-16 aprile 1987), Tübingen 1989, pp. 143-160. 20 Il testo del manoscritto fr. 821 (P) è tuttora inedito; cito dunque dal manoscritto. Sono intervenuta separando le parole, sciogliendo tacitamente le abbreviazioni, inserendo i segni diacritici e d’interpunzione, regolarizzando l’uso delle maiuscole, distinguendo u da v e i da j ; le integrazioni, per lo più sulla base del manoscritto

Boezio ‚cristiano’ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena

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Come Boezio chiede alla dama se ciò che la gente chiama ventura era niente o se era qualcosa e che cosa era e come la dama rispose a questo e gli mostrò che cosa era ventura e perché reggeva e guidava l’avventura, la quale io Bonaventura, che sono nato a Demena, traduttore di Boezio dal latino al volgar francese prego Dio che ci conceda perfetta ventura secondo quello che egli conosce essere necessario per i migliori di noi per vivere bene e per la nostra salvezza.

Bonaventura da Demena è, assieme a Pierre de Paris (Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, ms. lat. 4788),21 tra i più eccentrici volgarizzatori della Consolatio, e sul quale ha pesato a lungo il giudizio negativo di Antoine Thomas22 e di Louis Moland.23 Ma già Richard Dwyer, il quale ha anche cercato di scavare sulle sue possibili origini, da lui individuate in Sicilia,24 nel suo Boethian Fictions lo aveva in qualche modo rivalutato.25 Ma va anche detto che la lingua nella quale è scritto questo testo (e in generale tutti i testi contenuti nel manoscritto 821 già appartenuto alle preziose collezioni dei Gonzaga e dei Visconti) esemplato nel Nord d’Italia, come dimostrano le indagini su singoli porzioni del manufatto, risente in modo considerevole delle interferenze linguistiche della lingua dell’autore / copista su un francese forse del Nord Est della Francia. Anche per questo motivo, per essere scritto in quella lingua, ‚terra di nessuno‘ che è il franco-italiano secondo la definizione di Alberto Limentani, la sua analisi non è stata approfondita dagli studiosi della Consolatio nella sua veste in volgare. Interessante è il prologo in cui, oltre che di traduzione, il translateor parla anche di leggere in modo ‚nuovo‘ il testo boeziano, talora scritto, sempre secondo lui, in maniera oscura nell’originale a quanti non conoscano il latino; questo si lega al topos dell’opacità degli antichi, puntualizzato anche da Jean de Meun nel suo prologo della sua versione in francese della Consolatio.26

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veronese, sono indicate con le < >, le espunzioni con le [ ]. Tra le ( ) ho segnalato il numero di folio. Volgarizzamento di cui sto allestendo l’edizione; mi permetto di rinviare al mio „Pierre de Paris traducteur de la Consolatio Philosophiae“, in: Claudio Galderisi / Cinzia Pignatelli (eds.), La traduction vers le moyen français, Actes du II Colloque de l’AIEMF, Université de Poitiers – CESM, 27-29 avril 2006, Turnhout 2007, pp. 23-32. Thomas / Roques (nota 6), pp. 467-470. Louis Moland: Origines littéraires de la France, Paris 1862, p. 276. Richard Dwyer: „Bonaventura da Demena, Sicilian Translator of Boethius“, in: French Studies 28/1974, pp. 129-133. Richard Dwyer: Boethian Fictions. Narrative in the medieval French Versions of the Consolatio Philosophiae, Cambridge, Massachusetts 1976, p. 10. „Car se je eusse espons mot a mot le latin par le françois, li livres en fust trop oscurs aus gens lais, et li clers neis moiennement letré ne peussent pas legiere-

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L’aggiunta finale è significativa: la dichiarazione di averlo tradotto un tempo in italiano (vulgar latin) apriva una discussione di metodo. Si trattava di un luogo comune di molti prologhi o di un’asserzione veritiera? Il ritrovamento del volgarizzamento in veneto27 nel codice 212 della Biblioteca Civica di Verona28 (se pur mutilo della fine) non lascia dubbi sull’affermazione dell’autore. Questo rifacimento boeziano è stato prima volgarizzato, probabilmente in francese, e poi tradotto. Alberto Limentani individuava proprio nella succitata dichiarazione di Bonaventura, ossia di aver già translaté la Consolatio in italiano, l’elemento più interessante di questo volgarizzamento. Scrive Limentani: È un caso raro, e forse il solo, di traduzione in due lingue ad opera dello stesso operatore, che pare agire sempre in un solo terreno; ed è un caso da non dimenticare nella fenomenologia dell’atto di comunicazione letteraria nell’epoca in questione.29

La soluzione del primo problema, quello della doppia traduzione, o dell’ auto-traduzione,30 ne apriva però un altro più squisitamente ecdotico, come si può vedere dai due passaggi speculari qui sotto riprodotti, il primo tratto dal prologo P e il secondo da quello di V: Et porce ge, considerant a ce, si ai pensé de doner novelle maniere de conte a une moult utiele esscriture la quiele estoit por letres et en latin en le philosophyce livres de Boeces soutilment et oscurement descrite au meinz a cil qi ne sievient letres. Et por ce l’ai ge translaté en vulgar françois, si come autre fois l’ai mis en vulgar latin (f. 27ra, ll. 19-27) E per tanto io, considerando questo, sì ò pensado de donare nuova mainiera de parlar a una molto bella scriptura la qual sì iera per françois in lo philosophico libro de Boecio sotilmente e oscuramente descrito, almeno a queli che non intendeno françois, e per tanto io sì l’ò translatado in volgar latino e coxì utiel coxa me par che a tuta la çente sia chiaro el so dolçe parlar.31

Della difficoltà di stabilire legami certi e indiscutibili di priorità tra i due testimoni (e più in generale tra i due testi) ho discusso nelle pagine intro-

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ment entendre le latin par le françois […].“ V. L. Dedeck-Héry: „Boethius’ De Consolatione Philosophiae by Jean de Meun“, in: Mediaeval Studies XIV/1952, p. 168. „Consolatio Philosophiae“, una versione veneta (nota 19). D’ora in poi V. Alberto Limentani: „Franco-veneto e latino“, Atti del XIV Congresso internazionale di linguistica e filologia romanza, Napoli 1974, ora in: Marco Infurna / Francesco Zambon (eds.), L’„Entrée d’Espagne“ e i signori d’Italia, Padova 1992, p. 207. Anna Maria Babbi: „Dal volgarizzamento franco-italiano alla traduzione veneta: il caso della Consolatio Philosophiae“, in: Luigina Morini (ed.), La cultura nell’Italia padana e la presenza francese nei secoli XIII-XIV, Atti del Simposio internazionale, Pavia, 11-14 ottobre 1994, Alessandria 2001, pp. 143-150. „Consolatio Philosophiae“, una versione veneta (nota 19), p. 91.

Boezio ‚cristiano’ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena

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duttive all’edizione veneta, azzardando, con molta cautela, un’origine francese (o meglio franco-veneta) piuttosto che italiana.32 Ma quello che interessa in questa sede è la cristianizzazione della Consolatio che raggiunge in questa versione forse il suo apice rispetto alle altre versioni francesi. Ampi passaggi del testo indugiano su elementi che non appartengono all’originale latino, né ai numerosi commenti che ne sono stati fatti. Si sente sempre sottesa, incorporata nel testo, l’influenza del cristianesimo e soprattutto di alcune idee e formule tratte dai Vangeli o dalle Scritture. Propongo qualche esempio: (f. 33vb) „nus est profete en sa terre“ (,nessuno è profeta in patria‘)

formula che rievoca il „Non est propheta sine honore, nisi in patria sua et in domo sua“ di Matteo XIII, 57.33

Emblematico è il riferimento al peccato originale: (f. 35ra) en son nasciment et por les mesfeit de nos primerains parens s'esloigna la humaine generations de la beatitudens verais da cui elle a sa originance et sa creacions nella sua nascita e per il misfatto dei nostri progenitori l’umana generazione si allontanò dalla vera beatitudine da cui trae origine e da cui è creata

Laddove (IV, 2, 31) Boezio poneva un’interrogazione: „Cur enim relicta uirtute uitia sectantur?“ (,Perché infatti abbandonano le virtù e corrono dietro al vizio?‘), Bonaventura inserisce i sette vizi capitali (aggiungendovi l’odio), presi a prestito dalla tradizione cristiana: (f. 43ra) Sachez por voir qe toute lor vie et lor estat est pleine de maritudens et de mal et d’afliccions et peiors asséz qe tu ne cuides car il ont dedenz en son cuers dolors (f. 43rb) et affliccions de mort, car continement les ard la luxure et les conturbe la ire et les destorce l’odie et le consumme l’envie et les debat la superbe et les afaine l’avarice et les corode l’ocie et les delinqins la gule et sont toz tans souponuz a la seignorie des vices. Sappi invero che tutta la loro vita e il loro essere è pieno di amarezza, di male e di afflizioni, e molto peggiore di quanto tu non pensi poiché nei loro cuori hanno racchiuso dolori e pensieri di morte, poiché continuamente li arde la lussuria, li turba l’ira e li molesta l’odio e li consuma l’invidia e li affligge la superbia e li affanna l’avarizia e li corrode l’ozio e li distrugge la gola e sono sempre sottomessi al potere dei vizi.

Ma il vero sincretismo avviene nel III libro, quando Bonaventura inserisce i dieci comandamenti e altre regole religiose. I dieci comandamenti sono già annunciati prima della rubrica, secondo un’abitudine del translateor.

_____________ 32 „Consolatio Philosophiae“, una versione veneta (nota 19), pp. 7-75. 33 Ma anche Luca IV, 24 e Giovanni IV, 44.

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(f. 38va) Et sache cascuns qe la dame dist ici qe en Dex et en ses comandemenz se trueve le chemins d’aller a la verais beatitudens. Mais ne por quant la dame n’en raconte elle en le livre de .Bo. les comandamenz et les conseils divins por ce qe il sont en maint leus recontéz en la divine scriture. Mais ie traslateire de .Bo. si le voil raconter ici en somme au plus briement qe ie porai, por ce qe ciste oevre au meins as laics soit plus vive et plus profitable. E ognuno sappia che la dama disse qui che in Dio e nei suoi comandamenti si trova il cammino per andare verso la vera beatitudine. Ma tuttavia la dama non racconta nel libro di Boezio i comandamenti e i consigli divini per il fatto che sono raccontati in più luoghi della divina scrittura. Ma io traduttore di Boezio li voglio raccontare qui in somma il più brevemente possibile affinché questa opera sia almeno ai laici più viva e più proficua.

Dopo questa anticipazione segue, pressoché negli stessi termini, ma con qualche lieve spostamento di significato, la rubrica. Nell’avvertimento che Bonaventura fa alla fine del paragrafo sopracitato, è detto come Dama Filosofia abbia indicato quale cammino sicuro per raggiungere la beatitudine il seguire i dieci comandamenti e gli insegnamenti di Dio, ma che non li abbia ripetuti qui perché facilmente reperibili nelle scritture; ma il „compito del traduttore“ per il chierico è soprattutto quello di fare in modo che la sua opera risulti di utilità e sia dunque profitable. Del resto fin dal prologo viene sottolineata, nella versione francese, la moult utiele esscriture; nella versione veneta, l’utiel coxa è riferita proprio al lavoro del traduttore. Disseminata lungo tutto il testo, questa riflessione sull’utilitas è più volte ribadita. In questa addizione dei dieci comandamenti, in tutti e tre i paragrafi che li annunciano, viene impiegato il termine profitable nei primi due e utilité nel terzo che serve da cappello al tradizionale catalogo. (f. 38va) Coment l’auctors de ceste translacions veut ici moustrer le .x. comandamenz de la loi divine et les generals comandamenz de la dileccions de Deu et del prosme qi se truevent en le vielz testament. Et aucune doctrine des conseilz et de la profeccions del novel testament. Et coment la dame ne les raconte elle .Bo. por ce qe il sont clerement racontéz en la divine escriture. Mes l’auctor de ceste translacion en cist leus en la qiele il se convient asséz bien les veut raconter por ocheisons qe ceste (f. 38vb) oevre soit au meins es gens laics soit plus unie et plus belle et plus profitable. Come l’autore di questa traduzione vuole mostrare qui i dieci comandamenti della legge divina e i generali comandamenti dell’amore verso Dio e il prossimo che si trovano nel vecchio testamento. E come la Filosofia non li racconta a Boezio perché sono chiaramente descritti nelle Sante Scritture. Ma l’autore di questa traduzione in questo luogo nel quale è opportuno il suo raccontare per bene affinché questa opera almeno ai laici sia più unita, bella e più proficua.

L’aggiunta dei dieci comandamenti secondo il canone biblico assume dunque un valore innanzitutto didattico e serve per supplire – secondo il traduttore – una mancanza da parte della Filosofia che li aveva omessi perché già presenti nelle scritture. Bonaventura ribadisce dunque, per la terza

Boezio ‚cristiano’ nel volgarizzamento di Bonaventura da Demena

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volta, come i dieci comandamenti non fossero presenti nel testo di origine, forse perché troppo noti, non mettendo mai in dubbio la loro esistenza, se non nel testo della Consolatio, almeno nella mente di Filosofia. Selonc ce qe dit ai la dame ne raconta en le .Bo. les comandamenz ne les conseilz divins ou por la ocheisons qe dite est ou por autre, mais je por la utilité qe je t’ai dite les voil raconter ici. Or saches donc qe Damedex dona sor le mont Synay ces dis comandamenz les qeus sont les principaus comandamenz de la loi divine. Le primer est qe tu ne doies aorer ne soleil ne lune ne ydoles ne autres choses fors le unie et le veraie notre seigner Dex. Le segont est qe tu en preiure ne en autre guise ne dois avoer le nomme del notre seignors en vains. Le tiers est ce qe tu doies laborier sis jors, mes le setiene jor le qiel tient hui la eglise la diemange et les autres festes comandees doies tu santifier et nen aouvrer tes ars corporeles. Le qart est qe tu doie honorer ton pere et amer ta mere. Le qint est qe tu ne doies homecide. Le sest est qe tu nen doies faire furt. Le setiene est qe tu nen doies faire fornicacions Le otiene est qe tu nen deies rendre faulz testimoine contre ton prosme. Le novieme est qe tu nen desire la moilier de son prosme Le desiene est qe tu nen desire les autres choses de ton prosme Secondo ciò che ho detto la dama non racconta nel Boezio i comandamenti né i consigli divini o per il motivo che ho detto o per un altro, ma io per l’utilità di cui ti ho parlato li voglio raccontare qui. Ora sappi che Dio diede sul monte Sinai questi dieci comandamenti i quali sono i principali della legge divina. Il primo è che non devi adorare né il sole né la luna né idoli né altra cosa tranne l’unico e vero nostro signor Iddio. Il secondo è che tu in preghiera né in altro modo devi nominare il nome di nostro signore invano Il terzo è che tu devi lavorare sei giorni, ma il settimo giorno, che oggi è dedicato alla chiesa, la domenica e le altre feste comandate devi santificare e non usare le arti corporali. Il quarto è che tu devi onorare il padre e amare la madre. Il quinto è che non devi uccidere. Il sesto è che tu non devi rubare. Il settimo è che non devi fornicare L’ottavo è che non devi rendere falsa testimonianza contro il tuo prossimo. Il nono è che tu non desideri la moglie del tuo prossimo Il decimo è che non desideri le cose del tuo prossimo

Accanto ai dieci comandamenti, Bonaventura inserisce anche gli insegnamenti evangelici, tratti da più luoghi dei Vangeli, per molta parte dal discorso della montagna. Con questa seconda inclusione egli sconvolge definitivamente l’assunto originale della Consolatio di impostazione classica trasformandola in un’opera di impianto cristiano. Les generals comamdamenz

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Les generals comandamenz qe Dex comanda aprés ces dis si fu qe tu aimes dex de tot ton cuer et de toute ta arme et ton prosme si com toi meisme: et en cist generals comandament si est la carité de dex et del prosme. Et ancore i sont compris totes les lois et toutes les profecies si com dit la divine escriture, car selons les apostres, la plenece de la loi si est la dileccions et aveigne (f. 39ra) qe l’en doie a son pooir soustenir et amer son prosme besoignos quant as terreines chouses. Sor toutes riens le doit l’en amer et desirer et porchacier a son pooir qe il aie la saluz de sa arme, car celle est la somme vertus de caritéz a desirer la saluz de l’arme de cascuns selonc qe dient les sanz. Et beez l’ome soulers qi a grace da dex en ouserver ces dis comandamenz. Et aprés cels d’avoir droite enteligence et observance de les generals comandamenz de la dileccions de Deu et del prosme, car l’ome seulers qi com l’aiuctoire deveins l’oserve droitement si viv a cist siegle selonc iustise. Et ancore sent de celle perfections en la qiele puet sentir home seulers. Mes l’ome qi plus perfetement veut seguir les conseilz et l’arme de Crist a son pooir et ouserver les conseilz de la perfeccions les qieus sont maint. Mes les auquanz des plus principaus raconterai je ici. I comandamenti generali I generali comandamenti che Dio ordinò dopo questi dieci sono che tu ami Dio con tutto il tuo cuore e la tua anima e il tuo prossimo come te stesso: in questo comandamento generale c’è la carità di Dio e del prossimo. E ancora vi sono comprese tutte le leggi e tutte le profezie così come è detto nella divina scrittura, poiché secondo gli apostoli, la compiutezza della legge è l’amore e accade che si debba secondo la propria possibilità sostenere e amare il prossimo bisognoso quanto alle cose terrene. Sopra tutto lo dobbiamo amare e dobbiamo desiderare e procurare secondo la propria possibilità che abbia la salvezza dell’anima, poiché è la più importante virtù di carità desiderare la salvezza dell’anima di ciascuno così come dicono i santi. E beato è l’uomo secolare che ha da Dio la grazia nell’osservare questi dieci comandamenti. E dopo aver capito e osservato i comandamenti generali dell’amore di Dio e del prossimo, poiché l’uomo secolare che con l’aiuto divino li osserva rettamente, vive in questo mondo secondo giustizia. E ancora sente di quella perfezione nella quale può sentire l’uomo secolare. Ma l’uomo che più perfettamente vuol seguire i consigli e l’anima di Cristo secondo la sua possibilità e osservare i consigli della perfezione che sono molti. Ma i più importanti te li dirò qui.

Segue l’elenco degli insegnamenti: (f. 39ra) Le primier est qe tu doies leisier sigles et toutes tes richeces et ton propre et seguir la voie de Crist conseil la eglise tient hui en intre de la licite et approvee religion et en ouservance de mout caritative perfeccions metant l’ome religios en Dex tot son entendement et toutes ses ouvres continuement, et sivant povertéz hobedience et castitéz L’autre est qe tu doies volvre l’autre gaute ou mausille a cil qi toi fiert sor l’une. L’autre est qe tu doies laisier ton pere et ta mere et sa moillier et tes freres et tes parenz et tes amis por seguir la voie de Crist. L’autre est qe tu doies rendre bien por mal. L’autre est qe tu doies en la place la cape a cil qi toi demande la cotte. L’autre est qe tu doies orrer por tes anemis et por tes persecutors.

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L’autre est qe tu nen doies avoir solicitudens de ce qe tu doies mangier ou boire ou vestir car le pere celestial si sa mout bien qe tu as besoignes de toutes ces chouses. (f. 39rb) L’autre est qe tu doies nitifier ta chair com tes vices. L’autre est qe tu doies laisier tes venciances a Deu le qiel est cil qi retribueira. L’autre est qe tu doies orer continement sanz entermissions. L’autre est ce qe tu soies simples come la columbe por innocence et por no valor soutilece ne mal, car ensint est simple et sanz felz amere. Et qe tu soies saie come le serpent en esponre tot ton cors por saovre ton chief, ce est la foi de Crist le qiel est le chief de ta sauvacions, car ensint est saie le serpent qe esponre et doute tors son cors por sauver son chief. L’autre est qe tu saies qe qi veut sauver sa arme de tribulacions temporels si la perdra in eterne. L’autre est qe tu saches qe lors est bees l’ome perfez qant les genz les blasfement et le tient a fol et a forsenéz se il soufre pacientement. L’autre est qe tu sachez qe un puet servir a Dex et a cist monde car s’il aime les uns il convient qe il aie haine a l’autre. L’autre est qe tu saches qe uns puet avoir greignor carité com cil qi met sa arme por son ami. L’autre est qe si come est imposible qe le granuel entre por milieu de le pertus d’une aguile, ensint est imposible chose qe le riche home entre el reigne des cels sauve ce qe nulle chose est impossible aprés Deu L’autre est qe non cil qi a comencé mais cil qi persevre en bien uisqe en sa fins, cil sera sauvéz. L’autre ces et maint autres consoilz deveins se truevent en le novel testament. Il primo è che tu debba lasciare il mondo e tutte le ricchezze e ciò che possiedi e seguire la via di Cristo il quale consiglio la chiesa considera oggi compreso nella religione lecita e approvata e nell’osservanza di una perfezione caritatevole quando l’uomo mette in Dio continuamente la sua intenzione e tutte le sue opere seguendo povertà, obbedienza e castità. L’altro è che tu devi volgere l’altra guancia o mascella a colui che ti ferisce sull’una. L’altro è che tu devi tuo padre e tua madre e tua moglie e i tuoi fratelli e i tuoi parenti e i tuoi amici per seguire la via di Cristo. L’altro è che devi rendere bene per male. L’altro è che tu devi lasciare la cappa a chi ti chiede la cotta. L’altro è che tu devi pregare per i nemici e per chi ti perseguita. L’altro è che non devi preoccuparti di ciò che devi mangiare o bere o vestire poiché il padre celeste sa molto bene che tu hai bisogno di tutte queste cose. L’altro è che tu devi mortificare la carne con i tuoi vizi L’altro è che tu devi lasciare le tue vendette a Dio il quale è colui che le riscatterà. L’altro è che tu debba pregare continuamente senza interruzione L’altro è che tu sia semplice come la colomba per innocenza e per non voler sottigliezza né male, poiché è semplice e senza fiele amare. E che tu sia saggio come il serpente nell’esporre il tuo corpo per proteggere il capo, cioè la fede di Cristo il quale è il capo della tua salvezza poiché così è saggio il serpente che espone e mette in crisi tutto il suo corpo per salvare il suo capo.

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L’altro è che tu sappia che colui che vuol salvare la sua anima dalle tribolazione temporali, la perderà per sempre. L’altro è che tu sappia che l’uomo perfetto è beato quando la gente lo biasima e lo considera un folle e forsennato e lui sopporta pazientemente. L’altro è che tu sappia che non si può servire Dio e questo mondo, poiché se si ama l’uno bisogna avere in odio l’altro. L’altro è che tu sappia che uno può avere maggior carità come colui che dà la propria anima per il suo amico. L’altro è che così come è impossibile che il cammello entri nella cruna di un ago, così è impossibile che il ricco entri nel regno dei cieli, tranne che nessuna cosa è impossibile a Dio. L’altro è che non quello che ha iniziato, ma quello che persevera fino alla fine, quello sarà salvato. Questi e molti altri consigli di Dio si trovano nel nuovo testamento. Et sachez ancore sor ce qe ceste vie de perfeccions si est mout plus seure vie qe celle des seulers et est de grant soavité en Dex et de grant profiz et delit spirituel a l’home qi a bien desponuz son cuer. Et ancore voil ie qe tu (f. 39va) noutez ici un amaistrament de l’apostre qe dit: ,fereras le bien et esqiveras le mal‘ ce vient a dir qe l’ome por esqiver l’otie et le mal doit toz tens oevrer ou dir ou panser discretement aucuns biens. Et ancore ne voil ie trespasser qe tu ne sache une autre doctrine la qiele se trueve en la divine scriture, ce est qe l’ome qe vint a cist monde ou soit au siegle ou soit en religions ne puet passer cist siegle sanz tribulations et aversitéz et a l’arme et au cors poe le manche ou por la fragilitéz humaine. Mes sor toutes riens est loe la pacience la qiele en pes et benignement la prospere et la adverse venture, et en ce se cuirent mout les vices de l’aume et s’en humilie mout le seignor Dex. Et ancore se refrigera plus l’ardor de le tribulations, car qi aprés la aversitéz se done ancore dolors et afflicions si acroist torment sor torment, mais qi a son pooir qiert remedi et consolations a sa tribulations et a son pooir prent pacience en Dex si le soi trovera profit et a l’aume et au cors. Et por ce qe nul bien se puet foir sanz la divine grace, si doit l’en cascun iors prier Dex qe en ces choses ouserver done lui sa grace. Mais por ce qe la nature humaine est si fraile chose qe ne en vie seulers ne en vie religiose nos ne savons garder sovent da desvoier le droit chemin des comandamenz ou des conseilz divin, ne ne savons sovent gardier de pechier vedens por ce nos convient et devons retorner a celle qi est la segonde table aprés le naufrage, et est la verais confessions et contricions et satisfacions, la qiele remende toz nos confessions. Et ensint as oramis veu les principaus comandamens et conseilz divins; si tornerons ormés a notre matire et a le proseguiment del .Bo. Et conterons coment la dame comença a clamer cil qi ont forvoié le dro(f. 39vb)it chemins de la verais beatitudens. Et elle comence a clamer por ce qe il i doient torner a la droite voie de la verais beatitudens, la qiele si com tu as escouté se repouse seulement en Dex et en la ouservance de ses comandamenz et de ses conseilz. E sappiate ancora inoltre che questa via di perfezione è una via molto più sicura di quella dei secolari ed è di grande soavità in Dio e di grande profitto e diletto spirituale all’uomo che ha ben disposto il suo cuore. E ancora voglio che tu an-

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noti qui un insegnamento dell’apostolo che dice: farai il bene e schiverai il male, vale a dire che l’uomo per schivare l’ozio e il male deve sempre fare o dire o pensare prudentemente ogni bene. E ancora non voglio tralasciare che tu non sappia un’altra dottrina la quale si trova nella divina scrittura, cioè che l’uomo che venne in questo mondo, sia al secolo o sia in religione, non può vivere nel mondo senza tribolazione e avversità e all’anima e al corpo per la mancanza e per la fragilità umana. Ma sopra tutte le cose è lodata la pazienza la quale porta in pace e benevolmente la prospera e l’avversa ventura, e in questo si compiono molti vizi dell’anima e se ne umilia molto il signor Iddio. E ancora si raffredderà più l’ardore delle tribolazioni, poiché colui che dopo l’avversità si dà ancora dolore e afflizione e cresce tormento su tormento, ma colui che secondo la sua possibilità al suo potere chiede rimedio e consolazione alla sua tribolazione e al suo potere prende pazienza in Dio, ne troverà profitto all’anima e al corpo. E poiché nessun bene si può fare senza la grazia divina, ognuno deve ogni giorno pregare Dio che gli doni la propria grazia nell’osservare queste cose. Ma per il fatto che la natura umana è così fragile cosa che né in vita secolare né in vita religiosa noi non sappiamo spesso fare a meno di peccare per questo ci conviene e dobbiamo tornare a quella che è la seconda tavola dopo il naufragio, ed è la vera confessione e contrizione e soddisfazione, la quale ci rimette le nostre confessioni. E così hai ormai visto i principali comandamenti e consigli divini; e torneremo ora alla nostra materia e al seguito del Boezio. E racconteremo come la dama cominciò a rimproverare coloro che sono stati distolti dalla dritta via della vera beatitudine. E comincia a rimproverarli perché devono tornare alla dritta via della vera beatitudine, la quale, così come hai ascoltato, si basa solamente in Dio e nell’osservanza dei suoi comandamenti e dei suoi consigli.

L’introduzione della confessione alla quale si può ricorrere come estrema possibilità („nos convient et devons retorner a celle qi est la segonde table aprés le naufrage, et est la verais confessions et contricions et satisfacions, la qiele remende toz nos confessions“) si rifà, come ha giustamente osservato Gianfelice Peron (da cui traggo le informazioni),34 alla definizione della confessione come secunda tabula post naufragium espressa da San Girolamo. Dopo il Concilio lateranense del 1215 la confessione era infatti sempre più seguita nella pratica religiosa e Bonaventura ne riporta i tre gradi: la verais confessions et contricions et satisfacions (ossia confessio oris, contrictio cordis e satisfactio operis).35 A proposito di Bonaventura da Demena Antoine Thomas affermava: il a cru faire œuvre pie en versant le christianisme dans la Consolatio, n’ayant pas assez de sens littéraire pour s’apercevoir que c’était une sorte de profanation.36

L’innesto dei dieci comandamenti e delle principali regole dell’insegnamento cristiano – e la loro attribuzione implicita a Dama Filosofia – al di

_____________ 34 Peron (nota 19), p. 158. 35 San Gerolamo: Ep. 130 ad Demetriadem, 9, 20-21 (Saint Jérôme: Lettres, J. Labourt (ed.), Paris 1961). 36 Thomas / Roques (nota 6), p. 468.

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là della scarsa attenzione per l’aspetto letterario, costituiva senz’altro una priorità per questo clerc indubbiamente di modeste possibilità intellettuali, ma di una fervente fede cristiana. Il suo scopo, più volte ribadito nel corso del suo volgarizzamento, era quello di divulgare un sapere altrimenti opaco nelle difficoltà del latino e in quelle delle argomentazioni filosofiche. E a questo si è coerentemente attenuto.

Boethius unter Druck Die Consolatio Philosophiae in einer Koberger-Inkunabel von 1473

Bernd Bastert (Bochum) Boethius’ Consolatio Philosophiae was printed for the first time by the Nuremberg printer Anton Koberger. His lavish edition also contained a German translation and the Latin commentary by Pseudo-Thomas. Firstly, this article will examine the characteristics of the Latin Consolatio-version, which is presumably based on a late medieval text/source, in the five editions printed by Koberger between 1473 and 1495. Secondly, the characteristics of the rather faithful German translation will be analysed, which seems to be based on a Latin Consolatio-text different from the one printed by Koberger. Not all of the numerous explanatory additions of the German translation can be traced back to the commentary by Pseudo-Thomas; they do not provide an explicit “interpretatio christiana”. Yet some details demonstrate that the Consolatio Philosophiae was understood as a Christian text by Koberger’s contemporaries. Ursula Peters zum 11.9.2009

Der 24. Juli 1473, ein Samstag, muss ein besonderer Tag für den Nürnberger Unternehmer Anton Koberger gewesen sein, der in seiner Offizin am Egidienplatz als einer der ersten die neue Technik des Buchdrucks in der freien Reichsstadt Nürnberg betrieb.1 An diesem Tag erschien in seiner Druckwerkstatt die Consolatio Philosophiae des Boethius mitsamt einer deutschen Übersetzung sowie einem Kommentar, den niemand Geringerer als der berühmte Kirchenlehrer Thomas von Aquin verfasst hatte. Dass dies, wie sich später herausstellen sollte, eine falsche Autorzuschreibung war, konnte Koberger damals noch nicht ahnen. Das im gesamten Mittelalter so ungeheuer einflussreiche und immer wieder abgeschriebene Trostbuch des Boethius war zwar eventuell zuvor schon einmal gedruckt

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Zu Koberger nach wie vor grundlegend Oscar von Hase: Die Koberger. Eine Darstellung des buchhändlerischen Geschäftsbetriebes in der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, Amsterdam 31967 (Neudruck der zweiten, neugearb. Auflage Leipzig 1885); vgl. auch Hans-Otto Keunecke: „Anton Koberger (ca. 1440-1513)“, in: Fränkische Lebensbilder 10/1982, S. 38-56; Christoph Reske: „The Printer Anton Koberger and his Printing Shop“, in: Gutenberg-Jahrbuch 76/2001, S. 98-103; Walter Gebhardt: „Nürnberg macht Druck! Von der Medienhochburg zum Printzentrum“, in: Marion Vogt (Hrsg.), Lust auf Bücher. Nürnberg für Leser, Nürnberg 2005, S. 11-43, bes. S. 11-16.

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worden,2 Koberger hatte allerdings als erster die Idee, die Consolatio im neuen Medium mit dem zugkräftigen Kommentar des Pseudo-Thomas zu kontextualisieren – und begründete damit eine erfolgreiche Tradition, denn in der Folge boten zahllose Druckausgaben der Consolatio Philosophiae in ganz Europa den Kommentar des Pseudo-Thomas zusammen mit dem Text des Boethius. Koberger, der im Jahr 1473 erst seit kurzem im Druckgeschäft war, dürfte einiges Kapital in das Projekt investiert und große Hoffnungen damit verbunden haben. Sie sollten sich erfüllen, denn bis 1495 verließen noch vier weitere, überarbeitete und verbesserte Auflagen des berühmten Trostbuchs die Druckerpressen seiner Offizin. Die Consolatio Philosophiae des Boethius gehört damit zu den erfolgreichsten und vermutlich auflagenstärksten Unternehmungen Kobergers. Das war zwar 1473 noch nicht absehbar, doch immerhin führt die Consolatio als erster der später berühmten Koberger-Drucke dessen Namen im Kolophon und machte ihn damit weit über die Grenzen Nürnbergs bekannt. Die in Kobergers Offizin erschienene Inkunabel ist ein luxuriöses und voluminöses Buch im Folioformat,3 einspaltig gedruckt in moderner Gothico-Antiqua auf qualitativ hochwertigem, aus Italien importiertem Papier.4 Die erste Textseite (fol. b2r)5 wird geziert durch auf Goldgrund in

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Der Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW) gibt an, dass um 1471 im italienischen Savigliano bei Johannes Glim eine reine Textausgabe der Consolatio Philosophiae erschien (vgl. GW 4513), doch muss diese Ausgabe möglicherweise auf 1473/74 datiert werden und wäre dem Kobergerschen Druck damit zeitlich parallel oder sogar nachgängig; vgl. Victor Scholderer, in: Catalogue of Books Printed in the XVth Century now in the British (Museum) Library (BMC), 13 Bde., London 1908-1971, hier Bd. 7, S. LXI. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Sign.: Rar. 289), das ich gesehen habe, misst 406 x 278 mm, der Schriftspiegel beträgt max. 270 x 185 mm. Im lateinischen Textteil hat eine Seite 23 Zeilen, im deutschen genau doppelt soviel, nämlich 46; im Kommentarteil stehen 47 Zeilen auf einer Seite. Vgl. Nigel F. Palmer: „The German Boethius Translation printed in 1473 in its Historical Context“, in: Maarten J.F.M. Hoenen / Lodi Nauta (Hrsg.), Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio Philosophiae, Leiden u.a. 1997, S. 287-302, hier S. 289. In der Kollationierung der nicht paginierten und nicht die Lagen markierenden Inkunabel folge ich der mit Bleistift nachgetragenen Zählung des Exemplars aus der Bayerischen Staatsbibliothek München (Rar. 289), dabei bezeichne ich die Lagen des Kommentars zur besseren Unterscheidung mit Großbuchstaben: a6; b8; c-h10; i8; k10; l8; A-F10; G6; H-I10; K8; L6, das ergibt 2x100 = 200 Folioseiten. Dabei sind die Folioseiten a1r-v, b1r-v, i7v-8v, l6r-8v, A1r-v, G6r-v, L6r-v leer; dem Münchener Exemplar ist offenbar (versehentlich?) noch eine weitere, vollständig leere Lage [M8] nachgebunden, was den modernen Kollationierer verwirrt hat.

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kräftigen Farben ausgeführte Ornamentinitialen mit ‚Maiblumen‘-Rankenwerk, das drei Seitenränder einnimmt und gleichfalls in zeitgenössischen Handschriften Nürnberger Provenienz nachweisbar ist.6 Nach dem eigentlichen Druckvorgang sind diese Schmuckelemente, ebenso wie die abwechselnd roten und blauen Lombarden sowie die (meist) abwechselnden roten und blauen Unterstreichungen der Überschriften der einzelnen Prosen und Metren, in einem besonderen Arbeitsgang wohl noch in Kobergers Offizin nachträglich von Hand angebracht worden und verleihen dem Buch, wie in jener Phase des Frühdrucks nicht unüblich, das Aussehen einer sorgfältig gearbeiteten Handschrift. Der breite Seitenrand sowie ein großzügig bemessener Zeilenabstand (Durchschuss) im einspaltig gesetzten lateinischen Text erlauben eine interlineare Glossierung und dazu eine Kommentierung des Textes in margine. Jeder Prosa und jedem Metrum des lateinischen Textes folgt die ebenfalls einspaltige deutsche Übersetzung, die zwar mit den gleichen Typen, jedoch mit einem um die Hälfte geringeren Zeilenabstand gesetzt ist, so dass eine Glossierung hier kaum möglich und wahrscheinlich auch nicht intendiert war (vgl. Abb. 1). Dies darf man wohl als erstes Indiz für die unterschiedliche Dignität des lateinischen und des deutschen Textes werten. Dem lateinischen Text und seiner deutschen Übersetzung voraus geht ein alphabetisch gegliedertes, lateinisches, zweispaltig gesetztes Schlagwortverzeichnis, das auf die nach Büchern aufgefächerten lateinischen Prosen und Metren, an einer Stelle jedoch auch auf das Vorwort verweist, das bemerkenswerter Weise nur im deutschen Text begegnet.7 Der fortlaufende, zweispaltig gesetzte Kommentar des Pseudo-Thomas folgt auf den lateinisch-deutschen Text der Consolatio Philosophiae; mit 100 Folioseiten nimmt er ebenso viel Raum ein wie der Textteil samt Schlagwortverzeichnis. Die Orientierung in diesem voluminösen Kodex, der keine Foliierung aufweist, erleichtern mehrere Ordnungssysteme. Zunächst einmal sind die fünf Bücher der Consolatio durch Incipit- und Explicit-Einträge markiert, die sich im Kommentar ebenso wiederholen wie die weitere Untergliederung der einzelnen Bücher in Prosen und Metren. Hinzu kommen, gegen Aufpreis wohl ebenfalls bereits in Kobergers Offizin in roter Tinte handschriftlich hinzugefügte, laufende Kopftitel, die von liber primus bis liber quintus die gesamte Inkuna-

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Vgl. Theodor Raspe: Die Nürnberger Miniaturmalerei bis 1515, Straßburg 1905, der ebd., S. 40f., eine „auffallend groß[e]“ Verwandtschaft konstatiert zwischen dem Rankenwerk auf der ersten Textseite der Koberger-Inkunabel von 1473 und dem Randschmuck des sog. Münchener Gebetbuchs, einer um 1476 gleichfalls in Nürnberg entstandenen illustrierten Handschrift. Auf fol. a2v heißt es: „Boetio multa nomina annectuntur in prohemio“ (‚Boethius werden im Vorwort viele Namen beigegeben‘); zur entsprechenden Passage s.u. S. 50f.

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Abb. 1: Rar. 289, fol. b2r (Bayerische Staatsbibliothek München): Erste Textseite der Koberger-Inkunabel von 1473: Der lateinische Text der Consolatio Philosophiae beginnt nach einer Überschrift mit I, m1; die deutsche Übertragung setzt mit der ‚Vita‘ des Boethius ein.

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bel auf jeder recto-Seite des Textes und des Kommentars umfassen, so beide Teile miteinander verbinden und einen schnellen Zugriff auf die – z.B. über das Schlagwortverzeichnis – zu suchende Passage ermöglichen. Das durchdacht konzipierte und aufwändig gestaltete Buch, das von vornherein sicherlich auf einen potenten Käuferkreis zielte, ist zu Recht als „a major landmark in the history of German printing“ bezeichnet worden.8 Große Forschungsaufmerksamkeit hat diese medial ambitionierte Umsetzung des spätantiken Trostbuchs, die nicht zuletzt aufgrund ihrer offenbar recht weiten Verbreitung9 und der Kontextualisierung mit dem Kommentar des Pseudo-Thomas die Sicht auf Boethius’ Consolatio Philosophiae an der Wende zum 16. Jahrhundert in Deutschland und Europa nicht ganz unwesentlich mit geprägt haben dürfte, bislang allerdings nicht gefunden, selbst basale Aspekte bleiben Desiderate.10 Nie systematisch nachgegangen worden ist z.B. der Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Teile von Kobergers Boethius-Projekt. Wie und ob der lateinische Text und die deutsche Übersetzung miteinander zusammenhängen, wie und ob der die lateinische Consolatio und deren Übersetzung begleitende Kommentar des Pseudo-Thomas auf beide eingewirkt hat, ist bislang, wenn überhaupt, nur punktuell analysiert worden. Nicht eingehend untersucht ist zudem, welcher Überlieferungstradition der lateinische Text aus der Koberger-Inkunabel entstammt und wie sich die deutsche Übersetzung im Umfeld anderer zeitgenössischer deutscher Consolatio-Übersetzun-

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Palmer, German Boethius (Anm. 4), S. 292. In den gedruckt und online einsehbaren Bibliothekskatalogen sind rund 60 Exemplare allein der ersten Auflage von 1473 nachweisbar, die die einschlägigen Handbücher, wie etwa der Gesamtkatalog der Wiegendrucke, größtenteils allerdings nicht verzeichnen. 10 Zur ersten Orientierung vgl. Fidel Rädle / Franz-Josef Worstbrock: „Boethius, Anicius Manlius Severinus“, in: 2VL, Bd. 1/1978, Sp. 908-927, hier Sp. 922f., sowie Christine Hehle: „Boethius’s Influence on German Literature up to c. 1500“, in: Philip E. Phillips / Noel H. Kaylor, Jr. (Hrsg.): A Companion to Boethius in the Middle Ages (im Druck); kursorisch behandelt wird die Übersetzung aus der Koberger-Inkunabel bei Jacobus Martinus Hoek: De Middelnederlandse vertalingen van Boethius’ De Consolatione Philosophiae met een overzicht van de andere Nederlandse en niet-Nederlandse vertalingen, Harderwijk 1943, S. 14-16; Michael Mommert: Konrad Humery und seine Übersetzung der Consolatio Philosophiae. Studien zur deutschen BoethiusTradition am Ausgang des Mittelalters, Diss. Münster 1965, S. 12-15; Nigel F. Palmer: „Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae“, in: Margaret Gibson (Hrsg.), Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 362-397, hier S. 363, S. 380f.; eingehender setzen sich mit der anonymen deutschen Übersetzung auseinander Palmer, German Boethius (Anm. 4) sowie Maria Jozefine Goris: Boethius in het Nederlands. Studie naar en tekstuitgave van de Gentse Boethius (1485), boek II, Hilversum 2000, bes. S. 103-117.

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gen verorten lässt, was sie etwa mit ihnen verbindet oder sie von ihnen unterscheidet. Auch in diesem Beitrag können nicht alle Punkte erschöpfend behandelt werden, er versteht sich vielmehr als eine erste Annäherung.

Der Drucker Die Wahl der seit der christlichen Adaptation in karolingischer Zeit in ihrem Einfluss auf die mittelalterliche Literatur kaum zu überschätzenden Consolatio Philosophiae fügt sich hervorragend in das Verlagsprogramm Kobergers, der sich vorwiegend auf theologische und philosophische Literatur spezialisiert hatte. Neben seiner Nürnberger Offizin unterhielt er ein bald auf ganz Europa ausgeweitetes Vertriebsnetz, über das er seine eigenen Produkte, aber auch fremde Drucke in vielen Ländern verkaufte. Koberger hatte dabei überwiegend solche Titel im Programm, die – wie auch die Consolatio Philosophiae des Boethius – bereits bekannt und somit gewinnversprechend waren, große unternehmerische Risiken ging er offenbar nur selten ein.11 Obschon er ungeheuer erfolgreich war und bald zu den reichsten Bürgern Nürnbergs mit einem beträchtlichen Immobilienbesitz in der Stadt gehörte, begann Koberger gegen Ende des 15. Jahrhunderts, sich aus dem Druckgeschäft zurückzuziehen. Nicht zuletzt sein enormer Wohlstand hatte ihm, nach dem Tod seiner ersten Frau, im Jahr 1492 die Heirat mit einer Patriziertochter und damit schließlich den Aufstieg in die gesellschaftliche Führungsschicht der reichen Handelsstadt ermöglicht, bereits 1488 war er Genannter des ‚Großen Rates‘ in Nürnberg geworden.12 Mit der Lebensweise eines Patriziers vertrug sich die Ausübung eines Handwerks, und als solches wurde der Betrieb einer Druckerei angesehen, allerdings schlecht, sehr wohl indes die Ausübung des gewinnbringenden Fernhandels. Und so gab Anton Koberger um 1504 seine Offizin schließlich ganz auf und konzentrierte sich auf das Verlagswesen

_____________ 11 Vgl. dazu auch Keunecke, Koberger (Anm. 1), S. 41. Das anspruchsvolle, aber in seinen verlegerischen Konsequenzen kaum zu überschauende Projekt einer neu verfassten, üppig illustrierten Weltchronik, die sogenannte Schedelsche Weltchronik, entstand zwar in seiner Offizin, Koberger war daran bezeichnender Weise jedoch nur als, übrigens gut bezahlter, Drucker beteiligt, das finanzielle Risiko hatten andere zu tragen; vgl. Christoph Reske: Die Produktion der Schedelschen Weltchronik in Nürnberg, Wiesbaden 2000; Stephan Füssel (Hrsg.): Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel, Köln u.a. 2001. 12 Vgl. Keunecke, Koberger (Anm. 1), S. 47f., auch Kobergers Töchter heirateten ins Patriziat ein.

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und den Vertrieb, im Jahr darauf wurde er in das Stadtpatriziat aufgenommen. Koberger war und ist bis heute bekannt und berühmt für seine außerordentlich ambitionierten Drucke. Wie sein akademisch gebildeter Basler Kollege und Geschäftspartner Amerbach bemühte er sich dabei anscheinend auch um besonders gute Handschriften als Textvorlagen für die zu druckenden Bücher.13 Jedenfalls rühmt ihn in einem erhalten gebliebenen Brief aus dem Jahr 1499 der Humanist und Verleger Josse Badius nicht nur als „princeps librariorum“, sondern auch deshalb, weil er sich um gute Codices bemühe und darauf achte, dass sie ohne Fehler gedruckt würden.14 Dazu passt, dass Koberger sich zwischen 1498 und 1502 für ein Buchprojekt insgesamt 18 verschiedene Handschriften, unter anderem aus von Nürnberg recht weit entfernt liegenden Städten wie Lübeck und Köln, beschaffte, um eine gute Druckvorlage zu gewährleisten.15 Hier bekommen wir einmal einen punktuellen Einblick in das ‚textkritische‘ Bewusstsein während der Übergangsphase vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, das durch den medialen Umbruch, den der Druck markiert, einen wesentlichen Schub erfahren zu haben scheint.16 Ob Koberger bereits in den frühen 70er Jahren des 15. Jahrhunderts, also noch zu Beginn seiner Karriere und noch ohne sein dichtes Vertriebsnetz, geographisch ähnlich weit ausgreifende Anstrengungen zur Beschaffung geeigneter Vorlagen für die Drucklegung der Consolatio Philosophiae unternehmen konnte, entzieht sich unserer Kenntnis. Ansprechpartner auf der Suche nach guten Handschriften des Boethius-Textes werden damals aber vielleicht noch eher die Klöster und Bibliotheken in der näheren Umgebung gewesen sein. Dass zum Beispiel viele Nürnberger Klöster und Bibliotheken im 15. Jahrhundert Handschriften der Boethianischen Trostschrift besaßen, ist dank der erhaltenen Kataloge bekannt.17

_____________ 13 Da über Kobergers Ausbildung nichts bekannt ist, wissen wir nicht, ob er, wie einige andere der frühen Drucker, lateinkundig war oder gar eine akademische Ausbildung erfahren hatte. 14 „Pervigilemque curam ad bonos codices verse, terse: et sine mendis imprimendos adhibes“, heißt es bei Badius; abgedruckt ist dieser Brief bei Hase, Koberger (Anm. 1), S. XX-XXII. 15 Vgl. Keunecke, Koberger (Anm. 1), S. 47. Es handelte sich dabei um die Biblia cum postillis Hugonis de Sancto Charo, die Amerbach im Auftrag Kobergers druckte. 16 Vgl. dazu etwa Rüdiger Schnell: „Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32/2007, S. 66-111. 17 So war die Consolatio Philosophiae etwa im Egidienkloster vorhanden, das direkt gegenüber der Kobergerschen Offizin stand. Mit dem Barfüßerkloster, das ebenfalls die Trostschrift des Boethius besaß, unterhielt Koberger enge Kontakte (vgl.

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Der lateinische Text Schon allein die mehrere Hundert Exemplare umfassende Menge der zwischen der karolingischen Epoche und dem späten 15. Jahrhundert entstandenen (bekannten) lateinischen Handschriften deutet an, dass die Consolatio Philosophiae zu den bedeutenden Texten des Mittelalters zählt. Wie in anderen Fällen auch, hat sich das philologisch-wissenschaftliche Bemühen zunächst darauf konzentriert, aus der Masse der überlieferten Manuskripte das ‚Original‘ zurückzugewinnen – ein Unternehmen, das sich, wie nicht anders zu erwarten, als ausgesprochen schwierig erwiesen hat. Claudio Moreschini, der letzte Herausgeber der Consolatio Philosophiae, hat drei Klassen herausgearbeitet, in die die bekannten Überlieferungszeugen eingeordnet werden können.18 Sie differieren freilich nicht so gravierend, dass man sie als drei distinkte Fassungen bezeichnen könnte, sondern unterscheiden sich lediglich in kleineren Varianten wie Schreibweise, Umstellungen, Auslassungen oder Ersetzungen einzelner Wörter. Das von Moreschini seinen Studien und seiner Edition zugrunde gelegte handschriftliche Material stammt ausnahmslos aus der ältesten Überlieferungsstufe, dem 9.-11. Jahrhundert; folglich ist es für den Kobergerschen Druck aus dem späten 15. Jahrhundert nur sehr bedingt nutzbar. Misst man die lateinische Consolatio-Version der Inkunabel aber trotzdem am kritischen Text Moreschinis, stellt man bald fest, dass sie eine extreme Mischredaktion der drei ‚alten‘ Rezensionen aus dem 9.-11. Jahrhundert bildet. Für die jeweiligen Klassen typische Varianten begegnen ungefähr gleichmäßig verteilt über den gesamten Text hinweg, mitunter gar innerhalb eines Sat-

_____________ Franz Machilek: „Klosterhumanismus in Nürnberg um 1500“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 64/1977, S. 10-45, hier S. 28f.); vorhanden war das Werk im 15. Jahrhundert darüber hinaus in weiteren Nürnberger Klöstern und Bibliotheken, beispielsweise im Predigerkloster, dem Karmelitenkloster, dem Kartäuserkloster, der Kirchenbibliothek von St. Sebald und der Ratsbibliothek; vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 3, Teil 3: Bistum Bamberg, im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Bernhard Bischoff, bearb. von Paul Ruf, München 1939; vgl. auch Angelika Wingen-Trennhaus: „Die Quellen des Hans Sachs. Bibliotheksgeschichtliche Forschungen zum Nürnberg des 16. Jahrhunderts“, in: Pirckheimer Jahrbuch 10/1995, S. 109-149, hier S. 131. 18 Moreschini bezeichnet sie als die Familien D, E1 und E2; vgl. Claudio Moreschini (Hrsg.): Boethius, De Consolatione Philosophiae. Opuscula Theologica, München-Leipzig 22005, S. V-XX; vgl. auch ders.: „Sulla traditione manoscritta della consolatio e degli opuscula theologica di Boezio: proposte per una recensio“, in: ders.: Varia Boethiana, Neapel 2003, S. 77-134.

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zes mehrfach wechselnd.19 Daraus lässt sich mit einiger Vorsicht ableiten, dass die Vorlage für den Koberger-Druck keine besonders alte Handschrift gewesen sein dürfte. Wie die textliche Entwicklung der Consolatio Philosophiae nach dem 11. Jahrhundert verlief, ist jedoch noch kaum erforscht, einzig Barnet Kottler hat sich vor über 50 Jahren in einer kleineren Studie damit beschäftigt. Auf der Basis von rund einem Dutzend Handschriften überwiegend des 14. Jahrhunderts konstatiert er die ab dem 12. Jahrhundert einsetzende Genese einer spätmittelalterlichen „vulgate tradition“, die im 14. Jahrhundert voll ausgebildet gewesen sei.20 Sämtliche der von ihm für jene „vulgate tradition“ angeführten Charakteristika – meist kleinere Varianten der älteren Klassen, die den Sinn aber nicht tangieren – kennt ebenfalls der lateinische Text der Koberger-Inkunabel. Die Vermutung, dass eine jüngere, spätmittelalterliche Handschrift die Quelle für den lateinischen Consolatio-Text gebildet haben dürfte, der 1473 bei Koberger erschien, findet demnach auch von dieser Seite ihre Bestätigung. Angesichts der Menge der erhaltenen spätmittelalterlichen Handschriften der Consolatio Philosophiae, von den verlorenen gar nicht zu reden, bestehen nur äußerst geringe Chancen, jemals die direkten handschriftliche(n) Vorlage(n) ausfindig zu machen, auf die der Koberger-Druck zurückgeht.21 Hilfreich dabei könnten immerhin einige Besonderheiten sein, die für den lateinischen Text in der Ausgabe von 1473 kennzeichnend sind. Gleich im ersten Metrum findet sich nach dem Vers: „Gloria felicis olim uiridisque innente >recte: iuvente@. Solantur mesti nunc mea / fata senis“22 der Satz: „Me quoque debilitat series immensa laborum. Ante meum tempus cogor / et esse senex“. Dem Sinn nach passt diese Wendung genau zur Stelle, in der die Figur des Boethius ihr Schicksal beklagt und sich zum frühzeitig gealterten Greis stilisiert. Allein – der Autor des Verses ist nicht Boethius, sondern Ovid, der unter anderem mit jenen

_____________ 19 Es lässt sich ein leichtes Übergewicht der ‚germanischen‘ Klasse E konstatieren, doch auch die ‚romanische‘ Klasse D begegnet häufig. 20 Vgl. Barnet Kottler: „The Vulgate Tradition of the Consolatio Philosophiae in the Fourteenth Century“, in: Medieval Studies 17/1955, S. 209-214. 21 Erschwert wird dies zudem durch das Faktum, dass für einen Druck benutzte Handschriften oftmals ‚verbraucht‘, also zerstört worden sind. 22 Die von mir eingefügten Schrägstriche markieren hier und im Folgenden keine Versgrenzen, sondern geben die Zeilenenden im Druck von 1473 wieder; Abkürzungen sind aufgelöst, auf weitere Texteingriffe wurde verzichtet. Übersetzung nach Boethius: Trost der Philosophie, lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Ernst Gegenschatz und Olaf Gigon. München 1981, S. 3: „Was die Zierde einst war glückselig blühender Jugend, Ist dem trauernden Greis Trost jetzt in schlimmem Geschick.“

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Worten die schwierigen Umstände in der Verbannung darstellt.23 Einem der belesenen Glossatoren oder Kommentatoren des ersten Metrums aus dem ersten Buch der Consolatio des Boethius ist die Analogie zu der in Ovids Epistulae ex Ponto nachzulesenden Schilderung extremer Frustration offenbar nicht verborgen geblieben und er hat sie notiert. Aus einem solchen Notat, möglicherweise einer Interlinearglosse, dürfte das Ovid-Zitat dann in den Text einer Consolatio-Kopie und von dort in die KobergerAusgabe von 1473 gelangt sein.24 Höchstwahrscheinlich ebenfalls mittelalterlicher Glossierung oder einem Kolumnentitel entstammen die beiden überschriftartigen Sätze, die unmittelbar vor I, p1 und I, p4 stehen. Vor der ersten Prosa des ersten Buches, in der beschrieben wird, wie Philosophia dem leidenden Boethius erscheint und zu ihm spricht, heißt es: „Philosophia alloquitur Boetium in habitu mulieris“.25 Und vor der vierten Prosa, in der Boethius die Umstände rekapituliert, die ihn in seine missliche Lage brachten, liest man im Druck von 1473: „In exilio recordatio benefacti sui et accusatorum suorum“.26 Während sich all diese Interpolationen nicht in dem den Druck der Consolatio begleitenden Kommentar des Pseudo-Thomas finden, ist eine weitere Plusstelle dort nachweisbar. Am Ende der vierten Prosa des ersten Buches, also unmittelbar bevor in I, m5 der „conditor orbis“ (‚Schöpfer

_____________ 23 Ovid, Epist. ex Ponto I,4,19-20: „[…] mich auch erschöpft die nicht zu ermessende Reihe der Leiden, ja, schon lang vor der Zeit hat sie zum Greis mich gemacht“; Übersetzung nach Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung, Lateinisch und Deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Georg Luck, Zürich-Stuttgart 1990, S. 319. 24 Es handelt sich bei der aus einer Glosse fälschlicherweise in den Text übernommenen Interpolation um einen typischen Fehler mittelalterlicher Kopisten, der etwa in der frühneuzeitlichen Textkritik immer wieder beklagt wurde; vgl. dazu Klara Vanek: Ars corrigendi in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte der Textkritik, Berlin-New York 2007, S. 280-282. In ganz ähnlicher Form („me quoque debilitat series immensa malorum, ante meum tempus cogit et esse senem“) steht das im Koberger-Druck von 1473 in den Boethius-Text aufgenommene OvidZitat schon im karolingischen Kommentar des Anonymus Sangallensis; vgl. Hans Naumann: Notkers Boethius. Untersuchungen über Quellen und Stil, Straßburg 1913, S. 18. 25 „Die Philosophie redet Boethius in Gestalt einer Frau an.“ Auch diese Überschrift kennt wörtlich der Kommentar des Anonymus Sangallensis, vgl. Naumann, Notkers Boethius (Anm. 24) S. 61. 26 „Im Exil erinnert er sich seines untadeligen Verhaltens und seiner Ankläger.“ Aus einer Glosse dürfte wohl auch der das Metrum von I, m1 bestimmende Zusatz stammen: „Metrum primum eroicum elegiacum“, der in sich allerdings widersprüchlich ist, da es nur entweder ein metrum eroicum oder elegiacum gibt; den Hinweis verdanke ich Reinhold Glei.

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des Erdkreises‘) gerühmt wird, leitet der Autor der Consolatio zu diesem wichtigen Textteil mit den Worten „Itaque libet exclamare“ über. In der Inkunabel begegnet hier eine kleine, doch hoch interessante Ergänzung. Dort heißt es nämlich: „Itaque libet exclamare ad deum celi“, wodurch der Weltschöpfer wohl als christlicher Gott präsentiert werden soll. PseudoThomas paraphrasiert die Stelle ganz ähnlich: „Itaque, pro ergo, libet, idest placet, mihi exclamare ad deum celi“. Ob der Zusatz – übrigens beinahe der einzige des gesamten lateinischen Boethius-Textes, durch den in der Inkunabel vielleicht eine, wenn auch nur sehr rudimentäre, Christianisierung des neuplatonischen Werkes anklingt – aus dem beigefügten Kommentar des Pseudo-Thomas in den Text gelangt ist, lässt sich indes nicht sicher sagen.27 Es fällt auf, dass sämtliche der beschriebenen Interpolationen aus dem Koberger-Druck von 1473 im ersten Buch der Consolatio anzutreffen sind. Die Bücher II bis V enthalten solche oder vergleichbare Zusätze im lateinischen Text hingegen nicht. Allerdings begegnen dort andere Typen von Textvarianten. So kommt es in insgesamt vier Fällen (in II, p5; III, p9; III, p10 und III, p12) zu einer gegenüber den modernen Ausgaben variierenden Zuordnung der Redeanteile von Boethius und Philosophia, die im Text durch ein B bzw. ein P gekennzeichnet (oder ausgeschrieben) sind. In IV, p4 ist zudem eine kleinere Passage umgestellt, ohne dass dadurch aber der Zusammenhang der Argumentation beeinträchtigt würde. Und schließlich erscheint der griechische Vers 3…QW {IRU‹QNDjS…QW {SDNR¼HLQ (‚alles erschauen und alles erhorchen‘), allerdings in nicht ganz korrekter lateinischer Übersetzung als „omnia videt et omnia audit“ (‚alles sieht er und alles hört er‘),28 in Buch V am Ende der zweiten Prosa statt wie in den modernen Ausgaben zu Beginn des direkt darauf folgenden zweiten Metrums.

_____________ 27 Es scheint sich um eine aus älteren Handschriften übernommene Textvariante zu handeln, denn bereits die aus dem 9. Jahrhundert stammenden Consolatio-Codices aus Florenz (Laurentiana, XIV.15) und München (Bayer. Statsbibl., Clm 18765) kennen die Lesart „ad deum invocatio“, ähnlich hat der gleichfalls ins 9. Jh. zu datierende Neapolitanische Codex IV.G.68 in margine: „INUOCATIO AD DEUM“; vgl. den kritischen Apparat zur Stelle bei Ludwig Bieler (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii Philosophiae Consolatio, Turnhout 1957. 28 Koberger besaß keine Drucktypen für das griechische Alphabet. Der Raum für die griechischen Verse wurde deshalb hier wie auch an anderen Stellen des Consolatio-Drucks in sämtlichen Ausgaben frei gelassen, was einen eventuellen handschriftlichen Nachtrag ermöglichte. Der großzügige Durchschuss des lateinischen Textes erlaubte es zugleich jedoch, die lateinische Übersetzung der griechischen Zitate über der jeweiligen Zeile zu drucken.

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Abgesehen von diesen Besonderheiten sowie einigen Schreibvarianten und Druckfehlern bietet der Druck von 1473 insgesamt jedoch einen relativ guten Text der Consolatio Philosophiae, der dem der heutigen Ausgaben im Wesentlichen entspricht. Maria Jozefine Goris, die an Buch II exemplarisch die Kobergersche Inkunabel mit dem etwa gleichzeitigen lateinisch-niederländischen Prachtdruck von de Keysere, der 1485 in Gent erschien, sowie mit Bielers Ausgabe verglichen hat, bescheinigt dem deutschen Druck im Unterschied zum niederländischen denn auch „auffallend wenige Fehler und Nachlässigkeiten“.29 Das ist vielleicht kein Zufall, denn dass in Kobergers Offizin wohl (mindestens) ein Korrektor mit ‚textkritischen‘ Fähigkeiten agierte, demonstriert die Einrichtung des lateinischen Textes in den nächsten Auflagen von Boethius’ Consolatio Philosophiae. Bereits in der 1476 erschienenen Edition sind die vermutlich aus einem interlinear glossierten Text übernommenen Interpolationen im ersten Metrum sowie vor der ersten und vierten Prosa des ersten Buches getilgt. Ab der dritten Auflage (1483) wurde nicht nur das Layout vollständig geändert (vgl. Abb. 2),30 sondern auch der Zusatz „eroicum elegiacum“ nach „Metrum primum“ gestrichen und die Vertauschung der Redeanteile von Boethius und Philosophia in III, p12 korrigiert. Die Plusstelle „ad deum celi“ nach I, p4 blieb jedoch hier wie in den weiteren Auflagen bis 1495 stehen; auch die übrigen Umstellungen und Vertauschungen der Redeanteile von Boethius und Philosophia in den Büchern II bis V finden sich in allen fünf Auflagen zwischen 1473 und 1495. Dabei handelt es sich allerdings nicht um charakteristische Besonderheiten der in Kobergers Offizin aufgelegten Consolatio-Drucke. Wenn man den verbesserten lateinischen Consolatio-Text, wie Koberger ihn ab 1483 druckte, etwa neben jene lateinischen Ausgaben legt, die 1501 bei Grüninger in Straßburg oder 1502 bei Quentel in Köln erschienen,31 stellt man fest, dass auch sie exakt die bereits von Koberger bekannten Umstellungen und Vertauschungen enthalten – mit einer Ausnahme. Sie betrifft die bereits erwähnte Plusstelle „ad deum celi“ am Schluss von I, p4; diese bieten nur die zwischen 1473 und 1495 erschienenen Koberger-Ausgaben der Consolatio Philosophiae. Im Umfeld der Kobergerschen Offizin wird man

_____________ 29 Goris, Boethius in het Nederlands (Anm. 10), S. 107: „opvallend weinig fouten en slordigheten“; vgl. auch ebd., Anm. 37. 30 Der Kommentar des Pseudo-Thomas erscheint nun nicht mehr nach dem Ende der Consolatio als fortlaufender Text, sondern umschließt die kommentierte Passage, wie dies ebenfalls in mittelalterlichen Handschriften in Form der glossica circumscriptio üblich gewesen war, und erlaubt so einen simultanen Zugriff. 31 Eingesehen wurden die Exemplare München, Bayer. Staatsbibliothek, Res/2 A lat.b.23 (Grüninger) und Res/4 A lat.b.30 (Quentel).

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mithin diese Plusstelle für die Worte des Boethius gehalten haben, anderenfalls hätte man sie, wie die anderen Interpolationen auch, in den späteren Auflagen unzweifelhaft beseitigt.

Abb. 2: Res/2 A lat.b.23, fol. a1r (Bayerische Staatsbibliothek München): Erste Textseite der Koberger-Inkunabel von 1483: Der lateinische Textbeginn (I, m1) wird umschlossen vom Kommentar des Ps.-Thomas.

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Die deutsche Übersetzung Darüber, wer die von Koberger gedruckte deutsche Consolatio-Übersetzung verfasst hat, haben schon die Zeitgenossen spekuliert und etwa den Namen des Niklas von Wyle ins Spiel gebracht. Der humanistisch orientierte Wyle, der eine Zeitlang Stadtschreiber in Nürnberg gewesen war, verfasste, wie er im Vorwort der Translatzen anmerkt, in der Tat eine Übersetzung der Consolatio des Boethius, die aber nicht erhalten ist.32 Von der bei Koberger erschienenen Übersetzung distanzierte er sich bei dieser Gelegenheit allerdings, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass Wyle vehementer Verfechter einer anderen Übersetzungstheorie war, als sie in der Koberger-Inkunabel von 1473 zu beobachten ist. Während Wyle den ‚lateinischen Stil‘ deutscher Übersetzungen propagierte, bei dem Wort für Wort aus der Ausgangssprache übersetzt und somit auch die Syntax des Lateinischen möglichst weitgehend auf die Zielsprache des Deutschen übertragen werden sollte, verfährt der deutsche Übersetzer in der Inkunabel insgesamt doch anders. Er überträgt sorgfältig, in manchen Passagen tatsächlich sehr eng dem lateinischen Text folgend, nicht selten jedoch auch Sinn aus Sinn, nimmt, wenn nötig, Umstellungen in Kauf und orientiert sich weitgehend an den syntaktischen Strukturen des Deutschen. Der lateinischen Vorlage folgt er also keineswegs „sklavisch“ und ist ihr auch nicht ausgeliefert.33 In der modernen Forschung ist seit längerem die Frage virulent, ob die in der Koberger-Inkunabel von 1473 abgedruckte Übersetzung mit einer bezeugten, aber nicht überlieferten identisch sei, die Peter von Kastl im Jahr 1401 im Benediktinerkloster Reichenbach bei Regensburg angefertigt hatte.34 Das erscheint durchaus möglich, zumal das reformierte Benediktinerkloster Reichenbach sehr enge Beziehungen zum ebenfalls reformierten benediktinischen Egidienkloster in Nürnberg unterhielt,35 das nur wenige Schritte von Kobergers Offizin entfernt lag. Aufschluss über die Verwendung einer älteren, eventuell bereits lange vor der Drucklegung

_____________

32 Vgl. Adelbert von Keller (Hrsg): Translationen von Niclas von Wyle, Stuttgart 1861, S. 11f. Zu Wyle vgl. Franz Josef Worstbrock: „Niklas von Wyle“, in: 2VL, Bd. 6/1987, Sp. 1016-1035. 33 Dies war das gängige Urteil der älteren Forschung, vgl. etwa Hoek, Middelnederlandse vertalingen (Anm. 10), S. 14f.; Mommert, Humery (Anm. 10), S. 13; vgl. dagegen aber schon Otto Herding: „Probleme des frühen Humanismus in Deutschland“, in: Archiv für Kulturgeschichte 38/1956, S. 344-389, hier S. 374, Anm. 114, sowie zuletzt Goris, Boethius in het Nederlands (Anm. 10), S. 107-112. 34 Zu Peter von Kastl vgl. Noel Harold Kaylor Jr.: „Peter von Kastl: FifteenthCentury Translator of Boethius“, in: Fifteenth-Century Studies 18/1991, S. 133-142. 35 Vgl. Machilek, Klosterhumanismus, (Anm. 17), S. 21, Anm. 55.

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angefertigten deutschen Übersetzung der Consolatio Philosophiae in Kobergers Inkunabel verspricht eine vergleichende Analyse von lateinischem und deutschem Text. Mit diesem Problem hat sich bislang jedoch einzig Hoek beiläufig beschäftigt und konstatiert, dass die deutsche Übertragung der Consolatio nicht nach der Vorlage der abgedruckten lateinischen Fassung entstanden sein könne.36 Gestützt hat er sich dabei allein auf eine Differenz zwischen der lateinischen und der deutschen Fassung in I, m1. In der Tat hat die deutsche Übersetzung des ersten Metrums von Buch I einen Satz weniger als die lateinische Fassung. Es handelt sich dabei aber nicht um irgendeinen Textteil, sondern, was Hoek offenbar nicht bemerkte, just um jenen, der aus Ovids Epistulae ex Ponto in das erste Metrum der Koberger-Inkunabel von 1473 gelangt ist. Auch alle anderen, vermutlich auf Interlinearglossen zurückgehenden Interpolationen im lateinischen Text des ersten Buchs sucht man in der deutschen Übersetzung vergeblich. Hätte ein aufmerksamer und ‚kritisch‘ verfahrender Übersetzer demnach erkannt, dass sie nicht zum Bestand des Boethius-Textes gehörten, und die Plusstellen daraufhin ausgelassen? Oder arbeitete er, wie Hoek vermutete, schlicht nach einer lateinischen Vorlage, die diese Interpolationen nicht enthielt? Innerhalb der deutschen Übersetzung existieren indes auch Gegenbeispiele für die letztgenannte These. So wird im ersten Buch die Plusstelle „ad deum celi“ sinngemäß richtig durch „zu got“ wiedergegeben; zudem kennt die deutsche Übersetzung in Kobergers Inkunabel ebenfalls sämtliche Vertauschungen und Umstellungen, die sich auch im lateinischen Text der Bücher II bis V finden.37 Mit Blick auf die Relation zwischen deutschem und lateinischem Text ergibt sich damit ein ambivalentes Bild. Während in Buch I mehrere Abweichungen zu verzeichnen sind, die auf eine differierende Textbasis zu deuten scheinen, folgt die deutsche Übersetzung den Eigenheiten des lateinischen Textes insbesondere in Buch II bis V in vielen Details. Kann daraus auf eine Sonderstellung von Buch I geschlossen werden, hätte der unbekannte Übersetzer möglicherweise erst ab Buch II nach jener lateinischen Vorlage gearbeitet, die auch der Druck bietet, für Buch I aber eine andere benutzt? In diesem Fall könnte unmöglich Peter von Kastl für die deutsche Übersetzung verantwortlich sein, denn als seine Übersetzung um 1400 entstand, konnte er selbstverständlich noch nicht um die Besonderheiten der rund 70 Jahre später erschienenen Druckfassung wissen. Allerdings stellen die Umstellungen und Vertauschungen in den Büchern II bis V, wie gesehen, keine

_____________ 36 Hoek, Middelnederlandse vertalingen (Anm. 10), S. 15, Anm. 3; ihm folgt Goris, Boethius in het Nederlands (Anm. 10), S. 108, Anm. 40. 37 Darüber hinaus sind in der deutschen Übersetzung auch noch in IV, p4 und IV, p7 Redeanteile von Philosophia und Boethius vertauscht.

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signifikanten Spezifika der Kobergerschen Inkunabel dar, sondern sind gleichfalls in Ausgaben aus anderen Offizinen nachweisbar. Es scheint sich mithin um eine durchaus gängige Variante des lateinischen ConsolatioTextes in ausgehendem Mittelalter und Früher Neuzeit zu handeln.38 Dann aber ist es denkbar, dass der lateinische Text und die deutsche Übersetzung aus der Kobergerschen Inkunabel doch auf unterschiedliche Quellen zurückgehen, was überdies die Nichtberücksichtigung der Interpolationen aus Buch I im deutschen Text ausgezeichnet erklären würde. Ob aber die deutsche Übersetzung, wenn sie denn tatsächlich nach einer anderen lateinischen Vorlage als der von Koberger für seinen Druck benutzten entstanden sein sollte, von Peter von Kastl stammt, wie gelegentlich vermutet, ist dadurch weder zu beweisen noch zu widerlegen. Doch einerlei, wie die Relationen zwischen deutscher und lateinischer Fassung der Consolatio Philosophiae in der Inkunabel von 1473 sein mögen, es erscheint zunächst in jedem Fall merkwürdig, dass der lateinische Text und die deutsche Übersetzung im Koberger-Druck von 1473 nicht besser miteinander harmonisiert wurden. Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Consolatio-Übersetzungen versucht die bei Koberger gedruckte nicht, die prosimetrische Form des lateinischen Textes nachzuahmen, sondern ist durchgängig in Prosa gehalten. Ein eigener ästhetischer Anspruch steht also nicht unbedingt im Vordergrund, anscheinend will die deutsche Übersetzung in erster Linie ein leichteres und besseres Verständnis des lateinischen Textes ermöglichen. Dazu trägt auch die vorangestellte ‚Vita‘ des Boethius bei, die unter der Überschrift „Expositio vulgaris tituli“ anhand seiner Gentil- und Beinamen (Anicius Manlius Torquatus Seuerinus Boecius Exconsul Ordinarius Patricius) Informationen über den Autor bietet. Auch diese ‚Vita‘, die der lateinische Text der Inkunabel nicht enthält, auf die aber im vorangestellten Register verwiesen wird, könnte aus einer lateinischen ConsolatioHandschrift stammen, nach der der unbekannte Übersetzer arbeitete.39 Doch auch zu Beginn des Pseudo-Thomas-Kommentars finden sich entsprechende Informationen; es wäre also theoretisch möglich, dass sie von

_____________ 38 Hier könnten Vergleiche mit anderen europäischen Ausgaben des 15. Jahrhunderts wohl noch nähere Aufschlüsse liefern. 39 Einleitungen jenes Typs sind nicht ungewöhnlich in mittelalterlichen Handschriften der Consolatio, einige sind aufgeführt in der Ausgabe von Rudolf Peiper (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boetii Philosophiae Consolationis libri quinque accedunt eiusdem atque incertorum Opuscula sacra, Leipzig 1871, S. XXX-XXXV. Die dem Text vorangestellten Proömien zweier weiterer deutscher Übersetzungen des 15. Jahrhunderts (aus Humerys Übertragung und aus derjenigen der Mittelniederdeutschen Übersetzung) sind in Auszügen abgedruckt bei Mommert, Humery (Anm. 10), S. 140-143.

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dort in die Übersetzung gelangt wären. Dem stehen allerdings mehrere Faktoren entgegen. So differiert etwa die Reihenfolge der Namensbestandteile des Boethius im Kommentar des Pseudo-Thomas und in der volkssprachigen Fassung, zudem fehlt bei Pseudo-Thomas die in der Übersetzung vorhandene Information über den Einsatz des Boethius gegen Ungerechtigkeiten in Theoderichs Verwaltungssystem.40 Das Verhältnis von deutscher Übersetzung der Consolatio und dem ConsolatioKommentar des Pseudo-Thomas, die in Kobergers Ausgabe von 1473 gemeinsam den lateinischen Text begleiten, wird in der vorangestellten ‚Vita‘ geradezu paradigmatisch abgebildet: Ein Großteil der Zusatzinformationen und Erklärungen, die die Übersetzung gegenüber dem lateinischen Text aufweist und die in Form von Sacherläuterungen manche lateinischen Termini und Wendungen näher erklären, sind im PseudoThomas-Kommentar nachzuweisen, nach vielen jener Details sucht man dort jedoch auch vergeblich. Der Übersetzer muss also entweder über weitere Quellen verfügt haben, oder aber er benutzte als Referenztext von vornherein einen anderen Kommentar als den des Pseudo-Thomas. Die erklärenden Erläuterungen des Übersetzers umfassen dabei – überwiegend kurze – geographische, historische, mythologische sowie naturwissenschaftliche Informationen. Entsprechende Zusätze finden sich in allen Büchern, mit einem Schwerpunkt auf den Metren, die aufgrund ihres bildhaften und elliptischen Stils oft besonders schwer zu verstehen sind. Aus der Vielzahl der Beispiele können hier nur einige wenige exemplarisch herausgegriffen werden, um die verschiedenen Typen vorzustellen. In III, m10 wird zu Tagus vermerkt, dass dies ein Fluss „des landes zu hispani“ sei; zu „Indus“ heißt es wenig später: „vnd dasselb wasser hat auch in im gold vnd / gym . vnd entspringt bey dem perg Ariob vnd fleţst in das rot mere vnd durch / die hitze des landes hat es der moren volck“. In I, m4 ist über den „schweflig perg veseuus genant“ die erstaunliche Information zu finden, er sei „in dem / land liguria gelegen“; in II, p7 begegnet der Zusatz, dass der Kaukasus „in dem land Scithia“ liege, in I, p1 die Erläuterung, dass „in der krichischen stat Elida […] Aresto= / tiles gelert hat . vnd in dem dorff achademia […] Plato gelert hat“. Einige dieser Informationen (etwa die zum „Tagus“ oder zu „achademia“ und „Eli-

_____________ 40 Die Abfolge der Namen, wie die deutsche ‚Vita‘ sie bietet, begegnet jedoch genauso im Vorwort des im späten Mittelalter weit verbreiteten, wohl zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstandenen Consolatio-Kommentars von Nikolas Trivet; auch die Erklärungen der einzelnen Namen entsprechen denjenigen aus Trivets Kommentar, den namentlichen Verweis auf Theoderich hat Trivet (an dieser Stelle des Vorworts) jedoch ebenfalls nicht; zur Überprüfung diente ein Mikrofilm einer die Consolatio des Boethius samt Trivets Kommentar enthaltenden Handschrift (London, British Library, Add. 22766).

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da“) sind auch bei Pseudo-Thomas nachzulesen, andere (zum Beispiel die zum „Indus“ oder jene zum vermeintlich in Ligurien liegenden Vesuv) findet man dort nicht. Erklärungen und Zusätze zu Umständen und Personen der Historie begegnen naturgemäß besonders zahlreich in jenen Passagen, in denen auf die Hintergründe des Prozesses gegen Boethius angespielt wird. So wird in I, p4 im Unterschied zur lateinischen Fassung, die den Namen des Königs gerade verschweigt, in der deutschen Übersetzung dem, bereits in der deutschen ‚Vita‘ namentlich erwähnten, „kţnig Theodericus“ vorgeworfen, dass er „gar ein schwer vnwiderrţfflich gepott gethan hett“, wodurch es in Kampanien unweigerlich zu einer Hungersnot gekommen wäre, hätte Boethius sich nicht eingeschaltet. Wenn die Erzählerfigur Boethius in I, p4 darüber sinniert, dass er sich in all seiner Not noch immer verlassen könne auf „das Inwendig heymlich vnschul= / dig gemach vnseres hawsses“, führt der Übersetzer das näher aus: „vnd maint villeicht Boecius damit sein hausfrau= / en die Elphen hies . vnd sein vnschuldige kint . die ytzund an seiner wirdikait / warn“. Die Nachricht, dass die Ehefrau des Boethius so geheißen habe, wiederholt der anonyme Übersetzer noch einmal in II, p3, wenn er auf dessen Schwiegervater Symmachus verweist.41 Diese Auffassung „entstammt mittelalterlicher Tradition“,42 auch Pseudo-Thomas und Nikolas Trivet bringen sie. Kulturhistorische Besonderheiten der römischen Geschichte, wie in II, p3 beispielsweise die curulischen Sessel, die Amtssessel der Senatoren, werden knapp und sachlich richtig erläutert als „die stţl der wirdikeit / der ihenen die erwelt werden zu außrichtern des Rᯋmischen43 reichs“. Eine ungewöhnlich breite

_____________ 41 „[…] das ist Simachi des erwergen mannes . vnd der andern mit den er frewntschaft gewan von seiner haußfrawen wegen . die Helpes genant was nach der tugentlichen frawen des vorgenanten Simachi . die auch Helpes hieß . die ertzogen ward in dem land Sicula [recte: „Sicilia“] genant“. (‚[…] das ist von Symmachus, dem ehrenwerten Mann, und von den anderen, mit denen er vertraut wurde durch seine Ehefrau, die Helpes hieß nach der tugendhaften Frau des eben erwähnten Symmachus, die ebenfalls Helpes hieß und im Land Sizilien erzogen worden war.‘) 42 Joachim Gruber: „Boethius 1925-1998“, in: Lustrum 39/1997, S. 307-383, hier S. 328; vgl. auch Howard Rollin Patch: The Tradition of Boethius. A Study of His Importance in Medieval Culture, New York 1935, S. 8. Der mittelalterlichen Auffassung zufolge wäre die angeblich aus Sizilien stammende Elpis auch selbst als Autorin in Erscheinung getreten. Zwei vermeintliche Hymnen der Elpis Uxor Boetii, in denen die Apostel Petrus und Paulus verherrlicht werden, sind abgedruckt bei Jacques-Paul Migne (Hrsg.): Boetii, Ennodi Felicis, Trifoli Presbyteri, Hormisdae Papae, Elpidis Uxoris Boetii Opera Omnia, Paris 1882 (Patrologia Latina 64), Sp. 537f. 43 Im Typensatz (2:115G), den Koberger 1473 für den zweisprachigen Druck der Consolatio benutzte (es ist der gleiche, den er ein halbes Jahr zuvor auch für den

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Kommentierung erhält in der Übersetzung hingegen die „vitae scaena“, die anscheinend Verständnisprobleme bereitende metaphorische ‚Bühne des Lebens‘, die zunächst übersetzt wird mit „winckelschadten [Hs. Schaffhausen: „winckelschaden“] des lebens“, was soviel heißt wie ‚heimlicher, verborgener Schatten (oder Schaden) des Lebens‘.44 Die Passage wird dadurch nicht unbedingt klarer und erfordert eine Auslegung: vnd hie redt der meister nach der geleichnuß / der vinstern stat oder kamern im spilhauwß zu Rom . do man ließ sehen mancherley / figur oder pilde . nach der schnᯋden außsprechung mancher person . den schentliche / bᯋse ding widerfaren waren . vnd auch ettlichen gab man da . ettlichen nam man / da . Also erhᯋht das gelţck ettliche . vnd ettliche nidert es.45

Woher der Übersetzer diese Informationen hat, muss vorerst offen bleiben. In den Kommentaren des Pseudo-Thomas oder Nikolas Trivets begegnen sie jedenfalls nicht; eine entfernte Ähnlichkeit ergibt sich zu Bemerkungen, die Nauta im Apparat zu Wilhelm von Conches (II, p3) aufführt.46 Nähere mythologische Erläuterungen erfordern vor allem das dritte und siebte Metrum aus Buch IV, in denen unter anderem vom Schicksal des Odysseus und seiner Gefährten im Reich der Circe (IV, m3) und von den Taten der Herkules (IV, m7) die Rede ist. Im Unterschied zu den oft geradezu kryptischen lateinischen Metren, die kaum einmal Namen nennen, werden in der deutschen Übersetzung die handelnden Personen benannt – Hauptakteure wie „Ulixes“, „Circe“ und „Hercules“ zudem im Register angeführt – und die zwölf Taten des Herkules einzeln verzeichnet. Die meisten der mythologischen Hintergründe findet man dabei in den Kommentaren des Pseudo-Thomas, Trivets oder auch in dem des Remigius von Auxerre,47 so etwa die Information, Herkules habe „durchschossen die / vᯋgel iouis die arpie genant sein“ (gemeint sind die

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rein deutschsprachigen Druck des Ehebuchs Albrechts von Eyb verwendet hatte), fehlt eine Letter für das übergeschriebene ‚e‘. Ungeachtet des dadurch nicht korrekt wiedergegebenen Lautwerts ersetzte er das Superskript ‚e‘ konsequent durch ‚o‘. Eine Verbindung zwischen scena und umbra (Schatten) kennen auch die karolingischen Consolatio-Kommentare, vgl. Naumann, Notkers Boethius (Anm. 24), S. 17. ‚Und hier redet der Meister in einem Gleichnis von der dunklen Stätte oder Kammer im Schauspielhaus (Theater) zu Rom, dort zeigte man viele Darstellungen auf den rücksichtslosen Befehl einiger Personen hin, denen schmachvolle, üble Dinge widerfahren waren. Einigen gab man dort etwas, einigen nahm man etwas; auf solche Weise erhöht das Glück manche und manche erniedrigt es.‘ Vgl. Lodi Nauta (Hrsg.): Guilelmus de Conchis Glosa super Boetium, Turnhout 1999, S. 109; den Hinweis verdanke ich Reinhold Glei. Vgl. Naumann, Notkers Boethius (Anm. 24), S. 55.

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Stymphalischen Vögel) oder er habe den „per der seti= / ger hieß“ getötet;48 womit der Erymantische Eber gemeint ist, der z.B. bei Trivet und im Kommentar des Pseudo-Thomas „Setiger“ (wörtl. Borstenträger) genannt wird. Auch viele der naturwissenschaftlichen Erklärungen, so etwa die präzise Erläuterung einer Mondfinsternis in IV, m5, „das ist so das ertrich zwischen im [dem Mond] vnd der / sunnen gesatzt wirdet“, sind ebenfalls im Kommentar des Pseudo-Thomas wie in weiteren mittelalterlichen Kommentaren zu finden. Die zusätzlichen Informationen in III, m8 zu den Seeigeln hingegen, die Echini / genant sind . vnd die eines halben schuchs lang vnd scharpf sind als ein igel . vnd / wenn sie an dem schiff hangend . ob balt grosser wind vnd vngewitter ist . so hal= / ten die doch das schiff das es vnbeweglich ist,49

enthält Pseudo-Thomas nur zum Teil; die angebliche Fähigkeit, Schiffe im Sturm festhalten zu können, kennt er nicht. Da aber andere ConsolatioKommentatoren, etwa Remigius von Auxerre oder auch Nikolas Trivet, diese bereits in Isidors Etymologiae erwähnte Eigenschaft nennen, wird einmal mehr deutlich, dass der Übersetzer entweder weitere Quellen benutzt haben muss oder aber sich ganz auf einen anderen Kommentar stützte.50

_____________ 48 „Per“, das auch die Schaffhausener Hs. und der Straßburger Nachdruck bieten, ist hier nicht mit ‚Bär‘ zu übersetzen, sondern wird in der seltenen Form bêr = Eber, Zuchteber (aper) verwendet; vgl. BMZ, Bd. 1, Sp. 104b; Lexer, Bd. 1, Sp. 183. 49 ‚…die Echini heißen und die einen halben Schuh lang und so stachelig sind wie ein Igel. Wenn sie am Schiff kleben, halten sie es, selbst falls heftiger Sturm oder ein Unwetter herrscht, so fest, dass es sich nicht bewegt.‘ 50 Ein zur Klärung dieser Problematik unbedingt notwendiger umfassender Vergleich der Erläuterungen aus der deutschen Übersetzung mit den mittelalterlichen Consolatio-Kommentaren wird extrem erschwert durch die höchst unbefriedigende Editionssituation jener Kommentar-Tradition; im Rahmen dieses Beitrags war er daher nicht zu leisten. Überprüft habe ich die erklärenden Ergänzungen der deutschen Übersetzung des Koberger-Drucks außer mit dem Kommentar des Wilhelm von Conches und dem Kommentar des Pseudo-Thomas sowie mit den wenigen publizierten Passagen der karolingischen Kommentare des Remigius von Auxerre und des Anonymus Sangallensis auch mit den entsprechenden Passagen des im späten Mittelalter weit verbreiteten Kommentars von Nikolas Trivet. Die Situation gestaltet sich dabei ähnlich wie im Kommentar des Pseudo-Thomas: Vieles, so etwa den Verweis auf die „Echini“, die Schiffe festhalten könnten, oder auf Boethius’ vermeintliche Gattin Elpis, enthält Trivets Kommentar, manches, zum Beispiel die Erklärungen zur „vitae scaena“, findet man dort allerdings nicht. Hier ist noch weitere Forschungsarbeit zu leisten.

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In der Inkunabel von 1473 steht die deutsche Übersetzung mit ihren erklärenden Zusätzen, dies machte bereits der unterschiedliche ‚Durchschuss‘ deutlich, im Schatten des lateinischen Textes. So tragen dann auch die deutschen Übersetzungen der einzelnen Prosen und Metren nicht etwa deutsche Titel, sondern wiederholen die lateinischen. Die Dominanz der lateinischen Fassung demonstriert überdies ein weiterer Aspekt der Texteinrichtung. Jedes der fünf Bücher der Consolatio beginnt in der KobergerAusgabe, wie bereits erwähnt, mit einem lateinischen Incipit und endet mit einem ebensolchen Explicit, wenn es z. B. heißt: „Explicit liber primus Boecy de consolatione philosophie. incipit secundus“. Diese gliedernde Formel steht aber nicht, wie man vielleicht erwarten würde, nach dem Ende des siebten, das erste Buch der Consolatio abschließenden Metrums, sie folgt vielmehr erst nach der deutschen Übersetzung von I, m7. Es ergibt sich dadurch der im Hinblick auf die sonstige Einrichtung der Inkunabel ganz ungewöhnliche Fall, dass der lateinische Text dem deutschen nachgestellt wird, denn in der Zeile vor der lateinischen Explicit-Formel hieß es: „Vnd also endet sich hie das erst buch des meisters Boecy“. Das Gleiche wiederholt sich jeweils am Ende der anderen Bücher; die letzten beiden Zeilen des Boethius-Textes der Inkunabel lauten demnach: „Hie hat ein ende das fünft puch Boecy von dem trost der weisheit. / Boecy philosophiee consolationis liber quintus explicit“. Der Grund für diese ungewöhnliche mise en page könnte darin zu suchen sein, dass die deutsche Übersetzung gleichsam als Teil des lateinischen Gesamtunternehmens der Consolatio Philosophiae angesehen wurde. Sie hätte dann, jedenfalls für den Redaktor der Inkunabel, keinen besonderen Eigenwert besessen, ihr wäre lediglich eine untergeordnete Funktion zur besseren Erschließung des lateinischen Textes zugefallen, dessen Struktur aber wie selbstverständlich durch lateinische Gliederungsmarker zu verdeutlichen war. Aus der hier sich einmal mehr manifestierenden, höchst unterschiedlichen Dignität des lateinischen und des deutschen Textes der Consolatio scheint mir dann auch die, auf den ersten Blick rätselhaft erscheinende, mangelnde Abstimmung beider Texte zu resultieren, durch die beispielsweise die Diskrepanzen im ersten Metrum des ersten Buchs entstehen konnten. Einem sicherlich auf den lateinischen Text fixierten Korrektor ging es offensichtlich um die Qualität eben dieses Textes, das untergeordnete Hilfsmittel der deutschen Übersetzung dürfte ihn hingegen, wenn er sich überhaupt dafür verantwortlich fühlte, nur am Rande interessiert haben.

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‚Interpretatio Christiana‘? Die in Kobergers Inkunabel abgedruckte Übersetzung der Boethianischen Trostschrift steht in einer längeren Reihe deutscher Consolatio-Übertragungen aus dem 15. Jahrhundert – wobei es eine offene Frage ist, weshalb in diesem Zeitraum die Consolatio Philosophiae vergleichsweise häufig ins Deutsche übertragen wurde, während aus den vier Jahrhunderten zuvor, also nach Notkers um das Jahr 1000 herum entstandener deutscher Bearbeitung jenes Boethius-Textes, keine weiteren volkssprachigen Fassungen bekannt sind. Im Vergleich zu den übrigen deutschen Umsetzungen dieses Zeitraums, aber auch in Relation zu Notkers althochdeutscher ConsolatioBearbeitung, bietet diejenige aus dem Koberger-Druck nur eine verhaltene christliche Überformung des ursprünglich neuplatonischen Werks. Zwar lassen sich entsprechende Anklänge aufzeigen, doch Verweise auf biblische Analogien, christliche Allegorisierungen oder gar die zensierende Unterdrückung ganzer Passagen aus theologischen Gründen wie in der Mittelniederdeutschen Übersetzung51 sucht man im 1473 erschienenen Druck vergeblich. Beobachten lässt sich diese nur vorsichtige Christianisierung etwa an der Übertragung des berühmten 9. Metrums aus Buch III („O qui perpetua“), das die platonische Kosmologie im Kern enthält und deshalb zu Recht als Zentrum des gesamten Textes betrachtet worden ist. Dieses Metrum stellte dann auch für das christliche Mittelalter eine besondere Herausforderung dar und hat entsprechend viele Auslegungen und Kommentierungen erfahren.52 Im Koberger-Druck wird es wie folgt ins Deutsche übertragen: O Got der du mit ewiger vorschickung ausrichtst die welt . vnd bist / ein schᯋpfer des ertrichs vnd des himels . der du die zeit haissest geen / von ewig . vnd stet bleibender machest das alle ding bewegt werden ./ Den nit frᯋmde sachen betzwungen haben zu machen das werck der hinfliessenden / materig . Sunder von der innwesenden forme des hᯋsten gutes die neides mangelt / bringest du alle ding von dem obersten ebenpild . Vnd du selber der allerschᯋnst /

_____________ 51 Dort ist Buch V wegen theologischer Bedenken nicht in die Volkssprache übertragen worden: „Men dat viffte vnd dat leste boek iß nicht in dudesch gesat wente ed iß van der wetenheit godes vnd dar aff vele to sprekende mochte groten twiuel maken in den dummen luden“ (‚Aber das fünfte und letzte Buch ist nicht ins Deutsche übertragen, denn es handelt vom Wesen Gottes, und darüber viel zu reden, könnte große Zweifel wecken bei ungebildeten Leuten‘); zitiert nach Mommert, Humery (Anm. 10), S. 15. 52 Vgl. den Überblick bei Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967; vgl. auch R. B. C. Huygens (Hrsg.): „Mittelalterliche Kommentare zum ‚O qui perpetua…‘“, in: Sacris Erudiri 6/1954, S. 373-427.

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hast getragen die schᯋnen werlt in dem gemţte . vnd bist sie pildent mit gleichem / pilde . Vnd du hast gehaissen das volkomen . ledig zumachen53 die volkomen teyle / der element . vnd dieselben element pindest du mit der zal . Also das die kelte mit / dem feţr . vnd die dţrren mit dem feuchten beqweme werdent . vnd das das lauter / feţr nicht außfliege . oder das die schwerigkeit nicht vnderdrţcke das gesenckt / ertrich . Auch bist du zusammen hefftend vnd zerlᯋsend mit mithellenden gelidern / die mitteln sele der trifaltigen natur . die alle ding beweget . Vnd so sie getailt ist / worden . so hat sie die bewegung vmbgefţrt in zwen vmbkreis . vnd geet denn / widerkerend in sich selber . vnd vmbgeet das tieffe gemţte . vnd mit geleicher / pildung bekeret sie den himel . Vnd mit gleichen sachen fţrest du die sele vnd das / mynder leben . vnd bist zufţgend die hohen sele auff geringen wägen . vnd die / myndern seest du auf das ertrich . vnd die sele die mit gutwilligem gesetze zu / dir gekert sind . die machst du das sie widerkeren in dem widertragenden feţre . / O vater gib dem gemţte aufzesteigen zu dem engen54 stul . gib vns durchsehen den / prunnen des guten . gib vns das wir finden das liecht . vnd in dich hefften das / bescheţlich gesichte des gemţtes . Vnd zertreib die nebel . vnd die pţrden der / irdischen schwerheit . vnd scheine mit deinem glantz . wann du bist vnsere hait= / tere zeit . vnd bist ein stille rwe den gţtigen . vnd ein ende dich zesehen . Du bist / der anfang . der fţrer . der laitter . der steig . vnd auch das zil. (‚O Gott, der du mit seit Ewigkeit währender Voraussicht die Welt regierst und der Schöpfer der Erde und des Himmels bist, der du die Zeit seit Ewigkeit ausgehen heißt und – Unbewegter – bewirkst, dass alle Dinge bewegt werden; den keine äußeren Mächte dazu gezwungen haben, das Werk der ausfließenden Materie zu bewirken. Allein durch die in dir seiende Form des höchsten Gutes, die frei von Missgunst ist, formst du alle Dinge nach dem höchsten Abbild. Du selbst, der Allerperfekteste, hast die perfekte Welt in deinen Gedanken getragen und bildest sie ständig nach dem entsprechenden Vorbild. Du hast veranlasst, die vollkommenen Teile der Elemente absolut frei zu machen. Diese Elemente bindest du durch die Zahl, so dass die Kälte mit der Hitze und das Trockene mit dem Feuchten passend werden, damit das reine Feuer nicht hinauffliege oder das Gewicht die schwere Erde nicht nach unten ziehe. Auch hältst du stets fest und löst zugleich mit harmonischen Gliedern die mittlere Seele der dreifaltigen Natur, die alle Dinge bewegt. Wenn sie getrennt worden ist, hat die Bewegung sie in zwei Kreisen herumgeführt, sie kehrt dann wieder in sich selbst zurück, umschreitet den tiefen Geist und verwandelt mit ähnlicher Abbildung den Himmel. Aus dem gleichen Grund führst du die Seelen und das geringere Leben hervor, setzst die

_____________ 53 Dass absolvere hier im Sinne von ‚schaffen, vollenden‘ gebraucht ist, hat der Übersetzer nicht verstanden und entscheidet sich für die Bedeutung ‚loslösen, frei machen‘. 54 Im lateinischen Text heißt es nicht „augustam sedem“ (‚heiligen Sitz‘), sondern „angustam sedem“ (‚engen Sitz‘). Auch der Kommentar des Pseudo-Thomas nennt ausdrücklich beide Möglichkeiten; insofern ist die Übersetzung hier korrekt und, wie auch der lateinische Text, eventuell beeinflusst vom christlichen Gedanken des mühsamen Aufstiegs ins Himmelreich, das nur durch einen schmalen Eingang erreicht werden kann.

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hohen Seelen auf leichte Gefährte und die geringeren säst du auf die Erde. Und die Seelen, die dir nach gütigem Gesetz zugewandt sind, die veranlasst du zurückzukehren im rückführenden Feuer. O Vater, verleih dem Geist zum schmalen Sitz aufzusteigen, gib uns zu durchschauen den Quell des Guten, gib uns, dass wir das Licht finden und auf dich richten den ruhigen Blick des Geistes; vertreibe die Nebel und die Lasten der irdischen Beschwerlichkeit und leuchte mit deinem Glanz, denn du bist unsere Freude und bist den Gütigen eine stille Ruhe. Dich zu schauen ist Ende, du bist der Ursprung, der Lotse, der Leiter, der Weg und auch das Ziel.‘)

Der Übersetzer in der von Koberger abgedruckten Fassung begnügt sich zu Beginn mit einer kleinen, doch signifikanten Interpolation: „O Got der du…“. Dabei dient der Zusatz ‚Gott‘ wohl kaum einer gezielten Abwehr etwaiger Gedanken an den platonischen Demiurgen, sondern rekurriert – mit Blick auf den „schᯋpfer des ertrichs vnd des himels“, der unmittelbar darauf angerufen wird – beinahe beiläufig auf die Eingangsformel des katholischen Glaubensbekenntnisses.55 Die Übersetzung des Plurals „terrarum“ im lateinischen Consolatio-Text durch den Singular „des ertrichs“ dürfte sich gleichfalls dieser wie selbstverständlich erfolgten Adaptation verdanken.56 Die nächsten Verse überträgt der anonyme Übersetzer dann relativ textnah, sich dabei weitgehend einer christlichen Imprägnierung enthaltend. Erst die Schlussverse des Hymnus ab „Da, pater“, in denen Philosophia sich im spätantiken lateinischen Text mit einem Gebet an Gott wendet, erscheinen in der spätmittelalterlichen deutschen Übersetzung wieder christlich aufgeladen und werden zu einer allgemein gehaltenen Fürbitte mit abschließendem Lobpreis Gottes. Der quasi-liturgische Charakter dieser Verse lässt vermuten, dass auch dort bekannte und automatisch abgerufene christliche Formeln das Verständnis und die Übersetzung gesteuert haben könnten. Dieses Verfahren ist symptomatisch für die gesamte deutsche Übersetzung in der Koberger-Inkunabel und lässt sich ebenfalls an einigen anderen Stellen demonstrieren: Kleinere Ergänzungen verweisen auf ein, gleichsam subkutanes, christliches Grundverständnis der Consolatio, doch ein regelrechter ‚Boethius Christianus‘ entsteht dadurch wohl noch nicht. In I, m5 ist „O iam miseras respice terras / Quisquis rerum federa nec-

_____________ 55 Sie lautet: „Credo in unum Deum, patrem omnipotentem, factorem cæli et terræ“. Missale Romanum. Ex decreto Ss. Concilii Tridentini restitutum summorum pontificum cura recognitum, Ratisbonae 301956, S. 247. 56 Wie tief jener Basistext des christlichen Ritus im kulturellen Gedächtnis, aber auch im persönlichen Gedächtnis jedes Gläubigen verankert war, ersieht man daran, dass Notker bei seiner Übersetzung der Anfangsverse von III, m9 rund fünf Jahrhunderte zuvor genauso vorgegangen war, vgl. dazu Christine Hehle: Boethius in St. Gallen. Die Bearbeitungen der ‚Consolatio Philosophiae‘ durch Notker Teutonicus zwischen Tradition und Innovation, Tübingen 2002, S. 232.

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tis“57 amplifizierend übersetzt durch: „O got sieh yetzund an das yamerig ertrich . du der als groß / pist . das ich dein nit genennen mag . der du da zesamen fţgst die gesetz der ding“.58 In II, m5 wandelt sich der Wunsch „Vtinam modo nostra redirent. / In mores tempora priscos“59 zu einer gebetsartigen Bitte an Gott: „Nw wolt got das vnsere zeit widergieng zu den ersten siten“.60 Ähnlich wird in II, m8 der Hymnus an die Liebe, von der in der lateinischen Fassung ausgesagt wird, dass sie es sei, die die Ordnung des Kosmos bewirke, in der Übersetzung, theologisch korrekt, auf die Liebe Gottes umgelenkt: „Und solt begeren die liebe des schᯋpfers . die da schafft oder schickt . das / die werlt…“61 Und schließlich wird die „clementia purgatoria“ an den Seelen, von der Philosophia in IV, p4 spricht, in der Übersetzung von der Vorstellung des christlichen Fegefeuers überlagert; dort ist die Rede „von der gutwillikeit gotes die sie [die Seelen] raynigt von / iren sunden“.

Potentielle Rezipienten Angesichts der vergleichsweise neutralen Präsentation der Consolatio Philosophiae in Kobergers Druck von 1473 stellt sich die Frage, auf welchen Rezipientenkreis die Ausgabe zielt. Ein explizit christlich orientiertes, etwa monastisches Publikum, wie es für die ungefähr zeitgleiche sogenannte Erfurter Übersetzung der Consolatio in MS Hamilton 46 angenommen werden darf, scheint zunächst auszuscheiden. Eine theoretisch vorstellbare Alternative wäre der intendierte Gebrauch im Rahmen des schulischen oder universitären Unterrichts. Zweisprachige Texte oder auch Übersetzungen waren dort, wie Notkers Bearbeitungen zeigen, schon lange bekannt und gebräuchlich, und die Consolatio des Boethius zählte im 14./15. Jahrhundert an einigen Universitäten des deutschsprachigen Raumes zum Lehrprogramm.62 Aufgrund ihres Preises sowie ihres Formats war die luxuriöse

_____________ 57 Übersetzung nach Gegenschatz/Gigon (Anm. 22), S. 29: „O schau her auf die arme Erde, der du knüpfst der Schöpfung Gesetze.“ 58 ‚O Gott, schau nun das elende Erdreich an, der du so groß bist, dass ich deinen Namen nicht nennen kann, der du zusammenfügst die Gesetze aller Dinge.‘ 59 Übersetzung nach Gegenschatz/Gigon (Anm. 22), S. 73: „O daß doch unsere Zeiten zu früheren Sitten sich kehrten.“ 60 ‚Nun gebe Gott, dass unsere Zeit wieder zu den alten Sitten zurückkehrte.‘ 61 ‚Und du sollst die Liebe des Schöpfers begehren, der da bewirkt oder befiehlt, dass…‘. 62 Vgl. Palmer, Latin and vernacular (Anm. 10), S. 380f. An italienischen Universitäten scheint die Consolatio Philosophiae nach den Ergebnissen von Black und Pomaro im

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Koberger-Inkunabel aber sicherlich kaum für solche Zwecke geeignet.63 Nigel Palmer hat erwogen, ob die prachtvolle Ausgabe der Consolatio nicht (auch) für ein humanistisches Publikum interessant gewesen sein könnte. Immerhin lassen sich zwei ausgewiesene Humanisten als Besitzer der Inkunabel identifizieren. Bei dem einen handelt es sich um Albrecht von Eyb, der den Einband eines Exemplars mit seinem Wappen versehen ließ,64 der andere ist Hartmann Schedel, in dessen um 1498 entstandenem Bücherverzeichnis man unter der Rubrik „Poete et oratores“ auch „Bohecius de consolatione philosophie in Latino et Theotonico cum commentario sancti Thome“ findet.65 Damit kann nur der zweisprachige Druck von 1473 gemeint sein. Beide Humanisten stammen freilich aus Nürnberg und standen mit Koberger in geschäftlichen Beziehungen.66 Ob mithin aus dem für Eyb und Schedel nachweisbaren Besitz des für sie leicht zu erwerbenden Drucks auf ein generelles (früh)humanistisches Interesse an dieser Ausgabe der Consolatio Philosophiae geschlossen werden kann, steht dahin. Zudem wäre ein dezidiert humanistisch orientierter Käuferkreis im deutschen Sprachraum – und dorthin zielte der Druck mit seiner deutschen Übersetzung – in den 1470er Jahren noch ausgesprochen schmal gewesen. Speziell für eine solch überschaubare Gruppe hätte der geschäftstüchtige Koberger aber wohl kaum produziert.67 In der Forschung vielleicht etwas unglücklich als ‚humanistisch‘ bezeichnete Tendenzen,68 die sich mit dem Humanismus jedoch insofern treffen, als sich auch in ihnen ein verstärktes Interesse an guten, alten Texten manifestiert, gab es

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späteren Mittelalter hingegen nicht behandelt worden zu sein, vielmehr war sie dort Schullektüre; vgl. Robert Black / Gabriella Pomaro: ‚La Consolazione della Filosofia‘ nel Medioevo e nel Rinascimento Italiano. Libri di scuola e glosse nei manoscritti fiorentini. Boethius’s ‚Consolation of Philosophy‘ in Italian Medieval and Renaissance Education. Schoolbooks and their Glosses in Florentine Manuscripts, Florenz 2000. In einer der Ausgaben von 1495 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Res/4Alat.b.50) ist ein recht hoher Preis für ein, wohl gebrauchtes, Exemplar vermerkt: „Comparaui ab Ulrico ex saltzeburga pro v fl.“ (‚Ich habe es von Ulrich aus Salzburg für 5 Gulden gekauft‘). Vgl. Palmer, German Boethius (Anm. 4), S. 291f. Mittelalterliche Bibliothekskataloge (Anm. 17), S. 814. Der Eintrag findet sich auch in einer späteren Abschrift: „Boetius de consolatione philosophiae in scripto latino et Alemanico cum commento sancti Thomae“; ebd., S. 812. Nur ein halbes Jahr vor dem Erscheinen der Consolatio war bei Koberger das Ehebuch des Albrecht von Eyb herausgekommen; zu den Verbindungen zwischen Koberger und Hartmann Schedel, der bei ihm seine Weltchronik drucken ließ, vgl. Anm. 11. Einen humanistischen Rezipientenkreis der Koberger-Ausgabe erwägt indes Goris, Boethius in het Nederlands (Anm. 10), S. 139. Vgl. Machilek, Klosterhumanismus (Anm. 17).

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allerdings zu jener Zeit gleichfalls in den Klöstern, vor allem in vielen reformierten Benediktinerabteien. Für deren Bibliotheken war die Inkunabel zweifelsohne erschwinglich.69 Und in der Tat trägt etwa das von 1473 stammende Exemplar aus der Bayerischen Staatsbibliothek (Rar. 289) einen Besitzvermerk des Benediktinerklosters Weihenstephan. Ebenso war die Mehrzahl der später bei Koberger erschienenen Auflagen der Consolatio, die heute dort liegen, den Provenienzen nach zu urteilen im Besitz von Klosterbibliotheken, oft Benediktinerabteien.70 Das hängt selbstverständlich mit dem relativen Schutz zusammen, den Codices in Klosterbibliotheken im Vergleich zu Adels- und Privatbibliotheken genossen, doch mussten trotzdem jene Bücher erst einmal für wichtig genug befunden werden, um angeschafft (bzw. kopiert) zu werden. Für die Consolatio-Philosophiae-Drucke, die Koberger zwischen 1473 und 1495 auflegte, trifft ein solches monastisches Interesse erkennbar zu. Unter diesen Auspizien muss aber die Frage nach einer ‚interpretatio Christiana‘ des Boethianischen Trostbuchs, das im lateinischen wie im deutschen Text der Koberger-Ausgabe von 1473 keine massiven Anhaltspunkte für eine solche Deutung liefert, noch einmal neu gestellt werden. Bislang unberücksichtigt geblieben für dieses Problemfeld war der Kommentar des Pseudo-Thomas, der das Trostbuch des Boethius in Kobergers Drucken begleitet und dadurch zweifellos rezeptionssteuernd wirkt. Doch auch diese Auslegung der Consolatio Philosophiae unternimmt, verglichen mit anderen mittelalterlichen Kommentaren, keine außerordentliche christliche Aufladung des spätantiken Textes. Zwar bestehen zu keiner Zeit Zweifel an dessen christlichem Gehalt, aber der recht nah am Text operierende Kommentar, der stets mit einer Paraphrasierung einzelner

_____________ 69 Vgl. auch Palmer, German Boethius (Anm. 4), S. 292: „[…] large volumes as the Koberger Boethius were principally intended as books for institutional libraries, which in 1473 means monastery libraries.“ 70 Das bei Koberger im Jahr 1476 gedruckte Consolatio-Exemplar aus der Bayerischen Staatsbibliothek in München (2 Inc.c.a. 456) trägt einen Besitzvermerk des Franziskanerklosters St. Anton in München; die im Jahr 1483 bei Koberger erschienenen Consolatio-Drucke gehörten dem Augustiner-Chorherrenstift Indersdorf (2 Inc.c.a 1303) und dem Augustiner-Chorherrenstift Hl. Kreuz in Augsburg (Res/2 A lat.b.23); ein Exemplar (2 Inc.c.a.1553/1) befand sich 1484 im Besitz eines Frater Georgius aus dem Benediktinerkloster Weihenstephan. Kobergers Consolatio-Drucke aus dem Jahr 1486 tragen Besitzvermerke des Kollegiatsstifts Altötting (2 Inc.c.a. 1717), eines Frater Leonardus Estermann aus der Benediktinerabtei Tegernsee (2 Inc.c.a. 1717a; aus dieser Abtei auch 2 Inc.c.a. 1914 u/1) und eines Martinus Rehlein aus dem Augustiner-Chorherrenstift Rebdorf; die Drucke des Jahres 1495 schließlich entstammen den Benediktinerabteien St. Emmeram in Regensburg (4 Inc.c.a. 1187), Scheyern (Res/4 A lat.b.49) und Rott am Inn (Res/4 A lat.b.50).

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Abschnitte beginnt, bevor dann einige „notae“ zu einzelnen Stellen gegeben werden, bemüht als Autoritäten ganz überwiegend antike Autoren wie Seneca, Cicero, Aristoteles oder Plato. Kirchenväter wie Augustinus oder Hieronymus werden weit weniger häufig genannt, die Bibel als Referenztext spielt kaum einmal eine Rolle, Christus wird namentlich nur äußerst selten erwähnt. Als eine ausgesprochene ‚interpretatio Christiana‘ wird man das nicht eben bezeichnen wollen. Welches Interesse also sollten geistliche Institutionen wie Klöster, die den Provenienzen der erhaltenen Exemplare zufolge zu den wichtigsten Käufern der Kobergerschen Consolatio-Drucke zählten, am lateinischen Trostbuch des Boethius samt deutscher Übersetzung und dem Kommentar des Pseudo-Thomas gehabt haben? Einen interessanten Hinweis gibt der Drucker und Verleger selbst. Denn in einem zufällig erhaltenen, wohl auf Kobergers Pressen gedruckten Verzeichnis mit Büchern aus seiner Offizin, die in einem Wanderbuchlager geführt wurden, taucht ebenfalls die Consolatio Philosophiae auf, wobei allerdings nicht zu entscheiden ist, ob es sich dabei um die zweisprachige Ausgabe von 1473 oder um eine der späteren lateinischen Ausgaben aus den 1480er Jahren handelt.71 Das Verzeichnis ist untergliedert in die Rubriken „In theologica“ mit insgesamt zwölf Titeln, „Sermones“ mit sieben und „In medicinis“ mit drei. „Boecium de consolatione philosophie“ wird – neben ausgewiesener Predigtliteratur wie den Traktaten Hugos von Prato, Leonhards von Utino oder dem Quadragesimale des Johannes Gritsch – an letzter Stelle unter den „Sermones“ geführt. Demnach hat zumindest Koberger bzw. ein Wanderbuchführer, der sich damit aber sicherlich am Markt orientierte, die Consolatio, in der unter anderem das theologisch zentrale Theodizee-Problem, das komplizierte Thema des Verhältnisses von freiem Willen des Menschen und göttlicher providentia sowie die Frage nach dem Wesen Gottes verhandelt werden, als homiletischen und paränetischen Traktat verstanden, der zur Katechese genutzt werden konnte. Wenn dies zutrifft, muss die Boethianische Trostschrift im 15. Jahrhundert aber wohl als eo ipso christlicher Text aufgefasst worden sein, was zugleich besser verständlich machen würde, weshalb man auf eine dezidiert christliche Überformung oder Auslegung in den erläuternden Zusätzen der deutschen Übertragung oder auch im Kommentar verzichten zu können glaubte. Ein Verständnis der Consolatio als Text, der zur (Laien-)Unterweisung zu gebrauchen war, würde zudem, sofern der Eintrag sich auf die zweisprachige Ausgabe von 1473 bezöge, einen zusätzlichen Erklärungsansatz dafür bieten, weshalb – über die Hilfe zum Verständnis des Lateinischen hinaus – der Boethianischen Trostschrift

_____________ 71 Abgedruckt bei Hase, Koberger (Anm. 1), S. 464f.

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eine Übertragung in der Volkssprache beigegeben wurde. Sie könnte dazu gedient haben, Klerikern jenen terminologischen Apparat an die Hand zu geben, der zwingend notwendig war, wenn Texte, über die man nur in der Gelehrtensprache zu diskutieren gewohnt war, in der Volkssprache ausgelegt werden sollten.72 Falls eine solche funktionale Einbindung der Consolatio Philosophiae während des 15. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum zu generalisieren wäre oder doch in breiteren Kreisen gegolten haben sollte,73 liegt darin möglicherweise zugleich ein Grund für die relative Menge deutscher Consolatio-Übersetzungen in eben diesem Zeitraum. Zu erklären bliebe dann freilich, weshalb in den ab 1476 bei Koberger aufgelegten Consolatio-Ausgaben die deutsche Übertragung nicht weiterhin abgedruckt wurde. Deren Qualität ist so schlecht nicht, und wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, bestand offenbar durchaus Interesse an ihr. Dem Wasserzeichen nach zu urteilen wurde um 1480/90 im alemannischen Raum, möglicherweise im Umkreis des Klosters Schaffhausen, aus dem sie in die Stadtbibliothek Schaffhausen gelangt sein könnte, die Consolatio Philosophiae in deutscher Übertragung aus einem anderen Werk abgeschrieben.74 Dass es sich bei dieser Handschrift um eine Kopie handelt, belegen typische Fehler wie mehrfach begegnende Auslassungen von Worten und Satzteilen oder Augensprünge. Das von einer Hand geschriebene Manuskript ist zwar in einem anderen Dialekt verfasst als die deutsche Consolatio-Übertragung in der Koberger-Inkunabel, auch wurden nicht selten variierende Formulierungen gewählt und es begegnen kleinere Umstellungen, insgesamt aber bietet die einzig in der Schaffhausener Handschrift überlieferte Version eine der deutschen Consolatio-Übersetzung aus dem Druck von 1473 nah verwandte Fassung. Besonderheiten

_____________ 72 Vgl. auch Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 10), S. 390. Grubmüller hat Vergleichbares für die deutsche Übersetzung der Fabeln Äsops in Steinhöwels lateinisch-deutscher Ausgabe erwogen; vgl. Klaus Grubmüller: „Elemente einer literarischen Gebrauchssituation. Zur Rezeption der aesopischen Fabel im 15. Jahrhundert“, in: Peter Kesting (Hrsg.): Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, München 1975, S. 139-158. 73 Wenn etwa die Mittelniederdeutsche Übersetzung das fünfte Buch der Consolatio nicht in die Volkssprache überträgt, weil die darin geführte Debatte über Vorsehung und Willensfreiheit sowie über das Wesen Gottes „mochte groten twiuel maken in den dummen luden“ (vgl. Anm. 51), zielt das genau in diese Richtung. 74 Die Handschrift befindet sich heute unter der Signatur Gen. 28 in der Stadtbibliothek Schaffhausen; vgl. auch die Beschreibung in Rudolf Gamper / Susanne Marti: Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Stadtbibliothek Schaffhausen. Im Anhang Beschreibung von mittelalterlichen Handschriften des Staatsarchivs Schaffhausen, des Gemeindearchivs Neunkirch und der Eisenbibliothek, Klostergut Paradies, Dietikon-Zürich 1998, S. 130f.

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des deutschen Koberger-Textes kennt auch die Schaffhausener Kopie. Die divergierende Zuordnung der Redeanteile von Philosophia und Boethius75 etwa begegnet dort ebenso wie die Umstellung einer Passage in IV, p4 oder die konsequente Verschreibung von porisma als perisma. Angesichts der Abweichungen vom deutschen Text der Inkunabel ist es gleichwohl insgesamt wenig wahrscheinlich, dass der Koberger-Druck als direkte Vorlage für die Schaffhausener Abschrift gedient haben könnte. Eher ist davon auszugehen, dass die Schaffhausener Consolatio-Handschrift „eine unabhängige Überlieferung der Übersetzung“ enthält.76 Analog zur Kobergerschen Version war die deutsche Consolatio-Übersetzung in der Schaffhausener Handschrift ebenfalls augenscheinlich für Benutzer gedacht, die über Lateinkenntnisse verfügten. Denn jeweils zu Beginn eines Metrums oder einer Prosa werden die Eingangsverse der lateinischen Fassung zitiert, offenbar um die volkssprachige Übersetzung korrekt in den Zusammenhang eines lateinischen Textes der Consolatio einordnen zu können. Wie bei Koberger fungiert also gleichfalls hier der deutsche Text als Instrument für den Umgang mit der lateinischen Fassung des Trostbuchs. Auf einen gebildeten Redaktor oder Benutzerkreis lässt zudem die Wiedergabe der griechischen Sentenzen in (ungelenken) griechischen Buchstaben samt übergeschriebener lateinischer Übersetzung schließen, die nach Buch II allerdings abbricht. Die Schaffhausener Handschrift ist somit fest in der Latinitas verwurzelt, die zugleich, beispielsweise mittels eines zu Rate gezogenen Kommentars, die Rezeption lenken konnte. Anders sieht dies bei dem im Jahr 1500 bei Johann Schott in Straßburg erschienenen Nachdruck der Kobergerschen Ausgabe von 1473 aus. Dieser gegenüber Kobergers Ausgabe ungleich preiswertere Druck im Oktav-Format77 verzichtet auf den lateinischen Text und den Kommentar des Pseudo-Thomas. Bis auf kleine dialektale Abweichungen folgt er recht genau und weitaus enger als die Schaffhausener Handschrift der deutschen Übertragung aus Kobergers Ausgabe mit ihren Besonderheiten und Umstellungen.78 Der Nachdruck wird illustriert durch einen wohl eigens

_____________ 75 Eine Ausnahme bildet die Vertauschung in III, p10, die in der Schaffhausener Handschrift korrigiert ist. 76 Gamper/Marti, Katalog (Anm. 74), S. 131. 77 Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Res/4 A lat.b.69), mit dem ich gearbeitet habe, misst 203 x 140 mm, der Schriftspiegel beträgt 135 x 85 mm. In einem Londoner Exemplar hat sich eine Preisangabe erhalten, die Auskunft über die vergleichsweise moderaten Anschaffungskosten der Schottschen Ausgabe gibt: „Emi tribus solidis“ (‚gekauft für drei sous‘); vgl. Goris, Boethius in het Nederlands (Anm. 10), S. 145, Anm. 171. 78 Es scheint allerdings ein redaktioneller Abgleich mit der lateinischen ConsolatioFassung aus Kobergers Druck stattgefunden zu haben, denn die zweimalige

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angefertigten, in manchen Exemplaren kolorierten, ganzseitigen Titelholzschnitt, der vor I, p1 und am Ende des Buches noch einmal wiederholt wird (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: 4 Inc.c.a.1758a, fol. a4r (Bayerische Staatsbibliothek München): Kolorierter Holzschnitt (Philosophia am Bett des Boethius) vor I, m1 in der deutschen Übersetzung der Consolatio Philosophiae, die 1500 bei Johann Schott in Straßburg erschien.

Den Beginn eines jeden Buches sowie der vorausgehenden ‚Vita‘ des Boethius markieren im Straßburger Druck von 1500 skurrile, aus Menschen

_____________ fälschliche Zuordnung der Redeanteile von Philosophia und Boethius, die sich dort lediglich im deutschen Text der Inkunabel (IV, p4 und IV, p7), nicht aber im lateinischen findet, wurde im Nachdruck verbessert. Ebenso ist das inkorrekte perisma hier in porisma geändert worden, wie es auch der lateinische Text hat (III, p10).

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und/oder Tierleibern bestehende Initialen, die im Gegensatz zur Titelillustration vermutlich nicht eigens für diese Ausgabe geschnitten, sondern wiederverwendet wurden (vgl. Abb. 4).79

Abb. 4: 4 Inc.c.a.1758a, fol. i2r (Bayerische Staatsbibliothek München): Kolorierte N-Initiale zu Beginn von Buch IV in der deutschen Übersetzung der Consolatio Philosophiae, die 1500 bei Johann Schott in Straßburg erschien (in der Überschrift versehentlich als „dritt Bţch“ bezeichnet).

_____________ 79 Ihre Herkunft wäre noch zu ermitteln. Keine Auskunft darüber gibt das einschlägige Standardwerk: Der Bilderschmuck der Frühdrucke. Begründet von Albert Schramm, fortgeführt von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd. 20: Die Straßburger Drucker, 2. Teil, Leipzig 1937, S. 20f. und Tafel 286.

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Um sie nutzen zu können, mussten die Buchanfänge der deutschen Consolatio-Übersetzung leicht umformuliert werden. Im Gegensatz zur Koberger-Inkunabel und zur Schaffhausener Handschrift, die beide vor dem Hintergrund der lateinischen Fassung gelesen werden sollten und konnten, ist eine solche Orientierung im Straßburger Nachdruck nicht zu erkennen. Im gesamten Text begegnet kein einziges unübersetztes lateinisches Wort; weder gehen die lateinischen Anfänge der Prosen und Metren der deutschen Übersetzung voraus, noch werden diese Abschnitte lateinisch durchgezählt, noch sind die griechischen Zitate auf Latein wiedergegeben. Der Straßburger Druck scheint sich mithin aus dem traditionellen, lateinisch bestimmten und kontrollierten Umfeld der Consolatio-Rezeption zu entfernen und wesentlich auf ein (laikales) deutschsprachiges Publikum abzustellen. Angesichts der nicht besonders intensiven christlichen Überformung der deutschen Consolatio-Übersetzung, wie sie aus der KobergerAusgabe in den Straßburger Druck übernommen wurde, entsteht – ohne das in der bisherigen Rezeptionssituation durch die lateinischen Paratexte wenigstens prinzipiell garantierte christliche Verständnis der Consolatio – aber die Gefahr, dass die komplizierte neuplatonische Schrift des Boethius nicht oder nicht ganz korrekt im christlichen Sinn verstanden werden konnte. Dieser Situation versucht der Straßburger Druck entgegen zu wirken, indem ein Proömium sowie eine Leseanweisung nach Buch II eine Verwendung als christliches Trostbuch nahelegen.80 Beide Zusätze erwei-

_____________ 80 Vgl. das Proömium: „In disem Bţch das do genant würt Boecius / von dem trost der Weißheyt: würt bewert vnnd / angezeigt das alle zeitlich gţter seind zergengk- / lich: vnd das in jnen nit gentzlich bestand die war / seligkeyt: da von nit ist zţ trauren in irem abwesen / noch sich zţ frewen in jrer gegenwertigkeit dessge- / leich niemant erhebt soll werden in glückseligen / dingen noch vnderdruckt in den widerwertigen. / Auch würt bedeüt was do sey das hᯘchst gţt: wo / es wone: vnnd wie man dar zţ kommen mᯘg. Dar / nach würt gezeigt das die gţten menschen gewal- / tig seind vnnd die bᯘsen alzeit vngewaltig: vnnd / das den gţten nimmer ichts gebrest an jren lᯘnen / oder verdienungen vnd den bᯘsen an jren penen / Darnach was do sey die gᯘtlich fürsichtigkeyt: / was die ordnung des jnflusß der beweglichen ding: / was der schnell vnbedacht zţuall: vnd was die / gᯋtlich bekantnüß oder vorordnung: vnnd was / die freyheit des freyen willens. Do bey vil hübscher / red von der freyen wilkür vnd der füersichtigkeyt / gottes: vnnd ander schᯘne materig ein yegkliche / vast nützlich vnd heilsam zţ lesen zţ wissen vnd / zţ betrachten.“ (‚In diesem Buch, das Boethius: Von dem Trost der Weisheit heißt, wird belegt und demonstriert, dass sämtliche weltlichen Güter vergänglich sind und dass in ihnen nicht die vollkommene, wahre Seligkeit besteht. Deshalb muss man deren Fehlen weder bedauern noch sich an ihrem Vorhandensein erfreuen. Ebenso soll niemand in glücklichen Zeiten überheblich werden noch niedergeschlagen in schlechten. Zudem wird erläutert, was das höchste Gut ist, wo es wohnt und wie man es erlangen kann. Danach

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sen sich als Übertragungen aus dem lateinischen Kommentar des PseudoThomas, die dort ungefähr an analoger Stelle im Proömium und am Ende des Kommentars von Buch II stehen. Rudimentär und indirekt schreibt sich damit die lateinische Kontextualisierung der Consolatio Philosophiae samt der damit verbundenen Rezeptionslenkung also doch wieder in den rein volkssprachigen Text des Straßburger Nachdrucks ein. Welches Publikum Johann Schott mit seinem deutschen Nachdruck des Trosts der Weißheit im Blick hatte, ist schwer auszumachen. Ein erhaltenes Exemplar aus Oxford deutet auf eine Verwendung in der Schule,81 doch wird man das nicht ohne Weiteres verallgemeinern wollen. Großer Erfolg scheint dem Nachdruck jedenfalls nicht beschieden gewesen zu sein, es blieb bei einer Auflage. Auch Koberger verzichtete, wie gesehen, ab der zweiten Auflage (1476) auf die deutsche Übersetzung der Consolatio Philosophiae. Bei ihm sind die Gründe für den Verzicht auf die volkssprachige Übertragung, die im Dienst der besseren Erschließung des lateinischen Texts für deutschsprachige Benutzer und vielleicht auch im Dienst einer volkssprachigen Auslegung des Trostbuchs gestanden hatte, besser nachzuvollziehen, wenn man sich seine geschäftliche Situation vor Augen führt. In Kobergers sehr bald europaweit expandierendem Verlag musste das Hilfsmittel einer deutschen Übersetzung für den Vertrieb geradezu kontraproduktiv wirken. Denn außerhalb des deutschen Sprachraums, der aber eben nur einen Teil seines Absatzmarktes bildete, ließen sich die Bücher dadurch eher schlechter verkaufen. Nach dem, noch in der Anfangsphase seiner Tätigkeit entstandenen, lateinisch-deutschen ConsolatioDruck sollte Koberger niemals wieder irgendeine zweisprachige Ausgabe auflegen. Er druckte nun entweder in Latein (so in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle) oder in Deutsch und konzentrierte sich damit auf homogenere Kundenkreise.

_____________ wird demonstriert, dass die guten Menschen mächtig sind und die schlechten stets ohnmächtig und dass den Guten niemals irgend etwas an ihrem Lohn oder Verdienst fehlt, ebenso wie den Schlechten an ihren Strafen. Danach, was die göttliche Vorsehung ist, was die Ordnung des Einflusses auf die beweglichen Dinge, was der jähe, blinde Zufall und was die göttliche Kenntnis oder vorausliegende Ordnung und was die Freiheit des freien Willens. Dazu sehr schöne Gespräche über die freie Willensmacht und die Vorbedachtheit Gottes, sowie andere angenehme Stoffe, ein jeglicher sehr nützlich und heilbringend zu lesen, zu wissen und zu bedenken.‘) Nach Buch II wird noch einmal ähnlich argumentiert. 81 Die bei Schott erschienene deutsche Übersetzung ist dort zusammengebunden mit der bekannten Schulgrammatik Ars minor des Donat in einem bei Schönsperger, Augsburg, erschienenen Druck von 1497 (Oxford, Bodleian Library, Auct. 6Q 6.64); vgl. Goris, Boethius in het Nederlands (Anm. 10), S. 145, Anm. 170.

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Nach der Koberger-Inkunabel von 1473 und dem darauf basierenden Nachdruck Johann Schotts von 1500 erschien somit erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erneut eine deutsche Übersetzung der Consolatio Philosophiae – dies dann allerdings in einem durch die Reformation mittlerweile stark veränderten theologischen und dank dem Humanismus in einem gewandelten wissenschaftlichen Umfeld, in dem das Trostbuch des Boethius von seinen mittelalterlichen Wurzeln nunmehr weitestgehend abgeschnitten war.

Le Rôle des gloses dans l’interprétation chrétienne des traductions françaises: Del Confortement de Philosofie et Le Livre de Boece de Consolacion GLYNNIS M. CROPP (Palmerston North) Boethius’ reputation among French writers of the 13-15th centuries was that of a Christian who became the victim of tyranny and injustice, an example of the tragic mutability of human life. The Consolatio Philosophiae, a personal intellectual testimony, has no explicit reference to the Church and Christian doctrine, but affirms the ability of the human mind to rise towards heaven and the sovereign good, and was interpreted in a Christian sense by successive medieval commentators. In some vernacular translations, glosses and commentary accompany the text, as in the two works studied: Del Confortement de Philosofie (c. 1230), and Le Livre de Boece de Consolacion (c. 1350-1380). Both draw on material from Guillaume de Conches’ ,Glosae’. Examples of text are here examined to measure the Christian interpretation of important themes: knowledge of God, happiness, felicity and the gifts of Fortune, the sovereign good, the problem of evil, free will and divine prescience. Manuscript illustrations provide further evidence. In both translations glosses and commentary are presented as distinct from the text, but are an integral part of the elucidation of meaning. The overall Christian interpretation reinforces the final injunction which unites philosophy and Christian truth.

Aujourd’hui n’est-ce pas un fait indiscutable que, né dans une famille romaine patricienne et chrétienne, Boèce était chrétien?1 Les Opuscula sacra, où il exprime de la doctrine catholique bien orthodoxe, surtout dans l’Opuscule IV,2 nous aident à comprendre ses attitudes à l’égard de la reli-

_____________ 1

2

Henry Chadwick: Boethius. The Consolations of Music, Logic, Theology, and Philosophy, Oxford 1981, chap. I, surtout p. 46-68; John Marenbon: Boethius, Oxford 2003, p. 7-10; Phoebe Robinson: „Dead Boethius: Sixth-Century Accounts of a Future Martyr“, in: Viator 35/2004, p. 1-19; John R. C. Martyn: „A New Family Tree for Boethius“, in: Parergon 23/2006, 1, p. 1-9. Boethius: „De Fide catholica“, in: The Theological Tractates. The Consolation of Philosophy, H. F. Stewart et al. (éd. et tr.), Cambridge MA-London 1973, p. 52-71. Trois des Opuscules s’adressent à Jean le diacre, devenu pape Jean Ier (523-26). Dans un manuscrit (Melk (Autriche) 740, d’environ 1140) contenant les Opuscules, Jean et Boèce, figurent l’un à côté de l’autre sous une arcade romane. Jean est vêtu du costume liturgique. Au-dessus de Boèce, qui porte une tiare et des habits ornés de petites croix, est l’inscription „BOETIVS CONSVL“. Il porte à la main gauche un livre ouvert (le premier Opuscule), et à la main droite semble bénir (Pierre

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gion et de la philosophie. Peu après sa mort on a eu tendance à faire de lui un martyr chrétien, ce qui a suscité de la vénération pour Boèce et rehaussé la valeur et la popularité de la Consolatio Philosophiae.3 Cependant, dans le livre I, prose 4, il expose les forces complexes plutôt de caractère politique qui avaient conspiré à le priver de son haut office, à le disgrâcier à la cour de Théodoric, roi des Ostrogoths. L’évidence ancienne mène à la conclusion que Boèce n’était pas opposé d’une part à une réunion de Rome et des églises orthodoxes grecques, et de l’autre à un lien politique entre l’Italie et l’empire romain oriental, mais, entouré d’intrigues et d’ambitions différentes, il a été victime d’un conflit politique. Ce fut en effet le sénat romain, institution qu’il avait toujours vigoureusement défendue, qui, par ordre de Théodoric, l’avait jugé et condamné. Les auteurs médiévaux, pourtant, attribuent au roi arien, réputé tyran cruel, la condamnation et l’exécution de Boèce. La Consolatio Philosophiae, un livre dans un sens consubstantiel à son auteur, représente à la fin de la vie de Boèce son choix d’une ultime consolation dans la philosophie, donc de la préséance de la raison sur la foi. Néanmoins, il a écrit ce livre à l’intention de lecteurs chrétiens, semble-t-il, leur léguant une espèce de testament intellectuel personnel, et cela sans faire d’allusion explicite à l’Eglise et à la doctrine chrétienne. Est-ce une précaution déterminée par sa situation précaire et le climat religiopolitique? Ou est-ce une marque du style voilé qu’il avait adopté pour exprimer ses découvertes philosophiques?4 Nous n’avons pas de réponse. Mais dans quelle mesure les lecteurs du Moyen Age chrétien ont-ils constaté cette lacune? Car, après tout, c’est une œuvre exemplaire où dans la discussion il s’agit de Dieu,5 créateur et gouverneur du monde, et de la poursuite du souverain bien. Quels étaient les efforts pour concilier la pensée de Boèce à la vérité chrétienne? Le problème n’est pas effectivement de décider si Boèce était chrétien, mais d’interpréter la Consolatio

_____________ 3 4

5

Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition littéraire. Antécédents et Postérité de Boèce, Paris 1967, p. 71-72 et pl. 7). Chadwick (note 1), p. 66-68. Nos références au texte latin se rapportent à l’édition suivante: Anicii Manlii Severini Boethii Philosophiae Consolatio, Ludovicus Bieler (éd.), Turnhout 1957. „... ex intimis sumpta philosophiae disciplinis novorum verborum significationibus velo ...“ (,... j’enveloppe de mots nouveaux et rares les idées que je tire de mon approfondissement de la philosophie‘) („De Trinitate“, in: Theological Tractates (note 2), p. 4-5, ll. 17-18). Cf. l’Opuscule „Quomodo substantiae“, in: Theological Tractates (note 2), p. 38-39, ll. 11-14. La majuscule initiale du mot Dieu, signifiant un Etre suprême, s’impose aujourd’hui dans l’édition des textes, bien que les copistes médiévaux ne l’aient pas employée.

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Philosophiae, dont la langue a des résonances subtiles à la fois des Ecritures saintes et de la liturgie,6 même si la doctrine chrétienne, par exemple de l’Incarnation ou de la Rédemption, n’y entre pas. S’inspirant d’une identification de Philosophia à la Sapientia biblique, les glossateurs carolingiens avaient fait d’elle une figure chrétienne. A part Bovo de Corvey, qui au Xe siècle a trouvé dans la Consolatio des idées contraires à la foi,7 les commentateurs du Moyen Age ont, l’un après l’autre, tenté d’interpréter dans un sens chrétien l’œuvre de Boèce. Notons aussi que, si le christiansme n’y est pas explicité, le polythéisme païen est également absent. Avant d’aborder les traductions de la Consolatio Philosophiae, examinons la réputation dont jouit Boèce parmi les auteurs français des XIIIe-XVe siècles. Philosophe d’un grand savoir et auteur très éloquent, victime malheureuse de la tyrannie et de l’injustice, stoïquement courageux dans ses souffrances, Boèce a servi aux auteurs d’exemple de la mutabilité tragique de la vie humaine. Ils ont aussi mis en valeur la leçon essentielle de la Consolatio Philosophiae, à savoir que l’homme est capable de s’élever par l’esprit à la hauteur du ciel, et à poursuivre le souverain bien. En termes chrétiens, c’est la capacité de la transcendance. Dans les Grandes Chroniques il est présenté comme savant, traducteur de la philosophie grecque, et chrétien: … li granz clers qui translata les beles phylosophies d’Aristote et des autres phylosophes de grec en latin, et fu si bons et si verais crestiens, com il pert à ses livres que il fist de la consustancialité et de la Sainte Trinité. L’art de dyaletique, d’arismetique, de géometrie et de musique que il translata, mostrent bien sa grant clergie.8

Eustache Deschamps raconte ainsi sa chute: Boece qui tant fut saige De vray cuer et de couraige Le peuple rommain servi, … L’innocent fut mis en caige Et jugié sanz estre oÿ. De bien faire mal joÿ. A Pavie ot son estaige:

_____________ 6 7 8

Chadwick (note 1), p. 248-49; Marenbon (note 1), p. 173-76, 214-16 (notes). Chadwick (note 1), p. 247-48; Courcelle (note 2), p. 292-95. Les Grandes Chroniques de France, 1, Jules Viard (éd.), Paris 1920-58, p. 103. Les Chroniques ont été rédigées 1274-1461. Le chroniqueur se rapporte à l’Opuscule „De Trinitate“, in: Theological Tractates (note 2), p. 2-31.

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En prinson dure et sauvaige A illec son temps feni.9

Il rappelle aussi l’enseignement de la Consolatio Philosophiae: Se Boeces, de Consolacion, Qui saiges fut et de tel reconfort Que pour perte ne tribulacion Qui lui venist n’ot oncques desconfort, Ne pour bien nul ne s’esjouÿ trop fort Pour ce qu’il sceut que fortune mondaine Est inconstant, perilleuse et soudaine, Vivoit encor, tous seroit esbahis …10

Pour Christine de Pizan, qui le cite très souvent comme autorité qu’elle lit à travers les Ecritures et juxtapose aux Pères de l’église, il est „le tres souffisant philosophe“.11 Femme seule, luttant contre l’adversité, elle s’identifie dans une certaine mesure à l’expérience douloureuse de Boèce, se réconfortant à la fois de la fortitude morale et de la consolation philosophique de cet auteur. Bref, Boèce signifie un exemple moral à imiter et une autorité à suivre. La question de sa foi chrétienne ne se pose pas. C’est surtout dans les commentaires latins sur la Consolatio Philosophiae que la foi de Boèce s’affirme, par exemple dans l’Accessus ad Consolationem des Glosae super Boetium de Guillaume de Conches: Boetius iste nobilissimus ciuis Romanus et fide catholicus … Romanam rempublicam … uirtute fidei armatus, … liberauit.12 ,Boèce, ce citoyen romain très noble et de foi catholique … armé du courage de sa foi … avait libéré la république romaine.‘

Boèce réussit ainsi à la fois à faire condamner les hérétiques Nestorius et Eutychès et à résister à la tyrannie de Théodoric. Néanmoins, la matière de son livre est „philosophica consolatio“ (,consolation philosophique‘), c’est-à-dire „rationabilis demonstratio“ (,démonstration rationnelle‘) (ll. 33-35). Il est pourtant rare au cours des commentaires de relever une allusion explicite à la foi personnelle de Boèce. Exceptionnellement, Nicolas Trevet a affirmé, en discutant de la doctrine platonicienne concernant la perte progressive de la liberté par l’âme, au fur et à mesure qu’elle s’engage

_____________ 9

Eustache Deschamps: „Le Lay perilleux“, in: Œuvres complètes, 2, Henri Auguste Edouard, marquis de Queux de Saint-Hilaire (éd.), Paris 1878-1904 (repr. 1965), p. 344-345, vv. 19-21, 33-38. 10 Deschamps (note 9), 5, p. 209, vv. 1-8. 11 Christine de Pizan: Le Livre de l’Advision Cristine, Christine Reno / Liliane Dulac (éds.), Paris 2001, p. 94. 12 Guillaume de Conches: Guillelmi de Conchis: Glosae super Boetium, Lodi Nauta (éd.), Turnhout 1999, p. 1-2, ll. 8-9, 14-16.

Le Rôle des gloses

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avec des attributs physiques et descend dans les vices (V, 2, §9-§11), que Boèce pensait assurément en tant que chrétien catholique au sujet de la création des âmes: „… quem non est dubium catholice de creatione animarum sensisse“.13 Ce sont les commentateurs médiévaux qui s’efforcent de christianiser la pensée de Boèce. Au Moyen Age le commentaire, les gloses, et la traduction d’un texte latin en langue vulgaire sont tous considérés comme des modes d’exposition du texte. On distinguait entre la lettre du texte, c’est-à-dire la signification des mots, et le sens profond de la sententia. En révélant la sentence, le traducteur avait une tendance naturelle à la gloser, car traduire, c’est déjà interpréter. On le définissait ainsi: „Translatio est expositio sententie per aliam linguam“.14 Les traducteurs, qui interprétaient aussi fidèlement, aussi pleinement que possible le sens du texte, avaient recours aux gloses et aux commentaires qui accompagnaient leur texte de base latin, texte et exposition se réunissant ainsi dans une conjonction naturelle. Les gloses se transmettaient d’un commentaire à l’autre, connaissant en route l’addition de nouveaux exemples, de nouvelles interprétations, et la réfutation d’idées considérées fausses ou dépassées et l’omission de d’autres. En glosant un texte traduit en langue vulgaire, les traducteurs suivaient les traces des commentateurs latins, choisissant dans leurs sources des explications pertinentes et utiles pour faire ressortir le sens profond de l’œuvre. Ils incorporaient ces éléments interprétatifs de façons différentes et plus ou moins évidentes. De courtes gloses et des expressions binaires, comme on en trouve dans le Livre de Confort de Philosophie de Jean de Meun, étaient insérées à la manière des scolies ou des gloses interlinéaires des manuscrits latins. Dans les traductions en vers de la Consolatio Philosophiae, l’explication du sens fait une avec la traduction du texte que l’on lit d’une façon continue. Dans les deux traductions dont il s’agit ici: Del Confortement de Philosofie et le Livre de Boece de Consolacion, l’une en prose et l’autre en vers et en prose, la démarcation entre le texte et les gloses est

_____________ 13 Cité par Brian S. Donaghey: „Nicholas Trevet’s Use of King Alfred’s Translation of Boethius, and the Dating of his Commentary“, in: Alastair J. Minnis (éd.), The Medieval Boethius. Studies in the Vernacular Translations of ,De Consolatione‘, Cambridge 1987, p. 1-31 (p. 28-29). 14 Cité par Alastair J. Minnis: „,Glosynge is a Glorious Thyng‘. Chaucer at Work on the ,Boece‘“, in: The Medieval Boethius (note 13), p. 106-124 (p. 107); voir aussi Alastair J. Minnis / Tim W. Machan: „The Boece as Late-Medieval Translation“, in: Alastair J. Minnis (éd.), Chaucer’s ,Boece‘ and the Medieval Tradition of Boethius, Cambridge 1993, p. 167-188 (p. 173); Mariken Teeuwen: The Vocabulary of Intellectual Life in the Middle Ages, Turnhout 2003, p. 277-78, 287-89.

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nettement signalée, sans infirmer l’unité de l’œuvre.15 Suivant la méthode de Guillaume de Conches, ces traducteurs-glossateurs n’expliquent pas chaque phrase et même se taisent sur certains passages, mais ils augmentent la traduction d’un instrument didactique, d’un moyen de lire et de comprendre la Consolatio d’une manière cohérente et continue.16 Séparées dans le temps de plus d’un siècle et faisant preuve de leur dépendance vis-à-vis de la tradition du commentaire de Guillaume de Conches, elles se présentent comme des traductions interprétatives. Les traducteurs ont choisi dans leur source des explications pertinentes, susceptibles d’aider les lecteurs surtout laïques à suivre la sinuosité de la pensée de Boèce. Leurs innovations, peu nombreuses, consistent surtout d’exemples supplémentaires. Aucune autorité contemporaine n’est citée, malgré l’influence grandissante de la scolastique dans le climat intellectuel des XIIIe-XIVe siècles. Commençons par décrire ces deux traductions et le but de leurs traducteurs respectifs, tous les deux anonymes. Nous voulons étudier les traductions et les gloses moins du point de vue des sources que pour essayer d’y cerner les éléments chrétiens, cachés dans la pensée de Boèce et éclairés par les traducteurs. La traduction anonyme en prose, Del Confortement de Philosofie, attestée dans un seul manuscrit Vienne, Österreichische Nationalbibliothek, 2642, date d’environ 1230.17 Son lieu d’origine a été tracé au sud-est de la Bourgogne. Le texte est accompagné de commentaire tiré d’une version du

_____________ 15 Il existe douze traductions françaises distinctes: cinq en prose, quatre en vers et en prose, quatre en vers. Voir Antoine Thomas / Mario Roques: „Traductions françaises de la Consolatio Philosophiae de Boèce“, in: Histoire littéraire de la France 37/1938, p. 419-488, 543-47; Noel H. Jr. Kaylor: The Medieval Consolation of Philosophy. An Annotated Bibliography, New York 1992; Glynnis M. Cropp: „The Medieval French Tradition“, in: Maarten J. F. M. Hoenen / Lodi Nauta (éds.), Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the ,Consolatio philosophiae‘, Leiden 1997, p. 243-265; Glynnis M. Cropp: „Boethius in Translation in Medieval Europe“, in: Harald Kittel et al. (éds.), Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, Berlin-New York (à paraître), no 141. 16 Sur les rapports entre le texte et les gloses, voir, en plus des références de la note 14, Nauta (éd.), Glosae (note 12), p. xxvii-xxxvi, lxxiii-lxv; Lodi Nauta: „The ,Glosa‘ as Instrument for the Development of Natural Philosophy. William of Conches’ Commentary on Boethius“, in: Boethius in the Middle Ages (note 15), p. 339 (p. 9-16). 17 „Del Confortement de Philosofie. A Critical Edition of the Medieval French Prose Translation and Commentary of De Consolatione Philosophiae of Boethius Contained in MS 2642 of the National Library of Austria, Vienna“, Margaret Bolton-Hall (éd.), in: Carmina Philosophiae: Journal of the International Boethius Society 5-6/1996-97, p. iii-xiii, 1-228. Nos références se rapportent à cette édition.

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commentaire de Guillaume de Conches (environ 1120), et des commentaires de Rémi d’Auxerre (environ 900) et d’Adalbold d’Utrecht (environ 1000). Cette traduction se distingue des traductions françaises ultérieures par sa fidélité à la tradition scolastique d’exposition des auteurs. Dans le prologue (p. 1-2), Boèce est présenté comme noble Rommain, „clers d’engin, sages de parole, discret en la lengue grecque e latine“, traducteur, et auteur des Opuscules sacrés. A la fin de sa vie, il écrivit ce livre-ci „quar Sapience deit conforter le sage“ (ll. 13-14). Identifiée ainsi à la Sapience, Philosophie console le malheureux Boèce, exilé à Pavie. La leçon essentielle de leur dialogue est énoncée: il faut de la patience et du courage constant pour dominer l’adversité de ce monde, „mais devons tendre au soverain et verai bien, qui est Dex, au quel nos puissuns tuit venir“ (ll. 31-32). Il faut suivre les conseils de ce livre „e par tel doctrine puissuns contrester a la decevable fortune, despisant la temporel beneurance false, aquerant l’espiritel, qui est soverains biens au quel rien ne faut – ce est Dex“ (ll. 33-36). L’enseignement de ce livre concerne ainsi la vie spirituelle, l’aspiration humaine vers Dieu. L’interprétation chrétienne en est tout explicite. Le Livre de Boece de Consolacion, traduction anonyme en vers et en prose, date d’environ 1350-60 dans son premier état, sans gloses. Cette traduction, qui a eu une genèse complexe, représente en fait une nouvelle version, modifiée et amplifiée, d’une traduction antérieure (environ 1320), Boeces: De Consolacion.18 Le prologue du Livre de Confort de Philosophie (13001305), traduction de Jean de Meun,19 a été ajouté de bonne heure. Ensuite, vers 1380, le prologue et le texte ont été munis de gloses dérivées en général d’une version du commentaire révisé de Guillaume de Conches. Cette version glosée, dont on compte aujourd’hui quarante-neuf sur les soixante-cinq manuscrits connus du Livre de Boece, a été la plus répandue de toutes les traductions françaises de la Consolatio Philosophiae. Rédigée dans un style clair, elle correspondait manifestement au goût contemporain, le discours philosophique étant accompagné de gloses sur des aspects de l’Antiquité, de la Bible, et de l’histoire.20 La justification du livre se définit dans le prologue (p. 83-89): … car entre tous les livres qui oncques furent fais, cestui est souverain a despire les biens vilz et decevables qui demonstrent le signe de la mauvaise beneurté et a eslire les biens pardurables qui nous adrecent et enforment a la vraye beneurté. (§21, ll. 113-17)

_____________ 18 Boeces: De Consolacion, J. Keith Atkinson (éd.), Tübingen 1996. 19 V. L. Dedeck-Héry (éd.): „Boethius’ De Consolatione by Jean de Meun“, in: Mediaeval Studies 14/1952, p. 165-275. 20 Le Livre de Boece de Consolacion, Glynnis M. Cropp (éd.), Genève 2006. Nos références se rapportent à cette édition.

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Dans la suite glosée du prologue, Boèce est présenté conformément à la description des Glosae de Guillaume de Conches: “tres noble Rommain, bon crestien et vray catholique en la foy ...” (§22, ll. 119-120). Dans leur dialogue, Philosophie aidera Boèce „par le don de Dieu“ à poursuivre „les biens entendibles“ (§29, ll. 166-67). La glose confirme cette intention: „de traicter du double bien, c’est assavoir du souverain bien – c’est Dieu qui fait et parfait homme beneuré – et du bien temporel …“ (§44, ll. 211-12). En plus, cette consolation servira Boèce lui-même et „tous autres qui mestier en auroient“ (§49, ll. 23435). Dans les manuscrits des deux traductions que nous étudions, texte et gloses alternent, le plus souvent signalés par les mots „La Lettre“ et „Glose“ dans le Del Confortement, et „Texte“ et „Glose“ dans le Livre de Boece. Des rubriques initiales introduisent le sujet des sections. Les gloses se constituent de brèves explications et d’orientation de lecture ainsi que de commentaire plus étendu et de vraies exégèses. Dans l’édition des textes, on a adopté la convention de mettre en italique les rubriques et les gloses. La division en livres, mètres et proses appartient à la tradition de la Consolatio Philosophiae. Les livres sont indiqués en majuscules romaines, les mètres en petits chiffres romains, les proses en chiffres arabes. La division en paragraphes et la numérotation des sections des proses correspondent à celles de l’édition latine de Bieler. Au livre I Boèce, personnage abattu, révèle son état d’âme. Philosophie, son interlocutrice, en établit un diagnostic, se préparant à lui administrer des remèdes. En même temps Boèce a la possibilité de se justifier, de défendre son innocence – droit humain qu’il n’avait pas eu devant le sénat. Implantée depuis longtemps dans l’esprit de Boèce (I, 4, §8; I, 5, §6), Philosophie l’interroge sur ce qu’il sait encore, pour le ramener enfin à la vraie lumière. La perte de mémoire de Boèce l’empêche de répondre à certaines questions importantes. Philosophie n’a pas pourtant à démontrer l’existence de Dieu, car Boèce l’affirme (I, 6, §4).21 Notre choix d’exemples à étudier dans le livre I se concentre sur la connaissance de Dieu, qui est fréquemment évoqué comme créateur et gouverneur du monde. Surtout dans des hymnes, tels que le mètre v du livre I, Boèce envisage la création du cosmos total sur lequel règne Dieu. Il s’inspire ici de la cosmogonie platonicienne et donc d’une doctrine considérée comme douteuse, sinon dangereuse, au Moyen Age chrétien. Néanmoins, les traducteurs-glossateurs lèvent le voile sur un sens chrétien. Au début de sa défense (I, 4, §3), Boèce reproche à Philosophie l’enseignement qu’il a reçu d’elle „de humanarum diuinarumque rerum scientia“ (,sur la connaissance des choses humaines et divines‘), c’est-à-

_____________ 21 Chadwick (note 1), p. 227-28; Marenbon (note 1), p. 99-102.

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dire toutes les divisions de philosophie. Il a pourtant appris que la vie humaine se conforme au modèle de l’ordre céleste. L’auteur du Del Confortement a inséré une explication: „Quar sapience enseigne nos vivre a la semblance de Deu – ce est raisnablement – a l’imagene del quel e a la semblance nos sumes formé“, avant de résumer la glose de Guillaume de Conches sur le parallèle entre la vie humaine et le mouvement des étoiles et des planètes, qui obéïssent à „lor Criator“.22 Le traducteur conclut: „En tel maniere, nostre vie est formee a l’examplaire de la celestial ordre“. Le commentaire passe de l’idée de Dieu qui a créé l’homme à son image (Gen. I: 26-27) à celle, plus grande, de la correspondance entre la vie humaine et le mouvement des étoiles et des planètes. L’image plus intime de Dieu créateur, insufflant une haleine de vie dans l’être qu’il a formé de ses mains (Gen. 2: 7; cf. Jér. 18: 1-11) fait défaut.23 Dans cette traduction, peu de gloses accompagnent la partie suivante du livre I. L’affirmation de l’existence d’un seul dieu qu’il faut suivre s’exprime dans un précepte cité en grec dans la Consolatio Philosophiae et attribué à Pythagore (I, 4, §38), mais utilisé en fait par des philosophes divers. On en relève une trace dans l’allusion faite par Boèce à la mort de Socrate (I, 3, §6), glosée ainsi dans le Livre de Boece: ... Socrates, philozophe, qui enseignoit a non jurer par les dieux, disant qu’il n’estoit que un seul dieu et que les ydoles n’estoient que pierres (p. 98, ll. 27-29).24

Au livre I, 4, §38, les traducteurs ont rendu le précepte grec d’une façon presque identique: „A un Deu servuns, non a plusors“ (Del Confortement, p. 16, l. 140), et „A .i. dieu et non a pluseurs dieux doit on servir“ (Livre de Boece, p. 107, ll. 220-21). L’expression de l’insistance sur la singularité de Dieu se trouve aussi dans une scolie relevée dans certains manuscrits du

_____________ 22 Cette glose manque dans les Glosae, mais se trouve dans le commentaire révisé (Aberystwyth, National Library of Wales MS 5039D, fol. 13rb-13va), où Platon est cité comme autorité. Ce manuscrit contient une version du commentaire révisé de Guillaume de Conches. Cf. „Haec est sententia Platonis, cum doceret nos ad similitudinem Dei uiuere, ad cuius imaginem conditi sumus ...“ (Saeculi Noni Auctoris in Boetii ,Consolationem Philosophiae‘ Commentarius, Edmund T. Silk (éd.), Rome 1935, p. 34; ,C’est la sentence de Platon qui nous enseigne à vivre à la manière de Dieu, car nous sommes formés selon son image‘). 23 Voir aussi sur la création divine l’Opuscule „De Fide Catholica“ (note 2), p. 5659. 24 „Iste Socrates, quia prohibebat iurare per deos cum deus unus solus esset ...“ (Glosae, p. 71, ll. 93-94; ,Ce Socrate, puisqu’il défendait de jurer par les dieux, parce qu’il n’y avait qu’un seul dieu ...‘); cf. Silk (note 22), p. 27-28. La source en est saint Augustin (De Civitate Dei. The City of God against the Pagans, 3, David S. Wiesen (éd.), London-Cambridge MA 1968, VIII, iii, p. 10-15).

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texte latin et incorporée dans les commentaires.25 La condamnation du polythéisme s’explique donc par le passage de la citation à travers le latin.26 Dans le mètre v Boèce adresse à Dieu une prière, louant la création, mais lui lançant un appel contre son indifférence apparente à l’égard des hommes et des caprices de Fortune. Philosophie relève ce cri dans la prose suivante, affirmant à plusieurs reprises le pouvoir suprême de Dieu seul. Elle rappelle la distance physique et spirituelle qui sépare Boèce de Rome, distinguant cette ville d’une part de la cité d’Athènes, et de l’autre de la cité de Dieu: „la cité et du païs dont Dieu, nostre Seigneur, est gouverneur“, selon la glose du Livre de Boece. (p. 110, §4, ll. 24-25). Elle propose ensuite un parallèle théologique: Ceste cité peut estre entendue doublement, ou par Romme la grant ou il avoit tele loy que quiconques y avoit acquis ou fondé maison pour habiter, il ne lui loisoit ne ne pouoit des lors en avant estre essilliez. [… ] Ou autrement peut estre entendue la cité de Jherusalem, c’est a dire paradis celestiel dont chascuns preudoms doit estre citoyen et borgois, se il le veult, ne il ne tient que a sa voulenté. (p. 110-11, §5, ll. 31-38)27

Le glossateur a saisi cette occasion d’élaborer ainsi le sens profond. Boèce a non seulement les droits et les privilèges d’être citoyen romain, mais aussi la possibilité d’accéder au paradis céleste, s’il a la volonté. A la place de son sentiment d’exil et du tumulte des émotions qu’il éprouve, Boèce doit substituer la substance de l’enseignement de Philosophie et regarder en lui-même. L’influence de saint Augustin se fait encore sentir ici.28 Cette exposition de la signification chrétienne est poursuivie dans la prose 6, où Philosophie interroge Boèce sur ce qu’il sait. A une question sur le gouvernement du monde, il répond ainsi dans le Livre de Boece: „Certes je ne pourroye cuidier que le certain cours venist d’aventure, mais scay que Dieu qui l’a fait est par dessus qui le gouverne, ne oncques ne fuz en autre oppinion“, ce qui suscite le commentaire: „Ceste oppinion est vraye et

_____________ 25 Par exemple, „illud pythagore: deo seruiendum est et non diis“ (Aberystwyth, National Library of Wales, MS 5039D, f. 17va; ,le dicton de Pythagore: il faut servir un dieu, et non pas les dieux‘). Cf. les affirmations bibliques: Ex. 20: 3, Deut. 6: 4, I Cor. 8: 6. 26 Voir aussi Eine altfranzösische Übersetzung der ,consolatio philosophiae‘ des Boethius (Handschrift Troyes Nr. 898) Edition und Kommentar, Rolf Schroth (éd.), BernFrankfurt 1976, p. 95, et 129, l. 335. 27 Un passage correspondant manque dans les Glosae, mais apparaît dans le commentaire révisé (Aberystwyth, NLW, MS 5039D, fol. 20va-21ra). Cf. Silk (note 22), p. 53-54, où le parallèle se fait de Rome, l’Eglise, et Jérusalem céleste. L’hymne „Urbs beata Hierusalem“ (VIe-VIIe siècles) célébrant la cité céleste de Jérusalem, inspirée de l’Apocalypse 21, faisait partie de l’office pour la dédicace d’une église. 28 De Civitate Dei. The City of God against the Pagans, 5, Eva M. Sanford / William M. Green (éds.), London-Cambridge MA 1965, XVII, iii (p. 216-223).

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selon la foy“ (p. 113, §4, ll. 10-13). Ne comprenant pas la question sur les gouvernaux du monde, Boèce ne peut pas y répondre (§7-§8), mais pour les lecteurs la glose supplée à cette lacune. Deux opinions erronées et contre la foi ayant été écartées, la troisième est affirmée ainsi: … en Dieu sont trois choses, c’est assavoir puissance, sapience et bonté, et ces trois choses sont toutes un en essence avec Dieu, et ce sont les gouvernaulx par quoy le monde est gouverné. (p. 114, §7, ll. 28-31)

Puisque Boèce a oublié la fin des choses et les moyens par lesquels le monde est gouverné, il croit que le hasard et la mutabilité de Fortune déterminent tout. La glose exprime ce qu’il devrait se rappeler: Note cy que Dieu est la fin de toutes choses, car aussi comme de lui toutes choses vindrent, tendent elles a lui naturellement. Dont il mesmes dist ,Je suis alpha et .o., c’est a dire commancement et fin‘. (p. 114, §10, ll. 39-42)29

Philosophie rend grâces „au sauveur, nostre Seigneur, que nature ne t’a pas encores laissié du tout“ (§19, ll. 90-91). Elle commencera sa guérison sur la base de l’affirmation de Boèce que le monde est gouverné „par la proveance de Dieu“ (§20, l. 97). Deux termes appartenant au vocabulaire chrétien figurent dans le discours de Philosophie: „au sauveur, nostre Seigneur“, traduisant „sospitatis auctori“ (Bieler, p. 15, l. 43; ,l’auteur de la santé‘), et „la proveance de Dieu“ traduisant „diuinae rationi“ (Bieler, p. 16, l. 46 16; ,la raison divine‘). Elle veut élever son malade au-dessus des choses de ce monde pour qu’il atteigne le vrai bien, c’est-à-dire Dieu. Dans les exemples discutés, nous avons constaté que l’homme, créé à l’image de Dieu, peut s’élever, s’il le veut, au paradis céleste, et que Dieu, seul, gouverne le monde et constitue la fin des choses. Ces vérités sont exprimées avec, d’un côté des échos bibliques et théologiques, et de l’autre le témoignage de la pensée de l’Antiquité classique. Les glossateurs en ont élaboré la signification littérale et figurée. La discussion du livre II se concentre sur la distinction entre le vrai bonheur (beatitudo) et la félicité (felicitas), les dons de fortune, qui sont externes, et les bonnes qualités, internes. Les remèdes, d’abord légers, deviennent peu à peu plus forts.30 Les glossateurs interprètent parfois le texte dans un sens explicitement chrétien. En expliquant la façon d’atteindre le bonheur (II, 4), Philosophie

_____________ 29 Apoc. 21: 6. Cf. Silk (note 22), p. 59: „Omnis natura a Deo originem capit. Deus enim est principium et finis, sicut ipse ait: Ego sum alpha et omega, principium et finis“ (,Toute la nature doit son origine à Dieu. Dieu est commencement et fin, comme il dit lui-même: Je suis alpha et omega, commencement et fin‘). Rémi d’Auxerre a exprimé l’idée dans les mêmes termes (p. 320). 30 Chadwick (note 1), p. 228-232; Marenbon (note 1), p. 102-04.

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évoque l’exemple de ceux qui y sont arrivés par leur mort ou par leurs souffrances (§29). Sensibles aux implications chrétiennes, les glossateurs ajoutent, dans le Del Confortement, les noms des saints: „come sainz Lorent e saint Vicent e les autres martirs“ (p. 36, l. 94), et dans le Livre de Boece, l’observation: „comme les appostres et martirs“ (p. 131, l. 116) Dans la prose 8, au cours d’une différenciation entre la bonne et la mauvaise fortune, et leurs effets parfois contradictoires (la bonne fortune peut, en les flattant, divertir les hommes du vrai bien, et la mauvaise peut, au sein de l’adversité, les forcer à y retourner), la glose suivante apparaît dans le Livre de Boece: … pluseurs aprés les adversitez que ilz ont eues, se sont chastiez et amendez et devenuz preudommes, les ungs religieux, les autres autrement selon le psalmiste: ,Virga tua et baculus tuus‘ et ailleurs ,Imple facies eorum ignominia etc.‘ (p. 147, §5, ll. 22-25)

La citation des Psaumes 22: 4 et 82: 17 renforce le raisonnement. Dans l’hymne de louange qui conclut le livre II, la rubrique initiale du Livre de Boece signale l’union du monde créé qui fonctionne harmonieusement, „... et tout par ordonnance divine“ (p. 148, l. 3), tandis que l’auteur du Del Confortement, poursuivant le thème de la fin de la prose 7, l’amitié, insiste sur l’amour divin qui gouverne l’univers en réunissant tous les éléments: „L’amors – ce est Dex, qui est veraie amors neient desliable – governanz les terres e la mer e comandanz al ciel, lie icest ordenement des choses …“ (p. 51, §1, ll. 3-5). Philosophie tire de cette harmonie parfaite une leçon sur la correspondance espérée entre la terre et le ciel: l’humanité serait heureuse si l’amour qui gouverne le ciel gouvernait aussi les cœurs humains. Vu dans sa totalité, le livre III démontre qu’il existe un souverain bien qui est ensuite identifié avec Dieu.31 Au vrai centre de la Consolatio, le mètre ix répond au projet énoncé par Philosophie à la fin de la prose précédente: il faut trouver où se situe le souverain bien. A la manière de Platon dans le Timée (27C), il est conseillé de chercher au départ l’aide de Dieu (III, 9, §32). Philosophie chante donc une prière solennelle adressée à Dieu, laquelle dérive en grande partie du Timée (27C-42D), complétée du commentaire néo-platonicien de Proclus. On relève des échos de hymnes néoplatoniciens ainsi que des Ecritures saintes.32 Les glossateurs ont trouvé

_____________ 31 Chadwick (note 1), p. 232-35; Marenbon (note 1), p. 104-114, 152-54; Courcelle (note 2), p. 161-173. Sur le mètre ix en particulier, voir Seth Lerer: Boethius and Dialogue. Literary Method in ,The Consolation of Philosophy‘, Princeton, N. J. 1985, p. 138-39, 142-45; Gerard O’Daly: The Poetry of Boethius, Chapel Hill-London 1991, p. 163-65. 32 Par exemple, la prière de David, I Chr. 29: 11-15; Ps. 24: 1-2.

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ici des éléments susceptibles de longs commentaires, peut-être aussi denses que la pensée de Philosophie elle-même. Elle loue la permanence de Dieu, sa création universelle et le mouvement circulaire des âmes, affirmant dans les derniers vers que Dieu est commencement et fin, guide et chemin, expressions qui correspondent à la langue du Nouveau Testament. Courcelle a jugé le chant „substantiel et concis, … obscur et intraduisible“.33 Examinons donc quelques aspects du traitement de ce mètre. Dans les deux traductions glosées une rubrique initiale introduit la prière. Dans le Livre de Boece, elle est très brève: „Et appelle l’aide de Dieu“ (p. 173, l. 1). Par contre, la rubrique du Del Confortement annonce en termes de théologie chrétienne le but du chant: Philosophie fait en cest [metre] invocation e pree le Criator, qui totes choses cria – ce est le Pere e le Filz e le Saint Esperit, qui sunt uns Dex e treis persones – que il otreit a l’anime de Boece parvenir la donc ele vint e avironer le fonteine de bien, qui est Jesu Crist, nostre Seignor, qui vit e regne o le Pere e o le Saint Esperit pardurablement, ... (p. 76, ll. 1-5).

La prière de Philosophie est ainsi placée expressément sous l’égide de la Sainte Trinité. Les traductions différentes des deux premiers vers nous frappent. Philosophie s’adresse à celui qui est, aux mots de Boèce, „rerum omnium patrem“ (III, 9, §33; ,père de toutes choses‘): „O qui perpetua mundum ratione gubernas, / terrarum caelique sator, …“ (Bieler, p. 51, vv. 1-2; ,O toi qui par raison éternelle gouvernes le monde, créateur de la terre et du ciel …‘). Tandis que certains traducteurs ont exprimé en premier lieu le rôle du créateur, par exemple Jean de Meun: „O tu peres, createurs du ciel et de la terre, qui gouvernes cest monde par pardurable raison, …“ (p. 220, ll. 1-2), les deux traductions glosées restent fidèles à l’ordre du texte latin. Dieu est donc évoqué en premier lieu comme gouverneur: „O tu, Dex, qui governes le monde par pardurable raison, faiseor de terres et del ciel, …“ (DelCP, p. 76, ll. 6-7), „Tu qui par raison qui ne fault / Gouvernes le bas et le hault, / […] Feïz le ciel et puis la terre …“ (LBC, p. 173, ll. 2-3, 16). Tout au long du mètre, dans Del Confortement, de petites gloses explicatives alternent avec le texte, faisant ressortir le sens chrétien; par exemple, à propos des âmes: … e tu les semes en ciel e en terre, les quels, converties par la bonne lei – ce est par la grace del saint Evangile – tu faiz retorner a tei par ramanable feu – ce est par l’amor de Saint Esperit (p. 77, ll. 38-40).

A la fin du texte glosé, une rubrique introduit la traduction du long commentaire dû à Adalbold d’Utrecht: „Or avom dit les vers de cest metre e l’esposicion briément; or dirom la grant glose de noz maistres de cest meesmes metre“ (p.

_____________ 33 Courcelle (note 2), p. 163.

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77, ll. 49-50). Traduits (non pas toujours tout à fait conformément à la traduction qui précède), les vers du mètre sont intercalés dans le commentaire, introduits en general par „La Letre“, pour les distinguer des longues sections de „Glose“. Dès le début, le commentateur fait face à la tension entre la philosophie et la pensée chrétienne: „Philosophie apele Deu sanz nom. Ele ne puet aveir en liu del nom ne difinicions ne descriptions“ (p. 78, ll. 52-53), et … el comencement de sa parole, Philosophie hauce sa voz, merveillant, e dit ,O!‘ Ce est interjections d’aucun qui se merveille que la dotable merveillance face cele chose enorable la quel l’umaine cogitations ne puet tochier – ce est Dex (p. 78, ll. 66-69).

Suit une allusion à Hermès et à Platon, philosophes dits „avegles – ce est païen, qui non veeient la verité“ (ll. 70-71), c’est-à-dire la vérité de Jésus-Christ (l. 72), même s’ils la sentaient. Mais Boèce l’a vue: „el naissement de la lumiere de verité – ce est de Jesu Crist; ... [par] les oilz del cuer – ce est par raison e par entendement ...“ (ll. 76-78). L’argument continue ainsi dans un style différent de celui des autres gloses. Adalbold évoque d’une façon très restreinte d’autres autorités: saint Jean l’Evangéliste, saint Augustin, saint Grégoire ainsi que l’Introduction de Porphyre due à Boèce. La glose sur le dernier vers du mètre exprime un sens doctrinal spécifiquement chrétien: Dex est comencemenz d’umanité par creation, sentiers par la lei, guieor par la profecie, porteor par la grace del saint Evangile; il meemes est termes o par nostre redemption o par l’espurgement de tote char. (p. 96, ll. 554-56)

Le caractère unique de ce commentaire parmi les traductions françaises nous fait penser que le traducteur jugeait que ce mètre méritait un commentaire plus détaillé et a cherché une source autre que la compilation qui accompagnait son texte latin de base (si le commentaire d’Adalbold n’avait pas été copié dans le même manuscrit). En plus il a dû envisager des lecteurs différents, plutôt cléricaux que laïques, capables de suivre les arguments complexes d’Adalbold. Par contre, le traducteur du Livre de Boece ne s’est pas intéressé très profondément à ce mètre, semble-t-il. Des huit gloses qui l’accompagnent, six se rapportent aux vers 1-9; deux petites gloses interrompent les vers suivants (10-28 du texte latin). Cinq sur six des premières gloses expliquent le rôle de Dieu en tant que créateur suprême qui dirige le mouvement cosmique, et les rapports entre Dieu et les hommes. Par exemple, on lit dans l’explication des vers 7-9 du texte latin: Mais Dieu voulant sa bonté plus noble et plus belle demonstrer en commun voult faire homme creature raisonnable qui par raison et entendement peust la bonté divine comprendre et ensuir tant comme il pourroit. (p. 175, ll. 72-75)

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Les gloses du Livre de Boece correspondent à celles de Guillaume de Conches,34 où on relève quelques éléments empruntés au commentaire d’Adalbold d’Utrecht (par exemple, la citation de saint Jean, la description des trois types de mouvement), car les glossateurs puisaient souvent dans un fonds commun. Le texte du Livre de Boece n’est ni obscurci ni alourdi par les gloses. On peut se demander, pourtant, dans le cas du mètre ix, si les explications sont en effet suffisantes pour les lecteurs laïques. Est-ce que le traducteur a adopté une solution de facilité devant le poids des matériaux interprétatifs accumulés déjà à son époque sur le mètre ix? La question reste sans réponse. Les sections suivantes du livre III amènent l’argument de la Consolatio Philosophiae à son point culminant. Philosophie a fourni à Boèce l’enseignement qui lui permettra de regagner sa patrie et de connaître le vrai bonheur. En plus, répondant aux questions posées au livre I, prose 6, elle lui a montré la façon dont Dieu gouverne le monde et la fin vers laquelle toutes choses se dirigent. La prose 12 (§1-§23) offre une récapitulation sous forme d’interrogation des points essentiels de l’enseignement des livres I-III. En bon catéchiste, Boèce s’accorde à Philosophie. C’est lui, en fait, qui explique l’usage du terme deus pour désigner le créateur et souverain moteur de la nature.35 La glose du Del Confortement y insiste: „... je l’apel Damnedeu, par le nom usé a toz, quar cist noms, Dex, est communaus de totes genz“ (p. 188, ll. 26-27). Le livre IV s’ouvre sur le problème du mal. Boèce présente un nouveau dilemne (1, 63-§5): si la providence de Dieu est bonne et puissante, comment le mal peut-il exister et rester sans punition? A partir de cette question, plusieurs aspects du mal sont exposés. Philosophie offre la vision d’un vol de l’âme, élevée par ses ailes au ciel, d’où, en haut, la tyrannie, la corruption, et les passions du monde en bas, qui ne mènent pas au bonheur, sont visibles. Mais dispersée dans ce bourbier de vices, la vertu morale s’aperçoit momentanément. A partir de la prose 6, cette discussion sur le mal cède aux arguments de Philosophie sur la providence, la destinée, la prescience divine, et le libre arbitre. Dans la prose 6, la prose la plus longue de la Consolatio, Philosophie part des prémisses que tout appartient à la providence et que la disposition divine dépasse la compréhension humaine, pour arriver à la conclusion que, même si les hommes ne l’aperçoivent pas, le bien subsiste, le mal est éliminé, et le mal peut servir

_____________ 34 Voir Le Livre de Boece de Consolacion (note 20), p. 305-06 (notes), 341-42 (table de concordances). 35 „... usitato cunctis uocabulo deum nomino“ (III, 12, §8, l. 22; ,... j’emploie le mot d’usage courant: dieu‘).

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effectivement aux fins divines (§50-§56). Boèce s’est plaint de l’injustice apparente qu’il arrive que les bons souffrent et que les mauvais réussissent. Philosophie lui explique qu’en mettant ainsi les bons à l’épreuve, Dieu les rend plus forts; en faisant face courageusement à la torture ou à la mort, ils montrent que la vertu n’est pas vaincue par le mal. De même, la prospérité des mauvais ne vaut enfin rien (§40-§42).36 Ces arguments ont fourni aux glossateurs la possibilité d’insérer de nombreux exemples tirés surtout des Ecritures saintes, mettant en valeur l’interprétation chrétienne des arguments. Si l’auteur du Livre de Boece a glosé d’une façon très restreinte le livre III, mètre ix, il s’est appliqué à l’instar de Guillaume de Conches et de Pseudo-Jean Scot Erigène à fournir ici des analogies chrétiennes aux raisonnements de Philosophie qui dépendent surtout des autorités néo-platoniciennes (Plotin, Proclus etc.). Philosophie fait la distinction entre la providence, ou la raison divine, qui ordonne tout, et la destinée, subordonnée à la providence, et qui enchaîne inéluctablement les causes et les effets, exécutant ainsi la volonté divine. Suprême et seule, la providence n’est en aucune manière sujette à la destinée, mais tout ce qui est sujet à la destinée est sujet à la providence (IV, 6, §7-§14). La glose du Livre de Boece explique ainsi la distinction: Dont n’est autre chose providence que de invisible Dieu diffinicion, ou la disposicion de toutes choses en la pensee, et la destinee est la explicacion de la divine disposicion en fait, en euvre, et en succession de temps. (p. 222, §10, ll. 71-75)

Philosophie conclut que l’ordre muable de la destinée dépend de la simplicité et de la constance de la providence. La glose contient des observations sur les controverses des philosophes anciens, se terminant: Mais nous devons croire et tenir que toutes choses sont faictes et gouvernees par la sapience et la providence divine qui est la forme simple et immouvable de toutes choses qui sont. Et l’appelle Platon, le philozophe, le monde anticipé. (p. 223, §13, ll. 111-14)

Suit le récit emprunté au Dialogue de saint Grégoire d’un incident dans la vie de saint Benoît qui fut transporté en haut, transcendant momentanément le monde, pour y revenir sachant qu’il était toujours humain: „... il appert que par sa saintteté il fut prouchain de Dieu et seurmonta l’ordonnance de destinee et derechief par la char qui estoit mortele, il revint a soy“ (p. 223, §14, ll. 13537).37 Un peu plus loin, pour illustrer la résistance humaine à l’adversité, s’insère un exemple tiré de la vie d’un certain saint Julien, emprisonné par un tyran; son fils et sa mère, convertis eux aussi au christianisme, sont à leur tour victimes du tyran qui met à mort le fils. Mais la mère s’y échappe: „car Dieu qui sauver la vouloit, savoit bien qu’elle ne pourroit souffrir ne endurer les

_____________ 36 Chadwick (note 1), p. 240-43; Marenbon (note 1), p. 117-18; Courcelle (note 2), p. 203-08. 37 Voir Le Livre de Boece (note 20), p. 317 (note).

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tourmens; mais quant elle ot dicte son oroison, elle trespassa en nostre Seigneur“ (p. 227, §35, ll. 284-86).38 Il y a des limites aux souffrances imposées par Dieu à ses fidèles. Des exemples bibliques sont cités dans les gloses suivantes:39 Moïse et saint Jean l’évangéliste sont parmi ceux „que leur justice et saincteté ... deffent et garde de tout mal et de toute enfermeté“ (p. 228, §37, ll. 294-95); le reniement de saint Pierre sert à illustrer la faiblesse humaine devant l’adversité „se n’estoit la grace divine“ (p. 228, §41, l. 325). La glose accompagnant §45 explique cinq sortes de raisons qui causent des tribulations, avec des exemples tirés des Ecritures saintes: pour encourager la patience (Job et Thobie), pour éviter de s’enorgueillir (saint Paul) pour reconnaître les péchés (Marie, sœur d’Aaron), pour montrer la gloire divine (les miracles du Christ), pour devancer la damnation des mauvais („... comme il fu d’Anthiocus et de Herode qui commancerent a avoir et souffrir leur enfer en ce monde“ (p. 229, ll. 360-61)). L’histoire de Joseph sert à montrer que tout arrive selon l’ordre de Dieu qui dirige tout vers le bien (§53). Dans la suite de la glose, qui a la résonance des commandements donnés par le Christ,40 la distinction est faite entre „L’ordre naturel ... qui est par dessus nous: c’est Dieu nostre createur que nous devons plus amer que nous mesmes ...“ (p. 231, §53, ll. 399-401) et le „temporel ordeneement des choses, c’est a dire de destinee“ (ll. 404-05). Si on aime quelque chose plus que Dieu, si on n’aime pas son prochain, si on se soumet aux choses temporelles, on se sépare momentanément de l’ordre naturel, c’està-dire de Dieu. Mais tout rentre dans sa disposition, même si on a l’impression qu’une abondance de mal existe dans le monde. A la différence du Del Confortement, où on ne trouve qu’une brève allusion à saint Jean l’évangéliste (§37, ll. 180-82), et les noms de saint Pierre et saint Paul (§42, l. 196), et de saint Lorent, saint Vincent et saint Georges (§42, l. 198), cette prose du Livre de Boece est la plus étoffée de matériaux chrétiens tirés en grande partie du commentaire conchien révisé, rappelant aux lecteurs les noms de personnages bibliques bien connus, dont il n’est pas nécessaire de raconter l’histoire. Leur nom évoque leur signification exemplaire. En plus, ces exemples confirment le raisonnement de Philosophie, laissant ainsi apparaître les analogies chrétiennes de son discours tant philosophique. Le livre IV se termine avec le héros exemplaire Hercule, qui tourne les yeux en haut, scrutant les cieux. Cela marque les progrès accomplis depuis

_____________ 38 Voir Le Livre de Boece (note 20), p. 319 (note). 39 Les notes de l’édition du Livre de Boece fournissent des sources bibliques précises de ces exemples; voir les pages 319-320. 40 Matth. 22: 37-40; Marc. 12: 29-33; cf. Deut. 6: 4-6; Lév. 19: 18.

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la fin du livre III, où l’autre héros classique, Orphée, abattu, avait le regard baissé vers la terre. Mais Boèce n’est pas encore prêt à tourner les yeux vers Dieu. Il pose d’autres questions auxquelles Philosophie répond, affirmant l’omniscience de Dieu (V, ii). Néanmoins, dans la prose et le mètre suivants, Boèce pose encore une question importante: comment le franc arbitre peut-il se concilier à la prescience divine? Ne faut-il pas que les deux s’accordent pour maintenir l’harmonie du monde, la justice des récompenses et des châtiments? Si Dieu sait tout à l’avance, aucune action humaine ne peut être volontaire.41 A la fin de la prose 3 (§33-§35), Boèce se plaint en particulier du fait que, s’il n’y a pas de libre arbitre, il est inutile de prier Dieu.42 Le traducteur du Del Confortement en interprète brièvement le sens littéral: dans la vie de ce monde, il est impossible de s’approcher de Dieu sans l’intermédiaire de la prière (p. 180, §34, ll. 118-19). Il ne commente pas l’image de la lumière signifiant Dieu („illique inaccessae luci“, Bieler, p. 94, l. 96), qui inspire dans le Livre de Boece une explication chrétienne: ... et c’est seulement la maniere de quoy les hommes peuent parler a Dieu, c’est assavoir prier et esperer, et approuchier de celle tres excellant lumiere – GLOSE. Autrement lumiere inaccessible, car selon saint Pol nul entendement ne le peut entamer ne comprendre. – et estre y joint avant qu’ilz empetrent par humble supplicacion. (p. 250, §34, ll. 195-201)

Boèce, le personnage, s’exprime ici dans des termes typiquement chrétiens, faisant allusion même à la grâce de Dieu („diuinae gratiae“, Bieler, p. 94, l. 94). Philosophie lui répondra dans sa conclusion (V, 6, §46-§48), employant à son tour des termes de caractère chrétien, comme nous le constaterons. En citant un verset de l’épître I Tim. 6: 15-16, le glossateur a précisé la portée chrétienne du contexte.43 L’interprétation explicitement chrétienne de ce passage est d’autant plus significative que ni l’un ni l’autre de ces deux traducteurs n’a signalé de connotations chrétiennes dans un passage précédent (III, 12, §22-§23), où la définition émise par Philosophie du souverain bien ressemble à un verset biblique (Sap. 8: 1). A cette occasion-là Boèce, le personnage, exprime sa joie en entendant ces mots. Il a été généralement reconnu que c’est là une indication de sa foi. Les deux traductions glosées interprètent des passages différents du mètre iii, où Boèce élabore encore sa question sur la compatibilité de la

_____________ 41 Chadwick (note 1), p. 244-47; Marenbon (note 1), p. 121-145; Courcelle (note 2), p. 208-231. 42 Sur la prière, voir l’Opuscule „De Trinitate“, in: Theological Tractates (note 2), p. 3031. L’Opuscule „Contra Eutychen“ conclut avec la prière de Notre Seigneur (p. 128-29). 43 Voir Le Livre de Boece (note 20), p. 327 (note).

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providence et du libre arbitre. L’auteur du Del Confortement fait ressortir le sens chrétien du chant: „Quels dex – ce est quels volentez de Deu, car uns sols Dex est – establi batailles a dous voirs ...?“ (p. 181, ll. 5-6). S’agit-il d’une faiblesse de l’esprit humain, incapable dans son état imparfait de pénétrer le sens caché des choses? La glose l’explique: „ce est, l’arme, enluminee del feu del Saint Esperit, aveit la plenitude de science, mais quant ele descent el cors par le comandement de Deu, pert grant partie de la science“ (ll. 11-13). C’est là le nœud de la question, considérée dans une perspective chrétienne. Par contre, le glossateur du Livre de Boece a emprunté au commentaire conchien une explication philosophique en termes abstraits des derniers vers du mètre (p. 251, ll. 28-31), se terminant avec une simple référence au poète Juvénal, sans citer le vers que l’on trouve d’ailleurs dans le commentaire latin: „Vuaque conspecta liuorem ducit ab uua“ (,comme une grappe de raisins se décolore à la vue d’une autre grappe‘).44 Pour enlever la perplexité de Boèce, Philosophie développe un long argument complexe sur le libre arbitre et la prescience, la perpétuité du monde et l’éternité de Dieu, et la providence divine. Les gloses, en général toutes brèves, du Del Confortement aident les lecteurs à s’orienter et à apercevoir l’application chrétienne de l’argumentation. D’autre part, le glossateur du Livre de Boece essaie de résumer et, sur la base du commentaire conchien, d’expliquer le raisonnement d’une façon détaillée et en termes abstraits, étendant ainsi sensiblement le discours de Philosophie. Pour ne pas nous perdre dans le dédale des raisonnements, limitons-nous à quelques remarques sur l’ascension spirituelle et l’importance des prières. A la fin de la prose 5, Philosophie propose à Boèce de s’élever à la hauteur de l’intelligence suprême (§12), „si possumus“ (,si nous pouvons‘), pour voir ce que la raison humaine ne peut pas voir seule,45 c’est-à-dire la manière dont une prescience certaine peut voir des choses encore incertaines. Il s’agit, selon le Del Confortement, de la „... simplicitez de la sovereine porveance“ (p. 192, l. 78), et selon le Livre de Boece, de „... la simplece de celle souveraine science“ (p. 266, ll. 79-80). En traduisant ainsi „summae ... scientiae ... simplicitatis“ (Bieler, p. 100, ll. 50-51), le traducteur du Del Confortement a substitué la notion de providence à la prescience qui suppose seulement que Dieu sait les résultats des événements à venir,

_____________ 44 Glosae, p. 312, l. 66; Saturae, 2. 81 (The Satires of Juvenal, E. G. Hardy (éd.), London 1932). Le glossateur a également omis les citations de Salomon et de Virgile qui figurent chez Guillaume de Conches (Glosae, p. 310, ll. 23-24, 35). 45 Cf. Opuscule I, „De Trinitate“, ll. 22-24, in: Theological Tractates (note 2), p. 4-5. Il s’agit de poursuivre une investigation seulement aussi loin que la pénétration de la raison humaine le permet dans l’ascension vers la hauteur de la connaissance céleste. Limitée ainsi, la raison humaine se distingue de l’intelligence divine.

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au moins en ce qui nous concerne.46 Suit le mètre v où Philosophie invoque l’homme à tourner non seulement les yeux, mais aussi l’esprit en haut pour connaître la divinité. Dans la rubrique du Del Confortement, l’invocation est située dans un contexte pleinement chrétien: Philosophie nos amoneste en cest metre que nos devoms adrecier noz pensés au soverein entendement, car nostre figure, que est adrecee, nos amoneste que nos adreceoms nostre pensé a nostre Criator. [...] Solement li hom a la chiere adrecee vers le ciel; ce demostre que li hom doit plus penser des celestiaus choses, de Deu proier e de bien feire, que des terrienes – ce est de mangier e de boivre e des autres delitz. (p. 192, ll. 1-3, 5-8)

Dans son injonction finale (V, 6, §46-§48), Philosophie place le monde sous le regard de Dieu, qui est l’autorité suprême, et vers qui l’humanité d’ici bas lève les yeux et adresse ses espérances et ses prières.47 Dans le Del Confortement, l’injonction est rendue explicitement chrétienne à l’aide d’une citation de l’évangile de saint Matthieu: E les esperances e les preieres ne sunt posees vainement en Deu, ensi cum tu deïs un petit devant, les quels, cum eles sunt dreiturieres, ne poet estre que eles ne seient feites. Car Dex dist en l’Evangile: ,Requerez droiturierement e vos l’aurez‘.48 (p. 200, §46, ll. 208-211)

Une leçon morale est tirée de la phrase finale: Grantz necessitez de proece est banie a vos se vos ne volez feindre, car vos faites voz ovres devant les iouz del juge – ce est de Deu – qui veit totes choses: e por ce nos devoms esforcier de bien faire. (p. 200, §48, ll. 215-17)

Par contre, dans le Livre de Boece la fin de la prose manque de commentaire. La rubrique précédant la section §42 résume ainsi la conclusion de l’argument philosophique: „Et puis conclut finablement que le franc arbitre ou la voulenté des homes ne perira mie, mais sera ensemble avec la divine pourveance“ (p. 274, ll. 243-45). Le traducteur se contente d’une traduction claire, un peu amplifiée d’expressions binaires, des dernières phrases de Philosophie, qui s’exprime dans un vocabulaire de caractère chrétien: 46. Et doncques pour neant ne sont pas mises en Dieu esperances et prieres, lesquelles, quant elles sont droicturieres, ne peuent estre sanz fruit. 47. Soyez doncques ennemis aux vices et frequentez les vertuz et levez voz cuers a droictes esperances et envoyez prieres humbles vers le ciel; 48. car grant neccessité vous est enjointe et chargee de prouesse et de bien faire, se vous ne voulez dissimuler et faindre, o vous mortelz, quant vous faites voz euvres devant les yeulx de celui juge qui tout voit. (p. 274, ll. 259-67)

_____________ 46 Marenbon (note 1), p. 135, 205 (notes). 47 Cf. III, ix, 22-24; V, v, 13-15. 48 Matth. 7: 7.

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Dans cette invocation, qui ne contient rien qui choque la doctrine chrétienne, se trouvent les réponses aux questions posées et aux objections soulevées par Boèce dans la prose 3 et le mètre iii du livre V. Boèce conclut ainsi en exprimant sa confiance dans le pouvoir transcendant qui permet aux hommes de s’approcher de l’Etre suprême, régnant sur la création universelle. Les traductions et les gloses, dont est absente toute allusion à l’intercession du Christ ou des saints auprès de Dieu, ne s’écartent pas de cette leçon, car les prières et les espérances montent directement à Dieu, créateur et juge serein. En même temps que la traduction du Livre de Boece a été glosée, certains manuscrits ont été enluminés. En général, dans ces manuscrits figurent cinq ou six illustrations, au début du prologue et au début de chaque livre. Le choix des sujets est donc assez limité, le dialogue entre Boèce et Philosophie inspirant surtout les artistes. Dans les images qui accompagnent les livres IV et V, on constate dans plusieurs manuscrits un effort pour mettre en valeur une interprétation chrétienne. Dans sept manuscrits du XVe siècle, nous avons trouvé neuf enluminures se rapportant à trois thèmes différents. Dans le premier groupe de manuscrits, l’artiste a représenté l’ascension spirituelle avec une vision du ciel. Dans le manuscrit Paris, Bibliothèque nationale de France, fr. 1099, Boèce, heureux et accompagné de Philosophie, lève les yeux vers le ciel (f. 91v). Dans le manuscrit Lisbonne, Fundaçao Calouste Gulbenkian, LA 136, Philosophie pointe le doigt vers le haut, Boèce lève les yeux, et au-dessus, dans un demi-cercle d’anges, Dieu est assis en majesté (f. 134r). La composition de l’enluminure du manuscrit New York, Pierpont Morgan Library, M 222 n’est pas très différente: Boèce et Philosophie tournent les yeux vers le ciel où Dieu, juge éternel, se voit, entouré d’une foule d’âmes (f. 87r). Dans deux autres manuscrits, Londres, British Library Add. 10341, f. 113v,49 et Vienne, Österreichische Nationalbibliothek 2595, f. 103r, c’est la Sainte Trinité qui est représentée au ciel, comme objet du regard de Boèce et de Philosophie. Un autre groupe de manuscrits représente l’envol ailé, évoqué au début du livre IV. Dans le manuscrit Paris, Bibliothèque nationale de France, fr. 1099, dans une scène d’intérieur, Philosophie, ailée, et Boèce se tiennent debout (f. 68r). Le manuscrit Rouen, Bibliothèque municipale 3045 (Leber 817) contient deux représentations du thème. Au f. 68v Boèce, à genoux, discute avec Philosophie qui tient à la main gauche une paire d’ailes; au f. 94v Boèce, ailé, monte dans le ciel, tenant la main de Philosophie qui le guide; en haut, Dieu en majesté et deux anges les

_____________ 49 Courcelle (note 2), p. 188 et pl. 103, 1 et 122.

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attendent.50 Un troisième sujet est représenté dans un seul manuscrit, Paris, Bibliothèque nationale de France, fr. 809: au premier plan, à droite, Prescience divine regarde d’un belvédère qui couronne un donjon, et au centre de l’image, Philosophie, nimbée, montre à Boèce, semble-t-il, le chemin à suivre (f. 82r).51 Bien que très sommaires, ces descriptions des illustrations indiquent l’intégration du sens chrétien dans la compréhension totale de l’œuvre de Boèce.52 Nous avons écarté de notre étude les mètres mythologiques (III, xii; IV, iii; IV, vii) qui, comportant des rapports littéraires importants, constituent les sections les plus étudiées de la Consolatio Philosophiae en latin et en langues vulgaires. Le charme de la multiplicité des interprétations a persisté. Les versions de Boèce se sont prêtées à une variété d’interprétations, parmi lesquelles la christianisation des héros antiques est significative. Des deux traductions étudiées ici, c’est le Del Confortement qui contient une interprétation christianisée des mythes.53 Au Moyen Age le récit de l’histoire de ces héros fascinait les glossateurs et les lecteurs, semble-t-il, tandis qu’il suffisait, au livre IV, prose 6, de citer le nom de personnages bibliques pour qu’ils servent d’illustration réelle pour l’argument abstrait.

_____________ 50 Courcelle (note 2), p. 197-98 et pl. 121, 2; ,La Consolation de la Philosophie‘ de Boèce dans une Traduction attribuée à Jean de Meun d’après le manuscrit Leber 817 de la Bibliothèque Municipale de Rouen, Isabelle Bétemps et al. (eds.), Rouen 2004, p. LXXVLXXVI. 51 Courcelle (note 2), p. 236-37 et pl. 132. Une description de tous les manuscrits contenant le Livre de Boece se trouve dans: Glynnis M. Cropp: „Les Manuscrits du Livre de Boece de Consolacion“, in: Revue d’Histoire des Textes 12-13/1982-1983, p. 263352. 52 Le manuscrit contenant le Del Confortement a cinq pages illustrées (pl. I-V de l’édition), dont seulement la représentation de la roue de Fortune (f. 11r) est intéressante. Il s’agit d’un dessin à la plume, colorié à l’aquarelle (Courcelle (note 2), p. 146 et pl. 71). Les autres pages ont des dessins de figures géométriques. 53 Margaret Bolton-Hall a approfondi cet aspect dans sa thèse (A Critical Edition of the Medieval French Prose Translation and Commentary of ,De Consolatione‘ of Boethius contained in MS 2642 of the National Library of Austria, Vienna, University of Queensland, 1990, Introduction, pp. 188-221), sans reprendre la discussion dans son édition publiée du texte. Elle a contribué deux de ces textes, avec introduction et analyse, aux volumes consacrés aux mythes d’Orphée et d’Hercule respectivement: J. Keith Atkinson / Anna Maria Babbi (éds.): L’ „Orphée“ de Boèce au Moyen Age. Traductions françaises et commentaires latins (XIIe-XVe siècles), Verona 2000, p. 311; Anna Maria Babbi (éd.): Rinascite di Ercole. Convegno internazionale Verona, 29 maggio-1 giugno 2002. Atti, Verona 2002, p. 381-391. Je remercie vivement mon collègue Keith Atkinson qui a lu ce travail et m’a offert des précisions utiles.

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Notre étude éclectique des gloses s’est concentrée principalement sur certains passages concernant l’état d’âme de Boèce et l’extension de sa connaissance spirituelle. Nous avons scruté les textes et les gloses pour déterminer les associations chrétiennes, les courants sous-jacents qui relient les thèmes philosophiques à la doctrine chrétienne, car Boèce adopta du platonisme et du néo-platonisme ce qui est le plus proche du christianisme. Dans la plus ancienne traduction française, Del Confortement de Philosofie, le côté chrétien de l’interprétation est évident, explicite et constant; le commentaire est le plus souvent contenu dans des remarques concises qu’il n’est pas difficile de distinguer de la traduction du texte de base. Dans le cas du Livre de Boece de Consolacion, les gloses ont été empruntées à la tradition complexe d’un commentaire dû à l’origine à un seul maître. Le glossateur a puisé dans ce fonds d’une façon éclectique pour éclairer et expliquer une variété d’aspects intéressants. Par conséquent plus dispersé, le côté chrétien fait ainsi partie d’une interprétation holistique. D’une longueur variée, les gloses sont en général signalées et servent souvent d’amplification du texte. Aperçues ainsi comme distinctes du texte de Boèce, les gloses des deux traductions appartiennent, néanmoins, intégralement au développement de la signification. Elles ont assurément un rôle didactique dans la vulgarisation de la pensée de Boèce. Mais en plus elles ont ici un rôle spécifique, car elles contiennent l’interprétation chrétienne de l’œuvre. Sans elles, la portée chrétienne de la pensée ne serait pas explicitement révélée et la signification complète de l’injonction finale ne serait pas aperçue comme un amalgame heureux de la philosophie et de la vérité chrétienne.

Die Erfurter Übersetzung der Consolatio Philosophiae (1465) im Spannungsfeld von Jenseitsfurcht und Sündenvergebung Yvonne Dellsperger (Biberach) This paper deals with the Oxford, Bodleian Library, MS Hamilton 46, a partial Middle High German translation of Boethius’ De Consolatione Philosophiae. Previous research has shown that it primarily focuses on the topics of consolation and tribulation, closely connected with the popular ideas both of the fear of torments in the other life, and the forgiveness of sins. Based on a set of corresponding interpolations, due to the medieval translator, I would like to concentrate on, firstly, how the symbolic meaning of the pagan victory crown was adapted to medieval popular imagination, secondly, how the translator reconciles the paradox of punishments, as outlined in Boethius’ Consolatio Philosophiae, and the Christian idea of purgation of sins in purgatory, and, thirdly, how the learned interpolator tries to adapt the more speculative topic of the relationship between Providentia and Fatum, discussed by Boethius, to the urgent problem of how to deal with those children who died unbaptized.*

Einleitung Die Frage, die Boethius gleich zu Beginn des vierten Buches aufwirft, betrifft dasselbe Rätsel, das bereits an früherer Stelle Gegenstand der Reflexion gewesen war: Es geht um das Problem, weshalb in einer von Gott gelenkten Welt die Schlechtigkeit oftmals über die Tugendhaftigkeit siegen kann, so dass letztere nicht nur mit Füßen getreten, sondern auch verfolgt wird.1 Die Philosophie kündigt an, dass die nachfolgenden Erörterungen zu einer dreifachen Lösung des Problems führen würden: Boethius werde erkennen, dass erstens die Guten immer mächtig und die Schlechten

_____________ * 1

Ich danke Prof. Dr. Nigel Palmer (Oxford), der mich auf die Handschrift aufmerksam gemacht und bei der Transkription der Textpassagen viele hilfreiche Korrekturvorschläge gemacht hat. Vgl. I pr 4, Z. 156-163; III pr 12, Z. 74f. – Die Consolatio Philosophiae wird nach der bei Teubner erschienenen Ausgabe zitiert: Boethius: De Consolatione Philosophiae. Opuscula theologica, Claudio Moreschini (Hrsg.), München-Leipzig 22005. Zitiert wird nach Buch, Prosa und Zeilenabschnitt (z. B. I pr 5, Z. 4-9) oder nach Buch, Metrum und Vers (z. B. II m 3, V. 7).

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schwach seien, dass zweitens die Laster niemals ohne Strafen und die Tugenden niemals ohne Lohn blieben, und drittens, dass den Guten immer das Glück, den Schlechten hingegen immer das Unglück zufalle. Die Philosophie verspricht, ihn unter diesen Voraussetzungen zurück in die Heimat zu führen, seine Geistesverwirrung zu vertreiben und seinem Geist Flügel zu verleihen.2 Dieser Auftakt des vierten Buches hat in der Forschungsliteratur gelegentlich für Irritation gesorgt: So hat etwa Ernst Rhein in seinen Untersuchungen bemerkt, dass Boethius genau dieses „Problem eigentlich nicht mehr stellen“ dürfte, „wenn er die Konsequenzen der Erkenntnisse von Buch III ganz durchdächte >…@“. Denn die vorhergehenden Erörterungen hätten Boethius gezeigt, dass er sich nicht mehr „für ausgeschlossen von der Weltordnung halten“ und seinen Sturz „nicht mehr als Triumph der Bösen“ ansehen könne. Bei der erneut aufgeworfenen Fragestellung tue er „damit im Grunde genommen den ‚Blick zurück‘“, vor dem an anderer Stelle deutlich gewarnt worden sei.3 Auch Olof Gigon ist der Auffassung, dass sich Boethius „keineswegs als ein gelehrige>r@, leicht zu besänftigende>r@ Schüler“, sondern „als ein tief beunruhigte>r@ und verwundete>r@ Mensch“ erweise. Bemerkenswert sei indes, dass man sich an dieser Stelle an Aristoteles’ Ausführungen über den Glückseligen erinnert fühle, da an der entsprechenden Stelle in der Nikomachischen Ethik dargelegt werde, dass der Glückselige „zwar nicht leicht ins Wanken gebracht werden“ könne, „doch, wenn ihn schwere Schläge treffen“, er sich „nur mit Mühe und langsam“ wiederaufzurichten vermöge.4 Seth Lerer wiederum hat in seinen Untersuchungen herausgestellt, dass Rückerinnerungen an frühere Dialogsequenzen und Gedichtpassagen, die sich durch das ganze vierte Buch hinweg verfolgen lassen, die Grundlage einer ausgeklügelten narrativen Echostruktur bilden, aufgrund derer sich der Heilungserfolg der Philosophie und somit der eigentliche Trostgehalt des Werkes allererst ablesen lassen.5 Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass man in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Trostgehalt der Consolatio Philosophiae nicht unter dem Aspekt einer bestimmten Wiederholungsstruktur zu bestimmen

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Von dem Weg zurück in die Heimat war auch schon in I pr 5, Z. 5-7, die Rede. Ernst Rhein: Die Dialogstruktur der ‚Consolatio Philosophiae‘ des Boethius. Diss. Frankfurt am Main 1963, S. 52f. Olof Gigon: „Einleitung“, in: Boethius: Trost der Philosophie. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon, ZürichStuttgart 21969, S. XLVIII. Seth Lerer: Boethius and Dialogue. Literary Method in The Consolation of Philosophy, Princeton 1985, S. 166-202.

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versucht hat. Bei der hier zu untersuchenden Teilübertragung von Boethius’ Consolatio Philosophiae in MS Hamilton 46, einer Sammelhandschrift, die heute in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt wird, liegt der Akzent auf einer Tröstung im Leid, die eng mit der mittelalterlichen Vorstellungswelt von Jenseitsfurcht und Sündenvergebung in Zusammenhang zu bringen ist. In der vorliegenden Untersuchung geht es darum, die erwähnte, aus dem Jahre 1465 stammende Handschrift, die von Nigel Palmer nicht nur entdeckt, sondern auch eingehend untersucht worden ist, im Hinblick auf einige Schlüsselpassagen, die größtenteils unbeachtet geblieben sind, weiter zu erforschen.6 Während zunächst erläutert werden soll, welche Stellung der Übersetzung in MS Hamilton 46 innerhalb der deutschen Boethius-Tradition zuzuschreiben ist, richtet sich die Aufmerksamkeit in den nachfolgenden Abschnitten auf drei ausgewählte Interpolationen, die von ihrer gedanklichen Ausrichtung her aufschlussreiche Argumentationslinien für die gesamte Interpretation der Handschrift erkennen lassen.

1. Die deutsche Boethius-Tradition Zu deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen von De Consolatione Philosophiae ist es nach der um das Jahr 1000 verfassten althochdeutschen Übersetzung des St. Galler Mönchs Notker III. des Deutschen (um 9501022) erst wieder im 15. Jahrhundert gekommen.7 Die wohl früheste, zuletzt 1601 bezeugte, heute aber nicht mehr nachweisbare Übersetzung stammt aus dem Jahre 1401 und ist nach dem Zeugnis des Andreas von Regensburg, des Verfassers der Chronica pontificum et imperatorum Romanorum

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Nigel F. Palmer: „Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae“, in: Margaret Gibson (Hrsg.): Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 362-397. Vgl. die Überblicke bei: Franz Joseph Worstbrock: Art. „Boethius, Anicius Manlius Severinus“ (III), in: 2Verfasserlexikon Bd. 1/1978, Sp. 919-927, hier Sp. 921-923; Michael Mommert: Konrad Humery und seine Übersetzung der Consolatio Philosophiae. Studien zur deutschen Boethius-Tradition am Ausgang des Mittelalters, Diss. Münster 1965, S. 10-19; Nigel F. Palmer: „The German Boethius translation printed in 1473 in its historical context“, in: Maarten J. F. M. Hoenen / Lodi Nauta (Hrsg.): Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio Philosophiae, Leiden u. a. 1997, S. 287-302; Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 362-381; vgl. ebenso den im Erscheinen begriffenen Aufsatz von Christine Hehle: „Boethius’s Influence on German Literature up to c. 1500“, in: Philip E. Phillips / Noel H. Kaylor, Jr. (Hrsg.): A Companion to Boethius in the Middle Ages (erscheint Leiden: Brill 2010).

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(1420-22), dem Benediktinermönch Peter von Kastel zuzuschreiben.8 Bei der zweiten, ebenfalls nicht mehr erhalten gebliebenen Übertragung handelt es sich um diejenige des Niklas von Wyle (geb. um 1415, gest. 1479).9 Der als bedeutender Förderer eines humanistischen Literatur- und Bildungsinteresses in Süddeutschland und der Schweiz bekannte Gelehrte hat seine Übersetzung in seiner Vorrede zu den 1478 als Sammlung herausgegebenen translatzen erwähnt.10 Es ist davon auszugehen, dass die beiden heute nicht mehr erhaltenen Übertragungen auf stilistischer wie auch inhaltlicher Ebene ein ganz unterschiedliches Gepräge aufgewiesen haben: Während Peters von Kastel Übersetzung in einem monastischen Kontext und zudem nicht unbeeinflusst von den letzten Ausläufern der benediktinischen Reform entstanden ist,11 verfolgte Niklas von Wyle als Humanist ein eigenes literarisches Programm, das von der Mustergültigkeit der lateinischen Autoren ausging, die auch als Maßstab der deutschen Stilistik zu gelten hatten.12

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Andreas von Regensburg: „Chronica pontificum et imperatorum Romanorum“, in: Sämtliche Werke. Georg Leidinger (Hrsg.), München 1903, S. 119: „Eodem anno [1401] magister Petrus presbiter professus monasterii in Castello ordinis S. Benedicti, in Reichenbach constitutus, Boecium de consolacione philosophie transtulit de latino in teutonicum. Hic sepultus est in Castello, vulgariter zu Chastel.“ (‚In demselben Jahr hat Magister Peter, der ein Priester und Mönch im Benediktinerkloster in Castellum war und in Reichenbach lebte, Boethius’ De Consolatione Philosophiae vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Er ist in Castellum, das allgemein als Chastel bekannt ist, begraben.‘) Zu Peters von Kastel Übersetzung vgl. auch Noel Harold Kaylor, Jr.: „Peter von Kastel: FifteenthCentury Translator of Boethius“, in: Fifteenth century studies 18/1991, S. 133-142. Falls nicht anders vermerkt, werden den lateinischen und mittelhochdeutschen Zitaten im Folgenden eigene Übersetzungen beigefügt. 9 Franz Joseph Worstbrock: Art. „Niklas von Wyle“, in: 2Verfasserlexikon, Bd. 6/1987, Sp. 1016-1035. 10 Vgl. Niclas von Wyle: „Translatzion. Oder Tütschungen des hochgeachten Nicolai von Wyle: den zyten Statschriber der Stat Esselingen: Etlicher Bücher Enee Silvij: Pogij Florentini: Felicis Hemerlin: Doctoris. Mit sampt andern Schryften: Dern XVIIJ. Nacheinander underschydelichen mit iren Figuren und Titeln begriffen sint“, in: Translationen von Niclas von Wyle. Adelbert von Keller (Hrsg.), Stuttgart 1861 (Nachdruck Hildesheim 1967), S. 11f.: „[…] aber ich wil noch danne lieber wenig geltes mangeln, danne tuon, daz von dir vnd andern hochgelerten sölt werden gescholten. jch wirt ouch noch dann nützit dester minder min translatze boecy de consolacione gedruckt lassen usgeen. wie wol mir darzuo schaden komen wirt […].“ 11 Palmer, The German Boethius translation (Anm. 7), S. 294f. 12 Aufschlussreich ist außerdem, dass Wyle in seinen Widmungsvorreden als immer wiederkehrendes Motiv die Tröstung im Leid durch Lektüre hervorgehoben hat. Worstbrock, Niklas von Wyle (Anm. 9), Sp. 1030.

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Von den erhalten gebliebenen Übersetzungen sind zunächst die sogenannten Münsteraner Fragmente zu erwähnen, da diese innerhalb der deutschen Boethius-Tradition einen Sonderfall darstellen: Obwohl sie nur in einer Abschrift von Alois Bömer aus dem Jahre 1906 erhalten geblieben sind, bringt seine in der Zeitschrift für deutsches Altertum veröffentlichte Transkription deutlich zum Ausdruck, dass die bruchstückhafte Übersetzung (I pr 4, Z. 1-54; IV pr 3, Z. 1-15; V pr 6, Z. 1-75) zumeist in sechshebigen Reimpaaren abgefasst ist.13 Damit nimmt die Übersetzung, die vermutlich Mitte des 15. Jahrhunderts14 im Umkreis von Münster, Dortmund, Paderborn und Osnabrück15 entstanden ist, einen Sonderstatus in der deutschen Literatur des Mittelalters insgesamt ein, da das Phänomen gereimter Prosa verhältnismäßig selten auftritt und nur einzelne, zum Vergleich geeignete Beispiele bekannt sind.16 Neben MS Hamilton 46 gilt es noch drei weitere Übersetzungen zu erwähnen: Während von einer mittelniederdeutschen, auf das Jahr 1464 zu datierenden Handschrift, die ursprünglich die ersten vier Bücher umfasste, nur das erste Buch in lediglich einer Fassung erhalten geblieben ist, ist die von dem Mainzer Rechtsgelehrten Konrad Humery (geb. um 1400, gest.

_____________ 13 Die in der Universitätsbibliothek Münster aufgefundenen Fragmente wurden 1945 im Krieg durch Feuer zerstört. Zur Abschrift vgl. Alois Bömer: „Fragmente einer deutschen Boethiusübersetzung“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 50/1908, S. 149-158; Zu den erhalten gebliebenen Bruchstücken vgl. auch Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 372. 14 Die Datierungsfrage wurde in der Forschung kontrovers diskutiert: Bömer, Fragmente (Anm. 13), S. 150, war der Auffassung, dass die Übertragung der zweiten Hälfte oder vielleicht auch schon der Mitte des 15. Jahrhunderts angehören dürfte. Worstbrock hingegen hat sich Wolfgang Stammlers These angeschlossen, wonach die Übersetzung bereits etwa um 1300 entstanden sein soll. Vgl. Worstbrock, Boethius, Anicius Manlius Severinus (Anm. 7), Sp. 921. Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 373, schließt sich der Spätdatierung von Bömer an. Ebenso Nikolaus Henkel: „Mittelalterliche Übersetzungen lateinischer Schultexte ins Deutsche. Beobachtungen zum Verhältnis von Formtyp und Leistung“, in: Volker Honemann u.a. (Hrsg.): Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter: Würzburger Colloquium 1978, Tübingen 1979, S. 164-180, hier S. 177, Anm. 32. 15 Diese Lokalisierung nimmt Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 379f., aufgrund dialektaler Merkmale vor: Während in manchen Teilen der Übersetzung das Oberdeutsche vorherrscht, sind andere Bruchstücke überwiegend vom Mittelniederdeutschen, genauer dem westfälischen Dialekt, geprägt. 16 Palmer nennt in diesem Zusammenhang nur gerade drei weitere Texte: Die Lilie, Die Rede von den XV Graden und den Mahrenberger Psalter. Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 375.

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1478)17 um das Jahr 1463 verfasste Übersetzung von Boethius’ Trostschrift in insgesamt drei Handschriften überliefert.18 Nur zehn Jahre nach Humerys Übersetzung erschien zudem in der berühmten Nürnberger Offizin des Anton Koberger (geb. um 1440, gest. 1513) eine anonyme Übersetzung der Consolatio Philosophiae (1473), die zusammen mit dem lateinischen Text und einem Kommentar des Pseudo-Thomas gedruckt wurde.19 Alle drei erwähnten Übertragungen verfügen über eine stilistische und gedankliche Eigenart, die kaum Vergleichsmomente erkennen lässt: Während es für den Übersetzer des mittelniederdeutschen Textes20 aus dem Jahre 1464 bezeichnend ist, dass er aus einer restriktiven religiösen Haltung heraus das fünfte Buch für eine Übertragung als zu gefährlich einstufte,21 ist es Humerys erklärte Absicht, die Consolatio Philosophiae mit Hilfe des allmächtigen Gottes zum Trost aller Gefangenen und all derjenigen, die in diesem Jammertal Schicksalsschläge, Anfechtung und Leid zu erdulden haben, zu übersetzen und zu erklären.22 Als charakteristisches Merkmal des Nürnberger Drucks hingegen gilt, dass zahlreiche knappe Einschübe, in denen Namenerklärungen sowie historische und mythologi-

_____________ 17 Franz Joseph Worstbrock: Art. „Humery, Konrad (Homery, Homm-)“, in: 2Verfasserlexikon, Bd. 4/1983, Sp. 301-304. 18 1) Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Ms. theol. lat. fol. 490, fol. 109r-176v (1467); 2) Mainz, Stadtbibliothek: cod. III 44, fol. 2r-71r (1472); 3) Tübingen, Universitätsbibliothek: cod. M. d. 124, fol. 2r-115v (c. 1475). Vgl. zu den Handschriften auch Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 15-17, sowie Hehle, Boethius’s Influence (Anm. 7). Zu dieser Übersetzung der Beitrag von Manfred Eikelmann im vorliegenden Band. 19 Ausführlich dazu: Palmer, The German Boethius translation (Anm. 7), S. 287-302. Vgl. den Beitrag von Bernd Bastert im vorliegenden Band. 20 Während Worstbrock, Boethius, Anicius Manlius Severinus (Anm. 7), Sp. 922, und Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 15, die Frage offen lassen, ob es sich bei dem genannten Schreiber (Gerhard Nassauwe) auch um den Übersetzer handelt, ist nach einer (noch unveröffentlichten) Manuskriptbeschreibung von Ulrich Seelbach davon auszugehen, dass Gerhard Nassauwe nicht der Übersetzer war. Bernd Bader (Universitätsbibliothek der Justus-Liebig-Universität Gießen) war so freundlich, mir die Manuskriptbeschreibung von Ulrich Seelbach zur Verfügung zu stellen. Sie wurde mittlerweile unter folgendem Link veröffentlicht: http:// geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2007/4948/pdf/863.pdf (15.12.2008). 21 Das fünfte Buch solle nicht übersetzt werden, weil es „in den dummen luden“ religiöse Zweifel erwecken könnte. Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 15. 22 „[…] zu troste allen gefangenen vnd auch allen den, die in anderm trocke, anfechten vnd lyden das elende dieses jamertalis der werlde buwent vnd doldent […]“. Vgl. dazu Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 141f.

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sche Erläuterungen geboten werden, den sachlichen Interessen des Lesers entgegenkommen sollten.23

2. Die Übersetzung der Consolatio Philosophiae in MS Hamilton 46 Die Übertragung der Consolatio Philosophiae in MS Hamilton 46 wird in der Literatur auch als Erfurter Übersetzung bezeichnet,24 da sie Bestandteil einer spätmittelalterlichen Sammelhandschrift ist, die vermutlich im Kartäuserkloster von St. Salvator in Erfurt zusammengebunden worden ist. Palmers Untersuchungen haben gezeigt, dass Boethius’ Consolatio Philosophiae ab Fol. 61 von einem kontinuierlich ausgeschriebenen lateinischen Kommentar begleitet wird, der jedoch bald nur noch auf eingeschobenen Seiten seine Fortsetzung findet und mit Beginn des vierten Buches endgültig abbricht. Die deutsche Übersetzung, die von einer späteren Hand hinzugefügt worden ist, beginnt teilweise bereits mit dem dritten Buch (III pr 1, 1-3, m. 8, pr 9, 1-19), wird dann aber besonders im vierten (IV pr 1m 7, wobei m 6 und m 7 unvollständig sind) und fünften Buch (V pr 1-4, 31) kontinuierlich fortgeführt.25 Die besondere Eigenart der Übersetzung besteht darin, dass sie nicht nur von den überaus zahlreich vorhandenen Interlinearglossen,26 deren Bedeutungen fortlaufend in den Übersetzungstext einfließen, geprägt ist, sondern auch von gelegentlichen Interpolationen unterbrochen wird, die in einer ausdrucksstarken religiösen Sprache die Consolatio Philosophiae mit einer auf biblischer Grundlage entwickelten Leidensthematik in Zusammenhang bringen.27 Besonderes Gewicht gewinnt dieser Leidensaspekt in MS Hamilton 46 auch dadurch, dass unmittelbar auf die Übersetzung der Consolatio Philosophiae eine glossierte und kommentierte Handschrift der Johannes-Offenbarung folgt, die an ande-

_____________ 23 24 25 26

Worstbrock, Boethius, Anicius Manlius Severinus (Anm. 7), Sp. 923. So etwa bei Hehle, Boethius’s Influence (Anm. 7). Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 386. Palmer legt in seiner Untersuchung dar, dass die Interlinearglossen zum Teil ganz elementarer Natur sind, da es sich lediglich um die Wiedergabe von Synonymen oder von einfachen grammatikalischen Erklärungen handelt. Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 384. 27 Neben den Interpolationen, die direkt mit der Leidensthematik in Zusammenhang stehen, werden ferner zwei lateinische Gedichte auf die Jungfrau Maria in den Text eingefügt. Ebenso wird an einer Stelle auf der Grundlage von Alanus’ De Planctu Naturae über das Fehlverhalten der Menschen geklagt. Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 390 und S. 408, Anm. 71.

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rer Stelle ebenfalls unter dem Aspekt des Leidens mit der Trostschrift des Boethius in Verbindung gebracht wird.28 Martyrium und Leid werden in der Erfurter Übersetzung zudem an drei bedeutsamen Textstellen mit weiterführenden Überlegungen verknüpft, die es im Folgenden etwas genauer zu betrachten gilt: Im Mittelpunkt des Interesses steht erstens das Symbol des Kranzes in Antike und Christentum, zweitens die mittelalterliche Vorstellungswelt von Strafe und Sündenvergebung im Feuerjenseits und drittens das Problem der ohne Taufe verstorbenen Kleinkinder.

3. Die corona martyrii als Siegeskranz Im Anschluss an das eingangs erwähnte Versprechen der Philosophie, den verwirrten Geist des Boethius zurück in die Heimat zu führen, ist im ersten Gedicht des vierten Buches (IV m 1) von einer Art Himmelsreise die Rede, die zum Ausdruck bringen soll, dass der menschliche Geist alle Räume des Weltraums zu durchschreiten vermag. In dem darauf folgenden Prosaabschnitt (IV pr 2), der in Anlehnung an Platons Dialog Gorgias29 konzipiert ist, sucht die Philosophie zu beweisen, dass das Streben aller Menschen nicht nur auf die Glückseligkeit, sondern auch auf das Gute gerichtet ist. Allerdings können nur diejenigen Menschen als mächtig erachtet werden, die fähig sind, dieses Gute auch wirklich zu erreichen. Die Schlechtigkeit erscheint vor diesem Hintergrund als Schwäche, da es den Schlechten offenbar nicht gelingt, das zu erreichen, wonach sie in Wahrheit streben. Gutes Handeln wird mit der naturgetreuen Gangart des Körpers, schlechtes Handeln hingegen mit einem naturwidrigen Gehen auf Händen statt auf Füßen verglichen. Insgesamt werden drei Motive des schlechten Handelns, nämlich das Wirken aus Unwissenheit, aus unbewältigter Leidenschaft oder aus einer wissentlichen Bevorzugung des Schlechten namhaft gemacht. Die im Gespräch erwiesene Machtlosigkeit der scheinbar Mächtigen ist auch Thema des zweiten Gedichts (IV m 2), das

_____________ 28 Die Zusammengehörigkeit der beiden Texte geht aus einer kurzen Abhandlung über Trost und Leiden hervor, die der Consolatio Philosophiae auf Fol. 59 vorangestellt ist. Vgl. dazu Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 406f., Anm. 63. Bezeichnend im Hinblick auf die Leidensthematik ist nach Palmer (S. 383) außerdem, dass Boethius St. Severinus genannt wird. Dies bedeutet, dass er nach einer seit dem 13. Jahrhundert bezeugten Legende als christlicher Märtyrer angesehen wurde, der durch den arianischen, also häretischen, Theoderich getötet wurde. 29 Vgl. dazu Gigon, Einleitung (Anm. 4), S. IL. Gigon macht außerdem darauf aufmerksam, dass es sich hier nicht nur „um ein blosses Übersetzen oder auch nur Paraphrasieren des platonischen Textes, sondern auch um ein Weiterspinnen und Ergänzen der Gedanken Platons“ handelt.

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den angesprochenen Kontrast zu veranschaulichen sucht, indem von der äußeren Herrlichkeit eines Tyrannen und seiner inneren Hilfsbedürftigkeit die Rede ist. Im dritten Prosastück (IV pr 3, Z. 9-20) wird sodann der Beweis erbracht, dass Rechtschaffenheit immer sich selbst Lohn, die Schlechtigkeit hingegen immer sich selbst Strafe ist. Um den Gedanken einer Belohnung der Guten auch bildlich zu veranschaulichen, greift die Philosophie auf die Symbolik des Siegeskranzes zurück, der dem Läufer auf der Rennbahn als Entschädigung zukommt: „Rerum etenim quae geruntur illud, propter quod unaquaeque res geritur, eiusdem rei praemium esse non iniuria videri potest; uti currendi in stadio propter quam curritur iacet praemium corona.“30 An dieser Stelle folgt nun in der Erfurter Übersetzung ein erster längerer Exkurs, der den Gedanken, dass die Belohnung der Guten ihre eigene Tugendhaftigkeit darstellt, auf biblischer Grundlage, insbesondere in Anlehnung an das Matthäus- und Johannesevangelium, weiter ausführt: Dost dü myr arbeyt in mym wingarten [Mt 20,1] vmb eyn bescheyden lon, dat ich dyr czü avendt geuen sal, ghest du van mym dem arbeyde er dem auende, ich enlon dyr nicht, ich engeuen dyr nicht dat bescheyden lon. Dat ewyge güd, der dogentliche werke lon ys so gedᧆn, we ez sich gebrüchen wyl, moß ed all entfᧆn. We ed nicht all enhayt, en hayt ez nicht, ed ys eynveldich vnd mach nicht gesplittert werden. We dat lon wyl entfᧆn, moß dar na arbeyden, nicht alse he wyl, sunder alse he sal na wyllen des dem men darvmbe arbeyden sal, de ed och seluen ys. Alse dat ewyge lon, dat hoge gut, got, vmb sich czü entfᧆn wyl gearbeydet han, also moß och eyn itzlicher, de ed gern hette, arbeyden. Dat lon wanderde eynß vff erden vnder den armen. Do sprach eyn czü em, wat he doyn solde, da myd he dat ewige leuen erwerben mochte. Do sprach dat ewyge leuen: Wyltü in dat leuen gan, so halt dye gebode. Ego sum via, etc. [Joh 14,6] Si vis vitam, etc. [Mt 19,17] Qui perseuerat, etc. [Mt 24,13] In quacumque die iustus [2 Tim 4,8].31

_____________ 30 Übersetzung aus Boethius: Trost der Philosophie. Zweisprachige Ausgabe. Lateinisch-Deutsch. Aus dem Lateinischen von Eberhard Gothein. Marie Luise Gothein (Hrsg.), Köln 2006, S. 126: „Denn nicht mit Unrecht kann man das Ding, um dessentwillen jegliches vollbracht wird, als den Lohn dessen ansehen, wie dem Läufer in der Rennbahn der Kranz, um dessentwillen er läuft, als Belohnung winkt.“ 31 Fol. 170v. Auf diesen Exkurs hat bereits Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 6), S. 389, aufmerksam gemacht. – Übersetzung ins Neuhochdeutsche: ‚Wenn Du die Arbeit in meinem Weinberg [Matth. 20,1] für einen versprochenen Lohn annimmst, den ich Dir am Abend geben werde, und wenn Du dann aber Deine Arbeit vor dem Abend verlässt, werde ich dich nicht belohnen, werde ich Dir den versprochenen Lohn nicht geben. Das ewige Gut, der Lohn der tugendhaften Werke, ist so beschaffen, dass derjenige, der nicht alles hat, es überhaupt nicht hat. Es ist einfältig und kann nicht geteilt werden. Wer den Lohn empfangen will, muss dafür hart arbeiten, sich plagen und quälen, nicht so wie er es gerne wünscht, sondern wie es nach dem Willen desjenigen, um dessentwillen die Ar-

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Die hier vorliegende Auslegung der Gleichniserzählung von den Arbeitern im Weinberg bringt zum Ausdruck, dass das höchste Gut („ewyge gud“), das einheitlicher Natur ist, nicht durch eine simple Lohnmoral erreicht werden kann. Vielmehr gilt es dieses nach dem Vorbild Christi auf dem Leidensweg zu erwerben. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die Symbolik des Siegeskranzes, wie sie in Boethius’ Trostschrift kurz angedeutet wird, hier als Ausgangspunkt einer leidensethisch fundierten Moraltheologie gedient hat. Der entsprechende Gedankengang lässt sich auf der Grundlage religionsgeschichtlicher Untersuchungen von Karl Baus32 nachvollziehen: Baus’ Studien haben gezeigt, dass das Symbol des Siegeskranzes, das in der antik-heidnischen Kultur untrennbar mit den Kampfspielen zu Olympia in Zusammenhang stand, bereits im Frühchristentum nach einer anfänglichen Phase der Ablehnung zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. So wird etwa bei Paulus das Bild des Wettkämpfers aus dem Stadion, der um einen irdischen Kranz ringt, zum Sinnbild für den Christen, der in der Wettkampfstätte des Lebens um den unzerstörbaren Kranz der ewigen Seligkeit kämpft.33 Bei den frühchristlichen Autoren, namentlich bei Clemens von Alexandrien (ca. 140-215), Tertullian (ca. 160-ca. 220/5) und Cyprian (ca. 200/205-258), begegnet der Gedanke, dass das christliche Leben mit dem Agon und seinen Siegeskränzen verglichen werden kann. Baus legt dar, dass das Symbol des Kranzes also gleichsam „aus der profanen Sphäre übernommen“, durch „eine nähere Kennzeichnung in die christliche Vorstellungswelt“34 einge-

_____________ beit getan wird, geschehen soll. Denn dieser ist selbst der Lohn. So wie der ewige Lohn, das höchste Gut, nämlich Gott, das Leiden erduldete, um zu empfangen, so muss jeder Mensch, der den Lohn zu empfangen wünscht, das Leiden erdulden. Einst kam der Lohn auf die Erde hernieder und hielt sich unter den Armen auf. Einer von ihnen fragte ihn, was er tun müsse, um das ewige Leben zu empfangen. Das ewige Leben antwortete: Ich bin der Weg [Joh 14,6: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben: niemand kommt zum Vater denn durch mich.] Willst du aber zum Leben etc. [Mt 19,17: Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote.] Wer aber beharrt etc. >Mt 24,13: Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig.] An welchem Tag der Gerechte etc. [2 Tim 4,8: Hinfort ist mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird, nicht mir aber allein, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieb haben.].‘ 32 Karl Baus: Der Kranz in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung Tertullians, Bonn 1940, S. 143-230. 33 Ebd., S. 170. 1 Kor 9,24: „Nescitis, quod hi, qui in stadio currunt, omnes quidem currunt, sed unus accipit bravium? Sic currite, ut comprehendatis. Omnis autem, qui in agone contendit, ab omnibus se abstinet; et illi quidem, ut corruptibilem coronam accipiant, nos autem incorruptam.“ 34 Baus, Der Kranz in Antike und Christentum (Anm. 32), S. 174.

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ordnet und wiederholt als Belohnung für das Martyrium namhaft gemacht wird.35 So findet der Märtyrerkranz nicht nur in verschiedenen Märtyrerakten, sondern ebenso auf Grabinschriften verfolgter und gemarterter Christen Erwähnung. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass etwa bei Tertullian die Märtyrer als coronati bezeichnet werden.36 Es ist unverkennbar, dass hier eine gleichartige Einordnung in eine christliche Vorstellungswelt vorliegt, wenn der Übersetzer von MS Hamilton 46 das in der Consolatio Philosophiae erwähnte Siegessymbol der antikheidnischen Wettspiele mit einem breit ausgeführten Leidensethos verknüpft, das wie bei den frühchristlichen Autoren letztlich auf einen Vergleich des christlichen Lebens mit dem irdischen (Leidens-)Wettkampf hinausläuft.

4. Jenseitsschau und Sündenvergebung Nachdem im dritten Prosastück (IV pr 3, Z. 9-20) der Consolatio Philosophiae aufgezeigt worden ist, dass die Rechtschaffenheit immer sich selbst Lohn, die Schlechtigkeit hingegen immer sich selbst Strafe ist, zeigt der weitere Verlauf des Dialogs, dass die Schlechtigkeit als solche nichts anderes als den Verlust des Menschseins bedeutet: Denn so wie der Mensch die Chance hat, Gottähnlichkeit zu erreichen, so besteht für ihn ebenso die Möglichkeit, bis zur Tierähnlichkeit herabzusteigen. Dass die ruchlosen Menschen ihr Wesen verlieren können und sich dieses mit verschiedenen Arten von Tieren vergleichen lässt, ist auch das Thema des dritten Gedichts (IV m 3), in dem die homerische Erzählung von Odysseus und der Zauberin Kirke herangezogen wird. Die Darlegungen des vierten Prosakapitels zielen darauf ab, auf das Elend der schlechten Menschen aufmerksam zu machen, deren Unglück darin besteht, dass sie ausführen können, was ihnen erstrebenswert erscheint. Die Philosophie sucht zu beweisen, dass es für die Missetäter bei Licht betrachtet eine Linderung ihrer Qual bedeutet, wenn sie bestraft werden, da die Strafe dem Verbrecher die Möglichkeit eröffnet, an seiner Seele zu genesen. Es wird deshalb der Schluss gezogen, dass ein Verbrecher vor Gericht gebracht werden sollte wie ein Kranker zum Arzt, damit die Anwälte die Missetäter der Strafe empfehlen können. Das Argument, dass die Strafe dem Verbrecher die Aussicht auf eine Heilung seiner Seele eröffnet, veranlasst den Übersetzer der Erfurter Übertragung dazu, seine eigene Vorstellungswelt von Strafe und Sünden-

_____________ 35 Ebd., S. 175. 36 Ebd., S.182f.

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vergebung einzubringen und mit predigtartigen Ausführungen über die Qualen im Fegefeuer zu verknüpfen.37 Die sprachliche Kraft dieses Prosaabschnitts, in dem kurze, teilweise nur unvollständige Satzglieder aneinandergereiht werden, geht mit einer asketischen Haltung einher, die Sündenfurcht, Bußbereitschaft und Besserungswillen als verbindliche Lebensregeln predigt. Die eindringlichen Beschwörungen der schrecklichsten Feuerstrafen, die an manchen Stellen einer angstvollen Jenseitsschau nahe kommen, werden jedoch auch von hoffnungsvollen Gedanken, welche die Möglichkeit einer Sündenvergebung und Versöhnung im Jenseits in Betracht ziehen, begleitet. Im Folgenden gilt es, diese divergierenden Gedankenkreise, die einen tiefen Einblick in das ‚höllische‘ Gesamtphänomen vermitteln, etwas genauer zu betrachten. Es kommt darauf an, den Argumentationsgang dieser Kurzpredigt vor dem Hintergrund der Entwicklungsgeschichte der Fegefeuer-Lehre sowie der verschiedenen Parallelstellen aus der Fegefeuer-Literatur zu lesen, so dass die hier vorgestellte Gedankenwelt vom Purgatorium als eine Zusammenschau herkömmlicher Versatzstücke begriffen werden kann. Die Vorstellung von der Möglichkeit einer Sündenreinigung im Jenseits ist nach Vorläufen in der griechisch-römischen Antike und im Frühjudentum bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten aufgekommen. Obwohl es für die Fegefeuer-Lehre keine eindeutige Stelle in der Heiligen Schrift gibt,38 hat sie sich aufgrund ausdeutbarer Ansätze (2 Makk 12,32-46; Mt 12,32; 2 Tim 1,18; bes. aber 1 Kor 3,13-15) bei manchen Kirchenlehrern, besonders bei Tertullian, Cyprian, Clemens von Alexandrien und Origenes (184/5-254), mit unterschiedlichen Ausprägungen verhältnismäßig früh ausgebildet.39 Folgt man den Ausführungen von

_____________ 37 Vgl. dazu unten Appendix 1: Exkurs über die Qualen des Fegefeuers, S. 25-28. 38 Aufgrund der fehlenden biblischen Begründung wurde die Fegefeuer-Lehre von verschiedenen Seiten immer wieder in Zweifel gezogen. So weigerte sich beispielsweise ein so einflussreicher Denker wie John Wycliff (1330-1384), an die mit dieser Lehre in engem Zusammenhang stehenden päpstlichen und bischöflichen Ablässe zu glauben. Er wurde deshalb als Ketzer verurteilt. Peter Dinzelbacher: Die letzten Dinge. Himmel. Hölle. Fegefeuer im Mittelalter, Freiburg u.a. 1999, S. 91f., zeichnet die Kontinuität der Fegefeuer-Kritik nach. 39 Zum Thema Fegefeuer vgl. v.a. Jacques Le Goff: La naissance du Purgatoire, Paris 1981; Dinzelbacher, Die letzten Dinge (Anm. 38); ders.: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981; Andreas Merkt: Das Fegefeuer. Entstehung und Funktion einer Idee, Frankfurt a.M. 2005; Hans-Wilhelm Rathjen: Die Höllenvorstellungen in der mittelhochdeutschen Literatur, Diss. masch. Freiburg i. Br. 1956; Leopold Kretzenbacher: Legendenbilder aus dem Feuerjenseits. Zum Motiv des „Losbetens“ zwischen Kirchenlehre und erzählendem Volksglauben, Wien 1980, S. 9-33; Bernwart Deneke: Art. „Fegefeuer“, in: Lexikon des Mittelalters 1/1989, Sp. 328-331; Ernst Koch: Art. „Fegefeuer“, in: Theologische Realenzyklopädie 11/1983, S. 69-78.

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Jacques Le Goff, können jedoch erst Augustinus (354-430) und Gregor der Große (um 560-604) als die wahren ‚Väter des Fegefeuers‘ bezeichnet werden. Während für Augustinus ein vierteiliges Denkschema konstitutiv ist, das zeigt, dass zwischen Himmel und Hölle auch Zwischenstadien für Zweifelsfälle angenommen werden können, geht Gregor der Große von einer Konzeption aus, die das Reinigungsfeuer erstmals nicht mehr nach dem Jüngsten Gericht und vor Eintritt in den Himmel, sondern vielmehr zwischen Tod und Auferstehung ansiedelt, so dass für den Menschen die Möglichkeit besteht, noch vor dem Gericht eine Reinigung zu erfahren.40 Dieses Dreierschema von Himmel – Fegefeuer – Hölle hat nach Le Goff besonders im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts an Einfluss gewonnen, da zu dieser Zeit gesellschaftliche Umwälzungen im Gange waren, die einen erweiterten moralischen Spielraum erforderten.41 Die Angst vor den Jenseitsfolgen für nicht gesühnte Schuld hat fortan nicht nur die Kirchenlehre,42 sondern auch den erzählenden Volksglauben über Jahrhunderte hinweg in ganz besonderem Maße geprägt. Besonders eindringlich spiegeln diese Furcht die zahlreichen Jenseitsvisionen, die bestimmte Vorstellungen vom Fegefeuer vermittelten und die Wege der verstorbenen Seelen vor ihrem Eintritt in den Himmel nachzeichneten.43 Diesem Erzählgut ist jedoch auch zu entnehmen, dass die Hoffnung auf ein Ende der Jenseitsqualen durch die Fürbitte anderer eine zentrale Rolle spielte: Die oftmals erzählte Legende von Papst Gregor dem Großen, der den gerechten, aber heidnischen Kaiser Trajan (53-117) aus den Jenseitsflammen losbetet, ist ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür.44

_____________ 40 Le Goff, La naissance du Purgatoire (Anm. 39), S. 92-131. 41 Le Goff sucht seine These zu untermauern, indem er nachweist, dass das Wort purgatorium erst im Hochmittelalter aufgetaucht sei. Le Goff, La naissance du Purgatoire (Anm. 39), S. 488-493. Die Thesen Le Goffs wurden in der Forschung teilweise kritisch kommentiert, vgl. dazu Merkt, Das Fegefeuer (Anm. 39), S. 9; Arnold Angenendt: „Rez. zu Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers“, in: Theologische Revue 82/1986, S. 38-41. 42 Dogmatisiert wird das Fegefeuer erst 1274 auf dem Konzil von Lyon. Von besonderer dogmatischer Bedeutung sind auch die auf dem Konzil von Florenz (1439) erlassenen Dekrete. Vgl. dazu Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hrsg. von Peter Hürnemann. Freiburg i. Br. u.a. 371991, DH 856-859 und DH 1304-1406. 43 Die Visio Tnugdali (1148) oder der Tractatus de Purgatorio S. Patricii (ca. 1153) gelten als besonders berühmte Beispiele. Diese Jenseitsvisionen sind beschrieben und untersucht bei Rathjen, Die Höllenvorstellungen in der mittelhochdeutschen Literatur (Anm. 39), S. 22-39, und Dinzelbacher, Die letzten Dinge (Anm. 38), S. 100-118. 44 Die Darstellung der Legende in der bildenden Kunst untersucht Kretzenbacher, Legendenbilder aus dem Feuerjenseits (Anm. 39), S. 9-33.

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Der Gedankengang des Exkurses lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Autor der Erfurter Übersetzung führt in einem ersten Abschnitt den in der Consolatio Philosophiae grundgelegten Gedanken von der Notwendigkeit einer Bestrafung der Missetäter weiter aus: Deutlich gibt er zu erkennen, dass die Bestrafung der Übeltäter, die man etwa zu steinigen, zu verbrennen, zu hängen oder lebendig zu begraben pflegt, als durchaus richtig zu erachten sei. Zugleich wird davor gewarnt, dass die Verbrecher sich nicht freuen sollen, wenn sie der weltlichen Justiz entgehen und ungeschoren davon kommen, da der oberste Richter, dem alle Richter auf Erden untertan sind, die Übeltat eines jeden Menschen sieht. Alle Menschen, gleichviel, ob gut oder böse, unschuldig oder schuldig, weiblich oder männlich, jung oder alt, müssen vor dem Gericht des höchsten Richters bestehen. Seine Gerechtigkeit lässt niemanden ungestraft oder ungelohnt vorbeigehen. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Qualen des Fegefeuers unvorstellbar schrecklich sind: Es wird dargelegt, dass eine arme Seele es vorziehen würde, hundert Jahre lang alle Pein auf Erden zu erdulden, als auch nur einen Tag im Fegefeuer zu schmoren. Ebenso wird die Vorstellung evoziert, dass eine Träne, die in Anbetracht der Sündenlast mit traurigem Herzen und im Gedenken an die göttliche Liebe vergossen wird, einen mehr als zehnjährigen Ablass bringe. Der Autor geht im Anschluss daran dazu über, ein einprägsames Exemplum nachzuerzählen, das ein gewisser Albertus niedergeschrieben haben soll: Es ist die Rede von einem körperlich leidenden Mann, der, um sich von seiner Krankheit zu reinigen, drei Tage Fegefeuer auf sich nehmen will. Die Geschichte erzählt, dass der Mann offenbar solche Qualen zu erdulden hatte, dass er bereits nach dem ersten Tag im Fegefeuer sein Vorhaben aufgibt und nun die Krankheit die ganze Zeit seines Lebens bis zum Jüngsten Tag zu erdulden gewillt ist. In einem gebetsartigen Schlussteil werden Sündenfurcht, Bußbereitschaft und Besserungswillen gefordert, da am Tag des Jüngsten Gerichts der Richter Himmel und Erde fegen, die Liebhaber der Sünde gemeinsam mit den Teufeln in ein ewiges Feuer weisen und die Liebhaber der Tugend mit ewiger Freude beschenken werde. Ermahnend wird darauf hingewiesen, dass ein jeglicher Mensch die Sünde auf Erden hassen und die Tugend lieben solle, auf dass er nach dem Tode nicht Pein, sondern Freude erlange. Das Bild vom Fegefeuer, das hier skizziert wird, verbleibt weitgehend im Rahmen der kirchlichen Doktrin. Eine ausführliche Schilderung der eschatologischen Stätte unterbleibt, und der Autor weiß von keinen phantastischen Landschaften zu berichten, die in der Nähe der Hölle, unter der

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Erde oder an verschiedenen Plätzen der Erde angesiedelt sind.45 Hingegen begegnet man einzelnen Versatzstücken, die aus hoch- bzw. spätmittelalterlichen Jenseitsvisionen, Legenden und Predigten durchaus bekannt sind: Die eigenartige Vorstellung, dass eine aus glühender Gottesliebe vergossene Träne einen zehnjährigen Ablass bringe, bildet beispielsweise einen wesentlichen Aspekt in der Jenseitsvision der Wiener Begine Agnes Blannbekin († 1315).46 Dem zeitgenössischen Tenor entsprechen auch diejenigen Passagen, welche die Unaussprechlichkeit der Qualen im Jenseits veranschaulichen sollen. So fasste der Passauer Prediger Paul Wann († 1489) seine Vorstellungen vom Fegefeuer in Gedanken zusammen, die den Ausführungen in MS Hamilton 46 sehr nahe kommen: Wenn alle Pein, die man sich auf Erden ausdenken kann, alle Folterungen, alle Krankheiten und Schmerzen mit der geringsten Fegefeuerstrafe verglichen werden, dann sind sie ein Trost. Jeder lebende Mensch würde, wenn er das Fegefeuer aus Erfahrung kennen würde, lieber bis zum Jüngsten Tag sämtliche Leiden ohne Linderung erdulden, die alle Menschen von Adam an bis jetzt, jeder einzelne gelitten hat, als nur einen Tag in der Hölle oder im Fegefeuer auch nur die geringste Strafe abbüßen, die es dort gibt.47

Nicht nur diese angeführte Predigtsequenz kann mit der Beschreibung von MS Hamilton 46 in Parallele gesetzt werden. Ebenso bezeichnend ist, dass die in MS Hamilton 46 erzählte Geschichte eine gewisse Strukturähnlichkeit mit der Trajanslegende aufweist, wie sie etwa Jacobus de Voragine um 1290 in seiner Legenda aurea niedergeschrieben hat. Die Legende handelt vom Mitleid des Papstes Gregor des Großen mit dem gerechten, aber heidnischen Kaiser Trajan, der nach mittelalterlicher Vorstellung in den Jenseitsflammen leidet, bis ihn der Papst daraus losbetet. Als Strafe dafür, dass Gregorius für einen Verdammten bittet, stellt eine göttliche Stimme

_____________ 45 Die verschiedenen Vorstellungen von der Topographie der eschatologischen Stätten beschreibt Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (Anm. 39), S. 90-120. 46 Vgl. dazu Peter Dinzelbacher / Renate Vogeler (Hrsg.): Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin († 1315). Edition und Übersetzung, Göppingen 1994, S. 466-473, hier S. 470f.: „Nam una lacryma fusa ex fervida charitate tantam praestat indulgentiam poenarum et amplius quam decem annorum poenarum, testante beato Augustino, qui dicit: ‚O lacryma, quanta est tua potentia? Vincis invincibilem, ligas omnipotentem, plus vales quam decem anni purgatoriales.‘“ – Deutsche Übersetzung aus Dinzelbacher / Vogeler: „Denn eine aus glühender Liebe vergossene Träne schafft so viel und mehr Strafnachlaß, wie zehn Jahre Pein, was der sel. Augustinus bezeugt, der sagt: ‚Oh Träne, wie groß ist deine Macht! Du besiegst den Unbesiegbaren, bindest den Allmächtigen, vermagst mehr als zehn Jahre im Fegefeuer.‘“ 47 Zitiert bei Joseph Staber: „Ein altbayrischer Beichtspiegel des 15. Jahrhunderts (Cgm 632)“, in: Bayrisches Jahrbuch für Volkskunde 1963, S. 7-24, hier S. 9.

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ihn vor die Wahl, entweder zwei Tage im Fegefeuer gepeinigt zu werden oder die restliche Zeit des Lebens an Schmerzen und Gebresten zu leiden. Die Legende erzählt, dass der mitleidige Papst lieber das Siechtum auf sich nimmt, als auch nur zwei Tage im Fegefeuer zu sein, und deshalb Zeit seines Lebens krank war.48 Auch hier begegnet man also einem Entscheidungsangebot, dessen Funktion es ist, die Furcht vor der grauenhaften Bestrafung im Jenseits weiter zu schüren. Unverkennbar spielt auch das weit verbreitete Motiv der Fürbitte in beiden Texten eine entscheidende Rolle, auch wenn in der Erfurter Übersetzung das Losbeten nicht in die narrative Struktur des Exemplums eingebunden wird: Der Autor weckt hier vielmehr mit dem gebetsartigen Abschluss seiner Kurzerzählung die Erwartung, den Verstorbenen aus ihrem Zustand der Qual im Jenseits helfen zu können.

5. Der Limbus der kleinen Kinder War im vierten Prosaabschnitt der Consolatio Philosophiae ausgeführt worden, dass die Straflosigkeit als solche gar nicht erstrebenswert sei, wird im vierten Gedicht (IV m 4) über die unerklärliche Todessehnsucht der Menschen geklagt, die in ihrer Raserei und Mordlust den Tod häufig allzu früh herbeiführen. Die Ermahnung, die Guten zu lieben und sich der Schlechten zu erbarmen, leitet über zum fünften Prosastück (IV pr 5), mit dem die höchste Stufe der philosophischen Diskussion erreicht wird. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage nach der Theodizee: Sie wird durch eine Bemerkung des Boethius vorbereitet, der seine Auffassung kundtut, dass die ungerechte Verteilung der Güter wie Reichtum, Ehre und Macht durchaus begreiflich wäre, wenn alles auf dem Zufall beruhte. Da es jedoch eine lenkende Gottheit gibt, gilt es die Ursache für diese Unbegreiflichkeit einzusehen. Auf das nachfolgende fünfte Gedicht (IV m 5), in dem davon die Rede ist, dass Naturphänomene, deren Ursachen nicht leicht einsichtig sind, Staunen und Verwirrung erwecken können, folgt der

_____________ 48 Die Passage lautet – zitiert nach der Elsässischen Legenda aurea – folgendermaßen: „Och lesen wir daz die gotteliche stimme zuo ime sprach: ‚Do von daz du fur einen furdampten menschen hast gebetten, so wele dir vnder zwein eins: also lange du lebest siech siest vnd smerzen habest, oder aber daz du zwene tage in dem fegefur siest.‘ Do erwelte er alles sin leben in siech tagen vnd in smerczen lieber denne zwene tage die pin des fegefures liden. Do von so enwart er vncz an sin ende keinen dag nie, er hette ritten [d.h. Fieber, Y.D.] oder das gesuhte oder grossen smerczen in sime libe.“ Jacobus (de Voragine): Die elsässische Legenda aurea. Bd. 1: Das Normalcorpus. Ulla Williams und Werner Williams-Krapp (Hrsg.), Tübingen 1980, S. 229.

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längste Prosateil des vierten Buches, der weitere Belehrung über die Ursachen des scheinbaren Unglücks der Guten verspricht. Das Kapitel gliedert sich in einen theoretisch-spekulativen (IV pr 6, Z. 1-97) und in einen ethisch-moralischen Teil (IV pr 6, Z. 98-203).49 Im theoretisch-spekulativen Abschnitt legt die Philosophie dar, dass die Vorsehung als die im höchsten Herrscher aller Dinge begründete, alles ordnende, göttliche Vernunft (providentia), das Schicksal (fatum) hingegen als die den werdenden und bewegten Dingen innewohnende planmäßige Ordnung begriffen werden kann. Kennzeichnend für das wechselseitige Verhältnis von Vorsehung und Schicksal ist es, dass alles, was dem Schicksal unterliegt, auch der Vorsehung unterworfen ist und dieser wiederum das Schicksal selber untersteht, so dass es sich im Grunde genommen um zwei Aspekte ein und desselben Sachverhalts handelt.50 Das Schicksal selber kann nach Auskunft der Philosophie durch göttliche Geister, durch die Weltseele, durch die Allnatur, die Gestirnsbewegungen, die Macht der Engel oder die Geschäftigkeit der Dämonen gelenkt werden. Bildlich veranschaulichen lässt sich die angesprochene Relation durch die kosmologische Vorstellung vom ruhenden Mittelpunkt (Vorsehung) und den sich um dieses Zentrum in größeren oder geringeren Abständen drehenden Kreisen (Schicksal). Im ethisch-moralischen Teil sucht die Philosophie Boethius’ erneuten Einwand, dass dennoch eine gewisse Ungerechtigkeit bestehen bleibe, mit „kasuistischen“51 Überlegungen zu entkräften: Diese zeigen insgesamt, dass nur eine eingeschränkte menschliche Perspektive die Vorstellung, wonach die Guten wie die Schlechten wahllos von Glück und Unglück getroffen werden, evozieren kann. Nach dem sechsten Gedicht des vierten Buches (IV m 6), in dem davon die Rede ist, dass der Ma-

_____________ 49 Vgl. dazu Pierre Courcelle: La consolation de Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1963, S. 203, sowie Frank Regen: Praescientia. Vorauswissen Gottes und Willensfreiheit des Menschen in der Consolatio Philosophiae des Boethius, Göttingen 2001, S. 29. 50 Vgl. dazu die prägnante Zusammenfassung bei Gigon, Einleitung (Anm. 4), S. LIII, der auch das in der Consolatio Philosophiae angeführte Beispiel des Verhältnisses zwischen Künstler und Kunstwerk als Gleichnis für die Relation von Vorsehung und Schicksal erwähnt: „Vorsehung und Schicksal […] sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache. Was von Gott her gesehen Vorsehung heißt und an der Einfachheit und Unbewegtheit des göttlichen Seins teilnimmt, das heißt von der Welt her gesehen Schicksal und bedeutet die allseitige Verflechtung der werdenden und bewegten Dinge. So existiert das Kunstwerk sowohl als ein Ganzes und Ruhendes im Geist des Künstlers wie auch als Produkt einer Reihe von Arbeitsgängen, die notwendig aufeinander folgen, in der Realität.“ 51 Vgl. dazu Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius’ De consolatione Philosophiae, Berlin-New York 22006, S. 352.

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krokosmos ein Vorbild für das Geschehen auf Erden sei, weil die Menschen durch Frieden und die alles zusammenhaltende Liebe mit dem Schöpfer aller Dinge verbunden sind, kehrt der siebte Prosaabschnitt (IV pr 7) zum Dialog zurück: Aus dem lebendigen Wechselgespräch, in dessen Verlauf Boethius noch ein letztes Mal fragt, wie es mit dem Wert des äußeren Glücks stehe, wird von der Philosophie der Schluss gezogen, dass jedes Geschick entweder zur Vervollkommnung der Tugend oder zur Bestrafung und Besserung der Schlechten dient. Das vierte Buch endet mit einem siebten Gedicht (IV m 7), in dem von drei mythischen Beispielen (Agamemnon, Odysseus, Herakles) erzählt wird, die alle veranschaulichen, dass der Mensch den höchsten Lohn nur durch mühsame Arbeit erwirbt. Die in der Consolatio Philosophiae im sechsten Prosastück ausgeführte Vorstellung, wonach die Vorsehung dem ruhenden Mittelpunkt einer Kugel, das Schicksal hingegen den sich in größerem oder geringerem Abstand um diesen Mittelpunkt drehenden Kreisen gleicht, bildet in der Erfurter Übersetzung den Auftakt zu einem weiteren langen Exkurs, in dessen Verlauf das seit dem Frühchristentum heftig diskutierte Thema der ohne Taufe verstorbenen Kinder aufgegriffen wird. Die Interpolation lässt sich grob in drei Teile aufgliedern: Während in einem ersten Abschnitt gesellschaftliche und sittliche Missstände für den Tod der Kleinkinder verantwortlich gemacht werden, sucht der Autor in einem zweiten Teil die philosophische Diskussion über das Verhältnis von Vorsehung und Fatum aufzugreifen und in seine Überlegungen mit einzubeziehen. In der nachfolgenden dritten Passage geht es darum zu begründen, weshalb der Tod eines ungetauften Kleinkindes im Hinblick auf sein jenseitiges Schicksal um jeden Preis verhindert werden muss. Damit deutlich wird, auf welche Art und Weise die angesprochenen Themen mit dem Argumentationsgang der Consolatio Philosophiae in Verbindung gebracht werden, gilt es zunächst die kirchliche Lehre vom limbus puerorum als einem Ort minderer Qual für die ungetauften Kinder in Übersicht zu bringen. Als Limben wurden diejenigen Randbezirke der Hölle bezeichnet, von denen man glaubte, dass sich dort einerseits die vor der Himmelfahrt Christi nicht zur Gottesschau gelangten verstorbenen Gerechten, andererseits die ungetauft verstorbenen Kinder aufhielten. Dabei gründet die Vorstellung vom limbus puerorum in erster Linie auf dem in Joh 3,5 grundgelegten Gedanken, dass es der Taufe bedarf, um gerettet zu werden.52

_____________ 52 Einschlägige Lexikonartikel zur Lehre vom limbus puerorum: Leo Scheffczyk: Art. „Limbus“, in: Lexikon für Theologie und Kirche 6/1997, Sp. 936f.; Anton Ziegenaus: Art. „Limbus“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 5/2002, Sp. 377; J. Bellamy: Art. „Baptême“ (Sort des enfant morts sans), in: Dictionnaire de théologie catholique

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Von kirchlicher Seite wurde deshalb seit den Anfängen des Christentums immer wieder auf die Notwendigkeit der Taufe hingewiesen: Als besonders wirkmächtig erwies sich die theologische Position des Augustinus, der im Gegensatz zu den Pelagianern, die den Kindern das ewige Leben zusprachen, davon ausging, dass die ungetauft verstorbenen Neugeborenen aufgrund ihrer Erbsündhaftigkeit der ewigen Verdammnis in der Hölle anheim fielen. Diese strenge Auffassung hat Augustinus später etwas abgeschwächt, indem er die Möglichkeit in Betracht zog, dass für die ungetauft verstorbenen Kinder nur die leichteste Form der Höllenstrafen, eine poena mitissima, vorgesehen sei.53 Diese Abschwächungstendenz setzte sich im Laufe der Theologiegeschichte54 fort: So konnte insbesondere Thomas von Aquin (1224/25-1274) die Auffassung vertreten, dass die

_____________ 2/1905, Sp. 364-378; A. Gaudel: Art. „Limbes“, in: Dictionnaire de théologie catholique Sp. 760-772. – Mit welcher Ernsthaftigkeit und Intensität man sich mit der Taufe der Neugeborenen beschäftigte, zeigt die Untersuchung von Didier Lett: L’enfant des miracles. Enfance et societé au Moyen Âge (XIIe–XIIIe siècle), Paris 1997, S. 205-218. Zur Entwicklung der kirchlichen Lehre und zur Darstellung der Vorhölle in lehrhaften mittelalterlichen Texten vgl. Dinzelbacher, Die letzten Dinge (Anm. 38), S. 121-125, sowie Rathjen, Höllenvorstellungen in der mittelalterlichen Literatur (Anm. 39), S. 15-21. Vgl. ferner auch Marcus Landau: Hölle und Fegefeuer in Volksglaube, Dichtung und Kirchenlehre, Heidelberg 1909, S. 199-203. 53 Bellamy, Baptême (Sort des enfant morts sans) (Anm. 52), Sp. 367f. Aurelius Augustinus Hipponensis: Enchiridion, sive de fide, spe et charitate. Patrologiae cursus completus, series Latina, Bd. 40, J. P. Migne (Hrsg.), Paris 1961, Sp. 275: „Quorum damnatorum futura sit mitissima pœna. Nec prima tamen qua suum corpus anima relinquere cogitur, nec secunda qua pœnale corpus anima relinquere non permittitur, si nemo peccasset. Mitissima sane omnium pœna erit eorum qui præter quod originale traxerunt, nullum insuper addiderunt: et in cæteris qui addiderunt, tanto quisque tolerabiliorem ibi habebit damnationem, quanto hic minorem habuit iniquitatem.“ (‚Für diese Verurteilten gilt die mildeste Strafe. Jedoch würde weder die erste, durch welche die Seele ihren Körper zu verlassen gezwungen ist, noch die zweite, deretwegen der Seele den Strafleib zu verlassen nicht gestattet wird, einem Menschen zustoßen, wenn er nicht gesündigt hätte. Die mildeste Strafe wird gewiss denjenigen zuteil werden, die außer dem, was sie als Erbsünde mitschleppten, nichts hinzugefügt haben. Und unter den Übrigen, die etwas hinzugefügt haben, wird dort jeder eine umso eher erträgliche Verurteilung haben, je geringere Ungerechtigkeit er hatte.‘) 54 Die verschiedenen kirchlichen Lehrentscheidungen und Glaubensbekenntnisse sind dokumentiert bei Denzinger, Kompendium (Anm. 42). Vgl. beispielsweise DH 858: 2. Konzil von Lyon (14. Ökum.), 7. Mai-17. Juli 1274: „Illorum autem animas, qui in mortali peccato vel cum solo originali decedunt, mox in infernum descendere, poenis tamen disparibus puniendas.“ Übersetzung von Denzinger: „Die Seelen derer aber, die in einer Todsünde oder mit einer Ursünde verscheiden, steigen alsbald in die Hölle hinab, sind jedoch mit ungleichen Strafen zu bestrafen.“ Vgl. ferner auch DH 926, 2626.

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Kinder eine natürliche Seligkeit erlangen können, obgleich sie zu einer übernatürlichen Erkenntnis des bonum perfectum aufgrund des fehlenden Glaubens nicht fähig sind.55 Dennoch war die Angst davor, dass ein ungetauft verstorbenes Kind aufgrund der Erbsünde der ewigen Verdammnis anheim fallen könnte, so groß, dass man von kirchlicher Seite offenbar sogar zu gewissen Zugeständnissen bereit war: Untersuchungen von Didier Lett haben ergeben, dass besonders im 12. und 13. Jahrhundert die Konzessionen so weit gingen, dass die Taufe eines Neugeborenen auch in Abwesenheit eines Priesters durch einen Laien (sogar durch die Eltern) durchgeführt werden konnte.56 Um das Heil des Kindes zu sichern, wurde

_____________ 55 Vgl. dazu Thomas von Aquin: „De malo“, in: The De malo of Thomas Aquinas with facing page translation by Richard Regen, edited with an introduction and notes by Brian Davis, Oxford 2001, Questio quinta, Articulus tertius, S. 422: „Possumus […] mediam viam tenere, ut dicamus quod anime puerorum naturali quidem cognitione non carent, qualis debetur anime separate secundum suam naturam, set carent supernaturali cognitione que hic in nobis per fidem plantatur, eo quod nec hic fidem habuerunt in actu, nec sacramentum fidei susceperunt. Pertinet autem ad naturalem cognitionem quod anima sciat se propter beatitudinem creatam, et quod beatitudo consistit in adeptione perfecti boni. Set quod illud bonum perfectum ad quod homo factus est, sit illa gloria quam sancti possident, est supra cognitionem naturalem. Vnde Apostulus dicit I ad Cor. II quod ‚nec oculus vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascendit, que preparavit Deus diligentibus se,‘ et postea subdit ‚Nobis autem revelavit Deus per Spiritum suum.‘ Que quidem relevatio ad fidem pertinet. Et ideo se privari tali bono anime puerorum non cognoscunt, et propter hoc non dolent; set hoc quod per naturam habent, absque dolore possident.“ – (‚Wir können […] einen mittleren Weg einschlagen, so dass wir sagen, dass die Seelen der Kinder zwar nicht einer natürlichen Erkenntnisfähigkeit ermangeln, wie sie für die abgesonderte Seele gemäß ihrer Natur bestimmt ist; vielmehr ermangeln sie der übernatürlichen Erkenntnis, die in diesem Leben durch den Glauben uns eingepflanzt ist, so dass sie weder in diesem Leben den Glauben tatsächlich besitzen noch das Sakrament des Glaubens empfangen haben. Es gehört nämlich zu der natürlichen Erkenntnis, dass die Seele sich als um der Glückseligkeit willen geschaffen erkennt und dass die Glückseligkeit in der Aneignung des vollkommenen Gutes besteht. Dass aber jenes vollkommene Gute, zu dem hin der Mensch geschaffen ist, jene Ehre sei, die die Heiligen besitzen, geht über die natürliche Erkenntnis hinaus. Daher sagt der Apostel 1 Kor 2,9: „Kein Auge hat gesehen und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz ist gekommen, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.“ Und nachher fügt er hinzu: „Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist.“ Diese Offenbarung freilich hängt vom Glauben ab. Und deshalb wissen die Seelen der Kinder nicht, dass sie ein solches Gut nicht besitzen, und deswegen leiden sie auch nicht. Das aber, was sie gemäß ihrer Natur besitzen, besitzen sie ohne Leiden.‘) 56 Letts Ausführungen zeigen, dass in manchen Statuten offenbar eine bestimmte Rangfolge festgelegt wurde: Wenn kein Priester anwesend war, sollte der Taufri-

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in synodalen Statuten der Taufritus präzise festgelegt, damit die Erwachsenen die Taufformeln und die Gepflogenheiten der Wassertaufe im gegebenen Moment auch richtig anwenden konnten. Von kirchlicher Seite wurde im 13. Jahrhundert offiziell empfohlen, eine bereits verstorbene Gebärende im Notfall aufzuschneiden, um das möglicherweise noch lebendige Kind zu taufen. Seit dem 12. und 13. Jahrhundert war es üblich, die ungetauften Kinder am Rand des Friedhofs, also fast oder ganz außerhalb der Kirchhofsmauern zu begraben.57 Weit verbreitet war der Glaube, dass kindliche Wiedergänger als verstorbene Seelen endlos umherirren und keine Ruhe finden.58 Verschiedene Textzeugnisse besonders der hoch- und spätmittelalterlichen Dichtung belegen zudem, dass die Vorstellung von einem limbus puerorum nicht nur hochrangige Kirchenvertreter, sondern auch zahlreiche mittelalterliche Autoren beunruhigt hat. So wird beispielsweise in dem um 1180 entstandenen Lehrgedicht Anegenge dargelegt, dass die ungetauft verstorbenen Kinder zweifellos ins Feuer kommen, und zwar unter anderem auch deshalb, weil sie, wenn sie nicht gestorben wären, sich bestimmt auf die Seite Luzifers geschlagen hätten.59 Es ist kein Zufall, dass der Exkurs über die beunruhigenden Vorstellungen von der ewigen Verdammnis der ungetauft verstorbenen Kinder in der Erfurter Übersetzung an einer Textstelle eingefügt wird, an der von dem wechselseitigen Verhältnis von Vorsehung und Schicksal die Rede ist.

_____________ tus von einem Mann, notfalls von einer Frau durchgeführt werden. Erst in letzter Instanz durften die Eltern des Neugeborenen die Aufgabe übernehmen. Lett, L’enfant des miracles (Anm. 52), S. 208. 57 Ebd., S. 211. 58 Ebd., S. 213. 59 Das Anegenge. Textkritische Studien. Diplomatischer Abdruck. Kritische Ausgabe. Anmerkungen zum Text von Dietrich Neuenschwander, München 1966, S. 143f., V. 874-878: „[…] und wie diu armen chindelîn/ daz viuer haben gechoufet,/ diu dâ ungetoufet/ scheident von hinnen,/ des sul wir nû beginnen“ (‚[…] wir werden nun von den armen Kindern erzählen, die im Jenseitsfeuer leiden und ungetauft verstorben sind‘). – V. 889-899: „nû vernemt waz diu werch sîn,/ daz diu armen chindelîn/ diu nôt haben erarnet,/ daz sich got uber siu niht erbarmet:/ siu heten mit ir missetæten,/ ob siu () gelebt hæten,/ gechoufet doch die hellen!/ und daz diu buoch daz wellen,/ ez sî um siu alsô getân,/ sie wæren lucifern bi gistân./ Ob er sis hete gebeten“ (‚Nun vernehmt, welches die Vergehen sind, mit denen die Kinder das Unglück verdient haben, dass Gott sich nicht über sie erbarmt: Sie würden mit ihren Übeltaten, wenn sie weitergelebt hätten, gleichwohl die Höllenpein erworben haben. Und in den Büchern steht geschrieben, dass sie Luzifer beigestanden wären, wenn er sie darum gebeten hätte.‘). Weitere Beispiele aus anderen Texten sind zusammengestellt bei Dinzelbacher, Die letzten Dinge (Anm. 38), S. 121-125, sowie Rathjen, Höllenvorstellungen in der mittelalterlichen Literatur (Anm. 39), S. 15-21.

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Die Philosophie führt im sechsten Prosastück die oben bereits erwähnte, kosmologisch veranschaulichte Vorstellung, wonach die Vorsehung als der ruhende Mittelpunkt einer Kugel, das Schicksal hingegen als die in größerem oder geringerem Abstand um den Mittelpunkt sich drehenden Kreise zu verstehen sei, weiter aus. Zudem erläutert sie, dass nicht nur die Himmelsbewegungen, sondern auch der Wechsel von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, von Wolken, Regen, Schnee und warmer oder kalter Luft mit den Wirkungen des Fatums in Zusammenhang zu bringen sei: Dye dinge, dye allernest der ersten gotheyt staathefftlich angehefftet syn, dye vorgan dye schickunge des bewegelichen fati. >4 p. 6,15@ Want gan vyel cirkel vmb eyn punct, so ys de allerbynneste der neste by dem eynveldigen puncte vnd gelichet sich dem, want aß em dat punct ys, so ys he den andern cirkeln, dye van enbussen vmb en hergan aß eyn mittelpunct; de allerverste cirkel, de de großeste ys, so de verner van dem mittel komet, yo he mer stede begriffet dar yn, he van dem mittel get. Auer voget sich, wat by dat mittel dat wyrt dar czü geczwungen, dat ed komet in dye eynveldicheyt vnd hort vff bewegelich czü sin; wat in gelicher wyse, wat allervernst van dem ersten syn, dat ys durch dat fatum leuffet de hymel vmbe, wyrt dye nacht, wirt de dach, komet de somer, de winter w, werden dye wolke, komet de ren, komet der schnye, ys dye lucht warm och calt.60

Der vieldiskutierte neuplatonische Charakter dieses Bildes61 scheint den mittelalterlichen Übersetzer an dieser Stelle in keinerlei Art und Weise zu interessieren. In seinen weiterführenden Überlegungen, die das Problem der ohne Taufe verstorbenen Kinder fokussieren, gibt er vielmehr seiner Auffassung Ausdruck, dass nicht so viele in dem „Acker der Menschheit“62 empfangene Früchte ohne die heilige Taufe verderben würden,

_____________ 60 Fol. 184v. Im Anschluss an diese Textstelle folgt eine kurze lateinische Textpassage: „liber quintus et vltimus de consolatione philosophie in quo philosophia vult soluere quedam dubia suam determinationem de fato et diuina prouidencia consequentia; Et dividitur iste liber principaliter in duo >sic@, primo querit vtrum sit liberum arbitrium, 2o ayt de conveniencia diuina ibi: animaduerto, inquam; prima pars dividitur in 4or partes videlicet ex processu Quantum ad primum dicit.“ – (‚Das fünfte und letzte Buch über den Trost der Philosophie, in welchem die Philosophie einige Zweifelsfälle hinsichtlich ihrer Bestimmung bezüglich des Geschicks und in Folge der göttlichen Vorsehung lösen will; und dieses Buch ist ursprünglich zweigeteilt: erstens fragt es, ob es den freien Willen gibt, zweitens spricht es über die göttliche Zustimmung, an dieser Stelle: Ich nehme wahr, sagte ich […]. Der erste Teil ist in vier Teile eingeteilt, freilich davon ausgehend, wieviel sie zum ersten sagt.‘). Ich danke Daniela Mairhofer (Bodleian Oxford) für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Transkription dieser lateinischen Textpassage. 61 Vgl. dazu Regen, Praescientia (Anm. 49), S. 34-36. Auch Pierre Courcelle bespricht die Textstelle und führt dabei aus, dass der Vergleich auf eine Stelle bei Proklos (De decem dubitationibus) zurückgeführt werden kann. Courcelle, La consolation de Philosophie dans la tradition littéraire (Anm. 49), S. 206f. 62 Vgl. dazu unten Appendix 2.

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wenn sich Mann und Frau in rechtem Glauben an das eheliche Bündnis hielten, die schwangeren Frauen einen angemessenen Lebensstil ohne übermäßige Trink- und Essgelage pflegten und sich zur Zeit der Geburt eine gute Hebammenpflege sicherten. Vehement bringt er seine Empörung darüber zum Ausdruck, dass Mütter und Hebammen die Seelen so leicht dem Fatum preisgeben, so dass Gott so manche Seele verliert, die sich nicht mehr mit ihm vereinigen kann. Ausgehend von dieser allgemeinen Klage, die moralisch-sittlichen Zustände betreffend, hebt der Autor zu einer nüchternen Schilderung derjenigen Phänomene an, die als Wirkungen des Fatums auf Erden begriffen werden können: Zur Schicksalsordnung gehört es beispielsweise, dass die Tiere einander lieben, säugen und aufhelfen oder sich in ihrer Artenvielfalt im Wasser, auf der Erde und in der Luft ausbreiten. Das Fatum ist ebenso der Grund dafür, dass die Tiere einander verfolgen, genauso wie die Menschen durch mancherlei List der Teufel ihre Redlichkeit aufgeben und zu Bestien werden können. Dadurch, dass die Engel als Lenker des Schicksals in Frage kommen, geschieht es aber auch, dass die Menschen ihre Redlichkeit behalten und die ewige Freude nicht allein erwerben, sondern auch Tag und Nacht vermehren können. Wesentliches Anliegen des Autors ist es in diesem Zusammenhang zu zeigen, dass Gott die Menschen alle gesund machen will und keinen Menschen verdammt, da ein jeder Mensch nur sich selber verdammt. Er vertritt dabei die Auffassung, dass sowohl die Menschen, die nicht in den Himmel gelangen wollen, als auch die ohne Taufe verstorbenen Kleinkinder unzweifelhaft der Verdammung anheim fallen. Folgerichtig wird im Schlussteil der Interpolation die Forderung erhoben, dass man sich bei der Geburt der Kinder nicht so sehr um ihren Leib, sondern vielmehr um ihre Seele kümmern sollte, da die Seele gegenüber dem Leib einen höheren Wert besitze. Denn die Seele, die „in einem Augenblick“ erschaffen worden ist, ist der göttlichen Vernunft teilhaftig und verfügt über ein ewiges Wesen, während der Körper von der „stinkenden Erde“ seinen Ursprung nimmt und auch wieder dahin zurückkehren muss. Abschließend ist vom Leiden Christi die Rede, der durch seine auf Erden erlittene Pein die Genesung der unsterblichen Seele herbeigeführt hat. Der Exkurs über das Problem der ohne Taufe verstorbenen Kinder veranschaulicht, dass der Verfasser der Erfurter Übersetzung, ausgehend von der philosophischen Diskussion des vierten Buches, einen eigenen Weg hinsichtlich der ihn bedrängenden Fragen gesucht hat. Dennoch muss letztlich offen bleiben, auf welche Art und Weise sich die vielschichtigen Reflexionen mit dem Gedankengang der Consolatio Philosophiae in Zusammenhang bringen lassen. Denn obwohl der Verfasser der Erfurter Übersetzung die theoretisch-spekulativen Erörterungen aufgreift, indem er, ausgehend von dem Bild der sich um einen gemeinsamen Mittelpunkt

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drehenden Kreise, darlegt, dass die Vorsehung durch verschiedene Möglichkeiten der Einwirkung das Schicksal in Gang bringen kann, bleiben die ethisch-moralischen Erwägungen an dieser Stelle weitgehend außer Acht: Auf die in der Consolatio Philosophiae ausgeführten Erwägungen, wonach die Menschen letztlich nicht in der Lage sind, über Gerecht oder Ungerecht ein zutreffendes Urteil zu fällen, geht der mittelalterliche Autor nicht ein. Während aus dem Lehrvortrag der Consolatio Philosophiae der Schluss zu ziehen ist, dass Gott für jedes menschliche Leben im Voraus das Richtige bedacht hat, fokussiert der Verfasser der Erfurter Übersetzung den Leidensweg und die Erlösungstat Christi, um die Zweifel an der Heilsmöglichkeit der durch die Erbsünde belasteten Seele auszuräumen. Ob die Argumentation der Consolatio Philosophiae an dieser Stelle dazu dienen soll, für ein so schreckliches Ereignis wie den Tod eines ungetauften Kleinkindes eine sinnvolle Begründung zu liefern, muss als eine offene Frage im Raum stehen bleiben. Abschließend gilt es, die Leitgedanken der referierten Exkurse der Erfurter Übersetzung kurz zusammenzufassen: Die besprochenen Interpolationen veranschaulichen erstens die Einordnung des Siegessymbols der antik-heidnischen Wettspiele in eine christliche Vorstellungswelt, zweitens die thematische Verknüpfung des in der Consolatio Philosophiae ausgeführten Paradoxons für den Strafvollzug mit der Sündenreinigung im Feuerjenseits und drittens die Verbindung der theoretisch-spekulativen Erörterungen über das Verhältnis von Providentia und Fatum mit dem Problem der ungetauft verstorbenen Kinder. Alle drei Exkurse, die nicht an beliebiger, sondern an sorgsam ausgewählter Stelle in den Text eingefügt werden, bringen die intensive Auseinandersetzung des Übersetzers von MS Hamilton 46 mit dem Text der Consolatio Philosophiae zum Ausdruck. Es zeigt sich überdies, dass der Argumentationsgang des vierten Buches in verschiedener Hinsicht dazu dient, Trost zu vermitteln und zu einem Leben anzuspornen, das ganz auf das Evangelium ausgerichtet ist: Während die mit dem Siegeskranz in Verbindung stehenden Überlegungen in Erinnerung rufen sollen, dass das höchste Gut nur durch Christusnachfolge und Ausharren im Leid erreicht werden kann, dient der Exkurs über die Qualen im Fegefeuer dazu, Sündenfurcht, Bußbereitschaft und Besserungswillen als die verbindlichen Lebensregeln zu predigen. Als Trostmoment wird hier eine Heilsmöglichkeit angesprochen, die den Aspekt der Fürbitte in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Ein eindringliches Plädoyer dafür, dass man bei der Geburt eines Kindes nicht so sehr um sein irdisches Fortkommen, sondern vielmehr um sein Seelenheil besorgt sein sollte, ist Thema des dritten Exkurses, der mit dem abschließenden Hinweis auf die Erlösungstat Christi auf eine weitere Heilsmöglichkeit aufmerksam macht.

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Appendices Die beiden im Aufsatz besprochenen Interpolationen werden nach den folgenden Grundsätzen dargestellt: Bei den durchgestrichenen Wort- oder Satzteilen handelt es sich um Schreibfehler, die der Autor in MS Hamilton 46 selbst getilgt hat. Syntaktisch unvollständige Abschnitte werden mit *Asterisken*, die an den Seitenrand oder zwischen die Textspalten geschriebenen Anmerkungen hingegen in Klammern wiedergegeben. Die in [eckigen Klammern] abgedruckten Satzteile markieren notwendige syntaktische Ergänzungen in der neuhochdeutschen Übersetzung, die der Rekonstruktion des intendierten Sinngehalts dienen. Appendix 1: Exkurs über die Qualen des Fegefeuers Fol. 180r: ]… So groß lon hayt dye dogent, so große pyn hayt och dye vndogent na dode. Darvmbe enfraüwen sich nicht große sunder, dye sulche sünde han gedan. Darvmbe men plach vnd noch pleget dye menschen czü steynigen, czü verbern, czü hangen, leuendich czü begraben, czü entheübeden, czü vyrteln, czü verdrenken wan sy bog, czü lemen an fussen anhenden, czü vorschemen myt horen, affsnyden myt dem schantsteyn, myt backen durch czü born, myt czü der stupe czü hangen. Abe sye krygen wurden vnd werden, dye dye selbe oueldat begangen han, erfraüwen sich nicht, abe sye vngepyniget blyben. Want de richter deß knechte all richter syn, dye vff dem ertriche syn, sut eynes itzlichen menschen oueldat, wo he in der werlde ys, vnder wat rychterß he sittzet vnd wat der van syn knechten, dyewyl he vff erden ys, vngepyniget blybet vnd he och seluen nicht enpyniget na rade der genedygen richter der geystlicheyt. Och deß strengesten richterß knechten syn stede besittzede vnd vngepyniget van erden vert vnd vor en seluen vmbe orteyl komet aß eyn itzlich mensche moß, he sy gud ader bose, vn buswerdiger ader sunder beyder kun, iung vnd alt, so wirt em vor dye vngepynigeden sünde, der keyn vngepyniget mach blyben, aß vß wyset syn gerechticheit. Dye och keyn dogent lesset vngelonet. So swar pyn czü gewyst, dat he wolde, dat he ser gepyniget wer vff erden, ader dat he noch mochte lyden in sym lycham alle pyn der erden lange czijt, vor eyn dach. Dye cleynste pyn deß vegefurß oberwint alle pyn der erden. Eyn aügenblick dar gewest ys großer pyn dan sante laurentius leyt vff dem gloendigen roster. Eyn Vor eyn dach in dem vegefur czü syn kur eyn sele, dye dar ys, hundert yar in dem lycham pyn czü lyden, wye groß dye wer vff erden. Dat fur, dat dye vnreyn selen veget, ys widder dießem vß dermaße heyß, dyt ys wydder dem aß waser. Darvmbe we deß vegefurß beydet, sich nicht enpyniget, syn

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sele van dem drecke der sunde nicht enreyniget in dem vegefur wyl reyn werden, de dut ser dorlich. Eyn tran van trürigem hertzen vmbe dye sunde an gotlicher lyebe gegossen, reyniget me dye sele dan dat vegefur x jar Fol. 180v: Albertus magnus schribet, dat war ys, van eym man, war crank vnd kor vor syn crankeyt, dye he eyn yar solde lyden, iii dage in dem vegefur czü syn. Do he der eyn dar yn waz gewest, do kor he vor dye andern czwen dage widder dye crankeyt czü lyden vff erden vnd vyel swarer nicht alleyn eyn yar, sunder bis an den iungesten dach, an dem de strenge richter de keyn sunde vngepyniget lesset, keyn dogent vngelonet, dye dan pyniget vnd lonet dort swerlicher vnd besser dan hie. Wyl hymel vnd erden entfengen, in fur komen, alle selen czü den lychamen dan komen vnd wysen dye liffhaber der sunde myt den duveln in eyn ewich fur vnd dye lyeffhaber der dogent nemen in ewige vreüde. Darvmbe hasse eyn itzlich mensche dye sunde vnd habe lyeff dye dogende, vff dat he na dode de gelidden moß syn vnd belder gelidden moß werden, dan sich ymant vormüden necht, enkryege pyn sunder vreude vnd dye ewichlich behalden, des helffe vns allen samen, de vns geschaffen hayt. Amen. Übersetzung Appendix 1 Fol. 180r: Einen so großen Lohn erfährt die Tugend und ein so großes Leid erfährt die Untugend nach dem Tode. Deshalb sollen sich große Übeltäter, die solche Sünde getan haben, nicht erfreuen. Deshalb pflegte man und pflegt noch heute die Menschen zu steinigen, zu verbrennen, zu erhängen, lebendig zu begraben, zu enthaupten, zu vierteilen, zu ertränken, an Händen und Füßen zu fesseln, mit Unrat zu beschmieren, mit dem Schandstein aufzuschneiden, mit Helmschlägern zu durchbohren oder an dem Schandpfahl aufzuhängen. Diejenigen, die solche Übeltat begangen haben, sollen sich nicht freuen, wenn sie unbestraft bleiben. Denn der Richter, dessen Knechte alle Richter sind, die auf dem Erdreich leben, sieht eines jeden Menschen Übeltat, wo auch immer er in der Welt ist, unter welchem Richter er auch sitzt, und [er sieht es auch], wenn einer von seinen Knechten, während er auf Erden lebt, nach dem Rat der gnädigen Richter der Geistlichkeit unbestraft bleibt. Wenn einer auch den Platz des strengsten Richters besäße und unbestraft die Erde verlässt und wenn er dann vor ihn [=Gott] selber wegen des Urteils treten muss, so wie ein jeglicher Mensch, sei er gut oder böse, unschuldig oder sündig, männlich oder weiblich, jung oder alt, es tun muss, so wird er wegen seiner unbestraften Sünde [zur Rechenschaft gezogen werden], weil keiner

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unbestraft bleiben kann, wie seine Gerechtigkeit lehrt. Die göttliche Gerechtigkeit lässt aber auch keine Tugend ungelohnt. Eine so schwere Strafe [wurde ihm] zugewiesen, dass er sich wünschte, dass er auf Erden sehr bestraft worden wäre, oder dass er in seinem irdischen Körper alle Pein der Erde lange Zeit erdulden wollte [eher, als auch nur einen Tag die jenseitige Strafe auf sich zu nehmen]. Die kleinste Pein des Fegefeuers ist bei weitem viel größer als alle Pein auf Erden. Einen einzigen Augenblick dort zu sein bedeutet einen viel größeren Schmerz als das Leid, das der heilige Laurentius auf dem glühenden Eisen erlitt. Eine [arme] Seele zog es vor, hundert Jahre in dem Körper alle Pein der Erde, wie groß sie auch wäre, zu erleiden, als auch nur einen Tag im Fegefeuer zu sein. Das Feuer, das die unreinen Seelen fegt, ist so übermäßig heiß, dass [das irdische Feuer] gleichsam wie Wasser erscheint. Deshalb handelt derjenige sehr töricht, der auf das Fegefeuer wartet, keine Buße tut, seine Seele nicht von dem Dreck der Sünde reinigt und dann meint, dass er gereinigt aus dem Fegefeuer hervorgehen könne! Eine Träne, die von einem traurigen Herzen wegen der Sünde und im Gedenken an die göttliche Liebe vergossen wird, reinigt die Seele mehr, als das Fegefeuer es in zehn Jahren tun würde.

Fol. 180v: Albertus Magnus schreibt [die wahre Geschichte], dass ein kranker Mann, der ein Jahr lang seine Krankheit erleiden sollte, sich stattdessen einen dreitägigen Aufenthalt im Fegefeuer erwählte. Als er nur einen Tag im Fegefeuer gewesen war, da bevorzugte er es, für die anderen zwei Tage wiederum die Krankheit auf Erden zu erdulden, und [er war nun gewillt], diese noch viel schwerer nicht allein ein Jahr, sondern bis zum Jüngsten Tag, an dem der Richter keine Sünde unbestraft und keine Tugend ungelohnt lässt, zu ertragen. Dort [=im Jenseits] bestraft er die Sünde härter und belohnt die Tugend großzügiger als hier. [Er] will Himmel und Erde reinigen, alle Seelen kommen dann ins Feuer zu den Körpern. Er wird die Liebhaber der Sünde mit den Teufeln in ein ewiges Feuer weisen und die Liebhaber der Tugend zu ewiger Freude emporheben. Deshalb soll ein jeglicher Mensch die Sünde hassen und die Tugend lieb haben, auf dass nach dem Tode, nach dem gelitten sein muss und viel eher gelitten sein muss, als es jemand vermuten könnte, er [=der Mensch] nicht Pein, sondern Freude erwerben werde. Derjenige, der uns geschaffen hat, möge bewirken, dass er und wir alle diese ewiglich behalten werden. Amen.

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Appendix 2: Exkurs über die ohne Taufe verstorbenen Kinder Fol. 185r: Gingen man vnd wyff in dem rechten gelaüben in der hilligen ee vmbe czelinge eyner frucht gode czü lobe czü samen vnd nicht in vngelauben bussen der hilligen ee vmbe, genüchte eres fleyssches alleyn vnd hetten sich dye fraüwes namen myt der entfangen frucht in der dracht myt essen vnd drinken, messig in arbeyde, in bewaringe vor großem stanke, sunder springen ᧆn dyeff lachen vnd bewarden sich yn der czijt der geburt myt gelerden bademodern, alse sye dan solden so geuen got syn geburde, dat nicht so vyel entfangen fruchte in dem acker der menscheyt verdurben vnd an dem arn vnd büssen dem acker sunder dye hillige dauffe vordurben. Got vorluset groß an eyner sele, dye des sachwalden syn, han große not sich myt gode czü voreinigen. *Dat sye moder ader bademoder durch dat fatum brenget, dye erde groß vnd frucht werden, dye beüme gron und ryche van frücht, och val vnd bloß van frücht vnd badern.* Durch dat fatum mengen sich dye dyr vnd eyn nymmet des andern blüt, aß dye erde den samen. Da van ander dyre werden alse von dem samen dye frucht. *Durch dat fatum han dye dyren czü den dyre*, van en komen liebe vnd seugen sye, eßen sye >sic@, vnd helfen en vffe. Durch dat fatum nysten dye vogel vnd legen so eyger vnd setten sich dar vff vnd durch dat fatum wirt van dem wyssen eyn leuendich dyr vnd de doder ys syn spyse. Durch dat fatum wirt van eynem samen vnder den dyren nü nam eyn he, nü eyn sye. Durch dat fatum han dye dyr mangerhande wyse in dem wasser, der erden, der lucht. Durch dat fatum meren sich dye dyr mangerhande. Durch dat fatum vervolget eyn vnredelich dyr dat ander vnd eyn flut dat ander. Aß dan och dat fatum wirt gedryeben durch mangerhande list der düvel. So geschüt och, dat dye menschen, dye er redelicheyt auergeuen vnd gelich den bisten werden, mangerhande dryben, da myt sye dye ewige pyn nicht alleyn erwerben, sunder och degelich stedes dach vnd nacht meren dye och. Want dat fatum durch engel Fol. 185v durch eren rad wirt gedryben, wan sye er redelicheyt behyelden, sich der gebrüchten, nicht biste snoder dan byste vnd och nicht enwurden, wol mochten ewyge vreüde nicht alleyn erwerben, sunder sye ach dach vnd nacht meren. Dar üß ys czü merken, dat got de dye menschen all gesunt wyl werden, keynen menschen verdamet, sunder dat sich eyn itzlich mensche selben vordamet sic!@ durch nicht wyllen den hyemel vnd wyllen dye helle als alle sünder, want we sunde dut, de enwyl nicht den hyemel he wyl dye helle. Sunde ys eyn susse arbeyt, dye ewige pyn ys er lon, aß vreude ys der dogede lon. Want sye vngeleubich vnd ader sunnich syn darvmbe groß

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oueldat began an gode vnd den kindern, want sye berauben gode ewiger er, sye doyn en vorliesen syn lyden vnd beraüben dye kinder ewiger freude vnd brengen sye czu ewiger bedroffenisse.> Antwer: Dye menschen vordamen sich durch nicht wyllen den hyemel. Alse dye armen kinder dye vngedaufft sterben, want dye enwyllen nicht den hymel durch sich, want sye enwyssen noch nicht dar van vnd ach nicht durch dye ghien, den dat czü geburde, dat sye der kinde beste deden, vyl bilcher an der sele, dan an dem lyebe, vyl bilcher myt dem ewigen gude, dan myt dem vorgenclichen gude, want en dan durch dat fatum, dat got furet czü geburt, dat sye dye kinder so lieff haben. Darvmbe so großen sorge han vnd so vyel arbeydeß doyn czü nüttze erer lycham, so geburt en vyl mer, dat sye sye lyeff haben, vor sye sorgen vnd arbeyden czü nüttze erer sele. Want dye sele ys besser dan, gode werder dan de lycham. Dye sele hayt czwar yn eym augenblicke widder gemacht, darvmbe ys he geschaffen na enselben er vornunfft vnd ewich wesen gegeuen. *Den lycham van der stinkenden erden, dar he widder czü moß werden.* Dye sele solde komen czü den hilligen engeln. De lycham moß komen czü den wormen. Dye sele waz dem meyster aller dinge durch ere yetkeyt vordorben, darvmb sye ewych leyt solde han. Dat erbarmede en vnd nam an sich lyff vnd sele vnd arbeyde lange vnd leyt vyel an dem lybe vnd der sele, vff dat he dye vordorben sele, syn werk, widder gemachte. So lyeff hatte he sye, so wert hyelt he sye. Czü lest gaff he myt großem pyn syn lyff vnd och syn sele vor dye vordorben sele. Also wart ed em gar sur vnd kostlich, dat he dye verdorben sele widder czü rechte brachte. Dat schaffen der sele wart em nicht sur, dat widder machen ging em swerlich czü. Dat schaffen der lycham wart en ny sur, dat eyn lycham van der blude wyrt, ys em so swar als eyn manheubet van myt syner czübeher, van eym cleynen korn wirt eyn halm, mit dem ar van eym cleyn korn eyn groß baum, van eym cleynen korn dye lycham syn van der oueldat da van dye sele vordarff och verdorben, he wyl sye ach widdermachen, dat an dem dage, de aller dage de leste syn sal vnd dat enwyrt em nicht sur. Hayt he all vordorben lycham, dye sele edeler dan de lycham. Übersetzung Appendix 2 Fol. 185r: Wenn Mann und Frau in aufrichtigem Glauben wegen der Vermehrung einer Frucht zum Lobe Gottes im heiligen Ehestand und nicht in Unglauben außerhalb des heiligen Ehestandes zusammen gehen würden, wenn sie an ihrem Fleisch allein genug hätten, wenn sich die Frauen mit der empfangenen Frucht während der Schwangerschaft mit Essen und

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Trinken versorgten, nur mäßig arbeiteten und sich vor großem Gestank bewahrten, ohne in tiefe Pfützen zu springen, und wenn sie sich in der Zeit der Geburt mit gelehrten Hebammen umgäben, dann würden – wenn sie Gott ihre Geburt geben sollten – nicht so viele empfangene Früchte in dem Acker der Menschheit verderben und während der Ernte außerhalb des Ackers ohne die heilige Taufe verderben. Gott verliert viel an einer Seele und diejenigen, die in diesen Dingen Sachwalter sind, haben große Not, sich mit Gott zu vereinigen. *Dass sie Mutter oder Hebamme durch das Fatum bringt. Erde groß und Früchte werden, die Bäume üppig und reich an Früchten, dann kahl und ohne Früchte und Badern.* Durch das Fatum vermehren sich die Tiere, eines übernimmt das Blut des andern so, wie [auch] die Erde den Samen aufnimmt. Auf diese Weise entstehen andere Tiere, und genauso entsprießen aus den Samen die Früchte. *Durch das Fatum haben die Tiere zu den Tieren.* Von ihnen kommt Liebe und [sie] säugen sie, essen sie >sic@ und helfen ihnen auf. Durch das Fatum nisten die Vögel und sie legen Eier und setzen sich darauf, und durch das Fatum wird aus dem Eiweiß ein lebendiges Tier, und der Dotter ist seine Speise. Durch das Fatum wird von einem Samen unter den Tieren bald ein Er, bald eine Sie. Durch das Fatum haben die Tiere allerlei Lebensarten im Wasser, auf der Erde und in der Luft. Durch das Fatum vermehren sich die Tiere auf vielerlei Art und Weise. Durch das Fatum verfolgt ein unredliches Tier das andere, und das Eine flieht das Andere. Und so wird das Fatum auch durch mancherlei List der Teufel getrieben. So geschieht es auch, dass die Menschen ihre Redlichkeit aufgeben und den Raubtieren ähnlich werden. Sie treiben mancherlei, damit sie die ewige Pein nicht allein erwerben, sondern diese auch beständig Tag und Nacht mehren. Wenn das Fatum durch die Engel Fol. 185v und ihren Rat gelenkt wird, wenn sie ihre Redlichkeit behielten, von dieser Gebrauch machten und nicht zu Raubtieren oder zu noch Schlimmerem als zu Raubtieren würden, dann könnten sie die ewige Freude nicht allein erwerben, sondern sie auch Tag und Nacht vermehren. Daraus ist zu vernehmen, dass Gott die Menschen alle gesund machen will und keinen Menschen verdammt. Es ist vielmehr so, dass sich ein jeglicher Mensch selber verdammt. Antwort: Die Menschen verdammen sich selbst, wenn sie nicht den Himmel erlangen wollen. [Genau das geschieht], wenn die Kinder ungetauft sterben, denn sie wollen ja nicht von selber in den Himmel gelangen, sie wissen ja noch nicht davon und auch nicht durch diejenigen, [deren Aufgabe es wäre,] dass sie das Beste für die Kinder tun sollten, und zwar viel eher im Hinblick auf ihre Seele als in Bezug auf ihren vergänglichen Körper. Viel eher sollten sie um das ewige Gut und nicht um das vergängliche Gut besorgt sein! Es geschieht durch das Fatum, das Gott zur Geburt führt, dass sie die Kinder so lieb haben. Darum verwenden sie so große Sorge und so viel Mühe zum Nutzen der Körper. Es würde sich viel eher gehören, dass sie sie lieb haben, für sie sorgen und sich um das Heil ihrer Seele bemühen. Denn die Seele ist für Gott sehr viel wertvoller als der Körper. Die Seele hat er zwar in einem Augenblick geschaffen, darum ist er [=der Mensch] [ein Abbild] der Vernunft und des ewigen Lebens. Der Körper [entstammt] aber der stinkenden Erde und muss auch wieder dahin zurück. Die Seele sollte zu den heiligen Engeln kommen. Der Körper muss zu den Würmern kommen. Die Seele war dem Meister aller Dinge durch ihre Etwasheit verdorben, deshalb sollte sie ewiges Leid haben. Das erbarmte ihn, und er nahm Leib und Seele an sich, litt lange und litt viel an Leib und Seele, damit er die verdorbene Seele, sein Werk, wieder gesund machte. So lieb hatte er sie, für so wertvoll hielt er sie! Zuletzt opferte er mit großer Pein seinen Leib und auch seine Seele für die verdorbene Seele. Auf diese Weise wurde es für ihn hart und beschwerlich, die verdorbene Seele wieder gesund zu machen. Das Erschaffen der Seele wurde für ihn nicht schwer, die Heilung hingegen war sehr schwierig. Einen Körper aus Fleisch und Blut zu erschaffen, ist für ihn leicht. Das ist für ihn etwa so schwer wie für eine Mannsperson mit seinem Zubehör. Von einem kleinen Korn wird ein Halm, mit der Ähre von einem kleinen Korn wird ein großer Baum, aus einem kleinen Korn wird ein Körper. Auch wenn die Erbsünde die Seele verdorben hat und immer noch verdirbt, so will er sie doch heilen, und zwar an dem Tag, der von allen Tagen der letzte sein wird, das ist für ihn nicht schwer. Er hat alle Menschen verdorben, die Seele ist edler als der Körper.

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Abb. 1: MS Hamilton 46, fol. 185v (Bodleian Library, University of Oxford)

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Abb. 2: MS Hamilton 46, fol. 186r (Bodleian Library, University of Oxford)

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Boethius für Laien Konrad Humerys deutsche Übersetzung (vor 1467) der Consolatio Philosophiae

MANFRED EIKELMANN (Bochum) This article analyses the free adaptation and reshaping of the Consolatio Philosophiae in the translation by the Mainz lawyer and diplomat Konrad Humery. It discusses the importance of the translation for the nascent German Boethius tradition of the 15th century. The argument will demonstrate that Humery’s version of the text is exceptional to the extent that it does not primarily position itself in the context of scholarly text and discourse traditions, but is tailored to suit the educational background of a vernacular lay audience. Thus, the book and chapter division already raises questions about the relationship to the Latin text and the extent to which it is functionally (still) tied to the original. The preface, which consists of two parts, can be taken to illustrate Humery’s translation technique, which aims to explicate meaning and ensure understanding: it is specific that Humery emphasises the difference of status between Boethius’ vita and the dialogue, which is patterned on literary models, and that he provides the German text with a Christian perspective. This perspective stands in the stoic tradition of apathy and locates man’s disposition to lead a virtuous life in the orientation towards God.

I Die deutschen Übersetzungen der Consolatio Philosophiae des Boethius gehören zu den noch wenig erforschten Texten und Texttraditionen des späten Mittelalters,1 obwohl sich im 15. Jahrhundert eine Konstellation herausbildet, die literaturgeschichtlich neu ist und näheres Hinsehen verdient: Nach Notkers von St. Gallen früher, zweisprachig lateinischdeutscher Textversion wurde die Consolatio bis in das Jahr 1401, für das bezeugt ist, dass der Benediktinermönch Peter von Kastl „Boecium de

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Die erhaltenen spätmittelalterlichen Übersetzungen bei Franz Josef Worstbrock: Deutsche Antikenrezeption 1450-1550. Teil I, Boppard am Rhein 1976, S. 26-28; als literaturgeschichtlicher Überblick nach wie vor grundlegend Fidel Rädle / Franz Josef Worstbrock: Art. „Boethius, Anicius Manlius Severinus“, in: 2Verfasserlexikon, Bd. 1/1978, Sp. 908-927, hier Sp. 921-923.

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consolacione philosophie transtulit de latino in teutonicum“,2 nicht wieder verdeutscht.3 Eine gewisse Parallele findet dieser späte Neubeginn übersetzerischer Aneignungen darin, dass auch die unmittelbare literarische Rezeption der im Lateinischen so berühmten Trostschrift bis zu dem um 1400 entstandenen Ackermann des Johannes von Tepl nur in wenigen sicheren Spuren greifbar wird.4 Ob es der wirkungsgeschichtlich erfolgreiche Ackermann-Dialog dann auch war, der in der Folgezeit „mehrfache Verdeutschungen“5 der Consolatio mit bewirkte, wie Konrad Burdach vermutet hat, muss zwar offen bleiben. Doch berührt dies nicht den Sachverhalt, auf den es primär ankommt: die Anzahl und Vielfalt der Consolatio-Übersetzungen, die seit den 1460er Jahren, soweit zu sehen, unabhängig voneinander entstehen und verbreitet werden. Für den Zeitraum bis 1480 sind allein fünf volkssprachige Fassungen bezeugt.6 Wie zudem

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Die Übersetzung erwähnt Andreas von Regensburg in seiner „Chronica pontificum et imperatorum Romanorum“, in: Andreas von Regensburg: Sämtliche Werke, Georg Leidinger (Hrsg.), München 1903, S. 119, Z. 30-33; vgl. zuletzt Nigel F. Palmer: „The German Boethius Translation Printed in 1473 in Its Historical Context“, in: Marten J.F.M. Hoenen / Lodi Nauta (Hrsg.), Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio Philosophiae, Leiden u.a. 1997, S. 287-302, hier S. 294-298. Umstritten ist die Entstehungszeit der gereimten Consolatio-Übersetzung, von der früher fünf, im Zweiten Weltkrieg verlustig gegangene Bruchstücke aus einer Pergamenthandschrift des 15. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Münster aufbewahrt wurden. Die vorgeschlagenen Datierungen (1300/ 14. Jh./ Mitte 15. Jh.) differieren erheblich. Vgl. Nigel F. Palmer: „Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae“, in: Margaret Gibson (Hrsg.), Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 362-409, hier S. 373. Zur literarischen Boethius-Rezeption mit weiterführenden Hinweisen Christine Hehle: „Boethius’s Influence on German Literature up to c. 1500“, in: Philip E. Phillips / Noel H. Kaylor, Jr. (Hrsg.): A Companion to Boethius in the Middle Ages (im Druck); zum Ackermann Christian Kiening: Schwierige Modernität. Der ‚Ackermann‘ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels, Tübingen 1998, S. 307-309. Wie Kiening zeigt, wirkte die Consolatio „zumindest teilweise jenseits dessen, was philologisch beweisbar ist“ (S. 307). Konrad Burdach: „Die humanistischen Wirkungen der Trostschrift des Boethius im Mittelalter und in der Renaissance“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 11/1933, S. 530-558, hier S. 556. In der literatur- und mediengeschichtlich innovativen Phase der 1460/70er Jahre, in der die Ausbreitung des Buchdrucks eine verstärkte Produktion von Handschriften bewirkt, sind nachweisbar: (1) eine 1464/65 in Lemgo von Gerhard Foel aus Nassau aufgezeichnete mittelniederdeutsche Fassung; (2) die 1465 in der Kartause St. Salvator zusammengebundene Handschrift der Erfurter Übersetzung; (3) die vor 1467 entstandene Übersetzung Konrad Humerys; (4) die

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auffällt, stellen sich nicht nur die Umstände der Entstehung dieser Fassungen recht unterschiedlich dar, sondern es handelt sich bei ihnen auch sowohl um vorlagentreue wie um frei bearbeitende Adaptationen, die in Verfahren und Zielen so stark divergieren, dass sich geradezu konträre Übersetzungsstile auszuprägen scheinen.7 Weil dieses Zusammentreffen gleich mehrerer verschiedener Übersetzungen neu ist, stößt die elementare Frage danach, wie die Consolatio ins Deutsche übersetzt wurde, im 15. Jahrhundert unweigerlich weitere Fragen an – nach Entstehung und Verbreitung der Texte, nach Übersetzungsstilen, auch nach den verschiedenen Sinn- und Verwendungszusammenhängen, in die der lateinische Ausgangstext mit dem Transfer in die Volkssprache gelangen konnte. Setzt man bei überlieferungsnahen Beobachtungen ein, wie namentlich Nigel Palmer sie an deutschen, französischen und niederländischen Texten gewonnen hat,8 so scheinen für die weitere Forschungsdiskussion zwei Aspekte besonders wichtig, die beide spezifische Momente der Consolatio-Übersetzungen hervortreten lassen. Es ist dies zum einen die Frage, wie und mit welchen Mitteln lateinischer Ausgangs- und deutscher Zieltext verknüpft werden, wobei für die Consolatio charakteristisch ist, dass die übersetzten Texte, obwohl für ein breiteres Lesepublikum verfasst, ausgesprochen eng an die lateinische Vorlage gebunden bleiben, dabei jedoch bereits im Textlayout durch beigegebene Rubrizierungen, Überschriften und Lemmata adressatenspezifisch eingerichtet werden. Zum anderen ist noch ganz offen, ob sich – ähnlich wie für die ungleich breiter überlieferten französischen und italienischen Texte – Typen von Übersetzungen ermitteln und profilieren lassen.9 Virulent wird diese Frage

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1473 in Nürnberg bei Anton Koberger gedruckte erste Auflage der lateinischdeutschen Folio-Ausgabe mit dem Kommentar von Pseudo-Thomas; (5) 1478 die für den Druck vorgesehene, jedoch nicht abgeschlossene Übersetzung des Niklas von Wyle. Zu (2) vgl. den Beitrag von Yvonne Dellsperger, zu (4) den von Bernd Bastert in diesem Band. Dies zeigt ein Vergleich der anonymen deutschen Übersetzung des KobergerDrucks von 1473, die auffallend vorlagennah scheint, mit der sehr freien Fassung Konrad Humerys; vgl. Michael Mommert: Konrad Humery und seine Übersetzung der Consolatio Philosophiae. Studien zur deutschen Boethius-Tradition am Ausgang des Mittelalters, Diss. Münster 1965, S. 49-51. Vgl. Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 3); im größeren Zusammenhang der Übersetzungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts ders., „Zum Nebeneinander von Volkssprache und Latein in spätmittelalterlichen Texten“, in: Ludger Grenzmann / Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1984, S. 579-600. Für die deutschen Übersetzungen konstatiert Palmer ebd., S. 585, „zwei konträre Tendenzen […]: einerseits das Bestreben, den lateinischen Text so genau wieder-

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spätestens dann, wenn man genauer angeben will, was bei einem sprachlich, literarisch und gedanklich so hoch komprimierten Werk wie der Consolatio unter eher ,wörtlicher‘ oder aber ‚freier‘ Übersetzung zu verstehen ist, und zwar in einem historischen Kontext, in dem die Zentrierung auf verpflichtende Sprachnormen erst in Ansätzen zu finden ist.10 Dass in diese Fragestellung neben dem Modus der sprachlichen Präsentation (einvs. zweisprachig) nicht zuletzt auch die unterschiedliche Umsetzung der prosimetrischen Form des Ausgangstextes (Vers/Prosa-Wiedergabe vs. Prosaauflösung) einzubeziehen ist, versteht sich zwar fast von selbst, doch wird damit um so deutlicher, dass Übersetzungsanalysen nicht allein dem sprachlichen Transfer, sondern auch der literarischen Form der Consolatio gelten müssen. Auf eine Besonderheit, durch die sich die deutschen gerade auch von den früher und kontinuierlicher überlieferten französischen Übersetzungen unterscheiden, ist nachdrücklich hinzuweisen: Wenn die Anzeichen nicht trügen, konnten selbst versierte Übersetzer und Schreiber, die in Städten wie Erfurt, Mainz oder Nürnberg wirkten, im 15. Jahrhundert für eine volkssprachige Consolatio nicht an eingespielte Übersetzungs- und Schreibtraditionen anknüpfen. Unregelmäßigkeiten in der Texteinrichtung, wie sie die mittelniederdeutsche Übersetzung von 1464/65 aufweist, legen nicht nur bei ihr den Schluss nahe, dass die materiale Form der Textpräsentation „für die deutsche Consolatio noch zu entwickeln [war], und zwar in Anlehnung an das Layout lateinischer Kommentarhandschriften“.11 Auch der Umstand, dass die seit 1473 bei Anton Koberger in Nürnberg wiederholt gedruckte Consolatio-Ausgabe nur in ihrer ersten Auflage mit deutscher Übersetzung erschienen ist, erweckt den Eindruck eines punktuellen Versuchs,12 der bei den weiteren handschriftlichen Fassungen auf Grund ihrer geringen Verbreitung entsteht. Ein solcher Befund aber, so vorläufig er auch ist, spricht dafür, dass man es zwischen

_____________ zugeben, daß die Übersetzung anstelle des Originals gelesen werden kann, andererseits eine Tendenz, über die Vorlage zu berichten, anstatt sie zu übersetzen, wobei die Grenze zwischen volkssprachlicher Übersetzung und volkssprachlichem Kommentar fließend wird“. Jüngster Überblick zu den französischen und italienischen Übersetzungen bei Silvia Albesano: Consolatio Philosophiae volgare. Volgarizzamenti e tradizioni discorsive nel Trecento italiano, Heidelberg 2006, S. 45-53; dazu die Besprechung von Franz Lebsanft, in: Romanistisches Jahrbuch 58/2007, S. 254258, hier S. 256f. 10 Vgl. die Diskussion bei Ulrike Bodemann: Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Übersetzung durch Ulrich von Pottenstein. Untersuchungen und Editionsprobe, München 1988, S. 180-192. 11 Palmer, Nebeneinander von Volkssprache und Latein (Anm. 8), S. 586. 12 Vgl. den Beitrag von Bernd Bastert in diesem Band, S. 35-69.

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1460 und 1480 weniger mit einer entwickelten volkssprachigen BoethiusTradition und sehr viel mehr mit einem synchronen Feld von wiederholten und auch konkurrierenden Ansätzen und Versuchen der ConsolatioÜbersetzung zu tun hat,13 deren Erkenntniswert und Reiz in der experimentellen Qualität der Texte zu suchen ist. Ausgehend von dieser knappen Forschungsskizze gilt die folgende Analyse der Consolatio-Übersetzung des Mainzer Juristen und Diplomaten Konrad Humery. Obwohl nie Zweifel bestanden, dass Humery sich sehr frei gegenüber Wortlaut und Stil der antiken lateinischen Vorlage verhält, hat die ältere Forschung seiner Übersetzung ohne Diskussion „humanistisches Gepräge“14 zugeschrieben. Neuere Beiträge haben diese Sichtweise revidiert und dabei den „weite[n] Abstand“15 zu Übersetzern wie Niklas von Wyle betont, die ihre deutsche Prosa am sprachlich-stilistisch als Vorbild begriffenen lateinischen Text orientieren. Denn in grundsätzlichem Unterschied dazu übersetzt Humery insofern frei, als er die prosimetrische Form der Consolatio auflöst und „nach Gutdünken kürzend und erweiternd, glossierend und kommentierend in den Wortlaut der Vorlage“16 eingreift. Doch ist bei solchen Urteilen auch wieder Vorsicht geboten: Aus welchen Gründen Humery auf das für den Text der Consolatio zweifellos konstitutive Alternieren von Prosa und Vers verzichtet, welche anderen Strukturen es in seinem Prosatext ersetzen und wie diese sich erklären, wenn man neben den Vermittlungsansprüchen des Übersetzers

_____________ 13 Den sprechenden Beleg für ein bis in die literarische Öffentlichkeit hineingetragenes Konkurrenzverhältnis bietet Niklas von Wyle, wenn er im Frühjahr 1478 in der Vorrede seiner Translatzen neben weiteren Vorhaben eine eigene Übersetzung „boecy de consolacione“ ankündigt und die Qualität seiner Übersetzung gegenüber der bei Koberger erschienenen zu verstehen gibt: Einige Jahre zuvor, so Wyle, sei „ain andere translatze desselben boecij ouch gedruckt usgangen“, die sich gut verkauft hatte, nach der Meinung vieler jedoch von ihm stammte. Diesen Irrtum rückt er unter Hinweis auf das Urteil der Käufer zurecht, von denen nur wenige gesagt hätten, dass sie jene Übersetzung „mercken oder versten mugen“. Translationen von Niclas von Wyle, Adelbert von Keller (Hrsg.), Stuttgart 1861, S. 11f. Vgl. die Analyse bei Barbara Weinmayer: Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken, München 1982, S. 150f. 14 Wieland Schmidt: „Humery, Konrad“, in: 1Verfasserlexikon, Bd. 2/1936, Sp. 537541, hier Sp. 541. 15 Otto Herding: „Probleme des frühen Humanismus in Deutschland“, in: Archiv für Kulturgeschichte 38/1956, S. 344-389, hier S. 377; völlig zu Recht betont Herding, dass Humerys Übersetzungsstil „einen neuen Blick in die Vielfältigkeit der Zeit“ eröffnet. 16 Franz Josef Worstbrock: „Humery, Konrad“, in: 2Verfasserlexikon, Bd. 4/1983, Sp. 301-304, hier Sp. 303.

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auch die Verstehensbedingungen der Adressaten sieht, diese Fragen, die sich ebenso für weitere Textebenen stellen, sind bislang noch wenig diskutiert.17 Erst recht gilt dies für die christliche Deutung der Consolatio, von der man gesagt hat, dass sie bei Humery „nahezu den Grad der Vollständigkeit“18 erreicht. Sollte dies anhand der Übersetzungsverfahren und Semantik des Textes zu konkretisieren sein, dann wäre auch zu fragen, welche Inhalte des spätantiken Werkes neu gedeutet werden und worin die christliche Perspektive des Übersetzers besteht, zumal die Diskurszusammenhänge, in die er die Consolatio stellt, noch gänzlich ungeklärt sind. Humerys Übersetzung, so zeichnet sich ab, dürfte Beispiel für einen sprachlichen wie kulturellen Transfer sein, bei dem sich der Ausgangstext in einem neuen Kontext stark verändert und dessen Ergebnis die produktive Umformung der lateinischen Consolatio ist.19 Nicht alle Aspekte des umrissenen Problemkreises kann mein Beitrag behandeln: Auch weil Humerys Übersetzung wenig bekannt ist, muss es zunächst noch darum gehen, ihren Entstehungskontext und ihr besonderes Profil zu konkretisieren (II, III). In den Fokus rücken werden so schon die übersetzerischen Verfahren, mit denen er die Textstruktur und Erzählsituation der Consolatio adaptiert (IV). Versteht man Humerys Vorrede als Rahmung des gesamten Textes, so erschließt sich von da auch eine christliche Perspektive, die im Aufblick zur Ordnung Gottes die Disposition des Menschen zu tugendhaftem Handeln akzentuiert (V).

II Konrad Humerys deutsche Consolatio bietet eine Gesamtübersetzung sämtlicher Bücher und Kapitel der Trostschrift des Boethius. Erweitert um eine zweiteilige Vorrede, die zunächst über Absicht und Zweck des Vorhabens informiert und dann anhand der Vita des Boethius zur eigentlichen „historie“ überleitet, ist der Text in drei Handschriften vollständig erhalten.20 Im Vergleich zur Übersetzungsliteratur des 15. Jahr-

_____________ 17 Grundlegend zu Humerys Übersetzungstechnik ist Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 47-124. 18 Worstbrock, Humery, Konrad (Anm. 16), Sp. 304. 19 Zum Stand der neueren Theoriediskussion (Rezeption, Transfer, Diffusion) Johannes Helmrath: „Diffusion des Humanismus. Zur Einführung“, in: Johannes Helmrath u.a. (Hrsg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, S. 9-29, hier S. 18-22. 20 Bekannt sind folgende Textzeugen: (1) Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. fol. 490: Lateinisch-deutsche Sammelhandschrift, datiert:

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hunderts sonst, besonders zu geistlichen Werken, die in den Druck gelangt sind, ist die Überlieferung schmal. Was sie auszeichnet, ist ihre zeitliche und räumliche Nähe zur Entstehung des Textes sowie zur Hauptwirkungsstätte des Autors: Nach dem Zeugnis der ältesten Handschrift hat der aus Mainz stammende Humery die lateinische Consolatio „vor 1467“21 übersetzt. Wenn auch nicht zu ermitteln ist, wie lange und wo überall die Übersetzung gelesen wurde, so zeigen die Schreiber- und Besitzervermerke der Handschriften doch so viel, dass der Text bis 1500 in Köln, Ulm und Würzburg „unter Patriziern und Franziskanern“22 bekannt war. Die Entstehungsverhältnisse der Consolatio-Übersetzung lassen sich durch Zeugnisse aus dem Leben Humerys verdeutlichen.23 Als Sohn aus einer Mainzer Kaufmannsfamilie hat er seit 1421 in Erfurt und Köln studiert und die Consolatio Philosophiae vielleicht schon im Artes-Studium

_____________ 1466 und 1467, Papier: 284+4 Bll., Humerys Übersetzung fol. 109r-156v; (2) Mainz, Stadtbibliothek, Hs. III 44: Lateinisch-deutsche Sammelhandschrift, datiert: 1472, Papier: 112 Bll., Humerys Übersetzung fol. 2r-71r; Tübingen, UB, Md 124, um 1475, Papier: 118 Bll., Humerys Übersetzung fol. 2r-115v. 21 Worstbrock, Humery, Konrad (Anm. 16), Sp. 303. 22 Vgl. Wolfgang Dobras: „Humerys Übersetzung der Consolatio Philosophiae des Boethius“, in: Gutenberg aventur und kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution, Stadt Mainz (Hrsg.), Mainz 2000, S. 109. Nach dem Besitzervermerk auf dem inneren Buchdeckel („dyt Boich ys Iacob Schirls Anno domini 1467“) gehörte die in Berlin aufbewahrte Handschrift Jakob Schyrl(l), der 1477 bis 1487 als Ratsherr in Köln amtierte; die Mainzer Handschrift wurde 1472 von Caspar Kraft in Ulm geschrieben (fol. 1r: „In nomine domini millesimoquadringentessimo septuagessimosecundo per me Caspar Kraften eynn Modist unnd florista de ulma Nacionis est finitus liber hunc“) und vier Jahre später von einem Würzburger Franziskaner um einen lateinischen Text ergänzt (fol. 107v: „Completum per me fratrum Henricum Pistoris ordinis almi signiferi Francisci filius conventus Herbipolensis …1476“); im Falle der Tübinger Handschrift geht aus einem ca. 1500 angelegten Vermerk auf fol. 1v hervor, dass „ain andaechtiger gaistlicher herr Barfuosser ordens genant herr Hanss stainlin zuo vlm jn dem Barfuosser klʼnster gewessen den boecium“ den Franziskanerinnen in Oggelsbeuren geschenkt hat. Vgl. zur Situierung der Berliner Humery-Handschrift im Kontext der Ratspolitik der Stadt Köln jetzt Arne Schumacher: Die Berliner Humery-Handschrift Ms. theol. lat. 490. Beschreibung und Analyse, M.A.-Arbeit Bochum 2009. 23 Zu Humerys Leben unter wechselnden Aspekten: Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 20-46; Worstbrock, Humery, Konrad (Anm. 16), Sp. 301-303; Stephan Füssel: Johannes Gutenberg, Hamburg 22000, S. 21, 71, 75-77; Michael Matheus: „Mainz zur Zeit Gutenbergs“, in: Michael Matheus (Hrsg.), Lebenswelten Johannes Gutenbergs, Stuttgart 2005, S. 9-37, hier S. 19-23.

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kennen gelernt.24 Noch sicherer anzunehmen ist dies für die Zeit seines Studiums der Rechte an der Universität Bologna, wo er seit 1427 in die Matrikel der Deutschen Nation eingeschrieben war. Wie aus Zitaten und Exzerpten in Albrechts von Eyb zuerst 1472 gedrucktem Ehebüchlein hervorgeht, hat einer seiner akademischen Lehrer, Baptista de St. Petro, ein literarisches Werk De adversitatibus huius seculi verfasst, das „im Stile der petrarcaschen Miseria vitae humanae“25 geschrieben ist und der boethianischen Trostschrift nahe steht. Speziell die Art und Weise, in der Baptista das contemptus mundi-Thema ausarbeitet, könnte Humerys christliche Deutung der Consolatio inspiriert haben.26 Denn auch bei Humery ist das irdische Leben bestimmt durch die Widrigkeiten, die den Menschen bedrängen und denen er nur seine durch Gottesschau erworbenen Tugenden entgegensetzen kann.27 Obwohl ein philologisch zwingender Beweis nicht zu erbringen ist, sind die Berührungspunkte mit der Schrift Baptistas so prägnant, dass man das „by Italian learning“28 angeregte, gelehrte Traditions- und Diskursmilieu zu fassen bekommt, in dem Humerys Übersetzung entstanden sein dürfte. Seit 1435 wirkte Humery in Mainz als Ratssyndikus und Stadtschreiber. In diesen Ämtern redigierte er 1437 das Friedebuch der Stadt, betrieb bei den Zunftkämpfen von 1443 und 1444, die zum Sturz des alten Regiments führten, aber auch maßgeblich die Umbildung der städtischen Verfassung.29 Nicht weniger exponiert war auf reichspolitischer Ebene seine

_____________ 24 Vgl. mit Hinweis auf die Pflichtvorlesungen der Erfurter Artistenfakultät Michael Bernhard: „Boethius im mittelalterlichen Schulunterricht“, in: Martin Kintzinger u.a. (Hrsg.), Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts, Köln u.a. 1996, S. 11-27. 25 Max Herrmann: Albrecht von Eyb und die Frühzeit des deutschen Humanismus, Berlin 1893, S. 76. 26 Hingewiesen auf die Parallelen hat zuerst Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 25-32. 27 Vgl. das letzte Baptista-Exzerpt bei Albrecht von Eyb: Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht. Mit einer Einführung zum Neudruck von Helmut Weinacht (Hrsg.), Darmstadt 1982, S. 107f. Eine Analyse der bei Eyb zitierten Stelle bietet Kiening, Schwierige Modernität (Anm. 4), S. 376f. 28 Palmer, German Boethius (Anm. 2), S. 298; vgl. zur Rezeption der moralphilosophischen Altersschriften Petrarcas in Deutschland die Überlegungen bei Christa Bertelsmeier-Kierst: „Übersetzungsliteratur im Umkreis des deutschen Frühhumanismus: Das Beispiel ‚Griseldis‘“, in: Wolfram-Studien 14/1996, S. 323-343, hier S. 326f. 29 Vgl. Kai-Michael Sprenger: „Die Mainzer Stiftsfehde 1459-1463“, in: Franz Dumont u.a. (Hrsg.), Mainz. Die Geschichte der Stadt, Mainz 1998, S. 205-225, hier S. 217 und 225; Wolfgang Dobras: „Gutenberg und seine Stadt: Mainzer Ge-

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Rolle während der Mainzer Stiftsfehde: In den Jahren 1461 bis 1463 stand er, immerhin Nachfolger des Juristen und Humanisten Gregor von Heimburg, als enger Ratgeber in den Diensten des Mainzer Erzbischofs Diether von Isenburg.30 Unmittelbar nachdem Pius II. Diether als Erzbischof abgesetzt hatte und die päpstliche Bulle im Mainzer Domkapitel verlesen worden war, schrieb Humery wohl noch im September 1461 ein Gutachten, in dem er ein nach göttlichem und menschlichem Recht reguläres Verfahren für Diether forderte. Bei aller gattungsbedingten Zitierfreude fällt auf, dass dieses Gutachten „mit einem wirksamen und schönen Zitat aus des Boethius Trost der Philosophie“31 endet. Es schließt mit der an die Gegenseite gerichteten Mahnung, zur Besinnung zu kommen und die Affekte zu mäßigen, „quoniam hee mentem, ne cernere verum possit, obnubilant“, was „divo Boecio De philosophica consolacione libro primo, metro septimo“ bezeugt sei.32 So eingeleitet und autorisiert folgen im Text die Schlussverse von 1,m7, beginnend mit der Anrede „Tu quoque si vis / lumine claro / cernere verum, / tramite recto / carpere callem, / gaudia pelle, / pelle timorem / spemque fugato / nec dolor adsit“.33 So wirkungsvoll, wie es als Aufforderung in den Gang der Argumentation des Gutachtens eingepasst ist, beweist das Zitat aber nicht nur Vertrautheit im Umgang mit dem lateinischen Text: Der Appell zum Verzicht auf alle Leidenschaften und zum Erkennen der Wahrheit entspricht auch der Wertschätzung stoischer Tugenden, wie sie in Humerys deutscher Consola-

_____________ 30

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schichte im 15. Jahrhundert“, in: Gutenberg aventur und kunst (Anm. 22), S. 18-28, hier S. 24-46. Im Verlauf der Mainzer Stiftsfehde war Humery an Kanzlei- und Gebrauchsschriften beteiligt, bei denen der Buchdruck als Medium der öffentlichen politischen Auseinandersetzung genutzt wurde; vgl. Konrad Repgen: „Antimanifest und Kriegsmanifest. Die Benutzung der neuen Drucktechnik bei der Mainzer Stiftsfehde 1461/63 durch die Erzbischöfe Adolf von Nassau und Diether von Isenburg“, in: Johannes Helmrath / Heribert Müller (Hrsg.), Studien zum 15. Jahrhundert, München 1994, S. 781-803. Adalbert Erler (Hrsg.): Mittelalterliche Rechtsgutachten zur Mainzer Stiftsfehde (14591463), Wiesbaden 1964, S. 34. Ebd., S. 57. Zitiert nach: Boethius: De Consolatione Philosophiae. Opuscula Theologica, Claudio Moreschini (Hrsg.), München-Leipzig 2000, S. 26. Die zitierte Passage umfasst den gesamten Schlussteil mit den Versen 20 bis 31; in Vers 21 hat Humerys Text „recto“ statt „claro“. Auch Humerys Argumentation schließt so „mit dem Bild des stoischen Weisen, der seine Leidenschaften beherrscht“. Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione philosophiae, 2. erw. Aufl. Berlin-New York 2006, S. 167.

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tio34 verbunden mit dem Thema des contemptus mundi zu finden ist. Das Gutachten zeigt somit, hier im rechtlich-politischen Diskurs, die ethische Autorität, die Humery der Consolatio zumisst, indem er Tugenden und Leitbegriffe der antiken Schrift als gültigen Maßstab für menschliches Handeln und Verhalten beansprucht. Die biographischen Umstände machen die Annahme wahrscheinlich, dass Humery erst nach Oktober 1462, als er bei der Eroberung von Mainz in die Hände der Gegner Diethers fiel und für ein Jahr in Gefangenschaft war,35 Zeit für seine Consolatio-Übersetzung fand.36 So nahe es dann, wenn man dies annimmt, aber auch liegt, Parallelen zwischen dem im Gefängnis schreibenden Boethius und der Lage Humerys zu ziehen, für das Verständnis des deutschen Textes sind sie doch eher sekundär. Jedenfalls macht der Text den Bezug zu dem politischen Scheitern und der Schreibsituation Humerys an keiner Stelle explizit, so suggestiv er in dieser Hinsicht auch wirkt.37 Vordringlich für die weitere Diskussion ist daher nicht eine Deutung, die den Text als Ausdruck persönlicher Erfahrung sieht, sondern die Frage nach dem literarischen Programm der Übersetzung sowie deren Position in dem Traditions- und Diskursfeld, das sich in den biographischen Hinweisen zu Humery abgezeichnet hat.

_____________ 34 Vgl. den Schluss von 1,m7 in der Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 114rb: „vnd damit beslußet die wysheit der philosophien das erste gesetcze des gemelten buchs vnd spricht also: Wiltu die warheit schauwen mit claren augen, so saltu gehen den rechten wegk vnd abewerffen vbirswendige freude, forcht, hoffenunge, hoffen vnd truren, want wo die stucke vbirnthant nement, blenden sie die vernunfft des menschen, so daz sie den rechten wegk nit gehen magk.“ Übersetzung: ,Damit beschließt die Weisheit Philosophias das erste Buch des genannten Werkes und sagt: Wenn du die Wahrheit mit ungetrübtem Blick erkennen willst, dann musst du den richtigen Weg beschreiten und auf übermächtige Freude, Furcht, Hoffnung, Hoffen und Trauern verzichten, denn wo diese Dinge die Oberhand gewinnen, blenden sie die Vernunft des Menschen, so dass sie den richtigen Weg nicht zu gehen vermag.‘ 35 Bei der Eroberung der Stadt geriet Humery in die Hand des siegreichen Adolf II. von Nassau, der ihn ein Jahr später im Rahmen des Zeilsheimer Friedens vom 5. Oktober 1463 freiließ. Im Februar 1471 verpflichtete Adolf sich, Humery oder dessen Erben für die während der Stiftsfehde erlittenen Verluste zu entschädigen. 36 Vgl. Herding, Probleme des frühen Humanismus (Anm. 15), S. 375f.; Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 44 und 131; Worstbrock, Humery, Konrad (Anm. 16), Sp. 303. 37 Vgl. die Hinweise auf mögliche biographische Bezüge bei Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 131.

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III Die Vorrede zu Humerys deutscher Consolatio handelt prologtypisch über Anlass, Zweck und Nutzen der Übersetzung und setzt sie ins Verhältnis zum lateinischen Ausgangstext. Im ersten Teil der Vorrede38 tritt Humery39 hervor, um sein Vorhaben zu erläutern: Dauon han ich, Conradt Humery, eyn liebhaber der gerechtikeit, vur, mit hulffe des Almechtigen gotts zu troste allen gefangen vnd auch allen den, die in anderm trocke, anfechten, vnd lyden das elende dieses jamertalis der werlde buwent vnd doldent, eyn hoffelich vnd lobelich historie, die da in dieffer betrachtunge, aneligendem fliß vnd vmbgriffigeren vnd swangern wortten vns allen schrifftlichen vnd in latynscher zungen vorgehalten worden ist vnd veil gutter vnd fast trostlicher lare vnd vnderwisunge40 inhat, vß derselben latynschen zungen nach dem synne, meynunge vnd rechter betutunge korczer inzoge, so ferre dem gemeynen diet das dienen vnd genugsame syn mocht, doch mit vnderwissunge aller erluchten herczen, die die selbe historie gruntsamelicher ußgelegen vnd gepreytern mogent dann myn gerunge vnd lütczel zu achten vernunfft ergriffen oder zubrengen mag yn dutsche zungen brengen, off das ir begirde vnd vernunfft solich notczbarliche lare vnd vnderrichtunge da baß gefassen vnd sich in heile ir selen gode zu lobe dar in geschicken mogen. Wilche historie in dem latyn genant wirt: Boecius, de consolacione philosophie. das ist: Als boecius durch bekenttenisse gotlicher vnd natuerlicher dinge mit vorsatzce recht zu leben in synem gefengnisse, [109v] anefechten, trock vnd liden durch die philosophie gedroist wurden ist.41 (‚Daher habe ich, Konrad Humery, ein Freund der Gerechtigkeit, mit Beistand des allmächtigen Gottes als Tröstung für alle Gefangenen und auch all diejenigen, die in anderer Bedrängnis, in Anfechtung und Leiden dieses elende Jammertal der

_____________ 38 Die Vorrede hat einen zweiteiligen Aufbau mit den Vorbemerkungen zum Übersetzungsprogramm (Teil 1) und der Einleitung zum Dialog (Teil 2). Diese Zweiteiligkeit ergibt sich auch aus den Überschriften der Tübinger Handschrift (Anm. 20) auf fol. 2r: „Hye facht sich an ein vor rede des bueches genant Boecius von der tröstung der wißheit etc.“ und fol. 3r „Die ander vorrede“. 39 Nur an dieser einen Stelle nennt Humery seinen Namen. Nach Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 42 und 131, lässt sich die floskelhafte Wendung „liebhaber der gerechtigkeit“ auf Themen wie Recht und Unrecht beziehen und als programmatische Akzentsetzung verstehen. 40 In der Mainzer (Anm. 20, fol. 2r) und Tübinger (Anm. 20, fol. 2v) HumeryHandschrift ist die Begriffsreihe zu „trostlicher vermanunge lare vnd vnderwisunge“ erweitert. 41 Zitiert nach: Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 141f. Mommerts Abdruck der Vorrede habe ich am Text der Berliner Handschrift überprüft. Um der Lesbarkeit willen sind stillschweigend Abkürzungen aufgelöst und Großbuchstaben nur am Satzbeginn und bei Namen verwendet. Die Interpunktion folgt modernen Regeln.

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Welt bewohnen und erdulden, eine Hoffnung erweckende und schöne Geschichte vor, die uns allen aus tiefer Betrachtung, mit großer Sorgfalt und in bedeutsamen Worten schriftlich in lateinischer Sprache übermittelt worden ist und viel nützliche und tröstliche Lehre und Unterweisung enthält; aus derselben lateinischen Sprache [habe ich sie übersetzt] nach Sinn und Absicht und unter Einbeziehung der richtigen Bedeutung, so weit es für ungelehrte Leute von Nutzen sein und ausreichen mag, doch mit Erklärungen aller gelehrten Menschen, die diese Geschichte grundsätzlicher auszulegen und zu deuten vermögen, als es meine gering zu schätzende Vernunft begreifen und in die deutsche Sprache vermitteln kann, damit ihr Verlangen und ihre Vernunft solche nützliche Erfahrung und Belehrung besser erfassen und sich zum Heile ihrer Seele und zu Gottes Lob danach richten können. Im Lateinischen heißt diese Geschichte: Boethius, De Consolatione Philosophiae. Das bedeutet: Wie Boethius durch Erkenntnis Gottes und der Natur mit dem Ziel, in seinem Gefängnis, in Anfechtung, Bedrängnis und Leiden richtig zu leben, von der Philosophie getröstet worden ist.‘)

In dieser Passage erläutert der Übersetzer sein Vorhaben und seine Lesart der Consolatio: Er, Konrad Humery, wolle mit Hilfe des allmächtigen Gottes eine hübsche und lobenswerte Geschichte für Ungelehrte aus dem Lateinischen so übersetzen, dass sie deren Sinn und Lehren verstehen und sich zum Heil ihrer Seele und Lobe Gottes danach richten können. Dabei soll die Consolatio all denen Trost geben, die in Gefangenschaft42 oder Bedrängnis, Anfechtungen und Leiden das Elend des irdischen Daseins ertragen. Es sind zentrale Motive wie der Trost im Leiden und die Widrigkeit des menschlichen Daseins, die Humery aus den Traditionen spätmittelalterlicher Leidenstheologie und Weltverachtung entlehnt und die die Einbindung seines Textes in den religiösen Diskurs evident machen.43 Zum Ausdruck kommt diese Kontextualisierung zusätzlich darin, dass das Motiv der Tröstung in Bedrängnis und Leid auch bei der Erläuterung des lateinischen Titels der Consolatio anklingt, wenn es von Boethius heißt, dass er „in synem gefengnisse, anefechten, trock vnd liden“ durch die Lehren der Philosophie über Gott und Welt getröstet worden ist. Im Zusammenhang mit diesen programmatischen Aussagen stellt sich die Frage, wie das Verhältnis der deutschen Übersetzung zur lateinischen Vorlage angelegt ist. An keiner Stelle der Vorrede, so fällt auf, kommen Zweifel über Geltung und Rang der Consolatio zur Sprache. In der Binnensicht des Textes zählt sie zu den Schriften, die „den vngelerten“ nicht

_____________ 42 Das Erleiden von Gefangenschaft bezieht sich auf das Schicksal des Boethius, wie es im zweiten Teil der Vorrede geschildert wird. Ein expliziter Bezug zur Gefangenschaft Humerys 1462/63 ist nicht zu erkennen. 43 Vgl. Palmer, German Boethius (Anm. 2), der pointiert von einer „reduction of the Consolatio to a manual of Christian consolation for those in sorrow“ (S. 298) spricht; einen Überblick zur spätmittelalterlichen Trostliteratur bis Luther gibt Ute Mennecke-Haustein: Luthers Trostbriefe, Gütersloh 1988, S. 53-59.

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bekannt sind, obwohl sie doch „zu beßerunge irs lebens auch ir selen“ viel Nutzen bringen könnte.44 Da sie nun aber „vns allen schrifftlichen vnd in latynscher zungen“45 übermittelt worden ist, gelte es, sie den Ungelehrten, die kein Latein können, zu vermitteln. Die so gefasste Relation von lateinischem und deutschem Text ist nicht zuletzt deshalb komplex, weil mit der Übersetzung nicht nur der sprachliche Transfer ins Deutsche allgemein, sondern speziell das Problem der für ein so vielschichtiges Werk wie die Consolatio angemessenen Übersetzungssprache46 im Blick ist. Als Lösung dieses Problems wäre eine am lateinischen Ausgangstext orientierte Sprache denkbar, wobei dafür noch geklärt werden müsste, welche Kriterien eine solche vorlagennahe Übersetzung zu erfüllen hätte. Humery geht jedoch in eine andere Richtung, da er den Text in mit- und nachvollziehbarer Form bieten will und dabei Sprachgebrauch und Verständnis des Laien als Bedingung des deutschen Zieltextes geltend macht. Welche Konsequenzen diese Bedingung übersetzungspraktisch hat, deutet sich bereits in der Forderung an, die nicht leicht zugängliche Begrifflichkeit der lateinischen Vorlage zu vereinfachen und die Kluft zwischen Ausgangsund Zielsprache in einer dem Leser verständlichen Sprache zu überbrücken.47 Darüber hinaus soll die Consolatio nicht nur sprachlich vermittelt, sondern auch adressatenspezifisch gedeutet und kommentiert werden. Kennzeichnend für Humerys gesamtes Übersetzungskonzept ist der mit den Begriffen der Lehre („lare“) und Unterweisung („underwisunge“) bezeichnete Modus einer didaktischen Wissensvermittlung und -aneignung.48 Untrennbar mit diesen Leitbegriffen verknüpft sind auch seine Hinweise zum Stil der Übersetzung, die ausdrücklich nicht dem Wortlaut

_____________ 44 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 109ra. 45 Ebd., fol. 109rb. 46 Dazu Klaus Grubmüller: „Geistliche Übersetzungsliteratur im 15. Jahrhundert. Überlegungen zu ihrem literaturgeschichtlichen Ort“, in: Hartmut Boockmann (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 59-74, hier S. 70-74. 47 Vgl. Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 109ra-b: Gelehrte Schriften seien bei allem Nutzen „doch so wydtgriffig […], das mentschlich crafft sie nit gar in korzcer frist begriffen mag, deshalb die noitturfft fordert abe zu stellen burden, die zu tragen vnmogelich sint vnd sich lassen begnugen des, das ir zu vollenziegen bequeme ist“. Übersetzung: Gelehrte Schriften sind ‚doch so weitgreifend […], dass die Kraft des menschlichen Verstandes sie nicht sogleich ganz begreifen kann. Deshalb ist es notwendig, alle Erschwernisse zu vermeiden, die zu anspruchsvoll sind, und sich mit dem zu begnügen, was sie gut bewältigen kann.‘ 48 In der Übersetzung von 3,m11 erklärt Humery „lare“, „übunge“ und „vnderwisunge“ als Formen der Erkenntnis und Wissensaneignung; vgl. Berliner HumeryHandschrift (Anm. 20), fol. 134va-b.

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folgt, sondern den Sinn der lateinischen Vorlage mit kurzen Erläuterungen der richtigen Bedeutung („nach dem synne, meynunge vnd rechter betutunge korczer inzoge“) erschließen soll, wie es dem volkssprachigen Publikum („dem gemeynen diet“) gemäß ist.49 Wenn der Übersetzer hinzufügt, er werde auch Auslegungen jener „erluchten herczen“, die gelehrter sind als er selbst, einbeziehen, so ist auch das nicht nur eine Geste rhetorischer Bescheidenheit. Vielmehr zeigt es bereits an, welche Freiräume Humery für das Erreichen seiner Zwecke in Anspruch nehmen will, indem er über die bloße Wiedergabe des Sinngehalts hinausgeht und den übersetzten Text durch erläuternde Zusätze oder Beigaben aus gelehrten Quellen erweitert.50 Humery, so zeigt sich insgesamt, will die Consolatio in die Tradition der christlichen Trostliteratur integrieren. Seine Übersetzung soll nicht an schriftkundig und fachlich gelehrte Diskurse anschließen, sondern eine Textversion bieten, die, am Sinn der Vorlage orientiert, auf Verständlichkeit sowie Lehren und Unterweisungen für die Lebenspraxis des Laien zugeschnitten ist. Mit dieser Position grenzt er sich gegen gelehrte Ansprüche ab, ohne zu bestreiten, dass sein Text auf fachkundige Erklärungshilfen aus der lateinischen Tradition angewiesen ist. Dadurch aber, dass er den Nutzen für die christliche Lebensführung geltend macht, setzt Humery doch die Interessen des Laien gegenüber der primären Diskurstradition der Consolatio ins Recht. Einsichtig wird dies, wenn man anerkennt, dass die Übersetzung individuelle Teilhabe ungelehrter Leser am philosophisch-theologischen Themenhorizont der Consolatio – Ordnung der Welt, Zufall und Notwendigkeit, Ewigkeit und Zeit, Orientierung an Gott und individuelle Heilssorge – ermöglicht. So gesehen rückt die Vorrede den Text in eine neue Perspektive und schafft den Rahmen für einen veränderten Umgang mit der Trostschrift des Boethius.51 Wie sich diese programmatischen Aussagen zu der im Text fassbaren Praxis des Übersetzens, Bearbeitens und Deutens verhalten, ist damit

_____________ 49 Ebd., fol. 109rb. 50 Vgl. zur Dehnbarkeit des Begriffs der sinngemäßen Übersetzung die grundsätzliche Bemerkung bei Kurt Ruh: „Geistliche Prosa“, in: Willi Erzgräber (Hrsg.), Europäisches Spätmittelalter, Wiesbaden 1978, S. 565-605, hier S. 567f.; eine Humery auch zeitlich nahe Position bezieht Heinrich Steinhöwel in der Vorrede zu seiner freien Übersetzung des Speculum humanae vitae; dazu Nikolaus Henkel: „Heinrich Steinhöwel“, in: Stephan Füssel (Hrsg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (14601600), Berlin 1993, S. 51-70, hier S. 64-66. 51 Vgl. zu den Begriffen ‚Perspektivierung‘ und ‚Rahmung‘ die performanztheoretischen Überlegungen bei Cornelia Herberichs / Christian Kiening (Hrsg.): Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008, Einleitung, S. 9-21, hier S. 14f. und 18f.

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allerdings noch nicht geklärt. Im nächsten Schritt wende ich mich daher Humerys Übersetzungsverfahren zu.

IV Die Übersetzung Humerys umfasst den gesamten Text der Consolatio Philosophiae und schließt dabei alle fünf Bücher mit sämtlichen Prosa- und Verskapiteln ein, ohne deren Anordnung und Einteilung zu verändern. Nur gelegentlich kommt es zu Verschiebungen der Kapitelanfänge und -schlüsse, und selbst Unregelmäßigkeiten bei der Zählung der Kapitel bleiben einzelne Ausnahmen.52 Was daher im Vergleich zu anderen Fassungen auffällt, ist der Anspruch einer vollständigen Übersetzung der Consolatio, der auch den Partien zum Wissen Gottes und zur menschlichen Erkenntnis und damit den „abstrakten Argumentationen“53 des fünften Buches gilt, obwohl dies mit einer an Laien gerichteten Wissensvermittlung nicht leicht vereinbar ist.54 Darüber hinaus zeichnet Humerys Consolatio aus, dass die Handschriften sie nicht kombiniert mit dem lateinischen Text, sondern als einsprachig deutsche Prosaversion darbieten. Zur Präsentation des Textes gehören dabei wesentlich lateinischdeutsche Überschriften, die über Verweise auf die jeweilig übersetzten Bücher sowie Prosa- und Versabschnitte dem Leser den Rückbezug zum Lateinischen ermöglichen. Berücksichtigt man schließlich, dass der übersetzte Text immer wieder fließend in beigegebene Verständnishilfen, Er-

_____________ 52 Vgl. Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 47, Anm. 2; anders als Mommert feststellt (S. 80), fällt auch keines der Metra weg: 1,m1 ist in der Berliner und der Mainzer Handschrift in die Vorrede einbezogen, während die Tübinger Handschrift es als Textbeginn ausweist (Anm. 20, fol. 4r: „Hye hebt sich an das erst metrum yn Boecio“). Bei 2,m1 und 5,m3 fehlen in den Codices aus Berlin und Mainz die Überschriften. 53 Boethius: Trost der Philosophie, lateinisch-deutsch, Ernst Gegenschatz / Olof Gigon (Hrsg.), München-Zürich 1990, Einführung (Gigon), S. 314. 54 Humery unterscheidet sich darin vom Übersetzer der mittelniederdeutschen Fassung von 1464/65, der unter Hinweis auf das für unverständige Leute schwierige Thema der praescientia dei seine Übersetzung mit Buch 4 abbricht; vgl. Gießen, Universitätsbibliothek, Hs 863, fol. 244v: „Hijr endet sick dat verde boeck Boecij van trostinge der philosophien effte wijsheit [,] men dat viffte vnd dat leste boeck iß nicht in dudesch gesat wente ed iß van der wetenheit godes vnd dar aff vele sprekende mochte groten twevel maken in den dummen luden.“ Übersetzung: ‚Hier endet das vierte Buch des Boethius von der Tröstung der Philosophie oder der Weisheit, aber das fünfte und letzte Buch ist nicht ins Deutsche übersetzt, denn es handelt vom Wissen Gottes, und darüber viel zu sagen, könnte bei einfachen Leuten großen Zweifel hervorrufen.‘

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klärungen und Kommentare übergeht, so erhält Humerys Prosafassung unter den deutschen Übersetzungen55 ein eigenes textuelles Profil, das zwischen Übersetzung, Bearbeitung und Kommentar changiert. Auch weil Vorlage und Quellen der Übersetzung Humerys nicht eingehend erforscht sind, beschränke ich mich auf zwei knappe Analysen zur Textstruktur und Erzählsituation. Ganz bewusst setze ich nicht auf lexikalischem und syntaktischem Textniveau an, da dem eine Klärung der Vorlagenfrage vorauszugehen hätte.56 Mir geht es um Humerys Verfahren und Strategien der Vertextung, soweit sie vom lateinischen Grundtext abweichen. Gerade auch auf dieser Ebene ergeben sich genauere Einblicke in die in den Text einformulierte Deutungsperspektive. Nicht zuletzt müsste sich zeigen, was bislang allzu selbstverständlich hingenommen wurde, dass Humerys übersetzerische Eingriffe zu wesentlichen Teilen auf die Textstrukturen der Consolatio zielen. Ablesbar ist diese Zielsetzung sowohl an den Überschriften und Rahmenelementen, die in allen drei Handschriften zu finden sind,57 als auch an der Gliederung der Prosa- und Verskapitel. Die Ausgestaltung der Überschriften, um davon auszugehen, illustriert die vom zweiten zum dritten Buch überleitende Passage: Dauon zu besließunge dieses tzweyten gesetczes sprichet die selige trosterin Philosophia: ‚O mentschlich konne, du werest selig, werestu eyntrechtig vnd wurdest regiert in der liebde, in der die hiemelsche creaturen, in den keyn zweitracht noch errunge ist, geregiert werden.‘ das dritte gesetcze. Prosa prima. So nu die philosophie durch vnderrichtunge vnd mit theilunge irer slechten vnd lynden arczedy Boecius gemüte hercz vnd synne etwas erquicte vnd vurter vnderrichtunge von ir zu entfahen erwecket hatte, wart er sich etwas verwondern der hoen vnd großen vnderwisunge, yem wie vorstet bescheen, vnd sprach wiedder sie also: ‚O du troiste aller betrüpten, wie gar sere hastu mich durch dine swere

_____________ 55 Vergleichbar scheinen am ehesten die italienischen und französischen Prosaauflösungen der Consolatio, die Albesano, Consolatio Philosophiae volgare (Anm. 9) beschreibt. 56 Nach Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 47, war Humerys Vorlage „sicher eine der vielen spätmittelalterlichen glossierten Handschriften“. Dass weder Handschrift noch Handschriften-Klasse der Vorlage zu ermitteln sind, muss man schon aus heuristischen Gründen als vorläufiges Ergebnis betrachten. Zu klären wäre die Frage, welche lateinischen Kommentare benutzt sind. 57 Die Abweichungen in der Texteinrichtung der Humery-Handschriften betreffen Unterschiede in der Formulierung der lateinisch-deutschen Überschriften. Bezeichnend für den Status der Übersetzung dürfte sein, dass die Tübinger Handschrift bei den Prosa- und Verskapiteln deutsche Überschriften bevorzugt, während die Mainzer sie durch Paragraphenzeichen ersetzt, so dass bei ihr der vergleichende Blick auf den lateinischen Text erschwert ist.

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synnige tieff vnd heilsame rede erquicket vnd min verwonte hercze getroste [...].‘58 (‚Daher sagt die beglückende Trösterin Philosophia zum Beschluss dieses zweiten Buches: „O Geschlecht der Menschen, du wärest glücklich, wärest du einträchtig und würdest du mit der Liebe regiert, mit der die Geschöpfe des Himmels regiert werden, unter denen es weder Zwietracht noch Irrglauben gibt.“ Das dritte Buch. Erste Prosa. Als nun die Philosophie durch Belehrung und Vermittlung ihrer einfachen und leichten Arznei Stimmung, Herz und Sinne des Boethius ein wenig erquickte und ermuntert hatte, weitere Belehrung von ihr zu erhalten, wunderte er sich etwas über die tiefe und große Lehre, die ihm wie berichtet zuteil geworden war, und sprach zu ihr: „O du Trost aller Betrübten, wie sehr hast du mich durch deine gewichtigen, sinnreichen, tiefen und hilfreichen Worte erquickt und mein verwundetes Herz getröstet.‘)

In dieser Passage steuert der Dialog zwischen Boethius und Philosophia auf eine höhere Stufe philosophischer Reflexion zu, das Thema der wahren Glückseligkeit, das im achten Metrum des zweiten Buches eingeführt wird. Während sich aber in der lateinischen Consolatio dieser Übergang ausschließlich auf der Ebene des Dialogs ankündigt, in dem Boethius nach stärkeren Heilmitteln verlangt, leitet der deutsche Text aufwändiger und expliziter zu dieser nächsten Stufe über: Neben der Überschrift, die den Beginn des dritten Buches und der ersten Prosa markiert, gibt der Übersetzer den hymnischen Wunsch, in dem das achte Metrum des zweiten Buches gipfelt („O felix hominum genus, / si vestros animos amor / quo caelum regitur regat!“),59 zusätzlich als „besließunge dieses tzweyten gesetczes“ zu verstehen und ruft dabei die Sprecherrolle Philosophias („die selige trosterin“) in Erinnerung. Dieses Verfahren, das die Redesituation und Sprecherrollen ausdrücklich hervorhebt, setzt sich am Anfang des dritten Buches fort. Anders als in der Vorlage wird dort zunächst aber nicht in Ich-Rede erzählt, sondern die erste Prosa beginnt mit einem aus auktorialer Perspektive gegebenen Bericht, der den Gesprächsverlauf resümiert. Es zeigt sich, dass die Übersetzung den Text der Consolatio frei formulierend erweitert und dabei die Erzählsituation umgestaltet. Dies geschieht, um die heilende Wirkung der von Philosophia gegebenen Lehren als Thema in den Vordergrund zu rücken. Es geht darum, so ließe sich auch sagen, den dialogischen Prozess der Tröstung des Boethius zu fokussieren und durch Erläuterung dieses Zusammenhangs eine thematische Kohärenz zu stiften, die im lateinischen Text so nicht explizit formuliert ist. Dieses die Explikation der Textkohärenz an-

_____________ 58 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 123rb-123va. Hervorhebung von mir. 59 Vgl. Gruber, Kommentar (Anm. 33), S. 228f.

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strebende Übersetzungsverfahren60 bringt zwar inhaltliche Wiederholungen mit sich, wie zu Beginn des eigentlichen Dialogs deutlich, wo Boethius bis in den Wortlaut bereits Gesagtes spricht. Offenbar nimmt der Übersetzer derartige Redundanzen jedoch zur Erreichung seines Ziels, das Sinnverständnis des Lesers zu führen, in Kauf. Dass dieses Verfahren für die Consolatio Humerys charakteristisch ist, unterstreicht ein Fazit in der Untersuchung Michael Mommerts, der geradezu ein „Gerüst von Verständnishilfen“61 beobachtet hat. Ähnlich verhält es sich mit der internen Gliederung der Prosa- und Verskapitel, in denen allenthalben strukturierende Aufzählungen von Argumenten und Beispielen begegnen, die im lateinischen Text ohne Entsprechung sind. Da Humery die Versformen der Consolatio in Prosa auflöst, greift diese Form der Textgliederung auch in die Metren ein, die dadurch neue Strukturen und veränderte Funktionen erhalten. Komplementär zur diskursiven Form der Prosastücke dienen sie nun expliziter als bei Boethius dazu, Lehren aus den Argumentationen zu ziehen und diese durch Beispiele und Vergleiche zu illustrieren. Die Nicht-Übernahme der Metren erklärt sich dabei am ehesten jedoch formal aus der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, einer metrischen Übersetzung. Gleich zu Beginn des dritten Buches geht es um die Erkenntnis, dass das Böse uns zur Einsicht in das Gute und die wahre Glückseligkeit verhilft. Im ersten Metrum des dritten Buches knüpft Humery daran auf folgende Weise eine mit Erläuterungen versehene Exempel-Reihe an: Metrum primum. Des nymme vier exempel, da by dv erkennen mogest, das durch erkentenisse des bosen man kommet zu bekenttenisse des guden. das ein ist, so wir der ecker genießen vnd die durch die seehunge frochtbair machen wollen, so ruten wir uß zu dem ersten alle vnkrut, disteln vnd anders, daz dem samen hinderliche vnd sche[124ra]delich ist, vnd alß dan erste fahen wir ane zu sehen. das ander ist, so du off etwas, das dir dinen mont verbittert hat, gebruchest honnig oder ander suße dinge, so sporest du baz, was sußekeit ist, dann so du das bitter ding nit gesmacket hast. Vnd so ist iß auch, so wir erkennen die bitterkeit der vnvollenkommenheit der gude der fortunen, so vorstehen wir da baz die sußekeit der rechten vnd waren ewigen seligkeit. davon so sprichet der metriste also, das der iehene, der da nit gesmacket hait das bitter, der gedenckt nit an das sueß. daz dritte ist. So die vngestumigkeit der winde, die vns nebel, hagel, ryffe vnd ander vngemach zu fugent, geligent vnd die lufft sich puert62, so spüren wir da baz die klarheit der sterrne. desglichen vnd zu dem vierden male ist zu sporen, in dem das der tag noch hien gang, der nacht lostiglich erschynet. Same ist is auch die in der bekenttnisse der rechten seligkeit, die wir in vnserm innerlichen vorstenttenisse

_____________ 60 Dazu ausführlich Bodemann, Cyrillusfabeln (Anm. 10), S. 192-206. 61 Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 86. 62 Die Mainzer (Anm. 20, fol. 24r) und die Tübinger Humery-Handschrift (Anm. 20, fol. 37v) schreiben „reyniget“ bzw. „rayniget“.

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baz erkennen mogen dan so wir die unvollkommen seligekeit nit dirkant hetten oder erkenten.63 (‚Erstes Metrum. Daraus ziehe vier Beispiele, anhand derer du verstehen kannst, dass man durch Erkenntnis des Bösen zur Einsicht in das Gute gelangt. Das erste Beispiel: Wenn wir die Äcker nutzen und durch Säen fruchtbar machen wollen, so reißen wir zunächst alles Unkraut, Disteln und anderes aus, was für die Saat störend und schädlich ist, und erst danach beginnen wir zu säen. Das zweite Beispiel ist: Wenn du nach etwas, das dir den Geschmack bitter gemacht hat, Honig oder andere süße Dinge nimmst, so spürst du besser, was Süße ist, als wenn du das Bittere nicht geschmeckt hast. Und so verhält es sich auch, wenn wir die Bitterkeit der unvollkommenen Güter der Fortuna erkennen, denn dann verstehen wir die Süße der richtigen und wahren ewigen Seligkeit. Dazu sagt der Dichter, dass derjenige, der das Bittere nicht geschmeckt hat, sich auch nicht an das Süße erinnert. Das dritte Beispiel: Wenn sich die stürmischen Winde, die uns Nebel, Hagel, Reif und anderes Ungemach zufügen, legen und die Luft sich reinigt, so sehen wir besser die Klarheit der Sterne. Desgleichen und damit zum vierten Mal ist zu sehen, dass dann, wenn der Tag gerade zu Ende geht, die Nacht lustvoll erscheint. Ebenso geht es auch bei der Erkenntnis der wahren Glückseligkeit, die wir in unserem inneren Verständnis besser zu erkennen vermögen, als wenn wir die unvollkommene Seligkeit nicht erkannt hätten oder erkennen.‘)

Während die Übersetzung inhaltlich kaum über eine Paraphrase des Metrums hinausgeht, lehnt sie sich im Aufbau an Formen aufzählender Erklärung und allegorische Auslegungen der vier Exempla an, wie sie lateinische Consolatio-Kommentare, z.B. Pseudo-Thomas, bieten. Entsprechend gestaltet Humery eine Reihe von Metren zu Kommentaren um und verleiht ihnen Exempel-Funktion.64 Damit ersetzt er das Prosimetrum der Consolatio durch eine kommentarartige Struktur. Beachtet man, dass die Übersetzung an die lateinische Vorlage zurückgebunden bleibt, so lässt sich diese Form der Text- und Wissensorganisation mit Auslegungs- und Lesepraktiken der scholastischen lectio65 in Verbindung bringen. Wie konsequent dieser Wechsel von argumentativer Prosa und illustrierenden Metren den Text der Übersetzung bestimmt, müsste noch untersucht werden. Jedenfalls spricht diese Umformung dafür, dass Humerys übersetzerische Eingriffe die Textstrukturen der Consolatio nicht

_____________ 63 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 123vb-124ra. Hervorhebungen von mir. 64 Überblick bei Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 80-85. 65 Dazu die Überlegungen bei Palmer, Nebeneinander von Volkssprache und Latein (Anm. 8), S. 598. Eine ähnlich tief eingreifende Umgestaltung lässt sich in der Consolatio Theologiae des Johannes von Dambach finden; vgl. Albert Auer: Johannes von Dambach und die Trostbücher vom 11. bis zum 16. Jahrhundert, Münster 1928, S. 6672.

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nur peripher betreffen, sondern sie durch andere Präsentations- und Gliederungsformen ersetzen, die den Transfer in neue Verwendungszusammenhänge ermöglichen. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern Humery auch in die Erzählsituation der Consolatio eingreift und sie umgestaltet. Für eine Antwort kehre ich zum Textbeginn zurück, genauer dem Übergang von der Vorrede zum Dialog zwischen Boethius und Philosophia. Diese Passage weist in der Berliner Humery-Handschrift die Besonderheit auf, dass Vorrede und erstes Metrum im Text miteinander verschmolzen sind.66 Das Metrum gehört dort zur Boethius-Vita: So nv derselbe Boecius in dem gefengnisse betrahten was den staite vnd das wesen, auch wirde vnd gut darin er fürmals geseßen vnd nu vertrungen vnd beraubet was, wart er in syme gemüde sere betrüpte vnd trurig, so das yem ellendete vnd er keyner freuden noch kurtzwilen geplegen mochte, sunder sich alleyne mit carmen, weynen, trock, vnd liden bekommert, so lang bitcz das er dorch syne vernunffte vnderstunt, yme selbst soliche herczeleit vnd betrüpnisse zu benemen vnd das dorch diechtunge frolicher sprüche, lare vnd gedichte, die doch in deheynen weg verfangen wolten, sunder sin gemüte ye me vnd me beswereten vnd pynegten [Hs. pyngeten]. Deshalb er yem vor name, hien für troste zu suchen nyt yen zytlicher wolloste, sunder in bestendigen vnd gotlichen dingen. dauon so hat er die obgemelte syne historje in syme gefengnisse bracht vnd vollenzogen in forme, maiß vnd wise, man hernach innen werden mag. dar in er etwan reddet in der gestalt eyns elenden gefangen vnd innerlichen verwunten mentsches, genante Boecius, vnd etwan in einer gestalt eyns frauwen bildes, eyner mynsamer trosterynne vnd gesuntmacherynne aller betrüpten herczen, [110ra] genante philosophia, vnd gibt damit zu erkennen den handel [Hs. handeln], der sich zuschen ir vnd yme jn deme gefengnisse begeben hat.67 (‚Als nun Boethius in diesem Gefängnis die Stellung und die Verhältnisse, außerdem auch Ansehen und Besitz betrachtete, die er vormals hatte und aus denen er nun herausgedrängt worden war und derer er beraubt war, machte ihn das so betrübt und traurig, dass es ihm schlecht ging und er sich weder Freuden noch Vergnügungen hingeben konnte, außer dass er sich mit Gedichten, Tränen, Not und Leiden quälte, so lange bis er durch seine Vernunft darauf kam, sich selbst von solchem Schmerz und Leid zu befreien und dass Dichtung, fröhliche Sprüche, Lehren und Gedichte in keiner Weise helfen würden, sondern seine Seele nur noch mehr beschwerten und quälten. Deshalb fasste er die Absicht, nicht in vergänglichen Gütern Hilfe zu suchen, sondern in unvergänglichen und

_____________ 66 Ein Vergleich zeigt, dass die Einrichtung des Textbeginns mit Vorrede und erstem Metrum in den drei Humery-Handschriften voneinander abweicht. In der Berliner Handschrift sind die zwei Teile der Vorrede und 1,m1 nicht eigens markiert. Die Mainzer Handschrift (Anm. 20) macht zwar die Vorreden durch Großinitiale und Absatz kenntlich (fol. 2v), nicht aber den Beginn des ersten Metrums. Allein der Tübinger Codex (Anm. 20) hebt durch Überschriften die Struktur der Vorrede und den Beginn des Metrums hervor (fol. 2r, 3r, 4r). 67 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 109vb-110ra.

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göttlichen Dingen. Aus diesem Grunde hat er seine genannte Geschichte im Gefängnis in Form, Maß und Gestalt gefasst und ausgeführt, wie im Folgenden zu sehen ist. In der Geschichte redet er das eine Mal in der Gestalt eines heimatlosen, gefangen gehaltenen und verwundeten Menschen, der Boethius heißt, und das andere Mal in weiblicher Gestalt, der einer liebenswürdigen Trösterin und Ärztin aller betrübten Menschen, mit Namen Philosophia. Auf diese Weise stellt er die Verhandlung dar, die sich zwischen ihr und ihm in jenem Gefängnis zugetragen hat.‘)

Voraus geht dieser Stelle eine Vita, die mit dem Aufstieg des Boethius beginnt, sein öffentliches Wirken unter der Herrschaft Theoderichs darstellt und von seiner ungerechten Verurteilung und der Verbannung aus Rom berichtet.68 Nach dem Willen des Übersetzers soll diese Lebensbeschreibung dazu dienen, „das man den ingang vnd handel der historien da clarer begriffen vnd versten moge“.69 Was damit – dem besseren Verstehen von Anfang und Verlauf der Geschichte – gemeint ist, zeigt die zitierte Passage, in der es weniger um die Gefangenschaft des Boethius und sehr viel mehr um Anlass und Motive der Entstehung der Consolatio geht: Um Leiden und Trauer zu überwinden, habe Boethius Trost bei dauerhaften und göttlichen Dingen gesucht und deshalb seine Geschichte während seiner Gefangenschaft in kunstvoller Form gestaltet („syne historje in syme gefengnisse bracht vnd vollenzogen in forme, maiß vnd wise“). Nach diesem Verständnis schrieb Boethius zwar, um in einer Situation persönlichen Unglücks Trost zu finden, doch ist die Consolatio aus Sicht der Vorrede keine autobiographische Schrift, in der Boethius selbst spricht und sein Leben darstellt. So sehr nur überraschen kann, dass der mittelalterliche Text anders als viele moderne Interpreten die Consolatio gerade nicht als eine Art Autobiographie versteht,70 so unmissverständlich weist Humery zunächst auf die literarische Gemachtheit der Trostschrift und dann deren besonderes Erzähl- und Dialogkonstrukt hin: Der Autor rede nämlich das eine Mal in Gestalt eines heimatlosen Gefangenen und innerlich verwundeten Menschen, der Boethius heißt, das andere Mal aber in Gestalt einer Frau namens Philosophia, einer liebenswerten Trösterin aller betrübten Herzen, und so stelle er die Verhandlung dar, die sich zwischen ihr und ihm im Gefängnis zugetragen hat. Humerys Vorrede unterscheidet also den Autor Boethius gegenüber den fingierten Sprecherrollen des Dialogs. Damit etabliert sie zugleich die

_____________ 68 Eine erste Einordnung der Vita bei Heerding, Probleme des frühen Humanismus (Anm. 15), S. 375. 69 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 109va. 70 Dazu grundsätzlich Reinhold F. Glei: „In carcere et vinculis? Fiktion und Realität in der ‚Consolatio Philosophiae‘ des Boethius“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 22/1998, S. 199-213, hier S. 204-206.

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Differenz zwischen der biographisch zu verstehenden Boethius-Vita auf der einen und der mit literarischen Mitteln hergestellten Erzählsituation des Dialogs auf der anderen Seite. Für die Übersetzung erweist sich diese Differenz als grundlegend, weil die gewonnene Perspektive anders als bei Boethius nicht wieder verloren geht. Vielmehr tritt neben den IchErzähler der Consolatio, der innerhalb der erzählten Welt situiert ist, eine zweite auktoriale Erzählinstanz hinzu, die in einer Außenperspektive über das Gespräch zwischen Boethius und Philosophia berichtet.71 Zum Ausdruck kommt diese zusätzliche Perspektive bereits darin, dass etwa der Ort, an dem das Gespräch stattfindet, nicht relativ unbestimmt bleibt,72 sondern konkret als Kerker erscheint. Darüber hinaus schreibt Humery Philosophia so konsequent die Rolle der Trösterin zu, dass die Figur eine Eindeutigkeit annimmt,73 wie sie in der Consolatio nicht zu finden ist. Angesichts solcher einschneidenden Veränderungen des lateinischen Textes wäre im Kontext einer Rezeptionsanalyse nun die Frage zu stellen, inwieweit damit die ursprüngliche Werkstruktur der Consolatio missverstanden sein könnte. Da es mir jedoch auf Probleme des sprachlichen und kulturellen Transfers ankommt, klammere ich diesen Aspekt vorläufig aus, um stattdessen in Zusammenfassung meiner Analyse noch Humerys interpretatio Christiana ansprechen zu können.

V Es ist kein bloß äußerlicher Zusatz, wenn Humerys Consolatio in der Berliner Handschrift eine demütige Anrufung der Dreifaltigkeit vorangestellt ist.74 Die Invokation ist zwar formelhaft gefasst, doch rahmt bereits sie

_____________ 71 Die Vorrede ist für das Verständnis dieser erweiterten Erzählsituation bislang noch nicht genutzt worden; vgl. Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 52; Palmer, Nebeneinander von Volkssprache und Latein (Anm. 8), S. 585. 72 Zur Unbestimmtheit des Gesprächsortes bei Boethius vgl. Glei, In carcere et vinculis? (Anm. 70), S. 204. 73 In der Übersetzung von 1,p1 fallen so z.B. nicht nur die Zeichen der Göttlichkeit der Figur, sondern bei der Beschreibung des Gewandes auch das S- und TSymbol weg, so dass die allegorische Darstellung der Philosophie und ihre Geschichte verloren gehen; eine Analyse der besonderen Präsenzwirkung der Figur bietet Christian Kiening: „Personifikation. Begegnungen mit dem FremdVertrauten in mittelalterlicher Literatur“, in: Helmut Brall u.a. (Hrsg.), Personenbeziehungen in mittelalterlicher Literatur, Düsseldorf 1994, S. 347-387, hier S. 362-365. 74 Es handelt sich um ein kurzes Stoßgebet, das ein Zusatz des Schreibers sein dürfte; vgl. Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 109ra: „In dem namen der heiligen drivaldigkeit, in der alle dinge bestehent vnd wesen habent, der auch

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den Text als geistliches Werk. Ganz deutlich wird dieser Status durch den Textbeginn mit dem einleitenden Gedanken, dass der mit Vernunft begabte Mensch die von Gott geschaffene Ordnung der Welt in ihrer Erhabenheit zu schauen und erkennen vermag: So die vernunfftige creature menschliches konneß betrachtet die hoede der vnsichtigen dinge goddes, die sie, nach deme der apostel Paulus sprichet, in der vernunfft by den gescheftten vnd siechtigen dingen bekennen ist vnd da by besynnet die uberflußige gnade, gabe vnd gutheit, die der Almechtige got durch sin grundelose barmherczekeit vns sunder alles vnsers verdienen vnd zu thun miltiglichen erzeuget hat vnd tegelichen erzeuget, wirt sie nit vnpillichen beweget sich zu üben in togentsamen vnd gotlichen wirckungen, vff das sy nit in vndanckberkeyt funden werde, sunder in gottes hulden vorliben vnd ewige seligkeyt erwerben mogen.75 (‚Wenn die vernünftige Natur des menschlichen Geschlechts die Erhabenheit des unsichtbaren Wesens Gottes betrachtet, die sie, wie der Apostel Paulus sagt, in ihrer Vernunft an den Geschöpfen und sichtbaren Dingen erkennt, und wenn sie sich dabei auf die endlose Gnade, Freigebigkeit und Gutheit besinnt, die der allmächtige Gott in seiner unergründlichen Barmherzigkeit uns ohne unser Zutun und aus Mildtätigkeit erwiesen hat und täglich erweist, wird sie nicht unverdient dazu bewegt, sich in tugendhaften und gottgemäßen Taten zu üben, damit sie nicht in Undankbarkeit verharrt, sondern in der Gnade Gottes bleiben und die ewige Seligkeit erlangen kann.‘).

Wenn der vernünftige Mensch, so führt Humery aus, die endlose Gutheit und Barmherzigkeit Gottes betrachtet, wird er zu tugendhaften und gottgemäßen Taten bewegt, damit er nicht als undankbar erscheint, sondern Gottes Gnade behalten und die ewige Glückseligkeit erlangen kann. Mit diesem Gedanken ist in einem ersten Zugriff ein religiöser Vorstellungshorizont umrissen, der christliche Begriffe und Themen aufruft, die für die Consolatio Philosophiae zentral sind. Auch wenn dieser Zusammenhang erst im Text greifbar wird, so ist doch nicht zu übersehen, dass Humery mit dem Aufblick zur zeitlosen Ordnung Gottes, dem glaubenden Handeln des Einzelnen sowie dem Erreichen der Glückseligkeit eine Perspektive entwickelt, die seine christliche Auslegung der Consolatio bestimmt. Wie Humery dabei eigene Akzente setzt, zeigt schon das Zitat aus dem Römer-Brief des Apostels Paulus an, wonach der geistliche Mensch die Fähigkeit besitzt, das unsichtbare Wesen Gottes an dessen Wirken in der sichtbaren Welt zu erkennen.76 Darüber hinaus ist zu sehen, dass er kon-

_____________ alle knye, hiemelsche, yrdensche vnd helsche beygende sint. Amen.“ Übersetzung: ‚Im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, durch die alle Dinge existieren und vor der sich alle Knie des Himmels, der Erde und der Hölle beugen.‘ 75 Ebd., fol. 109ra. 76 Vgl. Rom 1,20. Im Kontext der paulinischen Anthropologie und Heilslehre ist der ‚innere‘ Mensch gemeint, der sich von den Begierden des Körpers befreit hat.

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kret christlich von Gottes Gnade und Barmherzigkeit und der Belohnung einer tugendhaften Lebensführung durch die „ewige seligkeyt“ im Jenseits spricht.77 Solche Akzentsetzungen begegnen nicht nur punktuell: Humerys Übersetzung ist so stark von christianisierenden Verweisen, Sinnverschiebungen und Umdeutungen durchzogen, dass der Text „nicht sehr aufdringlich, aber doch spürbar“ eine übergreifende Deutungsperspektive dergestalt erhält, dass die Consolatio „ein frommes Buch im spezifischen Sinn“ wird.78 Zu zeigen war diese Lesart Humerys bislang an der christianisierenden Umdeutung einiger antiker philosophischer Begriffe – deus, beatitudo, divinae substantiae, providentia – sowie vielen Erweiterungen, die den lateinischen Text bevorzugt durch Zitate und Beispiele aus der Bibel sowie belehrenderbauliche Zusätze expandieren.79 Wenn es in der sechsten Prosa des vierten Buches um die Begriffe Vorsehung (providentia) und Schicksal (fatum) geht, führt Humery so etwa David, Hiob, Tobias und Petrus als biblische Beispielfiguren an, die Gott Widrigkeiten aussetzte, um sie auf den rechten Weg zu führen: etlichen fvgete er zu widderwurtigkeit, vff das sie durch ire lange woilfaren nit fallen in vnluterkeit [Hs. vndluterkeit]. Als david etlichen fugete er zu widderwurtigkeit deshalb, das er dorch gedolt die creffte der selen stercke. Als Iob. Es sint eins teyls lude, die, da me dan woil billich ist, forchte han der widderwurtige dinge, die sie doch woilgeliden konnen. den fvget got zu widderwurtigkeit, off das sie lerent liden die swerkeit der widderwurtigkeit. Als thobie. Eynßteils lute gebent uß vnd rument sich des, daz sie doch nit erliden mogent, vnd den fuget got zu widderwurtige dinge, off das sie erkennen mogen die beswerunge der widderwurtigkeit. Als dem aposteln sant peter. Eyns teyls hant den toidt vmb gottes willen gelidden. Als die merteler. Eyns theils hat man durch mancherhande quail vnd pyne nit mogen vbirwinden. das vns vrkunde gibt, das die togent durch bosheit nit zu vbirwinden ist.80 (‚Viele setzte er Widrigkeiten aus, damit sie wegen ihres langen Wohlergehens nicht unlauter werden. So wie David fügte er vielen Widrigkeiten zu, damit er

_____________ 77 Vgl. zum Begriff der Glückseligkeit in der Consolatio eindringlich Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1985, hier S. 324f. 78 Mommert, Konrad Humery (Anm. 7), S. 118. 79 Das prominente Beispiel für interpretierende Streichungen bietet die Übersetzung von 3,m9, das anders als fast alle anderen Metren sonst Gedichtform behält und dadurch hervorsticht. Humery übergeht wesentliche Teile des lateinischen Textes, die entweder zu anspruchsvoll sind oder christlichem Denken entgegenstehen, so z.B. die nur im Kontext der pythagoreischen Zahlenmetaphysik zu verstehenden Aussagen über die Ordnung der Elemente (10f.) und die Ausführungen zur anima mundi (14-17) und Präexistenz der Individualseelen (18-21). 80 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 145rb-va.

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durch Geduld die Kräfte der Seele stärke. So wie Hiob gibt es einige Leute, die sich, mehr als wohl richtig ist, vor den widrigen Dingen fürchten, die sie aber doch ertragen können. Denen fügt Gott Widrigkeiten zu, damit sie deren Beschwernis zu ertragen lernen. So wie Tobias tun sich einige Leute hervor und rühmen sich dessen, was sie doch nicht ertragen können. Denen fügt Gott Widrigkeiten zu, damit sie die Schwere der Widrigkeiten zu erkennen vermögen. So wie der heilige Apostel Petrus haben einige Leute um Gottes willen den Tod erlitten. So wie die Märtyrer hat man einige selbst durch vielfältige Qualen und Peinigungen nicht überwinden können. Das zeigt uns, dass die Tugend durch Schlechtigkeit nicht zu besiegen ist.‘)

An solchen Textpassagen lassen sich zugleich Exegese- und Kommentartechniken beobachten, mit denen Humery seine Übersetzung orchestriert. Neben biblischen Zitaten und Vergleichen gehören dazu allegoretische Auslegungen, doch auch Exempla und Proverbien, die – ein Beispiel von mehreren – so wie das übertragen verstandene Sprichwort ‚Freunde in der Not‘ den Sinn eines Kapitels in lehrhafter Form erschließen.81 Bei alldem nimmt Humery die Consolatio nicht naiv als christliches Werk, sondern setzt sich zumal mit den platonischen Lehren des Textes (Anamnesis, Präexistenz der Seele) unter christlichem Blickwinkel kritisch auseinander.82 Es ist deutlich, dass Humery über die gesamte Übersetzung hin auf mehreren Ebenen seinen Ausgangstext verändert, indem er den in dieser Hinsicht offen gehaltenen Anschauungen, Motiven und Begriffen der Consolatio eine eindeutig christliche Semantik zuschreibt. Nicht zuletzt auch dafür nutzt er einen Auslegungsapparat, der ihm geistliche Belehrungen wie problematisierende Stellungnahmen ermöglicht.

_____________ 81 Vgl. ebd., fol. 123ra, Philosophias abschließenden Redepart in 2,p8: „Boeci, dv haist viel ein beßers erlangt durch verließunge der zytlichen gude dan durch ir behaltunge, so dv in dyme anfechten befindest, wer din frünt sy, want in notten stehent eynem abe sin vnrehten fründe. Also hant auch getan die zytlichen gude, die dir die fortun verluhen [?] hat. Abir was dir die natuer, das ist got selber, geben hat, daz sint din rechten fründe. Nemlich din vernunffte, din vorstentenisse vnd din togent. Vnd die hant dich noch nit verlaißen.“ Übersetzung: ‚Boethius, durch den Verlust der zeitlichen Güter hast du etwas Besseres als durch ihren Erhalt gewonnen, so wie du in deiner Bedrängnis erfährst, wer deine Freunde sind, denn in der Not gehen einem seine falschen Freunde verloren. Ebenso verhält es sich mit den zeitlichen Gütern, die dir Fortuna geschenkt hat. Doch was dir die Natur, d.h. Gott selber, gegeben hat, das sind deine wahren Freunde, nämlich deine Vernunft, dein Verstand und deine Tugend. Und die haben dich nicht verlassen.‘ 82 Vgl. ebd., fol. 149rb, die in 5,p2 formulierte Kritik an der Lehre von der Präexistenz der Seelen, die „nit ware ist“, da unser „glaube“ besagt, dass die Seele durch Eingießung geschaffen wird; in 4,p4 fügt Humery den Hinweis auf die Todsünde ein, um zu begründen, dass die Seele nach dem Tode bestraft werden kann.

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Will man diese Ergebnisse weiter kontextualisieren, so fällt in einem ersten Aspekt auf, dass Humery selbst den Transfer der Consolatio in die Volkssprache thematisiert. Bereits in der Vorrede beruft er sich auf Lehrer der Heiligen Schrift und Gottesfreunde,83 die gute Werke getan und ihren Mitchristen durch Lehren und gelehrte Schriften dienen.84 Dabei geht er von der Weitergabe eines ursprünglich mündlichen Wissens aus, das Beispiele frommer Lebensführung ‚authentisch‘ bewahrt und daher besondere Geltung beansprucht. Humery, das ist wichtig, stellt die Consolatio in diesen Kontext einer gelehrten Tradition, er kann sie von da als christliches Trostbuch profilieren und zumal durch Motive aus der Leidenstheologie85 ihre Einbindung in den religiösen Diskurs sichtbar machen. Anders als in der zur gleichen Zeit entstandenen Erfurter Übersetzung86 geschieht dies nicht so sehr durch Verweise auf Märtyrerfiguren des Alten und Neuen Testaments – es ist die Thematisierung der den Menschen bedrängenden Widrigkeiten des Daseins und der Tröstung im Leiden, die besonderes Gewicht erhalten. Die Bedeutung dieses Themas ist daran abzulesen, dass Humery, stoischem Denken verpflichtet, wiederholt fordert, die Begierden des Körpers zu kontrollieren und die Affekte durch Vernunft zu bezwingen. Besonders eindringlich faltet er diese Perspektive im fünften Metrum des dritten Buches aus: Wer da wil recht gewaldig sin, der sal durch sin vernunffte bezwingen sin synnichkeit vnd begirde […]. die wyle aber der mensche daran dicke verhindert wirt durch freude, forcht, hoffen, zorne vnd desglichen, so ist is noit, das der mensche durch sine vernunfft vnd verstentenisse sin sinnlichkeit vnd begirlichkeit so zwinge, das si nit ubirnthandt nemen, yen ubirwinden vnd von siner rechten wirckunge nit ziegen. So ist er recht gewaldig vnd hat recht vnd vollenkommen gewalt vnd macht. dauon sprichet plato also: Sich selbst uberwinden, ist die hoeste vnd beste victorie. Es sprichet auch Seneca, das der ihene, der sich selbst regiert, das ist, das er sin synlichkeit vnd begirde zwinget vnd recht ordent, viel eyn großer regiment ube vnd tribe dan der ihene, der die werlt regiert.87 (‚Wer wahrhaft mächtig sein will, der muss durch seine Vernunft seine Sinnlichkeit und Begierde beherrschen […]. Solange der Mensch aber daran durch

_____________ 83 Der Ausdruck „fründe gottes“ betont die Beziehung des Menschen zu Gott und seine spirituelle Orientierung; vgl. Regina D. Schiewer: „Vos amici dei estis. Die Gottesfreunde des 14. Jahrhunderts bei Seuse, Tauler und in den ‚Engelberger Predigten‘: Religiöse Elite, Verein oder Literaturzirkel?“, in: Oxford German Studies 36/2007, S. 227-246. 84 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 109ra. 85 Vgl. oben S. 136-138. 86 Vgl. Palmer, Latin and Vernacular (Anm. 3), S. 381-391, sowie den Beitrag von Yvonne Dellsperger in diesem Band. 87 Berliner Humery-Handschrift (Anm. 20), fol. 127ra-vb.

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Freude, Furcht, Hoffen, Zorn und dergleichen gehindert wird, ist es nötig, dass er durch Vernunft und Verstand seine Sinnlichkeit und seine Begehrlichkeit so kontrolliert, dass sie nicht zu stark werden, ihn nicht überwinden und an seinem rechten Handeln hindern. Dann ist er wahrhaft mächtig und übt rechte und vollkommene Macht aus. Darüber sagt Platon: Sich selbst überwinden, ist der höchste und größte Sieg. Auch Seneca sagt, dass derjenige, der sich selbst regiert, das heißt, dass er Sinnlichkeit und Begehren beherrscht und auf rechte Weise ordnet, viel größere Herrschaft ausübt als derjenige, der über die Welt herrscht.‘)

Humery geht es um die Einübung einer durch das Selbst gesteuerten Kontrolle der Affekte. Allerdings steht diese stoisch geprägte Form der Lebenskunst und Selbstsorge nicht isoliert: Sie ist vielmehr gebunden an die christliche (doch auch platonische) Praxis der Betrachtung des Himmels und der darin angelegten Disposition des Menschen zur Tugendhaftigkeit. Wenn am Ende des fünften Buches mit dem Verhältnis von Mensch und Tier die anthropologischen Grundlagen der Consolatio in den Blickpunkt rücken, hebt Humery in diesem Sinne die Bedeutung des aufrechten Ganges hervor, da er nicht nur den Blick zum Himmel ermögliche, sondern gerade auch zeige, dass der Mensch seine Vernunft Gott zuwenden und alle irdischen Dinge verschmähen soll.88 Inwieweit die Position Humerys anderen literarischen Werken seiner Zeit nahe steht – zu denken ist an die deutsche Rezeption von Petrarcas De remediis sowie Albrechts von Eyb Ehebüchlein –, wäre in einem nächsten Schritt zu diskutieren.89 Beachtet man die sich ausbreitende Frömmigkeit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts,90 so könnte es dabei auch um die

_____________ 88 Vgl. ebd., fol. 153va-b: „Metrum quintum. Dauon ist die philosophie vns vermanen, das wir unser gemüte vnd vernunffte zu got keren vnd nit tun als die vnvernunfftigen bestien, die alleyn neygunge hant zu erdenschen dingen vnd deshalb allezyt ir heubt neygen sint zu der erden, das dar ein zeichen ist irer dolheit vnd vnwissenheit. Abir der mentsche hat von godde, das er offrichtig gehen vnd sin angesichte zu den hymmeln keren mag zu einer orkünde, das er auch sin vernunffte zu godde keren vnd erdensche dinge vorsmehen sal.“ Übersetzung: ‚Fünftes Metrum. Daher ermahnt uns die Philosophie, dass wir unsere Gesinnung und Vernunft Gott zuwenden und uns nicht so verhalten wie die vernunftlosen Tiere, die allein irdischen Dingen zugeneigt sind und deshalb immer ihre Köpfe zum Boden neigen, was ein Zeichen ihres törichten Wesens und ihrer Unwissenheit ist. Aber der Mensch hat von Gott [die Fähigkeit] erhalten, dass er aufrecht gehen und sein Angesicht zu den Himmeln als Zeugnis dafür zu erheben vermag, dass er auch seine Vernunft zu Gott wenden und alle irdischen Dinge verschmähen soll.‘ 89 Vgl. oben S. 136. 90 Vgl. Bernd Moeller: „Frömmigkeit in Deutschland um 1500“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 56/1965, S. 5-31, bes. S. 21f.; Berndt Hamm: „Wollen und NichtKönnen als Thema der spätmittelalterlichen Bußseelsorge“, in: Berndt Hamm /

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Frage gehen, wie die christliche Perspektive, die Humerys deutsche Übersetzung der Consolatio Philosophiae bestimmt, mit Heilssehnsucht, Trostbedürfnis und seelsorgerischer Erwartung volkssprachiger Leser der Zeit konvergiert.

_____________ Thomas Lentes (Hrsg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001, S. 111-146.

Boethius Christianus sive Platonicus Frühe mittelalterliche Kommentare zu O qui perpetua mundum ratione gubernas SUSANNA E. FISCHER (München) In this paper we study the early commentaries on Boethius’ carmen 3, 9 such as Remigius of Auxerre, Bovo of Corvey and Adalbold of Utrecht. The main issues are on the one hand to make a survey of existing editions and the general purpose of the commentary – to christianize the Consolatio or to explain the Platonism of Boethius. On the other hand we study in detail, how the commentators deal with two problems in c. 3, 9: the explanation of vitae et animae minores and the chariot of the soul in verses 18-21.

In seiner Consolatio Philosophiae tröstet sich Boethius am Ende seines Lebens mit der Philosophie, nicht mit seinem christlichen Glauben. Davon zeigen sich seine Leser bis heute irritiert. In der Mitte dieses Werkes steht das Gedicht „O qui perpetua mundum ratione gubernas“ (III m. 9), ein platonischer Hymnus, den Renatus Vallinus im 17. Jahrhundert als veluti quandam {SLWRP Q primae partis Timaei bezeichnet.1 Bis heute ist das Problem, wie sich Boethius’ Christentum zu seinem Platonismus verhält, in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Consolatio Thema.2 Im 18. und 19. Jahrhundert kommt in der Forschung die Meinung auf, die Opuscula Sacra und die Consolatio könnten nicht von demselben Autor stammen.3 Erst der Fund des sogenannten Anecdoton Holderi beendet diese Diskussion. Dieses Zeugnis Cassiodors, das HolderEgger 1860 entdeckt, bestätigt die Identität des Verfassers der Opuscula Sacra und der Consolatio.4

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Friedrich Klingner: De Boethii consolatione philosophiae, Berlin 1921, S. 39. Vgl. dazu Marenbon, John: Boethius, Oxford 2003, S. 154f. Vgl. Marenbon, Boethius (Anm. 2), S. 155. Vgl. Usener, Hermann: Anecdoton Holderi, Ein Beitrag zur Geschichte Roms in ostgotischer Zeit, Leipzig 1877. Galonnier, Alain: Anecdoton Holderi ou ordo generis Cassiodorum: Éléments pour une étude de l’authenticité Boécienne des Opuscula Sacra, Paris 1997. Dazu Marenbon, Boethius (Anm. 2), S. 155, Anm. 30.

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Verwunderung darüber, dass die Consolatio im Unterschied zu anderen Werken des Boethius nicht zu dem christlichen Glauben des Boethius passe, ja diesem sogar entgegengesetzt sei (catholicae fidei contraria)5, äußert schon Bovo von Korvei, der im 10. Jahrhundert den Hymnus „O qui perpetua...“ kommentiert. Dieser Kommentar soll gegen die Chronologie der Kommentierung der Ausgangspunkt für diese Untersuchung der frühen mittelalterlichen Kommentare sein. Bovo reflektiert ausführlich das problematische Verhältnis dieses carmen zum Christentum und kommt zu dem Schluss, dass es auch für einen Christen nützlich sein kann, sich in der platonischen Philosophie auszukennen. So bemüht er sich in seinem Kommentar sachlich darum, Boethius’ Platonismus zu erklären – auch wenn es gerade im zentralen Hymnus Passagen gebe, wie er sagt, die mit dem christlichen Glauben unvereinbar seien. Dieser Hymnus, der „Angelpunkt der Consolatio“,6 fand vorrangig das Interesse der Kommentatoren, die in ihm die „Summe der ganzen Philosophie“7 sahen. Der Erklärungsbedarf gerade dieses Gedichts entstand aus der Bemühung heraus, Boethius als Christ zu ‚retten‘.8 Anders als Bovo versuchen viele mittelalterliche Kommentare, Boethius zu christianisieren oder Widersprüche zur christlichen Lehre einfach zu ignorieren.9

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Bovo von Korvei, Kommentar zu III c. 9 der Consolatio Philosophiae des Boethius; hrsg. von R.B.C. Huygens: „Mittelalterliche Kommentare zum O qui perpetua...“, in: ders.: Serta Mediaevalia. Textus varii saeculorum X-XIII in unum collecti, Turnhout 2000, S. 82-140 (= Sacris erudiri 6/1954, S. 373-427), Bovos Kommentar S. 99115, dort S. 100, 349f. Im Folgenden werden die bei Huygens edierten Kommentare nur nach der bei jedem Kommentator durchgehenden Zeilenzählung zitiert. Beierwaltes, Werner: „Trost im Begriff. Zu Boethius’ Hymnus ‚O qui perpetua mundum ratione gubernas‘ “, in: Horst Bürkle/Gerhold Becker (Hrsg.): Communicatio fidei. Festschrift für Eugen Biser zum 65.Geburtstag, Regensburg 1983, S. 241-251, dort S. 243 (wieder abgedruckt in: ders.: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt 1985, S. 319-336). Summa totius philosophiae in his versibus continetur. Diese Marginalglosse aus der Handschrift Paris. lat. 6401 A (eine überarbeitete Version des Kommentars des Remigius von Auxerre) zitiert Bolton, Diane K.: „The Study of the Consolation of Philosophy in Anglo-Saxon England“, in: Archives d’Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age 52/1977, S. 33-78, S. 41. Dieses Ziel verfolgen auch die meisten Kommentare bis ins 17. Jahrhundert auf verschiedene Weise. S. dazu Nauta, Lodi: „ ‚Magis sit Platonicus quam Aristotelicus‘: Interpretations of Boethius’ Platonism in the Consolatio Philosophiae from the Twelfth to the Seventeenth Century“, in: Stephen Gersh/Maarten J.F.M. Hoenen (Hrsg.): The Platonic Tradition in the Middle Ages. A Doxographic Approach, Berlin/New York 2002, S. 165-204. Die wichtigste umfassende Untersuchung zu den Kommentaren zur Consolatio ist Courcelle, Pierre: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire. Antécédents

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Die frühesten bekannten Kommentare zur Consolatio stammen aus der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts:10 der Kommentar des Anonymus von St. Gallen (St. Gallen, Stiftsbibl., Ms. 845) und die Glossen zu der insularen Handschrift Vaticanus lat. 3363.11 Während die Glossen ediert wurden,12 ist von dem Kommentar des Anonymus von St. Gallen bisher keine Gesamtedition vorhanden.13 Der Text ist in nur wenigen

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et Postérité de Boèce, Paris 1967, dessen Untersuchung jedoch an einigen Stellen modifiziert werden muss, so Marenbon, Boethius (Anm. 2), S. 173; dazu Bolton, Study (Anm. 7) und Beaumont, Jacqueline: „The Latin Tradition of the De Consolatione Philosophiae“, in: Margaret Gibson (Hrsg.): Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 278-305. Eine kurze Zusammenfassung mit neuerer Literatur bei Marenbon, Boethius (Anm. 2), S. 173ff. Godden, Malcolm: „The Latin Commentary Tradition and the Old English Boethius: the present state of the question”, www.english.ox.ac.uk/boethius/LatinCommTradition OEBoeth. pdf (Stand 1.6.2008). Weitere Literatur zu III m. 9 in den frühen mittelalterlichen Kommentaren: Nauta, Lodi: „The Preexistence of the Soul in Medieval Thought“. In: Recherches de Théologie ancienne et médiévale 63/1996, S. 93135. Marenbon, John: Early Medieval Philosophy (480-1150), London/New York 21988, 85f. Einen allgemeinen und weiteren Überblick über die christliche Interpretation des Boethius vom 9. bis zum 12. Jahrhundert bei: Troncarelli, Fabio: „Philosophia: vitam monasticam agere. L’interpretazione cristiana della Consolatio philosophiae di Boezio dal IX al XII secolo“, in: Quaderni medievali 15/1983, S. 6-25. Eine Münchner Handschrift aus dem 11. Jahrhundert (München, Staatsbibliothek, Clm. 19452) sowie Bovo, King Alfred und Notker behandelt: Karáth, Tamás: „Quaedam catholicae fidei contraria. The Platonic tradition in the early medieval commentaries and translations of metre III.9 of Boethius’ Consolatio Philosophiae“, in: Kathleen E. Dubs (Hrsg.): What does it mean?, Piliscsaba 2004 (Pázmány Papers in English and American Studies 3). Zur Erwähnung der Consolatio selbst bereits im 8. Jahrhundert bei Alcuin und im 9. Jahrhundert bei anderen Autoren vgl. Bolton, Study (Anm. 7), S. 34f. Zu einer eventuellen Späterdatierung des Anonymus vgl. Godden (Anm. 9), S. 7f. Neben den zwei genannten Kommentaren verfasste Servatus Lupus von Ferrières im neunten Jahrhundert eine Abhandlung über die metrische Form der Gedichte in der Consolatio, vgl. dazu Peiper, L.R.S.: Boethius, Philosophiae Consolationis libri quinque, Leipzig 1871, S. xxiv-xxix und Brown, Virginia: „Lupus of Ferrières on the metres of Boethius“, in: J.J. O’Meara/B. Naumann (Hrsg.): Latin Script and Letters A.D. 400-900, Festschrift presented to Ludwig Bieler on the occasion of his 70th birthday, Leiden 1976, S. 63-79. Troncarelli, Fabio: Tradizioni perdute. La Consolazione Philosophiae nell’alto medioevo, Padua 1981, S. 137-196. Eine Edition des ersten Buches auf der Basis der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibl. Ms. 845 ist vorhanden: Roti, G. C.: Anonymus in Boetii Consolationem Philosophiae Commentarius ex Sangallensis Codice Liber Primus, PhD dissertation, State University of New York at Albany, 1979. Daneben sind zahlreiche Einzelstellen

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Susanna E. Fischer

frühen Handschriften überliefert. Trotz der weiten Verbreitung des Kommentars, den nach ihm Remigius von Auxerre verfasste, greifen auch spätere Kommentatoren noch auf den Anonymus von St. Gallen zurück. Von dem Kommentar des Remigius liegt ebenfalls keine vollständige Edition vor. Einzelne Abschnitte, wie zum Beispiel sein Kommentar zu III m. 9, sind veröffentlicht.14 Es ist ein dringendes Forschungsdesiderat, einen Überblick über die Remigius-Tradition zu gewinnen. Als Übersicht über die Handschriften ist immer noch Courcelle maßgebend, dessen Ergebnisse durch die Beiträge von Bolton15 und Beaumont16 kritisiert und verbessert wurden. Der Text des Remigius ist weiter bearbeitet worden und liegt in vielen revidierten Fassungen vor, die vorrangig das Gedicht „O qui perpetua...“ und mythologische Erläuterungen17 betreffen. Diese späteren Revisionen sind nicht ediert,18 eine Edition ist im Rahmen eines Oxforder Boethius-Projekts geplant.19

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bei Courcelle, Consolation (Anm. 9) publiziert. Godden (Anm. 9), S. 7 berichtet, dass Petrus Tax eine Edition vorbereitet. Bei Silvestre, Hubert: „Le commentaire inédit de Jean Scot Érigène au mètre IX du livre III du ‚De consolatione philosophiae‘ de Boèce“, in: Revue d’histoire ecclésiastique 47/1952, S. 44-122 in der rechten Spalte; ältere Teileditionen auch bei Stewart, H.F.: „A commentary by Remigius Autissiodorensis on the De Consolatione. Philosophiae of Boethius‘ “, in: Journal of Theological Studies 17/1916, S. 2242 und Silk, E.T.: Saeculi noni auctoris in Boetii Consolationem philosophiae commentarius, Rom 1935, dort im Anhang S. 305-343. Die Editionen liegen jedoch nicht in der ursprünglichen Form eines Glossenkommentars vor, was Godden (Anm. 9), S. 5 als Forschungsdesiderat bezeichnet. In zwei älteren Aufsätzen finden sich Hinweise auf eine geplante Edition aller Kommentare zu III, c. 9. Silvestre S. 50, Anm. 1 und Edouard Jeauneau: „Un commentaire inedit sur le chant „O qui perpetua“ de Boèce“, in: Rivista Critica di Storia della Filosofia 14/1959, S. 60-80, dort S. 61, Anm. 3. (Jeauneau ediert die Münchner Handschrift Clm. 14689 aus dem 12. Jahrhundert). Leider kam es nie zur Veröffentlichung dieses Projekts von Silk. Bolton, Study (Anm. 7). Beaumont (Anm. 9). Dazu ausführlich Bolton, Study (Anm. 7), S. 42ff. Für eine Liste der Handschriften s. Jeudy, Colette: „Remigii autissiodorensis opera (Clavis)“, in: Dominique Iogna-Prat u.a. (Hrsg.): L’école Carolingienne d’Auxerre de Murethach à Remi 830-908. Entretiens d’Auxerre 1989, Paris 1991, S. 457-500, S. 485ff. und Courcelle, Consolation (Anm. 9). Godden (Anm. 9), S. 5f. Vgl. dazu die Internetseite des Projekts von Malcolm Godden (University of Oxford): „Boethius in Early Medieval Europe, Commentary on The Consolation of Philosophy from the 9th to the 11th centuries” (http://www.english.ox.ac.uk/boethius/index.html). Bei diesem Projekt handelt es sich um das Folgeprojekt von: „The Alfredian Boethius Project, Anglo-Saxon adaptations of the De Consolatione Philosophiae“ (http://www.english.ox.ac. uk/boethius/AlfredianBoethiusIndex.html).

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Die Schwierigkeiten, denen sich die Forschung hier und überhaupt bei den Consolatio-Kommentaren stellen muss, fasst Troncarelli treffend in Worte: „I commenti sono in uno stato fluido.“20 Im Besonderen für den Fall des Remigius trifft es zu, dass der Text ständig weiterentwickelt wurde. Andere Kommentare können häufig nicht definitiv einem Autor zugewiesen und datiert werden, so dass auch auf diesem Feld viel Raum für Spekulation vorhanden ist. Nicht zuletzt fehlen noch immer vollständige Editionen einiger Kommentare. Aus dem 10. und 11. Jahrhundert sind mehrere Kommentare überliefert, die sich auf den Hymnus „O qui perpetua...“ beschränken oder von denen vielleicht nur dieser Teil eines Gesamtkommentars überliefert ist. Auf den schon genannten Bovo von Korvei († 916) trifft die erste Annahme zu. Mit seinem Text ist eine Widmung erhalten, aus der hervorgeht, dass sich Bovos Erläuterungen nur auf dieses Gedicht beziehen. Ein weiterer Kommentar zu III m. 9 aus dieser Zeit, der als Anonymus Einsiedlensis bezeichnet wird, ist nicht komplett erhalten. Wie der Text Bovos ist auch dieser Kommentar von Huygens21 veröffentlicht (S. 117120), der gegenüber Courcelle22 einen weiteren Textzeugen anführen kann. Der dritte, ebenfalls bei Huygens edierte Text stammt aus dem Beginn des 11. Jahrhunderts und wurde von Adalbold von Utrecht verfasst (S. 123-140). Stilistisch unterscheidet sich Adalbolds rhetorisch sorgfältig ausgearbeiteter Text deutlich von den zwei anderen genannten Kommentaren. Dem Remigius-Text nahe steht der Kommentar des Anonymus Bruxellensis (Brüssel Ms. 10066-77), als dessen Verfasser Silvestre23 in seiner Edition Eriugena ausmachen zu können glaubt. Diese Ansicht gibt er selbst später jedoch wieder auf.24 Der Kommentar ist wahrscheinlich vor dem Bovos entstanden. Nicht nur für den gerade genannten Kommentar wurde Eriugena als Verfasser in Betracht gezogen. Auch ein anderer, komplett überlieferter Kommentar wird von seinem Herausgeber

_____________ 20 Troncarelli, Fabio: „Per una ricerca sui commenti altomedievali al De Consolatione di Boezio“, in: Miscellanea in Memoria di Giorgio Cencetti, Turin, 1973, S. 363380, S. 365. 21 Huygens (Anm. 5). 22 Courcelle, Pierre: „Étude critique sur les commentaires de la Consolation de Boèce (IXe–XVe) siècles“, Archives d'histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 14/1939, S. 5-140, S. 124ff. 23 Silvestre (Anm. 14). 24 Silvestre, Hubert: „Aperçu sur les commentaires carolingiens de Prudence“, in: Sacris erudiri 9/1957, S. 50-75, dort S. 75 („note additionelle“). Dazu Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 252.

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Silk25 Eriugena zugeschrieben. Auch Silk nimmt diese These später jedoch wieder zurück.26 Schließlich weist Mathon nach, dass der Text eine Kompilation des 12. Jahrhunderts aus Remigius und Adalbold ist.27 In dieser Untersuchung soll zunächst eine Übersicht über den Stand der Forschung und die aktuelle Editionslage der gerade beschriebenen Kommentare gegeben werden. Im Anschluss daran soll betrachtet werden, wie die Kommentatoren des 9. und 10. Jahrhunderts mit dem Problem umgehen, dass einige Passagen der Consolatio nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar sind. Um eine solche Passage handelt es sich bei den Versen 18-21 des Hymnus „O qui perpetua...“, die im zweiten Teil dieser Untersuchung im Zentrum stehen. Dort spielt Boethius auf die Lehre der Präexistenz der Seele und die Seelenwanderung an. Will man betrachten, wie die Kommentatoren mit dem platonischen Gedankengut aus christlicher Sicht umgehen, ist der Text des Bovo von Korvei am interessantesten, der nur das neunte Gedicht des dritten Buches kommentiert.28 Aus diesem Grund soll die Darstellung mit Bovo beginnen.

Die karolingischen Kommentare und ihre Sicht der Consolatio In keinem anderen der überlieferten Kommentare finden wir eine so ausführliche allgemeine Reflexion über das problematische Verhältnis dieses carmen zum Christentum wie bei Bovo. Er nennt die Probleme beim Namen.29 Obwohl Bovo weder Platons Timaios noch die lateinische Übersetzung des Chalcidius kannte,30 ist er in der Lage, die Anspielungen des Boethius auf platonisches Gedankengut eingehend zu erläutern.

_____________ 25 Silk, Saeculi noni (Anm. 14). 26 Silk, E.T.: „Pseudo-Johannes Scottus, Adalbold of Utrecht and the early Commentaries on Boethius“, in: Mediaeval and Renaissance Studies 3/1954, S. 1-40, S. 2. 27 Mathon, Gérard: „Le commentaire du Pseudo-Érigène sur la Consolatio Philosophiae de Boèce“, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 22/1955, S. 213-257. Dazu Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 251. 28 Vgl. dazu Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 292-295. Nauta, Preexistence (Anm. 9), S. 112f. Beaumont (Anm. 9), S. 293-295. Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 85f. 29 Vgl. Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 85. 30 Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 293, vgl. auch Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 84f.

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Bevor er die Kommentierung dieses obscurus locus der Consolatio (7f.) beginnt, rechtfertigt er sich ausführlich für die Behandlung dieser Materie, um die ihn der Adressat gebeten hatte (precepit caritas vestra ut obscurum quendam locum ex libro Boetii [...] scripto explanarem, 7ff.). Abschreckend sei für ihn, dass notwendigerweise mehr über Platons Lehren als über die wahre christliche Lehre geschrieben werden müsse. Er lege jedoch Wert darauf, dass die Betrachtung der vanitas dogmatum Platonicorum nützlich sein könne (15f.). Um dies zu veranschaulichen, stellt er seine Vorgehensweise in Analogie zu der des Arztes, der seinem Patienten nicht nur die gesunden Nahrungsmittel, sondern auch die zu vermeidenden mitteilt: sicut medici non solum salubria quae sumantur alimenta commendant, sed et noxia quae uitentur insinuant (24ff.).31 Außerdem werde ja auch aus Schlangengift kostbares Gegengift hergestellt, wie es heiße (quid, quod etiam de venenis serpentum preciosa confici dicunt antidota? 27ff.). Auch für den Adressaten empfehle es sich, so fährt Bovo fort, sich in dieser Materie auszukennen, damit auch er Heilsames (salutaria, wie oben salubria) und Schädliches (noxia) entsprechend raten oder abwehren kann. Zuletzt führt er Augustinus ins Feld, der in De civitate dei nur aufgrund genauer Kenntnis die äußerst schändlichen paganen Riten (spurcissimos [...] atque turpissimos ritus) zurückweisen konnte (31ff.). Bevor Bovo nun mit seiner Kommentierung beginnt, reflektiert er (wie schon eingangs erwähnt) über das Verhältnis von Boethius’ Consolatio zu dessen christlichem Glauben. Es sei verwunderlich im Blick auf Boethius’ theologische Werke, dass einige Inhalte der Consolatio dem christlichen Glauben entgegengesetzt seien (45ff.). Bovo schließt seine einleitenden Überlegungen mit der Feststellung, dass Boethius in der Consolatio nur die Lehren der Philosophen, besonders Platons darlegen wolle: certum est eum in his libris nihil de doctrina ecclesiastica disputasse, sed tantum philosophorum et maxime Platonicorum dogmata legentibus aperire voluisse (56ff.). Ein derart sachliches Verständnis des Boethius-Texts finden wir bei keinem anderen Kommentator. Die letzten Verse des Gedichts (Da, pater, augustam menti conscendere sedem ... – „Lass, Vater, meinen Geist den erhabenen Sitz ersteigen ...“)

_____________ 31 Üblicherweise wird in der christlichen Literatur Gott mit einem Arzt verglichen, z.B. Tert. scorp. 5, 155, 16 (vgl. dazu Thesaurus Linguae Latinae 8, 550, 77ff.). Bei Cicero und Seneca ist der sapiens oder der philosophus häufiges Vergleichsobjekt (vgl. dazu Thesaurus Linguae Latinae 8, 550, 67ff.). Vgl. auch Sen. clem. 1, 9, 6: fac, quod medici solent, qui ... remedia ... temptant ... contraria. Boethius benutzt in der Consolatio selbst medizinische Metaphern: Die Philosophie bietet der Figur des Boethius remedia zum Trost und zur Heilung seiner Seele an, die nach Bedarf schwächer oder stärker sind: Zuerst in 1, 5, 11 und immer wieder bis ins dritte Buch, an dessen Beginn der zu Tröstende nun selbst stärkere remedia fordert.

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kann Bovo getrost beiseite lassen, da diese als eine „reine und offene Rede an Gott“ (pura et aperta ad deum oratio, 500f.) verstanden werden können. Ungeachtet dessen vermuten manche auch hinter diesen Worten „philosophisches Gift“ (philosophicum [...] venenum). Darüber geht Bovo jedoch hinweg, da sie dem Glauben nicht schaden, weil sie von einem Christen ohne Probleme richtig verstanden werden: sed quoniam ea catholicae aures rectius accipere et in meliorem partem interpretari solent, et ob hoc fidei non nocent, id gratanter accipio atque de his censui reticere (502ff.). Ausgehend von Bovo werden im Folgenden die Kommentare chronologisch behandelt. Die Kommentare vom Anonymus von St. Gallen bis einschließlich Remigius sind in ihrer Entstehungszeit vor Bovo anzusiedeln. Der Anonymus von St. Gallen,32 der die gesamte Consolatio behandelt und von dem wir nur wissen, dass er in St. Gallen tätig war, versucht, Boethius christlich auszulegen. Vier Texte dieses Kommentars sind in den Handschriften komplett erhalten: Neapel, BN Ms. IV G 68 (ursprünglich aus St. Gallen, 9.Jh.); Einsiedeln, Stiftsbibl. Ms. 179; St. Gallen, Stiftsbibl. Ms. 845; Paris. lat. 13953 (alle 10.Jh.). Da keine Gesamtedition vorhanden ist, muss ich mich auf die bei Courcelle zitierten Passagen stützen.33 Bei dem Text, der in den Handschriften überliefert ist, scheint es sich um verschiedene Versionen oder Überarbeitungen zu handeln, so enthalten z.B. zwei Handschriften – Einsiedeln und St. Gallen aus dem 10.Jh. – viele Remigius-Anmerkungen sowie den gesamten Remigius-Kommentar zu III m. 9. Außerdem findet sich in der Pariser und in der St. Galler Handschrift aus dem 9. Jahrhundert Material, das jeweils in den anderen Handschriften nicht enthalten ist. Es ist zunächst also gar nicht klar, welches Textmaterial der „echte“ Anonymus von St. Gallen umfasst.34 Courcelles Ansicht, dass es sich bei den Handschriften, die das Remigiusmaterial enthalten, um den wahren Anonymus handle, kritisiert Beaumont zu Recht.35 Denn sein Argument, dass die anderen Handschriften interpoliert seien, betrifft ja die von ihm bevorzugten Handschriften

_____________ 32 Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 259-263 und S. 275-278. Ibid. 403f. Godden (Anm. 9), S. 6ff. Beaumont (Anm. 9), S. 282-284 und Wittig, J.S.: „King Alfred and its Latin Sources: A Reconsideration“, in: Anglo-Saxon England 11/1983, S. 157-198, dort S. 188 für eine Übersicht über die Handschriften. Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 259ff., der Iso als Verfasser annimmt, wurde mehrfach widersprochen, wie von Bolton, Study (Anm. 7), S. 36 und Beaumont (Anm. 9), S. 282. 33 Courcelle, Consolation (Anm. 9) zitiert aus allen vier Handschriften. Für dieses Vorgehen entschuldigt er sich freilich, S. 275, Anm. 6. 34 Auf diese Probleme macht Beaumont (Anm. 9), S. 283 aufmerksam. 35 Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 260 und Beaumont (Anm. 9), S. 283.

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ebenso. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei sogar um vier Formen dieses Kommentars bzw. dieser Kommentartradition.36 Auch inhaltlich hält der Anonymus von St. Gallen einige Überraschungen bereit. Courcelle bescheinigt dem Anonymus „une profonde ignorance“, die in Erläuterungen wie Euripides – philosophus graecus (Paris. lat. 13953, f. 32r.)37 oder Catoni, id est Platoni – so kommentiert er die Erwähnung Catos in IV pr. 6 mit dem Hinweis auf Plato, zu Tage tritt.38 Doch trotz mancher Schwächen lohnt sich ein Blick in diesen Kommentar. Der anonyme Verfasser dieses Kommentars hat nämlich – so das Urteil Courcelles39 – das carmen 9 besser verstanden als viele seiner Nachfolger. Auch zu IV pr. 6 kommentiert der Anonymus sachlich: hic magis philosophice quam catholice loquitur.40 Ein weiterer früher Kommentar ist im Vaticanus latinus 336341 enthalten. Die Handschrift ist auf das 9. Jahrhundert zu datieren, wobei der Großteil der Glossen von einer insularen Hand stammt, wahrscheinlich aus dem Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrhunderts.42 Courcelle war noch der Ansicht, dass die Handschrift (abgesehen von den Interlinearglossen) zum Großteil sehr schlecht lesbar sei.43 Trotzdem entziffert Troncarelli viele Glossen und veröffentlicht 1981 eine Auswahl dieser, jedoch ohne die verschiedenen Hände zu kennzeichnen.44 Aus einem Vergleich dieser früheren Glossen mit Remigius schließt er schon 1973, dass der Kommentar, den wir von Remigius erhalten haben, freilich in einer verkürzten Fassung, jedoch schon länger kursierte.45 Der Kommentar des Remigius von Auxerre46 stellt innerhalb der Kommentare, die den

_____________ 36 37 38 39 40 41

42 43 44 45 46

Diskutiert bei Godden (Anm. 9), S. 7. Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 263. Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 263. Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 276. Zitiert nach Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 278. „Hier spricht er mehr als Philosoph denn als Christ.“ Vgl. dazu Godden (Anm. 9), S. 9ff. Troncarelli, Ricerca (Anm. 20) und ders., Tradizioni (Anm. 12), 135ff. Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 269f. Für die folgende Fragestellung dieser Untersuchung ist das Textmaterial, das in der Edition des Vaticanus latinus 3363 vorliegt, nicht relevant. Godden (Anm. 9), S. 9. Courcelle, Étude (Anm. 22), S. 45f. und Consolation (Anm. 9), S. 269. So auch Godden (Anm. 9), S. 10. „Il commento attribuito a Remigio esisteva, sia pure in una forma assai più abbreviata, molto tempo prima del suo presunto autore.“ Troncarelli, Ricerca (Anm. 20), S. 377f. Vgl. dazu Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 278-290. Nauta, Preexistence (Anm. 9), S. 105f. Beaumont (Anm. 9). Bolton, Study (Anm. 3). Bolton, Diane:

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ganzen Text behandeln, die wichtigste Tradition bis ins 12. Jahrhundert dar. Trotz vielfacher Um- und Überarbeitung wurde er bis dahin nie ersetzt.47 Bevor sich Remigius von Auxerre ans Werk machte, die Consolatio zu kommentieren, wahrscheinlich erst in der späten Phase seines Lebens, – die Datierung ist jedoch nicht unumstritten48 – hat er neben zahlreichen anderen auch einen Kommentar zu Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii verfasst, zu dessen Erstellung er Johannes Scottus Eriugenas Glossen verwendete.49 Vielleicht machte er auch in seinem Kommentar zur Consolatio Gebrauch von diesen Glossen – oder es lag ihm sogar ein Boethius-Kommentar von Eriugena selbst vor. „Remigius made frequent use of his own earlier work together with both the ‚Anonymous of St. Gall’ and other commentaries on the De Consolatione Philosophiae which have not yet been recovered.“50 Dies zeigt sich in Verweisen auf die Meinung anderer Kommentatoren, die bisher nicht zuzuordnen sind. Dass es bisher keine Edition gibt, liegt sicherlich auch an der Schwierigkeit, die Handschriften überhaupt Remigius und nicht einem Überarbeiter des Remigius zuzuordnen. Das Oxforder Boethius-Projekt bemüht sich, dieses Problem zumindest für die überarbeiteten Versionen zu lösen. Die bisherige Arbeit zeigt, so Godden, dass die einzelnen Handschriften untereinander stark variieren, so dass die übliche Vorstellung von einem Kommentar in diesem Fall nicht greift: „we need to think of highly fluid collections or compilations of glosses and scholia rather than a ‚commentary‘.“51 Remigius sammelt in seinem Kommentar viel Material. Sein Ziel ist „instruire et moraliser“.52 So christianisiert er die Consolatio und ignoriert dabei die Unterschiede zwischen christlicher und (neu)platonischer Auffassung. Seine Vorgehensweise spiegelt sich deutlich in folgender Erläuterung zu III m. 9, 6:

_____________ 47 48 49

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„Remigian Commentaries on the ‚consolation of philosophy‘ and their sources”, Traditio 33/1977, S. 381-394. Godden (Anm. 9), S. 3ff. Vgl. Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 85. Diskutiert bei Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 254ff. und Beaumont (Anm. 9), S. 285. Vgl. die Kritik an Courcelles Datierung von Wittig, King (Anm. 32), S. 159 und Marenbon, Boethius (Anm. 2), S. 171. Vgl. dazu Marenbon, John: „Platonism – A doxographic approach: The early middle ages“, in: Stephen Gersh/Maarten J.F.M. Hoenen (Hrsg.): The Platonic Tradition in the Middle Ages. A Doxographic Approach, Berlin-New York 2002, S. 6789, S. 80ff. und Nauta, Preexistence (Anm. 9), S. 106. Beaumont (Anm. 9), S. 285. Godden (Anm. 9), S. 6. Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 278.

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(summi forma boni): Formam vocat filium Dei qui est sapientia Dei, per quem omnia facta sunt. [...] Vel etiam formam dicit illud exemplar et rationem quae erat in mente Dei ad cuius similitudinem post mundus factus est, et ipsam rationem vocat Plato ideas vel formas. [...] Beatus vero Iohannes ipsam rationem et dispositonem Dei, quam Plato ideas vocat, vitam nominat.53

Alle in der Folgezeit verfassten Kommentare reflektieren den RemigiusText, die einen angriffslustig, so wie Bovo, andere verteidigen und verbessern den Kommentar des Remigius, so wie dessen Überarbeiter.54 Nach Remigius entstanden einige Kommentare, die ausschließlich III m. 9 behandeln. Neben dem bereits betrachteten Bovo handelt es sich dabei um den Anonymus von Brüssel, den Anonymus von Einsiedeln und Adalbold von Utrecht. Der anonyme Kommentar Brüssel Ms. 10066-7755 ist zwischen Remigius und Bovo zu datieren. Er ist stark vom Gedankengut Eriugenas geprägt. Auch der Anonymus von Ensiedeln56 war „ein Gelehrter wie Bovo, dem die Weitschweifigkeit eines Adalbold fremd war.“57 Leider ist sein Kommentar nur unvollständig erhalten und bricht in der Erklärung von Vers 21 ab. Im Gegensatz zu Bovo und Adalbold ist dem Anonymus Einsiedlensis Platons Timaios in der Übersetzung des Chalcidius bekannt. Dies wird schon aus seinem Kommentar zum ersten Vers deutlich, in dem er aus dem Timaios (29d-e) zitiert. „Il donne aussitôt un bref, mais excellent résumé des principales idées du Timée qui se trouvent exprimées par Boèce dans ce chant 9.“58 Vielleicht ist dieses Wissen der Grund dafür, dass den Autor die Beziehung zum Christentum weniger interessiert als die Beziehung des Textes zu Platons Timaios. Wie Bovo möchte der Autor den Text nur erläutern und nicht verurteilen. Er versucht auch nicht, Boethius als Christ zu ‚retten‘.

_____________ 53 Edition: Silvestre (Anm. 14), S. 53f. „(Die Form des höchsten Guten): „Form“ nennt er den Sohn Gottes, der die Weisheit Gottes ist, der alles schuf. [...] Oder er nennt „Form“ dieses Vorbild und diesen Plan (ratio), der im Geiste Gottes war, in Ähnlichkeit zu dem später die Welt geschaffen wurde. Diesen Plan selbst nennt Plato Ideen oder Formen. [...] Der heilige Johannes aber bezeichnet den Plan und die Ordnung Gottes, die Plato Ideen nennt, als Leben.“ Vgl. dazu Beaumont (Anm. 9), S. 292. Marenbon, Platonism (Anm. 49), S. 81. 54 Diskutiert bei Bolton, Study (Anm. 7), S. 38. 55 Edition bei Silvestre (Anm. 14), dazu auch Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 290ff. 56 Vgl. dazu Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 295f. Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 86. 57 Huygens (Anm. 5), S. 91. 58 Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 295.

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Adalbolds59 christianisierende Interpretation stützt sich vorwiegend auf Remigius. Er interpretiert über die Schwierigkeiten, auf die Bovo aufmerksam macht, zugunsten eines christlichen Platonismus hinweg. Er ist davon überzeugt, dass Boethius als Christ die Wahrheit, die Platon oder Hermes Trismegistus verhüllt blieb, sehen kann:60 uterque eorum (sc. Hermes et Plato) caecus sub tenebris palpavit, quod Boetius exorto veritatis lumine vidit. vidit, inquam, non oculis corporis, sed oculis cordis, vidit mundum perpetua ratione regi, quia intellexit illum per sapientiam dei, id est per filium dei, non tantum factum esse, sed etiam gubernari. haec est ratio quae apud Platonem benivolentia, apud Hermetem bona voluntas, apud psalmistam vocatur benignitas (17ff.).61

Remigius stellt platonische und christliche Deutungen nebeneinander – Adalbold dagegen verbindet sie miteinander, so dass seiner Ansicht nach beide das gleiche meinen.62 Anders als Bovo kommentiert Adalbold auch die Schlussverse ausführlich, wahrscheinlich deshalb, weil sie nichts Kontroverses enthalten und gut in sein Bild des Boethius als Christen passen. Interessant ist auch, wie weit sich die Anlage von Adalbolds Kommentar formal von den knappen Glossen des neunten Jahrhunderts unterscheidet– „being written in an accomplished rhetorical style, and paying a great deal of attention to the supposed logical structure of Boethius’ arguments.“63

_____________ 59 Vgl. dazu Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 297-299. Nauta, Preexistence (Anm. 9), S. 112f. Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 86f. 60 Vgl. dazu auch Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 86 und Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 297. 61 „Hermes und Platon betasteten nur blind tief im Schatten, was Boethius nach dem Aufgang des Lichts der Wahrheit sehen konnte; er sah, so sage ich, nicht mit den Augen des Körpers, sondern mit den Augen des Herzens. Er sah, dass die Welt von einer fortwährenden Ratio gelenkt wird, weil er verstand, dass sie durch die Weisheit Gottes, d.h. durch den Sohn Gottes, nicht nur geschaffen wurde, sondern auch gelenkt wird. Ratio ist das, was bei Plato benevolentia, bei Hermes bona voluntas und bei dem Psalmendichter benignitas heißt.“ 62 Diskutiert bei Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 86. 63 Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 86, vgl. zu dieser Entwicklung die Einleitung in Guillelmi de Conchis, Glosae super Boetium, cura et studio Lodi Nauta, Turnhout 1999, S. xxviff.

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Zwei Probleme in III m. 9, 18-21 In allen beschriebenen Kommentaren soll im Folgenden eine nach Bovos Auffassung kontroverse Passage des „O qui perpetua...“ ausführlicher betrachtet werden, nämlich Boethius’ Verse 18-21. Bovo beginnt seinen Kommentar zu diesen Versen: horum intellectus uerborum magis est fugiendus quam expositione pandendus („Das Verständnis dieser Worte sollte man lieber vermeiden als durch eine Erläuterung deutlich machen“, 427f.). In der Tat ist dies die Stelle im Gedicht, die einer christlichen Auslegung die größten Schwierigkeiten bereitet. In dieser Passage, die die Schöpfung der Einzelseelen beschreibt, ist das Echo von Platons Timaios (41 A 7ff.) deutlich. Neben den platonischen Einflüssen betonen die modernen Interpretationen die Bezugnahme auf neuplatonische Vorstellungen, besonders auf Proklos.64 Tu causis animas paribus vitasque minores provehis et levibus sublimes curribus aptans in caelum terramque seris, quas lege benigna ad te conversas reduci facis igne reuerti.65 Aus den gleichen Gründen führst du die Menschenseelen und die geringeren Leben66 hervor. Die in der Luft schwebenden Seelen verbindest du mit leichten Wagen und säst sie dann aus in Himmel und Erde. Diese Seelen, die sich nach gütigem Gesetz zu dir hinwenden, lässt du durch das zurückführende Feuer zurückkehren.67

animae et vitae minores Ob animae und vitae minores gleichzusetzen sind, darüber ist sich die Forschung uneins. Klingner ist der Ansicht, dass diese wenigen Worte nicht ausreichen, um zu entscheiden, ob zwischen diesen Begriffen ein Unterschied gemacht werden soll, da diese sowohl in gleicher als auch in unter-

_____________ 64 Vgl. Gruber, Joachim: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae. 2. erweiterte Aufl., Berlin/New York 2006, 11978, S. 275. Klingner (Anm. 1), S. 38ff. Scheible, Helga: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius, Heidelberg 1972, S. 101ff. 65 Textausgabe: Boethius: De consolatione philosophiae, Opuscula theologica edidit Claudio Moreschini, editio altera, München/Leipzig 2005, vgl. dazu Gruber (Anm. 64). 66 Oder: „die geringeren Seelen“ für animae und vitae minores. Gegen eine Gleichsetzung von animae und vitae minores, wie angenommen bei Scheible (Anm. 64), S. 108, vgl. Gruber (Anm. 64), S. 283. 67 Vgl. dazu die Übersetzung von Beierwaltes (Anm. 6), S. 242f.

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schiedlicher Bedeutung verwendet werden, wie von Proklos in seiner Erläuterung des Timaios, der unter anderen ºSHUN´VPLRL und PHULNDj\XFDg unterscheidet.68 Scheible weist die letzte Möglichkeit zurück: Dass animae und vitae nicht zwei verschiedene Gattungen von Lebewesen bezeichnen, so dass man ein neuplatonisches Stufensystem im Hintergrund vermuten müsste, kann aufgrund der Einfachheit von Boethius’ Weltbild im allgemeinen von vornherein angenommen werden.69

Daneben verweist sie auf Platon, der – zumindest in Bezug auf den Kosmos – Seele und Leben identifiziert (Tim. 37 C 6). Gruber70 verweist gegen Scheible wieder auf die von Klingner angegebenen Proklos-Belege (z.B. Proklos in Tim. 246, 29ff.). Eine Entscheidung in dieser Frage bleibt nach wie vor schwierig. Schon die mittelalterlichen Kommentatoren beschäftigt die Frage nach den animae und vitae minores. So handelt es sich nach der Ansicht des Anonymus von St. Gallen bei den Seelen, die in den Versen 18ff. des 9. Gedichts genannt werden, um Engel und um Menschen: tu causis animas paribus, id est angelis; paribus dicit quia consimiles Deo sunt in sua forma quae illis data est; vitas minores, id est homines qui minore vita utuntur in praesenti statu quam angeli faciant.71 Auch Remigius äußert sich ausführlich zum Verständnis von animae und vitae minores. Über diese Worte gebe es bei den Kommentatoren unterschiedliche Auffassungen (Diverso modo diversi in hoc sentiunt).72 Nach der ersten von ihm referierten Meinung (quidam ita intellegunt), nämlich derjenigen des Anonymus von St. Gallen, beziehe sich animae auf die Engel und vitae minores auf die Menschen. Als zweites werden andere, alii, genannt, die der Ansicht seien, animae beziehe sich auf

_____________ 68 Procl. in Tim. III p. 251, 29ff. Klingner (Anm. 1), S. 48: „Quae genera (zwei verschiedene Arten von Lebewesen nach einem neuplatonischen Stufensystem des Proklos) utrum inter se distingui voluerit, tamquam animae eae sint quae nihil aliud sint nisi animae, vitae minores, quae corporibus terrenis includantur, an, quoniam Platonici animarum et vitarum vocabulis promiscue uti solent, unum genus animarum vitarumque, quae cum illa anima universi comparatae minores iure appellantur, utroque vocabulo significaverit, ex ipsis verbis parum cognoscitur.“ Vgl. Gruber (Anm. 64), S. 283. Zur Seelenlehre des Proklos vgl. die Beiträge in: Perkams, Matthias/Piccione, Rosa Maria (Hrsg.): Proklos. Methode, Seelenlehre, Metaphysik, Leiden/Boston 2006. 69 Scheible (Anm. 64), S. 108. 70 Gruber (Anm. 64), S. 283. 71 „Aus den gleichen Gründen (bringst du) die Seelen (hervor), d.h. die Engel; aus den gleichen Gründen sagt er, weil sie Gott ganz ähnlich sind in ihrer Form, die ihnen gegeben wurde. Geringere Leben, d.h. die Menschen, die in ihrem gegenwärtigen Zustand ein geringeres Leben führen als die Engel. (Paris. lat. 13953 f. 36r, zitiert nach Courcelle, Consolation [Anm. 9], S. 262). 72 Silvestre (Anm. 14), S. 64f.

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docti et sapientes und vitae minores auf stulti. Bei der letzten Auffassung schließlich scheint es sich auch um Remigius’ eigene zu handeln. Animae meine die Seelen der Menschen und vitae minores die Seelen der Tiere: Attamen prudentioribus aliter videtur. Animas rationales hominum spiritus intellegunt vitas vero minores pecudum animas. Duae enim sunt animae, rationalis quae est hominum, et vitalis quae est animalium.73

Die zweite Meinung ist keinem bekannten Kommentator zuzuordnen. Daraus lässt sich mit Bolton74 schließen, dass es vor Remigius einen weiteren, wahrscheinlich sogar mehrere Kommentare gegeben haben muss, von dem oder von denen wir heute kein Zeugnis mehr haben. In seinem Kommentar zu den Versen 18ff. bezieht der Anonymus von Brüssel deutlich Stellung gegen Remigius, indem er dessen Erläuterung zitiert und verbessert: Animas scilicet hominum et minores vitas, id est pecudum, vel pocius animas angelorum spiritus et minores vitas hominum animas. Utrosque enim Deus condidit et angelos et homines, ambos etiam rationabiles, licet angeli maioris sint dignitatis quam homines mole corporis pregravati.75

Der Kommentator folgt hier der Erklärung des Anonymus von St. Gallen, es handle sich um Engels- und Menschenseelen, die Remigius in seinem Kommentar ablehnt. Bovo von Korvei äußert sich über die animae et vitae minores im größeren Zusammenhang seiner Ausführungen über die Seelenwanderung. Zunächst könnte der Eindruck entstehen, er ginge davon aus, animae und vitae würden gleichbedeutend verwendet: nam explicita ratione de maxima mundi anima nunc de statu minorum animarum incipit loqui (428ff.)76. Im Folgenden wird deutlich, dass Bovo die Ansicht vertritt, dass Sterne und Menschen gemeint sind (441ff.). Adalbold wiederum schließt stärker an Remigius an, zum Teil sogar fast wörtlich. Die animae, von denen Boethius spricht und die er in Vers 19 sublimes nennt, werden von den verschiedenen Kommentatoren unter-

_____________ 73 „Aber dennoch scheint es sich nach der Ansicht klügerer Leute anders zu verhalten. Sie verstehen die vernünftigen Seelen als die Seelen der Menschen, die niedrigeren Leben als die Seelen der Tiere. Denn es gibt zwei Seelen: eine rationale, die die Menschen besitzen und eine vitale, die die Tiere besitzen.“ 74 Bolton, Remigian Commentaries (Anm. 46), S. 387f. 75 „Seelen, d.h. die Seelen der Menschen und geringere Leben, das heißt die Seelen der Tiere, oder vielmehr: Seelen, d.h. die Seelen der Engel und geringere Leben, d.h. die Seelen der Menschen. Beide nämlich, Engel und Menschen, schuf Gott; beide sind vernunftbegabt, wenn auch die Engel eine größere Würde als die Menschen besitzen, die von der Last des Körpers beschwert werden.“ 76 „Nachdem er die Lehre über die höchste Weltseele dargelegt hat, beginnt er nun über die Beschaffenheit der geringeren Seelen zu sprechen.“

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schiedlich verstanden (diuerse a diuersis, 352). Unter den Seelen, die in Vers 19 sublimes genannt werden, versteht Adalbold die Seelen der Menschen.77 Andere glauben, dass es sich bei diesen Seelen um die der Engel und Menschen handelt. Diese Ansicht, die der Anonymus von St. Gallen vertritt, weist Adalbold mit der Begründung zurück, dass das in den Versen 20f. Gesagte nicht mehr auf Engel zutrifft: hoc enim de angelis intellegi non potest, qui nunquam aversi recesserunt ac ideo nunquam conversi reversi sunt (358ff.).78 Abgesehen von der bei Remigius referierten Meinung, die wir keinem Autor zuordnen können, bei den animae und vitae handle es sich um docti und stulti, lassen sich die Kommentierungen zu dieser Stelle in zwei Gruppen einteilen. Die erste Meinung, die auf den Anonymus von St. Gallen zurückgeht und auch von dem Anonymus von Brüssel und von Bovo vertreten wird, versteht die Seelen als Seelen der Engel bzw. der Sterne und der Menschen. Nach der zweiten Meinung, die auf Remigius zurückgeht und die Adalbold und übrigens im 12. Jahrhundert auch William von Conches (animas hominum, et vitas minores scilicet brutorum animalium, in consolationem, III m. 9, Glosae l. 613f.) vertritt, soll es sich hierbei um Menschen- und um Tierseelen handeln. Die zweite Gruppe besteht aus den Autoren, die sich stark darum bemühen, die Consolatio im Einklang mit dem christlichen Glauben darzustellen. Dort zeigt sich besonders bei Remigius die Tendenz, dass er sich ausführlich zu den animae und vitae minores äußert, während er auf den Seelenwagen und die Seelenwanderung kaum eingeht.

leves currus Die Deutung der Seelenwagen (leves currus) und der Vorstellung der Präexistenz der Seele sowie der Seelenwanderung, die die Kommentatoren entweder tunlichst übergehen oder, wie Bovo, ausführlich verurteilen, stellen für eine christliche Deutung eine größere Schwierigkeit dar als die gerade behandelte Frage nach den Seelen. Die Wagen, auf die die Seelen gesetzt werden (vgl. Plat. Tim. 41e, Phaidr. 247b, Phaid. 113 D 5), sind wohl noch nicht die materiellen Körper der Menschen, sondern dieses

_____________ 77 Has animas, quas hic Boetius sublimes uocat, hominum tantum esse intellego, non angelorum (375ff.). 78 „Dies kann man sich bei den Engeln nicht vorstellen, die sich ja niemals abwandten und entfernten, und daher auch niemals kehrt machten und zurückkamen.“

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Bild soll die Menschen „vor dem Abstieg in die Materie“ darstellen.79 Gruber deutet die leves currus als Astralleib in Proklos’ Sinne, während dies nach Scheible nicht zwingend notwendig ist. Sie deutet den Seelenwagen als „ein rein poetisches Bild ohne tiefere systematische Hintergründe“ wie bei Platon selbst.80 Die Vorstellung von der Aussaat der Seelen erklärt Scheible mit Bezugnahme auf Plotin: Was Boethius darunter versteht, kann man jedenfalls der Richtung nach der Interpretation dieser Timaiosstelle bei Plotin (4,8,4,21) entnehmen: Hier haben die Einzelseelen nach dem Verweilen im Bereich des Geistigen noch die Möglichkeit, mit der Allseele zusammen den Kosmos zu regieren, solange sie bei ihr am Himmel bleiben. Im Zug ihrer Vereinzelung aber sinken sie immer weiter ab, bis sie schließlich der Materie verfallen sind.81

Die platonische Vorstellung der Präexistenz der Seele, auf die diese Verse abzielen, ist mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar - das gilt auch für die damit zusammenhängende Lehre von der Seelenwanderung.82 „At the beginning of the Christian era, however, some theologians, most notably Origen had accepted the Platonic version of the soul’s origin and life, and even Augustine had toyed with the idea.“83 Das Thema der Entstehung der Seele war auch für Christen so schwierig, dass Augustinus sogar in einem Brief seine Unsicherheit über diese Frage ausdrückt.84 Origenes, der sich in seinem Matthäuskommentar ausführlich für die Präexistenz der Seele aussprach, stieß schon zu seinen Lebzeiten auf Widerstände. Noch lange nach seinem Tod sorgten seine Lehren für Konflikte. Auf zwei Synoden (543 und 553) wurden viele seiner Lehren verurteilt und Origenes zum Häretiker erklärt.85 Bovo verurteilt die platonische Vorstellung der Weltseele, der Präexistenz der Seele und die Seelenwanderung: Sed hoc de ipsis intellegi vult quod minime recipit fides christiana, eas videlicet a prima sui conditione in caelo positas ex contemplatione mentis divinae beate vixisse, deinde quasdam ex his in corpora humana delapsas, iterum post resolutionem eorundem corporum, terrenis purgatas vitiis, originem suam

_____________ 79 Scheible (Anm. 64), S. 109 und Klingner (Anm. 1), S. 48f. Zu den verschiedenen Seelenwagen bei Proklos vgl. Opsomer, Jan: „Was sind irrationale Seelen?“, in: Perkams/Piccone (Anm. 68), S. 136-166, S. 147ff. 80 Gruber (Anm. 64), S. 283. Scheible (Anm. 64), S. 109. 81 Scheible (Anm. 64), S. 109. 82 Vgl. dazu Nauta, Interpretations (Anm. 8), S. 166 und ausführlich zur Präexistenz der Seele: Nauta, Preexistence (Anm. 9). 83 Nauta, Interpretations (Anm. 8), S. 166. 84 Epist. 166, 16. Vgl. Nauta, Preexistence (Anm. 9), S. 93. 85 Vgl. zu Origenes mit weiteren Literaturhinweisen: Markschies, Christoph: Origenes und sein Erbe: Gesammelte Studien, Berlin 2007.

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repetere et in caelum redire atque, ut Virgilius ait, rursus in corpora uelle reuerti (430ff.).86

Solche Theorien über den Abstieg der Menschenseelen zur Erde bezeichnet er als „völlig nutzlose Erdichtungen“: de quarum (sc. animarum) descensu ad terras inanissimas texunt fabulas, quomodo terrenorum desiderio corporum incipiant a diuinae mentis contemplatione dilabi (447ff.).87 Boethius’ Anspielungen auf die Präexistenz der Seele erläutert Bovo ausführlich anhand von Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis (12, 13f.),88 dem er (ab 450ff.) fast wörtlich folgt, wobei er jedoch die bei Macrobius jeweils zusätzlich angeführten griechischen Bezeichnungen weglässt. Bei ihrem Abstieg gelange die Seele zu den Kreisbahnen der Planeten und erhalte dort durch das Los verschiedene Fähigkeiten, so z.B. in der Sphäre Saturns die ratiocinatio („Vernunftschluss“). Bovos Frage im Anschluss an diese Ausführung zeigt, was er von solchen Überlegungen hält: sed quis tam demens est ut haec monstruosa commenta non procul a fide sua removeat? (458f.)89 Zum Abschluss des Kommentars zu dieser Passage zitiert er ausführlich den Hieronymus-Kommentar zu Jesaja, in dem sich dieser ähnlich zu Mond und Sonne äußert (474ff.). Dies dürfe nicht ungenannt bleiben, so meint er, da es bei Boethius um die Seelen oder Leben der Gestirne (caelestium corporum, id est siderum, vitas quasdam vel animas, 469ff.) gehe. Solches, nämlich, dass sich Engels- und Menschengeist mit diesen Gestirnen vermenge oder sich auf diesen aufhalte, scheine überhaupt nicht glaubwürdig (porro vel angelicum vel humanum spiritum his sideribus esse permixtum aut in eis conversari non videtur omnino credibile, 494ff.). Dies lese man aber bei keinem anderen christlichen Schriftsteller und ohnehin sei ausreichend, was in der Bibel über diese zwei großen Gestirne stehe, nämlich, dass sie von Gott geschaffen seien: naturam vero illorum altius velle scrutari temerarium est (498f.).

_____________ 86 „Aber Boethius will, dass man über die niederen Seelen selbst folgender Meinung ist, die der christliche Glaube ganz und gar nicht gutheißt: (Die niederen Seelen), die von ihrer ersten Schöpfung an in den Himmel gesetzt wurden, hätten aufgrund der Betrachtung des göttlichen Geistes glücklich gelebt; darauf hätten sich einige von ihnen in menschliche Körper herabgesenkt und strebten wiederum nach der Auflösung derselben Körper, gereinigt von den irdischen Lastern, zu ihrem Ursprung und kehrten in den Himmel zurück. Sie wollten, wie Vergil (Aen. 6, 751) sagt, wieder in Körper zurückgehen.“ 87 „Über den Abstieg der Seelen auf die Erde spinnen sie die unnützesten Geschichten, wie nämlich die Seelen begännen aufgrund ihres Verlangens nach irdischen Körpern von der Betrachtung des göttlichen Geistes abzugleiten.“ 88 Vgl. dazu Nauta, Preexistence (Anm. 9), S. 112. 89 „Aber wer wäre denn so töricht, dass er diese ungeheuerlichen Erdichtungen nicht weit von seinem Glauben fernhält?“

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Die Vorstellung des Seelenwagens deutet Bovo metaphorisch als Ausdruck der Würdigkeit dieses ersten Zustandes der Seele und der Leichtigkeit ihres Wesens: dignitatem vero primae conditionis his verbis exprimit: provehis et levibus sublimes curribus aptans, hoc utique significans quod incorporeae levitate naturae velud quibusdam curribus in sedes sidereas provehantur (437ff.). Auch der Anonymus von St. Gallen erklärt den Seelenwagen metaphorisch – nachdem er entschuldigend anmerkt, Boethius spreche hier auf heidnische Weise – denn die Seelen führen nicht wirklich auf Wagen, sondern es heiße nur so wegen der Leichtigkeit ihres Wesens: curribus aptans: gentili more loquitur, non quod illae animae in curribus eant, sed propter levitatem vel facilitatem dicit naturae earum; unde currus pro motu positos accipimus.90 An anderer Stelle wird deutlich, dass der Autor sich der Gefahren der Lehre des Boethius bewusst ist: „Il signale au bon endroit que Boèce semble admettre la préexistence des âmes.“91 Zu III m. 11, 10 schreibt er: Tangit hic veterum opinionem philosophorum qui dixerunt corporis mole animam esse caecatam, ut iterum non possit intendere lumen.92 Remigius dagegen umgeht die größten Schwierigkeiten für eine christliche Deutung dadurch, dass er nichts zur Präexistenz der Seele anmerkt – „probably conscious of the heretical implications of Plato’s myth about the incarnation of preexisting souls in human bodies.“93 Das verwundert, da er die Präexistenz der Materie in seinem Kommentar zu III 9, 5 (Materiae fluitantis opus) ausführlicher diskutiert hat: fluitantem materiam vocat illam informem materiam quae in mente Dei in primordio fuit antequam mundus fieret quando omnia fluitabant, neque enim adhuc facies terrae vel aeris apparebat.94 Die sublimes animae auf ihren leves currus, die Remigius metaphorisch als gründliche (geistige) Betrachtung und Erkenntnis versteht, pflanzt Gott in den Himmel, das heiße, er weise sie an zur Beobachtung des Himmels: Has ergo animas sublimes rationabilitate aptat levibus curribus, id est, subtili

_____________ 90 „An Wagen anfügend: hier drückt er sich auf heidnische Weise aus, nicht, weil diese Seelen in Wagen fahren, sondern wegen der Leichtigkeit und Beweglichkeit ihres Wesens. Daher nehmen wir an, dass die Wagen für ihre Fähigkeit zur Bewegung stehen.“ Paris. lat. 13953 f. 36r; zit. nach Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 262. 91 Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 277. 92 „Hier berührt er die Meinung der alten Philosophen, die gesagt haben, dass die Seele durch die Last des Körpers blind sei, sodass sie wiederum nicht zum Licht hinstreben kann.“ St. Gall. 845, p. 179; zitiert nach Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 277. 93 Bolton, Study (Anm. 7), S. 42. 94 Diskutiert bei Beaumont (Anm. 9), S. 292. „Flüssige Materie nennt er jene formlose Materie, die im Geist Gottes zu Beginn war, bevor die Welt geschaffen wurde, als alles im Fluss war, und weder die Gestalt der Erde noch der Luft erkennbar war.“ Silvestre (Anm. 14), S. 52f.

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contemplationi et intelligentiae, easque serit in caelum, id est ad caelestem instruit conservationem. An dieser Stelle korrigieren die Remigius-Revisoren ihren Meister und zitieren beinahe wörtlich Chalcidius: ... visum est enim Platoni quod antequam Deus sementem faceret animarum superimposuit Deus singulas ut isdem vehiculis universe rei naturam spectarent illud docens quod sine divinitatis adminiculo ipsa per se anima nihil posse (sic) considerare divinum.95

Aufgrund der schlechten Überlieferungslage des Anonymus von Einsiedeln lässt sich nicht viel zu den Versen 18-21 sagen. Zum Seelenwagen bemerkt der Autor (so weit wir sehen) nur, dass die Seele mehr das Gefährt zieht als umgekehrt. Adalbold deutet den Seelenwagen wie Remigius metaphorisch und formt die Anspielung des Boethius auf den Neuplatonismus in orthodox christliche Vorstellung um:96 harum animarum currus sunt ratio et intelligentia („Die Gefährte dieser Seelen sind Vernunft und Verstand.“ 376ff.). Dazu bemerkt Adalbold, dass diese Gaben, die zum Erwerben von Ruhm (gloria) gedacht waren, meist zur Schande (ignominia) missbraucht werden. Auch in der Vorstellung des zurückführenden Feuers erblickt Adalbold deutlich christliche Lehre: das Feuer versteht er nämlich als Feuer des Heiligen Geistes (igne sancti spiritus, 390). Remigius referiert an dieser Stelle die kühne Theorie eines Kommentators (die Quelle ist uns leider nicht bekannt),97 dass der Boethius-Text an dieser Stelle durch die Worte et leuibus sublimes curribus aptans (19) die komplizierte Frage nach der Entstehung der Seele löst, die bei Augustinus und Hieronymus ungelöst bleibt. Denn der Seelenwagen könne nur zusammengefügt werden, wenn die Seele vorher bereits erschaffen wurde.98

_____________ 95 Zitiert nach Bolton, Study (Anm. 7), S. 42, die sich auf drei Handschriften stützt. „Platon war nämlich der Ansicht, dass Gott, bevor er die Aussaat der Seelen machte, die einzelnen Seelen (auf Sterne) setzte, so dass sie auf diesen Gefährten die Natur aller Dinge anschauten; so lehrt Gott die Seelen, dass sie durch sich selbst ohne den Beistand der Göttlichkeit nichts Göttliches betrachten kann.“ „Auf Sterne“ ist nach der Stelle bei Chalcidius, die die Remigius-Überarbeiter als Quelle benutzten, zu ergänzen: Antequam sementem faceret animarum superimposuit stellis singulis singulas animas, quo isdem uehiculis usae in circuitu stellarum cunctam mundi naturam considerarent, illud docens, quod sine diuinitatis adminiculo ipsa per se anima nihil valeat spectare atque intellegere diuinum (Chalc. comm. 181, 9-12). 96 Diskutiert bei Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 298 und Marenbon, Philosophy (Anm. 9), S. 86. 97 Vgl. dazu Courcelle, Consolation (Anm. 9), S. 299. 98 Asserunt enim non posse eas leuibus curribus aptari nisi creatas sicque quaestionem de anima, apud Hieronimum et Augustinum insolutam, per haec uerba Boetii soluere contendunt (364ff.).

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Adalbold hält es hier mit Augustinus und Hieronymus und bekennt in der Frage nach der Entstehung der Seele seine Unwissenheit: eas [sc. animas] deum creare fateor et scio; qualiter autem creet [...] penitus ignoro.99 Die Einteilung in zwei Gruppen, die sich schon bei der Deutung der Seelen herauskristallisiert hat, bleibt auch bei der Deutung des Seelenwagens bestehen. Remigius und Adalbold deuten diesen als intelligentia und ratio, während das Verständnis des Bovo und des Anonymus von St. Gallen, für die die Wagen für die Leichtigkeit des Wesens der Seele stehen, nicht weit von der modernen Deutung Scheibles entfernt sind, die die Wagen als bloßes Bild versteht. Im 12. Jahrhundert geht ein neuer Stern am Himmel der ConsolatioKommentatoren auf: William von Conches.100 „William of Conches is for the twelfth and subsequent centuries what Remigius had been for earlier generations.“101 Auch dieser wichtige Kommentar steht erst seit 1999 in der Edition von Nauta zur Verfügung.102 Wie viele seiner Vorgänger will auch William Boethius’ Consolatio mit dem christlichen Glauben vereinbaren. Seine Methode ist es, hinter der Hülle der platonischen Lehren von Boethius bzw. Platon (integumentum)103 die wahre christliche Lehre zu suchen.

_____________ 99 „Ich bekenne und weiß, dass Gott die Seelen erschafft; ich habe jedoch keine Ahnung, wie er sie erschafft.“ (370ff.). 100 Vgl. zu William von Conches die Einleitung in Nautas Edition (Anm. 63), Nauta, Interpretations (Anm. 8), S. 175ff. Nauta, Preexistence (Anm. 9), S. 113ff. Beaumont (Anm. 9), S. 298ff. 101 Beaumont (Anm. 9), S. 298. 102 Nauta, Glosae (Anm. 63). 103 Vgl. dazu Jeauneau, E.: „L’usage de la notion d’integumentum à travers les gloses de Guillaume de Conches“, in: Archives d’Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age 24/1957, S. 35-100.

Quae philosophia fuit, facta philologia est. Der Kommentar des Jodocus Badius Ascensius (1498) zur Consolatio Philosophiae des Boethius REINHOLD F. GLEI (Bochum) In this article, the ‘Commentum duplex’ of Jodocus Badius Ascensius (1462-1535) is discussed at the background of the Latin commentary tradition of Boethius’ ‘Consolatio Philosophiae’. Badius in fact initiates a new era not only by criticizing and supplementing the commentary of Pseudo-Thomas Aquinas, but also by putting aside philosophical and theological questions in favour of a strictly grammatical explanation. Badius, following the groundbreaking plea for classical Latin by Lorenzo Valla, is interpreting Boethius no longer as a medieval but as an ancient writer who takes his Latin from classical sources like Cicero. This, of course, raises the question if there is involved any form of ‘de-christianizing’ Boethius. The issue is discussed in detail by analyzing Badius’ commentary on Book I. In addition, there is an excursus on the authorship of Ps-Aquinas commentary and another one on allegorical interpretation of I m. 4 both in Ps-Aquinas and Badius.

Kontinuität und Diskontinuität Die lateinische Kommentartradition zur Consolatio Philosophiae des Boethius ist vielfältig und bei weitem noch nicht aufgearbeitet. Von den 19 bei Courcelle1 in einer Übersicht aufgeführten vollständigen Kommentaren (nicht gerechnet zahlreiche Kommentare zum zentralen Hymnus III m. 9) liegen lediglich vier in gedruckten Ausgaben des 20. Jahrhunderts vor, von denen nur eine einzige modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Selbst bedeutende und weit verbreitete Kommentare sind noch nicht durch Editionen erschlossen, von den commentarii minores ganz zu schweigen. Der Kommentar des Remigius von Auxerre (gest. 908) beispielsweise, der bedeutendste aus karolingischer Zeit, ist unediert; lediglich ein zweiter (vermeintlich) karolingischer, fälschlich dem Johannes Scotus Eriugena zugeschriebener Kommentar, der jedoch erst aus dem 12. Jahrhundert stammt (der sog. Anonymus Erfordensis), wurde von Silk in den

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Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et Postérité de Boèce, Paris 1967, S. 403-418.

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30er Jahren ediert.2 Derselbe unternahm auch die Edition des wichtigsten spätmittelalterlichen Kommentars von Nicolas Trivet/Trevet (1258/681328) und konnte sie noch im Manuskript abschließen, allerdings nicht mehr publizieren, so dass sie der Fachwelt leider nicht allgemein zur Verfügung steht.3 Ein besonderes Ärgernis ist, dass der neben Trivet bedeutendste, weil Thomas von Aquin zugeschriebene spätmittelalterliche Kommentar (wohl 14./15. Jahrhundert) außer in den veralteten Werkausgaben des Thomas4 nur in einem unkritischen, zudem extrem leserunfreundlich gedruckten ‘Lese’text von Busa zur Verfügung steht.5 Schließlich ist der umfangreiche und bedeutende Kommentar von Dionysius dem Karthäuser (1402-1471) auch nur in einem verbesserten Nachdruck der Editio Coloniensis (1540) greifbar.6 Einen Meilenstein in der Erforschung der Boethius-Rezeption des Mittelalters stellt die mustergültige Ausgabe des Kommentars von Wilhelm von Conches (gest. um 1154) durch Lodi Nauta dar.7 Diese Edition hat die Maßstäbe gesetzt, an denen sich künftige Kommentarausgaben zu orientieren haben; leider ist nicht absehbar, wann auf diese Weise die lateinische Tradition auch nur annähernd vollständig erschlossen sein wird. Der erste nicht mehr in handschriftlicher, sondern nur in gedruckter Überlieferung erhaltene Kommentar ist der des Jodocus Badius Ascensius (1462-1535). Mit diesem scheinbar nur äußerlichen Medienwechsel geht allerdings auch eine profunde inhaltliche Zäsur einher: Badius schreibt den ersten Kommentar, der dezidiert im neuen humanistischen Geist

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Edward T. Silk (ed.): Saeculi Noni Auctoris in Boetii Consolationem Philosophiae Commentarius (Papers and Monographs of the American Academy in Rome, 11), Rom 1935 (in der Appendix S. 305-343 auch eine Teiledition des Remigius von Auxerre). Vgl. Lodi Nauta: „Magis sit Platonicus quam Aristotelicus: Interpretations of Boethius’s Platonism in the Consolatio Philosophiae from the Twelfth to the Seventeenth Century”, in: S. Gersh / M. Hoenen (eds.): The Platonic Tradition in the Middle Ages. A Doxographic Approach, Berlin-New York 2002, S. 166-204, hier S. 181 n. 36. S. Thomae Aquinatis Opera omnia tom. 24 (Parma 1869) bzw. tom. 32 (Paris 1879). Guillelmus Wheatley: In Boethii de Consolatione Philosophiae, in: S. Thomae Aquinatis Opera Omnia, vol. 7, curante Roberto Busa S.I. Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, S. 121-172 (eine online-Version findet sich unter http://individual.utoronto.ca/ pking/resources/boethius/Wheatley.txt). Zur Verfasserfrage s. unten Exkurs I. Doctoris Ecstatici D. Dionysii Cartusiani Opera omnia in unum corpus digesta ad fidem editionum Coloniensium cura et labore monachorum Sacri Ordinis Cartusiensis. Tomus XXVI, Tornaci 1906. Guillelmi de Conchis Glosae super Boetium. Cura et studio L. Nauta (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, 158), Turnhout 1999.

Jodocus Badius Ascensius

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verfasst ist und sich von der mittelalterlichen Tradition bewusst absetzen will. Schmidt formuliert dies so: „Insgesamt verrät der Kommentar eine neue, unbefangene Sicht der so häufig willkürlich gedeuteten ‘Consolatio’; gegen seine mittelalterlichen Vorgänger hebt sich Badius vor allem durch seine Empfänglichkeit für die literarischen valeurs der Trostschrift ab.“8 Diese Absicht wird umso deutlicher, als Badius nicht einfach nur seinen eigenen Kommentar druckt, sondern dem Leser ein Commentum duplex – so der Titel des zuerst 1498 in Lyon erschienenen Werkes9 – an die Hand gibt: Zu jedem Gedicht und jedem Prosastück der Consolatio wird zunächst, offenbar als repräsentatives Muster der mittelalterlichen Tradition, der Kommentar des (Pseudo-)Thomas vorgestellt, bevor dann kontrastiv Badius’ eigener Kommentar folgt. Durch dieses Verfahren soll der Eindruck entstehen, Badius schreibe eine Art revolutionären ‘Gegenkommentar’ zu Thomas, der Schritt für Schritt mit ihm abrechnet und erst jetzt den wahren Boethius unter der Patina jahrhundertealter scholastischer Verkrustungen wieder sichtbar werden lässt. Dieses etwas marktschreierische Kalkül eines grundstürzenden Medienund Epochenwechsels ging auf, und zwar nicht nur zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als jedes Jahr einer oder sogar mehrere Drucke herauskamen,10 sondern bis in die gelehrte Diskussion des 20. Jahrhunderts. So formuliert etwa Courcelle mit starken Worten das Programm des Ascensius: „un état d’esprit tout différent se manifeste“; „il corrige mainte erreur de ce ‹vieux› commentaire“; „ce bref commentaire est l’indice de l’esprit nouveau que

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Paul Gerhard Schmidt: „Jodocus Badius Ascensius als Kommentator“, in: A. Buck / O. Herding (Hrsg.): Der Kommentar in der Renaissance, Boppard 1975, S. 6371, hier S. 68 (mit einigen Beispielen). 9 Titelblatt: Com|mentum | duplex | in Boe|tium de consolatione philosophie cum vtriusque tabula. Item commentum | in eundem de disciplina scholarium: cum commento in Quintilianum de | officio discipulorum: diligenter annotata. In der großformatigen Initiale C befindet sich ein Holzschnitt mit einer Darstellung des kranken Boethius, an dessen Bett die als Ordensschwester [!] gekleidete Philosophie steht (s. Anm. 85 und die Abbildung am Ende des Beitrags). Das Kolophon lautet: Finitur Boetius de disciplina scholarium cum commento. Impressum Lugd. per Johannem devingle. Anno domini M.cccc.xcviij.die.xx.Aprilis. Auf der letzten Seite befindet sich das Druckerzeichen (Jehan de Vingle). Alle Zitate aus Thomas und Badius entstammen diesem Druck (Foliierung und Zeilenzählung von mir); die Boethius-Zitate sind der Teubneriana von Claudio Moreschini (München-Leipzig ²2005) entnommen. 10 Von 1498 bis ca. 1530 erschienen nicht weniger als 28 Drucke, allein 1499, im Folgejahr der editio princeps, bereits zwei: vgl. Philippe Renouard: Bibliographie des impressions et des oeuvres de Josse Badius Ascensius, imprimeur et humaniste, 1462-1535, Paris 1908 (ND New York 1965), vol. 2, S. 196-216.

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développait la Renaissance“.11 Ähnlich schreibt Grafton: „Jodocus Badius Ascensius had composed a running gloss to the Consolatio that drew on the proper ancient and humanist sources to refute Ps.-Aquinas point by point.“12 So entsteht der Eindruck, der Kommentar des Badius sei tatsächlich toto coelo von dem des Thomas verschieden und läute ein völlig neues Zeitalter ein. Das alles ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Wie immer bei historischen und insbesondere geistesgeschichtlichen Prozessen, haben wir es mit einer spezifischen Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität zu tun. Die Humanisten betonten verständlicherweise bei ihrem Rückgriff auf die klassische Antike ihre Distanz zum Mittelalter, die aber tatsächlich nicht so groß war, wie sie sich selbst und uns glauben machen wollten; natürlich gab es neue Ansätze und auch gewisse Brüche, aber doch auch eine starke, unwillkürliche Kontinuität. Dies gilt auch für den Kommentar des Badius. Er setzt sich in der Tat in vielem von Thomas ab, verdankt ihm aber doch auch viel – was er im übrigen auch gar nicht verhehlt.13 Nauta warnt zu Recht: „Courcelle seems to have read too much of his own prejudices into Badius Ascensius’ work. Badius Ascensius often speaks with respect of Pseudo-Thomas.“14 Der Verdacht liegt nahe, dass die Pauschalurteile Courcelles und anderer über Ascensius’ und Thomas’ Kommentare nicht auf allzu gründlicher Lektüre derselben beruhen. Wir werden also im folgenden eine genauere Analyse des RenaissanceKommentars durchführen, wobei natürlich die Stellen im Mittelpunkt stehen, an denen Badius direkt oder indirekt auf Thomas Bezug nimmt. Dabei wird sich herausstellen, dass Badius weder einen ‘Gegenkommentar’ zu Thomas noch auch ein bloßes grammatisches Supplement verfassen wollte;15 Kritik und Zustimmung dürften sich vielmehr in etwa die Waage halten. Es ist übertrieben, den Kommentar des Badius als Beginn einer neuen Zeitrechnung zu preisen, aber er betreibt andererseits auch nicht bloß business as usual. Das Werk ist aus dem Schulbetrieb erwachsen. Jodocus Badius Ascensius (volkssprachlich Josse Bade, angeblich gebürtig aus dem Dorf

_____________ 11 Courcelle (Anm. 1), S. 331, 332. 12 Anthony Grafton: “Epilogue: Boethius in the Renaissance”, in: M. Gibson (ed.): Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 410-415, hier S. 413. 13 S. unten S. 203-205. 14 Nauta (Anm. 3), S. 196. 15 Dies legt allerdings Nautas Bemerkung nahe: „(Badius Ascensius) consciously limits himself to adding grammatical explanations“ (ebd.). Das ist aber ebenfalls zu einseitig.

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Asse16 in der Nähe von Brüssel, daher Ascensius), hatte nach klassischen Studien in Italien, u.a. bei Filippo Beroaldo dem Älteren in Bologna, eine eigene Schule in Lyon eröffnet, die er betrieb, bis er 1503 nach Paris ging und die Officina Ascensiana begründete, aus der über 400 Textausgaben und Kommentare zu antiken und humanistischen, aber auch mittelalterlichen [!] Autoren hervorgingen.17 Den Kommentar zu Boethius’ Consolatio veröffentlichte Badius, wie bereits erwähnt, erstmals 1498 in Lyon bei Jean de Vingle. In der an Étienne Geynard, einen befreundeten Lyoneser Buchhändler und Verleger,18 gerichteten Widmung, die Badius mit Ex ludo nostro litterario Lugdunensi („Aus meiner Lateinschule in Lyon“) unterzeichnet, heißt es nach einer Erörterung der Verfasserfrage19 des thomistischen Kommentars: Sed cuiuscumque ea sunt auctoris, certe non contemnenda putem, cum multa sane utilia dilucide dicant, grammaticae tamen et poetices cultioris expertia. In qua re potissimum sudavimus, ut cum bonis doctrinis atque institutis etiam bonas litteras imbecillior aetas addiscat. (fol. 1v, lin. 14-17) Aber wer auch immer der Verfasser dieses Kommentars ist, ich halte ihn [den Kommentar] gewiss nicht für verächtlich, da er vieles ganz Nützliche auf klare Weise sagt. Von der Grammatik freilich und der gehobenen Dichtkunst hat er keine Ahnung. Darin habe ich mir besondere Mühe gegeben, damit die jüngeren Schüler zusammen mit den ersprießlichen Lehren und Anweisungen [des Boethius] auch ein gutes Latein lernen.

_____________ 16 So die heute gebräuchliche Namensform; alte Formen sind Asche oder Assche. Der Geburtsort ist freilich nicht sicher belegbar, möglicherweise ist es auch Gent: vgl. dazu ausführlich Renouard (Anm. 10), vol. 1, S. 4-7. Badius’ Muttersprache war jedenfalls niederländisch, nicht französisch (Hinweise von Marc Laureys). 17 Vgl. das dreibändige Werkverzeichnis von Renouard (Anm. 10). Zur Biographie des Badius gibt es nach Renouard keine detaillierten Untersuchungen; zu seiner Rolle als Drucker und Herausgeber vgl. Maurice Lebel: Josse Bade, dit Badius (14621535). Humaniste, éditeur-imprimeur et préfacier, Louvain 1988; Isabelle Diu: „Medium Typographicum et Respublica Literaria: Le rôle de Josse Bade dans le monde de l’édition humaniste“, in: F. Barbier et al. (Hrsg.): Le livre et l’historien. Etudes offertes en l’honneur du Professeur Henri-Jean Martin, Genève 1997, S. 111-124; Louise Katz. „La «préface» de Josse Bade aux Siluae Morales (1492)“, in: Camenae 1/2007, S. 111; diese Beiträge enthalten allerdings keinen Bezug auf den BoethiusKommentar. – Badius war im Übrigen der Schwiegervater von Robert Estienne „I.“ (1503-1559), der eine große Rolle für die lateinisch-französische Lexikographie und die Grammatikographie des Französischen spielt (Hinweis von Franz Lebsanft). 18 fol. 1v, lin. 1-3: Stephano Geynardo bonarum litterarum studioso et bibliopolarum Lugdunensium optimo. 19 S. dazu unten Exkurs I.

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Als Hauptzweck seines Kommentars bestimmt Badius also die sprachliche Ausbildung seiner Schüler, was durch wiederholte Anreden und Ermahnungen an einen puer deutlich wird,20 während die inhaltliche Seite weitgehend durch Thomas abgedeckt zu sein scheint. Aber auch hier macht Badius hin und wieder interessante Einwürfe, wie wir noch sehen werden. Dazu ist nun sein Kommentar im Einzelnen zu betrachten. Die Untersuchung beschränkt sich hier u.a. aus Platzgründen auf das erste Buch, von dem ich andernorts soeben eine kritische Edition publiziert habe;21 ich hoffe, dass die angedeuteten Interpretationslinien auf diese Weise am ersten Buch exemplarisch deutlich gemacht werden können.

Grammaticalis explanatio Das Proömium (fol. 3v) trägt ein Incipit, das von Badius selbst stammen dürfte und den Kommentar als perquam familiaris ac grammaticalis explanatio („sehr einfache, und zwar grammatische Erklärung“) bezeichnet. Dies ist offensichtlich programmatisch gemeint: Badius beruft sich damit einerseits auf die antike Kommentartradition, insbesondere auf Servius („grammatisch“ also im antiken, umfassenden Sinn von „philologisch“), und setzt sich andererseits von hochfliegenden theologischen Erklärungsmodellen ab, wie sie im Kommentar des Thomas und anderen mittelalterlichen Kommentaren zu finden sind. Der humanistische Kommentator erhebt demgegenüber den angeblich bescheideneren Anspruch ‘bloß grammatischer’ Erklärung, rückt den Autor Boethius aber gleichzeitig durch die Anknüpfung an die antike Klassikerkommentierung wieder näher an die auctores optimi der Alten heran und weg von der formal und sprachlich unbefriedigenden, allein auf die Sache konzentrierten Schreibweise des Mittelalters. In der Einleitung des Proömiums beruft sich Badius dann auch explizit auf Servius: Quandoquidem in exponendis auctoribus Servius grammaticus [praef. Aen.] sex consideranda docuit: auctoris vitam, titulum operis, qualitatem dicendi, scribentis

_____________ 20 Vgl. Prooem. fol. 4r, lin. 3: cave autem, puer, dicas; I pr. 1, fol. 12r, lin. 15: non te fugiat, puer; fol. 12r, lin. 37-38: duo notabis, puer; fol. 12v, lin. 14: Adverte, puer; I pr. 4, fol. 27v, lin. 12-13: Adverte etiam, puer; fol. 27v, lin. 53: Nota, puer; fol. 28r, lin. 8: Praeterea noris, puer. Öfters wird auch ein iuvenis lector oder einfach nur ein lector angesprochen. – Zur Schultradition s. auch Nauta (Anm. 3), S. 195-199. 21 Vgl. Reinhold F. Glei (ed.): „Iodoci Badii Ascensii in Boetium de consolatione philosophiae grammaticalis explanatio liber I“, in: Neulateinisches Jahrbuch 10/2008, S. 87-144.

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intentionem, operis divisionem et eiusdem explanationem, horum quinque iam paucis explicabo, explanationem post Divi Thomae (ut multorum iudicium est) commentarios additurus. (fol. 3v, lin. 4-8) Der Grammatiker Servius lehrte ja, bei der Erklärung der Autoren müsse man sechs Dinge untersuchen: das Leben des Autors, den Titel des Werkes, die Gattung, die Absicht des Verfassers, die Einteilung des Werkes und seine Erklärung. Von diesen sechs Punkten werde ich fünf nur noch mit wenigen Worten ausführen und die ‘Erklärung’ hinter dem Kommentar22, der nach dem Urteil vieler vom Heiligen Thomas stammt, anfügen.

Daraus geht klar hervor, dass nach Badius’ Meinung Thomas zwar ‘nur’ die eigentliche explanatio vernachlässigt hat, diese jedoch der wichtigste Teil der antiken Kommentartätigkeit ist. Durch die Gegenüberstellung der beiden Kommentare im Commentum duplex wird dieses Defizit des Thomas dem Leser besonders augenfällig vorgeführt. Aber auch bei der Abarbeitung der fünf ersten Punkte setzt Badius bisweilen deutlich andere Akzente: Was die Vita (also Punkt 1 der obigen Aufzählung) des Boethius betrifft, so folgt Ascensius wörtlich der Darstellung des Sponheimer Reformabtes und Humanisten Johannes Trithemius (1462-1516), der in seiner ‘Patrologie’ De Scriptoribus Ecclesiasticis von 1494 auch Boethius zwar noch als Kirchenschriftsteller behandelt, dabei aber durchaus traditionelle Bahnen verlassen hatte: So heißt es dort23, Boethius sei philosophus, orator et poeta insignis, in divinis scripturis doctus et in saecularibus litteris omnium suo tempore eruditissimus (fol. 3v, lin. 12-13) gewesen (“ein Philosoph, Redner und ausgezeichneter Dichter, gelehrt in den Heiligen Schriften, in den weltlichen Wissenschaften aber der bei weitem gelehrteste seiner Zeit”). Hier wird eine neue Einschätzung greifbar, die Boethius primär als ‘säkularen’ Philosophen, nicht dagegen als Theologen versteht – nach jahrhundertelanger christlicher Vereinnahmung durchaus eine innovative Sichtweise bei Trithemius, die Badius offenbar mit programmatischem Anspruch übernommen hat und auf deren Aktualität er eigens hinweist: in libro, quem his diebus ... edidit (fol. 3v, lin. 10-11). (“in dem Buch, das er in diesen Tagen herausgegeben hat”).

_____________ 22 Entsprechend den antiken Gepflogenheiten (vgl. Caesars Commentarii) spricht Badius vom Kommentar des Thomas stets im Plural, wenn er ihn insgesamt meint (da er sich auf mehrere Bücher erstreckt); dies ist bei der Interpretation von Verweisen auf superiores commentarii o.ä. zu beachten. 23 Johannis Trithemii Abbatis Spanhemensis Liber de Scriptoribus Ecclesiasticis, in: Bibliotheca Ecclesiastica, curante Jo. Alberto Fabricio, Hamburgi 1718 (Nachdruck Westmead, Farnborough 1967), hier p. 55.

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Nach antiker Grammatikertradition fügt Badius der Vita außerdem noch einen umfangreichen Exkurs über die römische Namengebung24 mit praenomen, nomen (gentile), cognomen und agnomen an und diskutiert des Längeren (allerdings nicht immer korrekt) die Bestandteile des Autornamens (Anicius Manlius Severinus Boethius). Am Schluss dieses Abschnitts heißt es dann lapidar: Reliqua in praecedentibus commentariis expressa sunt satis abunde (fol. 3v, lin. 52 – 4r, lin. 1). (“Das übrige ist im vorangehenden Kommentar mit hinreichender Ausführlichkeit besprochen.”). Zum Titel des Werkes (Punkt 2: titulus operis), beschränkt sich Badius bezeichnenderweise auf eine sprachliche Bemerkung: Cave autem, puer, dicas ‘liber intitulatur’, sed ‘inscribitur’, quamvis ‘titulus’ Latine dicatur (fol. 4r, lin. 3). (“Aber hüte dich, Schüler, zu sagen: ‘Das Buch wird betitelt’; vielmehr heißt es ‘trägt die Überschrift’, obwohl man ‘Titel’ lateinisch [korrekt] sagen kann.”) Dem Schüler wird also die stilistische Anweisung gegeben, das unklassische und erst spätantik belegte Verb intitulare zu vermeiden.25 Motiviert ist diese grammatische Bemerkung freilich dadurch, das Thomas das inkriminierte intitulare mehrfach verwendet.26 Als vorläufige methodische Prämisse ist daher anzunehmen, dass Badius seinen Vorgänger nicht nur dort kritisiert, wo er ihn explizit erwähnt, sondern auch und vor allem durch solche impliziten sprachlichen Hinweise. Im Gegensatz zu Thomas kommt es Badius nämlich darauf an, neben der Erklärung des Boethiustextes – oder besser gerade durch dessen Erklärung – zu einem klassizistischen Sprachgebrauch (oder zumindest einer near classicalness, wie man neudeutsch sagen würde) zu erziehen. Bei den Ausführungen zur Gattung (Punkt 3: qualitas dicendi) beruft sich Badius allerdings ausdrücklich positiv auf seinen Vorgänger: So heißt es zum Form des Prosimetrums, das Werk des Boethius sei in jeder Hinsicht eine Mischgattung, cuius rationem in commentariis sequentibus Sancti Thomae audies et statim, ubi de decoro loquimur, a nobis quoque accipies (fol. 4r, lin. 15-16). (“... dessen Machart du im hier folgenden Kommentar des Heiligen Thomas erfahren und gleich auch von uns, wenn wir über das decorum sprechen, hören wirst.”). Badius will in diesem Abschnitt, über Thomas hinaus, vor allem zeigen, dass Boethius in der Consolatio in jeder Hinsicht das von der antiken Theorie geforderte und von Cicero in idealer

_____________ 24 Eine Standardunterscheidung der antiken Grammatik: ganz knapp bei Donat GLK IV 373,9, ausführlicher z.B. bei Priscian GLK II 57,12ff. 25 Belegt seit Rufin (Apol. adv. Hier. 2,8) und Augustinus (Enarr. in Psalm. 85,1); vgl. ThLL s.v. intitulo. 26 Vgl. Thomas fol. 2v, lin. 17-18: de cuius philosophiae consolatione agitur in libro Boetii qui intitulatur liber de consolatione philosophiae und öfter.

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Weise praktisch umgesetzte aptum gewahrt hat. Dies ist nicht nur wichtig, weil Badius Boethius so als Ciceronianer darstellen, sondern auch, weil er auf diese Weise bestimmte anstößig erscheinende Bemerkungen des Boethius erklären kann: So wird später etwa die verdächtige, weil gänzlich unphilosophische Feststellung mors hominum felix (I m. 1,13) damit entschuldigt, der Autor Boethius spreche hier nicht in eigener Person, sondern lege sie seiner in Depression verfallenen Dialogfigur ‘Boethius’ in den Mund. Die Sentenz sei also nicht nur nicht unpassend, sondern im Gegenteil sogar äußerst angemessen (eben aptum), weil der Autor den Gemütszustand der Personen berücksichtigen müsse: Maxime autem affectionum observatio ad decorum facit. Non enim satis esset aetatem, sexum, patriam et fortunam loquentis considerare, nisi consideretur etiam animus eius, qui loquitur. Aliter enim loquitur rex in extremis adversitatibus constitutus, aliter in prosperitatibus elatus. (fol. 4r, 51-53) Am meisten aber trägt die Beachtung der Affekte zum decorum bei. Es wäre nämlich nicht ausreichend, das Alter, das Geschlecht, den Geburtsort und die soziale Stellung des Sprechenden zu berücksichtigen, wenn man nicht auch den Gemütszustand des Sprechers einbezöge: Denn ein König beispielsweise spricht anders, wenn er sich in schlimmem Unglück befindet, als wenn er in einer Hochphase des Glücks ist.

Zur Absicht des Verfassers (Punkt 4: scribentis intentio) äußert sich Badius unter Verweis auf alii commentarii nur kurz.27 Boethius verfolge, so Badius, eine dreifache Absicht: eine apologetische (bezüglich der Vorwürfe des Hochverrats), eine consolatorische (für sich selbst, aber auch für andere Betroffene in ähnlichen Situationen) und eine philosophische (in erster Linie die Theodizee betreffende). Interessant ist, dass Badius in diesem Zusammenhang auch auf den abrupten Schluss des Werkes eingeht und die offenbar verbreitete Hypothese anführt, dass Boethius möglicherweise noch weitere, spezifisch theologische Erörterungen habe anstellen wollen: Non tamen ignoro multos opinari auctorem instituisse multo plura et de virtutibus et de vitiis theologicisque disquisitionibus scribere, sed praeventum morte huiusmodi finem pro necessitate operi suo imposuisse. (fol. 4v, lin. 44-46) Ich weiß freilich sehr wohl, dass viele glauben, der Autor habe vorgehabt, noch viel mehr über Tugenden und Sünden und theologische Fragen zu schreiben, sei aber durch den Tod daran gehindert worden und habe seinem Werk, der Not gehorchend, ein so abruptes Ende gesetzt.

_____________ 27 fol. 4v, lin. 35-36: Scribentis autem intentio in aliis commentariis satis exprimitur. Ob mit alii commentarii hier über Thomas hinaus tatsächlich noch „andere“ Kommentare gemeint sind und ob Badius diese eingesehen hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, kann aber nach einigen Stichproben als unwahrscheinlich gelten.

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Der Tenor dieser Äußerung legt nahe, dass Badius selbst nicht dieser Ansicht ist, das Werk des Boethius also nicht in erster Linie für theologisch (und damit christlich) motiviert hält, vielmehr das Fehlen spezifisch christlicher Elemente als gewollt ansieht. Nach einer ganz kurzen, hier nicht weiter relevanten terminologischen Bemerkung zur Einteilung des Werkes (Punkt 5: divisio operis) geht Badius jetzt zu seiner explanatio et interpretatio brevicula (fol. 4v, lin. 51), also zum eigentlichen Kommentar, über. Die Erklärung der Gedichte folgt jeweils einem dreiteiligen Schema: Zunächst wird die Metrik (structura atque lex carminis) behandelt, danach wird der Sinn des Textes aufgeschlüsselt, wobei schwierige oder irgendwie auffällige Wörter und Wendungen erklärt werden (sensus auctoris cum vocabulorum expositione), schließlich erfolgt eine zusammenfassende Prosaparaphrase (ordo verborum). Die Bemerkungen zur Metrik, die eine eigene Spezialuntersuchung verdienten, müssen wir an dieser Stelle weitestgehend beiseite lassen;28 auch die Prosaparaphrase, in der ohnehin viele Wiederholungen von bereits vorher Gesagtem vorkommen, kann hier vernachlässigt werden. Im folgenden konzentrieren wir uns daher auf den zweiten Abschnitt, die eigentliche Erläuterung des Textsinns. Hier nun wiederum legt Badius eine Zweiteilung zugrunde: Zunächst erfolgen Ausführungen zur Wortsemantik (vocabulorum expositio) und Etymologie sowie zur grammatischen Konstruktion (inklusive recht häufiger Bemerkungen zur Textkritik), sodann wird die Textsemantik (sensus litteralis) in den Blick genommen. Badius beginnt mit einer Schilderung der Ausgangssituation: Der zu Unrecht beschuldigte und eingekerkerte Boethius erinnere sich an sein früheres Glück und beklage seinen daher um so schlimmer empfundenen Fall. Das angemessene Mittel, diesen Gegensatz auszudrücken, seien sprachliche Antithesen, von denen der Autor in dem Gedicht reichlich Gebrauch mache: Et utitur contentionibus, idest contrariis sententiis per antitheta, idest contraposita seu contraria vocabula (fol. 7v, lin. 20-21). (“Er verwendet Ausdrücke leidenschaftlicher Erbitterung, d.h. gegenläufige Behauptungen durch Antithesen, d.h. entgegengesetzte bzw. einen Gegensatz ausdrückende Wörter.”) Als Beispiel führt Badius die Begriffe peregisse (“vollständig durchgeführt haben”) und inire (“in Angriff nehmen”) an, die sich bei Boethius in I m.1,1-2 auf seine einstige glückliche Vergangenheit und die trostlose Gegenwart bezögen: Damals, in seiner Jugend, habe er

_____________ 28 Ein Beispiel findet sich unten in Exkurs II (zu I m. 4).

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unbeschwerte Gedichte29 verfasst, jetzt beginne er, Trauerelegien zu dichten. Bei der Erörterung der Semantik des Präfixes per- verweist Badius auch auf die (hier nicht einschlägige) instrumentale Bedeutung der Präposition und zitiert als Beleg eine Bibelstelle (Prov. 8,15: per me reges regnant), was durchaus ungewöhnlich ist, greift er doch sonst fast durchweg auf klassische antike Autoren, allen voran Vergil, zurück.30 Andererseits kritisiert Badius des öfteren gerade den biblischen und kirchenväterlichen Sprachgebrauch als unpräzise, wie etwa anlässlich seiner Erklärung des Begriffs iuventa: IUVENTA aetas est, iuventus autem multitudo iuvenum et iuventas dea secundum Servium [in Aen. 1,590]. In Latinis ergo litteris cavebis, ne alterum pro altero (loquor enim de duobus prioribus) ponas, quamvis in sanctis litteris saepe confundantur, et quamvis ‘senecta’ et ‘senectus’ idem sint. (fol. 7v, lin. 46-49) Iuventa ist das Jugendalter, iuventus die Gruppe der Jugendlichen und iuventas die Göttin der Jugend, wie Servius sagt. Im guten Latein wird man sich also hüten, das eine mit dem anderen (ich meine die beiden ersten Begriffe) zu verwechseln, obwohl sie in den Heiligen Schriften oft durcheinander gebracht werden und senecta mit senectus [Greisenalter] synonym ist.

Die erste Bemerkung zielt also gegen die Ungenauigkeit des christlichen Lateins,31 die zweite möglicherweise gegen Analogisten, die aus der auch klassisch belegten Synonymität von senecta und senectus auf die Identität der analogen Begriffe für das Jugendalter schließen wollten.32 Daneben findet sich eine Fülle von Einzelerklärungen, meist im Hinblick auf den Schüler, der korrektes Latein schreiben soll: Dieser wird z.B. ermahnt: SALTEM legas, non ‘saltim’ (“Lies saltem, nicht saltim”), weil sich das Wort von salutem ableite;33 zu cani (“graue Haare”) wird bemerkt, dass das Wort in dieser

_____________ 29 Gemeint sind wohl bukolische Gedichte, die als Jugendwerke durch das Anecdoton Holderi bezeugt sind: vgl. Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae. 2., erweiterte Auflage, Berlin-New York 2006, S. 19. 30 Dies entspricht natürlich seiner generellen Intention, den Stil des Boethius als quasi klassisch zu erweisen; dass er hier einmal eine Bibelstelle zitiert, wird auf den außergewöhnlichen Bekanntheitsgrad dieses Zitats zurückgehen. Thomas zitiert die Stelle übrigens nicht. 31 Badius unterschlägt geflissentlich, dass Servius an der zitierten Stelle (in Aen. 1,590) bemerkt, der Gebrauch dieser Begriffe gehe bei den Dichtern allgemein durcheinander. Zur Unterscheidung der drei Begriffe vgl. auch Appendix Probi GLK IV 200,17-19. 32 Zur Synonymität von senecta und senectus vgl. z.B. Charisius GLK I 57,8ff. Belege für eine analogistische Sichtweise habe ich allerdings nicht finden können. 33 fol. 7v, lin. 43-44. Das ist gegen Thomas gerichtet, der schreibt: nota circa hanc dictionem saltim, quod tres dictiones proferri possunt per tim quae deberent proferri per tem: unde proferimus saltim pro saltem, timpus pro tempus, extimplo pro extemplo (fol. 6r, lin. 5-7).

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Bedeutung nicht im Singular vorkomme;34 schließlich wird ausführlich auf die Semantik der verschiedenen Interjektionen heu heu, eheu, heus, hey und heu eingegangen, deren Relevanz für den Schulunterricht wegen der Komödienlektüre evident ist. Was den hier eher knapp gehaltenen Abschnitt über die Textsemantik (sensus litteralis) angeht, der nicht immer säuberlich vom ersten geschieden ist35, so wurde schon auf einen wichtigen Passus hingewiesen, in dem durchaus modern zwischen Autor und Persona unterschieden wird: MORS HOMINUM FELIX. Pro hac sententia memineris, lector, nos oportere praecipue respicere ad affectionem loquentis. Saepe enim sententiae proferuntur non omnino verae, sed verisimiles iis, qui eas proferunt [...]. Sic Boetius licet ipse talis non sit, tamen quia agit personam eius, qui consolatione indiget et tam tristis est, ut vitam amariciem iudicet, dicit mortem esse felicem, quae infelicibus obvenit. (fol. 8r, lin. 29-34) DER TOD IST EIN GLÜCK FÜR DIE MENSCHEN. Was diesen Satz angeht, so solltest du dich, Leser, daran erinnern, dass wir besonders den Gemütszustand des Sprechers berücksichtigen müssen. Oftmals werden nämlich Sätze gesagt, die nicht schlechthin wahr sind, sondern nur denen wahr erscheinen, die sie vorbringen. [...] So sagt auch Boethius, der Tod sei ein Glück für die im Unglück Befindlichen, obwohl er selbst gar nicht dieser Meinung ist: Vielmehr stellt er eine Person dar, die der Tröstung bedarf und die so unglücklich ist, dass sie das Leben für einen unerträglichen Zustand hält.

Hier erklärt Badius also eine scheinbar anstößige Bemerkung des Boethius sehr zutreffend durch eine literaturwissenschaftliche Differenzierung, die uns Philologen selbstverständlich erscheint, aber selbst in der modernen Boethiusforschung nicht immer beachtet wurde, in der man beispielsweise die Kerkerschilderung des Boethius oft für bare Münze nahm.36 Zum Abschluss folgt dann noch die Prosaparaphrase, deren Redundanz sich Badius durchaus bewusst ist, die er aber aus didaktischen Gründen dennoch folgen lässt: Ordo iam notus est, sed ut pollicita exsequar imbecillioribus, talis est (fol. 8r, lin. 44-45). (“Die [prosaische] Wortreihenfolge ist jetzt schon bekannt, aber um für die schwächeren Schüler mein

_____________ 34 Thomas erwähnt die cani ebenfalls nur im Plural. Es wäre also verfehlt, hinter jeder grammatischen Bemerkung des Badius eine indirekte Polemik gegen Thomas zu sehen: Manchmal verhält sich der Kommentator eben einfach wie ein Schulmeister: „By the way, gibt es cani eigentlich auch im Singular?“ 35 Z.B. wird hier eigens das Tempus von venit (I m.1,9) thematisiert, das aufgrund der Länge der ersten Silbe korrekt als Perfekt identifiziert wird. Dies gehört eigentlich zur Worterklärung, hat aber freilich auch einen textsemantischen Aspekt. 36 Vgl. dazu Reinhold F. Glei: „In carcere et vinculis? Fiktion und Realität in der Consolatio Philosophiae des Boethius“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 22/1998, S. 199-213.

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Versprechen einzulösen: hier folgt sie”). Da wir uns natürlich nicht zu den imbecilliores zählen wollen, wird sie hier übergangen. Die Kommentierung der Prosa-Abschnitte ist weniger deutlich gegliedert. Zu Beginn seiner Erklärung von I pr. 1 fasst Badius den Inhalt des Prosastücks kurz zusammen und konstatiert zwei Teile: erstens die Beschreibung der Erscheinung der Philosophie und zweitens die Vertreibung der Dichtermusen. Zu ersterem erlaubt sich Badius – bei aller sonstigen Bewunderung – doch einmal eine schulmeisterliche Kritik am Verfasser Boethius: Die Bezeichnung Philosophia sei eigentlich unpassend, da das Wort ja die ‘Bemühung um Weisheit’ bezeichne, nicht die Weisheit selbst; die auftretende Frauengestalt sei jedoch zweifellos eine Allegorie der Weisheit und hätte darum besser Sophia geheißen. Überhaupt hat Badius an Boethius’ Prosastil mehr auszusetzen als an seiner Dichtung: So kritisiert er die unübliche Zusammenstellung von Genetivus qualitatis und Ablativus qualitatis in der Wendung reverendi vultus oculis ardentibus (I pr. 1,34), die schlechte Positionierung der Konjunktion -que (respicientiumque statt seque respicientium in I pr. 1,11-12) oder die falsche Verwendung des “Genetivs” humi statt in humum bzw. ad humum (I pr. 1,40). Im letzteren Fall gehört allerdings der Schulmeister selbst geschulmeistert, denn humi ist nicht Genetiv, sondern Lokativ, und klassisch korrekt müsste es bloß humum (ohne Präposition) heißen. Der Kommentar bietet wenig Sinnerklärung und ergeht sich in langen, um nicht zu sagen langweiligen Erörterungen über das grammatische Genus von Buchstabennamen37 (anlässlich der Bezeichnung P Graecum, also im Neutrum) sowie in besonders weitschweifigen Darlegungen über die neun Musen38 (einschließlich der Deklination der Musennamen auf -a, -e und -o) und die Sirenen (mit Etymologie, Deklination und mythologischen Details bis hin zu Platons Sphärenharmonie). Daneben stehen wieder grammtische Einzelerklärungen, z.B. dass das Wort scalae (eig. die Stufen, daher “Treppe”) nicht im Singular verwendet werde39

_____________ 37 Vgl. dazu Wilhelm Schulze: „Die lateinischen Buchstabennamen“, in: BSB 1904, S. 760-785; wiederabgedruckt in W.S.: Kleine Schriften. 2., durchgesehene Auflage mit Nachträgen hrsg. von Wilhelm Wissmann, Göttingen 1966, S 444-467. 38 Zur allegorischen Erklärung der Musen s. unten Anm. 70. 39 Schulmeisterlicher Hinweis; bei Thomas scalae ebenfalls nur im Plural, allerdings ohne Erklärung.

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oder dass das Perfekt consedit von sidere, nicht von sedere komme.40 Außerdem gibt es eine kleine textkritische Erörterung.41 Interessant für unseren Zusammenhang ist eine kurze Bemerkung zum Kleid der Philosophie: ET PARTICULAS QUAS QUISQUE ETC. Hoc quoque de sacris litteris in Christi vestium divisione significatum sacrae attestantur homiliae (fol. 11r, lin. 6-7). (“UND DIE FETZEN, DIE JEDER USW. Diese Bedeutung bestätigen auch die Auslegungen der Heiligen Schrift bezüglich der Teilung der Kleider Christi.”). Dass das Kleid der Philosophie zerfetzt ist, bedeutet bei Boethius, dass die verschiedenen Philosophenschulen sich einseitig nur Teile der Philosophie angeeignet und so die Ganzheit der Philosophie zerstört hätten; bei den Kirchenvätern wurde die Erzählung von der Teilung der Kleider Jesu (Joh. 19,24 sec. Ps 21,19) in analoger Weise auf die Häretiker bezogen.42 Ob Boethius hier tatsächlich auf diese exegetische Tradition zurückgeht oder ob es sich um eine zufällige Übereinstimmung handelt, lässt sich freilich nicht sagen und wird ja von Badius auch nicht behauptet, der lediglich auf die Parallele hinweist. Der Kommentar zu I m. 2 beschränkt sich fast ausschließlich auf die Metrik und verweist für das Inhaltliche auf Thomas: Omnia autem satis exposita sunt in commentariis superioribus (fol. 14v, lin. 26-27). (“Alles ist im vorangehenden Kommentar genügend erklärt”). Badius fügt allerdings noch eine sehr interessante Bemerkung hinzu: qui (scil. commentarii) si Sancti Thomae sunt, nescio cur adiectum sit: ‘Haec Marquardus.’ (ibd. lin. 27) (“Wenn dieser Kommentar vom Heiligen Thomas stammt, weiß ich nicht, warum hinzugefügt ist: ‘Das steht bei Marquard.’”). Um diese zunächst obskure Argumentation zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen.

Exkurs I: Der Verfasser des Thomas-Kommentars Badius hatte in seiner oben erwähnten Widmung des Commentum duplex an Étienne Geynard seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass der erste Kommentar zu Unrecht dem Aquinaten zugeschrieben werde, und sich dabei zunächst eher auf sein Gefühl verlassen:

_____________ 40 Das ist richtig, wobei das Simplex sidere allerdings nachklassisch ist (bei Cicero nur das Supin sessum). 41 Zu abstulerant ist in den Boethiushandschriften die Variante abstulerat überliefert. Badius hält beides für möglich, den Plural jedoch für sinnvoller, wobei er sich mit den modernen Boethius-Herausgebern einig ist. 42 Vgl. etwa Cyprian, De cath. eccl. unitate 7 u.ö.

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Non tamen continuo (scil. vetera commentaria) Sancti Thomae crediderim: cum neque phrasim eius redoleant: neque fecunditatem illam mirabilem que in ceteris doctrinis eius est assequantur: neque tempori congruant (fol. 1v). Doch trotzdem [d.h. trotz seiner nützlichen Inhalte] möchte ich nicht sogleich glauben, dass er [d.h. der alte Kommentar] vom Heiligen Thomas stammt, da er weder dessen Ausdrucksweise widerspiegelt noch jene bewundernswerte Reichhaltigkeit erreicht, die sonst in dessen Lehren liegt, noch mit der Zeit [des Thomas] übereinstimmt.

Für letzteres verweist Badius auf den (angeblichen) Anachronismus, dass ‘Thomas’ Stellen aus Alain de Lille zitiere, der nach Thomas’ Tod geschrieben habe; dies ist jedoch falsch – Thomas von Aquin lebte bekanntlich 1224/5-1274, Alain de Lille starb schon 1203.43 Badius’ Argumente gegen eine Verfasserschaft des Aquinaten sind also an dieser Stelle zwar als ‘weich’ bzw. (was die Chronologie betrifft) als falsch einzustufen; dennoch liefert uns diese Berufung auf einen Anachronismus im Vorwort die richtige Erklärung der Bemerkung Haec Marquardus an der oben zitierten Stelle des Kommentars zum zweiten Metrum: Es soll offenbar ein weiteres chronologisches Argument gegen die Verfasserschaft des Thomas sein. Denn am Ende des thomistischen Kommentars zu I m. 2, wo der Topos der falschen Blickrichtung (zur Erde wie das Vieh anstatt zum Himmel) thematisiert wird, heißt es: Ille enim est merus stultus qui inclinat se ad terrena diligendo ipsa et non elevando intellectum suum ad speculabilia: qualis non fuit Boetius. Unde dicit Augustinus: Tales sunt homines, qualia sunt ea quae diligunt, quia dilectio transmutat diligentem in similitudinem rei quam diligit. Haec Marquardus. (fol. 14r, lin. 31-32). Jener ist nämlich vollkommen stumpfsinnig, der sich zu den irdischen Dingen herabbeugt, weil er diese Dinge liebt und nicht seinen Verstand zu den geistigen Dingen erhebt: So aber war Boethius nicht. Daher sagt Augustinus: Die Menschen sind so, wie das ist, was sie lieben, weil die Liebe den Liebenden verändert hin zur Ähnlichkeit mit der geliebten Sache. Das steht bei Marquard.

Bei dem obskuren Passus handelt es sich also (bis auf den Zusatz qualis non fuit Boetius) offenbar um ein Zitat aus Marquard, einschließlich des angeblichen Augustinus-Zitats, das sich bei diesem allerdings gar nicht findet. Wer ist dieser merkwürdige Marquard? Naheliegend wäre es, ihn mit Marquard von Lindau (1320/30-1392), einem der produktivsten

_____________ 43 Darauf verweist Courcelle (Anm. 1), S. 322 und gibt gleichzeitig einen echten Anachronismus an: ein Zitat des Thomas (fol. 117v, lin. 49) aus dem Tractatus de summo bono des Boethius von Dakien (14. Jahrhundert). Durch die Namensgleichheit verwechselte der Verfasser des Kommentars die beiden Boethii.

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Autoren des Franziskanerordens, zu identifizieren,44 dessen Werke allerdings noch größtenteils ungedruckt sind, so dass sich das Zitat bisher leider nicht nachweisen lässt.45 Alternativen zu Marquard von Lindau bieten sich nicht an: Andere, sonst bekannte Marquarde waren literarisch wenig aktiv und kommen somit kaum in Frage.46 Allerdings findet sich glücklicherweise noch ein zweites Marquard-Zitat im Kommentar des Thomas, und zwar zu I pr. 3 gegen Ende (fol. 18r, lin. 28), mit derselben Wendung Haec Marquardus, und immerhin berührt sich dieses Zitat eng mit einer Stelle aus Marquards von Lindau De horto paradisi, wie Stephen Mossman brieflich mitteilt.47 Auch wenn letzte Sicherheit über die Identität des zitierten Marquard im Moment nicht zu erreichen ist – Badius hat ihn zitiert, weil sich daraus ein zwingendes Argument, eben ein Anachronismus, gegen die Verfasserschaft des Heiligen Thomas gewinnen lässt. Ebenfalls und unabhängig von der Identität Marquards ist aber ausgeschlossen, dass dieser selbst der Verfasser des Thomas-Kommentars gewesen ist, da er ja von diesem als Quelle zitiert wird. Dennoch wurde diese absurde Hypothese ins Spiel gebracht, und zwar von keinem Geringeren als Courcelle: Weil er nur die Bemerkung des Badius Haec Marquardus beachtete und nicht erkannte, dass Badius hier nicht Thomas selbst,

_____________ 44 Zu ihm vgl. den umfassenden Artikel „Marquard von Lindau OFM“ von Nigel F. Palmer in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon Bd. 6, Berlin-New York 1987, S. 81-126 (Nachträge und Korrekturen in Bd. 11/2004, S. 978). Die ältere Forschung ist aufgearbeitet bei O. Bonmann: „Marquard von Lindau und sein literarischer Nachlaß“, in: Franziskanische Studien 21/1934), S. 315-343. 45 Das Hauptwerk De reparatione hominis [H.-J. May: Marquard von Lindau OFM – De reparatione hominis. Einführung und Textedition, Frankfurt u.a. 1977] enthält das fragliche Zitat nicht, ebenso wenig wie die anderen edierten Werke De paupertate [J. Hartinger: Der Traktat De paupertate von Marquard von Lindau, Diss. Würzburg 1965], De perfectione humanitatis Christi [bei May im Anhang S. 154-161] und die (zu den Dubia gehörende) Descriptio mortis per quattuor philosophos [M. von Perger: „Marquard von Lindau OFM (?), Descriptio mortis per quattuor philosophos. Edition und Übersetzung“, in: Wissenschaft und Weisheit 66,2/2003), S. 163-189]. – Leider konnten selbst die weltweit besten Marquard-Kenner, Nigel Palmer und Stephen Mossman (Oxford), denen ich für ihre Mühe herzlich danken möchte, das Zitat nicht identifizieren. 46 Zum Beispiel Marquard von Randeck (um 1300 – 1381), Bischof von Augsburg. 47 Vgl. vor allem die Wendung bei Thomas [ratio] debet se munire vallo humilitatis et patientie (fol. 18r, lin. 25sq.) mit Marquards Aussage über den Garten des Paradieses, wo der spiritualis homo debet seines herczen war nemen sicut orti conclusi uel temporalis paradysi, sic quod cor suum sit vmb graben cum sancta paupertate, vmb mauret cum castitate, gruntfestet cum profunda humilitate. Für den Hinweis danke ich Stephen Mossman ganz herzlich.

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sondern eine Quellenangabe des Thomas zitiert – offenbar hat er Thomas’ Kommentar zu dieser Stelle nicht richtig gelesen –, kam er zu der Vermutung: “Il ne faut donc pas exclure l’hypothèse que ce commentaire ne soit ni de William Whetley ni de Thomas Waleis, mais d’un certain Marquard.”48 Ein gewisser Marquard ist aber, wie wir gesehen haben, keinesfalls der Verfasser des thomistischen Kommentars. Auch die Verfasserschaft des zweiten von Courcelle erwähnten49 möglichen Autors, des Oxforder Dominikaners Thomas Waleys (gest. um 1349), ist ganz unwahrscheinlich, da von ihm ansonsten nur Predigten bezeugt sind.50 Der dritte von Courcelle ins Spiel gebrachte Autor schließlich, William Whetley (oder Wheatley bzw. Wheteley), erscheint u.a. in einer Oxforder Handschrift (New College, 264) aus dem 14. Jahrhundert als Verfasser eines Kommentars zur Consolatio, der, wie Palmer entdeckte, zwar dasselbe Incipit wie der Thomas-Kommentar aufweist, aber nicht mit ihm identisch ist.51 Busas (im übrigen nicht begründete, sondern offenbar unkritisch übernommene) Zuweisung52 des Kommentars an William Wheteley entbehrt also jeder Grundlage. Die früheste erhaltene Quelle des Thomas-Kommentars ist anscheinend der zweisprachige (lateinisch-deutsche) Boethius mit Kommentar, der 1473 bei Anton Koberger in Nürnberg erschien;53 frühere

_____________ 48 Courcelle (Anm. 1), S. 322. 49 Courcelle (Anm. 1), S. 322 unter Berufung auf Manitius (ohne Nachweis). 50 Vgl. M. Gerwing: „Waleys (Wallensis), Thomas“, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 8/1977, Sp. 1967. 51 Nigel F. Palmer: “Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae”, in: M Gibson (ed.): Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 362-409, hier S. 363 und 399 n. 7: „It [scil. PseudoAquinas’ commentary] seems to be quite distinct, apart from a common incipit, from the commentary by William Wheteley, with which it is sometimes confused.“ Eine Überprüfung der Handschrift vor Ort, die freundlicherweise von Yvonne Dellsperger vorgenommen wurde, bestätigte Palmers Beobachtung. Damit ist Courcelles Liste der mittelalterlichen Kommentare des Boethius um einen weiteren, bisher unedierten Kommentar zu ergänzen. Weitere Handschriften des (vermeintlichen) Ps.-Thomas werden von Courcelle (Anm. 1), S. 415 aufgelistet; in einem neueren Beitrag weist Palmer (s. Anm. 53) zumindest eine dieser Handschriften (Oxford, Exeter College, 28) ebenfalls Wheteley zu; vgl. auch Drake (s. unten Anm. 70), S. 194. 52 Busa (Anm. 5) in Titel und Inhaltsverzeichnis (bei ihm mit der Namensform Wheatley). 53 Vgl. Nigel F. Palmer: “The German Boethius translation printed in 1473 in its historical context”, in: M. Hoenen / L. Nauta (eds.): Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio Philosophiae, Leiden 1997, S. 287-

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Handschriften sind nicht nachgewiesen, und alle späteren Textzeugen scheinen auf diesen Druck zurückzugehen.54 Außerdem lässt sich nachweisen, dass auch Badius’ Ausgabe des Thomas-Kommentars im Commentum duplex auf Kobergers Druck beruht,55 und zwar auf der 3. Auflage von 1483, da die dortigen Verbesserungen gegenüber den ersten beiden Auflagen bei Badius berücksichtigt sind.56 Badius kannte und schätzte Koberger, wie aus einem Brief an ihn hervorgeht,57 und vielleicht ist es nicht abwegig anzunehmen, dass Badius sogar die Idee eines Doppelkommentars der Existenz und Verbreitung eben dieser Kobergerschen Ausgabe verdankte. Der wahre Verfasser des ThomasKommentars jedoch bleibt bis auf weiteres anonym, oder um mit Palmer zu sprechen: “Further research on the textual history is needed before founded deductions about the ‘Sitz im Leben’ of the Pseudo-Aquinas commentary can be made.”58 Um nun zum Kommentar des Badius zurückzukehren: Nach dem oben (vor dem Exkurs) zitierten pauschalen (positiven) Verweis auf Thomas fügt Badius nur noch pauca grammaticalia hinzu, namentlich eine Erklärung der dreifachen Funktion von quam sowie eine Bemerkung über die Stilfigur der Synekdoche. Eher unergiebig für unsere Fragestellung ist sein Kommentar auch zu den folgenden Prosastücken und Gedichten: Zu

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302 (zu Wheteley S. 290f.); vgl. außerdem den Beitrag von Bernd Bastert, dem ich wertvolle Hinweise verdanke, in diesem Band. Vgl. Palmer (Anm. 51), S. 399 n. 7: „I know of no manuscript which is definitely the Pseudo-Aquinas and the later editions may well be derived from that of 1473.“ Der griechische Vers zu Beginn von V m. 2 erscheint bereits am Ende von V pr. 2 (Badius fol. 143r), in II pr. 5, III pr. 9 und III pr. 10 finden sich fehlerhafte Sprecherwechsel (Badius fol. 54r, 90v und 97r), in IV pr. 4 eine Textumstellung (Badius fol. 122v). In I pr. 4 am Ende findet sich der besonders signifikante Zusatz ad deum celi (Badius fol. 26r). Der Sprecherwechsel in III pr. 12 beispielsweise, den Koberger in der 3. Auflage korrigiert hat, findet sich auch bei Badius (fol. 103v) nicht. Brief vom 13. Februar 1499, in: Oscar von Hase: Die Koberger. Eine Darstellung des buchhändlerischen Geschäftsbetriebes in der Zeit des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit, Amsterdam ³1967 (ND der zweiten, neugearbeiteten Auflage von 1885), S. XXXXII. Palmer (Anm. 53), S. 290f. – Immerhin lässt sich noch vor Koberger (1473) ein Terminus ante quem angeben: Die hebräische Übersetzung von Bonafoux Bonfil Astruc, datiert 1423 (Ausgabe: Boezio, De Consolatione Philosophiae. Traduzione ebraica di 'Azaria Ben R. Joseph Ibn Abba Mari detto Bonafoux Bonfil Astruc 5183-1423. A cura di Sergio Joseph Sierra, Gerusalemme 1967), hat höchstwahrscheinlich die Kommentare von Trivet und Ps.-Thomas benutzt: vgl. den Beitrag von Mauro Zonta in diesem Band, insbes. S. 410ff.

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I pr. 2 macht Badius lediglich zwei kurze grammatische Bemerkungen zur Kasussyntax und zur Bedeutung von si quidem; zu I m. 3 gibt es neben einer kurzen (zustimmenden) Bezugnahme auf die expositio per superiores commentarios vor allem Ausführungen zum Lautwandel au>o (z.B. in caurus>corus, wobei Badius ausdrücklich auf die Schreibung ohne h hinweist, um Verwechlungen der Schüler mit chorus zu vermeiden59) und zur Bedeutung des Präfixes re-; zu den von Boethius in I pr. 3 erwähnten antiken Philosophen schreibt Badius hauptsächlich Diogenes Laertios aus und fügt nur noch die Erläuterung von pauculae voces an (z.B. geht es um die Unterscheidung von Possessivpronomen und Personalpronomen im Genetiv60 und um die Semantik von securus und tutus61); und zu I m. 4 gibt der Kommentator neben metrischen und textkritischen Bemerkungen die lapidare Erklärung: Si velimus autem sine allegoria carmen hoc pure legere, non obscurus erit sensus (fol. 20r, lin. 36-37). (“Wenn wir uns aber dazu bequemen wollten, dieses Gedicht einfach ohne Allegorie zu lesen, wird der Sinn nicht dunkel sein.”). Badius kritisiert hier wiederum indirekt, aber doch leicht erkennbar, seinen Vorgänger, dessen Auslegung dazu neige, auch hinter einer klaren und eindeutigen Aussage verborgene Allegorien zu sehen. Es erscheint angebracht, an dieser Stelle einmal durch einen detaillierteren Vergleich beider Kommentare die Unterschiede in Inhalt und Methode exemplarisch deutlich werden zu lassen.

Exkurs II: Das Commentum duplex zu I m. 4 Zunächst werden hier Text und Übersetzung der beiden Kommentare (fol. 19r-20r) abgedruckt. Der lateinische Originaltext des ThomasKommentars folgt der editio princeps des Commentum duplex und wurde orthographisch normalisiert, die Interpunktion modernen Erfordernissen angepasst. Der Text des Badius-Kommentars ist meiner Ausgabe entnommen.62

_____________ 59 Noch heute wird chorus im Französischen mit k ausgesprochen, ist also phonetisch mit corus identisch (Hinweis von Franz Lebsanft). 60 criminatio mei („Anklage gegen mich“) und criminatio mea („meine Anklage“, d.h. die ich selbst vorbringe). 61 securus („sorglos“, trotz objektiver Gefährdung), tutus (objektiv „sicher“, was subjektive Besorgnis nicht ausschließt). S. auch unten zu Boeth. I pr. 4,109 (securitas), S. 24f. Nr. 1. 62 S. oben Anm. 21.

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Sanctus Thomas QUISQUIS COMPOSITO (SERENUS AEVO ETC. add. Busa). Hic incipit quartum metrum huius libri (primi Busa), quod vocatur metrum valenticum ab inventore, et constat ex spondeo, dactylo et tribus trocheis. Unde potest dici metrum trochaicum a pede praedominante. In hoc metro philosophia ostendit, qualiter homo debeat se habere, ut persecutiones improborum non praevaleant contra ipsum. Et hoc primo declarat quibusdam similibus. Secundo exclamat contra timentes tyrannos. Secunda ibi: QUID TANTUM MISERI. Dicit primo: Quicumque homo serenus, idest clarus virtute, composito aevo, idest ordinata vita, egit, idest calcavit, sub pedibus superbum fatum, idest eventum rerum temporalium, et quicumque tuens, idest respiciens, utramque fortunam, idest prosperam et adversam, rectus, idest non flexus, potuit tenere vultum, idest animum invictum, ita quod non vincatur prosperitate (se add. Busa) extollendo nec adversitate deprimendo, illum hominem non movebit, idest turbabit, rabies ponti, idest inundatio maris, exagitantis (agitantis Busa), idest moventis, funditus, idest a fundo, aestum versum, idest ebullitionem versam, quia in ebullitione maris aqua vertitur per fluxum et refluxum, quasi dicat: Impetus maris faciens ebullitionem non nocebit illi homini, qui non extollitur in prosperis nec deprimitur in adversis. Nec tali homini nocebit ignis Vesevi montis, quotiens ille mons torquet, idest emittet, ignes fumificos ruptis caminis, idest cavernis suis, quasi dicat: Nec tali homini nocebit vagus Vesevus suis ignibus. Nec illum hominem movebit via ardentis fulminis soliti, idest consueti, ferire celsas turres. Nota philosophia tangit tria (tria tangit Busa) quae non nocent homini qui constans est in utraque fortuna. Primum est rabies maris, per quam designantur luxuriosi. Sicut enim mare sole et motu suo incalescit et foetet, sic luxuriosi concupiscentia sua inardescunt et peracta libidine foetent; de quibus dicit scriptura: “Perierunt iumenta in stercore suo.” [Ioel 1,17] Tales luxuriosi non nocebunt homini constanti in utraque fortuna. Secundum quod tangit est ignis Vesevi montis, per quem designantur avari et invidi. Sicut enim ignis Vesevi montis semper ardet, ita avari ardent in concupiscentia bonorum exteriorum, et sicut ignis eructuans quandoque consumit loca vicina, sic invidi quandoque nocent verbis si non possunt factis. Et tales invidi non nocebunt homini constanti. Tertium quod tangit est ictus fulminis, per quem intelliguntur superbi. Sicut enim fulmen generatur in alto, sic superbi alte se extollunt. Et mirabile videtur de superbis, quod cum aliis hominibus habitare nolunt et tamen ad caelum volare non possunt. Tales superbi non nocebunt homini constanti. Alii per rabiem maris intelligunt invidos, per ignem iratos, per fulmen superbos, ut dictum

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est. Alii per mare quod est sonorosum intelligunt avaritiam, per ignem poenam corporis, per fulmen rerum ablationem. Nota Vesevus est mons Italiae intrinsecus ardens, qui quandoque ruptis cavernis emittit ignem qui loca vicina consumit. Nota circa hoc quod dicit ‘serenus aevo’ Seneca dicit: “Talis est animus sapientis, qualis est mundus super luminatus.” Talis autem mundus semper est serenus, et sic animus sapientis in utraque fortuna semper est serenus. Unde Aristoteles in Ethicis dicit: “Sapiens bene scit ferre fortunas, quia se habet sicut tetragonum sine vituperio.” QUID TANTUM MISERI (SAEVOS TYRANNOS ETC. add. Busa). Hic philosophia exclamat contra timentes tyrannos, dicens: Quid, idest quare, miseri homines mirantur timendo saevos tyrannos furentes sine viribus, quasi dicat: Tyranni sunt impotentes, quia non praevalent nisi inquantum homo se subiicit (subjecit Busa) eis. Et addit: Nec (Non ed. princ., corr. Busa) speres aliquid de bonis temporalibus, nec timeas eos de adversitatibus; tunc tu exarmaveris, idest debilitaveris, iram impotentis tyranni. Sed quicumque homo trepidus pavet timore malorum temporalium vel optat bona temporalia, talis non est stabilis et sui iuris, idest propriae libertatis: ipse abiecit clipeum securitatis, et motus a loco stabilitatis ipse nectit, idest componit, catenam affectionum qua valeat trahi ad tristitiam et dolorem mentis. Nota potestas terrena ad nihil se extendit nisi ad largiendum bona temporalia vel ad auferendum ea, et ideo nullus subiacet terrenae potestati nisi qui sperat talia bona vel timet eorum ablationem. Qui autem nec (non ed. princ., corr. Busa) timet nec sperat, ipse est omnino supra vel extra terrenam potestatem, et [quia del. Busa] per consequens terrena potestas sibi nec proficere nec obesse potest. Propter quod philosophia exclamat contra illos [qui del. Busa] tamquam miseros qui spe bonorum temporalium vel timore ablationis eorum subiiciunt se terrenis potestatibus, dicens: QUID TANTUM MISERI. Nota circa illud ‘at (om. Busa) quisquis trepidus’ (etc. add. Busa) Seneca dicit in libro de virtutibus cardinalibus: “Magnanimitas si insit animo tuo, cum magna fiducia vives (viue ed. princ., corr. Busa) intrepidus et alacer.” Magni animi est non vacillare, sed constare et finem vitae intrepide exspectare. Si magnanimus es, numquam iudicabis tibi contumeliam inferri ab inimico, sed dices: Nihil mihi nocuit, sed animum nocendi habuit. Nota tyrannus quondam dicebatur quidam rex fortis, et dicebatur a ‘tyro’, idest fortitudine. Sed (seu Busa) illud nomen est iam appropriatum (causa appropriata Busa) principantibus pessimis, et dicuntur a †tyro, idest ab angustia quam inferunt suis subditis.

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Nota quod (om. Busa) clipeus sumitur hic pro ratione hominis, quia sicut clipeus defendit nos ne laedamur a telis et a similibus, ita ratio hominis tuetur eum et providet sibi ne offendatur. Badius QUISQUIS COMPOSITO ETC. Oda haec est monocolos, hendecasyllaba, trochaica valentica. Monocolos ideo quod omnes versus eiusdem sunt metri, hendecasyllaba quia XI syllabis constat, trochaica quia saepe in fine tres trochaeos habet, quamvis ultima syllaba, eo quod communis est, spondeum introducat. Sunt ergo quinque pedes: spondeus, dactylus et tres trochaei. Quocirca quidam (ut nonnullis codicibus habetur) legunt VERSUM FUNDITUS ACTITANTIS AESTUM. Si enim ‘agitantis’ legas, perichium ponas tertio loco, qui constat ex duabus brevibus. Alii ‘exigentis aestum’ non inepte legunt. Item, ubi alii ponentes tertio loco spondeum legunt QUID TANTUM MISERI SAEVOS TYRANNOS, meliores codices habent ‘feros tyrannos’. In hoc carmine philosophia docet omnem hominem veram (hoc est animi) libertatem obtinere posse nihilque homini metuendum, qui suis bonis (quae virtus et scientiae sunt) contentus neque externa bona amittere formidat neque adipisci desiderat. Si velimus autem sine allegoria carmen hoc pure legere, non obscurus erit sensus, ubi dicit: quicumque FATUM, idest mortis necessitatem, et fortunam, idest rerum externarum eventum, SUB PEDIBUS HABET, tanto animo praeditus est, ut neque furibundo mari neque fornacibus flagrantis montis neque fulmine terreatur. Quanto minus illi tyrannus timendus sit! VESEVUS, qui et Vesuvius dicitur, olim flammas emisisse dicitur. Nihil hic existimo expositionis egere. Der Heilige Thomas JEDER, DER HEITER IN GEFESTIGTEM ALTER USW. Hier beginnt das vierte Metrum des ersten Buches, das nach seinem Erfinder ‘valentisches Metrum’ genannt wird und das aus einem Spondeus, einem Daktylus und drei Trochäen besteht. Daher kann man es auch nach dem vorherrschenden Versfuß ‘trochäisches Metrum’ nennen. In diesem Metrum zeigt die Philosophie, wie sich der Mensch verhalten muss, so dass ihn die Verfolgung durch böse Menschen nicht anficht. Und dies zeigt sie zuerst durch einige Vergleiche. Als zweites folgt eine Schelte

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gegen die, die Tyrannen fürchten. Der zweite Teil beginnt bei WAS (BESTAUNEN) DIE ELENDEN SO SEHR. Zuerst sagt sie: Jeder Mensch, der heiter, d.h. im Lichte der Tugend, in gefestigtem Alter, d.h. in einem wohlgeordneten Leben, das hochfahrende Schicksal, d.h. den Ausgang der zeitlichen Dinge, mit Füßen gezwungen, d.h. getreten hat, und jeder, der mit Blick auf, d.h. unter Beachtung des wankelmütigen Glücks, d.h. des Glücks wie des Unglücks, aufrecht, d.h. nicht gebeugt, sein Antlitz, d.h. seinen unbesieglichen Geist, halten konnte, so dass er sich weder durch Übermut im Glück noch durch Schwermut im Unglück besiegen lässt: Einen solchen Menschen wird nicht bewegen, d.h. aus der Ruhe bringen, das Wüten der See, d.h. der Wogengang des Meeres, das heraustreibt, d.h. bewegt, aus der Tiefe, d.h. von Grund auf, die umgewendete Brandung, d.h. die umgewendete Flutwelle, weil in der Flutwelle des Meeres das Wasser durch Strömung und Gegenströmung hin- und hergewendet wird, so als ob sie sagte: ‘Der Ansturm des Meeres, der eine Flutwelle verursacht, wird demjenigen Menschen nicht schaden, der im Glück nicht übermütig, im Unglück nicht schwermütig ist.’ Einem solchen Menschen wird auch nicht schaden das Feuer des Vesuvs, sooft auch jener Berg feurige Rauchsäulen schleudert, d.h. ausstößt, aus geborstenen Schächten, d.h. aus seinen Höhlungen, so als ob sie sagte: ‘Einem solchen Menschen wird auch der unberechenbare Vesuv mit seinen Feuern nicht schaden.’ Einen solchen Menschen wird auch nicht beeindrucken der Weg des brennenden Blitzes, der es gewohnt ist, d.h. der daran gewöhnt ist, (gerade) die hohen Türme zu treffen. Merke: Die Philosophie spielt hier auf drei Dinge an, die einem Menschen nicht schaden, der im Glück wie im Unglück gleich standhaft ist. Das erste ist das Wüten des Meeres, womit man die Wollüstigen bezeichnet. Wie nämlich das Meer durch die Sonne und seine eigene Bewegung in Wallung gerät und stinkt, so geraten auch die Wollüstigen durch ihre Begierden in Hitze und stinken, nachdem sie ihre Lust befriedigt haben; über diese sagt die Heilige Schrift: “Das Vieh ging in seinem eigenen Kot zugrunde.”63 Solche Wollüstigen werden einem Menschen nicht schaden, der im Glück wie im Unglück gleich standhaft ist. Das zweite, auf das sie anspielt, ist das Feuer des Vesuvs, womit man die Habgierigen und Neidischen bezeichnet. Wie nämlich das Feuer des Vesuvs dauernd brennt, so brennen die Habgierigen in ihrem Verlangen nach äußeren Gütern. Und wie das speiende Feuer bisweilen die

_____________ 63 Die Vulgata lautet: Computruerunt iumenta in stercore suo. Allegorisch interpretiert wird die Stelle z.B. bei Gregorius Magnus, Moralia in Iob 24,8. – Der hebräische Urtext hat übrigens einen völlig anderen Sinn: „Unter ihren Schollen schrumpelt die Aussaat.“

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benachbarte Gegend verwüstet, so schaden die Neidischen bisweilen mit Worten, wenn sie es nicht mit Taten vermögen. Und solche Neider werden einem standhaften Menschen nicht schaden. Das dritte, auf das sie anspielt, ist der Schlag des Blitzes, womit man die Hoffärtigen bezeichnet. Wie nämlich der Blitz in der Höhe erzeugt wird, so erheben sich die Hoffärtigen in die Höhe. Und es erscheint wunderlich bei den Hoffärtigen, dass sie nicht bei anderen Menschen wohnen wollen, aber dennoch nicht zum Himmel fliegen können. Solche Hoffärtigen werden einem standhaften Menschen nicht schaden. Andere verstehen unter dem Wüten des Meeres die Neidischen, unter dem Feuer die Zornigen, unter dem Blitz die Hoffärtigen, wie gesagt wurde. Andere verstehen unter dem Meer, das laut rauscht, die Habgierigen, unter dem Feuer die körperlichen Strafen, unter dem Blitz die Einziehung von Gütern. Merke: Der Vesuv ist ein Berg in Italien, der im Innern brennt und bisweilen, wenn die Schächte bersten, Feuer speit, das die benachbarte Gegend verwüstet. Merke: In Bezug auf die Wendung ‘heiter im Leben’ sagt Seneca: “Der Geist des Weisen ist wie eine von oben erleuchtete Welt.”64 Eine solche Welt nämlich ist immer heiter, und so ist der Geist des Weisen in Glück und Unglück immer heiter. Daher sagt Aristoteles in der Ethik: “Der Weise weiß Glück und Unglück wohl zu ertragen, weil er sich verhält wie ein Viereck ohne Makel.”65 WAS (BESTAUNEN) DIE ELENDEN SO SEHR GRAUSAME TYRANNEN USW. Hier schilt die Philosophie die, die Tyrannen fürchten, indem sie sagt: Was, d.h. warum, bestaunen die elenden Menschen in ihrer Furcht grausame Tyrannen, obwohl ihr Rasen machtlos ist? So als ob sie sagte: ‘Tyrannen sind ohnmächtig, weil sie nichts ausrichten können, außer insofern sich der Mensch ihnen unterwirft.’ Und sie fügt hinzu: Erhoffe nichts von zeitlichen Gütern, und fürchte sie (die Tyrannen) nicht wegen des Unglücks: Dann wirst den Zorn des zügellosen Tyrannen entwaffnen, d.h. schwächen. Jeder Mensch jedoch, der ängstlich bebt aus Furcht vor zeitlichen Übeln oder zeitliche Güter ersehnt, ein solcher ist nicht standfest und selbstbestimmt, d.h. mit eigener Freiheit ausgestattet: Er hat den Schild der Sicherheit weggeworfen, seine feste Stellung hat er verlassen und knüpft, d.h. schmiedet, die Kette seiner Leidenschaften, von der sich ziehen lässt zu Schwermut und Schmerz des Geistes. Merke: Irdische Macht erstreckt sich auf nichts anderes als auf die Verleihung oder den Entzug zeitlicher Güter, und deshalb erliegt nur der der irdischen Macht, der solche Güter erhofft oder deren Wegnahme

_____________ 64 Bei Seneca findet sich das Zitat nicht; dort lediglich die Wendung animus sapientis (ep. mor. 81,26), jedoch in anderem Zusammenhang. 65 Aristoteles, Eth. Nic. 1100b20-22.

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fürchtet. Wer aber weder hofft noch fürchtet, der steht selbst gänzlich oberhalb bzw. außerhalb irdischer Macht, und folglich kann irdische Macht ihm weder nützen noch schaden. Deshalb schilt die Philosophie die als Elende, die aus Hoffnung auf zeitliche Güter oder aus Furcht vor der Wegnahme derselben sich irdischen Mächten unterwerfen, indem sie sagt: WAS (BESTAUNEN) DIE ELENDEN SO SEHR. Merke: In Bezug auf die Wendung ‘Jeder aber, der ängstlich usw.’ sagt Seneca in seinem Buch über die Kardinaltugenden: “Wenn Hochherzigkeit in deiner Seele wohnt, wirst du mit großer Zuversicht leben, unverzagt und mit freudigem Eifer.”66 Hochherzigkeit heißt, nicht zu wanken, sondern standhaft zu sein und das Lebensende unverzagt zu erwarten. Wenn du hochherzig bist, wirst du urteilen, dass dir von einem Feind niemals eine Schmähung widerfahren kann, sondern wirst sagen: ‘Er hat mir gar nicht geschadet, er hatte nur vor, mir zu schaden.’ Merke: ‘Tyrann’ nannte man einstmals einen tapferen König, und es wurde von tyro67 abgeleitet, was ‘Tapferkeit’ bedeutet. Bald aber hat man diese Bezeichnung übelsten Herrschern beigelegt und es von [...] abgeleitet, d.h. von der Not, die sie ihren Untertanen bereiten. Merke: Unter ‘Schild’ versteht man hier die Vernunft des Menschen, weil so, wie uns ein Schild verteidigt, dass wir nicht von Geschossen und ähnlichem verwundet werden, den Menschen seine Vernunft schützt und bei sich dafür sorgt, dass er nicht verletzt wird. Badius JEDER, DER IN GEFESTIGTEM USW. Das Gedicht hat nur ein Metrum, ist elfsilblig, valentisch trochäisch. Es hat nur ein Metrum, weil alle Verse dasselbe Metrum haben. Es sind Elfsilbler, weil es aus 11 Silben besteht. Es ist trochäisch, weil am Ende oft drei Trochäen stehen, obwohl die letzte Silbe, da sie lang oder kurz sein kann, (manchmal) einen Spondeus einführt. Es sind also fünf Versfüße: Spondeus, Daktylus und drei Trochäen.

_____________ 66 Auch dieses Zitat findet sich nicht bei Seneca. (Pseudo-)Thomas zitiert es aus dem echten Thomas Aq., Summa Theologiae II/II q. 129 a. 5 arg. 1, der das Zitat ebenfalls Seneca zuweist; es stammt aber (mehr oder weniger wörtlich) von Martinus von Bracara, Formulae vitae honestae 3, 241. 67 i.e. tiro („junger Soldat“). Die Etymologie bereits bei Isidor, Etym. 9,3,19. Die zweite erwähnte Etymologie kann natürlich nicht ebenfalls auf tyro zurückgehen: offenbar liegt eine Textverderbnis vor.

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Deshalb lesen einige (wie es sich auch in manchen Handschriften findet) versum funditus actitantis aestum (“... aus der Tiefe die umgewendete Brandung heftig treibt”). Wenn man nämlich agitantis (“treibt”) läse, würde man an der dritten Versstelle ein Perichium setzen, das aus zwei Kürzen besteht. Andere lesen nicht unpassend exigentis aestum (“... die Brandung heraustreibt”). Ebenso haben dort, wo andere in dem Vers Quid tantum miseri saevos tyrannos (“Was [bestaunen] die Elenden so sehr grausame Tyrannen”) an der dritten Versstelle einen Spondeus lesen, die besseren Handschriften feros tyrannos (“wilde Tyrannen”). In diesem Gedicht lehrt die Philosophie, dass jeder Mensch die wahre, d.h. geistige Freiheit erlangen könne und ein Mensch nichts fürchten müsse, der mit seinen ureigensten Gütern (worunter Tugend und Wissen zu verstehen sind) zufrieden ist und weder äußere Güter zu verlieren fürchtet noch zu erlangen strebt. Wenn wir uns aber dazu bequemen wollten, dieses Gedicht einfach ohne Allegorie zu lesen, wird der Sinn nicht dunkel sein, wo sie (die Philosophie) sagt: Jeder, der das Schicksal, d.h. die Notwendigkeit des Todes, und das Glück, d.h. den Ausgang der äußeren Dinge, unter den Füßen hat, ist mit einem solchen Geist ausgestattet, dass er sich weder durch das wütende Meer noch durch die Schlünde eines feuerspeienden Berges noch durch einen Blitz erschrecken lässt. Um wieviel weniger muss dieser Mensch einen Tyrannen fürchten! Der Vesevus, der auch Vesuv heißt, soll einstmals Flammen ausgestoßen haben. Ich glaube, dass hier keine weitere Erklärung nötig ist. Es ist deutlich, dass Badius in seinem Kommentar nur die Dinge anspricht, die er für korrektur- oder über Thomas hinaus für erklärungsbedürftig hält. Korrekturen erfährt daher zunächst das Kapitel über die Metrik. Während Thomas in Unkenntnis des antiken Versmaßes (Phalaeceischer Elfsilbler, vor allem von Catull verwendet) eine willkürliche Analyse in Spondeus, Daktylus und drei Trochäen vornimmt und das Vermaß demnach als vorwiegend trochäisch ansieht, finden wir bei Badius insofern einen Fortschritt, als er immerhin erkennt, dass es sich um einen silbenzählenden, elfsilbigen Vers handelt (oda hendecasyllaba). Daneben findet sich allerdings zusätzlich auch noch die falsche obige Einteilung in fünf Versfüße (Spondeus, Daktylus und drei Trochäen). Die grundlegende Differenz zwischen den Sprechversen von Epos (Daktylus, Spondeus) und Drama (Trochäen, Iamben) einerseits und den lyrischen Versmaßen andererseits – nämlich die festgelegte Silbenzahl – wird hier noch nicht in ihrer Tragweite erkannt. Unkritisch nachgeschrieben wird auch die unantike Bezeichnung des Versmaßes als ‘valentisch’ (metrum valenticum bei

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Thomas, oda trochaica valentica bei Ascensius). Die Herkunft dieser Bezeichnung ist ungeklärt. Thomas gibt anschließend eine Wort-für-Wort-Erklärung des Textes, die bei Badius unwidersprochen bleibt, also gebilligt wird; lediglich an zwei Stellen macht Badius jetzt textkritische Anmerkungen: Im Haupttext des Boethius druckt er in Vers 6 dieses Gedichts agitantis, während der Thomas-Kommentar an der entsprechenden Stelle exagitantis aufweist (von Busa daher in agitantis ‘verbessert’). In seinem eigenen Kommentar verwirft Badius agitantis aus metrischen Gründen und gibt der Variante actitantis den Vorzug, hält aber auch die Lesart exigentis für möglich. Die Stelle ist hier nicht inhaltlich zu diskutieren, vielmehr nur darauf hinzuweisen, dass Badius offenbar eine ganze Reihe von BoethiusHandschriften eingesehen hat. Auch an einer zweiten Stelle (V. 11) gibt Badius einer Variante (feros statt saevos) aus metrischen Gründen den Vorzug. Bei Thomas folgt jetzt ein Abschnitt, in dem die drei bei Boethius erwähnten Naturgewalten – Flutwelle, Vulkanausbruch und Blitz – als Allegorien der gängigen Todsünden erklärt werden: Die Flutwelle bedeute die Wollust, das Vulkanfeuer die Habgier und den Neid (alternativ noch den Zorn), der Blitz die Hoffart.68 Diese für die Bibelexegese typische allegorische Verfahrensweise, die hier (wie übrigens auch noch bis ins 15. Jahrhundert69) ganz selbstverständlich auch auf den Boethiustext angewandt wird, lehnt Badius rundheraus ab. Seine Bemerkung Si velimus autem sine allegoria carmen hoc pure legere, non obscurus erit sensus (fol. 20r, lin. 36-37) (“Wenn wir uns aber dazu bequemen wollten, dieses Gedicht einfach ohne Allegorie zu lesen, wird der Sinn nicht dunkel sein“) lässt seinen hermeneutischen Grundsatz gut erkennen: Wenn der Literalsinn klar ist, ist es überflüssig, nach einem allegorischen Sinn zu suchen. Die grundstürzenden Konsequenzen für die Bibelexegese liegen auf der Hand, werden an dieser Stelle allerdings wohlweislich nicht thematisiert; an dem antiken Profantext (zu dem Boethius nun wieder geworden ist) hingegen lässt sich die revolutionäre Hermeneutik, wenn auch nur vereinzelt,70 schon einmal erproben.

_____________ 68 Damit sind fünf der sieben kanonischen sog. Todsünden genannt. Es fehlen gula (Völlerei) und acedia (Faulheit), die hier offenbar zu den Metaphern des Boethius nicht recht passen wollten. 69 So etwa bei Dionysius Cart(h)usianus (Denys de Rickel, 1402-1471): Enarrationes seu Commentaria in V Libros B. Severini Boetii Philosophi ac Martyris De Consolatione Philosophiae (Anm. 6), pp. 85-89. 70 Zum Beispiel steht Badius’ Erklärung der neun Musen als die neun Artikulationsinstrumente der Sprache (s. Badius zu I pr. 1, fol. 11v, lin. 1sqq., nach Fulgentius, Myth. 1,15) – vier Vorderzähne, die zwei Lippen, die Zunge, der Gaumen und die

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Gretchen- und andere Fragen Nach diesem Exkurs setzen wir unsere Betrachtung des BadiusKommentars fort. Einige für unseren Zusammenhang interessante Stellen finden sich im Kommentar zu I pr. 4, der sog. Apologie, einer (immer noch sehr langen) Kurzfassung der verlorenen Verteidigungsschrift des Boethius. Zur einleitenden Aufforderung der Philosophie si operam medicantis exspectas, oportet vulnus detegas (Boeth. I pr. 4,4-5) (“Wenn du die Hilfe des Arztes erwartest, musst du deine Wunde offenlegen”) bemerkt Badius: Verbum Boetio, idest viro catholico et severo, dignum, quo animorum morbi aptissime curantur (fol. 26r, lin. 40-41). (“Ein Ausspruch, der des Boethius, eines katholischen und prinzipientreuen Mannes, würdig ist und durch den sich auch die Krankheiten des Geistes sehr wirksam heilen lassen”). Auf den ersten Blick scheint hier die Bezugnahme auf den Katholizismus des Boethius verblüffend, geht es doch in diesem Zusammenhang gar nicht um religiöse, sondern um medizinische Fragen. Bedenkt man jedoch den Kontext näher, so ist klar, dass hiermit die in der Apologie zu rechtfertigende Haltung des Boethius im Konflikt mit dem häretischen Theoderich gewürdigt werden soll: Boethius stand ja auf der Seite des römisch-katholischen Senats gegen den arianischen Ostgotenkönig, der ihn der Konspiration mit dem griechisch-orthodoxen Kaiser verdächtigte. Mit dem Epitheton catholicus soll hier also nicht eine spezifisch christliche Haltung, sondern die Standfestigkeit und Loyalität des Senators Boethius ausgedrückt werden. Was folgt, ist wieder ein buntes Gemisch aus sprachlichen Bemerkungen: So wird z.B. eingehender der ziemlich konstruiert erscheinende Unterschied zwischen exemplar (“das Beispielhafte, Vorbildhafte”) und exemplum (“das [daraus abgeleitete] nachahmende Beispiel”) erörtert;71 gestreift werden die archaistischen Formen des Gerundivums auf -undus, die Semantik der Verben mit dem Präfix ex- (exorare, exaudire [“erbitten, erhören”] im Unterschied zu bloßem orare, audire [“bitten,

_____________ Kehle – durchaus noch in der Tradition allegorischer Deutung: vgl. dazu die ausführliche, die gesamte lateinische Kommentartradition des 12.-15. Jahrhunderts berücksichtigende Studie von Graham H. Drake: „The Muses in the Consolation: Responses from Late-Medieval Mythographers, 1150-1500“, in: Carmina Philosophiae 4/1995, S. 1-75; Reprint mit neuem Untertitel „The Late Medieval Mythographic Tradition“ in : N. H. Kaylor / Ph. E. Phillips (eds.): New Directions in Boethian Studies (Studies in Medieval Culture, XLV), Kalamazoo, Michigan 2007, S. 169-219. 71 Ascensius beruft sich hier wie auch sonst (s. unten Anm. 73) auf die Darlegungen von Lorenzo Valla (Elegantiae 6,33) und mittelbar auf Festus.

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hören”]) sowie die der Adjektive regius (“dem König eigen”) und regalis (“königlich, wie ein König”). Aufschlussreich ist auch ein Exkurs über ‘zivilisierte’ und ‘barbarische’ Sprachen: Omnes linguae anomalae, idest irregulares et indeclinabiles, barbarae dici possunt, quales sunt omnes praeter Hebraicam, quae vix exstat, Graecam et Latinam, quamvis et hae etiam vulgares barbaris simillimas habeant. (fol. 26v, lin. 30-32) Alle anomalen, d.h. unregelmäßigen und nicht deklinierbaren Sprachen kann man barbarisch nennen. Von dieser Art sind alle Sprachen außer der hebräischen – die freilich kaum vorkommt –, und außer der griechischen und lateinischen Sprache, obwohl auch diese vulgäre Formen haben, die den barbarischen Sprachen sehr ähnlich sind.

Unbarbarisch sind daher eigentlich nur die hochsprachlichen Formen des Griechischen und Lateinischen; das Hebräische als dritte lingua sacra wird hier zwar noch erwähnt, aber doch durch den Zusatz quae vix exstat eher wieder marginalisiert. Gerade für den Grammatiker Badius wäre es eigentlich zwangsläufig gewesen, auch das Hebräische als barbarisch zu kennzeichnen, da ein wesentliches Merkmal des Unbarbarischen, nämlich Deklinabilität, hier nicht gegeben war: Die Namen aus der hebräischen Bibel werden, sofern sie nicht ‘eingelateinischt’ sind, bekanntlich als indeklinabel behandelt.72 Dennoch fühlt sich Badius bemüßigt, als Konzession an die political correctness für das Hebräische eine Ausnahme zu machen. Weiterhin ist bemerkenswert, dass Badius auch die Volkssprachen (einschließlich seiner Muttersprache Niederländisch und seiner derzeitigen Umgangssprache Französisch), ja selbst das Vulgärlatein (und das heißt hier ja wohl das übliche Latein des Mittelalters) als barbarische Sprachen bezeichnet. Hier zeigt sich der enorme Einfluss des humanistischen Rückgriffs auf die antike Latinität, die Badius vor allem Lorenzo Valla zu verdanken hat, dessen Elegantiae Linguae Latinae er selbst ediert hatte73 und die er auch in seinem Kommentar fortlaufend zitiert.74 Neben solch tiefgreifenden sprachphilosophischen Erörterungen stehen dann wieder grammatische Banalitäten und Kuriositäten, wie etwa die

_____________ 72 Vgl. Priscian GLK II 148,8-12 oder Charisius GLK I 118,13f.. 73 Zuerst Paris 1497, später noch öfter. Vgl. die Übersicht über die VallaHandschriften und Drucke bei Jozef Ijsewijn / Gilbert Tournoy: „Un primo censimento dei manoscritti e delle edizioni a stampa degli “Elegantiarum linguae latinae libri sex” di Lorenzo Valla“, in: Humanistica Lovaniensia 18/1969, S. 25-41; Ergänzungen in: ebd. 20/1971, S. 1-3. Eine moderne kritische Edition der Elegantiae wäre ein dringendes Desiderat; greifbar ist immerhin ein Nachdruck der (vermutlichen) editio princeps von 1471 mit spanischer Übersetzung und Anmerkungen von S. López Moreda, Cáceres 1999. 74 Nachweise in meiner Edition (wie Anm. 21).

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abstruse Etymologie von provincia (a ‘procul’ et ‘vinco’)75 oder die (an dieser Stelle hier falsche) Erklärung der Fragepartikel -ne aus dem griechischen QDg.76 Zum Begriff sacrae aedes erklärt Badius, dass damit jede Art von templum (z.B. ein Jupitertempel oder die Kirche des Hl. Stephanus) bezeichnet werden könne, denn ein templum sei ein locus contemplandi (“Ort der Betrachtung”). Schulmeisterlich und unter Ablehnung des mittelalterlichen Sprachgebrauchs fügt er dann aber noch hinzu, dass man das Wort ecclesia nicht für das Gebäude benutzen dürfe:77 Ecclesia autem contio fidelium, quamvis abusive pro continente, hoc est pro templo, poni soleat, habetque praeter opinionem multorum secundam syllabam longam (fol. 27r, lin. 2425). (“‘Kirche’ ist die Gemeinschaft der Gläubigen, obwohl man das Wort manchmal missbräuchlich für den Versammlungsort, d.h. das Gebäude, setzt. Entgegen weitverbreiteter Meinung ist die zweite Silbe lang.”)78 Das weite Feld der Ekklesiologie wird hier auf elementare Semantik und Prosodie [!] reduziert. Den Höhepunkt einer Verweigerung theologischer Diskussionen jeglicher Art findet man an der Stelle, wo Badius auf die Theodizeefrage zu sprechen kommt – oder besser: eben nicht zu sprechen kommt. Nach einem schulmeisterlichen Hinweis, dass quisque mit dem Superlativ zu konstruieren sei (was Boethius bei sceleratus quisque versäumt habe), gelangt der Kommentator zu dem Punkt, an dem Boethius das Theodizeeproblem formuliert: si quidem deus est, unde mala? (I pr. 4,98-99). Dazu bemerkt Badius folgendes: Hanc rem beatus Augustinus in multis locis disputat, et praecipue in opere de libero arbitrio, quod etiam unde malum inscribitur. Nos autem non theologicas, sed grammaticas recepimus investigationes. (fol. 27v, lin. 5-7) Dieses Thema erörtert der selige Augustinus an vielen Stellen, besonders in seinem Werk über den freien Willen, das auch ‘Woher das Böse?’ überschrieben ist. Wir haben uns aber nicht theologische, sondern grammatische Untersuchungen vorgenommen.

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, außer vielleicht, dass diese Bemerkung mehr sein dürfte als eine bloße Deklaration der Nichtbefassung mit dem Thema Theodizee. Wie wir sahen, pflegt Badius

_____________ 75 So schon Donat, Comm. in Ter. Phorm. 72, und Isidor, Etym. 14,5,19. Die tatsächliche Etymologie von provincia ist ungeklärt. 76 Es gibt zwar auch das lateinische, mit dem griechischen QDg identische Adverb ne (mit langem e), hier ist jedoch eindeutig die enklitische Partikel -ne (mit kurzem e) gemeint. 77 So bei Thomas: sacras aedes, idest ecclesias (fol. 24v, lin. 6-7). 78 Die Prosodie ist korrekt, da griechisch {NNOKVgDin der zweiten Silbe ein Eta aufweist.

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dort, wo er Thomas zustimmt, entweder positiv auf ihn zu verweisen oder seine Zustimmung ex silentio zu signalisieren; hier dagegen verweist er ausdrücklich auf Augustinus, nicht auf Thomas (obwohl auch dieser ausführliche Erörterungen über die Theodizeefrage anstellt), und erklärt sich selbst explizit für unzuständig. Darin scheint sich dann doch ein gewisser Widerwille gegenüber der theologischen Kommentartradition zu artikulieren. Dafür spricht auch, dass die ansonsten relativ seltene Kritik an Thomas in den folgenden Abschnitten gehäuft auftritt. Im einzelnen sind es folgende Einwände: Den Begriff securitas (Boeth. I pr. 4,109) habe Thomas völlig falsch verstanden: Male interpretatur, qui dicit ‘quanta securitate, idest quanta tutela’ [cf. fol. 24r, lin. 41]. Si enim tutela fuit Boetio, nullum fuit periculum. Est autem securitas negligentia, incuria, parvipensio, quia securus est, qui seorsum est a cura, hoc est, qui non curat, licet sit periculum. Vult ergo dicere: ‘Tam constanter et animose defenderim senatum, ut nullam curam de periculo meo habere viderer.’ (fol. 27v, lin. 23-27) Schlecht übersetzt der, der sagt: ‘mit welcher Sicherheit, d.h. unter welchem Schutz’. Wenn Boethius nämlich unter Schutz stand, bestand keinerlei Gefahr. Mit ‘Sicherheit’ ist vielmehr ‘Unbekümmertheit, Sorglosigkeit, Geringschätzung (der Gefahr)’ gemeint, weil derjenige ‘sorglos’ ist, der frei von Sorge ist, das heißt, der sich nicht sorgt, obwohl Gefahr droht. Boethius will also sagen: ‘So standhaft und mutig habe ich den Senat verteidigt, dass ich offenbar überhaupt nicht um meine eigene Gefahr besorgt war.’

Zur Erklärung des von Ironie und Sarkasmus triefenden und daher zugegebermaßen schwer verständlichen boethianischen Ausrufs O meritos de simili crimine nemini posse convinci! (I pr. 4,125-126) (“O Schande über die Senatoren, die es verdient hätten, dass niemand von ihnen eines ähnlichen Verbrechens [nämlich der Loyalität und des Pflichtbewusstseins] geziehen werden könnte!”), führt Badius aus: Sententiam vero, quia frigide exponitur a commentario superiore, credo ipsi non bene notam fuisse. Est autem talis: Boetius ostendit se absentem et inconfessum ob falsi criminis delationem propter pietatem suam proscriptum esse, ideoque indignatus exclamat contra senatores eius sententiae conscios dicens eos esse meritos neminem ipsorum posse convinci simili crimine, quo ipse Boetius convictus erat, hoc est propter pietatem, quam ipsi crimen falso vocabant. (fol. 27v, lin. 43-48) Weil der Sinn aber vom vorangehenden Kommentar nur äußerst dürftig erklärt wird, glaube ich, dass er ihn nicht richtig verstanden hat. Der Sinn ist aber folgender: Boethius zeigt, dass er in Abwesenheit und ohne Geständnis eines falschen Verbrechens denunziert und wegen seiner Loyalität [dem Senat gegenüber] geächtet wurde, und deshalb ruft er voller Empörung gegen die Senatoren, die seinen Standpunkt kannten, aus, sie hätten es verdient, dass niemand von ihnen eines ähnlichen Verbrechens geziehen werden könne, dessen Boethius selbst ge-

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ziehen worden war, nämlich wegen Loyalität, die jene fälschlich als Verbrechen bezeichneten.

Der Vorwurf der ‘Frigidität’ gegenüber Thomas ist heftig und einmalig, Badius’ Erklärung freilich völlig richtig. Im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Religionsfrevels (sacrilegium) bemängelt Badius die falsche und unlateinische (bzw. ungriechische) Form nigromantia, die von Thomas (fol. 24v, lin. 52-53) gebraucht wird: Praeterea noris, puer, corruptum esse vocabulum, quod in commentariis ponitur, ‘nigromantia’. Dicitur enim ‘necromantia’ vel ‘ars necromantica’, qua cadaveribus mortuorum abutuntur. (fol. 28r, lin. 8-10) Außerdem dürftest du wohl wissen, Schüler, dass das im Kommentar [des Thomas] vorkommende Wort ‘Nigromantie’ verkehrt ist. Es heißt nämlich ‘Nekromantie’ oder ‘nekromantische Kunst’, mit der man Leichenschändung betreibt.

Der des Griechischen unkundige mittelalterliche Kommentator verballhornte griechisch QHNU´Q (“tot”) zu lat. nigrum (“schwarz”), wahrscheinlich durch die Assoziation mit der ‘Schwarzen Magie’. Boethius beklagt (I pr. 4,145-150), dass die Volksmeinung nicht auf die Verdienste, sondern nur auf den Erfolg schaue und nur das für vorausschauend geplant (provisa) halte, was sich durch seinen glücklichen Ausgang empfehle. Die Frage ist, ob es sich bei dieser providentia um die göttliche Vorsehung handelt oder um menschliche Planung. Thomas geht wie selbstverständlich davon aus, dass sich der Begriff provisa nur auf Gott beziehen könne (fol. 25v, lin. 21). Badius dagegen ist anderer Meinung: Commentarius superior intelligit ‘provisa esse a deo’, ego ‘ab homine’, quia sensus est: Vulgus iudicat, quod vir quantumcumque sapiens non provideat nisi ea, quae feliciter eveniunt. Quod aegre tulit apud Ovidium in Heroidibus, quae populi obiectionem ponit dicentis: Exitus acta probat [her. 2,85], hoc est in exitu patet, quia sapienter incepisti, quasi vero semper prudenter incepta bonum exitum habeant, cum videamus bene inceptis per casum aliquem exitum tristem dari. [...] Sententia ergo vulgi est, quando videt aliquem licet innocentem vinctum aut oppressum: bonae vitae bona finis, boni incepti bonus exitus. Si vir iste talis fuisset, qualem reputavimus eum, non haec illi modo evenissent. (fol. 28r, lin. 3947) Der vorangehende Kommentar versteht das als ‘von Gott vorausschauend geplant’, ich dagegen als ‘vom Menschen’, weil der Sinn ist: Die Masse urteilt, dass ein auch noch so weiser Mann nur das vorausschauend plant, was gut ausgeht. Darüber klagte [Phyllis] bei Ovid in den Heroidenbriefen, die den Vorwurf des Volkes erwähnt, das sagte: ‘Der Ausgang rechtfertigt die Tat’, das heißt es lässt sich am Ausgang erkennen, dass du es klug angefangen hast – so als ob klug Begonnenes immer einen guten Ausgang hätte! Dabei sehen wir doch, das auch gut Begonnenes durch irgendeinen Zufall auch einen traurigen Ausgang nehmen kann. [...] Die Meinung der Masse, wenn sie jemand gefesselt oder bedrängt sieht, mag er auch unschuldig sein, ist also: ‘Gutes Leben, gutes Ende; gutes Beginnen,

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guter Ausgang. Wenn dieser Mann so gewesen wäre, wie wir ihn eingeschätzt haben, wäre dies nicht auf jene Weise passiert.’

Badius hat zweifellos Recht: Volkes Meinung ist natürlich nicht, dass Gott nichts Schlimmes verhängen könne, sondern vielmehr, dass einer an seinem Unglück immer auch selbst Schuld habe. Und gegen diese populistische Häme wehrt sich Boethius. Der Kommentar zu den restlichen Stücken des ersten Buches ist nicht mehr sehr ergiebig, es finden sich nur noch wenige aussagekräftige Stellen, die im folgenden kurz besprochen werden sollen. In I m. 5 behandelt Boethius u.a. ausführlich die Mythologie von Sol und Luna und zitiert eine Reihe antiker Autoren, darunter Servius, Apuleius, Diodorus Siculus, Terenz, Vergil und andere. Interessant ist folgende Bemerkung: Si quis autem ad veritatem catholicam respicere velit, nonnisi parabolice Lunam sororem Solis appellare possit, eo quod ab uno parente deo facti sunt, cum dictum sit: Fecit Deus duo luminaria magna et cetera [Gen. 1,16]. (fol. 30v, lin. 49-51) Wenn das aber jemand zur Wahrheit des Glaubens in Beziehung setzen möchte, so könnte man nur gleichnishaft den Mond die Schwester der Sonne nennen, weil sie ja von Gott als dem einen Vater geschaffen wurden, da geschrieben steht: ‘Gott schuf zwei große Leuchten usw.’

Badius legt also durchaus Wert darauf festzuhalten, dass Boethius der christlichen Wahrheit nicht widerspricht; allerdings zeigt die Formulierung auch, dass der Kommentator es nicht für wirklich adäquat zu halten scheint, solche Fragestellungen überhaupt an den Text heranzutragen. Dennoch findet sich im Kommentar zu I pr. 5 eine äußerst wichtige Stelle zum Problem der Vereinbarkeit von antiker Philosophie und Christentum. Zu Beginn diagnostiziert die Philosophie, dass sich Boethius durch seine falsche Einstellung zu den weltlichen Gütern selbst aus seinem Vaterland verbannt habe und fordert ihn auf, sich seines (himmlischen) Ursprungs zu erinnern: Si enim cuius oriundo (v.l. oriundus) sis patriae reminiscare... (Boeth. I pr. 5,9). Dazu kommentiert Badius: Cuius oriundus patriae et ‘de qua patria’ Latine dicitur. Estque discrimen inter ‘ortum’ et ‘oriundum’. Nam ortus est aliquis, ubi natus, etiamsi nullos parentes illic ortos aut inde oriundos habeat, et construitur cum genitivo proprii nominis quomodo cetera verba et participia aut cum praepositione et ablativo. Oriundus autem dicitur de aliquo loco, unde parentes eius originem traxerunt, tametsi illic natus non sit. Patria autem est suum cuiusque natale solum, nec apte ponitur pro regione ab iis, qui multas patrias regem habere dicunt. Potest autem dictum philosophiae philosophice intelligi, ut secundum doctrinam Platonis patriam nostram caelum dicat, unde anima per planetarum orbes delapsa in corpus descendisse dicatur. Sed hic Boetio non congruit, qui (quod Augustinus dicit) novit animam non prius creatam fuisse in caelo quam corpori infunderetur, sed simul et creando infusam et infundendo creatam. Verumtamen, quia animae rationalis pater deus

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est ipsaque potissima pars hominis, ideo potest recte intelligi de caelo loqui. Non enim dicit animam ortam, hoc est creatam, in caelo, sed oriundam de caelo, quia a deo patre, qui in caelis est, originem traxit, cum a deo, non a patre terreno, cum corpore generetur. Sed haec, quia grammaticorum partes excedunt, missa facio. (fol. 33r, lin. 29-41) ‘Welcher Heimat entstammend’ und ‘aus welcher Heimat’ kann man lateinisch (korrekt) sagen. Es gibt aber einen Unterschied zwischen ‘stammend’ und ‘entstammend’. Denn jemand stammt daher, wo er geboren ist, auch wenn er Eltern hat, die nicht selbst dorther stammen oder von dort entstammen, und es wird wie die übrigen Verben und Partizipien mit dem Genetiv eines Eigennamens oder mit einer Präposition und Ablativ konstruiert. ‘Entstammend’ aber sagt man von einem Ort, von dem seine Eltern ihren Ursprung genommen haben, auch wenn man selbst nicht dort geboren ist. ‘Heimat’ aber ist das Geburtsland eines jeden, und es wird nicht korrekt im Sinne von ‘Bereich’ gebraucht von denen, die sagen, ein König habe viele Heimaten. Den Ausspruch der Philosophie kann man aber philosophisch verstehen in dem Sinne, dass sie meint, gemäß der Lehre Platons sei unsere Heimat der Himmel, von wo die Seele durch die Planetensphären hinabgeglitten und in den Körper eingegangen sein soll. Hier jedoch stimmt Boethius nicht (mit Platon) überein, da er weiß, dass die Seele (wie Augustinus sagt), nicht im Himmel geschaffen worden ist, bevor sie in den Körper eingeht, sondern zugleich im Schöpfungsakt eingeht und im Eingehen geschaffen wird. Weil aber der Vater der Verstandesseele Gott ist und diese der wichtigste Teil des Menschen, kann man es trotzdem hier richtigerweise so verstehen, dass vom Himmel die Rede ist. Boethius sagt nämlich nicht, dass die Seele aus dem Himmel ‘stamme’, also dort geschaffen worden sei, sondern dass sie vom Himmel ‘entstamme’, weil sie ihren Ursprung von Gott Vater, der im Himmel ist, genommen hat, während sie von Gott, nicht vom irdischen Vater, zusammen mit dem Körper erzeugt wird. Aber weil dies über die Aufgabe der Grammatiker hinausgeht, lasse ich das Thema jetzt beiseite.

Die Frage der Präexistenz der Seele und damit auch die der Seelenwanderung ist eine der wesentlichen Differenzen zwischen Platonismus und Christentum. Boethius vermeidet es in der Consolatio geschickt, sich für eine der beiden Positionen zu entscheiden, und operiert mit neutralen, in beide Richtungen interpretierbaren Aussagen.79 Badius geht auch hier von einer prinzipiell christlichen Haltung des Boethius aus und versucht diese mit philologischen Argumenten zu untermauern, indem er einen (im antiken Sprachgebrauch durchaus geläufigen80) Unterschied zwischen dem punktuell-perfektiven Aspekt des Partizips ortus (“wo der Ursprung tatsächlich ist”) und dem linear-futurischen Aspekt des Gerundivs oriundus (“worauf man den Ursprung zurückführen muss”) für diese heikle theolo-

_____________ 79 Zur Seelenlehre des Boethius vgl. die bibliographischen Hinweise in dem ausführlichen Literaturbericht bei Joachim Gruber: „Boethius 1925-1998 (2. Teil)“, in: Lustrum 40/1998, S. 199-259, hier S. 232-235. 80 Vgl. z.B. Liv. 24,6,1: nati Carthagine, sed oriundi ab Syracusis.

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gische Frage nutzbar macht: Boethius behaupte nicht, die Seele sei vor der Geburt im Himmel geschaffen worden, sondern nur, dass sie, als Schöpfung Gottes, dem Himmel entstamme. Doch freilich wird Badius dann doch das theologische Eis zu glatt, und er zieht sich auf die ‘bescheidenere’ Aufgabe des Grammatikers zurück. Im Kommentar zu I m. 6 findet sich nur eine auffällige Stelle, eine Polemik gegen multi, die sich nicht einer korrekten Orthographie befleißigten: Notum est etiam infantulis ‘sulcis’ non ‘sulsis’ scribendum esse in hoc textu, licet multi errent (fol. 34r, lin. 27-28). („Es ist sogar kleinen Kindern geläufig, dass man in diesem Textzusammenhang sulcis [Furchen], nicht sulsis [nicht existente Wortform] schreiben muss, worin freilich viele irren.“) Diese Polemik trifft allerdings diesmal nicht Thomas, der auch sulcis hat, sondern scheint der Praxis des Unterrichts zu entstammen: Die Aussprache von -ciund -si- dürfte identisch, die orthographische Unterscheidung daher schwierig gewesen sein. Zu I pr. 6 stellt Badius im Anschluss an Lorenzo Valla umfangreiche Erörterungen über die Semantik der Subjunktion nedum an. Nach Valla, dem auch heutige Grammatiken folgen, bedeutet nedum nach affirmativem Vordersatz soviel wie ‘erst recht natürlich’ (dies bei Cicero noch selten, häufiger seit Livius), nach negativem Vordersatz (dies die klassischerweise übliche Variante) ‘geschweige denn’.81 Der fragliche Satz bei Boethius lautet nun (auf die Frage der Philosophie, ob er wisse, wie Gott die Welt regiere): Vix, inquam, rogationis tuae sententiam nosco, nedum ad inquisita respondere queam (I pr. 6,18-20). („Kaum, sagte ich, verstehe ich den Sinn deiner Frage, geschweige denn dass ich darauf antworten könnte.“) Der Boethiustext, wie er im Commentum duplex gedruckt ist, weist nun allerdings die Lesart nequeam auf, wodurch eine sinnwidrige Verdoppelung der Negation (nedum – nequeam) eintritt. Damit konfrontiert, hatte Thomas die Subjunktion nedum falsch als adhuc („bisher“ scil. kann ich nicht darauf antworten82) gedeutet, während Badius nach der (richtigen) Darlegung der Semantik von nedum zu dem (falschen) Schluss kommt: Quapropter non videtur ad unguem observata hic ea elegantia (fol. 36v, lin. 27). („Deshalb scheint diese [nach Valla] klassische Ausdrucksweise hier nicht genau beachtet zu sein.“) Anstatt nun die einzig sinnvolle Konsequenz zu ziehen und nequeam in queam zu verbessern, sieht Badius den Fehler eher im Gebrauch von nedum und brandmarkt sogar die richtige Lesart queam explizit als

_____________ 81 Vgl. Raphael Kühner / Carl Stegmann: Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Zweiter Teil: Satzlehre. Zweiter Band, Hannover ²1914 (ND Darmstadt 1997), S. 67 mit Belegstellen. 82 Thomas fol. 35r, lin. 8-11: nedum idest adhuc non queam idest possum respondere ad inquisita idest interrogata.

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falsch: licet quidam mendaces codices habeant ‘queam’ pro ‘nequeam’ invertentes paene sententiam (fol. 36v, lin. 27-28). („wenn auch einige fehlerhafte Handschriften queam statt nequeam haben, wobei sie den Sinn völlig verkehren“). Hätte er queam als die richtige Lesart angesehen, so hätte sich das Problem einer vermuteten Abweichung vom klassischen Sprachgebrauch in nichts aufgelöst. Der kardinale Denkfehler, dem Badius hier bei allem sonstigen Scharfsinn offenbar erliegt, ist der, dass er den durch vix eingeleiteten Hauptsatz als affirmativ ansieht – vix entspricht aber semantisch natürlich einer Negation.83 So zeigen sich an dieser Stelle auch einmal die Grenzen von Badius’ philologischen Fähigkeiten, die an die Vallas offenbar nicht heranreichen können. Der knappe Kommentar zu I m. 7 enthält nur eine zustimmende Bemerkung zu Thomas84 und ist ansonsten nicht weiter ergiebig.

Fazit Fassen wir nun unsere Ergebnisse zusammen. Der Kommentar des Badius steht auf den Schultern der mittelalterlichen Tradition und verdankt dieser sehr viel. Es ist keinesfalls so, dass Badius die mittelalterliche Boethiuserklärung in Bausch und Bogen verdammt; er erkennt dieser vielmehr durchaus Verdienste zu und beruft sich vielfach auf seinen Vorgänger Thomas. Das Anliegen des Commentum duplex ist vielmehr seinerseits ein doppeltes: Zum einen will Badius den Kommentar des Thomas dort, wo er unzureichend ist, ergänzen – dies ist vor allem im sprachlichen Bereich der Fall. Gestützt auf die philologische Bibel der Humanisten, die Elegantiae Lorenzo Vallas, will Badius die weitgehende Klassizität des Boethius erweisen und auch dort, wo er unklassisch ist, seinen Schülern den korrekten Gebrauch des Lateinischen nahebringen. Auch in der Metrik gibt es Fortschritte, wenngleich Badius hier noch besonders dem mittelalterlichen Unverständnis für die quantitierende Metrik der Alten verhaftet bleibt. Insgesamt könnte man diese Seite der Kommentartätigkeit des Humanisten als komplementär bezeichnen. Zum anderen korrigiert Badius seinen Vorgänger dort, wo dessen Erklärungen ihm falsch erscheinen; auch dies bezieht sich in erster Linie auf Sprachliches (Wort- und Textsemantik), aber nicht nur: Insbesondere die allegorische Interpretation des Boethiustextes wird abgelehnt, wie in Exkurs II deutlich wurde. Dies läuft auf eine Entchristianisierung des Boethius hinaus: Wenn auch Boethius’ persönliches Bekenntnis zum

_____________ 83 Vgl. Kühner-Stegmann loc. cit. mit Beispielen für vix – nedum. 84 fol. 37v, lin. 47: secundum priorem commentarium.

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Christentum nicht in Frage gestellt und auch kein ausdrücklicher Widerspruch seiner Lehren zum Christentum konstatiert wird,85 so zeigt doch Badius durch mehrfache Erklärung der Nichtzuständigkeit sein Unbehagen an diesem Thema überdeutlich auf. Die Ablehnung der Allegorie und damit der üblichen exegetischen Methode verweigert dem Text explizit den Status eines quasi-kanonischen christlichen Dokuments. Boethius ist vielmehr ein quasi-antiker Autor, der gutes (wenn auch nicht perfektes) Latein schreibt; man kann ihn daher – im Gegensatz zur Bibel – einfach so verstehen, wie er dasteht, ohne Gefahr zu laufen, den heiligen Text zu profanieren. Eine hermeneutische Vergewaltigung, wie sie die mittelalterliche Exegese jahrhundertelang betrieben hat, ist nicht mehr nötig. Auch der Text selbst ist nicht sakrosankt: Badius weiß um die divergierende handschriftliche Überlieferung und um die Notwendigkeit, den Text nicht als gegeben hinzunehmen, sondern ihn allererst kritisch zu konstituieren. Damit ist auch die grundsätzliche Differenz zwischen statischen, Wort für Wort geoffenbarten heiligen Texten einerseits und schwankenden, für jegliche Veränderung und Ergänzung offenen profanen Texten andererseits in Frage gestellt: Der Boethiustext hat nach Ascensius prinzipiell durchaus eine feste Gestalt, die aber nicht offenbart und somit unhinterfragbar ist, sondern in der vom Autor intendierten Form restituiert werden muss. In diesem Sinne ist Badius’ Kommentar wirklich innovativ: In ihm manifestiert sich ein neuer, wissenschaftlich zu nennender Geist – der Geist der Philologie. Wir können daher Senecas Klage über den geistlosen Schulbetrieb seiner Zeit, in dem die klassischen Texte nur unter grammatischen Gesichtspunkten traktiert wurden, für Badius geradezu ins Positive wenden: Quae philosophia fuit, facta philologia est.86

_____________ 85 Dass die Philosophie im Holzschnitt der Titelinitiale als Krankenschwester in Ordenstracht dargestellt ist, sollte man nicht überbewerten. Die Kleidung der Philosophie verweist auf einen medizinischen, nicht unbedingt einen religiösen Kontext. 86 Sen. ep. mor. 108,23.

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Titelholzschnitt der Editio princeps des Commentum duplex, Lyon 1498.

Das Zitat aus Boethius’ Philosophiae consolatio im Breisacher Weltgericht Zur Bedeutung des Medienwechsels in Martin Schongauers Bildkonzeption der Darstellung des Himmels der Seligen ULRIKE HEINRICHS (Berlin) The contribution addresses the reception of the Philosophiae consolatio in the context of a work of late Medieval painting, with regard to a problem of theology of the image. In Martin Schongauer’s monumental mural of the Last Judgment in the parish church St. Stephen at Breisach, the section referring to Paradise integrates a lengthy excerpt from the Epigrammata of Prosper of Aquitaine as well as a quotation from Boethius. This quotation abridges the tenth poem of the third book of the Philosophiae consolatio, bringing together lines 1-5 and 17-18. The contribution examines the relationship of image and text and demonstrates that the tension between the ethical-moral orientation of the text— which makes an appeal directed not to the blessed souls represented in the picture, but to the living, who are captivated by “worldly thinking”—and the eschatological perspective of the image of the Last Judgment is not in any way dispelled. Rather, the painting makes use of this discrepancy within the framework of a complex concept of the image, and accentuates the change of medium, in order to suggest the fundamental impossibility of representing the Paradise of the blessed, understood as visio beatitudinis.

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Huc omnes pariter uenite capti, quos fallax lig[at] improbis catenis terrenas ha[b]itans li[bido] me[ntes: haec] erit uobis requies laborum, hic portus placida manens quiet[e, h]anc quisquis poterit not[are lucem] candidos P[hoebi radios negabit.] „Hierher kommt alle gleichermaßen, ihr Gefangenen, die ihr in schändlichen Ketten gebunden seid durch die trügerische Begierde, die im irdischen Denken wohnt. Hier erwartet euch das Ausruhen von den Mühen, hier der Hafen, der beständig in lieblicher Ruhe bleibt; wer immer dieses Licht hier wahrzunehmen vermag, der wird leugnen, dass Phoebus’ Strahlen hell seien.“

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Abb. 1: Martin Schongauer, Aufstieg der Seligen zum Paradies, Wandgemälde, Breisach, St. Stephansmünster, innere Südwand der Westhalle

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Abb. 2: Martin Schongauer, Auferstehung der Toten und Jüngstes Gericht, Wandgemälde, Breisach, St. Stephansmünster, innere Westwand der Westhalle

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3. Martin Schongauer, Hölle, Wandgemälde, Breisach, St. Stephansmünster, innere Nordwand der Westhalle

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Dieser Auszug aus Boethius’ Philosophiae consolatio1 ist in das monumentale Wandgemälde des Weltgerichts im St. Stephansmünster in Breisach integriert (Abb. 1), das der aus Colmar stammende Maler und Kupferstecher Martin Schongauer (ca. 1445-1491) ab etwa 1486/87 als sein letztes großes Werk schuf, wobei er dem Ruf des für die Bauhütte ihrer Pfarrkirche verantwortlichen Rates folgte und sich als Bürger der Stadt in Breisach niederließ.2 Das Zitat steht als Inschrift auf einem gemalten Schriftband, das unmittelbar über der Paradiesespforte, zugleich über den Häuptern der Seligen schwebt, die im Begriff sind, in den Himmel einzuziehen. Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenziehung der Verse 1-5 des zehnten Gedichts im dritten Buch der Philosophiae consolatio mit den Schlussversen 17-18 aus demselben Gedicht. Die illusionistische Ausgestaltung der Inschrift und ihres ‚Trägers’, eines mehrfach aufgefalteten Schriftbands, lässt einen inneren Zusammenhang des Textes mit dem Bildgeschehen erwarten. Indessen lässt ein Vergleich mit dem Bild insgesamt eine solche enge Beziehung zunächst nicht erkennen. Der Gemäldezyklus im westlichen Teil des Langhauses des St. Stephansmünsters entfaltet in drei großen Wandabschnitten (Abb. 1-3) Aspekte der mittelalterlichen Vorstellung von der Endzeit bzw. vom Jenseits im Rahmen einer Bildkonvention, welche die Kunstgeschichte als Jüngstes Gericht oder Weltgericht tituliert.3 Die hier dargestellten Menschen gehören sämtlich dem Leben nach

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3

Transkription, Ergänzung unleserlicher Partien, Übersetzung und Zuordnung des Textes nach Perger, Mischa von: „Die Inschriften in Martin Schongauers ‚Jüngstem Gerichtȧ im Breisacher Münster“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63/2000, S. 153-168, S. 155. Zu den Schriftquellen, zur Frage der Zuschreibung an Martin Schongauer sowie zur Forschungsgeschichte die Wandgemälde betreffend siehe ausführlich Heinrichs, Ulrike: Martin Schongauer, Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens, München 2007, S. 434-441. Zur Entstehung dieses Bildtyps und zu seiner Entwicklung in früh- bis hochmittelalterlicher Zeit: Brenk, Beat: Tradition und Neuerung in der christlichen Kunst des ersten Jahrtausends. Studien zur Geschichte des Weltgerichtsbildes, Wien 1966. Bei unterschiedlicher kunstgeographischer Gewichtung sind weiterhin grundlegend: Schreiner, Rupert: Das Weltgerichtsfresko in S. Maria Donnaregina zu Neapel. Materialien zur Weltgerichtsikonographie, München 1983; Grötecke, Iris: Das Bild des Jüngsten Gerichts. Die ikonographischen Konventionen in Italien und ihre politische Aktualisierung in Florenz, Worms 1997; Boerner, Bruno: Par caritas et meritum. Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich – am Beispiel des mittleren Westeingangs von Notre-Dame in Paris, Freiburg Schweiz 1998; Christe, Yves: Das Jüngste Gericht, aus dem Französischen übersetzt von Michael Lauble, Regensburg 2001. Den Versuch einer religionsgeschichtlichen Kategorisierung des kunsthistorischen Materials unternahm die Züricher Ausstellung von 1994. Erstmals wurde hierbei auch die deutsche und schweizerische spätgotische Kunst in größerem Umfang einbe-

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dem Tod an: die aus ihren Gräbern auferstehenden unmittelbar unterhalb der Erscheinung des am Jüngsten Tage wiederkehrenden Christus, die dem Höllenfeuer und vielfältigen Strafen der Verdammnis anheim gegebenen an der Nordwand und die unter dem Geleit von Engeln in den Himmel eingehenden auf der Südseite. Zwar enthalten die Verse 4-7 der Inschrift Metaphern, die auf das Leben nach dem Tod („Ausruhen“, „Hafen“, „in lieblicher Ruhe“) sowie auf die unmittelbare Gegenwart Gottes (das „Licht“, das heller ist als „selbst Phoebus’ Strahlen“) verweisen, doch wird aus dem Bildzusammenhang nicht unmittelbar ersichtlich, warum die Adressierten offenbar noch „irdischem Denken“ verhaftet sind. Im 3. Buch der Consolatio philosophiae wird ausführlich die Frage der Glückseligkeit behandelt, die im höchsten Guten (summum bonum) gründe, das wiederum allein in Gott zu finden sei. Die Glückseligkeit (beatitudo) sei das wahrhaft erstrebenswerte Ziel, welches jene Einheit der Seele mit ihrem göttlichen Ursprung verheiße, die wahres Leben bedeute. Dieses Konzept wurde im Laufe der Verarbeitung von neoplatonischem Gedankengut in das christliche Lehrgebäude des Mittelalters von der Heilssuche und vom Himmel der Seligen eingefügt und geht somit auf einer allgemeinen Ebene mit der Thematik des Bildes auf der Südwand der Breisacher Kirche überein. Überprüft man die Quelle der Inschrift und nimmt das Gedicht im Ganzen in Augenschein, so wird ersichtlich, dass dieses ein Kontrastbild entwirft, das dem Gegensatz von Erlösung und Verdammnis im Bild des Jüngsten Gerichts durchaus vergleichbar scheint. Diese Analogie wäre zum Tragen gekommen, hätten die für das Breisacher Bildprogramm Verantwortlichen ein ausführlicheres Zitat gewählt und etwa auch die in den Zeilen 8-11 des Gedichts genannten irdischen Güter, die Perlen und Smaragde der Strände des Tagus, Hermus und Indus, aufgeführt sowie vor allem die Evokation der Geschicke der ihnen anheim gefallenen Menschen in den Zeilen 12-16: Non quicquid Tagus aureis harenis donat aut Hermus rutilante ripa aut Indus calido propinquus orbi candidis miscens uirides lapillos inlustrant aciem magisque caecos in suas condunt animos tenebras, Hoc, quicquid placet excitatque mentes, infimis tellus aluit cauernis; splendor, quo regitur uigetque caelum

_____________ zogen. Siehe: Jezler, Peter (Hrsg.): Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums in Zusammenarbeit mit dem Schnütgen-Museum und der Mittelalterabteilung des Wallraf-Richartz-Museums der Stadt Köln, 2. Aufl., Zürich 1994.

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uitat obscuras animae ruinas. “Was auch immer der Tajo mit seinem Goldsand schenkt, oder der Hermos mit seinem rotschimmernden Ufer, oder der Indus, der nahe den warmen Gegenden grünliche mit weißen Steinchen mischt – sie erleuchten damit nicht die Sehkraft, sondern stoßen die Seelen noch blinder in ihre Finsternisse. So sehr diese [Schätze] die Gemüter erfreuen und reizen – die Erde hat sie in den tiefsten Höhlen gehegt.“4

Eine Brücke wäre geschaffen worden zum Höllenbild der Gegenseite, doch wäre damit zwangsläufig eine vordergründige, rein motivisch, nicht gedanklich fundierte Ähnlichkeit hergestellt worden. Im Hinblick auf den eigentlichen Schwerpunkt der Sinngebung sowohl des Textes als auch des Bildes würde der Vergleich sogar in die Irre führen. Die Brisanz des fiktiven Dialogs zwischen dem fiktiven Erzähler-Ich und Philosophia besteht gerade darin, dass erstere Person der Welt gehört und sich in einer Situation großer äußerer wie seelischer Not auf den Tod vorbereitet. Die von Engeln zum Himmelstor Geleiteten haben hingegen die Auferstehung von den Toten und das allgemeine Gericht durchlaufen. Sie stehen unmittelbar vor dem Moment des Eintritts in die Gemeinschaft mit Gott. Die von dem dreiteiligen Gemäldezyklus in seiner Gesamtheit entwickelte Perspektive ist gegenüber derjenigen des Dialogs der Philosophiae consolatio verschieden, da sie apokalyptisch begründet ist und die Verheißung der Endzeit und ewigen Herrschaft Gottes entfaltet. Dies zumindest ist aus der ikonographischen Deutung des Breisacher Gemäldezyklus und aus der Forschungsgeschichte zu vergleichbaren Darstellungen zu schließen.5 Offensichtlich scheint, dass der Text mit der Formulierung „kommt ihr Gefangenen, die ihr in schändliche Ketten gebunden seid“ weder die von älteren Bildern des Jüngsten Gerichts her bekannten Verdammten meint, die von Dämonen in Ketten gelegt und der Höllenstrafe zu geführt werden, noch die Situation der im Bild ansichtigen, im Aufstieg zum Himmel begriffenen Personen in ihrem Kern trifft. Die Anrufung verheißt Hoffnung, erheischt zugleich aber auch eine Entscheidung, die von einem Standpunkt mitten im Leben aus getroffen wird, und scheint daher gleichsam über die Köpfe der Figuren hinweg zu gehen.

_____________ 4 5

Boethius, Cons. Phil. III, m. 10, in: Boethius, Anicius Manlius Severinus, Philosophiae Consolatio (Opera, Bd.1) (CCSL, 94), ed. L. Bieler, Turnhout, 2. Aufl. 1984, S. 56. Deutsche Übersetzung nach: Perger, Inschriften (Anm. 1), S. 164. Stopfel, Wolfgang: „Das Jüngste Gericht Martin Schongauers“, in: Münsterpfarrei St. Stephan Breisach a. Rh. (Hrsg.): Das Breisacher Münster, Regensburg 2005, S. 20-26; Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Monographie, Petersberg 2004, S. 36-38. Zur Ikonographie des Jüngsten Gerichts allgemein: wie Anm. 3.

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Im Folgenden soll die Funktion der Inschrift mit Boethius’ Text im Rahmen einer genaueren Untersuchung der Text-Bild-Verhältnisse in dem großen Wandgemälde in Breisach näher bestimmt werden. Das besondere Augenmerk gilt dabei der Seite des Himmels oder der Seligen, die nicht allein durch die oben zitierten Verse aus der Schrift Philosophiae consolatio, sondern durch weitere sehr umfangreiche Inschriften ausgezeichnet ist. Zwar befinden sich auch in dem Bild der Auferstehung der Toten und der Wiederkehr Christi zum Gericht auf der Westwand (Abb. 2) zahlreiche Inschriften, doch handelt es sich hier vorwiegend um Zitierungen oder Umschreibungen nach Bibelstellen, die traditionell auf das Jüngste Gericht bezogen werden und deren Sinn im Kontext des Bildes daher nicht fraglich ist. Es soll sich zeigen, dass die Inschriften auf der Paradiesesseite Wesentliches zu einem Bildprogramm beitragen, das über eine konventionelle Darstellung des Jüngsten Gerichts hinaus geht, indem es nicht nur ein visionäres Szenario des endzeitlichen Gerichts darbietet, sondern auch Vorstellungen über die persönliche, in die aktuelle Lebenswirklichkeit hinein ragende Jenseitserwartung und Erlösungshoffnung entfaltet und dabei zugleich die epistemologische Problematik der Verbildlichung der Glückseligkeit reflektiert. Dabei erweisen neben stilistischen Kriterien vor allem gattungs- und rezeptionsästhetische sowie bildtheoretische Aspekte ihre Relevanz. Nach dem künstlerischen Konzept einer Malerei ist zu fragen, deren ausgeprägter Illusionismus durch den innerbildlichen Medienwechsel vom Bild zum Text erschüttert und sogar infrage gestellt wird. Für die Transkription und Übersetzung sowie für eine erste quellenkritische Beurteilung der Inschriften kann sich der vorliegende Beitrag auf die Studie des Altphilologen M. von Perger stützen.6 Eine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte und der Zuschreibungsproblematik, eine gründliche ikonographische und stilkritische Beurteilung sowie ein Bewertung der in den Breisacher Wandgemälden verwirklichten Bildauffassung mit Blick auf den Gesamtzusammenhang des Œuvres von Martin Schongauer hat die Autorin jüngst in einer Künstlermonographie vorgestellt.7 Die vorliegende Studie soll durch eine Fokussierung des BildText-Zusammenhangs die künstlerische und bildtheoretische Besonderheit des Breisacher Himmelsbildes genauer herausarbeiten und die Beurteilung der hier manifesten Boethius-Rezeption in christlicher Sicht - von einer kunsthistorischen Warte aus betrachtet - um den Aspekt der Bildtheologie ergänzen. Die Seite des Himmels der Seligen im Breisacher Weltgericht weist zwei Besonderheiten auf, die - zumindest bei oberflächlicher Betrachtung

_____________ 6 7

Perger, Inschriften (Anm. 1), S. 153–168. Heinrichs, Martin Schongauer, (wie Anm. 2), S. 419-458, Farbtafeln 44-60.

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- sogar als Mängel wahrgenommen werden könnten: eine fehlende Rückbindung an das Bild des Weltenrichters und ein auffällig geringes Maß an Anschaulichkeit in Bezug auf die Freuden des Paradieses. Die Seligen schreiten von Westen nach Osten und scheinen dabei dem Szenario der Auferstehung am Jüngsten Tage und der Erscheinung des auf dem Regenbogen thronenden Christus den Rücken zu kehren. Dass ihnen der nach Mt 25, 34 zitierte Ausspruch auf dem Schriftband über der rechten, zum Segensgestus erhobenen Hand des Richters gelten solle, ist nicht unmittelbar nachzuvollziehen: Venite, benedicti patris mei, possidete regnum, quod vobis paratum est ab initio saeculi!8

Dagegen lässt sich der Sturz der Verdammten in das Höllenfeuer, wie es sich auf der Nordwand dem Auge darbietet, durchaus als Folge des Richterentscheids verstehen, wie ihn der Text auf dem Schriftband artikuliert (nach Mt 25, 41), welches die abwehrend nach unten gestreckte Linke hält: Ite, maledicti, in ignem aeternum!9

Ein Ungleichgewicht in den Verhältnissen zwischen den Seiten von Himmel und Hölle herrscht ebenso in Bezug auf die bildlich formulierte Aussage. Die im Bild entwickelte Vorstellung von der Hölle könnte anschaulicher und dramatischer nicht sein (Abb. 3). Während schon das bis unter die Gewölbe reichende Höllenfeuer, dem Szenario eines Stadtbrandes ähnlich, eine ganz unmittelbare, zutiefst erschreckende Wirkung erzeugt, teilen sich bei näherer Betrachtung zahlreiche Einzelheiten der Höllentopographie und der Strafe der Verdammnis mit. Als kompositorischer Zielpunkt der das Bild durchziehenden, von links nach rechts abfallenden Bewegung fungiert die riesenhafte Gestalt des Hades, ein gedanklich wie auch der Gestalt nach aus der antiken Unterweltvorstellung übernommener Dämonentypus10, der es erlaubt, den Strafort der Hölle anthropomorph auszugestalten und dabei auf eine furchterregende Art und Weise zu konkretisieren. Ganz anders stellt sich die Strategie der Malerei im Bild der Südseite dar. Die christliche Vorstellung vom Himmel und von der

_____________ 8

„Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.“ Transkription und Übersetzung der Inschriften nach: Perger, Inschriften (Anm. 1), S. 153. Zu den übrigen Inschriften auf der Westwand siehe dort, S. 153-154. 9 „Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer.” Perger, Inschriften (Anm. 1), S. 153. 10 Siehe: Lucchesi-Palli, E.: „Hades”, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Kirschbaum, Engelbert (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Günter Bandmann u.a., 8 Bde., Rom, Freiburg, Basel, Wien 1968-1976, Bd. 2, Sp. 205f.; Brenk, Tradition und Neuerung (Anm. 3), S. 177, 195-197.

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ewigen Glückseligkeit umfasst auf der Grundlage des jüdischen Erbes und von Einflüssen der griechisch-römischen Mythologie im Wesentlichen zwei Komplexe, die himmlische Idealstadt und den wieder gewonnenen Garten Eden. Erstere ist durch die eschatologischen Visionen in Ez 40 und in der Apokalypse des Johannes (Apk 21) abgesichert, letztere bezieht sich im Wesentlichen auf den Schöpfungsbericht im Buch Genesis wie auch auf einzelne Motive der Endzeitvision des Johannes (Apk 22), wird aber außerdem durch eine Vielzahl von Traditionssträngen bereichert, so durch die allegorisch geprägte Exegese des Hohenliedes oder durch die aus der heidnischen Antike übernommene Vorstellung vom Elysium.11 Diese Ideenkreise sind in Schongauers Himmelsbild abwesend oder zumindest stark zurückgenommen. Die Seligen bewegen sich über eine leicht ansteigende Treppe, von der sich in der stark beschädigten Malerei nur geringe Reste erhalten haben, auf eine schmale rundbogige Pforte zu, dem Himmelstor als pars pro toto für die auf die Erde herabgekommene himmlische Stadt Jerusalem, ein in der Geschichte des Weltgerichtsbildes wohl bekanntes Motiv.12 Auf jegliches Element aus dem Motivkreis des Paradiesesgartens13 verzichtete der Maler, möchte man nicht den lediglich in geringen Resten noch sichtbaren malachitgrünen Untergrund am unteren Bildrand unterhalb der Treppe als Indiz für eine möglicherweise ehe-

_____________ 11 Russell, Jeffrey Burton: A History of Heaven. The Singing Silence, Princeton 1997, S. 21-39, 43, 51, 114-117. 12 Obwohl die Herabkunft des Himmlischen Jerusalem (Apk 21) in der Reihenfolge der Ereignisse der Apokalypse vom eigentlichen Gericht (Apk 20) abgesetzt ist, erscheint die formelhafte Darstellung der Himmelsstadt auch in illustrierten Apokalypsehandschriften im Bild des Gerichts als Kennzeichnung der Seite der Auserwählten, so in der karolingischen Handschriften in Trier (Stadtbibliothek, Cod. 31, fol. 67) und ihrer im 10. Jahrhundert erstellten Kopie in Cambrai (Bibliothèque municipale, Ms. 386, fol. 39). Siehe: Kühnel, Bianca: From the Earthly to the Heavenly Jerusalem. Representations of the Holy City in Christian Art of the First Millenium (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 42. Supplementheft), Rom, Freiburg, Wien, 1987, S. 124f. (mit ausführlicher Literatur) und Abb. 69-70. 13 Die Motivik des Paradiesesgartens wird zur Charakterisierung der Seite der Seligen in Bildern des Jüngsten Gerichts eher selten eingesetzt. Beispiele sind das Westportal der 1262 von Papst Urban IV. gestifteten Kirche Saint-Urbain in Troyes sowie die Weltgerichtstafel von Dirk Bouts. Vgl. Onnen, Christine: SaintUrbain in Troyes. Idee und Gestalt einer päpstlichen Stiftung (Kieler Kunsthistorische Studien, 4, hrsg. vom Kunsthistorischen Institut der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel), Kiel 2004, S. 22f., 54-56, mit Abb. 42 sowie unten, Anm. 71. Zu diesem Sujet allgemein: Rhodes, J.T. / Davidson, Clifford: „The Garden of Paradise“, in: Davidson, Clifford (Hrsg.): The Iconography of Heaven (Early Drama, Art and Music Monography Series, 21), Kalamazoo 1994, S. 69-109.

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mals vorhandene frühlingshafte Vegetation werten, die jedoch von allenfalls rudimentärem Charakter gewesen sein kann. Die Maßwerkformen am Portal und an der Brüstung, die in bildparalleler Anordnung über den Köpfen der Seligen ausgespannt ist und hinter der zwei Gruppen musizierenden Engeln zu erkennen sind, vermitteln eine gewisse Vorstellung von Pracht, ohne sich freilich im mindesten auf den im Bibeltext geschilderten Schmuck der Himmelsstadt aus Edelsteinen, Gold und Glas zu beziehen (Apk 21, 18-21). Die Engelsmusik bildet hier das einzige, explizit auf sinnliche Erfahrung rekurrierende Prädikat des Paradieses oder der unmittelbar dem Göttlichen angehörenden Sphäre.14 Die Gewichtigkeit der zweifachen Asymmetrie im Breisacher Wandgemälde, die zum einen die geringere Anschaulichkeit der Paradiesesdarstellung im Vergleich zum Höllenbild, zum anderen die mangelnde Anbindung der Gruppe der Seligen an die Darstellung der Theophanie und des Gerichts an der Westwand betrifft, erweist sich auch im Kontext der kunstgeschichtlichen Voraussetzungen des Breisacher Weltgerichtsbildes. Jene großen Werke der niederländischen Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts, die die Kunstgeschichte intensiv - und mit Bezug auf die Auffassung des Figürlichen gewiss zu Recht - als künstlerische Quellen des Breisacher Weltgerichts diskutiert,15 insbesondere das Pentaptychon Rogier van der Weydens in der Kirche des Hospitals in Beaune (zwischen 1443 und 1451)16 und das heute im Muzeum Narodowe in Danzig befindliche, ca. 1467-72 in Brügge entstandene Triptychon von Hans Memling17 setzen auf eine Vereinheitlichung des dreiteiligen Bildes: Die drei Abschnitte des Gerichtsszenarios erhalten Züge einer zusammenhängenden Weltlandschaft, das Kontrastbild von Himmel und Hölle ist ausgewogener und übersichtlicher gestaltet, wobei die Himmelspforte sich als von außen gesehener, reich ausgeschmückter Torbau darstellt. Dem Eindruck der Einheitlichkeit dient insbesondere auch, dass die Seligen und die Ver-

_____________ 14 Vgl.: Rastall, Richard: „The Musical Repertory“, in: Davidson, Iconography of Heaven (Anm. 13), S.162-196, hier: S. 166f. 15 Nicolaisen, Jan: Martin Schongauer: die Entwicklung des Kupferstichs zur eigenständigen Kunstgattung, die Herausbildung der Plastizität als druckgraphische Kunstform und bildnerische Vorlage (Phil. Diss.), Freiburg 1993, Microfiche-Ausg. 1995, S. 84-101; Kemperdick, Monographie (Anm. 5), S. 235-239; Heinrichs, Martin Schongauer (Anm. 2), S. 86-110. 16 De Vos, Dirk, Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk, München 1999, S. 107, Kat. Nr. 17, S. 252-265. 17 De Vos, Dirk, Hans Memling. Das Gesamtwerk, Stuttgart, Zürich 1994, S. 85.

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dammten wie die Auferstehenden nackt dargestellt sind. Damit bleibt der Fokus des Bildes jeweils ganz auf das endzeitliche Gericht festgelegt.18 Außer den zeitnah entstandenen Weltgerichtsdarstellungen auf Tafelgemälden könnte auch das im Vergleich zu jenen recht anders geartete Motivrepertoire gotischer Weltgerichtsportale Schongauers Bilderfindung beeinflusst haben. Die Darstellung der Seligen als wie im Leben bekleidete Personen ist dort die Regel. Die gegenüber dem Weltenrichter zentrifugale Bewegung der Seligen und der Verdammten steht in auffälliger Analogie zu einem geläufigen Kompositionsschema an gotischen Portalanlagen im näheren geographischen Umfeld des Breisacher Weltgerichts, so vor allem zum Südostportal (sogenanntes Brautportal) am Münster zu Ulm (nach 1360).19 Freilich sind diese Aspekte hier auf Grund einer Abweichung in der Bildstruktur anders konnotiert. Die Verdammten treten ebenso bekleidet auf wie die Erlösten und bilden mit diesen ein einheitliches Bildregister, das dem Vorgang des endzeitlichen Gerichts eindeutig untergeordnet ist. Die Besonderheit der Kennzeichnung der Seligen in Breisach liegt indessen gerade in der Differenz sowohl zu den Auferstehenden als auch zu den gleichermaßen nackt dargestellten Verdammten. Hinsichtlich dieser Unterscheidung scheint sich der Breisacher Gemäldezyklus auf eine weitere Gruppe von Bildern des Jüngsten Gerichts zu beziehen, den in Italien ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts sowie vor allem im 14. und 15. Jahrhundert zahlreich entstandenen Wandgemälden oder Mosaiken. Ausgehend von dem Wandgemälde an der Westwand der Kirche S. Angelo in Formis als dem ältesten erhaltenen Monumentalbildwerk in diesem Kunstkreis20 treten gleichnishafte oder beschreibende Darstellungen zum Paradies als Ort21 zurück und weichen

_____________ 18 Zur Ikonographie von Rogier van der Weydens Gemälde siehe: Lukatis, Christiane: „Der himmlische Gerichtshof und der Seelenwäger Michael im Beauner Weltgericht Rogier van der Weydens“, in: Oud Holland 107/1993, S. 317-351. 19 Raichle, August / Herrmann, Adolf: Das Ulmer Münster, Stuttgart 1950, S. 17, Abb. 15, 16. Vergleichbar ist ferner das rechte Westportal des Straßburger Münsters, das im 19. Jahrhundert auf Grund einer recht zuverlässigen Dokumentation zum ursprünglichen Zustand erneuert wurde. Siehe: Schmitt, Otto: Gotische Skulpturen des Strassburger Münsters, Frankfurt a. M, 1924, Bd. 1, S. 22, Bd. 2, Taf. 130. 20 Brenk, Tradition und Neuerung (Anm. 3), S. 136f. 21 Von diesem Bildkreis abzugrenzen sind die unter byzantinischem Einfluss entstandenen, kleinteiliger gegliederten Weltgerichtsbilder in Torcello (um 1100) und im Baptisterium S. Giovanni in Florenz (um 1240 bis 1270). Sie zeigen die Seelen der Seligen u.a. im Schoss Abrahams und beziehen sich somit auf die Parabel vom armen Lazarus und dem reichen Prasser (Lk 16, 19-31). Daneben erscheint in Torcello auch der Cherub am Tor des Paradieses als eine Umkehrung der Vertreibung Adams und Evas aus dem Garten Eden. Siehe: Brenk, Tradition und Neu-

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Scharen von Auserwählten, die dem Breisacher Wandgemälde vergleichbar von Engeln geleitet werden und voll bekleidet sind. Während die Verdammten in den älteren Darstellungen den Richterspruch ebenfalls bekleidet entgegen nehmen und erst in einem zweiten Abschnitt des Bildes in entblößtem Zustand die Höllenstrafe erfahren, werden das Bekleidetsein und die Nacktheit später zu Prädikaten der Seligen bzw. der Verdammten. Diese Darstellungsweise lehnt sich an das Allerheiligenbild an, das die Gemeinschaft der Heiligen, nach Rängen von den Märtyrern über die Bekenner bis zu den weltlichen Personen geordnet und in der Anbetung des Lammes oder der Heiligen Dreifaltigkeit vereint, vorstellt.22 Während die Motivvielfalt auf der Seite der Seligen also schrumpft, entfaltet sich auf der Gegenseite eine hoch differenzierte Darstellung der Höllenstrafen mit einer entsprechend gegliederten Hölle. Wo dieser Weg eingeschlagen wird, wie z. B. in Giottos Gemäldezyklus in der ScrovegniKapelle, in S. Maria della Carità in Padua (1306), S. Maria Maggiore in Tuscania (um 1315/29), im Camposanto in Pisa (1330er Jahre), in der Strozzi-Kapelle in S. Maria Novella in Florenz (zwischen 1350 und 1360) oder in S. Maria in Pomposa (um 1350) (Abb. 4),23 spaltet sich das Jüngste Gericht-Bild trotz seiner symmetrischen Gesamtkomposition auf: Den tumultuösen Aktivitäten auf der Seite der Hölle steht eine beruhigte Darstellung von dicht aufgestellten Gruppen der Seligen mit Geleitengeln gegenüber. Von grundlegender Bedeutung ist auch die soziale Kennzeichnung der Seligen, die der Untersuchung I. Gröteckes gemäß nicht der kanonischen Ordnung der Gemeinschaft der Heiligen entspricht, sondern Aspekte der Lebenswirklichkeit und der politischen Situation der zunehmend nach Autonomie strebenden städtischen Kommunen spiegelt.24 Mit dieser Entwicklung korrespondiert das Breisacher Gemälde, indem es nicht ein vollständiges Bild der mittelalterlichen Gesellschaft wiedergibt, sondern eine Auswahl trifft, die bestimmten Institutionen, Ämtern und Gruppen schmeichelt. Im Übrigen werden die höheren Stände privilegiert.

_____________ erung (Anm. 3), S. 140f.; Grötecke, Bild des Jüngsten Gerichts (Anm. 3), S. 82-89, 97, Abb. 4, 6, 48, 49. 22 Grötecke, Bild des Jüngsten Gerichts (Anm. 3), S. 35f. Vgl.: Kirschbaum, Engelbert: „Allerheiligenbild“, in: Kirschbaum, Lexikon der christlichen Ikonographie (Anm. 10), Bd. 1, Sp. 101-104. Gewiss zu Unrecht fehlt diese Bildform in der von H. Holländer aufgestellten Typologie des Himmelsbildes. Vgl. Holländer, Hans: „Himmel“, Kirschbaum, Lexikon der christlichen Ikonographie (Anm. 10), Bd. 2, Sp. 255267. Siehe ferner: Oechslin, Christa: „Der Himmel der Seligen“, in: Jezler, Himmel, Hölle, Fegefeuer (Anm. 3), S. 41-46. 23 Zur Chronologie siehe: Grötecke, Bild des Jüngsten Gerichts (Anm. 3), S. 35-37, 138140 sowie zu den genannten Bildbeispielen: Abb. 19, 26-27, 33, 35, 38-40. 24 Grötecke, Bild des Jüngsten Gerichts, (Anm. 3), bes.: S. 194-198.

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Abb. 4: Jüngstes Gericht, Pomposa, Abteikirche, Fresko an der Innenseite der Westwand

Zu erkennen sind neben einer freundlich aus dem Bild blickenden Nonne eine Jungfrau in prächtigem Kleid mit offenem Haar, ein adeliger oder bürgerlicher, jedenfalls offenbar wohlhabender Jüngling in modisch engen Beinkleidern und kurzem Rock sowie eine verheiratete Frau in Schleier und gebende. Dass Kaiser und Papst als erste das Himmelstor durchschreiten, mag an den Anspruch auf Reichsunmittelbarkeit erinnern, denn die Stadt Breisach nach mehrfacher Verpfändung und unter dem Vorzeichen relativer wirtschaftlicher Prosperität und politischer Erfolge zum Zeitpunkt der Erstellung des Wandgemäldes intensiv verfocht. Diese Analogien sind wohl nicht allein das zufällige Ergebnis einer Kongruenz in der sozialen Funktion und Bedeutung des monumentalen Weltgerichtsbildes im öffentlichen Kirchenraum, sondern verweisen auf einen italienischen Einfluss, zumal der Hades im Typus des riesenhaften und muskulösen Dämons in den italienischen Wandbildern regelmäßig vorkommt, während er im näheren künstlerischen Umfeld Schongauers

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selten ist.25 Zugleich bestätigt sich vor der Folie dieses Vergleichs die Eigenart des Breisacher Wandgemäldes. Für die italienischen Bilder des Jüngsten Gerichts scheint zwingend zu sein, dass sich die Seligen im Gegensatz zu den Verdammten dem Weltenrichter zuwenden und sich auf ihn zu bewegen. Das unmittelbar an Christus gerichtete Gebet wird dabei zum einzigen Handlungsmoment und bewirkt, dass die Scharen der Seligen sich mit dem Bild der Theophanie verbinden. Indem Schongauer einerseits die Kennzeichnung der Seligen mit zeitgenössischen Kostümen übernimmt, den von Engeln geleiteten Zug aber zugleich vom Weltenrichter weg und auf das von diesem weit ab gerückte Tor der Himmelsstadt zu führt, verändert er die Struktur des Bildes. Der ‚Zug der Seligen zum Paradies’ gewinnt eine Selbständigkeit, die den vergleichbaren Darstellungen sowohl des italienischen als auch des niederländischen oder deutschen Kunstkreises vollständig fremd ist.26 Es kann sich hier nur um eine bewusst eingesetzte Differenzierung handeln, deren Ziel es ist, das Bild für die in dem Boethius-Zitat entwickelte Sicht des in der Todeserwartung stehenden, dem Irdischen aber noch verhafteten Menschen zu öffnen. Wenden wir uns von diesem Ergebnis der Deutung und Einordnung des Breisacher Wandgemäldes aus erneut der Frage nach der Bedeutung des Boethius-Zitats zu, so scheint dieses innerhalb des Bildganzen nun weniger isoliert, als es zunächst den Anschein hatte. Im Bildzyklus sind

_____________ 25 Außerhalb Italiens ist insbesondere auf illustrierte Handschriften französischen Ursprungs hinzuweisen, die Hades in vergleichbarer Weise darstellen, so z. B. eine Civitas Dei-Handschrift (Bibliothèque Nationale, Paris, Ms. fr. 28, fol. 249v.), die französische Handschrift der Vita Christi Ludolfs von Sachsen (Bibliothèque Nationale, Paris, Ms. fr. 179, fol. 242r. sowie einige Stundenbücher des 15. Jahrhunderts. Siehe: Baschet, Jérôme: Les justices de l’au-delà. Les représentations de l’enfer en France et en Italien (XIIe-XVe siècle), Rom 1993, S. 422, 432-435, Abb. 142, 149; Heinrichs, Martin Schongauer (Anm. 2), S. 447. 26 Keinesfalls handelt es sich hier um eine zwangsläufige Konsequenz aus der Ausdehnung des Gemäldes auf die drei Seiten des Gebäudes. Die Seligen hätten ebenso auch von links nach rechts und auf den Richter zu und zugleich zum Tor der Himmelsstadt geführt werden können, zumal der leere Wandabschnitt seitlich des Auferstehungs- und Gerichtsbildes ein abruptes Aufeinandertreffen der Motive verhindert hätte. Eine adäquate Lösung der kompositorischen Probleme im Sinne der Einheit von Weltgericht und Himmelsbild zeigt etwa das Wandgemälde über dem Triumphbogen der Kirche in Stratford-on-Avon (Warwickshire) (zweite Hälfte 15. Jahrhundert), wo die Vedute der Himmelsstadt in die Höhe gerückt und neben die Deesis gesetzt ist, während die Auferstehung den gesamten Bildvordergrund einnimmt. Vgl.: Vallance, Aymer: Greater English Church Screens, being great roods, screenwork and rootlofts in cathedral, monastic & collegiate churches in England and Wales, London 1936, S. 20, Abb. 49.

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Brüche zu erkennen, welche die drängende Aktualität der die Entscheidung des Einzelnen für das „höchste Gut“ erheischenden Anrufung zumindest vorbereiten. An diesem Punkt der Überlegungen erweist es sich, dass dem Problem des Text-Bild-Bezuges mit einer konventionellen ikonographischen Methode, fußend auf Motivgeschichte und Quellenkunde, allein nicht beizukommen ist. Die Art und Weise der Darstellung ist für die Programmatik des Bildzyklus ebenso relevant wie Auswahl und Anordnung der Motive.27 Die Bekleidung der Seligen zählt nicht nur als zeichenhaftes Attribut, sondern unterstützt eine Bildform, die auf eine geschlossene und hoch plausible, ja bedrängend suggestive Illusion setzt.28 Auf Grund dieser Wirkung teilt die bildliche Darstellung die Intensität der Anrufung des Boethius-Zitats und vermittelt einen Anspruch auf Aktualität, die das ‚Engelsgeleit’ als eine der Lebenswelt des Betrachters immanente Begebenheit auszuweisen scheint. Der eigentümliche Illusionismus der Malerei verdient an dieser Stelle eine Würdigung, denn er ist das eigentlich verbindende Element des Gemäldezyklus, nachdem die drei Bildabschnitte in kompositorischer und struktureller Hinsicht erheblich divergieren. Einheitlich ist das überlebensgroße Format der Figuren wie auch eine konsequent auf den realen Raum bezogene Darstellungsweise, die eine überwältigende Wirkung er-

_____________ 27 Für die Unterscheidung dieser Arbeitsschritte der Ikonographie siehe die wegen ihres didaktischen Aufbaus immer noch nützliche Einführung: Panofsky, Erwin, „Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“, in: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Titel der englischen Originalausgabe: Meaning in the Visual Arts, New York 1957), übersetzt von Wilhelm Höck, 2. Aufl., Köln 1978, S. 36-67. 28 Die Brisanz des gesteigerten Illusionismus in einer den „Himmel“ thematisierenden Darstellung untersucht in beispielhafter Weise: Berliner, Rudolf: „Raphaels Sixtinische Madonna als religiöses Kunstwerk“, in: Das Münster, 11/1958, S. 85102, wiederabgedruckt in: Suckale, Robert (Hrsg.): Rudolf Berliner (1886-1967): „The Freedom of Medieval Art“ und andere Studien zum christlichen Bild, Berlin 2003, S. 217-234. Wie die Problematik der Koppelung des modernisierten, empirisch bestimmten „Schauraums“ mit tradierten Formen der Bilderzählung und hieratischen Ordnungsprinzipien künstlerisch fruchtbar gemacht werden konnte, hat die neuere Forschung an Hand von Werken von Jan van Eyck und Hieronymus Bosch expliziert. Siehe: Belting, Hans / Eichberger, Dagmar: Jan van Eyck als Erzähler, Worms 1983, S. 165-182. Für die Malerei der italienischen Renaissance hat K. Krüger die grundlegende Bedeutung von künstlerischen Strategien der Grenzziehung und des metaphorischen Verweises im Hinblick auf das eigentlich nicht darstellbare Göttliche untersucht. Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001. Freilich wurden diese Gesichtspunkte bislang nicht auf das Weltgerichtsbild bzw. das in diesem beschlossene Thema des Himmels der Seligen bezogen.

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zeugt. Dabei entwickelt die Malerei keine bedeutende Tiefenwirkung. Nirgends eröffnen sich landschaftsähnliche Ausblicke wie etwa in dem Weltgerichtstriptychon Hans Memlings. Dennoch mangelt es Schongauers Darstellung nicht an Plausibilität. Eine vom Maler dezidiert gesuchte, ausschnitthafte Sicht vermittelt einen Eindruck von großer Nähe. Der Betrachter blickt über die Schultern der Auferstehenden und wird von ihren Gesten und Blicken aufwärts gelenkt (Abb. 1-3), und er sieht sich Aug’ in Auge mit einem Verdammten, der auf der rechten Seite der Nordwand von einer angedeuteten Sockelzone angeschnitten wird und sich dabei an deren Rand wie an einen Bootsrand klammert. Mehrfach ist er unter die freundlich blickenden Augen der Seligen oder der Engel gestellt. Die reale Architektur der Westhalle wird immer wieder in das Bild mit einbezogen. Im Höllen-Bild auf der Nordseite lehnt sich Hades mit dem Rücken an die rechte Bildgrenze und zugleich an den realen Wandpfeiler. An der Westwand scheint sich ein Engel über die obere Laibung des quadratischen Fensters unter dem Gewölbe nach vorne zu beugen. Das durch das Fensterglas dringende Tageslicht konkurriert hier mit der Idee vom göttlichen Licht, die das Gedicht des Boethius evoziert („Phoebus’ Strahlen“), die aber auch im Gemälde aufgegriffen wird, indem einer der Auferstehenden seine offenbar durch die Erscheinung Gottes geblendeten Augen mit der Hand abschirmt. Das Bild des Aufstiegs der Seligen auf der Südseite unterstreicht seinen Sonderstatus, dies ist an dieser Stelle zu betonen, auf Grund eines auf die Spitze getriebenen Spiels mit der ‚ästhetischen Grenze’, der Grenze zwischen der fiktiven Realität des Bildes und der Wirklichkeit des Betrachters.29 Ihrer Aussage wie der künstle-

_____________ 29 Der Begriff der ‚ästhetischen Grenze’ wurde von E. Michalski in die Kunstgeschichte eingeführt und insbesondere auf die in der Bildkunst seit spätantiker Zeit und durch das Mittelalter hindurch anzutreffende Abgrenzung des Hauptmotivs durch rahmende und einfassende Inszenierungen angelegt. Siehe: Michalski, Ernst: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, Berlin 1932, bes. S. 10. Die neuere Forschung verknüpft diesen Begriff dagegen mit dem Paradigma des Realismus als Merkmal künstlerischer Qualität wie auch Signatur eines zunehmend als problematisch empfundenen Weltbezuges, der in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Malerei akut wird. In der virtuosen Überspielung, aber auch dezidierten Sichtbarmachung der ‚ästhetischen Grenze’ werden Symptome einer selbstbewussten, die Wirkmacht der im Bild realisierten Illusion reflektierenden Kunst erkannt. In diesem Sinne wurden insbesondere Werke des italienischen Quattrocento, der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts und der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts untersucht. Siehe: Thürlemann, Felix: Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln 1990, S. 91-109; Stoichita, Victor I.: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, S. 33-38, 51-61; Kruse, Christiane: Rezension zu: Stoichita, Das selbstbewußte Bild (wie oben), in: Zeitschrift für Kunstwissenchaft

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risch geprägten Form nach werden die Inschriften an diesem Spiel beteiligt. Zunächst drängt sich der Eindruck auf, dass die Tendenz des gesteigerten Illusionismus im Gemälde der Südseite den höchsten Perfektionsgrad erreicht, da hier zwischen dem Bildmotiv und dem Bildraum eine weitgehende Kongruenz besteht. Das Tor zur Himmelsstadt und die Empore, auf der die Engelschöre sich befinden, können in der Tat als illusionistische Ergänzungen zur Architektur der spätgotischen Halle gelten. Die Formgebung der gemalten Architekturen entspricht diesem Konzept. Die Maßwerkformen und profilierten Gesimse der Balustrade und das Schleiermaßwerk im Portalbogen korrespondieren stilistisch mit der eleganten, auf raffinierte Kontrasteffekte setzenden Gliederung der Halle mit ihren Diensten und Rippen. Vor der nur als Ausschnitt sichtbaren Mauer der Himmelsstadt, die nur in einer gewissen Hinsicht zugleich auch die Innenwand der Halle ist, scheint der reale Raum zurückzuweichen und wird zum Resonanzboden der Malerei. Die Progression der Seligen wird als eine Bewegung nachvollziehbar, die parallel zur Bewegung des Kirchenbesuchers vom Westeingang in Richtung auf den Altar verläuft. Auf der anderen Seite wird gerade an der Südwand besonders deutlich, dass die Malerei das grundsätzlich Andere ihres Status gegenüber der Lebenswirklichkeit keineswegs verleugnet, sondern sogar unterstreicht. So ist kein Versuch unternommen, das hohe Lanzettfenster, das ursprünglich breiter war,30 in das Gemälde zu integrieren. Es teilt das Bild unvermittelt und durchschneidet den Zug der Seligen und die Engelsempore. Das Verhältnis zwischen dem Illusionsraum des Gemäldes und dem realen Raum der Kirche definiert sich somit nicht als unmerklich fließender Übergang, sondern als ein bezugsreiches Gegenüber. In diesem Spannungsfeld übernehmen die Inschriften eine zentrale Rolle als ein drittes Element, dazu ausersehen, die ‚ästhetische Grenze’ von der Peripherie des Bildes und seinen sichtbaren Schnittstellen mit der realen Architektur, den Diensten

_____________ 62/1999, S. 585-594, hier: S. 587-589. Ohne diese Terminologie zu gebrauchen, stellte B. Ridderbos die Bearbeitung der ‚ästhetischen Grenze’ im Gemälde der Geburt Christi oder Anbetung der Hirten von Hugo van der Goes in der Berliner Gemäldegalerie als künstlerisches Mittel der Thematisierung einer sich auf dem Wege der Bildbetrachtung erschließenden religiösen Erfahrung heraus. Siehe: Ridderbos, Bernhard: „Die ‚Geburt Christiȧ des Hugo van der Goes. Form, I nhalt, Funktion“, in: Jahrbuch der Berliner Museen 32/1990, S. 137–152. Die Relevanz dieser Kategorie für die Kunst Martin Schongauers begründete die Autorin dieser Studie ausführlich auch für dessen Tafelmalerei und Kupferstichwerk. Siehe: Heinrichs, Martin Schongauer (Anm. 2), S. 159f., 231-239. 30 Auf die heutige, sehr schmale Form brachte man die beiden seitlichen Fenster der Halle während der Restaurierung 1884/85. Siehe: Heinrichs, Martin Schongauer (Anm. 2), S. 429.

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und Fensteröffnungen, gleichsam auf seine gesamte Oberfläche zu übertragen. Wenn wir uns nun wiederum den Inschriften und ihrer Inszenierung zuwenden, so ist zunächst festzustellen, dass die ausschnitthafte und im Gegensatz etwa zu der prunkvollen Architekturschilderung bei Vorläufern wie Rogier van der Weyden oder Hans Memling ausgesprochen schlichte Darstellung des Himmelstores überhaupt erst die Voraussetzung für die Integration von derart umfangreichen Texten schafft: Diese sind keinesfalls Anhängsel des Gemäldes, sondern integrale Bestandteile eines komplexen Bildkonzeptes. Symptomatisch ist der Umstand, dass die Inschriften im Bild der „Seligen“ drei unterschiedlichen Stufen oder Graden der Illusion zugeordnet sind. Vollkommen in die Bilderzählung aufgenommen ist allein das Lied Gloria in excelsis Deo, das die Gruppe der Engel auf der rechten Seite der Empore zur Aufführung bringt und dessen Text und Noten auf dem Kopf stehen, da das Blatt dem Standpunkt der Sänger entsprechend bildeinwärts gewendet ist. Das Schriftband, das den Textauszug aus Boethius’ Philosophiae consolatio trägt, ähnelt hingegen keinem außerbildlich existierenden Gegenstand. Es ist weder Rotulus noch Codex, sondern reine Bildkonvention. Schrift- oder Spruchbänder dieser Art, die eine Form der Chiffrierung und Hervorhebung literarischer Einschlüsse bilden und sich von Darstellungen realer Schriftträger, Bücher oder Rotuli, gerade absetzen, kennt die bildende Kunst mindesten seit dem 11. Jahrhundert.31 In der von Schongauer gewählten Formgebung bricht das Schriftband den Illusionscharakter des Bildes dennoch nicht auf. In seiner vierfachen Auffaltung und bildparallelen Anordnung scheint es die Form des Portalbogens aufzunehmen und ähnlich einem Baldachin zu ergänzen. Es hat etwas Körperhaftes und zugleich Schwebendes, wodurch es assoziativ auf die Engel als Gottesboten zu verweisen scheint. Ähnlich dem Engel auf der rechten Seite des Bildes, der sich quer zum Zug der Seligen nach vorne bewegt und entsprechend verkürzt gesehen ist, scheint das Schriftband eine vordere Ebene zu besetzen und über die Schwelle des Bildes in den Raum vorzudringen. Die hinsichtlich ihrer Adressierung zwiespältig besetzte Inschrift weist also auch formalästhetisch über das Bildgeschehen hinaus. Die dritte und längste Inschrift schließlich, deren Inhalt hier sogleich erläutert werden muss, ist unmittelbar auf die Wand und zugleich auf die

_____________ 31 Vgl. den Artikel „Spruchband“, in: Olbrich, Harald / Dolgner, Dieter u.a. (Hrsg.): Lexikon der Kunst, 7 Bde., Leipzig 1987-1994, Bd. 6, S. 822. Die Abgrenzung des Spruchbandes von der in spätantiker und karolingischer Zeit ungemein häufigen Verwendung des Codex- oder Rotulusmotivs als Schriftträger eingehender zu untersuchen, bleibt ein Desiderat.

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durch einen hellen, gelblich-beigefarbenen Grundton gekennzeichnete Außenmauer der Himmelsstadt gesetzt. Die gemalte und die reale Architektur fallen an dieser Stelle in eins. Diese Inschrift gibt sich nun entschieden als Medium einer Mitteilung zu erkennen, die nach außen gerichtet ist. Das Textfeld bricht die Einheit des Bildes auf, indem es mit seiner Unterkante den Raum des Zuges der Seligen und der Geleitengel abrupt beschneidet, ohne dass dies innerbildlich durch die Darstellung eines Trägermaterials, etwa einer Tafel oder eines Pergamentbogens, begründet wäre. Der Text bezieht sich auf einen weiteren Autor der Spätantike, Prosper von Aquitanien (ca. 390-vermutlich 463),32 aus dessen Epigrammen er fünf Passagen übernimmt und kompiliert. 1

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Semper erunt quod erant aetern(ae) gaudia vitae: G]audendi quoniam causa erit ipse Deus, Nec varios pariet motus diversa voluntas, Unum erit in cunctis lumen et unus amor, Inque bonis summis posita experientia felix, Nec volet augeri nec metuet minui. Ad patriam vitae de noctis valle vocati Virtutum gradibus scandite lucis iter. Gracior est fructus quam spes productior edit: Ultro obiectorum vilius est aderit pretium. Delicias iam nunc promissi concipe regni, Virtute atque fide quod cupis esse tene. Exsulta agnoscens te verbi in carne renatum, Cuius si pars es, pars tua Christus erit. Qui, ne damnandi legeres mala gaudia mundi, Promissum ad regnum se tibi fecit iter.” 33

_____________ 32 Alonso-Núñes, J. M.: „Prosper Tiro von Aquitanien“, in: Angermann, Auty, Robert (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters Bd. 7, Sp. 266. 33 Korrigierte und ergänzte Fassung nach der Edition von Migne gemäß der Untersuchung von Pergers. Siehe: Prosper Tiro von Aquitanien: Epigrammatum ex sententiis S. Augustini Liber unus, in: PL 51, Sp. 497-532, hier: Sp. 509, 519f., 530f.; Perger, Inschriften (Anm. 1), S. 160. Transkription der im heutigen Zustand lückenhaften Inschrift: 1 Semper erunt quod erant eterna gaudia vite, [G]audendi quoniam causa erit ipse Deus, [Ne]c varios pariet motus diversa voluntas, [Unu]m erit cunctis lumen et unus amor, 5 … bonis summis posita experienc[i]a felix [Nec] valet augeri nec metuet minui. … patriam vite de noctis valle vocati … tutum gradibus scandite lucis iter! [Gr]acior est fructus qu(e)m spes produccior edit, 10 … obiectorum bile aderit (sic!) precium

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„Immer werden sie sein, was sie waren, die Freuden des ewigen Lebens, denn die Ursache der Freude wird Gott selbst sein. Und keine wechselnden Regungen wird ein unterschiedlicher Wille hervorbringen, Eines wird in allen das Licht sein und Eine die Liebe, und die glückliche Erfahrung, die in dem höchsten Gut liegt, wird weder vermehrt werden wollen noch fürchten müssen, vermindert zu werden. Die ihr in das Vaterland des Lebens aus dem Tal der Nacht gerufen seid, steigt auf den Stufen der Tugenden den Weg des Lichts hinauf! Umso lieblicher ist die Frucht, je langwieriger die Hoffnung, aus der sie hervorgeht; was sich außerdem noch darbietet, hat demgegenüber nur geringen Wert. Empfange schon jetzt den Genuss des versprochenen Reiches, erreiche durch Tugend und Glauben, was du zu sein begehrst, freue dich, indem du erkennst, dass du im Fleisch des Wortes wiedergeboren bist: Wenn du dessen Teil bist, wird Christus dein Teil sein. Damit du nicht die üblen Freuden der verdammenswerten Welt wähltest, machte er sich für dich zum Weg, der ins versprochene Reich führt.“ 34

Mit dem Prosper-Pasticcio wird das Thema des ewigen Lebens gegenüber dem Boethius-Zitat weiterentwickelt, wobei der Kontext der christlichen Gnadenlehre nun deutlicher hervor tritt. In mehrfacher Variation wird das in der ersten Zeile formulierte Ziel des ewigen Lebens als Einssein mit Gott beschrieben. Um diesen abstrakten Grund der Gnadenvorstellung kreist der Text, indem er das Stichwort des Einen an das Gottessymbol des Lichtes koppelt und in antithetischer Gegenüberstellung zu Begriffen der Bewegung und der Vielfalt (Nec varios pariet motus diversa voluntas) als ewige Ruhe umschreibt. Eine theologische Definition Gottes in seinem Zugehen auf den Menschen erfolgt zweifach, als die „eine Liebe“ (unus amor) und als höchstes Gut (summum bonum, vgl. Z. 5: bonis summis). Daran knüpft die symbolhafte Benennung des Zustands der Seligkeit als weder

_____________ [De]licias iam nunc promissi concipe regni, [Vi]rtute atque fide quod cupis esse tene! [E]xulta agnoscens te verbi in carne renatum: [Cu]ius si pars es, pars tua C[h]ristus erit. 15 [Q]ui, ne damnandi legeres mala gaudia mundi, [P]romissum a … e tibi [fecit i]ter.” Siehe: Perger, Inschriften (Anm. 1), S. 159. 34 Die hier zitierte Übersetzung von Pergers, die sich unter Hinzuziehung der Edition von Migne auf eine bereinigte Textversion bezieht, korrigiert einen Grammatikfehler der Inschrift. Anstelle von eterna gaudia vit[a]e („die ewigen Freuden des Lebens“) ist richtig zu verstehen: etern[a]e gaudia vit[a]e („die Freuden des ewigen Lebens“). Der Kompilator kann wohl nur Letzteres gemeint haben.

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zu vermehrendes noch zu verminderndes Gut und als überaus liebliche Frucht an. Als zentrales Gottessymbol erscheint ferner das unmittelbar an den Begriff der „einen Liebe“ gekoppelte „Licht“, das dem „Tal der Nacht“ (Z. 7) als Symbol für die Befangenheit im sündhaften Leben antithetisch gegenübergestellt wird. An dieser Stelle geht der Text in eine direkte Anrede über. Angesprochen sind „die in das Vaterland des Lebens aus dem Tal der Nacht Gerufenen“ (Ad patriam vitae de noctis valle vocati, Z. 7). Dem auf Grund der Syntax derart angerufenen Leser-Betrachter wird der Aufstieg über „Stufen der Tugenden“ (Virtutum gradibus, Z. 8) und über einen Zustand „langwieriger Hoffnung“ (quam spes productior, Z. 9) in Aussicht gestellt. Die Erfüllung der Hoffnung ist also nicht bedingungslos, sondern wird, wie der Text im zweiten Teil präzisiert, durch „Tugend und Glauben“ ([Vi]rtute atque fide, Z. 12) erreicht. In anderer begrifflicher Wendung erscheint hier das Konzept des Einsseins erneut, das nun auf Christus, also auf die zweite Person Gottes, bezogen wird: „Wenn du dessen Teil bist, wird Christus dein Teil sein.“ (Z. 14). Der Satz verweist auf eine Bedingung, die in der vorangehenden Zeile benannt wird als gläubige Anerkennung der Gnade des fleischgewordenen Wortes und der bereits erfolgten Wiedergeburt in Christus. Eine theologisch-religionsgeschichtliche Auswertung des Textes ist im gegebenen Zusammenhang nicht zu leisten. Nach dem spezifischen Verständnishorizont wäre zu fragen, in dem hier die auf Paulus fußende, von Augustinus entwickelte Gnadenlehre35 rezipiert wird. Diese dürfte dem Kompilator wohl ebenso wie dem spätantiken Dichter Prosper von Aquitanien geläufig gewesen sein. Mit Blick auf die Frage des Bildprogramms ist jedoch festzustellen, dass auch in diesem Text nicht unmittelbar vom Jüngsten Gericht die Rede ist. Der hier angewendete Begriff vom ewigen Leben impliziert die eschatologische Dimension der Jenseitserwartung lediglich in einem allgemeinen Sinne. Die der Inschrift inhärente Position ist genauer als mystisch zu bezeichnen. In offensichtlicher Übereinstimmung mit der bildlichen Darstellung wird das metaphorische Konzept eines über Stufen führenden Aufstiegs entwickelt, ein grundlegendes Motiv der mystischen Literatur und ein Topos der neoplatonisch geprägten Theologie. Die Aufstiegs-Metapher prägt den zweiten umfangreichen Text im Paradiesesbild leitmotivisch. Allein vordergründig-begrifflich betrachtet, erscheint sie in zweifacher Wendung, einmal als ein Modell des Gott suchenden Menschen und zum zweiten, um Christus als Garant und Bedin-

_____________ 35 Vgl. Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 528ff. Siehe ferner zu den Konsequenzen der Gnadenlehre für das mystische Gebet im Mittelalter ebendort, S. 546.

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gung der Erlösung zu bezeichnen, gemäß der biblisch überlieferten Selbstbestimmung Christi: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Indem der Text das Ziel zu Beginn bestimmt und den Ausgangspunkt des Weges am Schluss beschreibt, vollzieht seine lineare Struktur die Progression der menschlichen Seele rhetorisch feinsinnig in umgekehrtem Sinne nach. In der Zusammenschau des Textes der Inschrift und des Gemäldes wird die Vorstellung vom aufwärts führenden Weg dynamisiert, gespiegelt und gewendet. Ein mystisches Konzept wird erkennbar, wie es einer der einflussreichsten Mönchstheologen und Theoretiker der Mystik, Hugo von St. Viktor (gest. 1141), entwickelte, wobei er den Weg der Seele zu Gott nicht als eine einfache, linear verlaufende Progression beschrieb, sondern als eine gegenläufige Bewegung, in deren Verlauf die Seele zu Gott aufsteigt und Gott, der sich durch seinen eingeborenen Sohn mitteilt, der Seele entgegenkommt.36 Im Spiegel der wechselseitigen Ergänzung von Malerei und Text werden das absolute Einssein mit Gott auf der einen, die Partizipation des Christen am Corpus mysticum Christi auf der anderen Seite als Pole des Wege-Schemas miteinander korreliert, wobei sich der Begriff von der Gemeinschaft mit Gott ausdifferenziert. In seinem Kern bezieht sich der Appell der Inschrift auf das anzustrebende Bewusstsein vom Mysterium der Gnade in Christus als Vorbedingung für das Erreichen des Zustands der Glückseligkeit, wie ihn die von den Engeln zum Himmelstor geleiteten Seligen exemplifizieren. Die mystische Metaphorik des Aufstiegs der Seele durch die Gnade zum ewigen Leben besitzt im späten Mittelalter eine grundlegende, integrative, keineswegs elitäre Funktion gemäß der von dem bedeutenden Theologen und Kirchenreformer Johannes Gerson (1363-1429) entwickelten mystischen Theologie, die einen Versuch darstellt, den Weg der mystischen Gottesbetrachtung zu systematisieren und damit gleichsam erlernbar zu machen.37 Entsprechend der Darstellung des Zuges der Seligen, die Laien und Geistliche in einer Gruppe zusammenfasst, anstatt diese nach Rängen zu ordnen, eröffnet sich der mystische Weg einem jeden Christen. Dies ist beispielhaft auch in volkssprachlichen Texten wie der „Geistlichen Leiter“ Rulman Merswins (1307-1382) oder den „Sieben Staffeln des Gebetes“ Davids von Augsburg (+ 1272) dargestellt. Die mit

_____________ 36 Hugo von St. Viktor, Soliloquium de arrha animae, in: ders.: Soliloquium de arrha animae und De vanitate mundi, hrsg. von Karl Müller (Lietzmanns Kleine Texte, 123), Bonn 1913. Siehe Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 1. Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 365-368; Heinrichs, Martin Schongauer (Anm. 2), S. 26f., 451. 37 Gerson, Johannes: “De Theologia Mystica”, in: Glorieux, Paul (Hrsg.): Œuvres complètes de Jean Gerson, 11 Bde., Tournai, Rom 1960-1973, Bd. 3 (L’œuvre magistrale). Siehe auch: Heinrichs, Martin Schongauer (Anm. 2), S. 413.

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der obersten Stufe gleichgesetzte Gottesschau gehört freilich nicht dem irdischen, sondern dem ewigen Leben an.38 Rulman Merswin wiederum hat den „gewöhnlichen“ Christen in der Welt fest im Blick, wenn er in Aussicht stellt, dass Gott beim Tode des Menschen die noch verbleibenden Stufen zu überwinden helfe, wenn nur das bis dahin geführte Leben vom Willen zum Aufstieg vollkommen beherrscht gewesen sei.39 Festzustellen ist, dass die Texte das Bildthema der Glückseligkeit an den Lebensweg des Christen zurückbinden und damit den auf den Kirchenraum bezogenen Illusionismus der Darstellung inhaltlich fokussieren. Zugleich verweisen sie durch ihre metaphorisch-symbolhafte Sprache über die Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren oder im Zustand des ‚tödlichen Lebens’ Begreifbaren hinaus und problematisieren die im Stande der Seligkeit erfahrene Gottesschau (visio beatitudinis) als das eigentliche, gleichwohl vom Grundsatz her nicht darstellbare Thema des Bildes. Das Anschaulichkeitsgefälle zwischen den Seiten der Hölle und der Seite des Himmels wie auch die motivischen Divergenzen und der auffällige Einsatz von Inschriften werden nun als Aspekte eines Konzeptes erkennbar, das es erlaubt, die Frage der Darstellbarkeit des Jenseits für die drei Abschnitte des Gemäldezyklus auf je unterschiedliche Art und Weise zu beantworten. Auf der Westwand ist die figürliche Darstellung mit Schriftbändern durchsetzt, die in der Hauptsache Zitierungen oder Umschreibungen von Aussagen Christi über das Ende der Welt und das Universalgericht (Mt 25, 34; Mt 25, 41; Mt. 24, 3; Mt. 24, 30) wiedergeben.40 Eine derart intensive Kommentierung des Auferstehungs- und Gerichtbildes durch biblische oder biblisch begründete Texte ist für sich genommen bereits außergewöhnlich.41 Das Bild wird damit als eine durch die Heilige Schrift ausführlich begründete Visualisierung der Endzeitverheißung ausgewiesen. Dass eine solche Legitimierung für wichtig genommen werden konnte, beweist der Passus über sakrale Bilder im Rationale

_____________ 38 David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes, hrsg. Von Kurt Ruh (Kleine deutsche Prosadenkmälder des Mittelalters, 1), München 1965, S. 50f., 61f. 39 Merswin, Rulman: „Die geistliche Leiter“, in: Deutsche Mystik, ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Louise Gnädinger, Zürich 1989, S. 303-330, hier: S. 330. 40 Perger, Inschriften (Anm. 1), S. 153f. 41 Für den Bereich der monumentalen Darstellungen ist eine vergleichbare Verknüpfung des Bildes mit Inschriften nur im Tympanon des Portals der Kirche in Conques-en-Rouergue aus dem 12. Jahrhundert vorgegeben, das freilich das Interim, dargestellt als Ort der „Keuschen, Friedfertigen und Frommen“, integriert und motivisch nicht zum Breisacher Weltgericht hinführt. Rupprecht, Bernhard: Romanische Skulptur in Frankreich, München 1975, Abb. 114-122, S. 97-101; Angenendt, Religiosität im Mittelalter (Anm. 35), S. 688.

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Divinorum Officiorum des Guillelmus Duranti von Mende (um 1235-1296), der wohl bedeutendsten Erklärung der Liturgie des späten Mittelalters.42 Dieser gibt zunächst eine allgemeine Begründung des Bildgebrauchs, die den Lehr- und Erinnerungswert der Bilder hervorhebt, aber auch deren fiktiven Charakter als positiven, ausdrücklich erwünschten Aspekt benennt, da er Idolatrie verhindere und das alttestamentliche Bilderverbot insofern entkräfte. Guillelmus Duranti argumentiert, dass das „heilige Bild“ (sacra imago) als solches nicht angebetet werden könne, da es nicht die Präsenz eines Menschen bedeute, sondern diesen lediglich „darstelle“ (figurare).43 Er schließt damit eng an die Bildtheorie des Thomas von Aquin an, der in seiner Begründung der Legitimität der Verehrung des Bildes Christi ebenfalls auf die scharfe Grenze zwischen der Sache (res) und dem dieses nachahmenden Bild von Menschenhand (imago) verweist.44 Des Weiteren gibt Guillelmus Duranti eine Aufzählung verschiedener, am Kirchenbau anzutreffender Bildgattungen sowie einen in viele Einzelheiten gehenden Abriss der christlichen Ikonographie. Die Motive der Bilder werden dabei stets mit biblischen Visionen oder bildhaften Formulierungen in der Heiligen Schrift begründet. Guillelmus Duranti erwähnt das Jüngste Gericht an dieser Stelle nicht, jedoch mehrere verwandte Motive wie die Majestas Domini und den Erzengel Michael im Kampf mit dem Dämon.45 Die Verflechtung der Darstellung an der Westwand der Breisacher Kirche mit Texten scheint dieser Methode der Legitimierung wie auch Erklärung des Bildes als Abschilderung einer biblisch überlieferten Vision zu entsprechen. Dem ebenso wirkmächtigen wie lehrhaft ausdifferenzierten Bild steht die Darstellung der Hölle als eine unvermittelte, aus sich selbst heraus erklärliche wie auch aus dem Ausspruch des richtenden Christus „Ite, maledicti in ignem aeternum“ („Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer!“ Mt 25,41) ableitbare Drohung gegenüber. Es mag hier von Belang sein, dass die Höllenstrafen und das Höllenfeuer als durch kanonische Texte belegt gelten konnten wie vor allem durch die Schriften Papst Gregors I. (gest. 604) sowie durch die apokryphe Petrus-

_____________ 42 Langgärtner, G.: “Duranti(s) I. D., Guillelmus”, in: Auty, Lexikon des Mittelalters (Anm. 31), Bd. 3, Sp. 1469-1490. 43 Duranti, Guillelmus: “Rationale Divinorum Officiorum”, I, iii, 1, in: Davril, A. / Thibodeau, T.M. (Hrsg.): Gvillelmi Dvranti Rationale Divinorum Officiorum (Corpus Christianorum Continuatio Mediaeualis, CXL), Turnhout 1995, S. 34f. 44 Thomas von Aquin: „Summa Theologica“, III, qu. 25, 3, in: Thomas von Aquin, Summa Theologica, vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe, übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Katholischer Akademikerverband (Hrsg.), Salzburg / Leipzig 1933-1985, Bd. 26/1937, S. 196. 45 Duranti, Rationale Divinorum Officiorum, I, iii, 7-9 (Anm. 43), S. 37f.

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Apokalypse, entstanden um 135 in Ägypten.46 Auch die Figur des Hades ist nicht allein durch die oben erwähnte, vor allem im cisalpinen Kunstkreis präsente Bildtradition legitimiert, sondern wird in einem weit verbreiteten visionären Text beschrieben, der um 1148/49 in Regensburg von einem Mönch mit Namen Marcus verfassten Visio Tnugdali. 47 Die Darstellung des Himmels ist in ihrer Funktion als Bild anders bestimmt. Sie beansprucht nicht, ihren Gegenstand abzubilden, also sich ihm beobachtend und imitierend zuzuwenden, vielmehr drückt sie aus, dass auf ihn lediglich verwiesen werden kann. Die große Inschrift mit der Kompilation aus den Epigrammata definiert in der ersten Zeile die „Freuden des ewigen Lebens“ als das eigentliche Sujet. Das Bild umkreist dieses unter Aufbietung der einander ergänzenden Leistungen von Malerei und Text, um zugleich die Problematik der Nichtdarstellbarkeit zu Bewusstsein zu bringen. In ihren Evokationen des Himmels der Seligen reflektieren die Texte zugleich immer wieder ihren Standpunkt im Diesseits und verweisen dabei in Bezug auf das „versprochene Reich“ auf ein Zukünftiges, gegenwärtiger Erfahrung nicht Zugängliches. Im Bild des über Stufen aufwärts führenden Weges fallen Malerei und Text auf den Ebenen des Motivischen und des Ausdruckscharakters zusammen, wobei die bildlich gefasste Fiktion in zwei Richtungen über sich hinaus weist. Der Betrachter im Kirchenraum sieht sich zum einen als Adressat der Texte ausdrücklich angesprochen und wird zum anderen - auf einer unmittelbaren, gefühlsmäßigen Ebene der Bilderfahrung - durch den bezwingenden Realismus der Malerei in das Geschehen einbezogen. Die Darstellung des Himmlischen Jerusalem fungiert weniger als Explizierung der auf Apk 21 fußenden bildhaften Vorstellung, denn als eine Sichtbarriere, indem sie von dem Bauwerk nur die Außenseite und auch von dieser nur einen schmalen Ausschnitt gibt. Das Maßwerk, das die Architektur ziert, schafft eine Suggestion von Transparenz, die wiederum ins Leere führt, da der Blick dennoch nicht durch die Fassade zu dringen vermag. Diese Auffassung des Bildgedankens als ein hinter Versatzstücken der sinnlich wahrnehmbaren Welt Verborgenes beantwortet in bildtheoretischer Sicht den Anspruch der zeitgenössisch gültigen Theologie, die den Himmel der Seligen nicht anders denn als visio beatitudinis verstehen möchte, einen Zustand der Glückseligkeit, die sich in der Schau Gottes erfüllt.

_____________ 46 Altendorf, Hans-Dietrich: „Die Entstehung des theologischen Höllenbildes in der Alten Kirche“, in: Jezler, Himmel, Hölle, Fegefeuer (Anm. 3), S. 27-32. 47 Der Text schildert Hades als im tiefsten Schlund der Hölle sitzend, von wo er eine stinkende Rauch- und Feuersäule entsendet. Siehe: Koch, Ernst: „Hölle II. Kirchengeschichtlich“, in: Krause, Gerhard / Müller, Gerhard (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie Bd. 15, S. 449-455, hier: S. 451.

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Die Vorstellung, dass Gott im Jenseits von Angesicht zu Angesicht geschaut werde, steht im Zentrum der christlichen Erlösungsvorstellung und ist in 1. Joh 3, 2 vorgegeben: „Wir wissen, wenn er erscheint, werden wir ihm ähnlich sein und ihn schauen, wie er ist.“ In bündiger Form verkündete die Konstitution Benedictus Deus Papst Benedikts XII. von 1336 die Definition des Himmels der Seligen als unmittelbare Schau des göttlichen Wesens von Angesicht zu Angesicht und ohne Vermittlung irgendeines Geschöpfes als für die gesamte Christenheit gültigen Lehrentscheid.48 Eine durch anthropologische Aspekte angereicherte Analyse der Frage der Gottesschau in theologischer und erkenntnistheoretischer Sicht bietet Thomas von Aquins Summa Theologica.49 Thomas von Aquin unterscheidet die Gottesschau, verstanden als Anschauung des göttlichen Wesens, von jeglicher Form der Sicht, der Vorstellung oder des Verständnisses von den göttlichen Dingen, die im irdischen Leben gewonnen werden kann. Weder ein Phantasiebild wie die Thronvision Jesajas (Is 6, 1) noch irgendein gottähnliches oder geschöpfliches Bild, noch auch jene geistigen Bilder, von denen Augustinus spricht und die wie Spiegel oder Rätsel eine Form der verstandesmäßigen Gotteserkenntnis geben könnten, vermögen eine Einsicht in das Wesen Gottes zu vermitteln.50 Zugleich „besteht das ewige Leben aus der Anschauung Gottes“ gemäß Joh 17, 3 „Das ist das ewige Leben, dass sie dich, den wahren Gott, erkennen.“ Die auf das Sein Gottes gerichtete Schau (visio) unterscheidet sich mithin von jeglicher auf Sinneswahrnehmung gründender oder verstandesmäßiger Gotteserkenntnis wie auch von der geistigen Schau, die etwas von der Wesenheit Gottes in der Seele erfahrbar macht, sie ist dem Menschen nur im Zustand der Seligkeit, im ewigen Leben, gegeben.51 Die durch das Bild gesetzte Differenz zwischen der Erscheinung des Weltenrichters in einer Gestalt, die dem des leidenden Menschen Jesus entspricht, und dem Himmel als einer schieren Andeutung der Vision vom Himmlischen Jerusalem und vom Thron Gottes scheint wiederum an die thomasische Bildtheorie anzuschließen. Diese gibt vor, „dass dem Bilde Christi die gleiche Verehrung zu erweisen ist wie Christus Selbst. Denn daraus, dass Christus durch Unterwerfung angebetet wird, folgt, dass auch Sein Bild anbetungswürdig ist durch die Anbe-

_____________ 48 Papst Benedikt XII: „Constitutio ‚Benedictus Deus’“, zitiert bei: Angenendt, Religiosität im Mittelalter (Anm. 35), S. 689. 49 Thomas von Aquin: Summa Theologica, I, qu. 12 (Anm. 44), Bd. 1, S. 204-252. Siehe auch: Russell, History of Heaven (Anm. 21), S. 134-136. 50 Thomas von Aquin, Summa Theologica, I, qu. 12. 2-3 (Anm. 44), Bd. 1, S. 210f., 213. 51 Thomas von Aquin, Summa Theologica, I, qu. 12. 1, qu. 12, 6-12 (Anm. 44), Bd. 1, S. 204f., 224-246.

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tung der Unterwerfung.“ Dagegen kann es „vom wahren Gott Selbst“ keine Bilder geben, da er unkörperlich ist: „Es ist nämlich ‚der Gipfel der Dummheit und der Gottlosigkeit, das Göttliche darzustellen’ (Johannes von Damaskus).“52 Die besondere Reflexionsleistung Martin Schongauers liegt in dem Umstand, dass er die Problematik der visio beatitudinis im Spiegel seiner eigenen Kunst der Malerei, verstanden als eine auf die Spitze getriebene, aber auch gleichsam freiwillig offengelegte Augentäuschung, aufscheinen lässt. In der Geschichte des Weltgerichtsbildes ist Schongauers Darstellungsstrategie einzigartig. Die erwähnten italienischen Monumentalbilder scheinen das bildtheologisch Problematische ihrer zunehmend realistischen Wirkung nicht zu reflektieren. Die Frage nach dem Verhältnis des Bildgeschehens zum Betrachterraum beantworten sie auf eine lediglich schematische Art und Weise, indem sie die Hölle unten, den Himmel oben im Bild lokalisieren. Ein vergleichbares Problembewusstsein in Bezug auf die Nichtdarstellbarkeit des Himmels der Seligen legt hingegen Dirk Bouts, ein niederländischer Zeitgenosse Schongauers, an den Tag, der die Seligen in seinem 1468 für die Stadt Löwen erstellten Weltgerichtstriptychon durch eine dem Garten Eden ähnelnde Landschaft führt und in der Tiefe des Bildes durch einen von gelbem Licht erfüllten Spalt in den Wolken entschweben lässt (Abb. 5).53 Hier verweist die Grenze des gerade noch Sichtbaren in der Ferne der Landschaft und unter dem Himmelszelt auf die Uneinsehbarkeit des jenseitigen Himmels. Während Bouts’ Paradieseslandschaft jedoch immer noch eine bezwingend augenschmeichlerische Vorankündigung der himmlischen Freuden vorstellt und den problematischen Übergang vom Diesseits zum Jenseits an einem Ort in der Mitte des Bildes konzentriert, verleiht Schongauer der gesamten Oberfläche des Gemäldes den Status einer Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Er bedient sich dabei nicht eines reichen Vokabulars an symbolträchtigen oder gleichnishaften Bildchiffren, sondern verweist auf eine künstlerisch wie theologisch sinnvolle Art und Weise auf

_____________ 52 Thomas von Aquin, Summa Theologica, III, qu. 25, 3 (Anm. 44), Bd. 26, S. 195f. 53 Der linke Flügel im Musée des Beaux-Arts in Lille (Inv. Nr. 747), der rechte als Leihgabe des Musée du Louvre (Inv. Nr. 1904a) ebendort. Der Mittelteil des Triptychons ist verloren, kann jedoch auf Grund einer Wiederholung der Gesamtkomposition, heute in der Alten Pinakothek in München, rekonstruiert werden. Smeyers, Maurits (Hrsg.): Dirk Bouts (ca. 1410-1475), een Vlaams primitief te Leuven, Ausstellung, Sint-Pieterskerk en Predikherenkerk te Leuven, Löwen 1998, Abb. 234, 235, 237, S. 536-541. Zu Forschungsstand und Bibliographie siehe auch: Belting, Hans / Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, Kat. Nr. 150-151, S. 213f., Abb. 105.

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Abb. 5: Dirk Bouts, Zug der Seligen zum Paradies, linker Flügel eines Triptychons des Jüngsten Gerichts, Lille, Musée des Beaux-Arts

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die Aussagekraft der Malerei wie auch die Begrenztheit eines jeglichen Mediums in Hinsicht auf die Verheißung der Gottesschau. Schongauers Darstellungsstrategie im Sinne einer grundlegenden Bildkritik zu verstehen oder gar in eine vorreformatorische Perspektive zu stellen, wäre gänzlich verfehlt. Die Malerei behauptet ihre mediale Kompetenz im Breisacher Weltgericht mit großer Vehemenz, nicht zuletzt auch durch die selbstbewusste Art ihres Zugehens auf die Texte. Die geistreich kompilierten Inschriften im Aufstieg der Seligen zum Paradies unterstützen die Malerei entscheidend darin, den Themenschwerpunkt des endzeitlichen Gerichts gleichsam aufzufalten und im Sinne einer umfassenden Reflexion der Jenseitsvorstellung wie auch der moraltheologischen Belehrung des Kirchenbesuchers neu zu entwickeln. Die Malerei nutzt die Inschriften auf einer rezeptionsästhetischen Ebene zur Inszenierung eines Medienwechsels, in dessen Spiegel die Problematik der Nichtdarstellbarkeit der visio beatitudinis greifbar wird. Das BoethiusZitat übernimmt hier eine Schlüsselrolle, da es auf Grund seines appellativen Charakters mit dem überwältigenden Illusionismus der Malerei und der lebensnahen Charakterisierung der Seligen korreliert und durch seinen grundsätzlichen, moralisch-ethischen Gehalt den Fokus der Bildaussage von der biblisch begründeten Endzeitvision in die Aktualität des Lebens des Christen auf Erden verlagert und dabei eine Anreicherung des Weltgerichtsstoffes mit Aspekten der christlichen Bilderlehre und mystischen Theologie, aber auch Ansprüchen städtischer Repräsentation möglich macht.

The Beast Within. The Animal-Man Dichotomy in the Consolation of Philosophy LUUK HOUWEN (Bochum) In this article, it will be argued that the human dichotomy between the animal and the divine forms an important Leitmotif in Boethius’s Consolation of Philosophy. In order to guide the distraught prisoner back on to the straight and narrow, Lady Philosophy needs to demonstrate to Boethius that he must clear his mind and rid himself of his animal passions which stand in the way of a true understanding of his own nature. To drive this message home Philosophy employs different strategies that exploit the human dichotomy between the animal and the divine. Not only does she repeatedly remind the prisoner of his privileged position in the hierarchy of creation as a rational animal, she also resorts to three further themes: the fact that man cannot deny his true nature, that if he does, he sinks lower than the animals, and that man's upright posture which forces him to direct his gaze towards heaven and sets him apart from the other animals is a potent reminder of his ultimate destiny.

That people have a dual nature, uniting within themselves both the animal and the divine, is a medieval truism but it has a learned history. In what follows it will be argued that the human dichotomy between the animal and the divine forms an important Leitmotif in the Consolation of Philosophy, where it takes on concrete form in exemplary and explanatory passages. Boethius first alludes to this dichotomy when Lady Philosophy questions the prisoner on the origin and nature of man. Boethius, weakened by pain and grief, is still able to recall that all things have their source in God but when asked to define man the answer that man is a mortal and rational being — rationale animal atque mortale [I, p6, 351] — and nothing more, brings home to Philosophy (and the reader) the depth of Boethius’s despair. This Aristotelian definition of man may have sufficed in his commentary on Porphyry’s Isagoge where he uses “mortal” and “rational” as differentiae for the genus “animal” in a definition of the species “man”,2

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All references to the Consolation are to Anicius Manlius Severinus Boethius: The Consolation of Philosophy, trans. H. F. Stewart, E. K. Rand and S. J. Tester: Boethius. Tractates, De consolatione philosophiae (Loeb Classical Library 74), London 1978. Anicius Manlius Severinus Boethius: In Isagogen Porphyrii commenta, eds. Georg Schepss and Samuel Brandt (CSEL 48), Vindobonae 1906, liber 3, cap. 4, p. 209.

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but in this neo-Platonic context it will just not do, because Boethius overlooks that humankind does not only have its origin in God but that God is also the ultimate destiny of the soul, and it is this theological aspect of man that the prisoner Boethius as a consequence of all his misfortune had forgotten. Philosophy had already alluded to this in the second song of the first book where she laments the fall of the man who had once gazed upon the heavens but now lies prostrate, bound by heavy chains, seeing nothing but the dull earth: Hic quondam caelo liber aperto Suetus in aetherios ire meatus Cernebat rosei lumina solis, Visebat gelidae sidera lunae 10 Et quaecumque vagos stella recursus Exercet varios flexa per orbes, Comprensam numeris victor habebat … Nunc iacet effeto lumine mentis 25 Et pressus gravibus colla catenis Declivemque gerens pondere vultum Cogitur, heu, stolidam cernere terram. [I, m2, 6-12, 24-27] This man / Used once to wander free under open skies / The paths of the heavens; used to gaze / On rosy sunlight, and on the constellations / Of the cold new moon, / And on each star that on its wandering ways / Turns through its changing circles—all such things / He mastered and bound by number and law. … But now he lies / His mind's light languishing, / Bowed with these heavy chains about his neck, / His eyes cast down beneath the weight of care, / Seeing nothing / But the dull, solid earth.

The implications of Philosophy’s reference to Boethius’s former mastery of mathematical astronomy (the numeris of I, m. 2, 123) — itself possibly an allusion to God having ordered his creation by measure, number and weight in Wisdom 11.21 omnia mensura et numero et pondere disposuisti — are several, but the one that concerns us most here is that the prisoner has cast aside his reason, that part of the soul that connects man to God, or as Dante puts it in the Convivio: The soul that comprehends all these powers, and the one that is the most perfect of them all, is the human soul, which by the nobility of its highest power (that is, reason) participates in the divine nature as an everlasting intelligence. For the soul

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3

See also Danuta Shanzer: "The Death of Boethius and the Consolation of Philosophy," Hermes 112/1984, pp. 352-366 (p. 361). On the concept of differentiae as a subcategory of predicables see D. P. Henry: "Predicables and Categories," in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, eds. Norman Kretzmann, Anthony Kenny and Jan Pinborg, Cambridge 1982, pp. 128-142 (p. 128). See also Rand’s and Tester’s footnote to this line.

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is so ennobled and divested of matter in this supreme power that the divine light shines in it as in an angel; and therefore man is called a divine living being by the philosophers.4

It is therefore only natural in the verses that follow for Lady Philosophy to urge Boethius to clear his mind and to rid himself of his animal passions that stand in the way of a true understanding of his own nature: 25

Gaudia pelle, Pelle timorem Spemque fugato Nec dolor adsit. Nubila mens est 30 Vinctaque frenis, Haec ubi regnant. [I, m7, 25-31] Cast out joy, / Cast out fear, / Rid yourself of hope and grief. / The mind is clouded, checked, / Where these hold sway.

Pleasure, fear, hope and sorrow are the four Stoic affects or passions that the prisoner has to learn to overcome before he can hope to come to terms with the vicissitudes of fortune. Only when he rediscovers his divine self and learns to subjugate these passions to the guiding force of reason can he learn to assess the true nature of his fortune and destiny. In order to drive this message home Lady Philosophy intersperses her philosophical arguments with references to classical mythology, literature and various other realms. In fact, with the words of St Paul in the epistle to the Romans in mind that invisibilia dei per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur (Rom 1.205), the whole of creation is brought to bear on Boethius’s reeducation. Within this broad sphere the animal world takes a privileged position because only animals directly address the human dichotomy, and exemplarily remind Boethius of these animal passions. Philosophy employs different strategies that exploit this dichotomy to guide the prisoner back on to the straight and narrow. At various points in the Consolation she reminds the prisoner of man’s dual nature by referring to him as a rational animal.6

_____________ 4 5

6

Dante Alighieri: The Convivio, bk. 3, ch. 2, translated by Richard Lansing at http://dante.ilt.columbia.edu/books/convivi/ [Accessed 1 October, 2008]. Cf. also St Augustine: De doctrina christiana, trans. R.P.H. Green, Oxford 1995, I, 9 (p. 16). Here St Augustine employs it as part of a travel metaphor to show that in order to reach God man must learn to ‘ascertain what is eternal and spiritual from corporeal and temporal things’ (ut de corporalibus temporalibusque rebus aeterna et spiritalia capiamus). The emphasis always falls on rational in these cases. Cf. I, p6, 36; II, p4, 80; II, p5, 26, 73; V, p2, 6; V, p4, 108.

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But she also introduces three further themes. Two of these touch upon the passions, whereas the third is closely associated with reason. The first of these appears in book three. Having established that the ultimate goal is happiness and that this true happiness is quite different from the worldly manifestations of it, Philosophy sings the praise of Nature whose laws bind all of creation. To illustrate Nature’s law she introduces four exempla, two from the animal world, one drawn from botany, and another one from astronomy (III, m2): the tamed Carthaginian lions who turn on their tamer once the spirit of nature is revived in them after having tasted blood, the cooped up bird which longs for its original habitat in the woods once it sees the shade of trees, the sapling bent down to earth by human hands which takes on its former straight shape the moment it is no longer restrained, and the sun which may sink in the ocean in the west but nevertheless resumes its ordered course again the next day. All four examples demonstrate that ultimately one cannot deny one’s true nature and that everything that is subject to the laws of nature must in the end return to its natural state, which, in the case of the soul of man, is heaven. The bird exemplum is particularly apt, as it parallels Boethius’s own imprisoned state.7 But the road to true happiness is strewn with many obstacles and man often searches for happiness in the wrong places. Therefore Philosophy resorts to another animal example later in book three. If the first example showed the prisoner that he should act upon his true nature this second one reminds him where to look for true happiness. Drawing upon the adynata or impossibilia tradition, Philosophy rhetorically states that just as no man would search for fish in the mountains, nor search the Tyrrhenian sea for roe-deer (III, m8, 5-8), so people must learn to distinguish false from true happiness and not put their trust in wealth and honour.8 Before Philosophy can continue her praise of a philosophical life and its benefits, she considers the alternative. She had already prepared the ground for this in books two and three. In book two she sets out the limitations of earthly pleasures. After discussing various things that make people happy, ranging from gemstones and the pleasures of the countryside to beautiful clothes, she points out that although other classes of things are sufficient in themselves, men, who are like God in their understanding, lower themselves to the lowest of the low in order to pursue worldly pleasures. Since people, unlike beasts, possess self-knowledge they

_____________ 7 8

Also noted by E. Rapisarda: "Poetica e poesia di Boezio," Orpheus 3/1956, pp. 2340 (p. 35), who is mentioned in Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius De consolatione philosophiae (Texte und Kommentare 9), 2nd ed. Berlin 2006, p. 245. For possible sources of these examples see Gruber (note 7), p. 270.

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are culpable: Nam ceteris animantibus sese ignorare naturae est; hominibus vitio venit (II, p5, 88-89). In the next book she is even more explicit, when she touches upon the happiness provided by pleasures of the body, arguing that if this were true happiness then beasts should be called happy too: Quae si beatos explicare possunt, nihil causae est quin pecudes quoque beatae esse dicantur quarum omnis ad explendam corporalem lacunam festinat intentio (III, p7, 8-11). In book four both lines of argument are combined when she explains that just as only the good is able to bring out the divine in people, so by turning to wickedness they are cast down and lose their human nature: ut quem transformatum vitiis videas hominem aestimare non possis (IV, p3, 5556). Consequently, a man overcome with avarice is like a wolf (lupi similem), a quarrelsome man is like a dog, a sly trickster is like the little foxes, just as one who cannot contain his anger resembles a lion and a timid person may be compared to a deer. Sluggards are like asses, the fickle and inconstant may be likened to birds, and those who indulge in sordid and unclean lusts (foedis inmundisque libidinibus) are like filthy sows (IV, p. 3, 5666).9 Boethius is one of the first, if not the first, writer to associate animals with sins in a systematic way, and in doing so he contributes to a still nascent development that would later become the tradition of the seven deadly sins, a tradition that had started as a series of vices in the works of Evagrius Ponticus (345–399 A.D.) and the association of some of these vices with animals in the 3HUjWÐQ³NWÍSQHXP…WZQW£MSRQKUgDM or ‘Eight spirits of wickedness’. This work, which used to be attributed to Nilus of Ancyra but is now generally held to be by Evagrius,10 does not systematically associate animals with vices in that there is no consistent one-to-one mapping of vices and animals, but it does on occasion compare the nature of a particular vice with the characteristics of certain animals. In the chapter on anger an angry monk gnashing his teeth is likened to a solitary boar (4.4), an irascible monk is like a lion rattling the hinges in

_____________ 9

Avaritia fervet alienarum opum violentus ereptor? Lupi similem dixeris. Ferox atque inquies linguam litigiis exercet? Cani comparabis. Insidiator occultus subripuisse fraudibus gaudet? Vulpeculis exaequetur. Irae intemperans fremit? Leonis animum gestare credatur. Pavidus ac fugax non metuenda formidat? Cervis similis habeatur. Segnis ac stupidus torpit? Asinum vivit. Levis atque inconstans studia permutat? Nihil avibus differt. Foedis inmundisque libidinibus immergitur? Sordidae suis voluptate detinetur. 10 See A. Guillaumont: "Evagrius Ponticus. Leben, Werk, Nachwirkung, Quellen/Literatur," Theologische Realenzyklopädie 10/1982, p. 566, and Evagrius of Pontus: The Greek Ascetic Corpus, trans. Robert E. Sinkewicz (Oxford Early Christian Studies), New York 2003, p. 67, and the bibliography edited by Joel Kalvesmaki on Evagrius Ponticus at http://www.kalvesmaki.com/EvagPont/Evbib. htm [last updated, Jan. 2008; accessed 30 September 2008].

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his cage (4.7), foxes are said to find shelter in the resentful soul (4.13) and the thoughts of an angry person are said to be as poisonous as a viper’s offspring (4.17).11 Evagrius was not the first to associate animals with vices either; Clement of Alexandria (c. 150–c. 215 A.D.) in his discussion of what he calls ‘the symbolic style’ of poets and philosophers interprets some of the animals mentioned in the food laws of Leviticus and Deuteronomy as symbols of vices, singling out the sow, for example, as ‘the emblem of voluptuous and unclean lust of food, and lecherous and filthy licentiousness in venery’, and the eagle, the hawk and the raven which symbolise robbery, injustice and greed respectively.12 This type of moral rather than historical interpretation of the Mosaic laws appears to have been not uncommon in the first few centuries of Christendom. The Epistle of Barnabas also interprets unclean animals in terms of different classes of sinful men and so does Novatian in his De cibis iudaicis.13 The Platonic notion of metempsychosis or transmigration of the soul is another possible influence on this particular passage in the Consolation. Boethius would have been quite familiar with the idea of the souls of depraved men ending up in appropriate animals from his reading of Plato and I will touch upon this later as well.14

_____________ 11 Evagrius of Pontus: The Greek Ascetic Corpus (note 10), pp. 80-81. Cf. also M. W. Bloomfield: The Seven Deadly Sins, East Lansing, Michigan 1952, p. 60. Bloomfield still attributes the work to St Nilus, as do the majority of the extant manuscripts. 12 Clement of Alexandria: The Stromata, or Miscellanies, trans. Philip Schaff (Fathers of the Second Century), book V, chapter viii, from http://www.ccel.org/ccel/ schaff/anf02.vi.iv.v.viii.html [Accessed 29 September 2008]. See also Dietrich Schmidtke: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100-1500), Berlin 1968, pp. 106, 500, n. 316. 13 For Novatian see Novatianus: Opera quae supersunt : nunc primum in unum collecta ad fidem codicum qui adhuc extant necnon adhibitis editionibus veteribus ed. Gerardus Frederik Diercks (CCSL 4), Turnholti 1972, ch. 5. For an English translation of the Epistle of Barnabas see http://www.ccel.org/ccel/schaff/anf01.vi.ii.html [Accessed 4 October 2008]. For a discussion of the latter see Robert M. Grant: Miracle and Natural Law in Graeco-Roman and Early Christian Thought, Amsterdam 1952, pp. 9495, and M. A. Tilley: "Martyrs, Monks, Insects, and Animals," in: The Medieval World of Nature. A Book of Essays, ed. J. E. Salisbury, New York 1993, pp. 93-107 (p. 102). 14 Bloomfield in his seminal study on the seven capital sins even speculates that the idea of the Seven Deadly Sins may have an astral origin, since in late antiquity connections were made between both vices and sins and the twelve signs of the Zodiac, as well as with the seven planets (Bloomfield [note 11], pp. 46-50). This connection with the Zodiac may have contributed to the association of sins and animals, although he also assumes a connection between evil spirits, demons and animals (ibd., p. 26).

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Only four of Boethius’s eight vices correspond to what were to become the ‘classical’ Evagrian vices codified by John Cassian (c. 360–435) in his Institutiones as gluttony, fornication, avarice, wrath, dejection, sloth (or rather ‘accidie’), vain glory, and pride.15 I have found little evidence that Boethius’s list was particularly influential,16 but it is difficult to underestimate the impact of the concept, both within the Seven Deadly Sins tradition and in the broader one of the vices and virtues. In this respect it is worth noting that the actual vices listed by Boethius do not serve to admonish a monastic audience as those of Evagrius, Cassian and Gregory the Great had done, but are made against the backdrop of the Ostrogothic court of king Theoderic. Greed, fraud and deceit were rife in these circles, disputes were the order of the day, and it not difficult to imagine that the other vices were never far behind.17 The animal-vice theme is picked up a little later in the retelling of Homer’s story of Ulysses and Circe (IV, m3). Such mythological accounts had long since been allegorised by commentators and the Stoics had interpreted Ulysses (and Hercules) as men who managed to conquer their passions. In De constantia sapientis Seneca wrote about them: Hos enim stoici nostri sapientes pronuntiaverunt, invictos laboribus et contemptores voluptatis et victores omnium terrorum. [II.i]18

_____________ 15 primum gastrimargiae, quae interpretatur gulae concupiscentia, secundum fornicationis, tertium filargyriae, quod intellegitur auaritia, uel ut proprius exprimatur, amor pecuniae, quartum irae, quintum tristitiae, sextum acediae, quod est anxietas siue taedium cordis, septimum cenodoxiae, quod sonat uana seu inanis gloria, octauum superbiae [0513, lib. : 5, cap. : 1, pag. : 81] in Brepols CLCLT Library of Latin Texts, http://clt.brepolis.net/clt [Accessed 1 October 2008]. 16 I am only aware of two later authors who acknowledge Boethius’s Consolation as a source for their own lists, to wit Bernardus Silvestris and Roger Bacon. For the first see Bernardus Silvestris: The Commentary on the First Six Books of the Aeneid of Virgil Commonly attributed to Bernardus Silvestris, eds. J. W. Jones and E. F. Jones, Lincoln 1977, p. 62, ll. 8-9, and Roger Bacon: Moralis philosophia, in: The Opus majus of Roger Bacon, ed. John Henry Bridges, vol. 2, Frankfurt/Main 1897-1900, II, 264. 17 For an overview of the situation see Henry Chadwick: Boethius: The Consolations of Music, Logic, Theology and Philosophy (Clarendon paperbacks), Oxford 1981, p. 51. He also reports how two of the people who plotted against Boethius, Gaudentius and Opilio, had actually been arrested for fraud and were exiled by Theoderic. 18 Lucius Annaeus Seneca: Opera quae supersunt (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), ed. Emil Hermes, vol. 1, Fasc. 1: Dialogorum libri XII, Leipzig 1923, p. 22. The text is also cited in Seth Lerer: Boethius and Dialogue: Literary Method in The Consolation of Philosophy, Princeton, N.J. 1985, p. 184, whose translation has been used here.

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We Stoics have declared that these were wise men, because they were unconquered by struggles, were despisers of pleasure, and victors over all terrors.

Philosophy now proceeds to turn the warnings of the previous prose section into a proper exemplum, turning simile into metamorphosis. No longer are vicious men compared to animals, they become the beasts they resembled thanks to Circe’s herbal potion. One is turned into a boar, another into an African lion; a third has to howl with the wolves while a fourth ends up as an Indian tiger.19 Only the virtuous Ulysses is saved. His men are punished severely though, not just because of their physical transformations, but perhaps even more so because their minds are unaffected, so they are left to bemoan their monstrous form (Sola mens stabilis super / Monstra quae patitur gemit.). What the ultimate reward of a virtuous life can be is shown graphically at the end of book four in the rendering of the mythological account of the labours of Hercules (IV, m7). His victories over the Centaurs, the Nemean lion, the Stymphalian birds, Ladon, the dragon guarding the tree of golden apples, the three-headed guard-dog of Hell, Cerberus, the man-eating horses of Diomedes, the Lernaean hydra and the Erymanthian boar were rewarded in heaven by his apotheosis. The emphasis on the monstrous at the expense of the labours that do not involve beasts in this retelling underscores the importance of the animals as representations of human vices, and their conquest concludes Philosophy’s extended lesson on human depravity on a positive note. The third way in which Boethius integrates the human-animal dichotomy is a positive one. At several places throughout the Consolation he alludes to the posture that sets human beings apart from animals and which allows them to look up, rather than down, and behold the heavens. An upright posture to Boethius, and many of his predecessors and those who came after him, was concomitant with being a rational human being. He alludes to it in I, m2, where Philosophy reflects on the state of the prisoner before his fall into wanhope20 and returns to it in the encomium to the Orpheus story: Felix qui potuit boni Fontem visere lucidum, Felix qui potuit gravis

_____________ 19 This has been beautifully illustrated in an otherwise badly mutilated twelfthcentury manuscript of Boethius’s Consolation in Glasgow, University Library, U. 5. 19 (270), fol. 45 (Fig. 1). The drawing shows how Ulysses is saved whereas four of his men have been partially transformed into a lion, a panther (tiger?), and a wolf (the fourth is barely visible). See also Diane Bolton: "Illustrations in Manuscripts of Boethius' Works," in: Boethius: His Life, Thought and Influence, ed. Margaret Gibson, Oxford 1981, pp. 428-437 (p. 429). 20 See above p. 2.

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Terrae solvere vincula. [III, m12, 1-4] Happy was he who could look upon / The clear fount of the good; / Happy who could loose the bonds / Of heavy earth.

Here she combines the notion of man as a rational being, who is able to look up and behold the good, with the salvation that ability can bring provided one keeps one’s gaze firmly fixed on heaven and does not ‘look back’ like Orpheus does, as the fabula docet confirms (III, m12, 52-58). And this is indeed how medieval commentators of the Consolation subsequently interpret the story.21 When Philosophy later discusses the plight of those who commit evil she uses the “up”-is-good-and-“down”-is-bad metaphor once again when she warns Boethius not to look down like the common people who never look at the stars and therefore behave like beasts: At vulgus ista non respicit. Quid igitur? Hisne accedamus quos beluis similes esse monstravimus? (IV, p4, 109-110). The allusions are made explicit and become a fully fledged simile that occupies all of the fifth metrum of the last book. Quam variis terras animalia permeant fìguris! Namque alia extento sunt corpore pulveremque verrunt Continuumque trahunt vi pectoris incitata sulcum, Sunt quibus alarum levitas vaga verberetque ventos 5 Et liquido longi spatia aetheris enatet volatu, Haec pressisse solo vestigia gressibusque gaudent Vel virides campos transmittere vel subire silvas. Quae variis videas licet omnia discrepare formis, Prona tamen facies hebetes valet ingravare sensus. 10 Unica gens hominum celsum levat altius cacumen Atque levis recto stat corpore despicitque terras. Haec nisi terrenus male desipis, admonet figura, Qui recto caelum vultu petis exserisque frontem, In sublime feras animum quoque, ne gravata pessum 15 Inferior sidat mens corpore celsius levato. [V, m5, 1-15] In what diversity of shapes do living things traverse the lands! / For some are long in body and sweep the dust / And draw a continuous furrow, moved by

_____________ 21 Starting with Remigius of Auxerre in the tenth century, but also in William of Conches’s twelfth-century commentary, and of course that by Nicholas Trevet from around 1300. See for example J. B. Friedman: "Eurydice, Heurodis, and the Noon-Day Demon," Speculum 41/1966, pp. 22-29 (esp. p. 23), I. R. Johnson: "Walton's Sapient Orpheus," in: The Medieval Boethius, Studies in the Vernacular Translations of De Consolatione Philosophiae, ed. A. J. Minnis, Cambridge 1987, pp. 139-168 (esp. pp. 142-43), and the notes to III, m12 in Gruber (note 7), pp. 311-15. For a text of Trevet’s commentary see Edmund T. Silk and Margaret Bolton-Hall: "Exposicio Fratris Nicolai Trevethi Anglici Ordinis Predicatorum super Boecio De consolacion," in: L' Orphée de Boèce au Moyen Age: Traductions françaises et commentaires latins, XIIe-XVe siècles, eds. J. Keith Atkinson and A. M. Babbi, Verona 2000, pp. 197-211.

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their belly's power; / There are those the lightness of whose wandering wings beats on the winds / And floats in the spaces of the ether far with flight so smooth; / These others delight to press their footprints in the ground, and with their steps / To cross green fields, or pass beneath the woods. / And all these, though you see they differ in their various forms, / Yet their downturned faces make their senses heavy grow and dull. / Only the race of men lift high their lofty heads / And lightly stand with upright bodies, looking down so on the earth. / And (unless, being earthly, you are stupidly wrong) this shape tells you, / You who with upright face do seek the sky, and thrust your forehead out, / You should also bear your mind aloft, lest weighted down / The mind sink lower than the body raised above.

The structural importance of posture is brought to the fore once more at the very end of the Consolation where Boethius uses it metaphorically when he appeals to the reader to turn away from vice and lift up his spirit to righteous hopes and offer a prayer to heaven (Aversamini igitur vitia, colite virtutes, ad rectas spes animum sublevate, humiles preces in excelsa porrigite). It has been argued that this final passage may have been added later, but the sentiments expressed here are consonant with everything that has preceded.22 In its essence the notion of posture is already found at the very end of Plato’s Timaeus (91e-92a) where he discusses the hierarchy of the creation and its origin. With reference to the idea of metempsychosis Plato explains, almost as an afterthought to his cosmological account, that women devolve from cowardly and criminal men, birds from light-minded men who thought astronomy would unlock the secrets of heaven, wild animals from men without any philosophical thoughts, and so forth, with aquatic animals as the most ignorant of them all. There is a superficial resemblance here to Boethius’s animals and vices in that specific types of animals are linked to (increasingly) ‘senseless’ men.23 The more these men succumb to their passions the lower the category they are thought to be reincarnated as. However, no such hierarchy exists in Boethius’s list and, as one critic explains, “at 90Eff., Timaeus is concerned not with the fall of a soul through different incarnations but rather with the different body-

_____________ 22 For a summary of the arguments for and against, see Gruber (note 7), p. 403. 23 Courcelle suggests a lost commentary on the Gorgias as the source of Boethius’s idea of men turning into beasts when they lose their humanity, but Peter Dronke is very critical, both of this lost source and of the possibility that Boethius might have believed in metempsychosis. Cf. Pierre Paul Courcelle: La Consolation de philosophie dans la tradition littéraire: Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967, p. 174. For the review see Peter Dronke, Speculum 44/1969, p. 126. I owe this reference to Gruber (note 7), p. 331.

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types themselves that distinguish the various kinds of animals”.24 What is much more striking in this passage is the idea that animals look down and men look up. Plato had alluded to it earlier (90b) when he talks about the three kinds of souls: And we should consider that God gave the sovereign part of the human soul to be the divinity of each one, being that part which, as we say, dwells at the top of the body, and inasmuch as we are a plant not of an earthly but of a heavenly growth, raises us from earth to our kindred who are in heaven.25

And he does so again when he describes the ‘race of wild pedestrian animals’ as having been created ‘from those who had no philosophy in any of their thoughts, and never considered at all about the nature of the heavens, because they had ceased to use the courses of the head, but followed the guidance of those parts of the soul which are in the breast’ (91e). Many later writers share this fascination with man’s posture. Cicero, in the De natura deorum, devotes a passage to it (II, 56), and so does Ovid in the Metamorphoses. The latter explains how God created man: ‘And, though all other animals are prone, and fix their gaze upon the earth, he gave to man uplifted face and bade him stand erect and turn his eyes to heaven’ (I, 8486).26 Humankind’s upright posture cannot be divorced, however, from its antithesis, as several later commentators stressed. Ambrose in the Hexaemeron (book 6, chapter 3) goes into some detail and points out that animals have their bellies extended and are incapable of standing erect, which is why they seek their sustenance on earth. Man, on the other hand, has a moral obligation to feed himself also [?] on higher things, a sentiment which we saw was also expressed in the admonitions at the very end of the Consolation: In the first place, nature has designed that every species of cattle, beast, and fish has its belly extended, so that some crawl on their stomachs. You may observe that even those animals that need the support of legs are, by reason of their fourfooted motion, part and parcel of the earth and thus lack freedom of action. They have, in fact, no ability to stand erect. They therefore seek their sustenance in the earth, solely pursuing the pleasures of the stomach toward which they incline. Take care not to be bent over like cattle. See that you do not incline—not so

_____________ 24 Mitchell Miller: "The Timaeus and the 'Longer Way': God-Given Method and the Constitution of Elements and Animals," in: Plato's Timaeus as Cultural Icon, ed. Gretchen J. Reydams-Schils, Notre Dame, Ind. 2003, p. 45. 25 All references are to Plato: The Collected Dialogues including the Letters, trans. E. Hamilton, ed. H. Cairns, Princeton, N.J. 1980, p. 1209. 26 pronaque cum spectent animalia cetera terram, / os homini sublime dedit caelumque videre / iussit et erectos ad sidera tollere vultus: Ovid: Metamorphoses, trans. F. J. Miller, ed. G. P. Goold, 2 vols., London 1977, pp. 8-9.

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much physically as they do, but morally. Have regard for the conformation of your body and assume in accordance with it the appearance of loftiness and strength. Leave to the animals the sole privilege of feeding in a prone position. Why, contrary to your nature, do you bend over unduly in the act of eating? Why do you feed on the things of the earth like cattle, intent on food both day and night? Why do you dishonor yourself by surrendering to the allurements of the body, a slave to the whims of appetite? Why do you deprive yourself of the intelligence with which the Creator has endowed you? Why do you put yourself on the level of beasts? To dissociate yourself from these was the will of God, when He said: 'Do not become like the horse and the mule who have no understanding.' [Ps. 31.9]27

Macrobius in his Commentary on the Dream of Scipio is even closer in spirit to the Consolation in his Neoplatonic musings on the nature and purpose of man. Taking the Delphic oracle’s adage ‘Know thyself’ as his starting point he interprets this to mean that man can only know himself if he looks back to his first beginning and origin. Realising its high beginnings the soul will then naturally tend towards virtue and live a life free from the impurities of the body. It will seem as if it never left the sky ‘which it has always kept in sight and thought’ (I, ix, 3; my emphasis). However, when a soul falls victim to the body and enslaves it, people abandon their reason and change into irrational beasts. After death their souls may then well enter the body of animals, choosing ‘the beast best suited to the sort of conduct it wilfully adopted in the man’ (I, ix, 5).28 A little later in book one Macrobius returns to this topic in which he further distinguishes between humans and animals:

_____________ 27 Sed vis ad usum hominis derivare quae genita sunt? Noli veritatem unicuique generi naturae propriae [0245D] denegare, et multo magis ea ad gratiam aptabis humanam. Primum quia omnia genera pecorum, bestiarum, ac piscium in alvum natura prostravit; ut alia ventre repant, alia quae pedibus sustinentur, demersa magis quadrupedi corporis gressu, et velut [0246A] affixa terris videas esse, quam libera. Siquidem cum erigendi se non habeant facultatem, de terra victum requirunt, et ventris in quem deflectuntur, solas sequuntur voluptates. Cave, o homo! pecudum more curvari. Cave ne in alvum te non tam corpore, quam cupiditate deflectas. Respice corporis tui formam, et speciem congruentem celsi vigoris assume. Sine sola animalia prona pascantur. Cur te in edendo sternis ipse, quem natura non stravit? Cur eo delectaris in quo naturae injuria est? Cur noctes et dies cibo intentus, pecorum more terrena depasceris? Cur illecebris corporalibus deditus, ipsum te inhonoras, dum ventri atque ejus passionibus deservis? Cur intellectum tibi adimis, quem tibi Creator attribuit? Cur te jumentis comparas, a quibus te voluit Deus [0246B] segregari dicens: Nolite fieri sicut equus et mulus, quibus non est intellectus (Ps. XXXI, 9)? (Patrologia Latina 14:245c-246b). The translation is in St Ambrose: Hexameron, trans. J. J. Savage: Hexameron, Paradise, and Cain and Abel (The Fathers of the Church 42), Washington 1985, p. 233. 28 The translations are based on A. T. Macrobius: Commentary on the Dream of Scipio, trans. and ed. William H. Stahl, New York 1966, p. 125.

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Accordingly, man possesses reasoning power and perceives and grows, and solely by his reasoning power has deserved precedence over the other animals, which, because they are always bent forward and have difficulty in looking upwards, have drifted away from the heavens, and which, because they have not received in any part of their bodies a likeness of divine shapes, have been allotted no share of mind and consequently lack reasoning power; only two faculties belong to them, sense-perception and growth. [I, xiv, 11]

With the discussion on posture we have now come full circle. If the four examples of which the cooped up bird and the Carthaginian lion were part illustrated the laws of nature and helped the prisoner remember his true nature which has its origin in heaven, the comparison of vices to animals has served to remind him of his likely destiny if he ignores his divine side. Man’s upright posture, finally, serves as a constant reminder of both his purpose on earth and his ultimate destiny. The animal world has helped Boethius develop the distinctions between the animal and the human in a more visual way than the philosophical arguments could ever do. It has also helped him to give coherence to the more didactic parts of his dialogue. That this was not lost on later generations is shown by the long and buoyant afterlife many of the images and the concepts themselves had in later medieval literature and thought.

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Figure 1: Ulysses escaping from Circe. Four of his companions are transformed into animals while retaining some of their human characteristics (see p. 253-254). Boethius. De consolatione philosophiae. Glasgow, University Library, MS. Glasgow, University Library, Hunter 279, fol. 45v. Northern England?, 12C. Photo: by permission of Glasgow University Library.

Hellwig – Vallinus – van Helmont/ Knorr von Rosenroth: Boethius’ Consolatio Philosophiae im Fadenkreuz einer konfessionalisierten Philologie

NICOLA KAMINSKI (Bochum) This study centres on three, rather three and a half, 17th century editions of Boethius’ Consolatio Philosophiae: two German translations, both of them published anonymously, by Johann Hellwig (Nuremberg 1660) and by Christian Knorr von Rosenroth and Franciscus Mercurius van Helmont (Sulzbach 1667); a Latin edition of Consolatio and Opuscula sacra by a certain Renatus Vallinus, printed 1656 in Leiden, which meets the utmost philological ambitions, being the basis of the second, but not the first, translation (though the first is acquainted with that edition as well); finally an extract of Consolatio in Nicolas Caussin’s Heiliger Hoffhaltung, published 1657 in German, which pretends to be a translation of Boethius. The paper tries to reconstruct the distinct confessional profiles of the four Consolatio editions and the filiations of their intertextual interactions in a field ranging from aggressive polemics to the eirenic utopia of a confessional simultaneum.

1. Stationen einer diskontinuierlichen Rezeption Boetius, oder Boethius, (Anicius Manlius Torquatus Severinus) war aus denen alten Familien derer Aniciorum und Torquatorum entsprossen, und an. 455 gebohren. Er studirte 18 Jahr zu Athen, laß den Aristotelem und andere Philosophos, insonderheit den Euclidem und Ptolemæum, und trieb dabey die Poesie. Er erlangte noch ziemlich jung die vornehmsten Ehren-Stellen, und wurde an. 487 Bürgermeister zu Rom, welche Würde er an. 510 zum andern, und an. 522 zum dritten und letztenmal, nebst Symmacho besaß. Er lebte in sonderbarem Ansehen, war auch bey derer Gothen Könige Theodorico vornehmster StaatsMinister. Weil aber dieser einen Argwohn wider den Rath geschöpffet hatte, als wenn derselbe mit dem Käyser Justino in einem heimlichen Verständniß lebte, so ließ er Boetium nach Pavia bringen, und nach 6 monathlicher Gefängniß den 23 Oct. an. 524 enthaupten, wiewohl einige meynen, es sey solches an. 526 geschehen, als Boetius 71 Jahr alt gewesen. Philippus Bergomensis Suppl. Chron. IX. p. 85. saget, es hätte Boetius diesen Todt auf Anregen derer Arianer erdulten müssen, und hielten einige davor, daß er deswegen in den Catalogum derer Heiligen ge-

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setzet, und Severinus Secundus genennet worden, es liege auch sein Leichnam zu Pavia in der Kirche des H. Augustini begraben. 1

So ist 1733 in dem von Johann Heinrich Zedler verlegten Grossen vollständigen Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste nachzulesen, dem Thesaurus schlechthin, wenn es um die Wissensbestände des vorausgegangenen Jahrhunderts bis in die eigene Gegenwart geht. Und speziell zur Consolatio, Boethius’ wirkungsmächtigstem Werk, wird nach Aufzählung seiner übrigen Schriften angemerkt, dieser „letztere Tractat“ sei „sonderlich sehr offt auffgeleget, und bey nahe in allen Sprachen, ins besondere aber von Christ. Knorr von Rosenroth ins Deutsche übersetzt“ worden.2 Dieser Eintrag, dem, sieht man von der etwas abenteuerlichen Chronologie ab,3 auch von modernem wissenschaftlichen Standpunkt aus ein im großen und ganzen historisch vertretbares Boethius-Bild wird attestiert werden können, läßt die Bewegtheit einer keineswegs linear und kontinuierlich verlaufenen Rezeptionsgeschichte nicht erahnen. In aller Selbstverständlichkeit wird Boethius als politisch exponierte Figur („vornehmster Staats-Minister“) und philosophisch interessierter Schriftsteller charakterisiert, der „dabey“ auch noch „die Poesie [trieb]“; von „Theologische[n] […] Wercke[n]“ ist neben den „Philosophische[n]“ nur beiläufig die Rede,4 daß Boethius Christ gewesen sei, wird nicht eigens gesagt. Die nach dem vielgelesenen Supplementum chronicarum des Augustinereremiten Jacobus Philippus Bergomensis von 1492/93 referierte Auffassung, „es hätte Boetius diesen Todt auf Anregen derer Arianer erdulten müssen“, sei also Opfer seiner katholischen Rechtgläubigkeit geworden, weswegen er als Märtyrer auch Aufnahme „in den Catalogum derer Heiligen“ gefunden habe, wird im lutherisch ausgerichteten Universal-Lexicon wie ein sektiererisches Ammenmärlein in indirekter Rede berichtet. Nichts deutet darauf hin, daß die abschließend empfohlene deutsche Übersetzung der Consolatio Philosophiae von Christian Knorr von Rosenroth ihrerseits konfessionell motiviert sein könnte. Gerade einmal sechsunddreißig Jahre trennen den

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Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Vierter Band, Bl-Bz, Halle-Leipzig 1733, Sp. 410f., s.v. ‚Boetius‘, hier Sp. 410. Ebd., Sp. 410f. Das beginnt bereits mit dem viel zu früh angesetzten Geburtsjahr (Boethius wurde um 480 geboren), welches aus einer Verwechslung mit seinem Vater resultiert, der im Jahr 487 römischer Konsul war. Im Jahr 522 war nicht Boethius („nebst Symmacho“) Konsul, sondern seine beiden noch nicht erwachsenen Söhne (namens Symmachus und Boethius) hatten das Konsulat inne. Vgl. Joachim Gruber: „Boëthius, Anicius Manlius Severinus“, in: Hubert Cancik / Helmuth Schneider (Hrsg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 2, StuttgartWeimar 1997, Sp. 719-723. Universal-Lexicon (Anm. 1), Bd. 4 (1733), Sp. 410.

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Lexikonband und die zweite, 1697 erschienene Auflage von Knorrs Consolatio-Übersetzung, die überhaupt erst den Namen ihres Übersetzers preisgibt.5 Die Auseinandersetzungen des Konfessionalismus können Anfang des 18. Jahrhunderts als beigelegt gelten, die Zeichen stehen auf Kontinuität, wo sie möglich scheint (insbesondere gegenüber antiken Texten und ihrer klassizistischen Rezeption), und überlegener Distanzierung des „vorigen Jahrhunderts“,6 wo es aufgeklärtem Selbstverständnis nicht zu genügen vermag. Und doch markiert die in erster Auflage 1667 unter dem umständlichen Titel Deß Fürtrefflichen Hoch-weisen Herrn Sever. Boetii weil. Burgermeisters zu Rom Christlich-Vernunfft-gemesser Trost und Unterricht / in Widerwertigkeit und Bestürtzung über dem vermeinten Wohl- oder Ubelstand der Bösen und Frommen herausgekommene Übersetzung,7 zusammen mit einer zweiten, bereits sieben Jahre zuvor veröffentlichten und bemerkenswert ähnlich betitelten Übertragung,8 einen rezeptionsgeschichtlichen Wendepunkt. Über andert-

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Des Fûrtrefflichen Hochweisen Severini Boetii, Weil. Bûrgermeisters zu Rom, Consolatio Philosophiæ, Oder Christlich-vernunfft-gemesser Trost und Unterricht in Widerwertigkeit und Bestûrtzung ûber dem vermeinten Wohl- oder Ubel-Stand der Bôsen und Frommen: Verteutschet, und Mit beygefügten kurtzen Anmerckungen ûber etliche dunckele Ort desselben zum andernmahl auffgeleget 1697. In Lüneburg bey Johann Georg Lippern zu finden. Zitiert wird nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Genaugenommen wird Knorr von Rosenroth hier nur als Übersetzer der Verspartien genannt, vgl. unten S. 278. Johann Christoph Gottsched: Lob- und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst, Martin Opitzen von Boberfeld, Nachdem selbiger vor hundert Jahren in Danzig Todes verblichen, zur Erneuerung seines Andenkens im Jahre 1739 den 20 August auf dem philosophischen Catheder zu Leipzig gehalten. Zitiert nach: Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur, Horst Steinmetz (Hrsg.), Stuttgart 1998, S. 212-238, hier S. 231. Deß Fürtrefflichen Hoch-weisen Herrn Sever. Boetii weil. Burgermeisters zu Rom ChristlichVernunfft-gemesser Trost und Unterricht / in Widerwertigkeit und Bestürtzung über dem vermeinten Wohl- oder Ubelstand der Bösen und Frommen / in Fünff Büchern / Verteutscht / und Mit beygefügten kurtzen Anmerckungen über etliche dunckele Ort desselben: Samt eigentlicher Lebens-Beschreibung deß Seligen Boëtii; Gedruckt in der Fürstl. Pfaltzg. Resid.Stadt Sultzbach / Durch Abraham Lichtenthaler / M. DC. LXVII. Zitiert wird nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Severini Boethii Christlich vernünftiges Bedenken / Wie man sich bey vordringendem Gewalt und Wohlergehen der Gottlosen / auch unrechtmässigem Leiden und Ubelgehen der Frommen zu trösten habe / Jn fünf Büchern verfasset / Dem Liebhaber der Teutschen Sprache zu Nutzen aus dem Latein übergesetzt; benebenst richtiger Beschreibung des Boëthii Lebenslaufes. Nürnberg / Gedruckt bey Christoff Gerhard / Jn Verlegung Johann Taubers. 1660. Zitiert wird nach dem Exemplar der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Auf den „auffällige[n] Gleichklang im Titel” macht bereits Guillaume

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halb Jahrhunderte lang hatte es im deutschen Sprachraum – nach einer Phase intensiver Rezeption im 15. Jahrhundert bis zum Jahr 1500 – keine volkssprachliche Übersetzung der boethianischen Trostschrift mehr gegeben;9 jetzt erscheinen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts innerhalb weniger Jahre in großer räumlicher Nähe (in Nürnberg und in Sulzbach) deren gleich zwei. In beiden firmiert, wie die Titelformulierungen anzeigen, die Consolatio Philosophiae ausdrücklich als christliches Werk: Christlich vernünftiges Bedenken 1660, Christlich-Vernunfft-gemesser Trost 1667. Angesichts dieses Befundes stellt sich zum einen die Frage nach der historischen Semantik einer derart diskontinuierlichen Rezeption und insbesondere nach der Symptomatik der das gesamte 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts umfassenden ‚Rezeptionslücke‘.10 Zum andern gilt es die beiden nach hundertsechzig Jahren übersetzerischer Abstinenz hervortretenden Verdeutschungen im Hinblick auf ihren spezifischen Entwurf von Boethius’ Trostargumentation im Zeichen ‚christlicher Vernunft‘ zu untersuchen. Den Ausgangspunkt soll dabei die Lektüre im konkret philologischen Sinn darstellen: zunächst der deutschen Ausgaben von 1660 und 1667, um von da aus zurückzugehen auf eine kurz zuvor, 1656, herausgekommene lateinische Ausgabe der Consolatio, welche mit dem Christlich vernünftigen Bedenken wie dem Christlich-Vernunfft-gemessen Trost eine signifikante Beziehung unterhält. Im einen Fall war sie nachweislich Vorlage der Übertragung; im andern hätte sie als Vorlage nahegelegen, ja wird augenscheinlich sogar nahegelegt und war es dann merkwürdigerweise doch nicht. Die leitende These der nachfolgenden Lektüre lautet: Die philologische Entscheidung für oder gegen diese lateinische Edition ist symptoma-

_____________ van Gemert: „Christian Knorr von Rosenroth und Boethius“, in: Morgen-Glantz 3/1993, S. 109-136, hier S. 117f., aufmerksam. 9 Einen Überblick über die übersetzerische Rezeption von Boethius’ Consolatio im Deutschen gibt Max Reinhart: „De Consolatione Philosophiae in Seventeenth-Century Germany: Translation and Reception“, in: Daphnis 21/1992, S. 65-94, bes. S. 6670; eine Liste der im 15. Jahrhundert erschienenen Consolatio-Übersetzungen, deren letzte in dritter Auflage im Jahr 1500 gedruckt wurde, findet sich auf S. 69. 10 Der Erklärungsversuch von Reinhart, ebd., S. 66, die Übersetzung der Consolatio sei gebunden an „moments of cultural and political self-reflection brought about by renewed encounters with antiquity and a reevaluation of the German language in light of Latin“, scheint mir historisch nicht hinreichend spezifisch formuliert. Zudem treffen gerade auf das humanistisch geprägte 16. Jahrhundert die genannten Kriterien in hohem Maße zu. Die speziell für die Zeit nach 1500 nachgereichte Begründung, „the universalist, irenic spirit of the Consolation“ habe „little resonance in confessionally torn Germany“ gefunden (S. 69), kommt, indem sie einen Zusammenhang zum Konfessionalismus herstellt, der Sache näher, bleibt aber, wie sich zeigen wird, immer noch zu allgemein.

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tisch; sie stellt, so nebensächlich sie sich in Anbetracht der relativ geringen Varianz des als quasi-kanonisch überlieferten boethianischen Textes ausnehmen mag, im jeweiligen Erscheinungskontext unter den Bedingungen des Konfessionalismus die Weichen für die je spezifisch ‚christliche‘ Positionierung der Consolatio.

2. Familienähnlichkeiten: Boethius’ Consolatio 1656, 1660, 1667 Boethius, im topischen Gestus des Melancholikers an einem dreibeinigen runden Tisch sitzend, zu seinen Füßen Bücher, ihm zur Rechten stehend eine Frauengestalt mit einem agraffeähnlichen  (für ) am Gewand und Büchern in der Hand, im Hintergrund des engen Raumes, den ein vergittertes Fenster als Kerker ausweist, ein paar junge Frauen, die den Laufpaß bekommen zu haben scheinen, über dem Ganzen eine Titelvignette: so zeigt es das Titelkupfer vor der deutschen Übersetzung, die im Jahr 1660 unter dem Titel Severini Boethii Christlich vernünftiges Bedenken / Wie man sich bey vordringendem Gewalt und Wohlergehen der Gottlosen / auch unrechtmässigem Leiden und Ubelgehen der Frommen zu trösten habe in Nürnberg herauskam (Abb. 1). Unschwer ist diese Illustration als die Eingangsszene der Consolatio zu identifizieren, wie sie die erste Prosa des ersten Buches entwirft: Auftritt der Philosophia bei dem elegisch sein Geschick beklagenden Boethius, Vertreibung der von ihr als „scenica[e] meretricula[e]“ beschimpften „poetica[e] Musa[e]“.11 So naheliegend die Wahl des Sujets ist, so wenig ist dadurch freilich schon die Ausführung des Kupferstichs im einzelnen präjudiziert:12 die Bildaufteilung, die Behandlung nicht bedeutungstragender Details wie des gemauerten Gewölbes, der Bücher zu Boethius’ Füßen, des Tischs mit den Wildläufen nachgebildeten drei Beinen (zumal der lateinische Text Boethius auf einem „lectul[um]“ ruhen läßt, auf dessen Rand Philosophia sich niedersetzt).13 Um so bemerkenswerter deshalb,

_____________ 11 Die Consolatio wird nach folgender Ausgabe zitiert: Anicii Manlii Severini Boethii Opera. Pars I: Philosophiae Consolatio, edidit Ludovicus Bieler, Turnhout 1962. Hier: I 1,7f. 12 Zum Bildtypus ‚Le dialogue entre Boèce et Philosophie‘ bzw. ‚Boèce, Philosophie et les Muses‘, allerdings in der vorausliegenden handschriftlichen Tradition bis zum 15. Jahrhundert, vgl. die von Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la Tradition Littéraire. Antécédents et Postérité de Boèce, Paris 1967 zusammengestellten Illustrationen Abb. 28-64. 13 Vgl. Consolatio I 1,14.

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Abb. 1: Titelkupfer zu Severini Boethii Christlich vernünftigem Bedenken, 1660 (Exemplar der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart: HB.2610)

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Abb. 2: Titelkupfer zu An. Manl. Sever. Boetii, Consolationis Philosophiæ Libri V. Ejusdem Opuscula Sacra auctiora, 1656 (Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen: Ce 66)

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Abb. 3: Titelkupfer zu Deß Fürtrefflichen Hoch-weisen Herrn Sever. Boetii weil. Burgermeisters zu Rom Christlich-Vernunfft-gemessem Trost, 1667 (Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Lh 115)

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daß die oben gegebene Bildbeschreibung zugleich auch auf das Titelkupfer der vier Jahre vor der Nürnberger Ausgabe in Leiden erschienenen lateinischen Consolatio-Edition eines Herausgebers namens Renatus Vallinus paßt,14 die kein eigenes Titelblatt hat, sondern überhaupt nur dieses Kupfer (Abb. 2).15 Und daß sie überdies auch noch auf das Titelkupfer der 1667 in Sulzbach veröffentlichten, zweiten deutschen Übersetzung zutrifft (Abb. 3). Eine Erklärung für diesen Befund auffälliger Familienähnlichkeit – für die 1667er Consolatio kann man regelrecht von Abkupfern sprechen – scheint auf der Hand zu liegen: Sowohl der Nürnberger als auch der Sulzbacher Übersetzer haben ihrer Übertragung jene kurz zuvor neu herausgekommene, editionsphilologisch sich empfehlende lateinische Ausgabe zugrundegelegt. Für diese Entscheidung konnte es gute Gründe geben. Zuallererst, wie angedeutet, philologische, insofern die von Vallinus vorgelegte Edition einen autoptisch und auf breiterer Überlieferungsgrundlage als bisher kritisch konstituierten Boethius bot. Das galt zum einen hinsichtlich des unter seinem Namen tradierten Textcorpus, denn Vallinus ediert nicht nur die Consolatio, sondern fügt ihr auf 67 Seiten auch noch „Boetii Opuscula Sacra“ an, und zwar nach Ausweis der Titelformulierung „auctiora“.16 „Iis autem omnibus recensendis“, so schreibt er mit Bezug auf die fünf Traktate in einer editorischen Vorbemerkung an den Leser, „nullum non studium impendimus, quo, collatis aliquot venerandæ antiquitatis exemplaribus emendatiores, suo primævo nitori redderentur.“ 17 Zum andern galt dies, zumal für die Mitte des 17. Jahrhunderts bereits in verschiedenen Ausgaben vorliegende Consolatio, auch hinsichtlich der Textqualität. Daß er die besten und ältesten Handschriften („optimos quosque codices“) für seine recensio habe heranziehen können, erklärt Vallinus zu Beginn seines Kommentars zur Consolatio, um sie sodann auf-

_____________ 14 An. Manl. Sever. Boetii, Consolationis Philosophiæ Libri V. Ejusdem Opuscula Sacra auctiora. Renatus Vallinus recensuit. & Notis illustravit. Lugd. Batavorum, Apud Franciscum Hackium. Ao. MDCLVI. Zitiert wird nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen. 15 Dazu genauer unten, S. 275. 16 Es handelt sich um fünf Traktate: I. De trinitate, II. Utrum pater et filius ac spiritus sanctus de divinitate substantialiter praedicentur, III. Quomodo substantiae, in eo, quod sint, bonae sint, cum non sint substantialia bona, IV. Brevis fidei Christianae complexio (= De fide catholica), V. De persona et natura, contra Eutychen et Nestorium. Zur Frage der Echtheit dieser theologischen Traktate vgl. Bieler (Anm. 11), S. IX. 17 Vallinus (Anm. 14), S. 146. Deutsche Übersetzung: ‚Diese [Traktate] alle kritisch zu edieren, haben wir keine Mühe gescheut, auf daß sie auf der Grundlage der Kollationierung etlicher Handschriften ehrwürdigen Alters in verbesserter Gestalt wieder in ihren ursprünglichen Glanz versetzt würden.‘

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zuzählen: „Ii fuere in Consol. Phil. duo manu exarati Sancti Victoris, duo ex biblioth. Thuana, iidemque vetustissimi: ex regia unus, itemque duo mei, sed recentiores. Græcus quoque eorundem librorum codex, quos Græcè interpretatus est Maximus Planudes, ex ead. bibliot. regia. ex Editis verò, Florentinus anni M.D.XIII. & alius quivis optimus.“18 Bis heute hat die Edition des Vallinus in der Boethius-Philologie einen guten Namen.19 Darüber hinaus konnte es auch konfessionelle Gründe geben, sich für die Boethius-Ausgabe des Renatus Vallinus zu entscheiden. Die Option der Verdeutschung lateinischer Texte unterlag seit Martin Luthers Bibelübersetzung, verstärkt aber noch und mit gelehrtem Kunstanspruch seit Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey 1624 einer spezifischen konfessionellen Codierung, derzufolge das durch die Lutherbibel zur überregionalen Hochsprache avancierte ‚Lutherischdeutsche‘ als protestantische Konfessionssprache zu decodieren ist und auch decodiert wurde.20 Im Horizont dieser konfessionellen Motivierung literarischen Schreibens „in

_____________ 18 Ebd., Notae, S. 3. Deutsche Übersetzung: ‚Dies waren für die Consolatio Philosophiae zwei Handschriften von St. Viktor, zwei aus der Bibliotheca Thuana, und zwar von höchstem Alter; ferner eine aus der königlichen Bibliothek sowie zwei in meinem Besitz, jedoch jüngeren Datums. Hinzu kommt noch ein griechischer Kodex ebendieser Bücher, die Maximus Planudes ins Griechische übersetzt hat, ebenfalls aus der königlichen Bibliothek. Von den gedruckten eine in Florenz 1513 erschienene Ausgabe und sonst die führenden Editionen.‘ 19 So wird Vallinus’ Ausgabe (neben zwei weiteren frühneuzeitlichen Editionen von 1581 und 1607) noch bei Bieler (Anm. 11), S. XXVIII, aufgeführt und durchgängig zur kritischen Diskussion und Konstitution des Textes mit herangezogen. Claudio Moreschini: „Praefatio“, in: Boethius: De consolatione Philosophiae. Opuscula theologica. Editio altera, edidit Claudio Moreschini, München-Leipzig 2005, S. V-XVIII, hier S. XVII, charakterisiert sie als „editio optima ante Teubnerianam Rudolphi Peiperi (Lipsiae, 1871)“. Vgl. auch Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius de consolatione Philosophiae, Berlin-New York 1978, S. 14: „Unter den Editionen des 17. Jh. wird besonders die des Renatus Vallinus (Leiden 1656 und 1671) bekannt.“ Bedauerlicherweise hat Gruber den betreffenden Abschnitt unter der Überschrift „Überblick über die Forschungsgeschichte zur Consolatio Philosophiae“ in die zweite Auflage seines Kommentars (Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De consolatione Philosophiae, 2., erweiterte Auflage, Berlin-New York 2006) nicht übernommen; das statt dessen hinzugekommene Kapitel „Die Consolatio im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“ (S. 47-49) reicht nicht bis ins 17. Jahrhundert. 20 Vgl. Heribert Raab: „‚Lutherisch-Deutsch‘. Ein Kapitel Sprach- und Kulturkampf in den katholischen Territorien des Reiches“, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47/1984, S. 15-42. Zur konfessionellen Codierung deutschsprachiger gelehrter Dichtung im 17. Jahrhundert ausführlich Nicola Kaminski: EX BELLO ARS oder Ursprung der „Deutschen Poeterey“, Heidelberg 2004.

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unsere[r] liebe[n] Teutsche[n] Heldensprach“21 sind, wie sich noch zeigen wird, auch die beiden Übersetzungen von 1660 und 1667 zu lesen. Was lag da näher, als eine jüngst im niederländischen Leiden, einer der prominentesten protestantischen Verlagsstädte, bei dem renommierten calvinistischen Verleger Franciscus Hackius erschienene Ausgabe zu verwenden? Zumal die Consolatio-Editionen des 16. Jahrhunderts überwiegend in katholischen Verlagsorten herausgekommen waren, in Köln, Mainz, Freiburg oder Wien.22 Allerdings stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, daß die Evidenz der miteinander verwandten Titelkupfer und die prima facie so einleuchtenden Gründe für eine Vorlagenentscheidung zugunsten der Ausgabe des Vallinus, wenigstens partiell, trügen. In Wahrheit sind die Familienverhältnisse komplizierter. Während nämlich die Sulzbacher Übersetzung ganz fraglos auf Vallinus’ Edition von 1656 zurückgreift,23 nicht nur das Titel-

_____________ 21 Christlich vernünftiges Bedenken (Anm. 8), Zuschrift, fol. )(vjr. 22 Diese Angaben stützen sich auf den VD 16. Von 1600 an lassen sich allerdings für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts auch eine Reihe niederländischer Boethius-Ausgaben feststellen, vgl. die Angaben bei Daniel Georg Morhof: Polyhistor Literarius, Philosophicus et Practicus. Cum accessionibus a Johannes Frick et Johannes Moller. Editio quarta, cui praefationem praemisit Johann Albert Fabricius, notitiamque diariorum litterariorum Europae, nunc auctam et ad a. 1747 continuatam a J. Joachim Schwab, Neudruck Aalen 1970, T. 1, S. 917. 23 Textkritisch stellt das besonders deutlich ein Passus aus der sechsten Prosa des vierten Buches unter Beweis, in den ein griechisches Zitat eingeschaltet ist. Der Christlich-Vernunfft-gemesse Trost (Anm. 7), S. 218, gibt die Übersetzung, „Dann wie ein Fürtrefflicherer als ich gesagt hat / eines weisen Manns leib ist ein himmlisch gebäue / und gleichsam unzerstörlich“, die aus dem bei Vallinus (Anm. 14), S. 111, edierten Text („Nam ut quidam me quoque excellentior ait,          

 .“) nicht nachzuvollziehen ist. Eher schon scheint aus diesem Text die Übersetzung des Christlich vernünftigen Bedenkens (Anm. 8), S. 214, ableitbar: „Dann wie ein Höherer als ich gesprochen / daß eines heiligen Mannes Leib auch die Tugenden erbauen.“ Der Sachverhalt klärt sich jedoch, wenn man Vallinus’ textkritische Diskussion der Stelle (Notae, S. 111) hinzunimmt, die ganz offenkundig von der Sulzbacher Übersetzung verwendet wurde. Vallinus erklärt zunächst den von ihm gebotenen überlieferten Text für korrupt („locum esse corruptum nemo diffiteri potest“; ‚daß die Stelle korrupt ist, kann niemand in Abrede stellen‘) und schlägt sodann auf der Grundlage der Überlieferungen zwei alternative Emendationen vor: „        

  , Viri sacri corpus æther ædificavit. Seu, quod similius vero est,          

  .“ Zur Erläuterung fährt er fort: „Nemini enim ignotum, ætheris seu cæli substantiam, hoc est materiam, incorruptibilem à plerisque philosophis censeri. ac consequens esse, corpus naturale, quod eisdem qualitatibus præditum sit, nullis posse morbis corporeis tentari. Quæ, ut apparet, vera scriptura est hujus loci.“ (‚Jeder weiß nämlich, daß die Substanz, d.h. die Materie, des Äthers oder

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bild und ein nach einer römischen Marmorstatue gestochenes Portrait des Boethius abkupfert, sondern auch die dem Text der Consolatio vorangestellte Vita des Boethius sowie die den einzelnen Büchern beigegebenen Argumenta des Herausgebers aus dem Lateinischen ins Deutsche überträgt, ja in den Kommentarnoten sogar explizit auf „deß gelehrten Vallini Anmerckungen“ verweist,24 legt die Nürnberger Übersetzung nach Ausweis der Varianten einen anderen lateinischen Text zugrunde. 25 Das wäre, für sich genommen, noch nicht weiter auffällig, signalisierte nicht eben das Titelkupfer, wenn nicht Verwandtschaft mit, so doch Kenntnis der von Vallinus veranstalteten Consolatio-Ausgabe. Wozu aber die Referenz auf eine Edition, die dann gerade keine Verwendung findet?

_____________ Himmels von den meisten Philosophen für unzerstörbar gehalten wurde. Woraus sich folgern lasse, daß ein natürlicher Körper, der durch eben diese Eigenschaften ausgezeichnet ist, durch keine körperlichen Krankheiten angegriffen werde. Das ist allem Anschein nach der wahre Wortlaut der Stelle.‘) 24 Christlich-Vernunfft-gemesser Trost (Anm. 7), fol. Mvijv. Den Hinweis auf die Vallinus-Referenz in der Übersetzung von 1667 verdanke ich Frau Monika Chmielecki, die 2005/06 bei mir in Bochum als Hilfskraft mit der elektronischen Erfassung der beiden Consolatio-Übersetzungen zur Vorbereitung einer Neuedition betraut war. 25 Vgl. etwa die sechste Prosa des dritten Buches: Im Christlich vernünftigen Bedenken (Anm. 8) heißt es S. 120f.: „Wann aber / wie ich vormals erwehnet / beweislich viel Völker sind / zu welchen allen eines einigen Menschen Gerüchte nicht gelangen kan / so geschicht / daß der / den du hochrühmlich achtest / auch in der nechsten grentze noch nicht achtbar worden ist.“ Die Nürnberger Übersetzung legt demnach den lateinischen Text „Sed cum, uti paulo ante disserui, plures gentes esse necesse sit ad quas unius fama hominis nequeat peruenire, fit ut quem tu aestimas esse gloriosum proxima parte terrarum uideatur inglorius“ zugrunde. Demgegenüber übersetzt der Christlich-Vernunfft-gemesse Trost (Anm. 7), S. 135: „Weiln aber / wie ich kurtz vorher gemeldet / nohtwendig viel Völcker seyn müssen / zu denen eines einigen Menschen nam und gerücht nicht einmal hat kommen können: so folgt dann / daß der jenige / den du für sehr gelobt und ruhmwürdig schätzest / in dem grösten theil der Welt ohn alles lob / ja nicht einmal bekannt sey.“ Entsprechend bietet Vallinus’ Ausgabe (Anm. 14), S. 60, an der markierten Stelle den Text „pro maxima parte terrarum“, eine Variante, die er im Variantenverzeichnis (Notae, S. 108) ausdrücklich als Fortschritt gegenüber den bisherigen Editionen hervorhebt: „Pro maxima parte] Hactenus editi & T. II. [= die beiden Handschriften aus der Bibliotheca Thuana] habebant proxima. sed lectionem cod. V. 2 & R. [= Victorinus secundus und Regius] sequi maluimus, ut è quibus hauritur sensus præstantior.“

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3. Who is who? Herausgeber und Übersetzer 1656, 1660, 1667 Zwar wird bis ins 20. Jahrhundert hinein die Boethius-Edition des Renatus Vallinus textkritisch ernstgenommen, doch scheint ihr Herausgeber ein Unbekannter zu sein. In Zedlers Universal-Lexicon findet man die lapidare, noch nicht einmal auf die Erstausgabe zurückführende Auskunft: „Vallinus, (Renatus) schrieb Noten zu des An. Manl. Sever. Boethii opusculis sacris, welche nebst des Joh. Bernartii und Theod. Sitzmanni seinen, ingleichen mit einer Präfation des Petri Bertii zu Leyden 1671. in Octav herausgekommen.“26 Im zweiten Teil von Daniel Georg Morhofs Polyhistor sive De notitia auctorum et rerum commentarii 27 wird ebenfalls die „editio […] Operis de consolatione Philosophiæ, Lugdun. Batav. ex officina Hackiana, anno 1671. in 8vo, cum integris notis Sitzmanni & Vallini“ empfohlen,28 hier immerhin als Ausgabe gewürdigt, ohne daß jedoch weitere Worte über den ursprünglichen Alleinherausgeber verloren würden. Nicht einmal sein voller Name fällt. Statt dessen wird in einer unmittelbar daran anschließenden Fußnote ein ausführliches Loblied auf die 1667 anonym erschienene Sulzbacher Consolatio-Übersetzung gesungen, deren ungenannt bleibenden Übersetzer Christian Knorr von Rosenroth Morhof namhaft macht.29 Daß Knorrs Ausgabe sich auf Vallinus’ Text stützt, wird nicht

_____________ 26 Universal-Lexicon (Anm. 1), Bd. 46 (1745), Sp. 388. 27 So der Titel der 1688 in Lübeck erschienenen Erstausgabe, die Morhof nur noch teilweise selbst ausarbeiten konnte. Hier wird nach der vierten Auflage 1747 zitiert (vgl. Anm. 22). 28 Morhof (Anm. 22), T. 2, S. 54. Wie im Universal-Lexicon wird auch hier Knorr als alleiniger Übersetzer gehandelt, vgl. aber unten S. 278. 29 Ebd.: „Non possum h. l. laude defraudare debita, quam ingenti cum delectatione, per multos jam annos, volvi ac revolvi, metaphrasin librorum Boëthii de Consolatione Philosophiæ Germanicam, longe elegantissimam, quæ     Solisbaci an. 1667. in 12mo prodiit, Autorem vero agnoscit virum illustrem, & omnigena eruditione famam adeptum jampridem immortalem, Christ. Knorrium a Rosenroth, Silesium, Ministrum Aulæ Solisbacensis principem. Hanc certe, tum ob prærogativas alias haud vulgares, tum ob metra vernacula, Boëthianis ferme superiora, & nulli non Poëtarum Germaniæ modernorum palmam venustatis ingeniosæ, inque Autoris mente accurate exprimenda felicissimæ, dubiam redditura, omnibus aliis Boëthii versionibus cum Chr. Henr. Passelio (in Observat. in Periocham de Junonis calliditate Homericam p. 480.) præferre nullus dubito.“ (‚Ich kann an dieser Stelle verdientes Lob nicht unterdrücken: Mit welch großem Vergnügen habe ich schon seit vielen Jahren wieder und wieder die überaus elegante deutsche Übersetzung der Bücher des Boethius über den Trost der Philosophie gelesen, die anonym im Jahr 1667 in Sulzbach in Duodez erschienen ist, als ihren Autor jedoch den berühmten und für seine allseitige Bildung bekannten, ja längst unsterblichen Schlesier Christian Knorr von Rosenroth, ersten Minister im Dien-

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gesagt, stellt aber das missing link zwischen Haupttext und Fußnote dar. Fast hat es den Anschein, als sollte der Boethius-Herausgeber Renatus Vallinus, den keines der gängigen Gelehrtenlexika oder Kompendien des 17. und 18. Jahrhunderts kennt, der außer dieser einen Ausgabe keinerlei Lebensspuren hinterlassen zu haben scheint und den folgerichtig auch spätere biographische Nachschlagewerke nicht führen, dem Vergessen anheimgegeben werden. Wer also ist Renatus Vallinus? Der Ausgabe von 1656 sind allenfalls Indizien zu entnehmen, die auf die Identität des Herausgebers hindeuten könnten. Und zwar interessanterweise einander widersprechende. Läßt die Entscheidung für die renommierte Officina Hackiana, ein calvinistisches Verlagshaus, das zu „Leiden’s leading publishers in the seventeenth century in scholarly text book and editions of the classics“ gehörte,30 auf einen Gelehrten im Umkreis der Universität Leiden oder doch jedenfalls aus den calvinistischen Provinzen der nördlichen Niederlande schließen, so weisen die Handschriften, auf welche Vallinus – neben seinen eigenen – sich für seine Edition stützt, nach Frankreich: die „biblioth[eca] Thuana“, seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts in Paris zusammengetragen von JacquesAuguste de Thou,31 wird als Referenz genannt, ferner (wohl ebenfalls in Paris) die „bibliot[heca] regia“ sowie die Abtei St. Victor.32 Ein katholischer französischer Gelehrter also, womöglich ein Geistlicher? Daß man über die neue Boethius-Edition in der gelehrten Welt bereits bei ihrem Erscheinen gerätselt hat, zeigt ein Brief von Jacques Dupuy, Bibliothekar der Bibliotheca Thuana in Paris, an Nicolas Heinsius, Sohn des Daniel Heinsius und wie sein Vater klassischer Philologe, nach Amsterdam vom 27. Oktober 1656, in dem Dupuy Heinsius wissen läßt, der Pariser Buch-

_____________ ste des Sulzbacher Hofes, erkennen läßt. Diese Übersetzung zögere ich keinen Moment mit Christian Heinrich Passelius (in seinen Beobachtungen zur homerischen Inhaltsangabe über die Raffinesse der Juno) allen anderen Boethiusübersetzungen vorzuziehen, sowohl wegen anderer ungemeiner Vorzüge als auch wegen der volkssprachlichen Metra, die die boethianischen bei weitem übertreffen und jedem modernen deutschen Dichter hinsichtlich ihrer geistreichen Anmut wie der Sorgfalt, mit der sie das vom Autor Gemeinte überaus glücklich zum Ausdruck bringen, den Siegespreis streitig zu machen vermögen.‘) 30 Briefliche Auskunft von Herrn Prof. Dr. Paul G. Hoftijzer, Department of Book and Digital Media Studies, Universität Leiden, dem ich herzlich für diese und weitere Informationen zum Verleger Franciscus Hackius danke. 31 Zur Bibliotheca Thuana vgl. Johannes Willms: Bücherfreunde, Büchernarren. Entwurf zur Archäologie einer Leidenschaft, Wiesbaden 1978, S. 96-114. 32 Vallinus (Anm. 14), Notæ ad Boetii Libros V. Consolationis Philosophiæ, S. 3 (neue Paginierung). Im Handschriftenverzeichnis vor dem Variantenapparat wird die Provenienz des ersten der Codices Victorini explizit benannt: „Victorinus primus, è biblioth. S. Victoris Paris“ (Notae, S. 103).

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händler Joly habe ihm über seine Handelsverbindungen in die Niederlande die elegant gedruckte Boethius-Ausgabe des Vallinus besorgt. „Je voudrois scavoir“, fährt Dupuy fort, „quel est ce nouveau critique qui commence a paroistre.“33 Auf Umwegen und inkognito gelangte Vallinus’ Boethius so an seinen Entstehungsort zurück; und zwar, wie mir der Zufall, der mir ein besonderes Exemplar der Ausgabe in die Hände gespielt hat, festzustellen erlaubt, in gleichsam offiziöser Institutionalisierung. Denn zwar weist im Regelfall Vallinus’ Edition nur den oben (Abb. 2) abgebildeten Kupfertitel auf.34 Das in meinen Besitz gelangte Exemplar besitzt jedoch ein zusätzliches Titelblatt mit einer aufschlußreichen Angabe zu Verlag und Vertrieb: „Lugd. Batauorum, & veneunt. PARISIIS, Apud THOMAM IOLLY, viâ veteris enodationis iuxta terminum Pontis diui Michaëlis, sub signo Scuti Hollandici. M. DC. LVI.“35 Thomas Joly, der von Dupuy erwähnte Pariser Buchhändler, hatte die in Leiden herausgekommene Boethius-Ausgabe offenbar noch im Erscheinungsjahr in Kommission genommen. Die Ausgabe selbst deutet in ihrem paratextuellen Arrangement gleichfalls eher auf katholische Provenienz. Zwar motiviert die dem Text der Consolatio vorangestellte Vita, die sich bestens informiert zeigt und die politischen Umstände der letzten Regierungsjahre des Ostgotenkönigs Theoderich differenziert nachzeichnet, den Tod des Boethius keineswegs martyriologisch, auch wird er an keiner Stelle als katholischer Glaubenskämpfer gegenüber dem arianischen König profiliert; vielmehr läßt Vallinus Boethius’ Gefangensetzung und Hinrichtung aus einer macht- und kirchenpolitisch hochgradig aufgeladenen Atmosphäre voller Mißverständnisse, Verschwörungsangst, Gerüchte und Verleumdungen resultieren. Gleichwohl ist eine vorsichtig katholische Perspektivierung der Darstellung zu beobachten.36

_____________ 33 Johannes Alphonsus Henricus Bots: Correspondance de Jacques Dupuy et de Nicolas Heinsius (1646-1656), Den Haag 1971, S. 215. Den Hinweis auf diesen Brief verdanke ich Paul G. Hoftijzer (Leiden). 34 Darauf deuten auch die entsprechenden Einträge im Karlsruher Virtuellen Katalog hin. 35 Deutsche Übersetzung: ‚[Herausgekommen in] Leiden und zu verkaufen in Paris, bei Thomas Joly, in der Straße der alten Entwicklung am Ende der Brücke des Hl. Michael, unter dem Bild des Holländischen Schildes 1656.‘ 36 Etwa wenn der hingerichtete Boethius mit dem ebenfalls durch Theoderich zu Tode gebrachten Papst Johannes I. parallelisiert wird, dessen Leichnam „honore ac cultu, quo martyres solent, ab Clero populoque […] Romae“ (‚mit der für Märtyrer üblichen kultischen Verehrung vom Klerus und vom Volk in Rom‘) empfangen worden sei. „Quod ne Boëtii ac Symmachi, eadem palma donatorum, corporibus contingeret“, so heißt es, freilich unter negativen Vorzeichen, weiter,

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Daß die durch die Handschriften gewiesene Fährte ins katholische Frankreich die richtige ist, erlauben erst die erweiterten Recherchemöglichkeiten, wie das Internet sie inzwischen bietet, sicherzustellen.37 Rena-

_____________ „ea rex sedulo abscondi jussit“ (Vallinus, Anm. 14, fol. *7r; ‚damit solches nicht auch den Körpern des Boethius und des Symmachus, die mit derselben Auszeichnung beschenkt worden waren, widerfuhr, befahl der König sie sorgsam zu verbergen‘). Oder wenn am Ende der Vita von dem Heiligenkult berichtet wird, der sich im Laufe der Jahrhunderte von katholischer Seite an die beiden Hingerichteten geknüpft habe. Einerseits bezeichnet Vallinus diese Verehrung in identifikatorischem Sprechgestus als Tradition der „nostri“: „Extinctus uterque divinos honores à nostris consecutus est: & Boëtii quidem hodie quoque Ticini X Calend. Novembris; quemadmodum & Ravennæ Symmachi V Calend. Junii memoriæ celebrantur“ (‚Nach ihrer Hinrichtung wurden beide von den Unsrigen als Heilige verehrt: und zwar wird das Gedächtnis des Boethius bis zum heutigen Tage in Pavia am 23. Oktober gefeiert ebenso wie das des Symmachus am 28. Mai in Ravenna‘); andererseits wird die Begründung dafür in verhaltener Distanzierung dann doch nur in indirekter Rede gegeben: „quod pro Catholicis contra perfidiam Arii mortem sustinuerint“ (fol. *7v; ‚weil sie für die Katholiken gegen den Unglauben der Arianer den Tod auf sich genommen hätten‘). Ähnlich behutsam werden im Anschluß an die Consolatio, zu deren philosophischer versus theologischer Situierung Vallinus sich nicht äußert, die kürzeren theologischen Traktate katholisch kontextualisiert. Ausdrücklich in der Vorbemerkung an den Leser erwähnt ist deren nur einer, der hier zum erstenmal im Druck vorgelegt wird und zugleich im Hinblick auf die Echtheitsfrage am umstrittensten ist: die Confessio fidei. Eine Begründung für die Aufnahme seitens des Herausgebers wird nicht gegeben (sie folgt erst im Stellenkommentar, und zwar aufgrund philologischer Argumente, vgl. Notae, S. 98: „Opusculum hoc, quod nunc primum publici juris facimus, Boëtii esse, ipse orationis stylus & mysteriorum religionis Christianæ series compendiosa sic confirmant, ut addere minimè necesse sit, exstare ejus nomine illud in meo, Fossatensi, Regio & S. Victoris codicib. ut eos taceam ex quibus idem jam olim monuerat Tritemius, qui librum de Fide vocat.“; ‚daß dies kleine Werk, das wir hier zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorlegen, Boethius zuzurechnen ist, bezeugen schon der Stil und die umfängliche Reihe von Geheimnissen der christlichen Religion derart deutlich, daß es fast unnötig ist hinzuzufügen, daß es in meinem, dem Kodex aus Saint-Maur-les-Fossés, dem königlichen und dem Viktoriner Kodex unter seinem Namen überliefert ist; ganz zu schweigen von denen, nach denen vor langer Zeit schon Tritemius es für ihn reklamiert hatte, der das Buch De Fide nennt‘); statt dessen wird die unterstellte Schreibmotivation des Boethius genannt: „eo fine, ut, more tum inter magnos viros recepto, testatiorem faceret suam fidem Boëtius, suamque cum Ecclesia Catholica communionem“ (S. 147; ‚zu dem Zweck, nach der damals unter großen Männern üblich gewordenen Art seinen Glauben und seine Gemeinschaft mit der katholischen Kirche augenscheinlicher darzutun‘). 37 Selbst dann freilich bedarf es einiger Findigkeit, denn gängige Suchinstrumente wie der Karlsruher Virtuelle Katalog oder bio-bibliographische Datenbanken wie der World Biographical Index kennen Renatus Vallinus nicht oder nur insoweit, als er als

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tus Vallinus Nannetensis, René Vallin de Nantes, heißt demnach der geheimnisvolle Boethius-Herausgeber, ein „prêtre de Nantes“, der für das Jahr 1617 in den Notes historiques de l’Abbé Trochu als „aumônier et chapelain ordinaire du roi et de surplus chanoine de la cathédrale de Nantes“ bezeugt ist und 1671, wohl in hohem Alter, auf seinem Gut Chevasné starb.38 Spuren scheint er vor allem als Besitzer alter Handschriften hinterlassen zu haben. 1656 schenkte er dem Kloster Notre-Dame in Paris seine lateinischen Handschriften, hundert Jahre später bot das Kloster Ludwig XV. seinen Bestand an, der ihn in die Bibliothèque Impériale, die spätere Bibliothèque Nationale de France (BNF), einreihte.39 Über den Handschriftenkatalog der BNF läßt sich Vallinus als Vorbesitzer von elf Handschriften theologisch-philosophischen Inhalts ermitteln, darunter Ciceros Somnium Scipionis mit den Erläuterungen des Macrobius, verschiedene Schriften von Augustinus und eben auch Boethius’ Traktat „de Trinitate, cum commento Gilberti“.40 Editorisch ist der Kanonikus Vallin offenbar nur mit seiner Boethius-Ausgabe an die Öffentlichkeit getreten, mit deren Erscheinen im niederländischen Leiden (und nicht oder nur vermittelt in Paris) entgegen der Erwartung Dupuys nicht ein „nouveau critique […] commence a paroistre“,41 vielmehr sein gelehrtes Lebenswerk vollbracht scheint und er sich seines Handschriftenbesitzes entäußert.

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Herausgeber eben jener Boethius-Ausgabe firmiert. Weiterzuhelfen vermochte allein die Suchmaschine Google Books (http://books.google.de), die auf eine Reihe von digitalisierten Büchern führt, in denen Renatus Vallinus bzw. René Vallin genannt wird. Diese Einsicht sowie die daraus resultierenden Rechercheergebnisse verdanke ich der engagierten Unterstützung von Herrn Dr. Joachim Eberhardt, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, der nicht nur selbst nach Vallinus geforscht, sondern auch eine entsprechende Anfrage an die Bibliothèque Nationale de France gerichtet hat. Dafür danke ich sehr herzlich. Nachlesen lassen sich Eberhardts Ergebnisse inzwischen im Internet unter dem Titel „René Vallin – eine Recherche“ unter folgender Adresse: http://philobar.blogspot.com/search/ label/Ren%C3%A9%20Vallin (Stand 22.12.2008). Quelle: http://chouannerie.chez-alice.fr/textes/hdr_03_haut_rocher.htm, 28.12. 2007. Léopold Victor Delisle: Le Cabinet des Manuscrits de la Bibliothèque Impériale, Bd. 1, Paris 1868 (Nachdruck Hildesheim-New York 1978), S. 431 mit Anm. 9 und 10 und S. 426. Vallinus wird als Vorbesitzer der Mss. latins 11227, 16859, 16860, 17403, 17409, 17447, 18067, 18093, 18122, 18222 und 18421 genannt. Vgl. die entsprechenden Nummern in Léopold Victor Delisle: Inventaire des manuscrits latins conservés à la Bibliothèque Nationale sous les numéros 8823-18613, Paris 1863-1871 (Nachdruck Hildesheim-New York 1974). Der Boethius-Titel findet sich unter der Nr. 18093. Bots (Anm. 33), S. 215.

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Wie gelangt Vallinus’ Boethius wenige Jahre darauf nach Nürnberg und Sulzbach? Auch die deutschen Consolatio-Ausgaben halten sich, was die Identität ihrer Herausgeber respektive Übersetzer angeht, bedeckt. Die Sulzbacher Übersetzung von 1667, auch sie erschienen bei einem calvinistischen Verleger,42 nennt ihre(n) Übersetzer überhaupt nicht beim Namen, spricht nur in einem mit „E. G. V.“ (‚Euer Gnädiger Vater‘) 43 unterzeichneten, an seine „Liebe[n] Kinder“ gerichteten Vorwort von „eine[m] verständigen und wohlgeübten Mann / (welcher Euch so wohl / als der / dem die Verse in saubere Art zu übersetzen angelegen gewesen / bekant)“.44 Erst die zweite Auflage von 1697 scheint sich einer breiteren Rezeption in nicht mehr allein familiärem Rahmen zu öffnen, wenn hier ein Vorredner namens Franciscus Mercurius van Helmont als Übersetzer der „Lateinischen Verse in Teutsche Reimen“ Christian Knorr von Rosenroth namhaft macht und den Schluß nahelegt, für die Prosapartien sei er selbst federführend gewesen.45 Mit Knorr von Rosenroth und van Helmont, den bedeutendsten Gelehrten am Sulzbacher Hof des Pfalzgrafen Christian August in den 1650er und 1660er Jahren, aber erwächst der Consolatio-Übersetzung gerade unter konfessionellen Gesichtspunkten ein signifikantes Profil. Denn so grundprotestantisch das Anliegen der Verdeutschung, der ‚Erledigung‘ „unsere[r] Teutsche[n] Sprach auß der Mönichen Bann“,46 seit Luther codiert ist: im Sulzbacher Übersetzungspro-

_____________ 42 Vgl. dazu unten S. 296 mit Anm. 102-104. 43 Zur bereits zeitgenössischen Auflösung der Abbreviatur als ‚Euer gnädiger / getreuer Vater‘ vgl. van Gemert (Anm. 8), S. 116, Anm. 32. 44 Christlich-Vernunfft-gemesser Trost (Anm. 7), S. 5. 45 Der entsprechende Passus der von „Franciscus Mercurius von Helmont“ am „9. Junij 1696“ unterzeichneten unpaginierten Vorrede zur zweiten Auflage (Anm. 5) lautet: „Deswegen ich vor vielen Jahren schon jemand gesuchet, der in allen Stûcken, ohne Zusatz oder Abgang, eigentlich nach des Urhebers Meinung, besagte Verse oder Reimen geben möchte: endlich auch zu Sultzbach in der Obernpfaltz, einen in aller Philosophischen Wissenschafft wohl erfahrnen Mann, Herr Christian Knorrn von Rosenroth, angetroffen, welcher nicht allein die Lateinischen Verse in Teutsche Reimen auff mein Ansuchen zu ûbersetzen auff sich genommen, sondern auch so glûcklich darin gewesen, daß viele verstândige Leute zwischen dem Grund-Text und der Ubersetzung keinen Unterscheid gefunden, und dafür gehalten, man möchte mit Fug urtheilen, daß wenn beyde zu gleicher Zeit herfür kommen, zu zweiffeln gewesen seyn würde, welches der Ursprung, und welches vom andern genommen, oder welchem der Vorzug gebühre.“ 46 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Irmgard Böttcher (Hrsg.), III. Teil, Tübingen 1968 (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1643), S. 60 (alte Paginierung), „CIX. Vom Dolmetschen“. Kurz vor dieser konfessionalisierenden Rückführung der „Dolmetschung“ auf Luther wird unter den Übersetzungsdesideraten an erster Stelle „Boethius“ genannt (ebd., S. 59).

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jekt treffen ein wenig orthodoxer Protestant (Knorr), ein unorthodoxer Katholik (van Helmont) und ein vom orthodoxen Luthertum zu einem liberalen Katholizismus Konvertierter (Christian August) aufeinander. Zugleich nimmt unversehens der Weg der lateinischen, ihrerseits konfessionell zweideutig codierten Boethius-Ausgabe von Leiden nach Sulzbach Kontur an; war der in den spanischen Niederlanden geborene, zeitlebens ein Wanderleben führende van Helmont zum Übermittler nicht nur über nationale, sondern womöglich auch über konfessionelle Grenzen hinweg doch nachgerade prädestiniert.47 Wie der Nürnberger Übersetzer, auch er quasi-anonym, mit der Consolatio-Edition des Vallinus in Kontakt gekommen ist, wovon das Titelkupfer so sinnfällig zeugt, ohne daß die Ausgabe doch letztlich verwendet worden wäre, ist weniger stringent zu rekonstruieren. Eher schon läßt sich vermuten, welche Gründe ihn bewogen haben könnten, auf Abstand zur philologisch wie (scheinbar auch) konfessionell sich empfehlenden Leidener Edition zu gehen und statt dessen auf einen womöglich weniger überzeugenden Text zurückzugreifen. Positive Aussagen hinsichtlich der Vorlagenentscheidung der Ausgabe von 1660 wären freilich erst möglich, wenn feststünde, welche Boethius-Ausgabe anstelle derjenigen des Vallinus zugrundegelegt wurde. Sicher ist, daß die gesuchte Vorlage an einer Reihe von Stellen der lectio facilior folgt und daß die in ihr gebotenen Kontextinformationen, sollte die vorangestellte Vita ebenfalls auf sie zurückgehen, keine historisch-kritische Aufarbeitung des biographischen Materials erkennen lassen, vielmehr verbreitete Irrtümer fortschreiben.48 So kann hier, ausgehend vom Profil der Nürnberger Übersetzung, vorerst nur ex negativo bestimmt werden, wodurch Vallinus’ Ausgabe zunächst gelockt, dann abgestoßen haben mag. Anders als die beinahe privat anmutende Vorrede des Sulzbacher Pfalzgrafen positioniert die Nürnberger „Zuschrift“ ihre Consolatio von Anfang an auf konfessionspolitisch definiertem nationalliterarischen Feld,

_____________ 47 Alternativ in Frage kommt allerdings auch Knorr, der sich, bevor van Helmont ihn Ende 1666/ Anfang 1667 in Sulzbach einführte, „seit 1663 vorwiegend“ „in den Niederlanden“ aufhielt. Volker Wappmann: „Knorrs von Rosenroth Sulzbacher Freundeskreis“, in: Morgen-Glantz 3/1993, S. 19-69, hier S. 50. 48 Weshalb van Gemert (Anm. 8), S. 123, zu dem Ergebnis kommt, die BoethiusVita liefere „den treffendsten Beleg“ dafür, daß die Sulzbacher Übersetzer die Nürnberger Übersetzung gekannt und überarbeitet hätten, erschließt sich mir nicht; weder inhaltlich noch sprachlich verbindet die beiden Viten – abgesehen vom Gegenstand – irgend etwas. Allerdings kennt van Gemert die Ausgabe des Vallinus nicht, die die exakte lateinische Vorlage der Sulzbacher Vita bereits enthält, so daß die Abhängigkeitsverhältnisse für die Nürnberger Ausgabe, gäbe es sie denn, ohnehin anders rekonstruiert werden müßten.

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das seine entscheidenden Prägungen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts durch das Wirken des Martin Opitz, die Fruchtbringende Gesellschaft und den Dreißigjährigen Krieg erhalten hat.49 Widmungsadressaten sind nicht die eigenen Kinder, sondern vier protestantische Ratsherren der Reichsstädte Regensburg, Memmingen und Nürnberg. Das Projekt der BoethiusVerdeutschung wird zum einen in den Kontext kultureller Besetzung ausländischen Terrains vor dem Hintergrund lebensweltlich präsenter Kriegserfahrung gestellt, wie sie Opitz 1624 in seinem Buch von der Deutschen Poeterey poetologisch konzeptualisiert hatte;50 zum andern wird es auf eine wiederholte Anregung des 1658 verstorbenen Georg Philipp Harsdörffer zurückgeführt, wie sie sich tatsächlich im dritten Band der Frauenzimmer Gesprechspiele findet.51 Die eine wie die andere Referenz schreibt die Consolatio-Übersetzung in den wirkungsmächtigen Entwurf einer protestantisch codierten Nationalliteratur „in unserer Teutschen Heldensprache“ ein, 52 der bis auf die übersetzerische und reformatorische Gründungstat Martin Luthers zurückgehe. In dieses durch Opitz, die Fruchtbringende Gesellschaft sowie den Pegnesischen Blumenorden konturierte Profil einer konfessionalisierten und gerade daraus eine beinahe paramilitärische Schlagkraft ziehenden „Deutschen Poeterey“ paßt exakt der, der für die Übersetzung von 1660 verantwortlich zeichnet, indem er – Eingeweihten entschlüsselbar – die Initialen „J. H. Dr.“ unter die „Zuschrift“ setzt: Johann Hellwig, Doktor der Medizin in Nürnberg und Regensburg, protestantischer Poet im Umkreis Harsdörffers, seit 1645 unter dem Gesellschaftsnamen Montano Mitglied der Nürnberger Pegnitzschäfer, als Eklogendichter im Anschluß an das zweiteilige Pegnesische Schäfergedicht von

_____________ 49 Dazu grundlegend Kaminski (Anm. 20). 50 Vgl. Christlich vernünftiges Bedenken (Anm. 8), fol. )(vjr-)(vijr: „Darum bey viertzig Jahren her viel vornehme Leute hohes und nidres Standes Teutscher Nation / auch mitten unter den höhesten Kriegs-Unruhen / sich sehr beflissen / in allen künstfündigen Ersinnungen sich zu üben / fremde / hochkluge und vernunftmässige Schriften in ihre Muttersprach zu übersetzen / und ihren Mitgliedern und Nechsten zu nutzlicher Nachfolge in ofne Schau zu legen / damit sie sowol sich selbsten / als andere bey trüben Begegnissen und widrigen Fällen trösten / den Müssiggang und lasterhaften Wandel unterbrechen / und auf alle Begebenheit zur Zeit und Unzeit ihre Seel mit Gedult fassen / und den Ausgang zur ungezweifelten Besserung getrost und freudig erwarten lerneten […].“ Vgl. dazu Opitz’ Exposition seiner neuen „Deutschen Poeterey“ im fünften Kapitel seiner Poetik anhand seines noch nicht veröffentlichten Trostgedichtes in Widerwertigkeit deß Krieges. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624), nach der Edition von Wilhelm Braune neu hrsg. v. Richard Alewyn, Tübingen 1963, S. 17-19. Zu dieser Stelle Kaminski (Anm. 20), S. 32-37. 51 Vgl. oben S. 18 mit Anm. 46. 52 Christlich vernünftiges Bedenken (Anm. 8), Zuschrift, fol. )(viijr.

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Harsdörffer, Klaj und Birken die auf Opitz zurückgehende Verschränkung von Ästhetik und Politik fortschreibend.53 Eine besondere Sensibilität für das konfessionelle cross-over einer protestantisch, ja calvinistisch sich gebenden54 und dann als ‚mönchisch‘ sich entpuppenden Boethius-Ausgabe kann dem Übersetzer Hellwig, seit 1649 bezeichnenderweise in Regensburg Leibarzt bei dem „den wiedererstarkten kämpferischen Katholizismus der Gegenreformation“ vertretenden Bischof Franz Wilhelm von Wartenberg,55 vor diesem Hintergrund durchaus zugetraut werden. Die Zitation des Titelkupfers von Vallinus’ philologisch verläßlicher und doch konfessionell trügerischer Edition wäre dann als polemischer Akt zu werten, ähnlich der im wörtlichsten Sinne polemischen Zitation von des französischen Katholiken Pierre de Ronsard Sonett Je faisois ces sonnets en l’antre Pieride in Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey.56 Gerade in diesem Zusammenhang erwächst auch den Differenzen beider Titelkupfer eine spezifische Signifikanz. Anders nämlich als die Sulzbacher Übersetzung übernimmt Hellwigs Text das Kupfer der niederländischen Ausgabe nicht unverändert, sondern variiert. Und zwar mit erstaunlicher Tendenz: das Kupfer erfährt eine Katholisierung! Über der Szene schwebt im Kerkergewölbe in Gestalt zweier Engel, deren einer über Boethius’ Haupt Siegeskranz respektive Märtyrerkrone hält, die christliche Transzendenz, die ganz neu gestaltete Philosophia umgibt wie ein Heiligenschein ein Lichtkranz aus sieben Sternen. Diese Reinterpretation des Titelkupfers ist um so auffälliger, als die dem Consolatio-Text vorangestellte Lebensbeschreibung Boethius zwar als „Christglaubige[n]

_____________ 53 Vgl. dazu Max Reinhart (Hrsg.): Johann Hellwig’s „Die Nymphe Noris“ (1650). A Critical Edition, Columbia, SC 1994 mit einer ausführlichen Einleitung, S. XXIIXLIV, sowie Max Reinhart: „Poets and Politics. The Transgressive Turn of History in Seventeenth-Century Nürnberg“, in: Daphnis 20/1991, S. 199-229. 54 Zu diesem Eindruck steht die französische Provenienz als solche noch nicht zwingend im Widerspruch, gibt es im 17. Jahrhundert doch prominente Beispiele protestantischer französischer Autoren wie René Descartes oder Pierre Bayle, die aus konfessionellen Gründen in den Niederlanden publizierten oder sogar lebten. Vgl. Paul Burrell: „Pierre Bayle’s Dictionnaire historique et critique“. In: Notable Encyclopedias of the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Nine Predecessors of the Encyclopédie, Frank A. Kafker (Hrsg.), Oxford 1981, S. 83-103, hier S. 85: „Holland has long been a refuge for French Protestants […].“ 55 Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644-1744), Wiesbaden 2006, S. 146, die den Bischof allerdings historisch unkorrekt bereits für 1649 als Kardinal bezeichnet. Zitat aus Volker Wappmann: Durchbruch zur Toleranz. Die Religionspolitik des Pfalzgrafen Christian August von Sulzbach 1622-1708, Neustadt a.d. Aisch 1995, S. 127. 56 Vgl. Opitz (Anm. 50), S. 63, sowie dazu Kaminski (Anm. 20), S. 45-51.

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Theologus“ bezeichnet,57 den Begriff des ‚Katholischen‘ jedoch konsequent vermeidet (statt dessen spricht sie von „Rechtglaubige[n]“58) und die Heiligsprechung des Märtyrers Boethius nur zitatweise und aus unbeteiligter Distanz berichtet.59 Das die scheinbar protestantische, tatsächlich aber katholische Ausgabe des Vallinus zitierende Titelkupfer Hellwigs kehrt so in performativ-kontrafaktischem Gestus die konfessionelle Maskerade um, entwirft Boethius ikonographisch überdeutlich in der Rolle des katholischen Märtyrers, um diesen Entwurf sodann der distanzierenden Demontage im (protestantischen) Medium der Schrift auszusetzen. Sind aber überhaupt die hermeneutischen Voraussetzungen für eine derart subtil konfessionspolemisch argumentierende Lektüre der Titelkupfer und ihrer intertextuellen Vernetzung gegeben? Es stellt sich demnach die Frage nach den Motiven und damit nach der diskursgeschichtlichen Relevanz einer dezidiert konfessionellen Positionierung der boethianischen Consolatio im 17. Jahrhundert.

4. Boethius’ Consolatio – ein Konfessionspolitikum? Grundsätzlich kann der „Deutschen Poeterey“, wie sie Martin Opitz 1624 mit seiner Poetik ins Leben gerufen hatte, eine derartige Sensibilisierung ihrer Aktanten für literaturstrategische Operationen im inter- und subtextuellen Untergrund nicht nachdrücklich genug attestiert werden. Dichten in der Opitz-Nachfolge bedeutet materialiter, im Rückgriff auf die protestantisch codierte deutsche Sprache und die im Rhythmus der Oranischen Heeresreform alternierend-akzentuierenden neuen Verse, neben dem ästhetischen immer auch ein (konfessions)politisches Votum. Insofern läßt sich der an Hellwigs Übersetzung im Verhältnis zu Vallinus’ Edition beobachtete Gestus konfessionspolemischer Performanz literatur- und poetikgeschichtlich schlüssig kontextualisieren. Was aber ist die spezifische Referenz, die Boethius’ Consolatio zum Gegenstand konfessioneller

_____________ 57 Christlich vernünftiges Bedenken (Anm. 8), S. 3. 58 Ebd., S. 8. 59 Ohne Übersetzung zitiert wird ein lateinisches Epitaph Kaiser Ottos III., in dem sich die Verse „Qui nunc Sanctorum numero turbaque receptus  Magnaque Martyrii præmia laudis avet“ finden; daran schließt sich folgende passivischdistanzierte Feststellung einer Kultverordnung an: „Und ist auch folgender Zeit of[t]gedachter Boëthius unter dem Namen Severinus canonisirt, und unter die Zahl der Heiligen gesetzet / auch / sein Gedächtniß den 23. October jährlichen in Christlicher Kirche zu begehen / verordnet worden“ (ebd., S. 12).

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Auseinandersetzung macht? Weshalb bedarf es ihrer offensiven Reklamierung für die „Deutsche Poeterey“ Opitzscher Prägung? Mit seinem Selbstzitat aus dem „ersten buche der noch vnaußgemachten Trostgetichte in Wiederwertigkeit des Krieges“ an prominenter Stelle im Buch von der Deutschen Poeterey hatte Opitz deutschsprachige Trostdichtung zugleich nationalliterarisch und protestantisch konnotiert.60 Überdies empfiehlt er am Ende seiner Poetik als „eine guete art der vbung […] / das wir vns zueweilen auß den Griechischen vnd Lateinischen Poeten etwas zue vbersetzen vornemen“.61 Gleichwohl blieb die Consolatio, ungeachtet des von Harsdörffer bereits 1643 formulierten Desiderats,62 bis 1660 unübersetzt. Dies muß um so mehr verwundern, als die letzte deutsche Übersetzung der boethianischen Trostschrift 1500 erschienen war und dabei einen Text bietet, der ursprünglich ins Jahr 1473 zurückreicht.63 Ein vorreformatorischer Boethius demnach. Mit der Reformation hingegen scheint der Autor für deutsche Übersetzer auf einmal tabu geworden zu sein. Das bedeutet freilich nicht, daß die Consolatio seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland nicht mehr rezipiert worden wäre; vielmehr folgen die Rezeptionswege exakt jener konfessionssprachlichen Logik, die Luther mit seiner Bibelübersetzung wirkungsmächtig vorgezeichnet hatte. Boethius, spätestens seit seiner Kanonisierung als katholischer Märtyrer unter dem Namen St. Severinus im 13. Jahrhundert64 fest in katholischer Hand, vermochte nach der Konfessionsspaltung zu protestantisch vereinnahmender Übersetzung ins Deutsche offenbar nicht mehr einzuladen. Zu deutlich zeugte er, in jahrhundertelanger Tradition mittelalterlicher interpretatio Christiana zugerichtet, für das gegnerische konfessionelle Lager.

_____________ 60 Opitz (Anm. 50), S. 17, sowie dazu Kaminski (Anm. 20), S. 32-37. 61 Opitz (Anm. 50), S. 54. 62 Vgl. Harsdörffer (Anm. 46), S. 59, das Gesprächspiel „Vom Dolmetschen“: „Wie zuvor von der Erklärung deß Abgelesenen / ein Gesprächspiel auffgegeben worden; als möchte man auch ein Buch / mit Einrahten etlicher Sprachverstandigen übersetzen. Als etwan Boethius / Petrarca / Catsen Selbstritt / der Tugendsamen Frauen 2. Theil / oder wessen sich die Geselschaft vergleichen wolte: dann solte die darinnen fürkommende Reimen jeder zu Hauß zu Papyr bringen / von jeder Zeil 1. der Wortverstand / 2. deß Scribentens Meinung / 3. wie es nach der Teutschen Sprache Eigenschaft zu geben vermelden. Were ein feines Spiel für gelehrte Studenten.“ 63 Vgl. Reinhart (Anm. 9), S. 69. Es handelt sich um die zweisprachige Ausgabe des Nürnberger Druckers Anton Koberger, der der lateinische Kommentar des Pseudo-Thomas beigegeben ist. Hierzu der Beitrag von Bernd Bastert im vorliegenden Band. 64 Vgl. Nigel F. Palmer: „Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae“, in: Boethius. His Life, Thought and Influence, Margaret Gibson (Hrsg.), Oxford 1981, S. 362-409, hier S. 383 mit S. 407, Anm. 64.

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Die christlich-katholische Autorität des Autors überwog die potentielle humanistische Autorität seines gar nicht so unzweideutig christlichen philosophischen Textes, den es – womöglich analog zur reformatorischen Bibellektüre – von „der Mönichen Bann“65 christlicher Interpretation hätte zu befreien gelten können. Dabei lag Boethius als heiliger Märtyrer der katholischen Kirche nicht nur einfach außerhalb protestantischer Reichweite; vielmehr wurde er, zumal seit der Gründung der Societas Jesu Mitte des 16. Jahrhunderts, gezielt für gegenreformatorische Zwecke im Kampf gegen die (nun nicht arianischen, sondern protestantischen) Ketzer instrumentalisiert. Nach Ausweis der überlieferten Periochen avancieren von 1627 an66 die Hinrichtung des katholischen Glaubenszeugen Boethius durch den arianischen König Theoderich sowie die Bestrafung des Ketzers Theoderich zum beliebten Sujet des militant in den Dienst der propaganda fides sich stellenden lateinischen Jesuitentheaters.67 Entscheidende Signatur dieser dramatischen Darstellungen ist das als Zeichen des katholischen Gottes zu lesende Wunder, wie es etwa in einer Eichstätter Perioche aus dem Jahr 1667 den transzendenten Fluchtpunkt der Bühnenhandlung bildet: Wunderlich war nach Boëthij Enthauptung / daß er sein abgeschlagnes Haupt biß zur Kirch selbsten in den Händen getragen / vnd / nachdem er vnderschidnen sich befragenden Leuthen beklagt / er seye von bösen Leuthen enthauptet worden / seinen Kopff vor dem Crucifix auff dem Altar / zu einem Opffer beygesetzt. Derentwegen Theodoricus König bald auß reyendnagenden Gewissen

_____________ 65 Vgl. oben S. 18 mit Anm. 46. 66 Dabei ist der Druck von Periochen gegenüber der Aufführung jesuitischer Dramen als Sekundärphänomen zu betrachten, vgl. Elida Maria Szarota (Hrsg.): Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Periochen-Edition. Texte und Kommentare, 3 Bde. und Register, München 1979-87, Bd. I/1, S. 8. Die erste Perioche stammt aus dem Jahr 1597. 67 Vgl. ebd., Bd. II/1, S. 969-984 (Theodoricus, Das ist: Tragoedien Von Theodorico, Oder / Dietrich von Bern / Großmächtigen Königen der Gottischen Völcker in Welschland: Welcher / nach dem er Symmachum vnnd Boetium, Römische Geschlechter / wegen deß Catholischen Glaubens mit Schwerdt / wie auch Ioannem Römischen Bapst / auß gleicher Vrsach / mit Hunger hat hingericht / von Gott mit einem erschröcklichen End ist gestrafft / vnd in Ollam Vulcani, gleichsam in Höllhafen verdampt worden, Augsburg 1627); Bd. III/1, S. 585-592 (Boetivs Nobilis, Doctus, Pius. Vera Politici Norma, Trient 1648); Bd. III/1, S. 593-600 (Anicivs Manlivs Torqvatvs Severinvs Boethivs omnium academicarvm scientiarvm princeps, Eichstätt 1667); Bd. III/1, S. 601-611 (Boetivs Scientiarum Cultor, Æquitatis Amator, Religionis Assertor. Boetius Ein schöner Spiegel der Weißheit / Ein veste Saul der Gerechtigkeit / Ein großmütiger Zeug der Christlichen Warheit, München 1677). Szarota weist für das 18. Jahrhundert bis 1721 noch vier weitere BoethiusDramen nach, vgl. das Register, S. 247.

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gantz rasendt vnnd vnseelig gestorben / vnnd wie er von bösen Geistern auff einer Fischerzillen in die Höll geführt / augenscheinlich gesehen worden.68

Im Zentrum dieser dramatischen Glaubenspropaganda zum Zwecke rekatholisierender Missionierung steht naturgemäß weniger der ConsolatioAutor denn die historische Gestalt. Anders verhält es sich mit einer 1624, im gleichen Jahr wie Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey, veröffentlichten Schrift des französischen Jesuiten Nicolas Caussin unter dem Titel La Cour Sainte,69 in der Boethius’ berühmtestes Werk, die Consolatio, eine markante Rolle spielt. Und zwar, seit 1657, auch auf deutsch. Wie die Opitzsche Poetik war nämlich auch die Cour Sainte ein Erfolgsbuch, wurde mehrfach wiederaufgelegt und innerhalb weniger Jahrzehnte sowohl ins Lateinische als auch in nahezu alle europäischen Nationalsprachen übersetzt, so eben drei Jahre vor Hellwigs Consolatio-Übersetzung auch ins Deutsche.70 Und gerade das dritte, „den HofRäth vnd Beambten“ gewidmete Buch des zweiten Teils,71 welches das Leben des Boethius als exemplarisch vorstellt, scheint das Publikumsinteresse besonders auf sich gezogen zu haben, kam es doch 1638 lateinisch in stark erweiterter Form als Politicus Christianus, seu Boetius betitelte Abhandlung noch einmal separat heraus. 72 Bemerkenswert ist an der Boethius-Präsentation der Cour Sainte (beziehungsweise, seit 1657, der Heiligen Hoffhaltung) nun aber nicht die Erzählung von seinem „Ableben vnd Mar-

_____________ 68 Ebd., Bd. III/1, S. 595. 69 La Covr sainte, ou l’Institvtion Chrestienne des grands: auec les exemples de ceux qui dans les cours ont fleury en saincteté par R. P. Nicolas Caussin de la Compagnie de Iesus. A Paris: Chez Sebastien Chappelet rue St. Iacques au Chappelet, M.DCXXIIII. 70 Heilige Hoffhaltung / Das ist: Christliche Vnderweisung Für alle hoch- und nidere Weltliche Standtspersohnen / forderist aber die Jenige / welche an Fürstlichen Höfen bedient / sehr Trost- Nutz- vnnd annemblich zulesen. Erstlich von R. P. NICOLAO CAVSSINO Soc. IESV in Frantzösischer Sprach beschriben; Anjetzo durch R. P. VDALRICUM GROSCHAN, ermelter Societät Priester / in die Teutsche Sprach vbersetzet / vnd in drey Theil verfasset. Ander Thail. Cum Privilegio Cæsareo speciali, & Superiorum Licentia. Gedruckt zu München / bey Johann Jäcklin. Jn Verlegung Johann Wagner Buchhandlers. Anno M. DC. LVII. Zitiert wird nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen. 71 Ebd., fol. † 4v. 72 Politicvs Christianvs, sev Boëtivs, Qui est Liber tertivs Tomi II. Avlæ Sanctæ, Per R. P. Nicolavm Cavssinvm è Societate Iesv Gallico idiomate quartùm editus, Anno 1629. Iam autem interprete. P. Henrico Lamormaini, eiusdem Societatis Sacerdote in Latinum translatus. Demum illvstrissimi Domini, Domini in Pisemberg, &c. S. C. M. in Concilio Aulico, & in Regimine Inferioris Austriæ Consiliarij, &c. munificentiâ, in gratiam Politicorum Christianorum in lucem datus. Viennæ Austriæ, apud Mariam Rictiam Vid. ad Lubecam. 1638. Auch der Politicus Christianus erfuhr mehrere Auflagen.

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tyr“,73 die – wie die dramatischen Fassungen auch – ihren besonderen katholischen Akzent „durch ein Wunderwerck“ erhält.74 Aufmerksamkeit verdient vielmehr das vorausgehende sechste Kapitel „Boëtij Gefangenschafft“,75 in dem unter dem Deckmantel philologischer Genauigkeit nicht weniger als eine katholisch-martyriologische Vereinnahmung des Textes der Consolatio Philosophiae statthat. Ausgangspunkt der Darstellung ist, wie in der Consolatio, Boethius’ verzweifelte Lage im Kerker, „zwischen vier Mawren in dem Ellend ausserhalb Rom“. Doch ist es ausdrücklich „der fromme Boëtius“, der hier sein Unglück beklagt, dem „seine Augen […] ohn vnderlaß in dem Wasser schwimmen“ – ein Szenario, das den Erzähler zu dem Kommentar veranlaßt: „Auß deme wir dann abnemmen / daß diser starcke Held was menschliches in seinen natürlichen Anmuthungen erlitten habe […].“ Darauf erscheint, ebenfalls wie in der Consolatio und mit ausdrücklicher Berufung auf dieses „köstliche Büchlein“, Philosophia, verbunden mit dem Hinweis, daß Boethius sie dort – als Allegorie dessen, „daß er durch den rechtmässigen Gebrauch seines Verstandts / alle vnordenliche Naigungen vndertruckt / vnd in seiner Gefangenschafft einen grossen Schatz der Gedult gesamblet habe“ – „also redendt einführet“.76 Und dann ist es Philosophia, die spricht, und zwar folgendermaßen: Bistu diser / welchen ich mit meiner Milch ernähret / mit ausserleßnen Speisen erhalten / vnd biß zu dem Mannlichen Alter gebracht habe! Jch hab dich mit allerhand Waffen nach genügen versehen / mit welchen du dem unbeständigen Glück begegnen möchtest / wofern du dich deren recht gebrauchen wurdest. Kennestu dann mich nit? Warumb bistu also still? Kompt dises auß einer Schamhafftigkeit oder Vnverstandt her? Wiltu nichts reden? Der arme Mensch ist mit der Schlaffsucht behafft / so ein bekandte Kranckheit der jenigen ist / welche den falschen Blendungen vnderworffen seynd; Er wird mich aber bald wider erkennen / wann ich jhme die Augen eröffnen / vnd von den bösen Feuchtigkeiten der jrrdischen Sachen reinigen werde. 77

Dieser Passus, durch Anführungszeichen jeweils am Zeilenanfang als Zitat gekennzeichnet, stellt eine nahezu wörtliche Übersetzung derjenigen Worte dar, welche Philosophia in der zweiten Prosa des ersten Buches einlei-

_____________ 73 Heilige Hoffhaltung (Anm. 70), S. 390. 74 Ebd., S. 394. Boethius, so heißt es dort, habe „gleich wie der H. Dionysius nach dem empfangnen Streich das Haupt in die Händ genommen / damit für den Altar deß Kirchleins / so zu negst an diesem Orth war / gangen / alda ein gute Weil sich widerumb seinem Herren vnd Schöpffer befohlen / biß er endlich den Geist auffgeben“. 75 Ebd., S. 385-390. 76 Alle Zitate ebd., S. 385. Meine Hervorhebung. 77 Ebd., S. 385f.

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tend an ihren Schützling richtet78 – genaugenommen die erste deutsche Übersetzung seit 1500. Und das, ungeachtet der seit Luthers Biblia Deudsch geltenden konfessionellen Codierung der Dolmetschung ins Deutsche als protestantisch, aus der Feder eines Jesuiten: „durch R. P. VDALRICUM GROSCHAN, ermelter Societet Priester“.79 Das ist, sieht man genauer hin, auch spürbar, denn Groschan bedient sich, wie zu erwarten, nicht der von Luther standardisierten meißnischen Mundart, sondern des Oberdeutschen. Gleichwohl: die in München erschienene Consolatio-Übersetzung wird bei den protestantischen Rezipienten der Heiligen Hoffhaltung, etwa in den nahegelegenen Reichsstädten Nürnberg und Regensburg, Aufsehen erregt haben. Diese ab dem dritten Absatz des sechsten Kapitel gewissermaßen protestantisch-philologisch an den Tag gelegte Textorientierung wird dem Augenschein nach auch im Fortgang des Kapitels beibehalten. Auch die nächsten knapp dreieinhalb Seiten tragen Anführungszeichen am Anfang jeder Zeile (Abb. 4), hinzu kommen Marginalien, die auf lateinische Schlüsselzitate aus der Consolatio samt Stellenangaben verweisen. Vorgeschaltet ist der weiteren Zitation allerdings eine Bemerkung des Autors Caussin, der sich nach dieser Eingangsszene folgendermaßen als Moderator ins Spiel bringt: Also erwachete Boëtius, und hielte mit diser Königin der Künsten ein wunderbarliches Gespräch / welches er schrifftlich verfasset / zu dem ich meinen günstigen Leser weise / mich benügend mit etlichen Lehrpuncten / so jhme die Trawrigkeit benommen / vnd in seinem Zustand sehr verhilfflich gewesen; damit wir nach seinem Exempel lernen die Trübsalen mit Gedult übertragen / vnd wie die Schrifft sagt / die Milch auß dem harten Felsen saugen.80

Damit ist klar, womit der zu eigener Lektüre angehaltene „günstige Leser“ zu rechnen hat: mit der Ausmünzung des platonischen Dialogs in „etliche Lehrpuncte“, einem moraldidaktischen Konzentrat des philosophischen

_____________ 78 Übersetzt wird (mit einigen kleinen Auslassungen) die wörtliche Rede der Philosophia in Consolatio I 2,2-6: „Tune ille es, ait, qui nostro quondam lacte nutritus, nostris educatus alimentis, in virilis animi robur evaseras? Atqui talia contuleramus arma: quæ nisi prius abjecisses, invicta te firmitate tuerentur. Agnoscisne me? Quid taces? pudore, an stupore siluisti? mallem pudore; sed te, ut video, stupor oppressit. Cumque me non modò tacitum, sed elinguem prorsus, mutumque vidisset, admovit pectori meo leniter manum. &, Nihil, inquit, periculi est; lethargum patitur, communem illusarum mentium morbum. Sui paullisper oblitus est; recordabitur facilè, si quidem nos ante cognoverit. quod ut possit, paullisper lumina ejus, mortalium rerum nube caligantia, tergamus.“ Zitiert nach Vallinus (Anm. 14), S. 5. 79 Heilige Hoffhaltung (Anm. 70), Titelblatt. 80 Ebd., S. 386.

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Abb. 4: S. 386 aus Nicolas Caussins Heiliger Hoffhaltung, 1657 (Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen: Gi 891-2)

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Gesprächs. Tatsächlich setzt sich freilich auch über die folgenden Seiten die Unterredung zwischen der „himmlische[n] Weyßheit“ und „Boëtius“81 fort, so daß der Rezipient den Eindruck bekommt, der eingangs in wörtlicher Übersetzung aufgerufenen Szene weiterhin beizuwohnen. Was für ein Gespräch ist das aber, dessen Ohrenzeuge der Leser zu werden glaubt? Es beginnt wiederum mit einer (immer noch annähernd genauen) Übertragung aus der Consolatio, nun aus der sechsten Prosa des ersten Buches, aus welcher, zur Sentenz umgeformt, auch die erste Marginalie genommen ist.82 Caussins Text rafft folglich – das war angesichts der Umfangsdifferenz zu erwarten – den boethianischen Dialog, präsentiert einen Cento aus Consolatio-Zitaten. Entsprechend lassen sich weitere textuelle Referenzen ausmachen, in der ersten, zweiten und vierten Prosa des zweiten Buches, der dritten und vierten Prosa des vierten Buches sowie der fünften Prosa des dritten Buches. Dabei wird, von einer Ausnahme abgesehen,83 freier

_____________ 81 Ebd. 82 Ebd.: „Erstlich befragte jhn dise himmlische Weyßheit / was er von der Göttlichen Vorsichtigkeit halte / vnd ob er vermeine / daß die Welt ohngefär / oder mit Vernunfft regiert werde? Hierauff antwortet Boëtius: Behüte mich Gott / daß ich jemalen in ein solche Torheit gerathe / vnd darfür halte / alles in diser Welt geschehe ohngefähr; dann ich wol weiß / daß er dise Welt / als ein Hauß / welches er mit seinen Händen erbawen / verwalte / vnd nichts ohne seinen Willen oder Zulassung geschehe. Da sprach die Weißheit. So kan ich mich nit ab deme genungsamb verwunderen / daß ein Mensch / wie du bist / solche Mainung von der Göttlichen Vorsichtigkeit habe / beynebens mit diser Kranckheit behafft seye.“ Das entspricht Consolatio I 6,3-6 unter Auslassung von 5: „Tum illa, Hunccine, inquit, mundum temerariis agi fortuitisque casibus putas, an ullum credis ei regimen inesse rationis? Atqui, inquam, nullo existimaverim modo, ut fortuita temeritate tam certa moveantur. Verum operi suo conditorem præsidere Deum scio; nec umquam fuerit dies, qui me ab hac sententiæ veritate depellat. Ita est, inquit. […] Papæ autem vehementer admiror, cur, in tam salubri sententia locatus ægrotes.“ Zitiert nach Vallinus (Anm. 14), S. 18f. Zur sententiösen Umformung der ersten Marginalie vgl. Consolatio I 6,20 („Habemus maximum tuæ fomitem salutis, veram de mundi gubernatione sententiam“; Vallinus, S. 20) mit dem Marginalientext S. 386: „Maximus fomes salutis, vera de mundi gubernatione sententia. lib. 1. prosa 6.“ 83 Eine genaue Übertragung findet sich nochmals auf S. 387f.: „Eines mißfallet mir sehr an dir / daß du den geringen Verlust der zeitlichen Güteren also vast beklagest. Wer befindet sich in diser Welt also glückseelig / daß er gantz nichts zu leyden habe? Mancher besitzet grosse Reichthumben / schämet sich aber seines schlechten Herkommens; Ein anderer ist zwar von hohen adelichen Stammen erboren / hat aber das Vermögen nit / sich seinem Standt gemäß zu erhalten; Ein anderer hat an disen beyden Stucken keinen Abgang / ist aber bey seinem Fürsten vnd Herren in Vngnaden: Ein anderer hat einen guten Heyrath getroffen / bekompt aber keine Erben: Ein anderer hat zwar Erben / seynd aber also

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wiedergegeben, paraphrasiert, die Reihenfolge gegenüber der Vorlage verändert, auch innerhalb eines Passus gerafft, mit der Konsequenz, daß die Identifizierung der Zitate weniger eindeutig erfolgen kann; gleichwohl bleibt der gesamte Wortlaut weiterhin durch Anführungszeichen als Zitat ausgewiesen. Das mag, berücksichtigt man, daß Caussins Traktat insgesamt nicht als Boethius-Übersetzung antritt, unter philologischen Gesichtspunkten noch eben angehen. Doch finden sich in dem vorgeblichen Zitat auch Aussagen, die selbst bei freiester Auslegung von Paraphrase nicht als der Consolatio zugehörig erkannt werden können: Aussagen, welche die Philosophia nicht philosophisch, sondern theologisch argumentieren lassen, und zwar gewissermaßen als Gesandte des Heiligen Stuhls, die Boethius Mut zuspricht zum christlichen Martyrium. „Mein Freund du solt wissen“, so beginnt sie in unmittelbarem Anschluß an das Zitat aus der sechsten Prosa des ersten Buches noch ganz boethianisch mit Bezug auf die erste Prosa von Buch II (allerdings ist dort von Fortuna die Rede, nicht von der göttlichen Providenz), daß du in dise Welt als in ein Kugel eingetretten / mit welcher die Göttliche Vorsichtigkeit nach jhrem belieben spilet; dahero du mit Gedult übertragen solt / was sie dißfahls mit dir verordnet: Du solt dich nit vnderstehen Jhro Maß oder Ordnung zu geben / sonsten möchtestu sie belaidigen; Sonder als ein Bawrsmann / der seinen Samen in die Erden geworffen / der Zeit des Schnitts erwartet.

Um dann in aller Selbstverständlichkeit mit einer christlich-eschatologischen Rechtfertigung des Märtyrertodes fortzufahren: Du solt auch nit fürwitziger weiß der frommen vnd gottlosen Glückseeligkeit erforschen; Dann was vermeinestu / daß GOtt dem Vnschuldigen für ein Vnbilligkeit zufüege / wann er disen vnder seine liebste Freund zehlet / welchen er die himmlische Cron durch vil Trübsaal vnd Creutz diser Welt begert köstlicher zu machen. Jst dir nit bewust / daß sich etliche Fisch befinden / welche in den stillen Wasseren abstehen / in den springenden vnd rauschenden frisch bleiben vnd

_____________ beschaffen / daß er sie lieber nit haben wolte; Werden also sehr wenig gefunden / welche mit jhrem Stand zu friden seynd. Vber diß seynd die Glückseelige gewohnlich die empfindlichste / daß sie bißweilen wegen einer geringen Vrsach in den Harnisch schlieffen / vnnd jederman todt haben wöllen.  Wie vil schätzeten sich die Glückseeligste / wann die den halben Thail deiner Verlassenschafft besitzeten? Dises Orth / welches du dein Ellend nennest / ist anderer Vatterlandt; Daß also nichts gäntzlich armseelig zu nennen / es bilde jhme dann einer solches also ein.  Damit du aber wissest / in welchem die wahre Glückseeligkeit bestehe / befrage ich dich: Ob du was köstlichers als dich selbsten habest? Nein / antwortest du. Wann du derohalben dich selbsten recht beherrschest / magstu einen solchen Schatz besitzen / dessen dich das Glück nicht berauben kan.“ Vgl. damit Consolatio II 4,11-18 und 23.

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zunemmen? Alle dapffere Christliche Helden bedienen sich diser sicheren Landstraß zu dem himmlischen Jerusalem / vnd ergehet jhnen nit anderst / als der Sonnen / welche nach langem Vngewitter vil lieblicher auß den Wolcken herfür tritt / als sie hinein gangen.84

Danach weiter mit einer freien Wiedergabe aus der dritten und vierten Prosa des vierten Buches der Consolatio. Wie in einem Trojanischen Pferd schleust so der jesuitische Autor Caussin im boethianischen Dialog seine Botschaft vom seligmachenden katholischen Martyrium ein, und daß die listenreiche Eroberung der Stadt – des „himmlischen Jerusalem[s]“ nämlich – am Ende tatsächlich erfolgt, zeigt der Schluß des Kapitels. Nach einem letzten Zuspruch Philosophias in direkter Rede („Dahero mein Boëti, gedulde dich ein kleine Zeit […]: Das letste Stündlein / so dir dein Leben villeicht bald wird enden / wird zumalen ein Endt alles deines Leyden seyn“) wechselt der Text in den resümierenden Erzählerbericht, welcher Boethius die wichtigsten Einsichten des vierten und fünften Buches schauen und ihn ans martyriologische Ziel, zur mentalen Disposition der „dapffere[n] Christliche[n] Helden“,85 gelangen läßt: Endlich führet jhn dise himmlische Weyßheit in die Beschawung der ewigen Güteren vnd Göttlichen Volkommenheiten / in welchen er sich gäntzlich versenket / in deme er erkant / daß alle Geschöpff in Gott jhrem Schöpffer vil mehr / als das Wasser in einem Schwamb / die Erden in dem Lufft / vnd alle Elemente von dem Firmament beschlossen werden. Er sahe in jhme alle Ehr / Würde / Reichthumb / Tröstung / Ergötzligkeit vnd Seeligkeit; Er gienge mit seinen Gedancken in den vierzehen Abgründten göttlicher Volkommenheiten / als in einem jrrdischen Paradeyß spatzieren. Jetzt beobachtete er die Vnendligkeit / bald die Vnverändriligkeit [sic] / jetzt die Ewigkeit / bald die Allmacht: jetzt die Weyßheit / bald die Gerechtigkeit / die Gütigkeit / die Langmüthigkeit / die Vnbegreiffligkeit / vnd das Endt aller Sachen. Von dannen begabe er sich zu dem Wort so Fleisch worden / als dem König aller Betrübten / zu den heyligen Martyren / als Blutzeugen Christi / vnd hielte sich glückseelig / daß er seine wenige Zäher mit jhrem vergoßnen Blut vermischen möchte. 86

Bedarf es aber überhaupt eines solchen Trojanischen Pferdes, um die Consolatio im katholischen Sinne zu christianisieren? Schließlich erscheint Caussins Abhandlung offensiv in einem katholischen Verlagsort im Rahmen einer jesuitischen Publikation, das Verständnis des Boethius als Märtyrer sowie die interpretatio Christiana seines philosophischen Hauptwerks können bereits auf eine lange Tradition zurückblicken. Ja, Caussin (oder

_____________ 84 Heilige Hoffhaltung (Anm. 70), S. 386. 85 Ebd., S. 389. 86 Ebd.

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sein Übersetzer Groschan) geht sogar so weit, dieses boethianische Werk mit dem Papstratgeber eines großen scholastischen Theologen, Bernhards von Clairvaux De consideratione ad Eugenium Papam, woraus auch das letzte Marginalienzitat des Kapitels stammt, zu ‚verwechseln‘, indem er es als „sein köstliches Büchlein de Consideratione“ einführt.87 Wer waren bei so viel Offenheit die ‚Trojaner‘, die es zu überlisten gegolten hätte? Die Frage ist darum noch einmal neu und anders zu stellen: In wessen Augen wird die katholisch-martyriologische Vereinnahmung von Boethius’ Consolatio zur handstreichartigen Eroberung mittels eines Trojanischen Pferdes? Die Antwort fällt vor dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen nicht schwer: in den Augen dessen, der die Consolatio nach mehr als anderthalb Jahrhunderten übersetzerischer Abstinenz 1657 im protestantisch codierten Medium der Verdeutschung aus dem Lateinischen vor sich sah und bei der Lektüre merkte, daß das worttheologische lutherische „simulacrum“ jesuitische Kampftruppen barg, sich als „fatalis machina […] feta armis“ entpuppte.88 Diese Augen, so meine These, gehören dem in der Opitz- und Harsdörffernachfolge sich wissenden Pegnitzschäfer Johann Hellwig. Seine deutsche Übersetzung antwortet im Namen der auf eigenem Terrain angegriffenen „Deutschen Poeterey“ und eines recht verstandenen Christentums auf die jesuitisch korrumpierte Consolatio-Übersetzung der Heiligen Hoffhaltung, ihr Titel-

_____________ 87 Ebd., S. 385. Die Marginalie findet sich auf S. 387 und lautet: „Nudus egressus es de vtero matris tuæ nunquid infulatus? nunquid gemmis onustus? S. Bern. de consid. l. 2. c. 89.“ Zitiert ist das neunte Kapitel des zweiten Buches von De consideratione: „Dele fucum fugacis honoris huius et male coloratae nitorem gloriae, ut nude nudum consideres, quia nudus egressus es de utero matris tuae. Numquid infulatus? Numquid micans gemmis, aut floridus sericis, aut coronatus pennis, aut suffarcinatus metallis?“ S. Bernardi Opera, Bd. 3: Tractatus et opuscula. Ad fidem codicum recensuerunt J. Leclercq et H. M. Rochais, Rom 1963, S. 425f. Leider war es mir nicht möglich, das französische Original der Cour Sainte einzusehen, so daß ich nicht sagen kann, ob diese Überblendung von De consideratione und De consolatione bereits auf Caussin selbst zurückgeht oder womöglich ‚Zutat‘ des deutschen Übersetzers ist. Die ebenfalls aus dem Französischen übersetzte englische Ausgabe von 1634 bietet an der betreffenden Stelle jedenfalls „the booke of his Consolation“. The Holy Covrt in three Tomes. Written in French by Nicolas Cavssin, S. I. Translated into English by Sr. T. H. And Dedicated to the Queene of Great Brittaine. The third Tome now first published in English: The first and second newly reuiewed, and much augmented according to the last Edition of the Authour. The Histories of the first and second Tome set forth with Pictures. Printed by Iohn Covstvrier. Permissv Svperiorvm. M. DC. XXXIIII (Nachdruck London 1977), T. II, S. 245. 88 Vergil, Aeneis II 232 und 237f.

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kupfer kontert die strukturanalog protestantische Philologie simulierende Boethius-Ausgabe des „prêtre“ Vallinus.

5. Boethius’ Consolatio „simultaneè & divisim restituir[n]“89 Doch scheint beim Boethius-Buch der Heiligen Hoffhaltung nicht nur einer wachsam hingesehen zu haben. Denn schon sieben Jahre später erscheint, die poetisch-poetologischen Sturmtruppen der Reformation verstärkend, eine zweite deutsche Übersetzung der Consolatio, auch sie das Christentum im Titel führend, auch sie mit Referenz auf das Titelkupfer des Vallinus. Von der Vorgängerausgabe zeigt sie sich allerdings, wie gleich der erste Satz aus der Widmungsvorrede verrät, nicht sonderlich begeistert.90 Zugleich gibt es Indizien, die geeignet sind, Zweifel an der Vermutung zu nähren, es habe hier dasselbe literatur- und konfessionspolitische Ziel wie bei Hellwig, bloß souveräner, noch einmal zu vollbringen gegolten: Wie bereits beobachtet, ruft die Sulzbacher Übersetzung die Ausgabe des Katholiken Vallinus nicht nur auf, sondern bedient sich ihrer tatsächlich als Vorlage; schon auf dem Titelblatt ist in katholischem Habitus die Rede von der „Lebens-Beschreibung deß Seligen Boëtii“;91 und am Ende des übersetzten Textes steht gar die jesuitische Maxime „Omnia ad majorem DEI gloriam“92 (die sich bei Vallinus nicht findet). Gleichwohl verfährt die Übersetzung selbst ganz nach protestantischen Vorgaben: verwendet durchgängig das meißnische Lutherdeutsche, bringt die Metra in alternierend-akzentuierende Verse im Sinne der Opitzschen Reform,93 christiani-

_____________ 89 Zitiert nach Manfred Finke: Sulzbach im 17. Jahrhundert. Zur Kulturgeschichte einer süddeutschen Residenz, Regensburg 1998, S. 53, Anm. 125. 90 Vgl. Christlich-Vernunfft-gemesser Trost (Anm. 7), fol. Aiijr: „Es ist diß Büchlein zwar vor diesem schon verteutscht ans Liecht kommen / aber / beydes in prosa und denen Versen / also unverständlich / daß es geschienen / ob habe der Ubersetzer entweder wenig mühe dran wenden wollen / oder etwa deß Autoris tieffen Sinn nicht gnugsamlich assequiren oder exprimiren können“. 91 Meine Hervorhebung. 92 Christlich-Vernunfft-gemesser Trost (Anm. 7), S. 268. Bedenkt man, daß die Formel „Ad maiorem Dei gloriam“ „am Ende jeder Perioche eines Jesuitendramas“ stand und „geradezu als besonderes Kennzeichen einer Perioche der JesuitenDramatik angesehen“ werden konnte, so läßt sich dies als Zitation der jesuitischen Instrumentalisierung des Boethius durch dramatische Glaubenspropaganda begreifen. Zitate aus Szarota (Anm. 66), Bd. I/1, S. 10. 93 In dieser Hinsicht zeigt sie sich sogar opitztreuer als die Übersetzung Hellwigs, der in den Verspartien weitaus abwechslungsreichere metrische Experimente an-

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siert nicht. Und was vielleicht noch auffälliger ist: sie beschränkt sich, wiewohl die Edition von Vallinus zugrundegelegt wird, wie die Ausgabe Hellwigs ausschließlich auf die Consolatio, nimmt nicht die Boethius’ „fidem […] suamque cum Ecclesia Catholica communionem“ unter Beweis stellenden „opuscula sacra“ hinzu. 94 Daß dieser uneinheitliche, wenn nicht gar widersprüchliche Befund nicht von konfessioneller Indifferenz der Sulzbacher Consolatio-Ausgabe zeugt, sondern Methode hat, ja Ausdruck eines ambitionierten konfessionspolitischen Experiments ist, läßt sich erst ermessen, wenn man ihre gleichsam bikonfessionelle Faktur vor dem Hintergrund der besonderen Verhältnisse am Sulzbacher Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts liest.95 Im Zentrum dieses Experiments, für das der Begriff einer fast schon utopischen konfessionellen Toleranz in Anschlag gebracht werden kann, stehen der Sulzbacher Pfalzgraf Christian August, der jener Übersetzung von 1667 die Widmung an seine „liebe[n] Kinder“ vorangestellt hatte, und Franciscus Mercurius van Helmont, dem die Übertragung der Prosapartien oblag; der Name des Experiments lautet: Simultaneum. Um zu verstehen, wie das vom Sulzbacher Pfalzgrafen am 22. Februar 1652 in seinen Erbämtern eingeführte Simultaneum, eine „gleichberechtigte Religionsausübung […] für Lutheraner und Katholiken“, die die gemeinsame Nutzung der Kirchen und die Teilung der kirchlichen Einkünfte implizierte, zum utopischen Entwurf werden konnte, muß man von der Geschichte seiner Entstehung in der ersten Jahrhunderthälfte ausgehen. Denn das Institut des „simultaneum religionis exercitium“, das es insbesondere in den oberdeutschen Reichsstädten bereits gab, galt beiden Konfessionen nicht als Idealform toleranten religiösen Zusammenlebens, sondern war ungeliebtes Zugeständnis.96 Am Anfang der Sulzbacher Entwicklung steht, durchaus charakteristisch für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, erbittertste konfessionelle Konfrontation. 1613/14, noch im Vorfeld des Krieges, war Wolfgang Wilhelm, der als Pfalzgraf von Neuburg auch Landesherr über die Sulzbacher Erbämter war, zum Katholizismus konvertiert, 1627 hatte er im gesamten, überwiegend protestantischen Territorium militant die Gegenreformation durchführen lassen. Als 1645 sein Neffe, der lutherisch im norddeutschen Exil aufgewachsene Christian August, Erbfürst von Pfalz-

_____________ stellt und sich dabei in der Tradition der Pegnitzschäfer auch des Daktylus und des Anapästs bedient. Vgl. dazu van Gemert (Anm. 8), S. 127-134. 94 Vallinus (Anm. 14), S. 146. 95 Für die nachfolgende Darstellung vgl. Finke (Anm. 89) und vor allem Wappmann (Anm. 55). 96 Ebd., S. 41f.

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Sulzbach wurde, vertrat er mit spiegelbildlicher Unnachgiebigkeit die protestantische Sache und konnte 1649 gemäß dem Westfälischen Friedensinstrument mit Berufung auf das ‚Normaljahr‘ 1624 die Restitution des angestammten Protestantismus in seinem Land durchsetzen. Doch dann nimmt „die Religionspolitik des Pfalzgrafen Christian August im Mai 1651 eine überraschende Wendung“.97 Von einer religiösen Krise Christian Augusts ist die Rede, von seinem Ungenügen an der lutherischen Orthodoxie wie dem gegenreformatorischen Katholizismus sowie seiner Begegnung mit dem nominell katholischen, tatsächlich eher freigeistigen, zwischen 1661 und 1663 vorübergehend von der römischen Inquisition verhafteten ‚Eremiten‘ Franciscus Mercurius van Helmont.98 Im Februar 1652 erläßt der Sulzbacher Pfalzgraf, seinem bisherigen erfolgreichen Restitutionskurs zuwiderlaufend und entsprechend entsetzt von protestantischer, hoffnungsvoll von katholischer Seite aufgenommen, das sogenannte Simultaneum, das die Koexistenz beider Konfessionen in seinen Erbämtern institutionalisiert. Anfang 1656 folgt, unter dem Eindruck der Abdankung und Konversion Königin Christines von Schweden, der Übertritt Christian Augusts zum Katholizismus, wodurch der Pfalzgraf sich von seinem katholischen Vetter, Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg, die Landesherrschaft erkauft. Doch wieder erfüllen sich die Erwartungen an den Fürsten – dieses Mal seitens der Katholiken, insbesondere der Jesuiten, er werde nun auch seine Untertanen bald „zue dem wahren Schaffstall bringen“99 – nicht. Vielmehr wird das Simultaneum beibehalten und so nicht als Notbehelf und Übergangslösung im gängigen Verständnis kenntlich, sondern reinterpretiert als Institution eigener Dignität, die in der Folgezeit sogar noch ausgeweitet wird: zu einer „Toleranzpolitik“, die seit Mitte der 1660er Jahre nicht mehr nur Lutheranern und Katholiken, sondern „auch Reformierten und Juden, Spiritualisten und Pietisten galt“.100

_____________ 97 Ebd., S. 35. 98 Zu van Helmont vgl. außer Wappmann (Anm. 55), S. 64-68 und 177-180, Claus Bernet: „Helmont, Franciscus Mercurius van“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. http://www.bautz.de/bbkl/h/helmont_f_m.shtml. Von einem „konfessionell nach allen Seiten offenen, offiziell katholischen ‚Weisen‘“ spricht Klaus Jaitner: „Der Sulzbacher Intellektuellen-Zirkel und die konfessionellen Unionsbestrebungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts“, in: Morgen-Glantz 3/1993, S. 9-18, hier S. 17. 99 So die Formulierung seines Vetters Philipp Wilhelm von Neuburg. Ganz ähnlich der Regensburger Diözesanbischof Franz Wilhelm von Wartenberg (bei dem Hellwig Leibarzt ist). Wappmann (Anm. 55), S. 128. 100 Ebd., S. 3. Dazu ausführlicher ebd., S. 159-248.

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Vor diesem Hintergrund nimmt auch die sonderbar bikonfessionelle Gemeinschaftsarbeit der Sulzbacher Consolatio-Ausgabe von 1667 die kalkuliert experimentelle Kontur eines textuellen Simultaneums an: verstanden als fragil-utopische Alternative zur konfessionellen Kontroverse um einen für das je eigene Lager vereinnahmten Boethius, wie die ConsolatioÜbersetzungen von Hellwig und Caussin/Groschan sie markiert hatten. Wie nämlich auf Sulzbacher Territorium seit 1652 und über 1656 hinaus „die Kirchen / Schulen / Einkommen / vnd Exercitia […] simultaneè & divisim“ zu nutzen waren,101 so legen die Urheber des Christlich-Vernunfftgemessen Trostes auch den Text der boethianischen Consolatio „simultaneè“ perspektiviert vor: herausgebracht von dem reformierten Drucker Abraham Lichtenthaler,102 dem Christian August im Mai 1664 auf sein „nicht zuletzt aus konfessionellen Rücksichten“103 gestelltes Gesuch hin in Sulzbach Aufnahme gewährt hatte, unter der Bedingung, daß er sich „alles Scalirens und Schmälens wider die Simultanèe allhie zugelassene Religionen gäntzlichen enthalten […] solle“;104 gerahmt durch die Widmungszuschrift des katholisch-liberalen Konvertiten Christian August, in dessen Augen „Boëtius […] als ein Christlicher Mann“ spricht, welcher „seines Christlichen Lebens und Todes wegen unter die Zahl der beatificirten gerechnet wird“,105 sowie durch die das Buch beschließende jesuitische Devise „Omnia ad majorem DEI gloriam“;106 eingeleitet durch eine verhalten katholische Boethius-Vita, die eine Übertragung der von Vallinus gebotenen lateinischen Vita darstellt und wohl am ehesten dem ganz und gar unorthodoxen Katholiken van Helmont zuzuschreiben ist; 107 dazwi-

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101 Finke (Anm. 89), S. 53, Anm. 125. 102 Zu Lichtenthaler vgl. Wappmann (Anm. 55), S. 219-221, und Finke (Anm. 89), S. 241-249. 103 Ebd., S. 242. 104 Zitiert nach ebd., S. 249. Genaugenommen bezieht sich diese Formulierung aus dem pfalzgräflichen Privileg erst auf Abraham Lichtenthalers Sohn Johann Jacob, dem Christian August im selben Dokument auch ausdrücklich zusichert, „daß er und deßen Ehewürthin, und Angehörige beÿ der reformirten religion, als welcher sie beÿgethan ungehindert gelassen, und deßwegen nicht angefochten werden sollen“ (ebd., S. 248); sowohl Finke, S. 242f., als auch Wappmann (Anm. 55), S. 220 mit Anm. 113, können jedoch plausibel machen, daß bereits Abraham Lichtenthaler als Anhänger Calvins zu betrachten ist. Die entsprechende Klausel im Druckprivileg des Vaters lautet denn auch, daß „er, sein Weib, Kinder und Haußgesind sich […] gegen beederseits Religionen unärgerlichen und ohne Klag verhalten und erweisen sollen“ (Finke, S. 243). 105 Christlich-Vernunfft-gemesser Trost (Anm. 7), fol. Aiiijr und Avjv. 106 Ebd., S. 268. 107 Dies gegen van Gemert (Anm. 8), S. 125f., der Knorr für den Verfasser (nicht Übersetzer) der Vita hält und dafür als Argument geltend macht, daß „der Ver-

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schen als eigentliches Herzstück die von van Helmont und dem gleichfalls unorthodoxen, den frühen Sulzbacher Pietismus mit vorbereitenden Lutheraner Knorr „simultaneè“ nach protestantischen Grundsätzen verfertigte Consolatio-Übersetzung, wobei die poetologisch entschiedener durch die Opitzsche Reform codierten Metren aus der Feder des protestantischen Übersetzers stammen. Daß für diese als textuelles Simultaneumsexperiment konzipierte Consolatio-Ausgabe die als Simultaneum immerhin interpretierbare niederländisch-reformierte Edition des französischen Priesters Vallinus (über ihre philologischen Qualitäten hinaus) von besonderer Anziehungskraft sein mußte, ist unmittelbar einleuchtend. Inwieweit Vallinus seine BoethiusAusgabe tatsächlich an der Idee des konfessionellen Simultaneums und damit womöglich verbundenen Reunierungsbestrebungen ausrichtete, läßt sich angesichts der spärlichen biographischen Informationen nicht mehr klären. Hellwigs konfessionspolemische Auseinandersetzung mit Vallinus’ Ausgabe stellt jedenfalls kein Argument gegen deren simultane Konzeption dar, standen orthodoxe Katholiken und orthodoxe Lutheraner wie Nürnbergs prominenter Prediger Johann Michael Dilherr der Sulzbacher Simultaneumskonstruktion doch gleichermaßen ablehnend gegenüber.

6. Boethius auf dem Helikon: ein Simultaneum der „Deutschen Poeterey“? Noch bevor van Helmont 1697, acht Jahre nach Knorrs Tod, den Vernunfft-gemessen Trost in zweiter Auflage herausbringt und dabei das Geheimnis der gemeinsamen Urheberschaft lüftet, erscheint 1684 beim Nürnberger Verleger Felßecker anonym eine eigenartige Sammlung: Neuer

_____________ fasser/Bearbeiter der Vita und derjenige, der die drei in ihr enthaltenen deutschen Fassungen den lateinischen Vorlagen bei Helwig nachdichtete, […] ein und dieselbe Person“ seien. „Bezeichnete dieser sich doch in der Vita als das Ich, das auch die drei Gedichte verdeutschte. Warum sollten aber diese Gedichte von jemand anderem übertragen worden sein als die im eigentlichen Boethius-Text?“ Die von van Gemert angeführte Stelle aus dem Christlich-Vernunfft-gemessen Trost, S. 16 („ein Klaglied […] / welches / weil darinnen die Eheliche Liebszuneigung gar eigentlich / und als noch lebend ausgedruckt / ich verteutscht hiebey setzen will“) kann deshalb nicht überzeugen, weil das Ich bereits dasjenige des Vallinus ist und nur das „verteutscht“ dem Übersetzer zuzurechnen ist. Vgl. Vallinus (Anm. 14), fol. *2v/fol. *3r: „carmine […]; quod quia mirè maritales affectus spirat, subjiciam“. Im übrigen stimmen die jeweils in die Vita eingelegten Verspartien bei Hellwig einerseits und Vallinus/ van Helmont/ Knorr andererseits auch nicht überein.

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Helicon mit seinen Neun Musen Das ist: Geistliche Sitten-Lieder / Von Erkäntniß der wahren Glückseligkeit / und der Unglückseligkeit falscher Güter; dann von den Mitteln zur wahren Glückseligkeit zu gelangen / und sich in derselben zu erhalten. Von einem Liebhaber Christlicher Ubungen zu unterschiedlichen Zeiten Mehrentheils zur Auffmunterung der Seinigen Theils neu gemacht / theils übersetzet / theils aus andern alten / bey Unterrichtung seiner Kinder geändert. Nunmehro aber zusammen geordnet und von einem guten Freunde zum Druck befödert. Sampt einem Anhang Von etlichen geistlichen Gedichten desselben / darunter des Herr Foucqet in Frantzösischen Versen unter wehrender seiner Gefängnüß geschriebene Bekehrung / in Teutsch übersetzet. Wie auch Ein geistliches Lust-Spiel / Von der Vermählung Christi mit der Seelen.108 Wer sich hinter dem ungenannten „Liebhaber Christlicher Ubungen“ verbirgt, gibt kaum verhüllt das als „Nach-Schrifft“ zu seinen Liedern „An Die Wohl-Edelgebohrne Frau Anna Sophia K. v. R. […] Meine Hertz-vertraute Ehe-Liebste“ präsentierte „geistliche Lust-Spiel“ zu erkennen:109 Christian Knorr von Rosenroth. In diesen neuen Kontext transponiert finden sich fünfzehn der von Knorr übersetzten Verseinlagen aus der Consolatio-Verdeutschung von 1667.110 Wie ist der intertextuelle Weg von etwas mehr als einem Drittel der boethianischen Metra zu verstehen? Thematisch, das zeigt schon die Titelformulierung „Von Erkäntniß der wahren Glückseligkeit / und der Unglückseligkeit falscher Güter…“, begeben die Lieder der Consolatio sich keineswegs auf fremden Boden. Gleichwohl treten sie in aus protestantischer Perspektive ungewohnter, ja geradezu bunter Gesellschaft in Erscheinung: umgeben von Texten, die zwar als geistlich und poetisch ausgewiesen sind, somit dem ersten Anschein nach der konfessionellen Codierung einer „Deutschen Poeterey“

_____________ 108 Neuer Helicon mit seinen Neun Musen Das ist: Geistliche Sitten-Lieder / Von Erkäntniß der wahren Glückseligkeit / und der Unglückseligkeit falscher Güter; dann von den Mitteln zur wahren Glückseligkeit zu gelangen / und sich in derselben zu erhalten. Von einem Liebhaber Christlicher Ubungen zu unterschiedlichen Zeiten Mehrentheils zur Auffmunterung der Seinigen Theils neu gemacht / theils übersetzet / theils aus andern alten / bey Unterrichtung seiner Kinder geändert. Nunmehro aber zusammen geordnet und von einem guten Freunde zum Druck befödert. Sampt einem Anhang Von etlichen geistlichen Gedichten desselben / darunter des Herr Foucqet in Frantzösischen Versen unter wehrender seiner Gefängnüß geschriebene Bekehrung / in Teutsch übersetzet. Wie auch Ein geistliches Lust-Spiel / Von der Vermählung Christi mit der Seelen. Nürnberg / Verlegts Joh. Jonathan Felßecker / 1684. Zitiert wird nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Berlin. 109 Ebd., S. 211. 110 Vgl. dazu Guillaume van Gemert: „Knorrs Nachdichtungen lateinischer Kirchenhymnen. Zu ihrem Stellenwert und zum Funktionszusammenhang im Neuen Helicon“, in: Morgen-Glantz 8/1998, S. 124-169.

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Opitzscher Prägung verpflichtet sein könnten, die sich jedoch, sieht man genauer hin, auf ihre Faktur ebenso wie auf ihre Provenienz, eher ein simultanes Stelldichein nach Sulzbacher Vorbild geben. Denn was ist auf Knorrs Neuem Helicon außer den „Theils neu gemacht[en] / theils übersetzet[en]“ Liedern – den unveränderten, nach wie vor nicht christianisierten boethianischen carmina111 und eigenen Neudichtungen – sonst noch anzutreffen? „Theils“, so lautet die letzte Provenienzangabe im Titel, „aus andern alten / bey Unterrichtung seiner Kinder geändert“, und was damit gemeint ist, zeigt sich, wenn man in der Sammlung blättert. Auf eine mit der sechsten „Aria“, „Von den Früchten der Gemüths-Ruh / aus dem Boëthio und dessen 1. Buch“,112 beginnende, zwölf Texte umfassende erste Sequenz von Übersetzungen aus der Consolatio folgen einundzwanzig weitere, teils geistliche, teils wiederum boethianische Lieder, allesamt deutschsprachig, ehe man mit der „Aria 39“ erstmals auf eine zweisprachige, lateinisch-deutsche Präsentation stößt: 1. Durch blosses Gedächtnus / dein Jesu / geniessen / Kan Sinnen und Hertzen wie Honig durchsüssen: Wilst aber du selber dich bey uns befinden / Muß alles geschweige das Honig verschwinden. 1. Jesu dulcis memoria Dans vera cordi gaudia; Sed super mel & omnia, Ejus dulcis præsentia. 2. Man singet nichts schöners in himmlischen Chören; Man kan auch auf Erden nichts lieblichers hören. So ist auch im dencken nichts süssers zu loben / Als Jesus die Gabe deß Vaters von oben. 2. Nil canitur suavius, Nil auditur jucundius: Nil cogitatur dulcius, Quam Jesus Dei filius. 113

Und so geht es im Wechsel von Deutsch und Latein weiter bis zur achtundvierzigsten Strophe. Doch nicht nur das verwundert, sondern mehr noch, um wessen Gastspiel es sich hier handelt: „Aufmunterung deß Glau-

_____________ 111 Vgl. ebd., S. 126. 112 Neuer Helicon (Anm. 108), S. 9. 113 Ebd., S. 92f.

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bens aus dem Namen Jesu / nach Anleitung deß Jubel Lieds Bernhardi“, heißt die Überschrift, gemeint ist kein anderer als Bernhard von Clairvaux.114 Auf insgesamt acht solcher „Hymnen der alten Kirche“115 stößt man bei fortschreitender Lektüre im Neuen Helicon,116 durchweg im Wechsel von deutscher Übersetzung und lateinischer Originalstrophe geboten, als Autoren firmieren außer Bernhard von Clairvaux Venantius Fortunatus,117 Papst Gregor I.,118 Prudentius119 und Thomas von Aquin,120 drei Hymnen sind anonym.121 Das nimmt sich aus wie eine pointierte Replik auf die im Medium der Übersetzung ausgetragene Kontroverse um den Text der boethianischen Trostschrift zwischen Caussin/Groschan und Hellwig 1657/60. In der Heiligen Hoffhaltung war die Consolatio unter dem Deckmantel vorgeblich getreuer Übersetzung ins Deutsche als raffiniert manipulierter Textzeuge für die katholisch-martyriologische Lesart vereinnahmt, ja gar durch Bernhards von Clairvaux De consideratione substituiert worden, woraufhin unter umgekehrten konfessionellen Vorzeichen Hellwig den unkontaminierten boethianischen Text für das durch Luther und Opitz protestantisch codierte Feld der „Teutsche[n] Heldensprach“122 reklamiert hatte. Jetzt, gut zweieinhalb Jahrzehnte nach der Heiligen Hoffhaltung, kommt es erneut zur textuellen Begegnung zwischen Boethius und Bernhard von Clairvaux.123 Doch gewährt die Simultankon-

_____________ 114 Tatsächlich handelt es sich nur um einen „pseudobernhardinischen ‚Jubelgesang‘“, vgl. van Gemert (Anm. 110), S. 142. 115 Ebd., S. 141. 116 Vgl. dazu ebd., S. 141f., sowie den Abdruck der acht Lieder im Anhang, S. 155169. 117 Vgl. Neuer Helicon (Anm. 108), S. 109: „Aufmunterung deß Glaubens aus der betrachtung deß Leidens Christi: nach Anleitung deß Venantii Fortunati, in seinem Liede: Pange lingua gloriosi &c.“. 118 Vgl. ebd., S. 113: „Dergleichen Glaubens-Auffmunterung aus dem Liede deß Gregorii Rex Christe factor omnium &c.“. Auch hier handelt es sich um eine Fehlzuschreibung, vgl. van Gemert (Anm. 110), S. 143. 119 Vgl. Neuer Helicon (Anm. 108), S. 165: „Abermahlige Weynachts-Andacht / aus dem Prudentio“. 120 Vgl. ebd., S. 174: „Andacht auf das heilige Abendmahl; nach dem Liede Thomæ Aquinatis: Lauda Sion Salvatorem &c.“. 121 Vgl. ebd., S. 129: „Aufmunterung aus dem Liede: Ad cœnam Agni providi &c.“, S. 163: „Weyhnachts-Andacht / nach Anleitung eines Lateinischen“, und S. 179: „Andacht von der Liebe Jesu; nach einem Lateinischen“. 122 Christlich vernünftiges Bedenken (Anm. 8), fol. )(vjr. 123 Daß dabei von einem gezielten intertextuellen ‚Geistergespräch‘ zwischen dem Neuen Helicon und der Bezugnahme auf Bernhard von Clairvaux in der Heiligen Hoffhaltung ausgegangen werden kann, darauf deutet ein weiterer in Knorrs Simultanwerk Asyl findender Text hin, der auf dem Titelblatt eigens als „Anhang“ ge-

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struktion des Neuen Helicon ihnen einen Raum poetischer Koexistenz, in dem für die deutschen Verse das Opitzsche Reglement, wenngleich gelokkert (so ist etwa der Daktylus zugelassen), immer noch Gültigkeit hat, einige Lieder von der lateinisch-katholischen Hymnik jedoch „simultaneè & divisim“124 mitgenutzt werden. Genauer noch: die alten Hymnen sind es, die sich für die deutschen Übersetzungsstrophen öffnen, ihnen in genau festgelegtem Wechsel jeweils den Vortritt lassen. Der „Neue Helicon mit seinen Neun Musen“ kann Knorrs Liedersammlung dann auch mit Blick darauf heißen, daß sein Entwurf eines poetischen Simultaneums die offensive konfessionelle Codierung der „Deutschen Poeterey“ Opitzscher Prägung zu überschreiten sucht. Für Boethius und seine Consolatio Philosophiae führt der rezeptionsgeschichtliche Weg damit endgültig aus der Schußlinie einer konfessionalisierten Philologie.

_____________ nannt wird: „des Herrn Foucqet in Frantzösischen Versen geschriebene Bekehrung / in Teutsch übersetzet“. Gemeint ist des französischen Jesuitenzöglings Nicolas Fouquet, der aus politischen Gründen 1661 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, im Gefängnis verfaßte Schrift Le Chrestien desabusé du monde, ein Text, der sich „als eine implizite Auseinandersetzung und Widerlegung der äußerst erfolgreichen Darstellung La Cour sainte, deutsch Die heilige Hoffhaltung des Jesuiten Nicolas Caussin sehen“ läßt, so wie Fouquet „als eine Art moderne[r] Boethius“ erscheint. Vgl. Rosmarie Zeller: „Knorrs Übersetzung von Nicolas Fouquets Le Chrestien desabusé du monde“, in: Morgen-Glantz 8/1998, S. 109-124. Zitate: S. 114 und 113. 124 Finke (Anm. 89), S. 53, Anm. 125.

Der Trost der Philosophie und die christliche Tugend der Demut Reniers de Saint-Trond lateinischer Kommentar (ante 1381) und Colard Mansions französische Übersetzung (1477) der kommentierten Consolatio Philosophiae FRANZ LEBSANFT (Bonn) The article analyzes Renier of Sint Truiden’s prologue to his commentary of the ‚Consolatio Philosophiae‘ and its French translation in the comprehensive incunabula edition, printed by Colard Mansion at Bruges on 28 June 1477. The first part of the bipartite introduction is a comfort sermon based on psalm 118 (119),50 („This is my comfort in my affliction, for Thy word hath quickened me.“); the second part is an accessus, mainly following the Boethian model ‚C‘ (Hunt). Making an abundant yet sophisticated use of citations from the Bible, but also from ancient and medieval authors, Renier’s filigrane work as a ‚compiler‘ (in the Bonaventurian sense of the word) establishes a neat correspondence between gentile ‚philosophia‘ and Christian ‚sapientia‘. It is argued that the French translation of Renier’s ‚interpretatio christiana‘ was particularly welcome in the multilingual Southern Netherlands during the period between the death of Charles the Bold (5 January 1477), the public execution of Gui de Brimeu and Guillaume Hugonet (3 April 1477), and Maximilian’s marriage with Mary of Burgundy (19 August 1477), a period of grievous sufferings which the incunabula explicitly refers to in its epilogue. Finally, the article proposes the hypothesis that Mansion’s ambitious verse-prose translation met the spiritual needs of a cultivated urban society influenced by the religious movement of the ‚Devotio moderna‘.

1. Rezentrierung: „Mansions incunabel roept om nader onderzoek“1 Es ist bekannt, dass die Consolatio Philosophiae2 im französischen Mittelalter eine überwältigend reiche Übersetzungstradition aufweist, für die es in

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Zu dem – wie ich im Folgenden deutlich machen möchte – aus gutem Grund auf Niederländisch gewählten Zitat s. unten, Anm. 24. Ich zitiere den lateinischen Text nach Anicius Manlius Severinus Boethius: Philosophiae Consolatio, Ludovicus Bieler (Hrsg.), Turnhout 1957; vgl. noch Anicius

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anderen Sprachgemeinschaften keine Parallele gibt. Für den Zeitraum von ca. 1230 bis 1477 sind nicht weniger als zwölf verschiedene Übersetzungen überliefert, teils in Versen, teils in Prosa, aber auch in prosimetrischer Form, dabei überwiegend versehen mit Prologen und Kommentaren.3 Die jüngste dieser mittelalterlichen Übersetzungen, deren Druck Colard Mansion am 28. Juni 1477 in Brügge veranstaltete, hat bisher die geringste Aufmerksamkeit erfahren.4 Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Den gewichtigsten liefert Pierre Courcelle in seiner epochalen Monographie zur „literarischen Tradition“ der Consolatio.5 Zwar bietet Mansions Druck nicht nur eine anspruchsvolle prosimetrische Übersetzung, sondern auch einen umfangreichen Kommentar. Doch dieser beruht auf dem lateinischen Text Reniers de Saint-Trond (Reinerus de Sancto Trudone / Renier van Sint-Truiden),6 dem Courcelle wie so vielen anderen Kommentatoren des

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Manlius Severinus Boethius: De consolatione philosophiae, Claudio Moreschini (Hrsg.), München 2000; 22005. S. zuletzt Glynnis M. Cropp: „Boethius in Translation in Medieval Europe“, in: Harald Kittel u.a. (Hrsg.), Übersetzung. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, Berlin-New York 2007, Bd. 2, S. 1329-1337. Die Zählung der französischen Übersetzungen, die auf Antoine Thomas / Mario Roques: „Traductions françaises de la Consolatio philosophiae de Boèce“, in: Histoire littéraire de la France, Paris 1938, Bd. 37, S. 419-488, 543-547, beruht, umfasst zwar 13 Nummern, doch habe sich – so Cropp, S. 1331 – Übersetzung XI als eine „strange amalgamation of translations IX and X“ erwiesen. Cropp behält dennoch die Ziffer XI gewissermaßen als Platzhalter bei. Anna Maria Babbi: „Introduction“, in: Anna Maria Babbi (Hrsg.), L’‚Orphée‘ de Boèce au Moyen Âge. Traductions françaises et commentaires latins (XIIe-XVe siècles), Verona 2000, S. IX-XXIX, hier S. XXVIII-XIX, streicht hingegen Nr. XI aus der Zählung, so dass die bisherigen Nr. XII und XIII bei ihr nunmehr die Nr. XI und XII erhalten. Vgl. noch mit derselben Nummerierung Anna Maria Babbi (Hrsg.): Rinascite di Ercole. Convegno internazionale Verona, 29 maggio-1 giugno 2002, Atti, Verona 2002, S. 379. Eine abweichende, in der Forschung ungebräuchliche Nummerierung verwendet Richard A. Dwyer: Boethian Fictions. Narratives in the Medieval French Versions of the ‚Consolatio Philosophiae‘, Cambridge, Mass. 1976. Es handelt sich also um die Übersetzung XIII (Cropp, Anm. 3) bzw. XII (Babbi, Orphée, Anm. 3). Nähere Angaben zu diesem Druck s. unten, Abschnitt 2.1. Pierre Courcelle: La ‚Consolation de Philosophie‘ dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967. In der Literatur finden sich verschiedene Schreibungen des Namens (Renier, Regnier, Reinier, Reynier). Ich verwende die standardisierte Form des Répertoire des auteurs (français/latin), version juin 2007, S. 16, http://www.cicweb.be/medias/ docs/D10399.pdf (Stand: 14.5. 2008), die auf Albert Derolez (Hrsg.): Corpus catalogorum Belgii. The medieval booklists of the Southern Low Countries, Bd. 2 Provinces of Liège, Luxemburg and Namur, Brüssel 1994, beruht.

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14. und 15. Jahrhunderts mangelnde Originalität attestiert.7 Erst Lodi Nauta hat sich in einer jüngeren Publikation daran gemacht, die von Courcelle errichteten, massiven Mauern niederzureißen, welche den vorurteilsfreien Blick auf die spätmittelalterliche Aneignung der Consolatio jahrzehntelang verhindert haben. Courcelles vernichtendes Urteil, so Nauta, beruhe auf einem vollkommen anachronistischen Begriff von Originalität und einer ahistorischen Dekontextualisierung der Texte, um die es geht. Er habe – was man doch eigentlich für eine Binsenwahrheit halten möchte – völlig verkannt, dass es für den Literarhistoriker im Unterschied zum Literaturkritiker entscheidend darauf ankomme, die Kommentare in dem intellektuellen und institutionellen Milieu zu situieren, in dem sie entstanden seien und in dem sie ihre Wirkung entfaltet hätten.8 Wer solchen Einwänden noch immer nicht folgen möchte, meint womöglich mit Courcelle, erst in dem Kommentar des Josse Bade d’Asche (Jodocus Badius Ascensius)9 Licht am Ende des langen mittelalterlichen Tunnels zu erblicken: Hier wehe der neue Geist der Renaissance.10 Dabei sah sich Bade, wie Nauta hartnäckig in Erinnerung ruft, durchaus in der Kontinuität seiner Vorgänger, wenn er seine streng grammatischen Erläuterungen als Ergänzung zu dem von ihm ebenfalls abgedruckten philosophisch-theologischen Kommentar von Pseudo-Thomas verstand.11

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Courcelle (Anm. 5), S. 325. Lodi Nauta: „Some Aspects of Boethius’ Consolatio Philosophiae in the Renaissance“, in: Alain Galonnier (Hrsg.), Boèce ou la chaîne des savoirs. Actes du colloque international de la Fondation Singer-Polignac, présidée par Monsieur Édouard Bonnefous, Paris, 8-12 juin 1999, Löwen-Paris-Dudley, Ma. 2003, S. 767-778, hier S. 768. Nautas Kritik betrifft auch Anthony Grafton: „Epilogue: Boethius in the Renaissance“, in: Margaret Gibson (Hrsg.), Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 410-415. Ganz im Sinne Nautas bietet C. H. Kneepkens: „Consolation for the Soul. The Personal Prologues of Late Medieval Commentators of Boethius‘s De Consolatione Philosophiae“, in: Rudolf Suntrup / Jan R. Veenstra (Hrsg.), SelfFashioning. Personen(selbst)darstellung, Frankfurt am Main 2003, S. 211-233, eine rekontextualisierte Analyse der Prologe Treveths, Wheteleys, Reniers, Grebans und Tholomaeus‘. 9 Lugdunum: impressum per Johannem de Vingle, 20. April 1498. Der Incunabula Short Title Catalogue (im Folgenden: ISTC) der British Library (Nr. ib00808000) führt als Titel auf: „De consolatione philosophiae (Comm: pseudo-Thomas Aquinas and Jodocus Badius Ascensius). Add: Quintilianus: De officio discipulorum [Institutio oratoria II.9] (Comm: Jodocus Badius Ascensius). Pseudo-Boethius: De disciplina scholarium (Comm: pseudo-Thomas Aquinas)“; vgl. noch GW2 Nr. 4569. S. auch den Beitrag von Reinhold Glei in diesem Band. 10 Courcelle (Anm. 5), S. 331-332. 11 Nauta, Renaissance (Anm. 8), S. 778, vgl. jetzt auch Lodi Nauta: „The Consolation: the Latin Commentary Tradition, 800-1700”, in: John Marenbon (Hrsg.), The

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Ein zweiter Grund für die bisher geringe Beachtung des Brügger Drucks dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass dessen lateinische Vorlage – die Commentaria super tractatum Boethii de consolatione philosophiae des Renier de Saint-Trond – bisher nur sehr wenig erschlossen ist. Ohne sie ernsthaft zu nutzen, listete Courcelle immerhin drei Textzeugen dieses Kommentars auf, eine datierte Lütticher Handschrift, Bibliothèque Universitaire 348 (früher: 705), sowie die beiden Handschriften Paris, Bibliothèque Mazarine 3859, und Paris, Bibliothèque Nationale, fonds latin 14.416 (unvollständig).12 Adriaan Pattin, der diese drei Manuskripte 1982 eingehender beschrieb, wies erstmals auf eine vierte Handschrift, Paris, Bibliothèque de la Sorbonne 634, hin.13 In einer weiteren Publikation hat Pattin versucht, nach der Lütticher Handschrift alle von Renier verwendeten Zitate nachzuweisen.14 Zur selben Zeit erschien eine kleine Teiledition: Auf der Grundlage von L (Lüttich), M (Paris, Bibliothèque Mazarine) und S (Paris, Bibliothèque de la Sorbonne) gab Graham N. Drake erstmals einen kleinen Ausschnitt aus Renier heraus, und zwar den Kommentar zu Buch III 12m. Als Leithandschrift fungiert dabei L, die 1381 von einem Schüler Reniers, Michaelis de Rethy (f. 166v b; Michiel van Retie), angefertigt wurde.15 Bisher fast unbekannt ist der Forschung allerdings, dass es wenigstens noch eine fünfte, leider beschädigte Handschrift gibt, und zwar die noch nicht katalogisierte Handschrift 697 der Universitäts- und

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Cambridge Companion to Boethius, Cambridge 2009, S. 255-278, hier S. 270-273. Zu Kontinuitäten am Übergang vom Spätmittelalter zur Renaissance, wenigstens in den Niederlanden, s. auch Mariken Goris / Lodi W. Nauta: „The Study of Boethius’s Consolatio in the Low Countries around 1500: The Ghent Boethius (1485) and the Commentary by Agricola / Murmellius (1514)“, in: F. Akkerman u.a. (Hrsg.), Northern Humanism in European Context, 1469-1625. From the ,Adwert Academy‘ to Ubbo Emmius, Leiden-Boston-Köln 1999, S. 109-130; s. jetzt auch R. Glei (Anm. 9) zu diesem Problem. Courcelle (Anm. 5), S. 416. Adriaan Pattin: „Reinerus van St.-Truiden, rector van de Latijnse School te Mechelen (circa 1370) en commentator van Boëthius’ De consolatione Philosophiae“, in: Tijdschrift voor Filosofie 44/1982, S. 298-319, hier S. 306-308. Adriaan Pattin: Die Bibliotheek der Latijnse School te Mechelen circa 1350, Heverlee 2000. Die minutiösen Nachweise dieser äußerst nützlichen Zusammenstellung sind allerdings – wie Pattin selbst einräumt (S. 4) – nicht ganz vollständig. Graham N. Drake: „Commentaire de Regnier de Saint Trond sur De consolatione philosophiae de Boèce“, in: Babbi (Hrsg.), Orphée (Anm. 3), S. 213-234. Zur Lütticher Leithandschrift s. auch den Guide en ligne des manuscrits médiévaux WallonieBruxelles, http://www.cicweb.be/fr/index.php (Stand: 14.5. 2008), Lüttich, Hs. 348. Retie befindet sich ca. 15 km südöstlich von Turnhout, s. M.P. Angenent: „Het Gentse Boethiuscommentaar en Renier van Sint-Truiden“, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 107/1991, S. 274-310, hier S. 306, Anm. 32.

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Landesbibliothek Darmstadt. „Der Buchblock“ – so die im Internet zugängliche Beschreibung des auf 1427 datierten ursprünglich Lütticher Manuskripts, mit der die Darmstädter Bibliothek für eine Patenschaft zur Restaurierung des Codex wirbt, – „ist verformt, die Blätter stark verschmutzt, viele Einzelblätter weisen Fehlstellen, Risse, Knicke und Wasserränder auf“.16 Einen dritten Grund für das bisherige Desinteresse an Mansions Druck hängt mit seiner – von der französischen Sprachgemeinschaft aus gesehen – geographischen und vermeintlich auch kulturellen Randlage zusammen, die sich heute in entsprechenden, nicht leicht zu überwindenden fachlichen Grenzziehungen widerspiegelt. Denn eine den historischen Verhältnissen angemessene Rezentrierung, welche bei der Betrachtung des Brügger Drucks die spätmittelalterlichen südlichen Niederlande zum Mittelpunkt nähme, würde auch aus romanistischer Sicht einen multilingualen Kulturraum entdecken, in dessen gebildeten Kreisen seit dem Hochmittelalter viele Sprachen, nicht nur Flämisch und Französisch, sondern auch Latein, Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch, zirkulierten. Philippe de Commynes, der 1477 auf der Seite der französischen Kriegspartei in Flandern war, zeigt sich angetan vom kosmopolitischen Kapitalismus Brügges, „qui est grand recueil de marchandise et grand assemblee de nations estranges“.17 Weil eben auch die flämischsprachige Literatur wenigstens ansatzweise einbezogen werden muss, sind es vor allem Niederlandisten, welche sich mit diesem faszinierenden Gegenstand beschäftigen. Im Rahmen einer sinnvollen Arbeitsteilung müsste das für die Romanisten ja kein Schaden sein, unter der Voraussetzung freilich, dass sie stärker bereit wären, niederländisch verfasste Publikationen zur Kenntnis zu nehmen. Auf dem engeren Feld der Boethiusforschung könnten sie auf

_____________ 16 Reinerus de Sancto Trudone: Commentarius super De consolatione philosophiae Boetii, Lüttich 1427, Papier, 223 Bl. 29,2 x 21,2 cm, http://elib.tu-darmstadt.de/ulb/ buchpaten/Hs697.html (Stand: 14.5. 2008); s. den Hinweis bei Paul Oskar Kristeller: Iter Italicum, Bd. 3 Alia Itinera 1: Australia to Germany, London 1987, S. 513. Vgl. noch Paulus Volk: „Baron Hüpsch und der Verkauf der Lütticher St. Jakobsbibliothek (1788)“, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 42/1925, S. 201-217. Auf eine weitere, in der Forschung bisher nicht verwendete und von mir ebenfalls noch nicht eingesehene Hs., Barcelona, Biblioteca Central, Cod. 631, macht mich Annelies van Gijsen (Antwerpen) dankenswerterweise aufmerksam, vgl. Paul Oskar Kristeller: Iter Italicum, Bd. 4 Alia Itinera 2: Great Britain to Spain, London 1989, S. 489.

17 Philippe de Commynes: Mémoires, Joël Blanchard (Hrsg.), Genf 2007, Bd. I, S. 400. Bei den „nations estranges“ handelt es sich um die ausländischen Handelsniederlassungen. S. dazu Joël Blanchard: Commynes l’européen. L’invention du politique, Genf 1996, S. 61-63.

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diese Weise weit mehr als bisher auf Studien aufmerksam werden, die Renier de Saint-Trond nicht nur als gewichtigen Prätext für den mittelniederländischen, von Arend de Keysere 1485 in Gent veranstalteten, monumentalen Prachtdruck behandeln,18 sondern in diesem Zusammenhang auch auf Mansions französischen Druck von 1477 eingehen.19 Zwar schloss die ältere niederlandistische Forschung noch aus, dass der anonyme Verfasser des Genter Drucks, der sich durchaus auf französische Quellen beruft, den Mansion’schen Text benutzt haben könnte;20 doch neuerdings möchte das Mariken Goris nicht mehr vollkommen in Abrede stellen.21 Was nun die Benutzung von Reniers Kommentar in den volkssprachigen Übersetzungen angeht, so stellt dieser nach Goris für den Genter Druck zwar einen wichtigen, doch stark bearbeiteten und bei weitem auch nicht den einzigen Bezugpunkt dar.22 Demgegenüber lehne sich der Brügger Druck in seinen Kommentarteilen trotz mancher im Einzelnen anzubringenden Einschränkungen wesentlich enger an die lateinische Vorlage an.23 Trotz des erstmals genaueren Nachweises inhaltlicher und struktureller Übereinstimmungen zwischen Renier und Mansion rät Goris bei ihrem sehr vorläufigen Fazit allerdings zur Vorsicht in der

_____________ 18 Ghent: Arend de Keysere, 3. Mai 1485, ISTC-Nr. ib00812000 der British Library; vgl. noch GW2 Nr. 4574. 19 Die englische Publikation von Mariken Goris / Wilma Wissink: „The Medieval Dutch Tradition of Boethius’ Consolatio Philosophiae“, in: Maarten J.F.M. Hoenen / Lodi Nauta (Hrsg.), Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the ‚Consolatio Philosophiae‘, Leiden-New York-Köln 1997, S. 121-165, schenkt anders als Goris’ unten in Anm. 21 genannte Dissertation Mansions Druck noch kaum Beachtung. 20 J.M. Hoek: De Middelnederlandse vertalingen van Boethius’ ‚De Consolatione Philosophiae‘, met een overzicht van de andere Nederlandse en niet-Nederlandse vertalingen, Harderwijk 1943, S. 35-37, 114-118; Angenent (Anm. 15), S. 307, Anm. 47. 21 Mariken Goris (auch: Maria Jozefine): Boethius in het Nederlands. Studie naar en tekstuitgave van de Gentse Boethius (1485), boek II, Diss. Nijmegen, Hilversum 2000, S. 34. Die seit längerem angekündigte Edition des Buchs I von Wilma Wissink ist bisher nicht erschienen. 22 Goris (Anm. 21), S. 56. Vgl. auch Annelies van Gijsen: „Hoe alkemie van selves warachtich es. De alchemie-passage in de Gentse Boethius“, in: Orlanda S.H. Lie / Lenny M. Veltman (Hrsg.), Kennismaken. Een Bloemlezing uit de middelnederlandse Artesliteratuur, Hilversum 2008, S. 91-112, hier S. 92. 23 Vgl. auch die ähnliche Einschätzung von J. Keith Atkinson in seiner zu Drakes lateinischer Teilausgabe (Anm. 15) parallelen Edition des Mansion’schen Textes von Buch III 12m mit Kommentar: „Le livre de Boece de Consolation de Phylosophye“, in: Babbi (Hrsg.), Orphée (Anm. 3), S. 125-139. Vgl. noch die analoge Teiledition von Buch IV 7m mit Kommentar in Babbi (Hrsg.), Ercole (Anm. 3), S. 475-493.

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Bewertung des Brügger Drucks: „Mansions incunabel roept om nader onderzoek“.24

2. Kontextualisierung: Reniers und Mansions Einleitungen 2.1. Texteinrichtung und Textstruktur Courcelle fertigte den Kommentar Reniers und dessen von Mansion gedruckte Übersetzung auf einer knappen Seite elegant ab: Zwar sei Renier weniger „pedantisch“25 als der (von Courcelle zuvor behandelte) Kommentar Pierres d’Ailly, doch biete auch er keine zuverlässigen Informationen. So verorte Renier z.B. den Kaukasus auf Sizilien. Alkybiades halte er zwar wenigstens nicht für Hercules’ Mutter, doch immerhin noch für einen Athener Königssohn. Andererseits sei Renier durchaus bewusst, welche christlich-theologischen Probleme die platonisch inspirierten Konzepte des Schöpfungsgesangs von Buch III 9m aufwürfen. Insgesamt gelte jedoch (wie bereits ausgeführt): „(...) ce commentaire ne présente pas grande originalité“.26 Eine ihren Gegenständen gerecht werdende, historisch angemessene Interpretation darf von einer solchen summarischen Betrachtungsweise in der Tat getrost Abstand nehmen und den von Nauta ins Feld geführten Gesichtspunkt der Kontextualisierung entschieden aufgreifen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Interpretation von Reniers lateinischem Kommentar als auch der von Mansion gedruckten französischen Übersetzung von Boethius’ Text samt Reniers Kommentar. Aus texthistorischer Sicht bietet es sich dabei an, den Fokus auf die Veränderung der Text- oder Diskurstradition zu legen,27 die sich funktionell dadurch ergibt, dass die Consolatio in einen Kommentar ‚eingelegt‘ wird und das kunstvolle Ergeb-

_____________ 24 Goris (Anm. 21), S. 130. Es wird im Übrigen bei Goris nicht recht deutlich, ob sie den lateinischen Text von Renier de Saint-Trond, den sie nach der „zeer moeilijk“ (S. 55) zu lesenden Lütticher Hs. von 1381 zitiert, in toto zur Kenntnis genommen hat. 25 Es sei daran erinnert, dass das Konzept des in den Molière’schen Dramen immer wieder ridikülisierten „pédant“ der französischen Klassik entstammt, auf dessen negativer Folie sich das Ideal des „honnête homme“ abhebt. Oder um es anders zu sagen: Ganz offensichtlich wollte der große Gelehrte Courcelle kein Gilles Ménage sein, der bekanntlich für Molières „Vadius“ Pate gestanden hatte! 26 Courcelle (Anm. 5), S. 325. 27 Vgl. Silvia Albesano: ‚Consolatio Philosophiae‘ volgare. Volgarizzamenti e tradizioni discorsive nel Trecento italiano, Heidelberg 2006.

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nis dieser (christlichen) ‚Intarsie‘ auch noch übersetzt wird. Man könnte auch – vielleicht etwas gewagt – von ‚Spolienverwendung‘ sprechen.28 Daher sollte man nicht nur (wie bisher) punktuell bei dieser oder jener, mehr oder weniger willkürlich gewählten Textstelle ansetzen. Statt – durchaus interessante – ‚Probebohrungen‘ vorzunehmen, gilt es, die möglichen Kontextfaktoren in systematischer Weise zu untersuchen. Angesichts der Tatsache, dass bisher weder der gesamte lateinische noch der französische Text erfasst sind, bietet es sich an, beim ‚Anfang anzufangen‘ und Reniers bzw. Mansions Einleitung unter die Lupe zu nehmen, denn hier finden wir Aussagen, die für die Interpretation der gesamten Texte wesentlich sind. Allerdings wird es zweckmäßig sein, bei der Besprechung der Einleitung zum Kommentar deren einzelne Abschnitte nicht ‚dem Text entlang‘, sondern in umgekehrter Reihenfolge zu besprechen. Doch zunächst soll die materielle Präsentierung der gesamten Einleitung bei Renier bzw. Mansion betrachtet werden. In der Lütticher Handschrift29 des weiter nicht bekannten Renierschülers Michaelis de Rethy beginnt der eigentliche Kommentar erst auf f. 3v b. Dort erscheint als erstes, in Textura geschriebenes Lemma der erste Vers von Buch I 1m – „C[4]armina qui quondam studio florente peregi etcetera“ –, wobei den Text die Darstellung eines knieenden, spitznasigen Mönchs, vermutlich im Habit der Augustiner-Eremiten,30 verziert, der die mit Blattwerk ausgefüllte C-Initiale fest in den Händen hält. Vorangestellt ist eine Einleitung, deren häufig anzutreffende Zweiteilung31 durch Initialen unterschiedlicher Größe markiert wird. Nach einem mittig über dem zweispaltigen, in Bastarda geschriebenen Text angebrachten Incipit – „Incipit primus liber 5. librorum Boecii de consolacione phylosophye“ – wird nämlich auf f. 1r a ein erster Abschnitt als prologus praeter rem mit einem wie das erste Lemma in Textura geschriebenen Vers aus Psalm 118,50 eröffnet: „H[9]ec me consolata est in humilitate mea“. Die Initiale ist ausgefüllt mit einer zweistöckigen Darstellung von „Philosophie“ und „Boethius“, wobei die

_____________ 28 S. meine Rezension von Albesano (Anm. 27), in: Romanistisches Jahrbuch 58/2007, S. 254-258. 29 Ich verwende für die Commentaria eine Fotokopie der Lütticher Handschrift 348, die Reinhold Glei von der Bibliothek zur Verfügung gestellt wurde und die er mir überlassen hat, wofür ich ihm ebenso herzlich danke wie für die Durchsicht meiner Transkription. 30 S. unten, Abschnitt 2.4. 31 Goris / Wissink (Anm. 19), S. 146; vgl. Henning Brinkmann, „Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung”, in: Wirkendes Wort 14/1964, S. 1-21, und die daran anschließende Diskussion, die Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985, S. 12-15, differenziert darstellt.

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menschlichen Oberkörper jeweils aus einem löwenartigen Rumpf erwachsen. Die gekrönte „Philosophie“ hält in der Rechten ein aufgeschlagenes Buch, in der Linken ein Zepter, während der zur „Philosophie“ aufschauende und mit der linken Hand auf sie zeigende „Boethius“ ein geschlossenes Buch mit der Rechten an die Brust drückt.32 Der zweite Abschnitt der Einleitung beginnt als prologus ante rem auf f. 2v b mit einer wesentlich kleineren Initiale, wobei sich der Schriftduktus vom übrigen Text nicht abhebt: „M[4]ateria presentis libri De Consolacione Philosophie profunditatem stili, que cui nec Tuliani flores, nec Maronis muse preferuntur artificiositatem perpendens, ego Renerus de sancto Trudone minimus (...).“ Colard Mansion, dessen vielfältige und produktive Tätigkeit als Übersetzer, Buchhändler, Schreiber und Drucker in Brügge in der Zeit von 1457 bis 1484 dank der intensiven Nachforschungen von Pierre Ruelle verhältnismäßig gut bekannt ist,33 legte das Liure de boece de consolation de phylosophye als ein handwerklich äußerst ambitioniert gestaltetes Druckwerk vor.34 Der vollständig nur in acht Exemplaren überlieferte Text ist auf Papier im äußerst selten benutzten Format Royal-Folio in einer prächtigen, ligaturenreichen Bastardatype zweispaltig gedruckt.35 Auf f. 19r, 90r, 124r,

_____________

32 Eine vergleichbare Darstellung lässt sich bei Courcelle (Anm. 5) nicht nachweisen. 33 Pierre S. Ruelle (Hrsg.): Le ,Dialogue des créatures‘. Traduction par Colard Mansion (1482) du ‚Dialogus creaturum‘ (XIVe siecle), Brüssel 1985, S. 39-41 zur Biographie Mansions, S. 41-44 zu seinen Drucken, S. 44-45 zu Handschriften, die mit seinem Namen verbunden sind. Merkwürdigerweise hat weder die romanistische noch die niederlandistische Forschung zu Mansion diese außerordentlich sorgfältige Edition meines verstorbenen Brüsseler Lehrers zur Kenntnis genommen. 34 Den Druck Mansions zitiere ich nach dem Exemplar der Pariser Nationalbibliothek (R 86, auch Mikrofilm R 6591). Die Transkription lehnt sich eng an die Typographie des Drucks an und verzichtet insbesondere auf die Verwendung diakritischer Zeichen (Apostroph, Akzente). Hingegen greife ich gelegentlich in die Zeichensetzung des Textes ein. – Die paläotypographische und kodikologische Beschreibung in GW2 Nr. 4579 ist ebenso korrekturbedürftig wie der Nachweis der heute bekannten Exemplare des Drucks. Da eine gedruckte Blatt- oder Seitenzählung im Inhaltsverzeichnis zwar vorgesehen, jedoch nicht ausgeführt worden ist, muss eine übergreifende, von den handschriftlichen Nummerierungen einzelner Exemplare unabhängige Zählung sich an der Lagenfolge orientieren. Hier schließe ich mich M.-Louis Polain: Catalogue des livres imprimés au quinzième siècle des bibliothèques de Belgique, Brüssel 1932, Bd. I, Nr. 747, an. Demnach beginnt – nach einem leeren f. 1 – der Prolog auf f. 2r a, die Übersetzung der Consolatio auf f. 19r a. Dem Inhaltsverzeichnis gilt f. 19r als „Folio .j.“, s. unten, Abschnitt 2.2. 35 Gerard Van Thienen / John Goldfinch: Incunabula Printed in the Low Countries. A Census, Nieuwkoop 1999, S. 79 (Nr. 421; Format, Nachweis der Exemplare);

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189r und 252r, d.h. jeweils zu Beginn der fünf Bücher der Consolatio, ist Platz für Illustrationen gelassen, die jedoch nur in dem Cambridger Exemplar als kostbare Miniaturen ausgeführt wurden.36 „Boethius’ Buch vom Trost der Philosophie“ wird in der den Druck eröffnenden Rubrik als Werk Reniers ausgewiesen, dessen in Demut ungenannt bleibender Übersetzer seine Tätigkeit im Sinnhorizont des Werkes ausgeführt habe (und wohl auch deswegen ungenannt bleiben möchte):37 [f. 2r a] Cy commence le liure de boece de consolation de phylosophye compile par venerable homme Maistre Reynier de sainct Trudon docteur en saincte Theologie et nagaires translate de latin en francois par vn honneste Clerc desole querant sa consolation en la translation de cestui liure. Et premierement le proheme. 2 sainct ] saiuct (Fliegenkopf) Hier beginnt Boethius’ Buch vom Trost der Philosophie, zusammengestellt von einem ehrwürdigen Mann, Magister Renier von Sankt Truiden, Doktor der heiligen Theologie, und kürzlich aus dem Latein ins Französische übersetzt von einem untröstlichen, ehrbaren (geistlichen) Gelehrten, der in der Übersetzung dieses Buchs Trost sucht. Und als Erstes [folgt] der Prolog.

Die Einleitung Reniers, den die Rubrik im zweifellos technischen Sinn als ‚Kompilator‘ apostrophiert,38 wird mit einer Gattungsbezeichnung – „proheme“ – versehen, die sich wahrscheinlich nicht nur auf deren ersten, sondern auch auf den zweiten Abschnitt bezieht. Mansion markiert diese Abschnitte durch Platzhalter für Initialen unterschiedlicher Schriftgröße. Die im Pariser Exemplar von Hand gezeichnete erste Fleuronné-Initiale

_____________ Wytze Hellinga / Lotte Hellinga: The Fifteenth-Century Printing Types of the Low Countries, 2 Bde., Amsterdam 1966, hier Bd. I, S. 28f. (Type 1 : 162 B) mit Bd. II, Tafel 24 (die Liste der verwendeten Drucktypen ist bei weitem nicht vollständig). Wiedergabe von Wasserzeichen WM I 51066 bis 51073 in der im Internet zugänglichen Datenbank „Watermarks in Incunabula Printed in the Low Countries (WILC)“ der Koninklijke Bibliotheek in Den Haag, http://watermark.kb.nl/ (Stand: 14.5. 2008). Vgl. noch den ISTC der British Library, Nr. ib00813900. 36 S. dazu unten, Abschnitt 2.4. 37 Trotz der hier und da auch von mir vereinfachten Redeweise – „Mansions Einleitung“ usw. – muss streng genommen zwischen dem Drucker Mansion und dem anonymen Übersetzer unterschieden werden, vgl. auch Atkinson, Edition III 12m (Anm. 23), S. 125f. Die Übersetzungen gelten jeweils dem mittelfranzösischen Text. 38 Vgl. Hs. Lüttich, f. 166v b: „Et sic liber finitur [...] copulatus a magistro Renero nato de villa sancti trudonis machglinie“, s. Pattin, Bibliotheek (Anm. 14), S. 3. Zu den bei Bonaventura zu findenden Unterscheidungen von „Autor“, „Kommentator“, „Kompilator“ und „Schreiber“ s. z.B. Alastair J. Minnis: Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, London 1984, S. 94103. Reniers kompilatorische Arbeitsweise stelle ich weiter unten, Abschnitt 2.3.2., genauer dar.

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erstreckt sich über fünf Zeilen (f. 2r a), für die zweite, nicht ausgeführte Initiale sind zwei Zeilen vorgesehen, wobei die graphische Hervorhebung vom Kommentargegenstand auf den Autor des Kommentars verschoben wird („[I][2]E renier de saint trudon [...]“, f. 10r a). 2.2. Der Accessus Wie sich unschwer bereits an den Einleitungsworten mit ihrem traditionellen Vergleich von Boethius mit Cicero und Vergil zeigt,39 handelt es sich bei dem zweiten Abschnitt des Prologs um einen accessus ad auctorem, der schulmäßig streng die Formen und Inhalte benutzt, die aus den älteren Boethiuskommentaren bekannt sind. Am Ende des 14. Jahrhunderts folgt Renier noch immer dem von Richard W. Hunt so genannten boethianischen Modell „C“, das für die Kommentare des 12. Jahrhunderts typisch war.40 Dabei dürfte die Verwendung einzelner Erklärungen, z.B. aus Isidor von Sevilla, von solchen Kommentaren übernommen sein.41 Renier be-

_____________ 39 Richard B.C. Huygens (Hrsg.): Accessus ad auctores. Bernard d’Utrecht. Conrad d’Hirsau, ,Dialogus super auctores‘, Leiden 21970, Accessus, S. 47: „quia nec Tullio in prosa nec Virgilio in metro inferior fuit“; vgl. Nauta, Renaissance (Anm. 8), S. 777, Anm. 25. Bei dem dortigen Verweis auf Guilelmi de Conchis Glosae super Boetium, Lodi Nauta (Hrsg.), Turnhout 1999, ist die auf die Hs. R sich beziehende Angabe „app. crit. ad I pr. 4“ in „I pr. 1“ zu korrigieren. Pattin, Bibliotheek (Anm. 14), S. 12, weist dieses Zitat nicht nach. 40 Richard W. Hunt: „The Introductions to the Artes in the Twelfth Century“, in: Studia Mediaevalia in Honor of R. J. Martin, Brügge 1948, S. 85-112; Minnis (Anm. 38), S. 18-25; Goris / Wissink (Anm. 19), S. 147. Goris (Anm. 21), S. 128, erinnert Reniers Kommentar an Pseudo-Thomas, doch folgt dessen Accessus dem völlig anders gelagerten aristotelischen Schema, s. Guillelmus Wheatley: In Boethii De Consolatione Philosophiae, in: Thomas von Aquin, Opera omnia, Bd. 7 Aliorum medii aevi auctorum scripta, Roberto Busa (Hrsg.), Stuttgart 1980, S. 121-122 (131 XBC lb). Im Übrigen scheint die Chronologie gegen eine Abhängigkeit Reniers von Pseudo-Thomas zu sprechen, s. Maarten J.F.M. Hoenen: „The Transition of Academic Knowledge. Scholasticism in the Ghent Boethius (1485) and other Commentaries on the Consolatio“, in: Hoenen / Nauta (Hrsg.) (Anm. 19), S. 192, Anm. 90: „Since the commentary of Pseudo-Thomas dates probably from the second part of the fifteenth century, it is unlikely that Reinier used PseudoThomas as a source.“ Allerdings erlaubt die Verwendung von Pseudo-Thomas in der hebräischen Übersetzung von Bonafoux Bonfil Astruc die Fixierung eines wesentlich früheren terminus ante quem (1423), s. den Beitrag von Mauro Zonta in diesem Band. 41 Etwa f. 3r b „‚Exconsules‘ dicebantur romani, qui peracte sue vicis anno ex consulatu exierant“, vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiarvm sive originvm libri XX, W.M. Lindsay (Hrsg.), Oxford 1910, Buch 9,3,9; vgl. Guilelmus de Conchis

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ginnt allerdings zunächst – wie ich bereits angedeutet habe – mit einer offensichtlich in der Tradition der ars dictandi stehenden, vor Bescheidenheitsformeln nur so strotzenden Eigennennung. Unter Einbindung seiner Leserschaft erfleht er Hilfe von Gott mit einem Bibelzitat, aber auch mit Alanus de Insulis teilweise offen, teilweise verdeckt entlehnten Worten, um sein Werk in Angriff nehmen zu können: [...] ego Renerus de sancto Trudone minimus, cuius exilis racionis igniculus multis ignorancie obnubilatur erroribus, cuius ingenii sintillula multas erroris euanescit in tenebras42 et cuius insufficiencia seu simplicitas detractorum dentes et emulorum stimulos vt agna lupum uel cerua leonem perhorrescit, certe presentis operis sarcinam humeris trepidis vix audeo subire. Tamen, o socii fideles et amatissimi [fol. 3r a] mei, in discipline palestra Machlinie militantes ne vel vestrarum precum videar aspidizans obauditor, vel euitato labore, ego regi dignus rector censear desidiosus, vtque vestrum profectibus labore mei studii desudarem43, laboriosum mihi hoc presens opus attemptaui me submittens meliorum iudicii legytime correctioni confisus in benignitate et auxilio Dei omnipotentis, a quo omne donum optimum et omne datum perfectum,44 sine quo nichil apollinea thelis nil quod conferunt pyeridum pocula pegazea ad umbram alarum illius confugio semper laus eius in ore meo. Hunc veneror, hunc sic deprecor et exoro, huic diuinos latices Alani versibus implorando: „Vnica forma boni, recti via, limes honesti, Fons vite, sol iusticie, pietatis asilium“45, / „Da bleso bona verba loqui, muto que loquelam / Prebe, da fontem sicienti, dirige callem / Erranti duc nauta ratem portum que timenti / Dona celesti perflans mea carbasa vento“46. In huius igitur benigno ducatu deuote spem figens et animam ad exposicionem sic accedo.

Danach erst findet sich (f. 3r a) die Erläuterung des Titels („tytulus“), der zuerst den Namen des Autors („nomen auctoris“), anschließend (f. 3r b) den Gegenstand des Werks („materia“) nennt. Es folgen (f. 3v a) Informationen zur Werkintention im Hinblick auf Autor („causa per se considerata“) und Leser („causa collatiua“), Anmerkungen zur didaktischen

_____________ 42

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(Anm. 39), Accessus, Z. 77-81 (Hs. R). Pattin, Bibliotheek (Anm. 14), S. 12, weist dieses Zitat weder direkt noch indirekt nach. Alain de Lille: Anticlaudianus, Robert Bossuat (Hrsg.), Paris 1955, Prologus: „cum tenuis humane rationis igniculus multis ignorantie obnubiletur erroribus, humani ingenii scintilla multas erroris euanescat in nebulas.“ Vgl. dazu Pattin, Reinerus (Anm. 13), S. 310. Alain de Lille, Anticlaudianus (Anm. 42), Prologus: „profectibus labore mei studii desudarem“. – Kein Nachweis bei Pattin, Bibliotheek (Anm. 14), S. 12. Ic. 1,17: „omne datum optimum et omne donum perfectum“. – Kein Nachweis bei Pattin, Bibliotheek (Anm. 14), S. 12. Alain de Lille, Anticlaudianus (Anm. 42), 5,279-280: „Vnica forma boni, recti uia, limes honesti, / Fons ueri, sol iusticie, pietatis asylum.“ Alain de Lille Anticlaudianus (Anm. 42), 5,302-305: „Da bleso tua uerba loqui mutoque loquelam / Prebe, da fontem sicienti, dirige callem / Erranti, duc nauta ratem portumque timenti / Dona, celesti perflans mea carbasa uento.“

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Methode („forma tractandi“) – gemeint ist die prosimetrische Form – und weiter zur Zuordnung der Consolatio zu verschiedenen Wissensgebieten („species seu pars philosophie“). Als letzter Gesichtspunkt soll mit der „forma tractatus“ (f. 3v b) der Aufbau der Consolatio behandelt werden. Die entsprechende Darstellung ist jedoch bereits in den Kommentar zum ersten Lemma (also I 1m, 1) integriert (f. 3v b). Mansions Druck tilgt den in Reniers Apostrophe enthaltenen Hinweis auf den konkreten Ort Mecheln und ersetzt ihn durch den imaginären Ort der Metaphysik, bietet ansonsten aber eine zumeist wortgetreue, lexikalisch und syntaktisch stark latinisierende Übersetzung, die auch die Verse Alanus’ metrisch wiedergibt. Sinnentstellend ist allerdings die Übersetzung des ersten, von Alanus übernommenen Relativsatzes („cuius exilis racionis igniculus multis ignorancie obnubilatur erroribus“): [f. 10r a] [I][2]E renier de saint trudon, duquel la vertu de [f. 10 r b] raison est affoiblie par pluiseurs petis eschauffemens et obnubilee par les erreurs dignorance; duquel la petite estincelle dentendement sesuanuit entre pluiseurs tenebrositez derreur; et duquel la petite capacite et simplesse treffort resoingne les dens des detracteurs et les aguillons des enuieux comme la brebis le lou et la bische le lion, Certes apaines ose je emprendre la charge de cest present euure sus mes espaules tremblantes, auisant que les fleurs de tulian, ne les muses et sciences poeticques douide, ne precedent point la profundite et artifice de la matiere de ce present liure, intitule de consolation de philozophie. Pourquoy, o mes loyaux compaignons et mes tresamez militans en la lice de la discipline de metaphesicque, affin que je ne soye pas veu non donner aduertence a vos prieres et estre semblable a laspic sourde ou affin que le labeur euite, je digne destre gouuerne ne soye iugie paresceux recteur et enseignant [f. 10 v a] et affin que a vos prouffis je explicasse vn labo[r]ieux labeur de mon estude: ay enuahy celle euure, moy soubzmettant a la legitime correction du meilleur jugement de tous, moy confiant en la benignite et ayde de dieu tout puissant qui a tout cree, duquel tout don est tresbon et toute chose donnee est parfaitte, sans lequel aucunement ne aydent les dars dapolo, les bruuaiges pegaziens que faisoient les ninphes nommeez pierides, et sans lequel aucune chose nest vaillable ne sainte, je suis a lumbre de ses elez ayant tousiours sa loenge en ma bouche. Je honnoure, deprie et requiers icellui en jmplorant par les vers de alain les bruuaiges de sa diuine fontaine et par les parolles dicellui, qui dit ainsi: Vnica forma boni etcetera. Seul exemple de parfaitte bonte, Voye de droit sentier dhonnestete, La fontaine de vie, et de [f. 10 v b] justice, Luisant soleil, et de pitie propice, Seur refuge, donne au besgue parler Bien, au muyau parolles deuoler, A layant soif donne de ta fontaine, Au cheminant dresche voye certaine, Le marinier paoureux maine a port,

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La nef aussi par ton bening support, Souffle mes trefz de vent celestien, Maine me a bort et me recongnois tien. Doncques je fichant mon coraige et mettant mon esperance en la benigne conduite dicellui tout puissant accede ainsi a lexposition de ce liure. 7 tulian ] julian Ich, Renier von Sankt Truiden, dessen Verstandeskraft durch mehrere kleine Hitzewallungen geschwächt und umwölkt ist von den Irrtümern der Unwissenheit, dessen Fünkchen von Vernunft in manchen Finsternissen verschwinden und dessen geringes geistiges Vermögen und dessen Einfältigkeit sich vor den Zähnen der Verleumder und den Stacheln der Neider wie das Schaf vor dem Wolf oder das Reh vor dem Löwen fürchtet; ich also wage die Bürde des vorliegenden Werks auf meine zitternden Schultern gewiss kaum zu laden, wenn ich bedenke, dass weder Ciceros Redeschmuck noch Ovids Musen und dichterische Künste die Tiefe und Schwierigkeit des Gegenstands dieses Buchs übertreffen, das den Titel „Vom Trost der Philosophie“ trägt. Aus diesem Grund, meine treuen Gefährten und außerordentlich geliebten Mitstreiter im Wettkampf der Disziplin der Metaphysik, und um nicht dabei ertappt zu werden, Eure Bitten nicht zu erhören und um nicht der tauben Aspisschlange zu gleichen, und damit – falls ich die Mühe scheue – ich, der ich selbst angeleitet werden sollte, nicht als müßiger Leiter und Lehrer angesehen werde, und damit ich zu Eurem Nutzen eine mühsame Aufgabe meines Studiums erkläre, habe ich dieses Werk in Angriff genommen, wobei ich mich der legitimen Korrektur durch das beste Urteil aller unterwerfe im Vertrauen auf die Güte und Hilfe des allmächtigen Gottes, der alles geschaffen hat, von dem alle Gabe allerbestens ist und alle Geschenke vollkommen sind, ohne den die Pfeile Apollos wirkungslos sind, auch die pegaseischen Getränke, welche die Pieriden genannten Nymphen brauten, und ohne den nichts wert noch heilig ist; ich bin im Schatten seiner Fittiche und führe sein Lob in meinem Munde. Ihn verehre, bitte und flehe ich an, indem ich seine göttliche Inspiration erbitte mit den Versen Alanus’ und mit dessen Worten, die so lauten: Vnica forma boni etcetera. Einziges Beispiel vollkommener Güte, Weg des rechten Pfads der Ehrbarkeit, Quelle des Lebens und der Gerechtigkeit, Leuchtende Sonne und geneigtes Mitleid, Sichere Zuflucht – verleihe dem Stammelnden wohlgesetzte Rede, dem Stummen Worte, um zu fliegen, Den Dürstenden lass’ aus Deiner Quelle trinken, Dem Wanderer gib einen sicheren Weg, Den ängstlichen Schiffer führe zum Hafen, Das Schiff auch mit Deiner gütigen Unterstützung, Blase himmlischen Wind in meine Segel, Führe mich an Bord und nimm mich zu Dir auf.

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Also nehme ich meinen Mut zusammen und setze meine Hoffnung auf die gütige Führung des Allmächtigen und nehme die Erklärung dieses Buchs in Angriff.

Anders als Renier bietet Mansion den Überblick über die „forma tractatus“ als ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Dieses enthält die Rubriken, die später den einzelnen Textabschnitten jeweils vorgeschaltet sind. Es beginnt auf f. 13r b so: Ces choses doncques veues jl conuient proceder a la forme du traittie. et premiers de la table desdis liures. [f. 13v a] C[2]y commence la table des rubrices de cestui volume jntitule Boece de consolation. Lequel est diuise en cinq liures particuliers. Et premierement du premier liure. Ou premier metre est jntroduit et parle Boece comme dolant et fort desole. Folio .j. Nachdem diese Dinge betrachtet worden sind, soll nun zur Form des Traktats vorangeschritten werden. Und zuerst [folgt] das Inhaltsverzeichnis der genannten Bücher. Hier beginnt das Inhaltsverzeichnis dieses Buchs mit dem Titel „Boethius: Vom Trost“, welches eingeteilt ist in fünf einzelne Bücher. Und zuerst [folgt das Verzeichnis] des ersten Buchs. Im ersten Metrum wird Boethius eingeführt und spricht als leidender und tiefbetrübter [Mensch].

Entsprechend heißt es dann zu Beginn von Buch I 1p: [f. 19r a] Cy commence Boece son premier liure par maniere de dyalogue en metres et en proses compile et Translate a la consolation des desolez et a la retractation de ceulx qui trop se adherdent et empeschent des biens temporelz. Et en cestui premier metre est introduit et parle Boece comme homme dolant et fort desole. Hier beginnt Boethius sein erstes Buch als Wechsel von Metren und Prosen, zusammengestellt und übersetzt zum Trost der Trostlosen und zur Ermahnung derer, die sich zu sehr an die vergänglichen Güter klammern und in sie verwickeln. Und in diesem ersten Metrum wird Boethius eingeführt und spricht als leidender und tief betrübter Mensch.

Auf diese Weise werden Accessus und Text miteinander verzahnt und dem Leser des Drucks ein analytischer Zugriff auf das Werk ermöglicht. 2.3. Sermo 2.3.1. Philosophie und Sapientia: Definitionen Im Zusammenhang mit der Diskussion des Werkinhalts („materia principalis huius libri“, f. 3r b - 3v a) definiert Renier den Gegenstand der

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Philosophie im Anschluss an Cicero47 und Cassiodorus,48 vielleicht auch nur vermittelt durch Isidor,49 und unterlegt der literarischen Gestaltung der Philosophie als Personifikation eine epistemologisch harmonisierende Funktion: [f. 3v a] Hanc autem personam philosophorum veram cognitionem habentium humanarum diuinarum que rerum nulli philosophorum attribuit singulariter. Sed nomine philosophie quoslibet philosophos intelligat, ut ex auctoritate multiplicata sua confirmatior habeatur sententia. [f. 12v a] Ceste personne ayans vraye congnoissance des choses diuines et humaines Boece ne atribue a aucuns des philozophes particulierement: mais soubz le nom de philosophie il entend tous philozophes affin que leur auctorite multipliee: sa sentence semble estre plusconfermee. Boethius bezieht diese Person, welche die wahre Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge hat, nicht auf einen bestimmten Philosophen, sondern subsumiert unter dem Namen der Philosophie alle Philosophen, damit durch ihre vermehrte Autorität seine Lehre umso mehr bestätigt scheint.

Sowohl für die Definition der Philosophie als Wissen von göttlichen und menschlichen Dingen, als auch für die Harmonisierung philosophischer Systeme gibt es bei Boethius selbst natürlich Anknüpfungspunkte. Gerade Boethius gilt ja als eines der Vorbilder des lateinischen Mittelalters für die entsprechende Definitionstradition.50 Renier ist sich dessen bewusst, denn er zitiert im ersten Teil seiner Einleitung – deren gedankliche Entfaltung ich in den folgenden Abschnitten genauer analysiere – die Stelle aus Buch I 4p 3, an der „Boethius“ die „Philosophie“ daran erinnert, dass sie in glücklicheren Zeiten in seiner Bibliothek die Wissenschaft von den menschlichen und göttlichen Dingen mit ihm erörterte: [f. 2r a] Vnde Boecius huius primi prosa 4ª: „Mecum sepe residens de humanarum divinarumque rerum scientia disserebas.“ [f. 7r a] boece en la quarte prose de ce premier liure dit. Tu philozophie souuent residente auec moy determinoyes de la science des choses diuines et humaines.

_____________ 47 Cicero: Tusculanae Disputationes IV 26,57: „Sapientiam esse rerum divinarum et humanarum scientiam cognitionemque“, – Kein Nachweis bei Pattin, Bibliotheek (Anm. 14), S. 12. 48 Cassiodor: Institutiones, Roger A. B. Mynors (Hrsg.), Oxford 1937, Buch II,3,5: „Philosophia est divinarum humanarumque rerum, in quantum homini possibile est, probabilis scientia“. 49 Isidor (Anm. 41), Buch 2,24,1: „Philosophia est rerum humanarum divinarumque cognitio cum studio bene vivendi coniuncta.“ 50 Christoph Huber: „Philosophia – Konzepte und literarische Brechungen“, in: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hrsg.), Literatur, Artes und Philosophie, Tübingen 1992, S. 1-22, hier S. 3-6, mit Nachweis der einschlägigen älteren Forschungsliteratur.

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Boethius sagt in der vierten Prosa dieses ersten Buchs: „Philosophie, als Du oft bei mir wohntest, handeltest Du mit mir von den göttlichen und den menschlichen Dingen.“

Was Boethius’ Harmonisierungsbestrebungen angeht, so ist Renier wenigstens in der Einleitung undeutlicher. Es geht ihm ausschließlich um die Ineinssetzung von Philosophie und Weisheit, wobei letztere zugleich als (moralische) Phronesis und als (intellektuelle) Sapientia gedacht ist („Pallas, Fronesis, Sapientia seu Philosophia“, f. 1v b; „palas fronesis sapience ou philozophie“, f. 5v b). Dabei ist die mit Alkuin einsetzende Christianisierung der Philosophie/Sapientia für Renier selbstverständliche Voraussetzung. Franz Brunhölzl hatte bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Alkuins zwischen Schüler und Lehrer ausgetragene Disputatio de vera philosophia mit der Bestimmung des Lehrers „quod philosophia esset omnium virtutum magistra“51 die Consolatio I 3p 5 zitiert.52 Courcelle verdeutlichte, dass für Alkuin der Aufstieg des Menschen zu den Erkenntnissen dieser Philosophie durch Christus vermittelt ist: Der Lehrer in Alkuins Disputatio zitiert an dieser Stelle Johannes 1,9, wonach Christus das Licht ist, das alle Menschen erleuchtet.53 Renier greift beide Bestimmungen auf, doch verwendet er nicht nur Johannes („hec est ‚lux vera, que illuminat hominem venientem in hunc mundum‘“, f. 2r b; „Jcelle est la vraye lumiere qui enlumine tout le monde“, f. 7v b), sondern auch das Buch der Weisheit (7,12), dem die Philosophie nicht nur die Lehrerin, sondern – worauf ich weiter unten zurückkommen werde – die Mutter aller Tugenden ist („Ipsa philosophia seu sapientia, que ‚omnium virtutum mater est‘“, f. 2v b; „icelle sapience ou philozophie qui est tout vn a dire laquele est mere de toutes vertus“, f. 9v a).54 2.3.2. Strukturen der Auslegung: Ein ‚Kompilator‘ bei der Arbeit Dass die Consolatio christlich gelesen werden muss, steht – wie wir gesehen haben – für Renier außer Zweifel. Die tiefere Legitimation dafür liefert ihm die paulinische Theologie. Nach Römer 15,4 sei alles „uns zur Lehre geschrieben“, so dass die Bibel den Schlüssel auch für philosophische

_____________

51 Alcuin: Opusculum primum. Grammatica, PL 101, Sp. 849. 52 Franz Brunhölzl: „Der Bildungsauftrag der Hofschule“, in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben, Bd. II, Das geistige Leben, Bernhard Bischoff (Hrsg.), Düsseldorf 1965, S. 28-41, hier S. 36-37. 53 Courcelle (Anm. 5), S. 38. Vgl. auch Christine Hehle: Boethius in St. Gallen. Die Bearbeitung der ‚Consolatio Philosophiae‘ durch Notker Teutonicus zwischen Tradition und Innovation, Tübingen 2002, S. 40-43 und S. 210-214. 54 Für Consolatio I 3p 3 zieht der Hrsg. Bieler (Anm. 2) Sap. 7,12 nicht in Betracht.

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Texte darstelle. Wer so argumentiert, rechnet allerdings durchaus mit der erst in Einklang zu bringenden Differenz zwischen Philosophie und Theologie. Ausgangspunkt und Werkzeug von Reniers interpretatio christiana ist mit Psalm 118,50 – „Das ist mein Trost in meinem Elend, dass dein Wort mich erquickt“ – ein ‚klassisches‘ Trostwort des Alten Testaments,55 das ganz im Stil einer Themenpredigt56 im Lichte des Neuen Testaments ausgelegt wird. Entscheidend dafür ist eine positive Deutung der humilitas, insofern der Gedemütigte sein „Elend“ in „Demut“ annimmt: [f. 1r a] „H[9]ec me consolata est in humilitate mea.“57 Hec proposicio scribitur a propheta psalmo centesimo decimo octavo. Et licet ibi ad aliud referatur propositum videlicet ad spem, potest tamen per consequens ad scripturas phylosophicas et specialiter ad scripturam huius libri De Consolacione referri. „Quecumque enim scripta sunt, ad nostram doctrinam scripta sunt, ut per patienciam et consolacionem scripturarum spem habeamus“,58 vt dicit appostolus ad romanos decimoquinto. [f. 2r a] „H[5]Ec me consolata est in humilitate mea.“ Ceste proposition est escripte ou liure du psalmiste en la C .et.xviij. psalme, laquele vault autant a dire en nostre commun langaige „Celle ma console en mon humilite.“ Et jasoit ce que ou liure prealleguie jcelle proposition soit raportee a autre propos que cestui, cestassauoir a esperance, toutesuoies par aucune consequence elle puet estre rapportee aux escriptures philosophicales et especialement a celles de ce present liure. Car comme dist lapostre [f. 2r b] en son cinquisme chapitle ou il rescript aux rommains: „Toutes choses escriptes pour nostre doctrine sont escriptes affin que par pacience et la consolacion des escriptures nous ayons esperance.“ „Hec me consolata est in humilitate mea.“ Dieser Vers ist im Buch des Psalmisten im 118. Psalm geschrieben, der in unserer Gemeinsprache soviel heißt wie „Diese hat mich getröstet in meiner Demut.“ Und wenn auch im vorerwähnten Buch dieser Vers auf einen anderen als diesen Gegenstand bezogen ist, nämlich auf die Hoffnung, so kann er doch durch ein Schlussverfahren auf die philosophischen Schriften und besonders auf diejenigen dieses Buchs bezogen werden. Denn wie der Apostel im 5. Kapitel sagt, in dem er an die Römer schreibt: „Alle zu unserer Lehre geschriebenen Dinge sind geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schriften Hoffnung haben.“

_____________ 55 Vgl. noch, im 16. Jahrhundert, die Verwendung von Ps. 118,50 auf dem Titelblatt von Huberinus’ berühmter Trostschrift, s. Gunther Franz: Huberinus – Rhegius – Holbein. Bibliographische und druckgeschichtliche Untersuchung der verbreitetsten Trost- und Erbauungsschriften des 16. Jahrhunderts, Nieuwkoop 1973, S. 69-86. 56 Goris / Wissink (Anm. 19), S. 146, verweisen in diesem Zusammenhang auf die Tradition der artes praedicandi. 57 Ps. 118,50: „haec me consolata est in humilitate mea“. Annelies van Gijsen, deren Hinweisen ich in diesem Rahmen nur unvollkommen nachgehen kann, danke ich für anregende briefliche Diskussionen über den Begriff der humilitas. 58 Rm. 15,4: „quaecumque enim scripta sunt ad nostram doctrinam scripta sunt ut per patientiam et consolationem scripturarum spem habeamus“.

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Das Verfahren der Auslegung ist schulmäßig und daher einigermaßen trocken. Es nutzt elementare Prinzipien der Prädikatenlogik: Die Anwendung des Psalmverses auf die Philosophie soll nämlich durch einen einfachen Syllogismus bewiesen werden.59 Jeder Mensch – so beginnt Renier –, der die Prüfungen seines Nächsten mit sanften Worten mildere, seine Schmerzen durch erfüllte Wonne beende, die Verluste von Gütern durch Reichtümer ersetze und die ihm zugefügten Qualen beseitige, tröste den Gedemütigten in seiner Niedergeschlagenheit. Diese Aussage stellt für Renier einen Obersatz („maior“, f. 1r a; „maieur“, f. 2r b) dar, dessen vier Glieder zunächst durch Exempla beglaubigt werden. Bei deren Auswahl zeigt sich Renier als Kompilator am Werk: Denn die Exempla bestehen vor allem aus geschickt verknüpften Zitaten, so dass sich Reniers „modus faciendi librum“ mit Bonaventura als „aliquis scribit aliena addendo, sed non de suo“ definieren lässt.60 Die einzelnen Beispiele werden nicht nur dem Alten Testament, sondern auch der antiken Geschichte entnommen und in unterschiedlicher Breite ausgeführt. Es sind dies – in der genannten thematischen Reihenfolge – die Tröstungen der Freunde Hiobs (Ib. 2ff.), Jesajas Worte zum Volk von Jerusalem (Is. 66), die an die griechischen Gefangenen in Persepolis gerichteten Ermunterungen Alexanders des Großen (zitiert nach der Alexandreis Walthers von Châtillon), schließlich Judiths Zuspruch an die von Holofernes in Betulia eingeschlossenen Israeliten. Auch Judiths listige Tötung des Holofernes wird erzählt. Im Untersatz („per minore“, f. 1r b; „pour la mineur“, f. 3v a) tritt anschließend die „Philosophie“ für das alle Menschen bezeichnende Subjekt des Obersatzes ein, worauf die entsprechende partikulare Aussage mit einer immensen Fülle neuer, beweiskräftiger Zitate belegt wird. Als Schlussfolgerung ergebe sich formal korrekt, wie Renier ausführt, die Einsicht, dass die „Philosophie“ die von Demut erfüllten Leser trösten könne. Entscheidend für die Renier’sche Konturierung der „Philosophie“ ist nun, dass sie ihren Trost mit Worten der Bibel spendet, die ganz überwiegend der Weisheitsliteratur des Alten Testaments entnommen sind. Nur gelegentlich werden antike (Ovid, Seneca) oder mittelalterliche Autoren (Alanus ab Insulis) herangezogen. Die Tatsache, dass viele der Zitate jeweils ein oder mehrere Schlüsselworte des Obersatzes enthalten, legt im übrigen nahe, dass Renier bei der Ausarbeitung seines Textes nicht nur

_____________ 59 S. Kneepkens (Anm. 8), S. 220-226. 60 Bonaventura: Commentaria in Quatuor Libros Sententiarum Magistri Petri Lombardi, in: Opera omnia, Bd. I, Ad Claras Aquas 1882, S. 14 (Proemium in Librum primum Sententiarum, q. 4): „Aliquis scribit aliena, addendo, sed non de suo; et iste compilator dicitur.“

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ältere Kommentare, sondern auch Florilegien benützt haben dürfte.61 Das zeigt sehr schön das zweite Glied – „Schmerzen durch erfüllte Wonne beenden“ („qui dolores terminat affluens deliciis“, f. 1r a) –, eine Aussage, die durch folgende Bibelverse untermauert wird (f. 1r b): ego vadam et affluam deliciis (vgl. Ec. 2,1) que est ista, que ascendit de deserto affluens deliciis nixa super dilectum (vgl. Cn. 8,5) quam pulcra es et quam decora, carissima, in deliciis (vgl. Cn. 7,6)

Die französische Übersetzung kann die semantische Verknüpfung zwischen Obersatz („qui met fin aux doleurs par affluence de delices“, f. 2r b) und Versen wenigstens teilweise genauso wie im Lateinischen auch ausdrucksseitig aufrecht erhalten (f. 4r a): je men iray et habonderay de delices (vgl. Ec. 2,1) Qui est celle laquele monte par le desert affluente de delices appuyee et enlachee sus son amoureux (vgl. Cn. 8,5) que tant tu es belle en delices (vgl. Cn. 7,6).

Das vierte Glied des Obersatzes – „Qualen beseitigen“ („qui tortores superat finem dans flagiciis“, f. 1r a) – untermauert Renier durch Ovids Bericht von Athene, die Perseus zur Hilfe eilt, als er Kepheus’ Tochter Andromeda befreit: [f. 1v a] Hec enim vera Pallas fratrem Perseum, id est philosophum, deuictis Cephenis, id est viciosis, servat illesum. Vnde Ouidius Methamorphoseos 5° „Bellica Pallas adest defendens egide fratrem Datque animos“62.

Wie man sieht, kommt hier als weiteres persuasives Verfahren die allegorische Interpretation des Exempels ins Spiel. Der französische Übersetzer verwechselt im Übrigen offenbar Perseus mit Theseus, wenn er schreibt: [f. 5r a] Certes celle philozophie est comme la vraye palas laquele garda son frere thezeus non blechie des trois deesses infernales vicieuses qui sont aletho megera et thesiphone, de laquele thesiphone thezeus estoit condempne a estre en perpetuele sonorite. A ce propos dit ouide ou .v. de mathamorphose: „Bellica palas adest deffendens a [f. 5r b] gide fratrem Datque animos“ etcetera: „Vecy dit ouide la bataillereuse palas deffendant son frere, laquele lui donne couraige“. Gewiss ist diese Philosophie wie die wahre Pallas, die ihren Bruder Theseus unverletzt vor den drei lasterhaften Göttinnen der Hölle schützte, nämlich Alecto, Megaera und Tisiphone. Theseus wurde von Tisiphone dazu verurteilt, ewig Klängen ausgesetzt zu sein. Dazu sagt Ovid im 5. Buch der Metamorphosen:

_____________ 61 Pattin, Reinerus (Anm. 13), S. 314; Pattin, Bibliotheek (Anm. 14), S. 4. 62 Ovid: Metamorphoses, Rudolf Ehwald / E. Rösch (Hrsg.), Berlin 1903-München 1961, 5,46-47: „bellica Pallas adest et protegit aegide fratrem datque animos“.

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„Bellica palas adest deffendens a [f. 5r b] gide fratrem Datque animos“ usw. „Hier ist, sagt Ovid, die kämpferische Pallas, die ihren Bruder verteidigt und ihm Mut zuspricht.“

Die Episode erzählt hingegen korrekt Mansions Meisterdruck des Ovide moralisé von 1484.63 2.3.3. Lob der Philosophie Eine Zusammenfassung des Syllogismus, die noch einmal vom Oberüber den Untersatz zur Schlussfolgerung fortschreitet, gibt Gelegenheit, Psalm 118,50 ein zweites Mal zu zitieren und zum Ausgangspunkt einer weiteren Interpretation zu nehmen. Dieses Mal geht es um das „Lob der Philosophie“ („pro recommendacione Philosophie“, f. 1v b; „a la loenge de philozophie“, f. 5v b), das sich entlang den drei Satzteilen des Verses, „hec“, „me consolata est“ und „in humilitate mea“, entfaltet. Renier verknüpft das Subjekt des Satzes mit dem Konzept der nobilitas und claritas, das Prädikat mit den Leidenschaften bzw. Tugenden der humanitas und pietas, das Adverbiale mit denjenigen der benignitas und caritas. In allen drei Bereichen geht es um streng gegliederte, relationale Begriffsklärungen im Hinblick auf die Funktion der Philosophie für den Menschen. Die kunstvoll gewählten lateinischen Paronomasien – der Einteilung entsprechend „regens et dirigens“, „regens et corrigens“, „legens et erigens“ –, mit denen Renier die „Philosophie“ als Herrscherin, Lehrerin und Helferin in Szene setzt, kann der Übersetzer kaum nachbilden: [f. 1v b] Per primum est regens et dirigens vtilius subiectum ne tabescat errorum umbraculis „hec“; per 2m est regens et corrigens viribus affectum ne egescat dolorum iaculis „me consolata est“; per 3m est legens et erigens humilius deiectum ne sordescat prauorum maculis „in humilitate mea“. [f. 5v b] Par le premier elle est gouuernant et drechant plusutilement son subiect ou disciple affin quil [ne] commence a deffaillir par les petis vmbraiges derreur pourquoy on dit „en icelle“. Par le second elle est corrigant par ses forces laffection de doleurs pourquoy on dit „me a console“. [f. 6r a] Par le tiers elle est cueillant et releuant sa chose vilement et embas deiectee affin quil ne commence a puir par les macules et contagions des choses mauuaises. Pourquoy on dit „en mon humilite“.

_____________ 63 Brügge, Mai 1484, f. 142r (hier zitiert nach dem Exemplar Brügge, SB 3877, aus dem Besitz von Charles de Croy, seigneur d’Avesnes): „Pallas la batailleresse accourut son frere secourir et le couuri de son escu affin que a descouuert ne feust trouuez de ses ennemis qui fierement de toutes pars lenuahissoient. Bien se deffendoit perseus [...].“ S. British Library, ISTC-Nr. io00184000.

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Erstens leitet und führt sie äußerst geschickt ihr Subjekt bzw. ihren Schüler, damit er nicht durch kleine Schatten von Fehlern versagt, weswegen es heißt „diese“. Zweitens korrigiert sie mit ihren Kräften das Schmerzempfinden, weswegen es heißt „hat mich getröstet“. Drittens versammelt sie die gemeinen und verachteten Dinge, damit es durch den Makel und die Ansteckung der üblen Dinge nicht zu stinken beginnt. Deswegen heißt es „in meiner Demut“.

Jeder Begriff wird wiederum in Unterbegriffe unterteilt, deren Gültigkeit jeweils eine Fülle von Zitaten beglaubigt. Der an erster Stelle genannte Adelsbegriff lasse sich, so Renier, in die drei Formen des Geburts-, des Seelen- und des Gelehrtenadels aufteilen (f. 1v b). In allen Formen gebühre der Vorrang der „Philosophie“, die von Gott ihren Ausgang nehme, um den Menschen eine Lehrerin zu sein. Die filigrane Darstellung beginnt folgerichtig mit der durch die biblische Weisheitsliteratur untermauerten Auffassung der „Philosophie“ als Emanation Gottes und mündet schließlich in die der Consolatio I 4p 3 entnommenen Definition der Philosophie, die ich bereits zitiert habe.64 Nobilitas und claritas, die Renier in einem Atemzug nennt, sind sehr eng aufeinander bezogen, wenn man bedenkt, dass claritas durchaus auch den ‚Glanz‘ der Abkunft bezeichnen kann. Entsprechend widmet Renier der Lichtmetaphorik eine eigene Erörterung, um für die begriffliche Bestimmung der „Philosophie“ als Emanation Gottes ein bildlich kraftvolles Äquivalent zu gewinnen. Der Kompilator bildet, wenn man so will, eine sprachliche Lichtkaskade: Er nutzt das als Ausgangspunkt gewählte „hec“ von Psalm 118,50, um Zitate zu präsentieren, welche nach dem Muster „hec est ...“ die Philosophie in entsprechenden Bildern beschreiben. Dabei löst die Erwähnung von Weisheit 7,29, wonach die Sapientia Sonne, Sternbilder und sogar das Licht übertreffe („Hec ille, vt exponatur de ea illud Sapiencie vii°: ‚Est enim hec speciosior sole et super omnem disposicionem stellarum luci comparata inuenitur prior‘“, f. 2r a), eine weitere, funkelnde Zitatflut aus, die um diese mystischen Bildevokationen kreist. Die gesamte Darstellung mündet schließlich in das Wort des Johannesevangeliums (1,9), das zu Beginn der mittelalterlichen Christianisierung der Consolatio bereits der Lehrer in Alkuins Disputatio aufgerufen hatte.65 Humanitas und pietas zeigen sich in den Tröstungen der „Philosophie“, wobei Renier drei Formen der consolacio unterscheidet, die äußere und weltliche, die innere und geistige, schließlich die himmlische („superna“; „souueraine“, f. 8r a) und ewige (f. 2r b). Der spätmittelalterliche Kompilator fügt eine, der Übersetzer gleich zwei entsprechende Glossen ein, um bei der höchsten Form der Tröstung die Verheißungen der „Philosophie“

_____________ 64 S. oben, Abschnitt 2.3.1. 65 S. oben, Abschnitt 2.3.1.

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mit denen der Religion ineinssetzen zu können, um aus der platonischen Rückkehr in die Heimat der Philosophie die mystische Ankunft im Himmelreich Gottes zu machen: [f. 2r b] De 3a huius 4i prosa prima: „Viam tibi, que te domum reuehat, ostendam – id est ad curiam celestem. Pennas eciam tue menti, quibus se in altum possit tollere, affigam, vt perturbacione depulsa sospes in patriam meo ductu, mea semita, meis eciam vehiculis reuertaris“66 Vnde psalmista psalmo 93°: „Secundum multitudinem dolorum meorum in corde meo consolaciones [f. 2v a] me letificaverunt animam meam.“67 [f. 8r b] De la tierce parle philozophie en la premiere prose du quatriesme de ce liure, quant elle dit: „O boece, ie te monsterray la voye laquele te (re) retraira a la maison – cest adire a la court celeste – et ie afficeray a ta pensee pennes par lesqueles elle se puisse esleuer en hault et ta perturbati[f. 8v a]on deboutee je te enseigneray par quele sente tu retourneras sain au pays naturel – cest a dire au ciel – tant par ma conduite comme par mes charios.“ Ace propos dit le psalmiste en la cent et .xiiij. psalme: „Selon la multitude de mes doleurs que je portoye en mon cuer, tes consolations ont esleessie mon ame.“ Von der dritten Art spricht Philosophie in der ersten Prosa des vierten Buchs, wo sie sagt: „Boethius, ich zeige Dir den Weg, der Dich nach Hause – d.h. in den Himmel – führt, und ich verleihe Deinen Gedanken Flügel, mit denen sie sich in die Lüfte erheben können; und wenn Deine Verwirrung ausgetrieben ist, werde ich Dir zeigen, auf welchem Weg Du wohlbehalten in Deine Heimat – d.h. in den Himmel – unter meiner Führung ebenso wie auf meinem Gefährt zurückkehren kannst.“ Hierzu sagt der Psalmist im 114. Psalm: „In dem Maß, in dem ich Kummer in meinem Herzen trug, erquickten Deine Tröstungen meine Seele.“

Die Erlangung von benignitas und caritas schließlich setzt Demut voraus. Diese ebnet dem Menschen den Weg zur Wahrheit und kann somit der Verheißung des ewigen Lebens zur Wirklichkeit verhelfen. Auf diese Weise perspektiviert, verknüpft sich bei Renier die biblische Definition der Weisheit/Philosophie als „Mutter aller Tugenden“ (Sap. 7,12) mit der der Glorie vorausgehenden Demut der Mutter Gottes (Lc 1,48; f. 2v b). Dabei dürfte die mönchische Definition der humilitas als „nutrix virtutum“ im Hintergrund stehen.68 In dieser Gewissheit, die er mit einer leicht abgewandelten trinitarischen Formel gebetsartig bekräftigt, beschließen Renier und sein Übersetzer den ersten Teil ihrer Einleitung.

_____________ 66 IV 1 p., 8-9. 67 Ps. 93,19. 68 Vgl. Alanus ab Insulis: Dicta alia (Mirabilia), PL 210, Sp. 263: „haec est humilitas, virtutum nutrix, virtutum gloria, virtutum vita, nomen et meritum“. Im 14. Jahrhundert s. noch Konrad von Megenberg: Monastik, Sabine Krüger (Hrsg.), II 3,23, S. 207: „Ista virtus conservativa est magnanimitatis [...]; ymmo humilitas virtutum omnium est nutrix et decoratrix amica“.

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2.3.4. Christliche Spiritualität Die besondere Signatur der Einleitung Reniers und der knapp hundert Jahre später erfolgten Übersetzung im Druck Mansions wird deutlich, wenn man sie mit dem Prolog vergleicht, welcher der im 15. Jahrhundert am weitesten verbreiteten französischen Übersetzung, dem ca. 1350 entstandenen Livre de Boece de Consolacion, vorangestellt ist. Der ebenfalls anonyme Verfasser dieses Textes entlehnt seinen Prolog der deutlich früher, ca. 1300-1305 angefertigten Übersetzung Jean de Meuns, dessen Autorschaft er für sein Werk ebenso reklamiert wie das Mäzenatentum Philipps des Schönen (1285-1314). Von Jean de Meun übernimmt er auch die aristotelische Auslegung der Consolatio, die dem Kommentar Wilhelms von Aragonien entstammt, nicht ohne zugleich, durch neu eingefügte Glossen, Boethius als christlichen Autor ausweisen zu wollen. Im Zentrum steht der Gedanke, dass im Unterschied zur übrigen Natur der Mensch der philosophischen Anleitung bedürfe, um seiner Bestimmung zum Guten entsprechen zu können. Die Einleitung des Livre de Boece de Consolacion konstruiert einen geradezu historisierenden Zusammenhang, der das Werk einem gelehrten philosophischen Bildungsinteresse zuweist, das – fernab der Klöster und Universitäten – vom französischen Königshof ausstrahlt.69 Im Gegensatz zu einer derart ‚anthropologisch‘ geprägten Betrachtungsweise sind der Prolog Reniers und dessen französische Übersetzung völlig anders, nämlich von einem christlich-spirituellen Anliegen geleitet. Es ist kaum anzunehmen, dass der Aristotelismus des 13. und frühen 14. Jahrhunderts Renier und – ein knappes Jahrhundert später – Mansion unbekannt gewesen wäre. Doch im späten 14. und dann im 15. Jahrhundert ist, wenigstens in den südlichen Niederlanden, der Rückgriff auf die Frömmigkeitsformen des 12. Jahrhunderts offenbar der ‚modernere‘ und gültigere Ansatz. Christlich gedachte Demut als Voraussetzung des Wissens soll die Beschäftigung mit der Consolatio leiten, um aus ihr den rechten Trost schöpfen zu können in der Gewissheit des Glaubens. Wenige Jahrzehnte nach Renier gibt ein niederländisches Kunstwerk von höchstem Rang einen weiteren Hinweis auf eine solche Form von Spiritualität, die in eigentümlicher Weise den Triumph der Demut darstellt: Wenn der 1432 vollendete Genter Altar der Gebrüder van Eyck geöffnet ist, dann wird nämlich auf der Festtagsseite zur Rechten des triumphierenden Gottessohns die an seinem Triumph partizipierende, von einem Strahlenkranz erleuchtete, gekrönte Maria sichtbar, in deren Heiligenschein eine drei-

_____________ 69 S. Le Livre de Boece de Consolacion, Glynnis M. Cropp (Hrsg.), Genf 2006, S. 83-89 (Einleitung) und dazu die Erläuterungen der Hrsg., S. 11-17.

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zeilige Inschrift lesbar ist, die das für Renier so zentrale Zitat aus dem Buch der Weisheit 7,29 durch 7,26 ergänzt:70 „+ · Hec est speciosior sole · + super omnem stellarum disposicionem luci / comparata invenitur p[rior.] Candor est enim lucis eterne · + speculum sine / macula Dei“. 2.4. Leser In der ausführlich zitierten Selbstnennung des Accessus gibt sich Renier als Rektor einer Lateinschule in Mecheln zu erkennen. Pattin vermutet, dass es sich dabei um das durchaus bedeutende Studium der AugustinerEremiten gehandelt haben müsse, an dem Renier wohl ca. 1370-1375 lehrte,71 zu einem Zeitpunkt, an dem die Stadt ihren wirtschaftlichen Zenit allerdings bereits überschritten hatte. Ihre relative Unabhängigkeit hatte die Stadt in äußerst unruhigen Zeiten ebenfalls schon verloren und sollte alsbald über die Grafen von Flandern an Burgund fallen (1384).72 Es erschließt sich so für Reniers Kommentar der typische Kontext für das spätmittelalterliche Studium der Consolatio in ‚elementaren‘ Schulen und religiös geprägten Institutionen.73 Von einem solchen städtischen, lateinkundigen Milieu ist der Weg auch nicht weit zu Kreisen, die zwar an ‚lateinischer‘ Bildung interessiert, des Lateinischen jedoch nicht oder nicht ausreichend mächtig waren. Noch ein knappes Jahrhundert später wird auch Mansion in solchen Kreisen französischsprachige Kunden für seinen Druck gesucht und gefunden haben. Eine auf das Tagesgeschehen bezugnehmende Aktualisierung schien Mansion dabei zweckmäßig, denn in seinem Druck parallelisiert der Übersetzer (im Epilog) das Unglück des Boethius mit demjenigen, das die möglichen Leser in ihrer eigenen Gegenwart – 1477 – erleben:

_____________ 70 Im Übrigen zitiert auch Renier f. 2r b, ausgehend von „luci comparata“, Sap. 7,26. – Zur Linken Christi ist Johannes der Täufer dargestellt. Gleichwohl verbiete es sich, so Volker Herzner: Jan van Eyck und der Genter Altar, Worms 1995, S. 36, von einer Deesis zu sprechen, denn Maria und Johannes fehle der Gestus der Fürbitte. 71 Pattin, Reinerus (Anm. 13), S. 311 und 319. Stimmig mit diesem Befund ist die weiter oben besprochene Abbildung auf f. 3v b der Lütticher Hs. Etwas zurückhaltender äußern sich Goris / Wissink (Anm. 19), S. 146; Angenent (Anm. 15), S. 279 mit Anm. 72 R. van Uytven: „Mecheln“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Sp. 436-437. 73 Pattin, Reinerus (Anm. 13), S. 305: „Eén ding staat vest: dit werk stond niet op het programma van de Facultas Artium“; s. auch Nauta, Renaissance (Anm. 8), S. 772.

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[f. 281v a] Ouquel an pluiseurs et diuerses aduersitez ont este et aincoires sont tant par les commotions populaires comme pour la ruyne et variation de pluseurs nobles hommes, aussi bien en hollande, brabant, haynau, arthois com [f.281v b] me en cestui pays de flandres par lesqueles mutations de fortune ainsi agittant et triboulant le monde les estas vniuerselement sont troublez. In welchem Jahr mehrere und verschiedene Widrigkeiten sich ereignet haben und noch ereignen, einerseits durch den Aufruhr des Volkes, andererseits durch den Sturz mehrerer edler Männer, in Holland, Brabant, Hennegau, Artois ebenso wie in diesem Land Flandern; durch diese Wechselfälle des Glücks, welche die Welt erschüttern und heimsuchen, werden die Staaten insgesamt in Aufruhr gebracht.

Diese Parallelisierung dürfte über einen bloß rhetorischen Kunstgriff weit hinausgegangen sein, weil die tiefgreifenden „mutations de fortune“ dem Drucker wie seinem Publikum ganz unmittelbar vor Augen standen: Nach dem Tod Karls des Kühnen am 5. Januar 1477 und dem jähen Sturz des Hauses Burgund – für Commynes ein Anlass zu Betrachtungen über das von der göttlichen Vorsehung weitergedrehte Rad der Fortuna74 – war der grausam geführte Erbfolgekrieg um die südlichen Niederlande entbrannt, der Flandern bis zur Heirat Maximilians mit Maria von Burgund am 19. August 1477 keine Ruhe brachte. Eine besonders eindrückliche (und berühmt gewordene) Episode im Vorfeld dieser Heirat war der politische Prozess, den der auf Unabhängigkeit von den Fürsten bedachte Rat der Stadt Gent gegen enge Vertraute Marias von Burgund führte, denen man vorwarf, die nur wenige Wochen zuvor konzedierten „Großen Privilegien“ verletzt zu haben. Die Angeklagten, darunter Gui de Brimeu (seigneur d’Humbercourt) und der burgundische Kanzler Guillaume Hugonet, konnten – wie Commynes berichtet – ihrer „malfortune“ nicht entgehen, wurden zum Tode verurteilt und am 3. April 1477 auf dem Freitagsmarkt enthauptet.75 Aufschluss über nachweisbare Leser des Drucks geben handschriftliche Gebrauchsspuren und Besitzereinträge in den überlieferten Exemplaren. Das Pariser Exemplar etwa weist sich (f. 1v) als „ex cenobio Celesti-

_____________ 74 Commynes (Anm. 17), Bd. I, S. 359: „Or a Nostre Seigneur tout en ung coup faict cheoir si grand et sumptueux ediffice, ceste puissante maison [...]. De tous coustés ay veu ceste maison honnouree, et puis tout a ung coup [100 rÜ] cheoir ce dessus dessoubz, et la plus desolee et deffaicte, tant en prince que en subjectz, que nul voisin qu’ilz eussent. Et telles et semblables oeuvres a faict Nostre Seigneur, maint en avant que fussionz néz, et fera encores aprés que nous serons mors ; car il se fault tenir seur que la grant prosperité des princes ou leur grand adversité procedent de sa divine ordonnance.“ 75 Commynes (Anm. 17), Bd. I, S. 391-396, Zitat S. 393. S. zuletzt Marc Boone: „La justice en spectacle. La justice urbaine en Flandre et la crise du pouvoir ‚bourguignon‘ (1477-1488)“, in: Revue historique 625/2003, S. 43-65.

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norum beate Marie de Heuerlis. Signatum Theca 52“ aus. Es war also im Besitz des 1522 von Frankreich aus gegründeten, bedeutenden Klosters der Coelestiner in Heverlee, unweit der Stadt Löwen, in der die Bettelmönchsorden seit dem 13. Jahrhundert besonders stark präsent waren.76 Auch die Coelestiner, die in Frankreich im 14. und 15. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebten, waren für ihre strenge Lebensweise bekannt.77 In der Gründungszeit des Heverleer Klosters wirkte dort der aus Frankreich stammende François de Larben, der zusammen mit Nicholas de Leuze die gegenreformatorische französische Bibelübersetzung der erst im 15. Jahrhundert gegründeten Universität Löwen verantwortete.78 Zu einem solchen Unternehmen passt zweifellos das Interesse an einer neuen französischen Übersetzung der Consolatio. Was das bildungsbeflissene, jedoch nicht unbedingt lateinkundige Laienpublikum angeht, so kommen als Leser der Übersetzung am ehesten Adlige und Patrizier in Frage, wie z.B. einer der mächtigsten und einflussreichsten Berater des burgundischen Hofs, Ludwig von Brügge (Lodewijk van Gruuthuse; ca. 1420-1492).79 Wir wissen, dass er nicht nur Auftraggeber der von Mansion veranstalteten Übersetzung der Penitance d’Adam war, sondern auch Pate eines der Kinder des Druckers.80 Allerdings bevorzugte

_____________ 76 R. van Uytven: „Löwen“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Sp. 2144-2145. 77 J. Göbbels: „Coelestiner (Damianisten)“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Sp. 911. 78 La saincte Bible. Nouuellement translatée de latin en francois, selon l’edition latine, dernièrement imprimée à Louuain, Löwen 1550. S. den Artikel „Héverlée (Notre-Dame)“, in: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques 24, Paris 1993, Sp. 329-331. Im Rahmen dieser Untersuchung kann kein systematischer Vergleich der Bibelzitate in Mansions Druck und in der Löwener Bibel angestellt werden. Mansions Übersetzung von Ps. 118,50 („Celle ma console en mon humilite“) lautet dort (S. 239): „Icelle m’a consolé en mon humilité“, was der Übersetzung der älteren Antwerper Bibel (La saincte Bible en Francoys tranlatee selon la pure et entiere traduction de sainct Hierome conferee et entierement reuisitee selon les plus anciens et plus correctz exemplaires, Antwerpen: Martin Lempereur 1530) entspricht: „Jcelle ma console en mon humilite“. 79 Maximiliaan P.J. Martens (Hrsg.): Lodewijk van Gruuthuse. Mecenas en Europees diplomaat ca. 1427-1492, Brügge 1992; W.P. Blockmans: „Gruuthuse“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Sp. 1755-1756. Ludwig von Brügge gehörte zu der burgundischen Delegation, die nach dem Tod Karls des Kühnen mit Ludwig XI. Verhandlungen über das burgundische Erbe führte, s. Commynes (Anm. 17), Bd. I, S. 380. 80 Ruelle (Anm. 33), S. 44. – Man weiß, dass die Handschrift BN f. fr. 132, die Mansion als Vorlage für seinen Druck von Laurent de Premierfaits Übersetzung von Boccaccios De casibus virorum illustrium (Brügge 1476; ISTC-Nr. ib00711000, GW2 4432) diente, Ludwig von Brügge gehörte, s. Stefania Marzano: „La

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Ludwig offenbar sorgfältig angefertigte Prachthandschriften, wie die Tatsache beweist, dass er dem (niederländischen) Genter Boethius eine kalligraphische Kopie dieses Druckes aus der Feder Jans van Kriekenborch vorzog.81 Immerhin ließ sich der Mansion’sche Druck auch in einer ‚Luxusedition‘ gestalten, wenn der am Anfang der einzelnen Bücher der Consolatio für Miniaturen vorgesehene Platz genutzt wurde. Ein einziges, in der Universitätsbibliothek Cambridge aufbewahrtes Exemplar (Inc. I.F.3.1.) dieser Art, das einem zweifellos wohlhabenden Arzt, dem „maistre surgijen de la ville de bruges“ Rogier Willeron (f. 282r), gehörte, ist heute bekannt.82 Wenige Jahre, nachdem sich Mansions Spur verliert, übernimmt ein kommerziell sehr erfolgreicher Pariser Drucker das Brügger Werk: Anthoine Vérard. Aus seiner Offizin stammt eine 1494 erschienene und Mansion drucktechnisch übertreffende Neuausgabe, die sich den Markt der bibliophilen Adligen wohl wesentlich erfolgreicher als Mansion erschloss.83 Vérard beginnt mit einem neuen Widmungsschreiben, das Mansions spirituelles Anliegen verwässert und ganz auf kommerzielle Erfordernisse abgestellt ist. Der Pariser Drucker richtet die Widmung an den französischen König Charles VIII (1470-1498), der in dem – wie es heißt – ebenso nützlichen wie schönen Buch gleichgewichtig „tant en philosophie que en la foy“ (f. 2v a) belehrt werde. Von dem mit sechs Holzschnitten illustrierten Werk wurden drei Exemplare auf Vellum gedruckt. In ihnen sind die Holzschnitte zu Beginn des Prologs sowie der fünf Bücher der Consolatio durch kostbare Miniaturen übermalt, wobei das einleitende Widmungsbild Vérard mit seinem jeweiligen Mäzen zeigt, der sich allerdings nicht in jedem Fall mit Sicherheit identifizieren lässt.84 Während

_____________

81 82

83 84

traduction du De casibus virorum illustrium de Boccacce par Laurent de Premierfait (1400): entre le latin et le français“, in: Claudio Galderisi / Cinzia Pignatelli (Hrsg.), La traduction vers le moyen français. Actes du IIe colloque de l’AIEMF. Poitiers, 27-29 avril 2006, Turnhout 2007, S. 283-295, hier S. 287. Es handelt sich um Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. néerlandais 1; s. Goris (Anm. 21), S. 146. S. dazu De vijfhonderdste verjaring van de boekdrukkunst in de Nederlanden. Le cinquième centenaire de l’imprimerie dans les anciens Pays-Bas. Catalogue, Brüssel 1973, hier S. 222 (mit der falschen Lesung „surgyen“). Der unterhalb des französischen Eintrags angebrachte lateinische Text lautet: „Iste liber pertinet Rogero Willeron. / magistro cirurgico ville brugensis.“ Le grant boece / de consolacion / nouuellement / imprime a paris (19. August 1494). Ich benutze einen MF des Exemplars Grenoble, BM I 120. Vgl. den Eintrag im ISTC der British Library, Nr. ib00814000; GW2 Nr. 4580. Mary Beth Winn: Anthoine Vérard, Parisian Publisher 1485-1512. Prologues, Poems, and Presentations, Genf 1997, S. 314-325.

Tugend der Demut

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die Darstellung von Charles VIII und Charles d’Orléans (des Grafen von Angoulême, 1459-1496) nur vermutet werden kann, bestehen an derjenigen von König Henry VII (1457-1509) allerdings keine Zweifel. In dem entsprechenden Exemplar hat Vérard in dem (gedruckten) Text des Widmungsschreibens ohne weitere Umstände den Namen „Charles .viii.“ durch „Henry .vii.“ und „Roy de france“ durch „Roy dengleterre“ von Hand ersetzen lassen. Auf diesem Hintergrund dürfte die Werbung für „ce tresbeau et vtile liure“ (f. 2v a) verdeutlichen, dass es Vérard stärker auf sein handwerklich anspruchsvolles Produkt als auf dessen Inhalt ankam.85 Das unterscheidet den ‚kommerziellen‘ Pariser Drucker allerdings nicht nur von dem – so Winn – ‚wissenschaftlich‘ orientierten Zeitgenossen Josse Bade, sondern eben auch von seinem spirituelle Ziele verfolgenden Vorgänger Colard Mansion.86 Die spezifischen Konturen von Mansions ‚Frömmigkeitskultur‘ dürfte eine moderne Edition des Liure de boece de consolation de phylosophye im Kontext der übrigen religiösen Produktion des Brügger Druckers – mit Werken z.T. ‚reformerisch‘ gesinnter Autoren wie Pierre d’Ailly, dessen Schüler Jean Gerson, Jean Miélot und Martin Le Franc –87 endlich sichtbar machen. Dabei wird dann auch zu klären sein, ob es Berührungspunkte Mansions mit der bedeutenden Erneuerung der Spiritualität gibt, die bekanntlich von den Niederlanden ihren Ausgang nahm: der Devotio moderna.88

_____________ 85 Bereits Nigel F. Palmer: „Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae“, in: Gibson (Anm. 8), S. 362-409, hier S. 371, stellt für die Prachthandschriften fest: „The richest manuscripts may well have served primarily as status symbols and remained unread“, fügt allerdings hinzu: „but we cannot explain the whole tradition in this way.“ 86 Vgl. Winn (Anm. 84), S. 45, zur Beurteilung Vérards zwischen Mansion und Bade. Winn kommt es in erster Linie auf die Gegenüberstellung Vérard vs. Bade, d.h. ‚Kommerz vs. Wissenschaft‘ an, so dass die Unterscheidung der Positionen Mansions und Vérards („Colard Mansion of Bruges also wrote prologues, but again they introduce works which he also translated or compiled.“) letztlich unscharf bleibt. 87 Ruelle (Anm. 33), S. 41-44. 88 S. den informativen Überblick von E. Iserloh „Devotio moderna“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Sp. 928-930. Berührungspunkte mit den Devoten könnten die zentrale Rolle der Demut und die Ablehnung übertriebener spätscholastischer Spekulation unter Rückgriff auf Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts bilden.

Boethius im Klassenzimmer Die Bearbeitung der Consolatio Philosophiae durch Notker den Deutschen

STEPHAN MÜLLER (Paderborn) This paper shows how Boethius’ “Consolatio Philosophiae” was read within a monastic teaching context in St Gallen around 1000 AD. A special feature of this reception process was the fact that the St Gallen teacher Notker the German used his national language in order to better convey to the pupils of the monastery Boethius’ text as a basis for understanding the Holy Scripture. His groundbreaking work consisted in not simply translating the text verbatim but in commenting on it in a mixed, German-Latin language, which leaves the original Latin text intact and visible. Notker’s difficulty in doing this was to interpret in a Christian vein those passages of the “Consolatio” which had a decidedly ancient and polytheistic theme. Notker’s solution to this problem was radically different from usual forms of an “Interpretatio Christiana” as it was practised in mediaeval times. This paper demonstrates how Notker uses common monastic teaching practises in order to subtly give Boethius’ text a Christian tone without changing it in its essence.

Am 28. Juni 1022 starb der St. Galler Mönch und Magister Notker der Deutsche an der Pest, die im Galluskloster wütete. Sein Lieblingsschüler Ekkehart IV. widmete dem verehrten Lehrer in seinem Liber benedictionum einen hexametrischen Nachruf, den er selbst erklärend glossierte und der uns an Notkers Leben, Werk und Sterben heranführen soll.1 Teutonice propter caritatem discipulorum plures libros exponens.

Primus barbaricam

scribens faciensque saporam

confessionem palam faciens. cucullatus. non multum dolens in corpore.

Facta palam fassus,

residens neque grandia passus

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Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393. Zum ersten Mal vollständig hrsg. und erklärt von Johannes Egli, St. Gallen 1909, hier Nr. 44, V. 62-67. Die Position der Glossen ist nach der Handschrift wiedergegeben (S. 155), die im Internet im Rahmen des Projekts Codices Electronici Sangallenses (http://www.cesg.unifr.ch/de/index.htm [Stand: 10.8. 2008]) eingestellt ist. Die beiden letzten Kommentarzeilen stehen über den Folgehexametern, die hier nicht wiedergegeben sind.

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Stephan Müller ipsa die, qua obiit, librum Iob finivit, opus mirandum.

Notker mox obiit,

ubi Iob calamo superavit,

librum Iob in quartam linguam exponens. nimis.

Quem vas in quartum

transfundens fecit apertum.

moralia Teutonice.

ab illo.

Gregorii pondus

dorso levat ille secundus

psalterium, in quo omnes, qui barbaricam legere sciunt, mul-

Post Davidis dicta

simili iam robore victa.

tum delectantur. Kisila imperatrix operum eius avidissima, psalterium ip-

sum et Iob sibi exemplari sollicite fecit.

(‚Deutsch – aus Liebe zu seinen Schülern – legte er zahlreiche Bücher aus. Der als erster die barbarische Sprache schrieb und sie schmackhaft machte, Er beichtete öffentlich, mit der Kukulle gekleidet, ohne große körperliche Leiden.

als er öffentlich seine Taten bekannt hatte, sitzend und ohne große Schmerzen zu dulden, An dem Tag, an dem er starb, beendete er den Hiob, ein bewundernswürdiges Werk.

Notker, starb, bald nachdem er Hiob mit der Feder bezwungen hatte, Das Buch Hiob legte er in der vierten Sprache aus. Ganz vollkommen.

den er ins vierte Gefäß umgoss und verständlich machte. Die Moralia auf Deutsch nach jenem >Gregor@.

Gregors Last hebt er als zweiter vom Rücken, Den Psalter, durch den alle, die Deutsch lesen können, sehr

nachdem er schon die Aussprüche Davids mit ähnlicher Kraft bewältigt hatte. erfreut werden. Die Kaiserin Gisela, nach seinen Werken begierig, ließ sich von jenem Psalter und dem Hiob sorgfältig Exemplare erstellen.‘)

Notker III., von dem hier die Rede ist, wurde wohl um 950 geboren.2 Wegen seiner breiten Lippen nannte man ihn auch Notker Labeo. Wegen jenes Werks aber, das hier im Zentrum unseres Interesses stehen soll, trug er den weiteren Beinamen Notker Teutonicus, also Notker der Deutsche. Die deutsche Sprache benutzte er laut Ekkeharts Nachruf im Kontext der Praxis klösterlichen Unterrichts „propter caritatem discipulorum“, aus Liebe zu seinen Schülern, und stellte damit seine Volkssprache als „viertes Gefäß“ neben die nach der Tradition der Kreuzinschrift (Joh 19,20) drei heiligen Sprachen (Hebräisch, Griechisch, Latein), die gängigen Sprachen der abendländischen Gelehrsamkeit des Mittelalters. Zwar wird es stilisiert sein, dass Notker an seinem Sterbetag sein letztes Werk vollendet habe, nämlich seine Bearbeitung von Gregors Moralia

_____________ 2

Zu Notkers Leben und Werk vgl. Stefan Sonderegger: Art. „Notker III. von St. Gallen“, in: 2Verfasserlexikon 6/1987, Sp. 1212-1236.

Boethius im Klassenzimmer

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in Hiob. Aber sehr wahrscheinlich war dies sein letztes Werk, der Endpunkt eines Schaffens, als dessen Höhepunkte Ekkehart neben dem Hiob noch Notkers Psalter nennt. So spektakulär seien diese Werke gewesen, dass selbst Kaiserin Gisela begierig nach ihnen war.3 Psalter und Hiob, das sind die Hauptwerke Notkers, aber viele weitere, im Nachruf ungenannte Werke boten den Grundstock, diese für das monastische Leben so zentralen Texte zu bearbeiten. Wir wissen das aus einem weiteren einmaligen Zeugnis. Notker selbst informiert uns darüber in seinem berühmten Brief an Hugo von Sitten, einem Antwortbrief auf einen verlorenen Bittbrief des Bischofs, in dem Notker sein eigenes Werk Revue passieren lässt.4 Aus diesem Brief ergibt sich folgender Werkkanon, der in seinem Bestand allerdings umstritten ist. Erhalten sind uns die Bearbeitungen folgender Werke: – De consolatione philosophiae des Boethius. – De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella (Bücher I und II). – Categoriae und De interpretatione des Aristoteles in der Fassung des Boethius. – Der Psalter einschließlich der Cantica und der katechetischen Stücke. Im Brief erwähnt, aber nicht überliefert sind des Weiteren: – Eine Schrift zur Trinität des Boethius, womit wahrscheinlich das erste Opusculum sacrum, De sancta trinitate, des Boethius gemeint ist, was sich aber auch auf die weiteren Opuscula sacra des Boethius beziehen kann. – Die (in Notkers Worten) Principia arithmeticae des Boethius, wobei nicht klar ist, welches Werk er genau damit meint. Man hat hier an De institutione arithmetica oder an den im Mittelalter Boethius zugeschriebenen Traktat Ars geometriae et arithmeticae gedacht.5 Auch ein Bezug auf De in-

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5

Zu diesem Fall vgl. Stephan Müller: „Scriptorium. August 1027: Empress Gisela visits St. Gall“, in: David E. Wellbery (Hrsg.): The New History of German Literature, Cambridge/Mass. 2005, S. 28-33. Der Brief ist ediert und kommentiert von Ernst Hellgardt: „Notkers des Deutschen Brief an Hugo von Sitten“, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Festschrift Hans Fromm, Klaus Grubmüller u.a. (Hrsg.), Tübingen 1979, S. 169-192, neuerdings auch in: Die Werke Notkers des Deutschen, Bd. 7: Die kleineren Schriften, James C. King / Petrus W. Tax (Hrsg.), Tübingen 1996, S. CXXIX-CXXXII und S. 347349. Eine Übersetzung des Briefes findet sich u.a. in Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150, Walter Haug / Benedikt Konrad Vollmann (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1991, S. 262-267. Vgl. dazu Hellgardt, Notkers Brief (Anm. 4), S. 189.

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stitutione musica schiene mir denkbar,6 womit Notkers De musica (das im Brief ja nicht genannt wird) in einem Zusammenhang steht. – Die Moralia in Hiob Gregors des Großen, von denen ja auch Ekkehart berichtet. Aus der Formulierung des Briefes geht nicht eindeutig hervor, ob Notker auch folgende Werke bearbeitet hat oder ob man nur mit der Bitte um Bearbeitung dieser Werke an ihn herangetreten war:7 – Disticha Catonis. – Vergils Bucolica. – Terenz’ Andria. Im Brief nur summarisch angedeutet, kommt noch eine Reihe von kleineren Texten hinzu, die bis auf wenige althochdeutsche Beispielsätze rein lateinisch sind (Distributio, St. Galler Traktat, De arte rhetorica, De partibus logicae, De dialectica, De syllogismis, De definitione, Computus), sowie die einzige rein althochdeutsche Schrift, De musica.8 Das ist eine ansehnliche Reihe von Werken, wobei die kleineren Werke und vor allem die aristotelischen Schriften, Boethius und Martianus Capella nur deshalb den Schülern zugänglich gemacht wurden, da sie die Grundlage für das Verständnis der heiligen Bücher abgeben: Die ecclesiastici libri lassen sich – so Notker im Brief – nicht ohne diese Bücher verstehen. Für die folgende Untersuchung von Notkers Boethius muss damit von Anfang an außer Zweifel stehen, dass allein schon dieser pragmatische Rahmen es wahrscheinlich macht, dass Notker Boethius als christlichen Autor verstanden haben wollte. Es liegt also sehr nahe, Notkers Arbeit als interpretatio christiana zu lesen,9 zumindest in dem Sinne, als seine ConsolatioBearbeitung dazu dienen sollte, zentrale Texte des Christentums angemessen zu begreifen.

_____________ 6 7

8 9

Für die Anregung zu dieser möglichen Identifizierung danke ich Reinhold F. Glei (Bochum). In den meisten Werkverzeichnissen Notkers sind diese Texte mit aufgenommen. Gegen ihre Existenz regt sich aber immer größerer Zweifel. So bei Nikolaus Henkel: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, MünchenZürich 1988, S. 76f., und Sonja Glauch: Die Martianus-Capella-Bearbeitung Notkers des Deutschen, 2 Bde., Tübingen 2000, Bd. 1, S. 30f. Das letzte Wort in dieser Diskussion ist noch nicht gesprochen. Dies alles ediert im siebten Band der Ausgabe von King und Tax (Anm. 4). So pointiert Ingeborg Schröbler: „Interpretatio christiana in Notkers Bearbeitung von Boethius’ ‚Trost der Philosophie‘“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 83/195152, S. 40-57.

Boethius im Klassenzimmer

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Die Frage ist nur, wie Notker das in vielerlei Hinsicht nur schwer christlich zu lesende Werk zu diesem Zweck bearbeitete. Dazu jedoch später. In einem ersten Schritt ist es vorab wichtig, ganz grundsätzlich einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Notker an ihm vorliegende Werke mit Hilfe der Volkssprache heranging. Der Begriff ‚Übersetzung‘, das ist festzuhalten, würde im Falle Notkers zu kurz greifen, obwohl dieser Begriff oft auf sein Werk angewandt wird. Dies schon deshalb, da (mit Ausnahme von De musica) keines seiner Werke ein rein deutschsprachiges ist. Notker hält die Ausgangssprache Latein stets präsent, wenn auch – wie wir sehen werden – oft stark verändert. Außerdem ist die ‚Übersetzung‘, in der manche Einzelwörter lateinisch stehen bleiben, mit Kommentierungen durchsetzt, die ebenfalls teils lateinischsprachig sind, so dass im Ganzen eine für Notker typische Mischsprache vorliegt. Kurz, ohne Lateinkenntnisse ist Notker nicht zu haben und Notker wollte auch ganz sicher nicht die lateinischen Originale ersetzen. Was meint Ekkehart also mit seinem zweimaligen exponere in der Kommentierung der Nachruf-Hexameter?10 Auch hier können wir auf Notkers Brief an Hugo von Sitten zurückgreifen. In seiner dortigen Selbstbeschreibung benutzt Notker nämlich auch den Terminus exponere, aber das zusammen mit interpretari: „Hinc reversus ad divina totum Psalterium et interpretando et secundum Augustinum exponendo consummavi“ (‚Von dort [d.h. von den antiken Werken sowie von Boethius und Martianus Capella] zu den geistlichen Büchern zurückgekehrt, vollendete ich den ganzen Psalter, indem ich ihn interpretierte [interpretari] und nach Augustinus auslegte [exponere]‘).11 interpretari beschreibt also die Gesamtheit von Notkers Arbeit am Text und exponere die spezifische Auslegung nach dem Kommentar des Kirchenvaters, der allerdings nicht seine einzige Quelle war. Grundsätzlicher noch legt Notker im Brief kurz davor über sein Verfahren Rechenschaft ab: Ad quos dum accessum habere nostros vellem scolasticos, ausus sum facere rem paene inusitatam, ut latine scripta in nostram conatus sim vertere et syllogistice aut figurate aut suasorie dicta per Aristotelem vel Ciceronem vel alium artigrum elucidare. (‚Da ich will, dass unsere Schüler zu jenen [geistlichen Büchern] Zugang haben, habe ich gewagt, was bis dahin fast unüblich war: ich versuchte, lateinische Texte

_____________ 10 Ausführlich zum Unterricht in St. Gallen vgl. Anna A. Grotans: Reading in Medieval St. Gall, Cambridge 2006. 11 Text nach Haug / Vollmann, Frühe deutsche Literatur (Anm. 4), S. 264. Dort auch eine Übersetzung des Briefes.

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in unsere Sprache zu übertragen [vertere] und, was topisch, figural oder in fingierter Rede gesagt ist, durch Aristoteles oder Cicero oder einen anderen Grammatiker zu erhellen [elucidare].‘)12

vertere und elucidare also greifen ineinander. Der ‚Version‘, also der Übersetzung, der geistlichen Bücher, der ecclesiastici libri, von denen im vorhergehenden Satz des Briefes gesagt wird, dass sie ohne Hilfe nicht zu verstehen seien, folgt die Erhellung mittels der gelehrten Literatur, in deren Kontext Notker in seinem Brief auch die Consolatio stellt. Das spätantike Werk wird in Notkers Konzept der gegenseitigen Erhellung zu einem Instrument der christlichen Hermeneutik. Das heißt nun nicht, dass er Aristoteles oder Cicero zu Christen erklärt. Auch nicht, dass er Boethius seine heidnischen Aspekte nicht lassen könnte. Wohl aber darf man vermuten, dass dezidiert dem Christentum widersprechende Aussagen zumindest nicht unkommentiert bleiben können oder sogar umgedeutet werden, wenn diese Werke als Verstehenshilfe elaborierter christlicher Texte dienen sollen. Daraus ist nun nicht zu schließen, dass Notkers Übersetzungsleistung wegen ihres dienenden Charakters nicht hoch eingeschätzt werden sollte. Richtig zu würdigen ist sie jedoch erst vor dem Hintergrund der Schultradition seiner Zeit, in der man sich lateinischen frommen und gelehrten Texten mit aufwendigen Kommentierungen und Glossierungen annäherte. An diese Traditionen, in denen auch die deutsche Sprache in Form von althochdeutschen Glossen allerdings nur punktuell eine Rolle spielte, schließt sich Notker an und perfektioniert die Techniken. So entstehen Notkers übersetzte und kommentierte Ausgaben, die seine Stimme als Lehrer auch nach seinem Tode am Leben erhalten. Um Notkers Umgang mit der Consolatio zu beschreiben und dabei der Frage nachzugehen, inwiefern damit ein ‚Boethius Christianus‘ entstand, soll im Folgenden ein kleiner Teil des Werkes detailliert vorgestellt werden. Es bietet sich dabei jene Passage an, die besonders klar eine interpretatio christiana nahelegen könnte: Das berühmte neunte Metrum des dritten Buches, dessen platonisches Gedankengut nur schwer mit christlichen Weltvorstellungen harmonisiert werden kann und das als das zentrale Metrum der Consolatio immer wieder interpretiert wurde. Das gilt auch für Notkers Bearbeitung des hymnus platonicus. In keiner Anthologie des Althochdeutschen darf diese Passage fehlen. Aus den vielen Analysen zu diesem Metrum ragt aktuell die Arbeit von Christine Hehle heraus, die in ihrem wegweisenden Buch zu Notkers Consolatio-Bearbeitung vor allem

_____________ 12 Text nach Haug / Vollmann, Frühe deutsche Literatur (Anm. 4), S. 262.

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auch die Quellen von Notkers Arbeit mit berücksichtigt;13 besonders die lateinischen Kommentare des Remigius von Auxerre († 908) und eines lateinischen Anonymus, die Notker oft wörtlich einfließen lässt. Ich kann dem Detailreichtum von Hehles Untersuchung kaum etwas hinzufügen und gehe deshalb von ihren Ergebnissen zunächst aus. Dezidierter als das ihrer allgemeinen, den gesamten Text betreffenden Analyse möglich war, will ich dabei diejenigen Bearbeitungstechniken hervorheben, die einer interpretatio christiana des Textes dienen. Anders als Hehle gehe ich dabei nicht sukzessiv, dem Wortlaut des Textes folgend, vor, sondern trenne heuristisch verschiedene Phasen der Textbearbeitung, die erst am Ende der Analyse wieder zusammengefasst werden sollen. Durch eine solche heuristische Trennung lassen sich die Bearbeitungsprinzipien Notkers klar systematisieren und verschiedenen Ebenen zuordnen: von elementaren Hilfen im Umgang mit der lateinischen Sprache bis zur impliziten und expliziten Auseinandersetzung mit der gelehrten Kommentartradition. Mir geht es also auf der Grundlage der substantiellen Pionierarbeit Hehles um eine systematische Präsentation von Notkers Verfahren, die ein Bild davon vermittelt, wie Notker sich zu den Inhalten des Metrums verhält, die nicht christlich zu lesen sind, und mit welchen Strategien er die Consolatio für die St. Galler Schüler lesbar macht, ohne den Text des Boethius dabei gänzlich umzukrempeln. Das will ich ausgehend vom Bild der Handschrift tun. Nach einer Transkription soll in drei Analyseschritten gezeigt werden, wie Notker, erstens, den lateinischen Text umarbeitet, wie er, zweitens, diesen umgearbeiteten Text übersetzt, um dann, drittens, auf seine lateinischen und deutschen Kommentierungen einzugehen. Erst abschließend soll ein Fazit gezogen werden, wie Notker seinen Boethius für das benediktinische ‚Klassenzimmer‘ kompatibel macht. Zunächst also zur Handschrift. Notkers Consolatio-Bearbeitung ist nur in einer Handschrift komplett überliefert, im Codex 825 der Stiftsbibliothek St. Gallen.14 Diese Handschrift wurde um 1025 geschrieben, kurz nach Notkers Tod. Notker ist dabei nicht als Bearbeiter des Werkes kenntlich gemacht. Wie selbstverständlich ging man wohl davon aus, dass jeder wusste, dass die Bearbeitung von ihm stammt. Ein Befund übrigens, der nochmals deutlich macht, dass Notker den Boethiustext nicht ersetzen wollte: Boethius bleibt der Autor, nur liegt sein Werk hier eben in einer für die St. Galler Schule aufbereiteten Form vor. Neben dieser vollständi-

_____________ 13 Christine Hehle: Boethius in St. Gallen. Die Bearbeitung der ‚Consolatio Philosophiae‘ durch Notker Teutonicus zwischen Tradition und Innovation, Tübingen 2002. 14 Die Handschrift ist komplett abgebildet im Internet im Rahmen des Projekts Codices Electronici Sangallenses (Anm. 1).

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gen Handschrift ist ein lateinischer Prolog, der weder von Boethius noch von Notker stammt und den Notker ins Althochdeutsche übersetzte,15 in zwei weiteren Handschriften belegt (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 844 und Wien, ÖNB, Cod. 242). Wie zentral das hier zu untersuchende Metrum (III, 9) ist, belegt die Tatsache, dass nur dieses Metrum in einer weiteren Handschrift aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts steht (Zürich, Zentralbibliothek, Cod. C 121), die ebenfalls in St. Gallen geschrieben wurde.

Notkers Consolatio-Bearbeitung im St. Galler Codex 825 (Ausschnitte aus den Seiten 148 und 149 mit dem Beginn von Buch III, Metrum 9).

_____________ 15 Der Text mit Übersetzung in: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Stephan Müller, Stuttgart 2007, S. 34-37.

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Ich gebe die Textpassage, anhand derer ich Notkers Arbeit vorführen will, nach dem Bild der Sangaller Handschrift 825 wieder: ORATIO PHILOSOPHIAE AD DEUM . UT SUMMUM BONUM IPSE DEMONSTRET . O sator terrarum cęlique . Tû sképfo hímeles únde érdo. Qui gubernas mundum perpetua ratione . Tû dísa uuérlt órdenôst . únde scáffôst . únde ríhtest . mít tînemo êuuîgen uuîstûome. Qui iubes tempus ire ab ęuo . i . qui iussisti tempora incipere ab exordio mundi. Tû die zîte hîeze íro férte begínnen . sáment tero uuérlte . uuánda êr neuuâren zîte . núbe êuuighéite. Stabilisque manens . das cuncta moueri . Únde sélbo stâtêr . âllíu díng uuérbest . únde uuéhselôst. Uuánda der hímel uuárbelôt . únde álliu díng uuándônt. Quem non pepulerunt externę causę . fingere opus fluitantis materię . i . informis et indiscretę. Tíh nehéiniu ánderíu díng nescúntôn . daz scáffelôsa zímber ze máchônne . ûzer démo dîsiu uuérlt uuárd. Sî méinet tîa sámentháftigûn mássa . dîa er ze êrest téta . an déro nîeht keskéidenes neuuás. Uerum . i . nisi insita forma boni . carens liuore . Âne dîn sélbes ínniglicha gûoti . nîeht nîdes hábentíu.16

In dieser Passage verarbeitet Notker die ersten sechs Hexameter des Metrums, die bei Boethius wie folgt lauten: O qui perpetua mundum ratione gubernas, Terrarum caelique sator, qui tempus ab aevo Ire iubes stabilisque manens das cuncta moveri, Quem non externae pepulerunt fingere causae Materiae fluitantis opus, verum insita summi Forma boni livore carens […]

In der Übersetzung von Eberhard Gothein: Der du lenkest die Welt nach dauernden festen Gesetzen, Schöpfer des Himmels, der Erden, der du von Ewigkeit wandeln Hießest die Zeit, selbst nimmer bewegt, bewegend das Weltall! Keine äußere Macht trieb dich, aus wogenden Massen Deine Schöpfung zu formen; in dir nur trägst du des höchsten Guten Gestalt, das frei ist von Mißgunst. […]17

_____________ 16 Die Textwiedergabe folgt meiner Ausgabe Althochdeutsche Literatur (Anm. 15), S. 240-242, Kommentar auf S. 378-380. Dabei gelten folgende typographische Zuweisungen: Lateinisch = kursiv. Text des Boethius = fett und kursiv. Notkers Übersetzung und Kommentar = mager. 17 Text und Übersetzung sind so abgedruckt bei Haug / Vollmann, Frühe deutsche Literatur (Anm. 4), S. 286f. Dort auch Übersetzung und Kommentar zu Notkers Bearbeitung von Buch III, Metrum 9.

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Zum neunten Metrum des dritten Buches, das buchstäblich im Zentrum der Consolatio steht – in der Mitte des dritten von fünf Büchern –, ist viel gesagt worden. Zentral für uns ist Folgendes: Der Schöpfungspreis, der in diesem Metrum formuliert ist, gibt komprimiert die Kosmogonie des Timaios wieder. Das stellte für die mittelalterliche Kommentartradition eine besondere Herausforderung dar, da sie in einzelnen Punkten explizit der christlichen Lehre widerspricht, zu denen auch Notker Stellung beziehen muss.18 Vor allem der Gedanke der Präexistenz der Seele provozierte verschiedenste Formen des klaren Widerspruchs oder Techniken einer interpretatio christiana. In den wenigen Eingangshexametern, die ich hier näher betrachten will, liegen konkret zumindest zwei klare Probleme für einen christlichen Interpreten vor. Aus welchen „wogenden Massen“, aus welcher „materia fluitans“, soll der Schöpfer sein Werk („opus“) gemacht haben? Und was ist mit des „höchsten Guten Gestalt“ gemeint, mit der „summi forma boni“? Die Schöpfung, die hier nach der platonischen Ideenlehre formuliert ist – und die „summi forma boni“ ist nichts anderes als der Begriff der platonischen Idee des Guten –, sie ist nicht vereinbar mit der Vorstellung einer christlichen creatio ex nihilo, mit dem „ex nihilo fecit illa Deus“ („Gott hat das aus dem Nichts erschaffen“), wie es in 2 Mcc 7.28 formuliert wird. Das sind die großen Problemlinien für eine christliche Lesung des Metrums, und wir werden sehen, wie Notker sich hier positioniert. Dabei arbeitet Notker – das will ich vorausschicken – am Detail. Er löst das Problem eben nicht durch einen klärenden Kommentar, sondern modifiziert das platonische Konzept durch Eingriffe, die je für sich gesehen marginal erscheinen, im Ganzen aber ein schlüssiges und ausgereiftes Konzept erkennen lassen. Um das nachvollziehbar zu machen, wird der oben zitierte Text, der Notkers Bearbeitungsstufen typographisch anzudeuten versucht (vgl. Anm. 16), seziert, schrittweise vorgestellt und kommentiert. In einem ersten Schritt wird dabei gezeigt, wie Notker den lateinischen Text verändert und wie er damit schon vor seiner Übersetzung deutend in das Original eingreift. Der zweite Schritt stellt dann dar, wie Notker diesen ‚neuen‘ lateinischen Boethiustext übersetzt. Erst im dritten Schritt werden schließlich die expliziten Kommentarteile untersucht, also jene deutschen und lateinischen Wendungen, die nicht Boethiustext oder dessen Übersetzung sind. Es kommt mir dabei nicht auf den deutungsgeschichtlichen Hintergrund der Passage an und auch nicht auf die Frage, welche der Kommen-

_____________ 18 Vgl. dazu Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 49-53.

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tare nun Notker vorlagen und in welcher Form sie das taten. Vorgeführt werden soll Notkers Arbeitstechnik und Deutungspraxis: Boethius also in der Schule von St. Gallen ist es, was wir nachvollziehen wollen.19

1. Die Veränderung des lateinischen Textes20 Unter der Überschrift ORATIO PHILOSOPHIAE AD DEUM . UT SUMMUM BONUM IPSE DEMONSTRET (‚Gebet der Philosophie zu Gott, dass er das höchste Gut selbst zeige‘) nimmt Notker folgende Umstellung des lateinischen Textes vor: [1] O sator terrarum cęlique O du Schöpfer der Erden und des Himmels, [2] Qui gubernas mundum perpetua ratione der du lenkst die Welt durch ewige Vernunft, [3] Qui iubes tempus ire ab ęuo der du befiehlst der Zeit zu gehen von Ewigkeit her [4] Stabilisque manens . das cuncta moueri . und, unverändert bleibend, allem Bewegung gibst, [5] Quem non pepulerunt externę causę . fingere opus fluitantis materię Den nicht veranlassten äußere Gründe, zu schaffen ein Werk aus flüssiger Materie, [6] Uerum insita forma boni . carens liuore . sondern die innere Idee des Guten, ohne Neid.

Zunächst allgemein: Mit seiner Umarbeitung des lateinischen Textes – und es handelt sich so gut wie nur um Wortumstellungen – löst Notker die daktylischen Hexameter der Vorlage auf. In der Bearbeitung spielt also der metrische Bau und damit auch die spezifische literarische Qualität der Vorlage keine Rolle mehr. Das Wortmaterial des Boethius, das fast vollständig bei Notker wiedergegeben wird, ändert damit seinen Status. Durch die Umstellungen entsteht eine Art ‚normalisiertes‘ Latein, und man hat lange nach den Regeln gefragt, nach denen Notker diese Normalisierung vorgenommen hat, und welchen Zweck er damit verfolgte.21 Pointiert gesagt, sah man darin allgemein eine „direkte Vorbereitung der späteren

_____________ 19 Zu den Gesamtinterpretationen von Notkers Umgang mit der Consolatio vgl. zusammenfassend Christopher Schlembach: Wort Raum Heil. Architektur, Übersetzung und Unterricht im frühen Mittelalter: Notker Labeos ‚Consolatio‘ (2. Buch), Wien 2003, S. 8-38. 20 Die im jeweiligen Schritt untersuchten Bestandteile sind fett gesetzt. 21 Vgl. Anton Näf: Die Wortstellung in Notkers Consolatio. Untersuchungen zur Syntax und Übersetzungstechnik, Berlin-New York 1979, S. 66f., referiert, dass man die Wortumstellung als Annäherung an den deutschen Sprachstand verstand.

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althochdeutschen Übersetzung“.22 Inzwischen weiß man konkret, dass Notker sich bei dieser Aufbereitung des lateinischen Textes nicht an einer ‚deutschen‘ Satzgliedfolge orientierte, sondern den Regeln einer komplexen lateinischen Satzlehre folgte, die man ihm nun selbst zuschreibt, den Regeln des so genannten St. Galler Traktats.23 Es handelt sich dabei um eine Satzlehre, in der die Satzgliedfolge nach grammatischen, logischen und rhetorischen Aspekten analysiert wird, wobei diese Ebenen dynamisch aufeinander bezogen werden. Grundlegend für die Satzanalyse, die der Traktat fordert, ist die Frage nach den septem circumstantiae, nach denen etwa die Accessus ad Auctores gegliedert sind und die auf Ciceros De inventione (I, 36-38) zurückgehen. Diese sind: persona, res, locus, causa, tempus, modus, materia vel facultas.24 Sie werden – so der Traktat – erfragt nach der Formel: „Hoc est quis fecerit. quid. ubi. cur. quando. quomodo. quibus amminiculis. id est Qua facultate uel qua materia.“25 Im vorliegenden Beispiel kommt der Traktat in der syntaktischen Struktur nur schwach zur Geltung: Die persona, der „sator“ (mit näherer Bestimmung) rückt an den Satzanfang. Die folgenden drei Relativsätze sind ebenfalls nach Regeln des Traktats umgestellt, wobei hier besonders die konsequente Verbzweitstellung der zitierten Fragenreihenfolge nachkommt. Im Ganzen stellt sich – im Einklang mit Hehle26 – das Syntagma nach Notkers Umstellungen so dar: Zuerst das Subjekt mit Ergänzungen

„sator“ …

Relativsatz I

„qui“ …

Relativsatz II

„qui“ …

Relativsatz III

„quem“ …

Entstanden ist also eine konsequent anaphorische Konstruktion, die im Metrum so nicht angelegt ist. Dass Notker dabei nicht der deutschen Satzgliedfolge nachgeht, darauf weist schon die fehlende Verbletztstellung in den Relativsätzen hin („qui gubernas“ ... etc.). Noch deutlicher wird das, da Notker in der Übersetzung, wie wir noch genauer sehen werden,

_____________ 22 Stefan Sonderegger: Althochdeutsch in St. Gallen, Sigmaringen-St. Gallen 1970, S. 89. 23 King/Tax, Die kleineren Schriften (Anm. 4), S. 48-104; zur Zuschreibung vgl. S. XLIV. Eine englische Übersetzung des Traktats bietet The St. Gall Tractate: A Medieval Guide to Rhetorical Syntax. Edited by Anna A. Grotans and David W. Porter, Columbia 1995. 24 King/Tax, Die kleineren Schriften (Anm. 4), S. 49. 25 Ebd. 26 Vgl. Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 231.

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seiner eben hergestellten Wortreihenfolge nicht folgt: „Qui gubernas mundum“ übersetzt er mit „Tû dísa uuérlt órdenôst“. Aus der starren Abfolge Subjekt – Prädikat – Objekt wird im Deutschen die Wortfolge des Relativsatzes, in der das Prädikat dem Objekt nachfolgt. Notkers constructio in legendo – so der aus dem Traktat entlehnte Begriff von Herbert Backes27 – folgt also keineswegs dem Prinzip, den lateinischen Text gemäß einer erwartbaren deutschen Wortreihenfolge herzurichten, sondern orientiert sich an den oben genannten Kategorien des St. Galler Traktats. Im Zuge dieser Umstellung werden auch grammatikalisch aufeinander bezogene Wortpaare zusammengerückt, wie etwa in [5] „externę causę“, das im vierten Hexameter nicht in Kontaktstellung war: „Quem non externae pepulerunt fingere causae“. Diese Textarbeit ist nun bis heute typisch für die Übersetzungspraxis in der Schule. Die nach der Logik des Traktats angelegte Umstellung normalisiert also die lateinisch-literarische Syntax, vereint die zusammengehörenden Satzglieder und ordnet den Satz nach einer Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur, die eine Übersetzung dann wesentlich vereinfacht. Neben der veränderten Wortreihenfolge gibt es aber noch eine weitere Veränderung gegenüber dem Boethiustext. Ein Wort nämlich fehlt, das „summi“ am Ende des fünften Verses. Angesichts der so präzisen Arbeitsweise Notkers wird das kaum ein Zufall sein. Vielmehr scheint mir genau an diesem Punkt die inhaltliche Arbeit am Text zu beginnen. Zieht man nämlich in Betracht, dass die „summi forma boni“, wie eingangs gesagt, ja fast terminologisch für die platonische Idee des Guten in diesen Versen steht, dann macht Notker mit der Weglassung des „summi“ einen ersten Schritt zur Tilgung, zumindest aber zur Modifikation des platonischen Ideenkonzepts dieser Passage.28 Das ist ein sachter Schritt, sicher, aber eben ein Schritt, dem weitere folgen werden, die in ihrer Summe als interpretatio christiana Notkers zu verstehen sind, welche nicht als klärender Kommentar zum Text daherkommt, sondern von der Basis des Textes her, ganz der Pragmatik der Unterrichtssituation folgend, schichtenweise aufgebaut wird.

_____________ 27 Herbert Backes: Die Hochzeit Merkurs und der Philologie. Studien zu Notkers MartianÜbersetzung, Sigmaringen 1982, S. 61. 28 So bewertet das auch Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 239.

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2. Die deutsche Übersetzung Die wörtliche Übersetzung des modifizierten lateinischen Textes stellt nun den zweiten Schritt von Notkers Arbeit dar, der hier separiert beobachtet werden soll. [1] O sator terrarum cęlique O du Schöpfer der Erden und des Himmels [1] Tû sképfo hímeles únde érdo. Du Schöpfer des Himmels und der Erde

Zunächst ist festzuhalten, dass hier die Metaphorik der Begrifflichkeit aufgelöst wird, denn „sator“ wird als „Metafora ab animali ad creatorem“, wie es im Kommentar des Remigius von Auxerre steht,29 verstanden. Das ist nicht ungewöhnlich. Auch im Carmen ad Deum wird „sancte sator“ als „uuiho fater“ (‚Heiliger Vater‘) übersetzt.30 Nicht übersetzt wird die Interjektion „O“, was damit in Einklang steht, dass Notker bei seiner Übersetzung deutlich auf das Apostolische Credo zurückgreift und damit den „sator“ als den einen christlichen Gott markiert. Aber auch das geschieht nicht proklamatorisch, sondern fast stillschweigend und dennoch verblüffend konsequent: „Ih keloubo an Got álmáhtigen fáter . sképhen himeles unde érdo“,31 diese Notkersche Credoübersetzung im Hinterkopf, hat es großes Gewicht, dass Notker mit seiner Übersetzung „sképfo hímeles únde érdo“ zweifach vom lateinischen Text abweicht. Erstens: Er verändert die Wortreihenfolge. Aus „terrarum cęlique“ wird „hímeles únde érdo“. Und zweitens: Er macht er aus dem Plural „terrarum“ einen deutschen Singular „érdo“, so dass das Credo noch deutlicher anzitiert ist. Es sind dies weitere kleine Schritte einer wie selbstverständlich angelegten interpretatio christiana, die ohne klare Worte auskommt, sondern sich aus der Bearbeitung des Textes für den Unterricht ergibt. [2] Qui gubernas mundum perpetua ratione Der du lenkst die Welt durch ewige Vernunft [2] Tû dísa uuérlt órdenôst . únde scáffôst . únde ríhtest . mít tînemo êuuîgen uuîstûome. Du diese Welt ordnest und erschaffst und richtest mit deiner ewigen Weisheit

Hier fällt zuerst die deutsche Wortreihenfolge auf, die – wie oben gezeigt – die lateinische Umstellung wieder zurücknimmt. Inhaltlich dagegen ist

_____________ 29 Ebd., S. 334, Z. 9. 30 Müller, Althochdeutsche Literatur (Anm. 15), S. 212. 31 Die Werke Notkers des Deutschen. Bd. 10: Der Psalter. Psalm 101-150, die Cantica und die katechetischen Texte, Petrus W. Tax (Hrsg.), Tübingen 1983, S. 565.

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besonders die Synonymhäufung in der Übersetzung von gubernare zu nennen: ‚ordnen‘, ‚erschaffen‘ und ‚lenken/richten‘ sind als Kommentar zu verstehen, in dem Aspekte des göttlichen Herrschaftsaktes hervorgehoben werden. Dabei greift Notker die in der Kommentartradition vertretene Gleichsetzung von gubernare mit regere auf, geht jedoch darüber hinaus.32 Das so angesprochene Spektrum des göttlichen Handelns – ‚ordnen‘, ‚erschaffen‘ und ‚lenken/richten‘ – vereint Tätigkeiten, die sowohl mit der platonischen Vorstellung als auch mit dem Gedanken einer creatio ex nihilo kongruieren: Einerseits regelnder, bewegender Eingriff in die präexistente Materie (ordnen, richten) und andererseits die Entstehung eines gänzlich Neuen (erschaffen). Für den weiteren Prozess der interpretatio christiana, der hier besonders hervorgehoben werden soll, ist die Übersetzungsgleichung „êuuigen“ für „perpetua“ von Interesse. Die Kasusdifferenz darf dabei nicht irritieren, da Notker hier – wie üblich – den Ablativ durch Dativ mit Präposition („mít“) wiedergibt. Das êuuig legt hier besonders die Präexistenz der göttlichen Vernunft nahe; Notker macht keinen Unterschied zwischen perpetuus und dem im nächsten Satzsegment folgenden „ab ęuo“, das in den Kommentaren mit dem geläufigeren „ab aeternitate“ präzisiert wird. Man mag das damit begründen, dass Notker für eine begriffliche Differenzierung von perpetuus und aeternus ein deutsches Wort fehlt und er einfach ein gängiges Wort verwendet; man darf aber dabei nicht übersehen, dass Notker an anderer Stelle (V.6.14) sehr wohl differenziert und dabei perpetuus mit dem nur bei ihm belegten Wort uuérig übersetzt: „Dicamus quidem deum ęternum esse . mundum uero perpetuum. Sô chédên gót uuésen êuuigen . dia uuérlt uuériga.“ (‚So sagen wir, Gott sei ewig, die Welt ‘während’.‘)33 Es ist also doch sehr wahrscheinlich, dass Notker hier mit êuuig bewusst ein den lateinischen Text modifizierendes Attribut für Gott verwendet, das darauf beharrt, dass die ratio Gottes nicht immerwährend wie die Welt ist, sondern ewig und also schon vor der Welt vorhanden.34 [3] Qui iubes tempus ire ab ęuo Der du befiehlst der Zeit zu gehen von Ewigkeit her [3] Tû die zîte hîeze íro férte begínnen . Du den Zeiten befahlst ihre Fahrt zu beginnen

Wieder weicht Notker von der Satzgliedfolge seines lateinischen Textes ab. Wichtiger aber ist, was hier nicht übersetzt wird. Im Einklang mit den lateinischen und althochdeutschen Ergänzungen, die im dritten Schritt ja

_____________ 32 Vgl. dazu Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 232. 33 Die Werke Notkers des Deutschen, Bd. 3: Boethius, ‚De consolatione Philosophiae‘, Buch IV/V, Petrus W. Tax (Hrsg.), Tübingen 1990, S. 265, Z. 3f. 34 Das legt auch Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 233, nahe.

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separat analysiert werden sollen, unterschlägt Notker, wie angekündigt, das „ab ęuo“ und umschreibt es mit „hîeze … begínnen“. Er betont also die Tatsache, dass Gott den Anfang der Zeit setzt, was die Präexistenz Gottes vor der Zeit logisch zwingend macht und den Gedanken mit dem Konzept der creatio ex nihilo versöhnt. [4] Stabilisque manens . das cuncta moueri. Und, unverändert bleibend, allem Bewegung gibst [4] Únde sélbo stâtêr . âllíu díng uuérbest . únde uuéhselôst. Und selbst beständig alle Dinge drehst und veränderst

Neben der begleitenden Kommentierung (s.u.) ergänzt Notker hier seine Übersetzung durch das „sélbo“ und betont so den adversativen Charakter der Konstruktion. Die Bewegung, von der die Rede ist, scheint im Deutschen weniger vermittelt zu sein („das … moueri“), sondern konkret auf Gott selbst zurückzugehen. Wie bei der bereits besprochenen Übersetzung von gubernare wird auch hier eine Mehrfachübersetzung vorgenommen: uuerben in der Bedeutung ‚drehen‘ und uuehseln in der Bedeutung ‚verändern‘. Damit wird Gott als Beweger der Welt bezeichnet, wie das dem platonischen Gehalt der Passage gut entspricht. Daneben aber wird mit uuehseln betont, dass Gott nicht nur die vorhandene Welt in Bewegung setzt, sondern einen kategorial neuen Zustand erzeugt. Beweger und Schöpfer ist er damit gleichzeitig. Notker widerspricht dem platonischen Konzept also nicht, aber ergänzt es doch deutlich um einen zentralen Aspekt der Schöpfungstheologie. [5] Quem non pepulerunt externę causę . fingere opus fluitantis materię Den nicht veranlassten äußere Gründe, zu schaffen ein Werk aus flüssiger Materie [5] Tíh nehéiniu ánderíu díng nescúntôn . daz scáffelôsa zímber ze máchônne . Dich keine anderen Dinge veranlassten, die ungeschaffene ‚Materie‘ zu machen.

In dieser Übersetzung wird eine weitere Strategie Notkers deutlich. Bislang waren die Bedeutungsmodifikationen vor allem mit Ergänzungen verbunden. Hier handelt es sich dagegen um eine Weglassung. Die Semantik des ‚Flüssigen‘ nämlich, konkret das „fluitantis“, wird nicht übersetzt, sondern ersetzt durch „scáffelôsa“ (‚ungeschaffen, ungeformt‘). Notker lässt sich auf das Bildfeld ‚flüssig‘ nicht ein. Er tilgt diese Semantik jedoch nicht stillschweigend, denn in einer noch zu besprechenden Kommentierung eröffnet er sich eine alternative Bedeutung des Satzes, die in seinem Gesamtkonzept aufgeht. Wie schleichend, aber doch effektiv solche Modifikationen vor sich gehen, zeigt auch Notkers kreativer Umgang mit dem Bezugswort von „fluitantis“. „fluitantis“ bezieht sich im lateinischen Text auf den Genitiv „materię“. Die Schöpfung („opus“) wird also aus der Materie gemacht, die

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‚fließend‘ ist. Bei Notker wird nun „opus … materię“ zu „zímber“ zusammengefasst (‚Stoff, Materie, Bau‘). Was wie eine schlichte Vereinfachung aussieht, ist im Sinne einer interpretatio christiana jedoch sehr folgenreich. Umgangen wird damit nämlich die Behauptung der Präexistenz der „materia“, aus der das Werk Gottes gemacht sei. Wie flüssig auch immer diese sein mag, mit dem Konzept einer creatio ex nihilo wäre das nicht vereinbar. Mit dem Zusammenfall von „opus“ und „materia“ im Terminus „zimber“ löst Notker dieses zentrale Problem ohne weitschweifige Kommentare, wiewohl er an dieser Stelle dann selbst, wie wir sehen werden, eine weiterführende Kommentierung anschließt.35 [6] Uerum insita forma boni . carens liuore. Sondern die innere Idee des Guten, ohne Neid. [6] Âne dîn sélbes ínniglicha gûoti . nîeht nîdes hábentíu. Wenn nicht deine eigene innere Güte, die nichts an Neid hat.

Schon bei der Bearbeitung des lateinischen Wortlauts hat Notker, wie zu zeigen war, in diesen Abschnitt eingegriffen. Mit der Tilgung von „summi“ distanziert sich Notker von dem Terminus, der das platonische Ideenkonzept am klarsten auf den Begriff gebracht hätte. Mit „gûoti“ wählt er darüber hinaus die denkbar weiteste Übersetzung, was den Text noch deutlicher vom Terminologischen wegrückt. Das Ideenkonzept verschiebt sich so in Richtung der Gottesfigur, was mit der Wendung „dîn sélbes ínniglicha“ für „insita“ noch verstärkt wird. Die ‚Idee‘ wird sozusagen in der Gottesfigur personalisiert, wobei „dîn sélbes“ gegen das „ánderíu“ des vorhergehenden Satzes steht, mit dem die adversative Struktur der Argumentation ja schon unterstrichen worden war. Zu sehen war also bislang, wie Notker in seiner Arbeit am Originaltext eine für seine Schüler aufbereitete Fassung entstehen lässt, die ganz die Verständlichkeit des Textes fördert, dabei aber auch die größten Deutungsprobleme sachte aus der Welt schafft, ohne indes ein eindeutiges Wort der Umdeutung aussprechen zu müssen. Diese Tendenz wird sich in den Kommentarteilen, die Notker der Passage beigibt, nicht wesentlich ändern.

_____________ 35 Dazu ausführlich Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 239f.

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3. Die deutschen und lateinischen Kommentierungen Bis zum zweiten Relativsatz operiert Notkers Bearbeitung ohne kommentierende Zugaben. Explizit geht Notker erst in der Folge über den Text des Boethius hinaus.36 [3] Qui iubes tempus ire ab ęuo Der du befiehlst der Zeit zu gehen von Ewigkeit her [KL 3] . i . qui iussisti tempora incipere ab exordio mundi . D. h. der du veranlasstest die Zeiten zu beginnen am Anfang der Welt [3] Tû die zîte hîeze íro férte begínnen . Du den Zeiten befahlst ihre Fahrt zu beginnen [K 3] sáment tero uuérlte . uuánda êr neuuâren zîte . núbe êuuighéite. Zusammen mit der Welt, denn vorher gab es keine Zeiten, sondern Ewigkeiten.

Der umgestellte lateinische Boethiustext wird um eine lateinische Erläuterung [KL 3] ergänzt, die mit der Formel ‚id est‘ als Kommentar gekennzeichnet wird. Notker macht also eine deutliche Differenz zwischen Übersetzung und Kommentierung.37 Zu dieser Differenz zählt auch ein Tempuswechsel, denn das Präsens des Boethius („iubes“) wird zum Perfekt im Kommentar („iussisti“), was den inchoativen Charakter der Schöpfungshandlung betont. Noch deutlicher wird der Neubeginn durch die Schöpfungstat im Verb „incipere“ hervorgehoben, und ein weiteres Mal auf den Punkt gebracht wird die Diskontinuität des Schöpfungsaktes in der Wendung „ab exordio mundi“, die gegen die Kontinuitätsbehauptung des „ab ęuo“ der Consolatio gewendet ist. In diesen Kontext gehört auch die Pluralisierung der Zeit: Aus „tempus“ werden „tempora“ – aus einer Ungeschiedenheit der Zeit wird die Vielfalt der Zeiten der Schöpfung. Diese lateinische Kommentierung bereitet die bereits besprochene Übersetzung vor, die ja mit „begínnen“ ebenfalls das Inchoative der Schöpfungstat betont und gegen den Text der Consolatio den Gedanken einer creatio ex nihilo nahelegt. Im folgenden deutschen Kommentar [K3] endlich zieht Notker den Schluss aus seinem Konzept. Indem er betont, dass die Zeiten zusammen mit der Welt geschaffen wurden, tilgt er jede Möglichkeit, die Zeit an die Vorstellung der Präexistenz zu binden. Und noch deutlicher: Vor der Schöpfungstat gab es keine Zeiten, sondern nur Ewigkeiten. Was als letzte

_____________ 36 Ich markiere diese Passagen wie folgt: [K] für Kommentar und [KL] für lateinischen Kommentar, gefolgt von der Nummer der syntaktischen Abschnitte, in die ich den Text gliedere. 37 Zu dieser Kommentierung vgl. auch Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 234f.

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Konsequenz von Notkers Übersetzung und Kommentar erscheinen könnte, also die Differenzierung von Zeiten und Ewigkeiten, ist jedoch eine Übersetzung aus dem Kommentar des Remigius von Auxerre: „nam antea non erat tempus sed aevum“.38 Der Kreis also schließt sich. Notker stellt die Kommentierungstradition nicht an den Anfang, sondern bewegt sich auf sie zu, um am Ende seine Bearbeitung gleichsam von der vorliegenden Kommentartradition bestätigen zu lassen. [4] Stabilisque manens . das cuncta moueri. Und unverändert bleibend, gibst du allem Bewegung [4] Únde sélbo stâtêr . âllíu díng uuérbest . únde uuéhselôst. Und selbst beständig alle Dinge drehst und veränderst [K 4] Uuánda der hímel uuárbelôt . únde álliu díng uuándônt. Denn der Himmel dreht sich und alle Dinge verändern sich.

Der deutsche Kommentar [K 4] begründet die gewählte Übersetzung. Mit „Uuánda“ gibt Notker dem Einschub das Gesicht einer Quia-Erläuterung, die hier sehr allgemein ansetzt. Hatte Notker das movere mit ‚drehen‘ und ‚verändern/wechseln‘ wiedergegeben, so wird das nun damit begründet, dass sich das Himmelsgewölbe ‚dreht‘ und alle Dinge sich ‚wandeln‘. Die Schöpfungstat wird also spezifiziert, wobei Notker sich durchaus wieder dem platonischen Schöpfungskonzept annähert. Was in der bloßen Übersetzung eine Gottesvorstellung nahelegte, die zwischen ‚Beweger‘ und ‚Schöpfer‘ vermittelte, ist durch diesen allgemeinen Kommentar deutlich abgeschwächt. [5] Quem non pepulerunt externę causę . fingere opus fluitantis materię Den nicht veranlassten äußere Gründe, zu schaffen sein Werk aus flüssiger Materie. [KL 5]. i . informis et indiscretę. D. h. ungeformter und ungeschiedener [5] Tíh nehéiniu ánderíu díng nescúntôn . daz scáffelôsa zímber ze máchônne . Dich keine anderen Dinge veranlassten die ungeschaffene ‚Materie‘ zu machen. [K 5]. ûzer démo dîsiu uuérlt uuárd. Sî méinet tîa sámentháftigûn mássa . dîa er ze êrest téta . an déro nîeht keskéidenes neuuás. Aus der diese Welt geworden ist. Sie meint die ungetrennte Masse, die er zuerst schuf, an der war keinerlei Scheidung.

In diesem Satzsegment lässt sich am deutlichsten die Vielschichtigkeit von Notkers Arbeitsweise zeigen. Wir hatten gesehen, dass er die Semantik ‚flüssig‘ in der Übersetzung vermeidet. Der lateinische ‚id est‘-Einschub [KL 5] „informis et indiscretę“ erklärt nun, in welche Richtung die Semantik verschoben wurde. Wörtlich geht das auf keinen Kommentar zurück,

_____________ 38 Zitiert nach ebd., S. 235.

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wohl aber in der Sache. Im Anonymus Sangallensis und auch bei Remigius fallen die Stichworte „inperfectus“, „instabilis“, „informa materia“, „chaos“.39 Notker fasst diese Aspekte zusammen, ohne – und das ist entscheidend – weitere Konsequenzen zu ziehen. Gerade Remigius nämlich legt nahe, dass die ‚ungeschaffene‘ Materie gleichsam nur als Gedanke Gottes existiere, bis er aus dieser Latenz im Akt der Schöpfung virulent und realiter existent werde. So weit geht Notker nicht, was nicht verwundert, denn dieser Gedanke stellt eine seltsame Kompromissformel zwischen creatio ex nihilo und Präexistenz der Materie dar: Nichts gäbe es außerhalb von Gottes Gedanken, dort aber ist alles schon immer angelegt, was in dieser Stringenz jedoch dem Schöpfungsgedanken der Genesis widerspräche. Notker vereindeutigt also und extrahiert aus der Kommentartradition einen Gedanken, der nicht mehr und nicht weniger ist als eine Zwischenstufe bei seiner Transformation von „opus fluitantis materię“ in „scáffelôsa zímber“, die – wie oben ja näher erläutert wurde – die Trennung von „opus“ und „materia“ unterschlägt. „scáffelôs“, damit begegnet uns wörtlich das „informis“ aus [KL 5], uneingelöst dagegen ist noch das „indiscretę“. Diesem widmet Notker sich schließlich im ausführlichsten Kommentar der Passage [K 5]. Aus dem „scáffelôsa zímber“ ist unsere Welt gemacht und zwar genauerhin in einem Akt der Scheidung, der discretio. Diese Trennung wiederum könnte man platonisch insofern verstehen, als der Gott die Schöpfung vollzieht als eine Verwandlung des Latenten in ein Flagrantes, als Trennung eben des Ungeschiedenen. Aber diesen Gedanken lässt Notker nicht zu. Nachdem er die Optionen in seiner Übersetzung und Kommentierung sachte austariert hat, wendet er sich endlich sehr deutlich gegen jede Form eines Präexistenzgedankens: Die ungeschiedene Masse ist nicht immer schon vorhanden, sondern sie ist es, „dîa er ze êrest téta“. Die Schöpfung also beginnt mit der Schöpfung der ungeschiedenen Masse, der Rest mag dann platonisch gedacht werden können – was Notker ja nie ganz verbietet –, aber an diesem Punkt sind keine Kompromisse möglich. [KL 6] Uerum. i . nisi insita forma boni . carens liuore. Sondern, d. h. wenn nicht, die innere Idee des Guten, ohne Neid. [6] Âne dîn sélbes ínniglicha gûoti . nîeht nîdes hábentíu. Wenn nicht deine eigene innere Güte, die nichts an Neid hat.

Die lateinische ‚id est‘-Ergänzung „nisi“ ist natürlich nicht mehr als eine Vereindeutigung der Übersetzung von „Uerum“. Für die Textarbeit Notkers ist darüber hinaus aber auch hervorzuheben, dass die Markierung des

_____________ 39 Genauere Zitate aus den Kommentaren bei Hehle, Boethius in St. Gallen (Anm. 13), S. 240f.

Boethius im Klassenzimmer

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unscheinbaren „nisi“ durch id est („.i.“) deutlich belegt, wie klar Notker zwischen dem Consolatio-Text und den Kommentaren scheidet. Trotz der Umstellung der Wörter und der damit verbundenen Aufhebung des literarischen Status der Vorlage, trotz der oben genannten Auslassung des „summi“ insistiert Notker auf einer Trennung von Boethiustext und Kommentar, obwohl der Text des Originals – wiewohl im Wortlaut noch weitgehend vorhanden – in Notkers Konzept kaum mehr nachvollziehbar ist.

Zusammenfassung Fassen wir die Bearbeitungsstufen zusammen und betrachten wir die komplette Bearbeitung Notkers: [1] O sator terrarum cęlique . Tû sképfo hímeles únde érdo. [2] Qui gubernas mundum perpetua ratione . Tû dísa uuérlt órdenôst . únde scáffôst . únde ríhtest . mít tînemo êuuîgen uuîstûome. [3] Qui iubes tempus ire ab ęuo . i . qui iussisti tempora incipere ab exordio mundi. Tû die zîte hîeze íro férte begínnen . sáment tero uuérlte . uuánda êr neuuâren zîte . núbe êuuighéite. [4] Stabilisque manens . das cuncta moueri . Únde sélbo stâtêr . âllíu díng uuérbest . únde uuéhselôst. Uuánda der hímel uuárbelôt . únde álliu díng uuándônt. [5] Quem non pepulerunt externę causę . fingere opus fluitantis materię . i . informis et indiscretę. Tíh nehéiniu ánderíu díng nescúntôn . daz scáffelôsa zímber ze máchônne . ûzer démo dîsiu uuérlt uuárd. Sî méinet tîa sámentháftigûn mássa . dîa er ze êrest téta . an déro nîeht keskéidenes neuuás. [6] Uerum . i . nisi insita forma boni . carens liuore . Âne dîn sélbes ínniglicha gûoti . nîeht nîdes hábentíu. [1] O Schöpfer der Erden und des Himmels . Du Schöpfer des Himmels und der Erde. [2] Der du lenkst die Welt durch ewige Vernunft. Du diese Welt ordnest und erschaffst und richtest mit deiner ewigen Weisheit. [3] Der du befiehlst der Zeit zu gehen von Ewigkeit her. d.h. der befahl, dass die Zeiten beginnen am Anfang der Welt. Du den Zeiten befahlst ihre Fahrt zu beginnen, zusammen mit der Welt, denn vorher gab es keine Zeiten, sondern Ewigkeiten. [4] Und, unverändert bleibend, allem Bewegung gibst. Und, selbst beständig, alle Dinge drehst und veränderst. Denn der Himmel dreht sich und alle Dinge wandeln sich.

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[5] Den nicht veranlassten äußere Gründe, zu schaffen sein Werk aus flüssiger Materie. d.h. ungeformter und ungeschiedener. Dich keine anderen Dinge veranlassten, die ungeschaffene Materie zu machen, aus der diese Welt geworden ist. Sie [die Philosophie] meint die ungetrennte Masse, die er [Gott] zuerst schuf, an der war keinerlei Scheidung. [6] Sondern, d.h. nichts als, die innere Idee des Guten, ohne Neid . Wenn nicht deine eigene innere Güte, die nichts an Neid hat.

In vielerlei Hinsicht haben wir es also bei Notkers Consolatio-Bearbeitung mit einem ‚Boethius Christianus‘ zu tun. Doch diese Deutungsperspektive tritt nicht als einsträngige Interpretation des Ausgangstextes auf, sondern ist Produkt einer vielschichtigen und vorsichtigen Bearbeitung der Consolatio, die mit einer Verwendung des Textes in der St. Galler Klosterschule korrespondiert. Notker spricht nirgends ein Machtwort und macht die Konflikte, die sich zwischen der platonischen Weltsicht, die dem Text hinterliegt, und einem christlichen Schöpfungsverständnis ergeben, nie explizit zum Thema. Bei allen Umstellungen und Eingriffen könnte man sagen, dass er der Passage ihr ursprüngliches Gesicht belässt. Ingeborg Schröbler hat das einmal als ein „Zu-seinem-Text-Stehen“ bezeichnet.40 Gemeint ist damit nicht, dass Notker sich bescheiden hinter der Leistung eines verehrten Autors zurückstellt. Nein, Notkers Umgang mit dem Text der Consolatio strotzt vor Selbstbewusstsein. Es ist wohl mehr der pragmatische Rahmen, seine Rolle als Lehrer, der sich zwischen seine Schüler und den Text des Boethius stellt, was seine Arbeit prägt. Er lässt seine Schüler nicht alleine und vermeidet mit Umsicht und durch den kreativen Einsatz der üblichen Unterrichtstechniken, also durch eine extrem produktive Form der monastischen lectio, ein falsches Verständnis des Textes. Er tut das in größter Unaufgeregtheit, kämpft nicht mit möglichen Konflikten zwischen antiker Philosophie und Christentum, zwischen Ideenlehre und creatio ex nihilo, wie er das aus den ihm vorliegenden Kommentaren hätte ableiten können. Der Boethius der Consolatio ist – so könnte man resümieren – schon immer ein ‚Boethius Christianus‘, wenn man ihn nur richtig zu lesen weiß, so, wie Notker seine Schüler und uns dazu anleitet.

_____________ 40 Schröbler, Interpretatio christiana (Anm. 9), S. 57.

Das Bild vor Augen – den Text im Kopf. Das Rad der Fortuna als textsubstituierendes Zeichen MATTHIAS VOLLMER (Berlin) This essay examines the eldest depiction of the Wheel of Fortune from the ancient Abbey of Montecassino. The motif itself dates back to the text of De Consolatione Philosophiae by Boethius. The analysis places the Wheel in the wider context of a specific medieval practice which uses abbreviations as a means to memorizing texts in such a manner that allows for their instant retrieval at any given time. On these grounds the essay associates a series of philosophical thoughts outlined in the Consolatio with a particular type of images which can also be described as diagrams and which in turn can be encoded and deciphered as a key to specific texts. In this respect, the diagram is seen as a structure incorporated into the visualization of the text which does not only delineate the intended reflection, but points beyond it to a wider context. Under certain conditions, the Wheel of Fortune in its function as mnemonic and diagrammatic sign is capable of substituting within its complexity the contents and textual interrelations of the Consolatio. The diagrammatic approach to the Wheel of Fortune shows that especially early medieval Wheels of Fortune figure as a complex cross-referential system between philosophy and theology within Christian soteriology.

I. Gedächtnisbilder Die Göttin Fortuna erschien in der Antike als Personifikation des Überflusses, des Glücks und des Schicksals.1 Ihre Attribute Füllhorn, Steuerruder, Kugel und Rad galten als Zeichen schicksalsbedingter, zufälliger Ereignisse. Bei Augustin (†430) erfuhr sie eine überaus negative Bewertung,2 die ihr aber erstaunlicherweise wenig geschadet hat. Die eindrucksvollen Beschreibungen von Fortunas Wirken in der Consolatio Philosophiae3 des

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Konrat Ziegler: „Tyche“, in: PW, Zweite Reihe, Bd. 7, Sp. 1643-1696; Walter Otto: „Fortuna“, in: PW, Hbbd. 13, 1910, Sp. 12-42; Karl Latte: „Fortuna“, in: Römische Religionsgeschichte, Hdb. d. Altertumswiss 5. Abt., 4. Teil, München 1960, S. 176-183; Iiro Kajanto: „Fortuna“, in: RAC, Bd. 8, Sp. 182-197. Fritz Graf: „Fortuna“, in: NP, Bd. 4, Sp. 598-602. Augustinus: De civitate Dei VII, 3; De civitate Dei IV, 18. Sowie Retractationes I,1, 2. Boethii Consolationis Philosopiae libri quinque – Trost der Philosophie, lateinisch und deutsch, hrsg. und übers. von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon, eingel. und

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Boethius (†524) dürften wohl verantwortlich sein für ihre Übermittlung in das Mittelalter.4 Die Zahl der bildhaften Darstellungen der Glücksgöttin war groß;5 erhalten sind allerdings hauptsächlich Fortuna-Darstellungen in der Buchmalerei; Wandmalereien, welche die Glücksgöttin zeigten, sind bis auf wenige Reste zerstört.6 Fortunas wichtigstes Attribut war das von vier Königen umgebene Rad, welches in einer intendierten Drehbewegung den Lauf des Schicksals durch die Positionen der Herrscher – nämlich thronend, stürzend, liegend und emporklimmend – anzeigte. Das Glücksrad wurde oftmals von Fortuna selbst besetzt und bewegt, sei es, daß sie hinter ihm, vor ihm oder in ihm stand. In anderen Darstellungen wurde das Rad von der Glücksgöttin auch mittels Apparaturen in Drehung versetzt,7 sie wurde mit verbundenen Augen, janusköpfig und als vielarmige Monstrosität gezeigt.8 In der Regel wird das Rad der Fortuna als ein Symbol oder eine Veranschaulichung des unbeständigen Glückes oder als ein bloß dekoratives Element im Rahmen mittelalterlicher Buchkunst angese-

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erl. von Olof Gigon, Zürich-Stuttgart 1969. Im folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert. Edmund Reiss: Boethius, Boston 1982, bes. S. 154-162; John Matthews: „Anicius Manlius Severinus Boethius“, in: Margaret Gibson (Hrsg.), Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981, S. 15-43; Alastair Minnis: „Aspects of the Medieval French and English Traditions of the De Consolatione Philosophiae“, in: M. Gibson (1981) wie zuvor, S. 312-361. Alfred Doren: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, Bibliothek Warburg, Vorträge 1922-1923, I. Leipzig 1924, mit der älteren Literatur in den Anmerkungen; Howard Rollin Patch: „The Tradition of the Goddess Fortune in Medieval Philosophy and Literature“, in: Smith College Studies in Modern Languages 3/1922, S. 178-235; ders.: The Goddess Fortuna in Mediaeval Literature, Cambridge, Mass. 1927; ders.: The Tradition of Boethius. A Study of his Importance in Mediaeval Culture, New York 1935; Frederick P. Pickering: Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter, Berlin 1966; ders.: Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter – und in der Neuzeit. I. Einführender Teil, Berlin 1967; ders.: Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter – und in der Neuzeit. II. Darstellender Teil, Berlin 1976; Pierre Courcelle: La consolation de philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967; Walter Haug / Burghart Wachinger (Hrsg.): Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea Bd. 15); Joerg O. Fichte: „Providentia – Fatum – Fortuna“, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Bd. 1, 1996, S. 5-20. Sibylle Appuhn-Radke: „Fortuna“, in: RDK, Bd. X, Sp. 271-401, hier Sp. 301-302. So im Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, fol. 215r, Rosalie Green / Michael Evans / Christine Bischoff / Michael Curschmann (Hrsg.): Herrad of Hohenburg, Hortus Deliciarum, 2 Bde. (Reconstruction, Commentary), London 1979. Siehe auch Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, München-Berlin 1997, S. 52 und 53, Abb.10. Meyer-Landrut (Anm. 7), S. 131, Abb. 37.

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hen. Das trifft in vielen Fällen zu, doch im folgenden soll gezeigt werden, daß das Glücksrad auch als ein besonderes Zeichen betrachtet werden kann, welches es im Kontext einer spezifischen mittelalterlichen Praxis ermöglicht, ,mittels eindringlicher, die Vorstellungskraft anregender Bilder9 Texte im Gedächtnis zu installieren, damit sie bei Bedarf vor dem inneren Auge10 gelesen werden können. Gedächtnisbilder sind Bilder, die helfen, sich zu erinnern. Als geistige Bilder sind sie im Kopf, und damit sind sie immateriell und mental, oder aber sie verweisen als materielle Objekte auf innere Belange. Grundvoraussetzung für eine kunstwissenschaftliche Betrachtung von Gedächtnisbildern ist, daß sie den Bereich des Mentalen verlassen haben und sichtbar auf einen wie auch immer gearteten Bildträger transformiert worden sind. Die mentalen Gedächtnisbilder, die ein antiker Redner zur Textkodierung einsetzte, waren überaus variabel und subjektiv geprägt. Ihre Wahl hing sehr stark vom Text ab, den es zu memorieren galt, ebenso vom Bildfundus des Mnemonikers, seinen Erfahrungen und seinen persönlichen Vorlieben.11 Die Vorgaben der antiken ars memorativa zur Bildsetzung waren bewußt sehr allgemein gehalten,12 so daß über die Gedächtnisbilder selbst

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Im 13. Jahrhundert reflektiert Wilhelm Durandus (†1296) vor dem Hintergrund der aristotelischen Seelenlehre über die Affizierung durch Bilder: Rationale divinorum officiorum, I, 3; 4; (CChCM, 140, 36): „Pictura namque plus videtur movere animum quam scriptura. Per picturam quidem res gesta ante oculos ponitur quasi in presentii geri videatur, sed per scripturam res gesta quasi per auditum, qui minus animum movet, ad memoriam revocatur. Hinc etiam est quod in ecclesia non tantam reverentiam exhibemus libris quantam imaginibus et picturis.“ Durandus betont hier die Einflußnahme der Bilder auf die Seele; Bilder führen vor Augen, sie vergegenwärtigen und bewegen stärker als Worte, die allein auf die Erinnerung verweisen. Dazu auch: Sabine Heimann-Seelbach: Ars und Scientia. Genese, Überlieferung und Funktion der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Mit der Edition und Untersuchung dreier deutscher Traktate und ihrer lateinischen Vorlagen, Tübingen 2000, S. 380ff. 10 Dazu generell die Aufsatzsammlung von Jeffrey F. Hamburger / Anne Marie Bouche (Hrsg.): The Mind´s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, Princeton-Oxford 2006. 11 Rhetorica ad Herennium, lateinisch-deutsch, hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein, Zürich 1994, III, 38: „Nam ut saepe, formam si quam similem cuipiam dixerimus esse, non omnes habemus adsensores, quod alii videtur aliud, item fit in imaginibus ut quae nobis diligenter nota sit, ea parum videatur insignis aliis.“ 12 Rhetorica ad Herennium (Anm. 11), III, 39: „Quare sibi quemque suo commodo convenit imagines coparare. Postremo praeceptoris est docere quemadmodum quaeri quidque conveniat et unum aliquod aut alterum, non omnia quae eius generis erunt exempli causa subicere, quo res possit esse dilucidior: ut quom de prooemiis quaerendis disputamus, rationem damus quaerendi, non mille prooemiorum genera conscribimus, item arbitramur de imaginibus fieri convenire.“

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und ihre speziellen Qualitäten als Bild nicht wissenschaftlich geredet werden kann. Sobald diese Bilder den Bereich des Mentalen verlassen und in einem allgemeinen Umfeld der Sichtbarkeit präsentiert werden, rekurrieren sie in der Regel auf komplexe Zusammenhänge allgemeiner Verständlichkeit, die hier zunächst als kommunikatives13 und in der weiteren Entwicklung als kulturelles Gedächtnis14 verstanden werden sollen. In diesen Kontexten können Gedächtnisbilder auch Gegenstand kunstwissenschaftlicher Untersuchungen werden. Memoriale Funktionen konnten im Mittelalter von verschiedenen Elementen der Buchmalerei übernommen werden. Die antike Erinnerungseinheit von Wachstafel und Buchstabe, die Cicero durch Örter (loci) und Bilder (simulacra) bestimmte,15 findet sich in der Gestaltung der mittelalterlichen Buchseite wieder, auf der Texte durch die Hinzufügung besonderer Buchstaben nicht nur dekorativ, sondern auch memorativ erweitert werden. So wird das mnemonisch aufgewertete Schriftzeichen, das mit einem Gedächtnisbild verglichen werden kann, in der Gestalt der mittelalterlichen Initiale zur imago agens im Sinne mittelalterlicher Memorierpraxis.16 Der Buchstabe selbst wird zu einem elementaren mnemonischen

_____________ 13 Zum kollektiven Gedächtnis: Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt 1985. Halbwachs versteht unter kollektivem Gedächtnis ein Erinnern, das im Rahmen einer gemeinsamen Lebensform durch Erzählen, Vergegenwärtigen und Austausch oder besser: durch Kommunikation entsteht. „Jedes Kollektivgedächtnis hat als Träger eine in Raum und Zeit begrenzte Gruppe“, ebenda, S. 75. Im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis ist das kollektive Gedächtnis das durch Sozialisation bedingte Erinnerungsvermögen des Einzelnen. Es ist zwar immer nur der Einzelne, der Gedächtnis ‚hat‘, aber dieses Gedächtnis ist kollektiv geprägt. 14 Das kulturelle Gedächtnis soll verstanden werden „als Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht [...]. Unter den Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Eigenheit und Eigenart stützt.“ in: Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9-19, hier S. 9 und 15. Alles kann zum Zeichen werden, um Gemeinsamkeit zu kodieren; nicht das Medium entscheidet, sondern die Symbolfunktion und die Zeichenstruktur. 15 Marcus Tullius Cicero: De oratore. Über den Redner, hrsg. von Harald Märklin, übers., komm. u. mit einer Einl. von H. Merklin, Stuttgart 1976, II, 239f und 352ff, bes. 357. 16 Helga Hajdu: Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters, Budapest 1936, S. 51-52.

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Bildträger, dessen Funktion der wesentlichen Aufgabe der Schrift entspricht, die darin besteht, auf Nichtanwesendes, d.h. Abwesendes, Vergangenes und Zukünftiges, zu referieren. Wird der Buchstabenwert der Initiale durch bildhafte Elemente erweitert, dann kommt ihr im Kontext einer bildunterstützten Memorierpraxis eine exemplarische Bedeutung zu;17 sie scheint prinzipiell der memoria zugerechnet werden zu können.18 Die zunehmende Verbildlichung der Initiale vermindert zwar oftmals die Lesbarkeit des Buchstabens, doch in der Regel wird gerade dadurch die visuelle Eindringlichkeit des Initial-Bildes unterstützt. Für sich betrachtet wird dieses Buchstaben-Bild zu einem textsubstituierenden Merk-Ort, indem es als anschaulich entworfenes, memoratives Zeichen den Inhalt des Textes, dem es vorangestellt wurde, antizipiert, oder in Form einer erweiterten Inhaltsangabe, einer eindringlich formulierten bildlichen Präfiguration, auf ihn hinweist,19 oder ihn sogar ergänzt. Als hervorgehobenes indexalisches Merkzeichen innerhalb eines Textgefüges muß sich die Initiale zudem nicht unbedingt der formalen Struktur des Textes unterordnen. Eine kunstwissenschaftliche Reflexion über Gedächtnisbilder wird vereinfacht, wenn man eine allgemeine Struktur annimmt, die zumindest einer bestimmten Gruppe von Bildern mit memorialer Funktion zugrunde liegt, wie z. B. den abstrakten Bild- und Begriffsschemata der Welt- und Kosmosdiagramme, die aus Kreis und Quadrat aufgebaut sind. Während in den Figurengedichten wie etwa dem Liber de laudibus sanctae Crucis des Hrabanus Maurus (†856)20 und den spatialen Liniengedichten aus karolingischer und ottonischer Zeit21 noch eine medienübergreifende Identität von Text und Bild geschaffen wird, also der Text auf der Seite bildschaf-

_____________ 17 Otto Pächt: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, Dagmar Thoss / Ulrike Jenni (Hrsg.), 3. verb. Aufl. d. ersten Aufl., München 1989, S. 45 rechnet die Auseinandersetzung von Schrift und Bild, die für die Memorialpraxis grundlegende Bedeutung besitzt, zu den „allercharakteristischsten und spezifischsten“ Phänomenen der Buchmalerei. Siehe auch: Christine Jakobi-Mirwald: Text – Buchstabe – Bild. Studien zur historisierten Initiale im 8. und 9. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 74-90. Andreas Gormans: Geometria et ars memorativa. Studien zur Bedeutung von Kreis und Quadrat als Bestandteile mittelalterlicher Mnemonik und ihrer Wirkungsgeschichte an ausgewählten Beispielen (Diss. RWTH Aachen 1999), Aachen 2003 (http://darwin. bth.rwth-aachen.de/opus3/volltexte/2003/551/), S. 167f. 18 Ludwig Volkmann: „Ars Memorativa“, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, NF, Bd. III, 1929, S. 111-200, S. 112. 19 Pächt (Anm. 17), S. 63. 20 Ulrich Ernst: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Köln-Weimar-Wien 1991, S. 222-332. 21 Ernst (Anm. 20), S. 460-528.

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fend strukturiert wird, der er eingeschrieben ist, werden die geometrisch konstruierten Diagramme zumeist in der Funktion textbegleitender Schemabilder eingesetzt. Sowohl das Schemabild wie auch das typographisch abbildende Figurengedicht werden gerechtfertigt durch eine bildunterstützte, erkenntniserweiternde Memorialfunktion.22 Der durch das Diagramm substituierte Text findet sich zwar oft, aber nicht zwingend, in unmittelbarer Nähe des bildhaften Schemas, dieses ähnelt dem Text jedoch äußerst selten;23 darüber hinaus vermag das Diagramm bzw. die einem Bild eingeschriebene diagrammatische Struktur, durch visuelle Vermittlung verständniserweiternd wirksam zu werden, indem durch die schematische Verschlüsselung ein ganz anderer Text auch aus einem anderen Zusammenhang in einen vorliegenden Kontext hereingeholt wird. Die diagrammatische Bildlichkeit kann, über eine rein memoriale Funktion hinaus, Erkenntnisse vermitteln oder Reflexionen initiieren. Auf der bildlichen Ebene kann zudem eine kontexterweiternde Denkbewegung veranschaulicht werden. Text und Bild verbinden sich, vermittelt durch die geometrische Struktur, zu einer Synthese, die komplexe Wissensinhalte und Erkenntnisprozesse in einem Schaubild verdichtet. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll nun ein Glücksrad aus dem 11. Jahrhundert untersucht werden.

_____________ 22 Ulrich Ernst: „Die Bibliothek im Kopf: Gedächtniskunst in der europäischen und amerikanischen Literatur“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 27/1997, Heft 105, S. 86-123, S. 88ff. Ernst ordnet die „Verbindung von begrifflicher Distinktion und Anleitung zu meditativer Betrachtung“, die er in mittelalterlichen diagrammatischen Texten und figurativen Gedichten ausmacht, besonders der Scholastik und Mystik zu. Ebenda S. 90. Gormans (Anm. 17), S. 163f. 23 Dazu auch Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften, hrsg. und übers. von C. Kloesel und H. Pape, Bd. 1-3, 1906-1913, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 3, S. 76ff. sowie S. 351ff. Peirce verbindet mit dem Begriff der Diagrammatizität die These, daß Schlußfolgerungen sich nicht in einem immateriellen geistigen Raum vollziehen, sondern an die körperliche Hervorbringung und Beobachtung von Zeichen gebunden sind. Siehe auch: Steffen Bogen und Felix Thürlemann: „Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen“, in: Alexander Patschovsky (Hrsg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003, S. 1-22, S. 9f. Allerdings stehen diese Diagramme oder Zeichen in keinem Ähnlichkeitsverhältnis zu ihren Referenten. Siehe Peirce (2000), Bd. 1, S. 205: „Viele Diagramme ähneln im Aussehen ihren Objekten überhaupt nicht. Ihre Ähnlichkeit besteht nur in den Beziehungen ihrer Teile.“ Zur Diagramm-Forschung siehe den Überblick von Sebastian Bucher: „Das Diagramm in den Bildwissenschaften. Begriffsanalytische, gattungstheoretische und anwendungsorientierte Ansätze in der diagrammtheoretischen Forschung“, in: Ingeborg Reichle / Steffen Siegel / Achim Spelten (Hrsg.): Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, Berlin 2007, S. 113-129.

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II. Ein Glücksrad in Montecassino Der Codex Casinensis 18924 des Klosters Montecassino, eine Sammelhandschrift aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhundert, enthält das wohl älteste25 bisher bekannte auf Boethius zurückzuführende Glücksrad. Der Codex umfaßt auf 156 Seiten die mathematischen Traktate De Arithmetica des Boethius, Gerberts von Aurillac (†1003) De Numero, ein Blatt mit jeweils einem Figuren-Rad auf jeder Seite, gefolgt von einem Gedicht,26 Auszügen aus Isidors von Sevilla (†636) Etymologiae27 und einem kurzen, Beda (†735) zugeschriebenen Traktat De temporum ratione.28 Fol. 73, mit jeweils einer Federzeichnung eines mit Figuren besetzten Kreises auf der Recto- und Verso-Seite, befindet sich in der letzten Lage des Codex nach den mathematischen Abhandlungen und vor dem Gedicht und den Exzerpten aus Isidor. Die beiden Federzeichnungen auf fol. 73r und 73v stammen wohl von derselben Hand und zeigen bereits die wesentlichen Merkmale des auf Boethius zurückzuführenden Fortunarades.29 Stilistisch scheinen die Zeichnungen der Malerschule anzugehören, die unter Abt Desiderius (†1087) mit Hilfe von Künstlern aus Konstantinopel in Montecassino aufgebaut worden war.30 Die Abbildung auf fol. 73r (Abb.1) ist nicht beschriftet. Das Figuren-Rad auf fol. 73v (Abb.2), das im folgenden genauer

_____________ 24 Beschrieben in: Bibliotheca Casinensis, seu codicum manuscriptorum qui in tabulario Casinensi asservantur; series per paginas singillatim enucleata notis, characterum speciminibus ad unguem exemplatis aucta, cura et studio Monachorum Ordinis S. Benedicti Abbatiae montis Casini, Monte Cassino 187494, Bd. 4, S. 82f. Auch bei Courcelle (Anm. 5), S. 141ff. Felix Thürlemann: „Die Narrative Sequenz mit doppelter Figurenidentität. Zur Erzählstruktur der Rota Fortunae“, in: A. Reinle / L. Schmugge / P. Stotz (Hrsg.), Variorum Munera Florum. Latinität als prägende Kraft mittelalterlicher Kultur, FS Hans F. Haefele, Sigmaringen 1985, S. 141-156. 25 Courcelle (Anm. 5), datiert die Handschrift ins 11. Jahrhundert, siehe S. 141ff, Abb. 65. 26 Das Gedicht wird weiter unten besprochen, es ist abgedruckt in: Bibliotheca Casinensis seu codicum manuscriptorum, Monte Cassino 1874-94, Bd. 4, S. 83. 27 Die Isidor-Stellen sind identifiziert in: Codicum Casinensium manuscriptorum catalogus, 1.2, Monte Cassino 1915, S. 272: Ethymol. Lib. I-III (Lib. I, c. I-II; V, Lib. II, c. I, c. XXII,1; Lib. III, c. I, IV, XV-XVIII, X; Lib. II, c. XXIV, XXVIII). 28 Beda Venerabilis, PL 90, 295-98. 29 De consolatione, Lib. II. Zur Fortuna-Ikonographie siehe Anm. 5, 6 und 7. 30 Beat Brenk: Das Lektionar des Desiderius von Montecassino Cod. Vat. Lat. 1202. Ein Meisterwerk italienischer Buchmalerei des 11. Jahrhunderts, München 1987, bes. S. 13-26.

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betrachtet werden soll, ist von vier leoninischen Hexametern31 umgeben sowie von zwei oppositionellen Begriffspaaren Fortunium / Necessitates und prosperitates / adversitates, die ebenso wie die horizontale, das Rad teilende Linie in dunklerer Tinte oder mit einer anderen Feder ausgeführt sind. Die Schrift ist hier eine andere als jene der vorhergehenden Traktate32 und entspricht der auf den restlichen Seiten. Von einer deutlich späteren Hand sind die den Figuren auf dem Rad beigesellten Begriffe (a) regno, (b) regnavi, (d) su(m) sine regno und (c) regnabo geschrieben. Wenn man die vier Begriffe in der Reihenfolge der beigegebenen Buchstaben a, b, c, d liest, ergeben sie abermals einen Hexameter: Regno, regnavi, regnabo, sum sine regno.33 Um das Rad herum sind vier Figuren angeordnet. Die größte Figur steht oben auf dem Rad, dem Betrachter frontal gegenüber, sie ist mit einem Stab bewehrt. Die nächste Figur stürzt nach rechts unten, sie scheint sich an das Rad schmiegen zu wollen, um den Fall zu vermeiden. Durch die Sturzrichtung ist auch die Drehrichtung des Rades nach rechts angezeigt. Eine Figur liegt unter dem Rad, in einer Haltung, die an einen freien Fall erinnert. Ihr Blick ist nach oben, auf die stehende Figur gerichtet. Die Arme haben vergeblich Halt gesucht, sie können das Rad nicht mehr fassen; der untere Arm weist geradezu in die Fallrichtung. Die linke aufsteigende Figur sucht sich mit zappelnden Beinen an der Radfelge festzuhalten, um durch den Schwung des sich drehenden Rades nach oben getragen zu werden. Die Körperhaltung und die Gewandbewegungen der drei unteren Figuren vermitteln durch die aufwehende34 Kleidung den Eindruck einer schnellen Bewegung des Rades, der man sich nicht widersetzen kann.

_____________ 31 Die Hexameter werden unten besprochen. Zum leoninischen Hexameter, der auf Papst Leo den Großen (†461) zurückgeführt wird, siehe: Paul Klopsch: Einführung in die Mittellateinische Verslehre, Darmstadt 1972, S. 46ff. 32 Vgl.: Thürlemann (Anm. 24). Thürlemann unternimmt auch eine eingehende Analyse der beiden Blätter hinsichtlich der von ihm vorgestellten These einer „narrativen Sequenz mit doppelter Figurenidentität“. Meine technische Beschreibung der Handschrift folgt den Beobachtungen Felix Thürlemanns, der anhand der dunkleren Tinte annimmt, daß die Texte eine spätere, wenn auch zeitnahe Hinzufügung zum Radschema sind. 33 Die „übliche“ Lesart folgt der zeitlichen Konsekution; regno, regnavi, sum sine regno, regnabo. 34 Möglicherweise handelt es sich hier um einen Reflex byzantinischer Repräsentationsformeln, siehe Robert Suckale: „Die Weltgerichtstafel aus dem römischen Frauenkonvent S. Maria in Campo Marzio als programmatisches Bild der einsetzenden Gregorianischen Kirchenreform“, in: ders., Das mittelalterliche Bild als Zeitzeuge. Sechs Studien, Berlin 2002, S. 12-122, hier S. 39 und 80ff.

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Auch auf die zuoberst stehende Figur, durch ihre Insignien als Herrscher bestimmt, überträgt sich die Bewegung des Rades, wie bei den unteren Figuren, in das Wehen und Bauschen der Kleidung. Der Herrscher ist reich gewandet, ihn ziert ein dunkler Bart, und er trägt eine Krone, die Füße sind beschuht. Er hat mit seiner Linken einen zweizackigen Stab an seinem mit einem Knauf abgeschlossenem Griff-Ende erhoben und scheint ihn nach unten stoßen zu wollen, in Richtung des stürzenden Mannes unter ihm. Die Zacken des Stabes sind kurz und in der Form eines Hufeisens gebogen. Seine Rechte ist vor die Brust geführt, mit Daumen und Zeigefinger hält er einen kleinen Gegenstand, vielleicht einen Ring. Das Rad selbst zeigt eine schmale Felge, die drei konzentrisch ineinandergefügte Zackenfriese umschließt. Nach innen werden sie durch ein weiteres schmales Kreisband abgeschlossen. Die Kreismitte ist durch die bereits erwähnte horizontale Linie geteilt. Es finden sich weitere wichtige Elemente der Ikonographie der späteren Fortunaräder: Aufstieg und Fall der Könige sind verbunden mit dem Erhalt bzw. dem Verlust der Herrschaftsinsignien. Die absteigende und die zuunterst liegende Figur verlieren oder sind ihrer Kleidung verlustig gegangen. Fortuna selbst fehlt. In Kopfhöhe des auf dem Rad stehenden Königs sind zwei Zeilen eines leoninischen Hexameters geschrieben. Die Schrift befindet sich links und rechts des gekrönten Hauptes. Unterhalb des Rades folgen zwei weitere Zeilen, sie fassen die unterste, liegende Figur ein. Die Zeilen lauten: Stas, pater in summo; miserere iacentis in imo. Ecce, per alterutrum vadit conversio rerum. O ridens animal, sursum pete corde tribunal. Ante diem mortis patet haec mutatio sortis.35

In der ersten Zeile (‚Du stehst, Vater, zuoberst; hab Erbarmen mit dem, der zuunterst liegt‘) wird Gott gebeten, sich der unter dem Rad liegenden Figur anzunehmen. Sieht man sich das Blatt an und beginnt zu lesen, dann scheint man in eine Art Dialog mit der bildlichen Darstellung überführt zu werden. Die stehende, gekrönte Figur ist, gemäß der Anrede pater zuerst Gott der Weltenrichter, zu dem man spricht und den man um Erbarmen bittet. Der Blick folgt der Textvorgabe zu der unter dem Rad liegenden Figur, welche die existentielle Erfahrung eines widrigen Schicksals verkörpert. Der Blick geht zurück zur obersten Figur, die nunmehr ein gekrönter Herrscher ist, der sich momentan oben auf dem Rad befindet, aber jederzeit seines Status’ verlustig gehen kann. Es findet, durch das Verhältnis von Text und Bild bewirkt, zugleich ein Gespräch und ein Identifizie-

_____________ 35 Übersetzung bei Thürlemann (Anm. 24), S. 149.

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rungsvorgang statt. Als Weltenrichter ist die stehende Figur Adressat einer Fürbitte, als vom Sturz bedrohter König führt sie die prinzipielle Möglichkeit von Verlust vor und bietet gleichzeitig eine Identifikationsmöglichkeit, die dem Bereich persönlicher Erfahrung zuzurechnen ist. Vor dem Schicksal ist jeder gleich. Die drei übrigen Zeilen richten sich direkt an den Betrachter. Der Leser wird in der zweiten oberen Zeile zum genauen Sehen aufgefordert (‚Schau, von einem zum anderen führt die Umkehr der Dinge‘), damit er den Kreislauf des Schicksals erfassen kann. Das Oberste wird nach unten gekehrt, das Unterste kann nach oben gelangen. Doch über allem steht das himmlische Gericht. Wiederum wird auf die Ambivalenz der oberen Figur angespielt – sie oszilliert immer zwischen irdischem und himmlischem König. Die irdische Macht ist ständig vom Schicksal bedroht, der himmlische Herrscher kann sich aus vollkommener Machtfülle heraus erbarmen und möglicherweise den Lauf der Dinge ändern. Die beiden unteren Zeilen fassen die unten liegende, nahezu unbekleidete Figur ein. Sie liegt auf dem Rücken und schaut nach oben, zum göttlichen Richter, was durch den Text der ersten unteren Zeile unterstrichen wird (‚O lachendes Tier, richte dich mit dem Herzen an das Gericht in der Höhe‘). Die Figur und mit ihr der betrachtende Leser werden angehalten, angesichts des wechselnden Laufs des irdischen Schicksals (sors und nicht fortuna!) sich rechtzeitig, das heißt vor dem Tod (‚Noch vor dem Tag des Todes wird deutlich dieser Wandel des Schicksals‘), auf das himmlische Gericht vorzubereiten. Das Radschema auf fol. 73v ist durch die Einfügung der Hexameter und der Krone, im Gegensatz zur ersten Version der Abbildung auf fol. 73r, zu einer hybriden Verschmelzung von Gerichts- und Schicksalsrad geworden, die den Betrachter direkt mit einbezieht, er wird durch das Lesen des Textes in das Bild hereingeholt und durch die Betrachtung des Bildes zur Identifikation mit den Personen aufgefordert. Die gemeinsame Lektüre von Text und Bild initiiert einen Prozeß der meditatio, einer einverleibenden Versenkung, die dem Betrachter die Einbindung schicksalhafter Geschehnisse unter die göttliche providentia veranschaulicht und ihm zur Mahnung dient. Die Untersuchung des Schriftteiles der Seite fol. 73v ist jedoch noch nicht beendet. Oberhalb des Rades, sozusagen auf Wadenhöhe des Königs, sind links und rechts zwei Begriffe zu lesen: Fortunium und Necessitates. Das Innere des Rades ist durch eine horizontale Linie geteilt. In der oberen Hälfte steht Prosperitates, in der unteren Hälfte Adversitates. Die vier Begriffe entstammen der Consolatio des Boethius, ihnen kommt in dem Werk eine zentrale Bedeutung zu. Fortunium und Necessitates kennzeichnen die Antipoden von blindem Schicksal und göttlicher Notwen-

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digkeit. Für den ersteren Begriff steht Buch 2 und für den letzteren Buch 5 der Consolatio Philosophiae. Ein genauer Blick in die Trostschrift soll das belegen: fortunium/ Fortuna im 2. Buch der Consolatio: (1p) Fortunae te regendum dedisti: dominae moribus oportet obtemperes. Tu vero volventis rotae impetum retinere conaris? At, omnium mortalium stolidissime, sic manere incipit, fors esse desistit. (1c) Haec cum superba verterit vices dextra / Exaestuantis more fertur Euripi, / Dudum tremendos saeva proterit reges / Humilemque victi sublevat fallax vultum. / Non illa miseros audit aut curat fletus / Ultroque gemitus, dura quos fecit, ridet. / Sic illa ludit, sic suas probat vires / Magnumque tristis monstrat ostentum, si quis / Visatur una stratus ac felix hora. (2p) Vellem autem pauca tecum Fortunae ipsius verbis agitare. Tu igitur, an ius postulet, animadverte: ‚Quid tu, homo, ream me cotidianis agis querelis? Quam tibi fecimus iniuriam? Quae tibi tua detraximus bona? Quovis iudice de opum dignitatumque mecum possessione contende et, si cuiusquam mortalium proprium quid horum esse monstraveris, ego iam tua fuisse, quae repitis, sponte concedam. [...] Haec nostra vis est, hunc continuum ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus. Ascende, si placet, sed ea lege, ne, uti cum ludicri mei ratio poscet, descendere iniuriam putes.‘36

Fortuna wird hier in eindringlicher Sprache vorgestellt. Sie ist die Verkörperung des mitleidlosen Zufalls, ohne Ansehen der Person ist ihr jeder unterworfen. Philosophia leiht der Zufallsgöttin ihre Stimme, Fortuna ist also nicht wirklich anwesend. Befindet man sich auf ihrem kreisenden Rad, dann ist man ihr ausgeliefert. Wenn man den Wortlaut dieses Zitates genauer betrachtet, entdeckt man eine Reihe von Begriffen, die für die

_____________ 36 De consolatione II.1p, 58, S. 46/47f.-II.2p, 33, S. 48/49: „(1p) Du hast dich dem Regiment der Fortuna anvertraut. Nun mußt du den Sitten der Herrin gehorchen. Du versuchst den Schwung des rollenden Rades aufzuhalten? Aber, törichtester aller Sterblichen, wenn sie anfängt zu beharren, hört sie auf, Zufall zu sein.“„(1c) Wenn sie die Lose wechselt mit der stolzen Hand, / Und laut aufbrausend tobt gleichwie der Euripus, / Tritt sie die Könige, eben drohend noch, zu Staub, / Der Unterlegnen Stirn hebt sie mit Trug empor. / Des Elends Flehen ist sie taub, den Tränen blind, / Verlacht die Seufzer, die sie, hart, geschaffen hat. / So ist ihr Spiel und so erprobt sie ihre Kraft; / Und traurig zeigt sie uns ihr großes Schauspiel dann, / Wenn eine Stunde Glück und Fall vereinigt sieht!“„(2p) Ich aber möchte ein wenig mit dir verhandeln, als ob ich selbst Fortuna wäre. Gib also acht, ob sie ihr Recht fordert. ‚Wessen, o Mensch beschuldigst du mich mit deinen täglichen Klagen? Welch ein Unrecht haben wir dir getan? Welche Güter haben wir dir entzogen? Streite doch vor jedem beliebigen Richter mit mir über den Besitz der Schätze und Würden, und wenn du zeigst, daß irgend etwas hiervon Eigentum irgendeines Sterblichen sei, so will gern zugeben, daß, was du zurückforderst, dein gewesen ist. [...] Dies ist unsere Macht, dies ununterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad in kreisendem Schwunge, wir freuen uns, das Tiefste mit dem Höchsten, das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen. Steige aufwärts, wenn es Dir gefällt, aber unter der Bedingung, daß du es nicht für ein Unrecht hältst, herabzusteigen, wenn es die Regel meines Spiels erfordert.‘“

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vorliegende bildliche Formulierung und vielleicht sogar für die der Hexameter konstitutiv gewesen sein können: Das rollende Rad, die Sterblichkeit des Angesprochenen, Könige, Lachen, Richter, Wechsel vom Höchsten zum Tiefsten und zum Schluß wieder das Rad in kreisendem Schwung. Ebenso kann mit dem Begriff der necessitas im 5. Buch der Consolatio verfahren werden: quae quia praescientiam non esse futuris rebus causam necessitatis existimat, nihil impediri praescientia arbitrii libertatem putat. Num enim tu aliunde argumentum futurorum necessitatis trahis, nisi quod ea, quae praesciuntur, non evenire non possunt? Si igitur praenotio nullam futuris rebus adicit necessitatem, quod tu etiam paulo ante fatebare, quid est, quod voluntarii exitus rerum ad certum cogantur eventum? [...] Cuius erroris causa est, quod omnia, quae quisque novit, ex ipsorum tantum vi atque natura cognosci aestimat, quae sciuntur. Quod totum contra est. Omne enim, quod cognoscitur, non secundum sui vim, sed secundum cognoscentium potius comprehenditur facultatem. [...] Neque id iniuria, nam cum omne iudicium iudicantis actus exsistat, necesse est, ut suam quisque operam non ex aliena, sed ex propria potestate perficiat. [...] Ac vires animi movens / Vivo in corpore passio, / Cum vel lux oculos ferit / Vel vox auribus instrepit. / Tum mentis vigor excitus, / Quas intus species tenet, / Ad motus similes vocans / Notis applicat exteris / Introrsumque reconditis / Formis miscet imagines.37

Necessitas ist die göttliche Notwendigkeit, die durch ihre Einbindung in die providentia die Freiheit des individuellen Willens bewahrt und dennoch jedes Element der Schöpfung in Abhängigkeit von dem Einen sieht. Necessitas steht für die Freiheit im Rahmen eines auf das Gute hin geord-

_____________ 37 De consolatione V.4p, 13, S. 246/247f.-V.4c 32, S. 256/257: „(4p) Da das Vorauswissen nicht die zwingende Ursache der kommenden Dinge sei, könne es auch nicht die Freiheit des Wollens hindern. Entnimmst du denn anderswoher den Beweis der Notwendigkeit zukünftiger Dinge als daher, daß das, was vorausgewußt ist, notwendigerweise eintreffen muß? Wenn also die Vorauskenntnis den zukünftigen Dingen keine Notwendigkeit zufügt, wie du selbst vor kurzem zugegeben hast, was zwingt dann den freiwilligen Ausgang der Dinge zu notwendigem Geschehen? [...] Die Ursache dieses Irrtums ist, daß man glaubt, daß alle Dinge, die man weiß, lediglich gemäß ihrer eigenen Fähigkeit und Natur als Gewußtes erkannt werden. Doch das Entgegengesetzte ist der Fall; alles nämlich, was erkannt wird, wird nicht gemäß seiner eigenen Fähigkeit erkannt, sondern gemäß der Möglichkeit des Erkennenden, [...] denn da jedes Urteil als ein Akt des Urteilenden besteht, ist notwendig, daß jedes seine Tätigkeit aus eigener Macht und nicht aus einer fremden vollbringe.“ „(4c) [...] Was des Geistes Kräfte bewegt: / Lebender Körper Empfänglichkeit, / Wenn das Licht in die Augen fällt / Und die Stimme im Ohre schallt / Dann erweckt auch des Geistes Kraft, / Was an innerer Schau er trägt, / Ruft zu gleicher Bewegung auf, / Paßt es äußerem Eindruck an / Und vermählt im Innern nun / Der verborgenen Form das Bild.“

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neten Weltsystems gegenüber der Willkür der Fortuna. Die letzten Verse der soeben zitierten Stelle aus der Consolatio scheinen geradezu auf den Erkenntnis- und Leseprozeß, der durch das vorliegende Fortunarad initiiert wird, hinzudeuten: „Und vermählt im Innern nun / Der verborgenen Form das Bild.“ Durch Bilder der sinnlichen Wahrnehmung stimuliert, schwingt die Seele sich zu einem mentalen Schauen auf, in dem die äußere und die innere Erkenntnisebene verschmelzen und eine höhere Erkenntnisstufe erreicht wird. Die Verwendung des Begriffs Necessitates in der Zeichnung, der als Schlüsselwort auf eine komplexe textimmanente Argumentationskette verweist, die in den oben zitierten Versen mündet, soll in der Vorstellung des Betrachters als ein sinnstiftendes Element agieren, das dafür Sorge trägt, daß die Verbindung zur Consolatio des Boethius eindeutig ist. Auch das gegensätzliche Begriffspaar Prosperitates / Adversitates, in der Mitte des Rades eingeschrieben, läßt sich direkt auf die Consolatio beziehen. Boethius beklagt sein Leid und sagt in Erkenntnis seiner Lage zu Philosophia: [...] nec infitiari possum prosperitatis meae velocissimum cursum. Sed hoc est, quod recolentem vehementius coquit. Nam in omni adversitate fortunae infelicissimum est genus infortunii fuisse felicem.38

So geraten in dem Schema einerseits das Schicksal des Autors der Consolatio und dessen Trost durch die Philosophie in das Zentrum des Geschehens und andererseits sind hier im Inneren des Kreises die fragilen Werte der irdischen Güter und die Doppelgesichtigkeit der Fortuna39 programmatisch umrissen. Die Bildidee eines mit Personen besetzten Rades wird zu einem guten Teil durch die Sprache der Consolatio selbst herausgefordert. So dürften für die Komposition und die sich eröffnenden Bedeutungsräume dieses Radschemas die soeben angeführten Textstellen aus der Trostschrift des Boethius als Vorlage gedient haben. Sie können auch durch weitere Belege insbesondere aus dem zweiten Buch der Consolatio ergänzt werden. Die Sprache des Prosatextes ist ausdrucksstark und bildhaft. Die zugehörigen Verse beflügeln die Phantasie des Lesers und Hörers noch stärker. Dies

_____________ 38 De consolatione II.4p 2-6, S. 56/57: „[...] ich kann den sehr schnellen Lauf meines Glücks nicht leugnen. Aber gerade das quält in der Erinnerung noch heftiger; denn bei jeder Widerwärtigkeit des Geschickes ist dies die unseligste Art des Unglücks, glücklich gewesen zu sein.“ 39 Dazu: Sibylle Appuhn-Radke: „Fortuna Bifrons. Zu einem mittelalterlichen Bildtyp und dessen Nachleben in der Ikonographie Albrecht Dürers“, in: Das Mittelalter, Bd. 1, 1996, S. 129-148.

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gilt auch für Buch 5, das überaus komplex und philosophisch anspruchsvoll ist. Wenn die dem Rad hinzugefügten Begriffe auf diese Weise gelesen werden, dann kann man dieses Bild zweifelsfrei als ein sich auf Boethius beziehendes Fortunarad deuten. Die Begriffe verweisen auf die zentralen Bücher der Consolatio, deren Inhalte im Mittelalter jedem Gebildeten bekannt waren.40 Das Radschema wird nach der ersten Lesung als ein Schicksalsrad gedeutet und nun, in einer zweiten Lesung, zur erinnernden inneren Lektüre eines im klösterlichen Unterricht eingehend behandelten und inkorporierten philosophischen Werkes. Es handelt sich hier um ein komplexes Gedächtnisbild, das nicht nur verweist, sondern in komprimierter Form einen Schlüsseltext mittelalterlichen Wissens verbildlicht. Diese Art von Lektüre setzt eine genaue Kenntnis des Textes voraus, der ja hier gar nicht vorliegt, sondern als im Betrachter inkorporiert angenommen wird. Fortuna selbst fehlt in der Darstellung, genauso wie in der Consolatio – es ist Philosophia, die Fortuna ihre Stimme leiht. Die in ihrer Abwesenheit überaus anwesende Konzeption der Fortuna trifft sich hier mit einer Grundeigenschaft des Bildes, das Abwesendes anwesend macht. Im Prozeß eines verstehenden Nachvollziehens oder Erinnerns des bekannten Textes anhand von Schlüsselworten kann das Radschema hier als eine inhaltliche Komprimierung von De Consolatione angesehen werden. Wie ist nun die Anwesenheit der beiden so ähnlichen Radschemata auf der der Recto- und Verso-Seite eines Blattes zu erklären? Möglicherweise hat sich ein klösterlicher Leser oder Hörer bei der Lektüre von De arithmetica an die Consolatio erinnert und dieses Werk des Boethius mit einem bereits bestehendem Radschema, einem Gerichtsrad, zusammengebracht. So hat er zunächst das Rad auf fol. 73r gezeichnet. Da er mit seiner Formulierung nicht zufrieden war, artikulierte er mit dem zweiten Radschema einen neuen Ansatz, in der er die stehende Figur mit einer Krone versehen hat und die untere Figur nahezu unbekleidet zeigte. In einem weiteren Schritt wurden die Hexameter und die Begriffe hinzugefügt, so daß nicht nur Eindeutigkeit erreicht, sondern auch eine bis dahin einmalige Komprimierung des philosophischen Textes geschaffen wurde.

_____________ 40 „It has long been recognized that Boethius’ Consolatio philosophiae was a key text in the shaping of medieval thought and culture. The work was translated many times in different vernacular languages, and was studied throughout medieval society, at the courts, in schools and universities, in religious houses, and in lay circles.“ Maarten J.F.M. Hoenen / Lodi Nauta (Hrsg.): Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio Philosophiae, Leiden 1997, S. VII. Zur Verbreitung der Consolatio im Mittelalter auch Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, ‚De Consolatione Philosophiae‘, 2. erw. Auflage, Berlin-New York 2006, S. 47f.

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Es ist ein Gedankenbild oder Diagramm entstanden, das, genau wie Boethius es selbst in den zitierten Versen angedeutet hat, ein inneres Erkenntnisbild repräsentiert. Diese bildhafte Umsetzung von Erkenntnis ist zu verstehen als eine Verschmelzung der repräsentativen Elemente der Strukturen des Kreis-Diagramms und der beigefügten Figuren mit den sprachlichen Elementen, die durch die Einsetzung von zentralen Begriffen ein mentales, kontemplatives Verstehen initiieren. Die Fähigkeit, durch Kontemplation das Schwierigste zu erfassen, die Sehschärfe, die sie der Erkenntnis verleiht, wird im Mittelalter durch die Metapher des Vogelflugs veranschaulicht. Richard von St. Viktor (†1173) differenziert in Anlehnung an Eriugena41 (†um 877) zwischen verschiedenen Flugfiguren, die für unterschiedliche Grade der Kontemplation stehen. Die eine Flugform vollzieht sich in der Geraden, sei es vertikal oder horizontal, die andere, noch wichtigere, beschreibt Kreise, die dritte markiert das Verharren im Zentrum.42 Das Bild ist also ein äußerer Visualisierungsvollzug des inneren Erkenntnisfortschritts: Bewirkt durch das bildhaft Sichtbare im Verein mit den Wortelementen, wird das im Geist zu Schauende nachgebildet. Der Betrachter entziffert das Diagramm im Sinne der eben beschriebenen Vogelperspektive: In der ersten Stufe wird das Bild horizontal und vertikal gelesen, die Figuren und die ergänzenden Hexameter werden erfaßt. In der folgenden Lektürestufe wird die Kreisform als grundlegende Struktur menschlicher Schicksalsverbundenheit begriffen, und durch begriffliche Affizierung wird der philosophisch-metaphysische Gehalt der Consolatio evoziert. In der letzten Stufe meditiert der Betrachter über der Gesamtkomposition und findet Trost in der Erkenntnis der Ordnung der Dinge.

III. Das Kreisdiagramm und die kosmologische Einbindung von De Consolatione Da die Bilder sich in unmittelbarer Nähe einer Schrift des Boethius zur Mathematik befinden, kann nun nach der Bestimmung des Radschemas als Schicksalsrad, das auf Boethius zurückzuführen ist, über eine Verbindung von De arithmetica und der Consolatio nachgedacht und damit mögli-

_____________ 41 Iohannes Scotus Eriugena: Expositiones in Ierarchiam Coelestem, CCSL 31, I 408ff: „[...] in similitudine supercelestum substantiarum, que circa Dominum nostrum Iesum Christum eterno et intelligibili volatu circumvolant.“ 42 Richard von St. Viktor: Benjamin major: De gratia contemplationis libri quinque, PL 196, I 5, 68CD: „Nam vivacitas illa intelligentiae in contemplationis animo mira agilitate modo it atque redit, modo se quasi in gyrum flectit, modo autem se quasi in unum colligit et quasi immobiliter figit.“

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cherweise die Anfertigung und Aufnahme der Illustrationen in die Handschrift genauer erklärt werden. Eine wichtige Rolle bei diesem Deutungsversuch spielt die Verwendung des Rades oder des Kreisdiagramms als ein textsubstituierendes Ordnungsschema.43 Boethius Schrift De institutione arithmetica44 war bis in das 16. Jahrhundert ein überaus wichtiger Text im Rahmen der artes liberales, d.h. des Quadriviums, der durch die Reflexion über Zahlen vereinten vier Teile der sieben artes. Alles von der anfänglichen Natur Erschaffene wurde als vom Wesen der Zahl geformt angesehen.45 Die Auffassung des Boethius, der in seiner Arithmetik schrieb, wer keine Mathematik treibe, zerstöre das Ganze der Philosophie, kehrt im 12. Jahrhundert in der Naturphilosophie wieder und wirkte, vermittelt über Oxford,46 Robert von Grosseteste (†1253) und Roger Bacon (†nach 1292), bis ins 14. Jahrhundert. Im 13. Jahrhundert wurde die Bedeutung der Mathematik für die Metaphysik und Schöpfungstheologie unterstützt durch die aristotelische Formulierung, die species würden sich zueinander verhalten wie die Zahlen.47 Die Arithmetik im Sinne des Boethius umfaßte die Theorie und Philosophie der Zahlen; sie war prinzipiell moralisch konnotiert und versuchte, den seinskonstituierenden Charakter der Zahlen herauszuarbeiten. Die Arithmetik war die Grundlage für die Proportionen und die Harmonielehre des Kosmos und der Musik,48 sie beeinflußte die Regeln der Architektur und

_____________ 43 Diagramme finden sich schon in Isidors (†636) De natura rerum. (PL 83, 963A1016C). Von den insgesamt sieben Diagrammen, sind sechs kreisförmig konstruiert, weshalb das Buch früh als liber rotarum bezeichnet wurde. Dazu: John E. Murdoch: Album of Science. Antiquity and the Middle Ages, New York 1984, Nr. 4648, 247, 279-280, 286. 44 Boethius: De arithmetica, Heinrich Oosthout / Johannes Schilling (Hrsg.), Turnhout 1999, (CCSL 94A) Lib. I, 2. 2-3: „hoc enim fuit principale inanimo conditoris exemplar.“ John Caldwell: „The De Institutione Arithmetica and the De Institutione Musica“, in: M. Gibson (Anm. 4), S. 135-154. 45 Sir Thomas Heath: A History of Greek Mathematics, Oxford 1921, Bd. I, S. 13ff. 46 James McEvoy: Robert Grosseteste et la théologie à l'Université d'Oxford (1190-1250), Paris 1999. 47 Aristoteles: Metaphysik, 1043b 36-1044a 2. 48 Auch Boethius’ De musica war ein grundlegender Text für die mittelalterliche Zahlentheorie. Oscar Paul (Hrsg.): Boethius, Fünf Bücher über die Musik, aus dem Lat. in die deutsche Sprache übertragen und mit besonderer Berücksichtigung der griechischen Harmonik sachlich erklärt von Oscar Paul, Leipzig 1872, ND Hildesheim 1973. Siehe auch Oscar Paul (Hrsg.): Boethius, De institutione musica libri 5. Acc. Geometria quae fertur Boetii. E libris manu scriptis ed. Godofredus [Gottfried] Friedlein, Leipzig 1867, ND Frankfurt a. M. 1966.

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der Moralphilosophie. Gemeinsam mit den Institutiones49 des Cassiodor (†um 580) und den Elementen (Bücher VII-X) des Euklid50 (†um 300 v.Chr.) lieferte die mathematische Schrift des Boethius die Regeln, die zu einer allegorischen Exegese der Bibel und der Berechnung der christlichen Festtage, insbesondere des Osterfestes (Osterformel) nötig waren. Zusammen mit den anderen drei Fächern des Quadriviums wurde die Arithmetik als Grundlage für die Erkenntnis der Wahrheit der sich hinter der sichtbaren Welt verbergenden rationalen und intelligiblen Ordnung angesehen.51 Die Kosmos-Idee manifestierte sich vor allem in dem Versuch, urbildhaftes Sein und abbildendes Sein vergleichbar zu machen.52 Einem gebildeten mittelalterlichen Benutzer der Montecassiner Handschrift ist ganz sicher bei der Lektüre von De arithmetica die Consolatio in den Sinn gekommen, sozusagen als eine moralphilosophische Fortsetzung der soeben behandelten mathematisch-kosmologischen Überlegungen.

_____________ 49 Cassiodor: Institutiones divinarum et saecularium litterarum, Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übers. und eingel. von Wolfgang Bürsgens, Freiburg i. Brsg. 2003, Lib 2, IV, De Arithmetica, S. 390-413. 50 Euklid: Die Elemente, Bücher I-XIII, hrsg. und übers. v. Clemens Thaer, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2003. 51 Boethius: De arithmetica (Anm. 44), Lib. I, 1. 38-50 und 64-72: „Horum ergo illam multitudinem, qua per se est, arithmetica speculatur integritas, illam vero, quae ad aliquid, musici modulaminis temperamenta pernoscunt, immobilis vero magnitudinis geometria notitiam pollicetur, mobilis vero scientiam astronomicae disciplinae peritia vindicavit. Quibus quattuor partibus si careat inquisitor, verum invenique non possit, ac sine hac quidem speculatione veritatis nulli recte sapiendum est. Est enim sapientia earum rerum, quae vere sunt, cognitio et integra comprehensio. Quod haec qui spernit, id est has semitas sapientiae, ei denuntio non recte philosophandium, si quidem philosophia est amor sapientiae, quam in his spernendis autem contempserit. [...] Hoc igitur illud quadruvium est, quo his viandum sit, quibus excellentior animus a nobiscum procreatis sensibus ad intelligentiae certiora perducitur. Sunt enim quidam gradus certaeque progressionum dimensiores, quibus ascendi progredique possit, ut animi illum oculum, qui, ut ait Plato, multis oculis corporalibus salvari constituique sit dignior, quod eo sole lumine vestigari vel inspici veritas queat hunc inquam oculum demersum orbatumque corporeis sensibus haec disciplinae rursus illuminent.“ Dazu besonders: Harry Bober: „In Principio. Creation before Time“, in: Millard Meiss (Hrsg.), De artibus opuscula XI. Essays in honor of Erwin Panofsky, New York 1961, Bd. 1, S. 13-28. Ernst H. Gombrich: „Symmetrie, Wahrnehmung und künstlerische Gestaltung“, in: Rudolf Wille (Hrsg.), Symmetrie in Geistesund Naturwissenschaft. Hauptvorträge und Diskussionen des Symmetrie Symposions an der Technischen Hochschule Darmstadt vom 13. bis 17. Juni 1986 im Rahmen des Symmetrieprojektes der Stadt Darmstadt, Berlin-Heidelberg 1988, S. 94-119, hier bes. S. 99. 52 Andreas Graeser: „Ein Bild von der Welt, die Kosmos-Idee in der frühen Philosophie“, in: Universitas 41/1986, S. 33-43, hier S. 43.

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Die kosmologische Einbindung ist auch in der Consolatio gegeben.53 Wenn im neunten Gedicht des dritten Buches, also in der Mitte des Werkes, der zentrale Hymnus O qui perpetua [...] aufklingt, dann wird dem Leser eine überzeugende Abbreviatur kosmologisch-theologischer Grundaspekte angeboten, die das Verhältnis von Gott und Welt zu umreißen suchen: O qui perpetua mundum ratione gubernas, / Terrarum caelique sator, qui tempus ab aevo / Ire iubes stabilisque manens das cuncta moveri, / Quem non externae pepulerunt fingere causae / Materiae fluitantis opus, verum insita summi / Forma boni, livore carens tu cuncta superno / Ducis ab exemplo; pulchrum pulcherrimus ipse / Mundum mente gerens similique in imagine formans / Perfectasque iubens perfectum absolvere partes. / Tu numeris elementa ligas, ut frigora flammis / Arida conveniant liquidis, ne purior ignis / Evolet aut mersas deducant pondera terras. / Tu triplicis mediam naturae cuncta moventem / Connectens animam per consona membra resolvis. / Quae cum secta duos motum glomeravit in orbes, / In semet reditura meat mentemque profundam / Circuit et simili convertit imagine caelum. / Tu causis animas paribus vitasque minores / Provehis et levibus sublimes curribus aptans / In caelum terramque seris, quas lege benigna / Ad te conversas reduci facis igne reverti. / Da, Pater, augustam menti conscendere sedem, / Da fontem lustrare boni, da luce reperta / In te conspicuos animi defigere visus. / Dissice terrenae nebulas et pondera molis / Atque tuo splendore mica; tu namque serenum, / Tu requies tranquilla piis, te cernere finis, / Principium, vector, dux, semita, terminus idem.54

_____________ 53 Dazu: Werner Beierwaltes: „Trost im Begriff. Zu Boethius’ Hymnus ‚O qui perpetua mundum ratione gubernas‘“, in: ders. (Hrsg.), Denken des Einen. Studien zur Neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 319-336. 54 De consolatione III.9c 1-28, S. 128/129-130/131: „Der du lenkest die Welt nach dauernden, festen Gesetzen, / Schöpfer des Himmels, der Erden, der du von Ewigkeit ausgehen / Hießest die Zeit, selbst nimmer bewegt, bewegend das Weltall! / Keine äußere Macht trieb dich, aus wogenden Massen / Deine Schöpfung zu formen; in dir nur trägst du des höchsten / Guten Gestalt, bist frei von Mißgunst. Das All vom Urbild / Leitest du her; die herrliche, Herrlichster selber, / Trägst du im Geiste, die Welt, und formst sie zu ähnlichem Bilde, / In der vollendeten schafft dein Befehl vollkommene Teile. / Bindest mit Zahlen die Elemente, daß Hitze und Kälte, / Regen und Dürre ihr Maß einhalten; die reinere Flamme / Nicht emporflieht, die Last nicht abwärts ziehe die Erde. / Aus der Mitte der Drei-Natur entläßt du die Seele, / Die das Weltall bewegt, hüllst sie in harmonische Glieder. / Wenn sie getrennt, ballt sie das Bewegte in zwiefache Kreise, / Kehrt sie wieder in sich zurück, umschreitet des Geistes / Tiefen sie und verwandelt nach ähnlichem Bilde den Himmel. / Auch die geringeren Wesen und Seelen aus gleichem Grunde / Führest hervor du; und die in der Höhe fügend an leichte Gefährte, / Teilst du sie aus in Himmel und Erde, nach gütgem Gesetze / Rufst sie wieder dir zugewandt mit rückführendem Feuer. / Vater, verleih meinem Geist, den himmlischen Sitz zu ersteigen, / Gib ihm zu schauen die Quelle des Guten, gib du ihm wieder / Licht des Geistes, daß er auf dich nur

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Elemente der Genesis, des platonischen Timaios und neuplatonische Kosmosvorstellungen sind hier zu einer Einheit zusammengezogen,55 welche die besondere Aufmerksamkeit der mittelalterlichen Kommentatoren erregt hat.56 Nachdem der Zusammenhang zwischen der mathematischen und der Trostschrift des Boethius betont worden ist, soll nochmals das RadDiagramm im Zusammenhang mit dem soeben zitierten Hymnus betrachtet werden. Wesentliche Vorstellungselemente des Liedes finden sich in dem Diagramm auf fol. 73v wieder. Der Kreis selbst als vollkommene Verkörperung des Kosmos, des Einen und Guten ist ebenso gegeben wie seine Bewegung in die Tiefe und in die Höhe. Diese kosmische Dimension wird im Hymnus gestärkt durch den Hinweis auf die Elemente und ihre Eigenschaften Kälte, Wärme, Trockenheit und Feuchte. Diese Einbindung der Elemente in den Kreis des Kosmos findet sich bereits in den Kreis-Diagrammen von Isidors De natura rerum und kann bei einem mittelalterlichen gelehrten Betrachter in Gestalt eines mentalen Subtextes oder -bildes als bekannt vorausgesetzt werden.57 Eine weitere Verschränkung des Hymnus mit dem Diagramm findet sich in der Anrede des Vaters, im Hymnus heißt es „Da, pater, [...]“ (‚Vater, verleih meinem Geist, den himmlischen Sitz zu ersteigen.‘), der erste Hexameter des Blattes beginnt mit: „Stas, pater [...]“ („Du stehst, Vater, zuoberst; hab Erbarmen mit dem, der zuunterst liegt‘). In den Hexametern des Hymnus wird der himmlische Vater gebeten, den Geist zur höchsten Erkenntnis zu erheben, im entsprechenden Hexameter von fol. 73v wird das unmittelbare Verhältnis des himmlischen Vaters zu seiner Schöpfung festgestellt. Der Hymnus der Consolatio formuliert ganz neuplatonisch das Streben nach der Einswerdung, und das heißt hier auch Ver-

_____________ richte die Augen. / Scheuche die irdischen Nebel, zerstöre die wuchtenden Lasten. / Leuchte du auf mit deinem Glanz; denn du bist die Helle, / Du besel/gende Ruh den Frommen, dich schauen ist Ende, / Ursprung, Führer, Erhalter und Weg und Ende du selber.“ 55 Friedrich Klingner: De Boethii Consolatione Philosophiae, Berlin 1921, ND Zürich, Dublin 1966, S. 38ff, hat Grundlegendes für die Identifikation der Quellen des Boethius geleistet. Siehe auch: Pierre Courcelle: Les Lettres Greques en Occident, de Macrobe à Cassiodore, Paris 1948, S. 278-300. Ferner Gruber (Anm. 40), S. 22 und 275ff. 56 Pierre Courcelle: Étude critique sur les commentaires de la Consolation de Boèce (IX-XV siècles), Archives d´histoire doctrinale e littéraire du M.A. 12/1939, S. 5-140; Edmund T. Silk: „Pseudo Johannes Scottus, Adalbold of Utrecht and the early commentaries on Boethius“, in: Mediaeval and Renaissance Studies 3/1954, S. 1-40; Courcelle (Anm. 5), S. 163ff. 57 Dazu: Suckale (Anm. 34), S. 31.

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göttlichung, des nach dem Guten strebenden Einzelnen mit dem Einen, das zwar vorstellend mit „Du“ angesprochen, aber nicht wirklich personalisiert wird. Auf fol. 73v wird der Schöpfer ebenfalls direkt angesprochen, doch hier ist eine christlich personale Beziehung formuliert, in welcher der Absender Gott diametral entgegengesetzt, d.h. zuunterst, positioniert ist. Das unpersönliche, metaphysische Eine der Consolatio wird in dem Radschema durch den personalen Gott ersetzt. Philosophische und christlichbiblische Kosmologie werden in dem Schema auf fol. 73v vereint.58 Auch dieser interpolierende Interpretationsweg zeigt, wie stark sich das Radschema auf den Text der Consolatio bezieht. Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist der Kreis als die neuplatonische Bestimmung der Gottheit als das Eine und Ewige und der Einheit von Denken und Sein.59 Der Kreis wird hier zum Spiegel der Schöpfung60 bzw. einer durch Gott in die Schöpfung der Welt hineingelegten Ordnung. Vor allem aber vermag der Kreis eine Entsprechung der Text- und Denkstruktur zu verkörpern.61 Die Kreisform bildet die grundlegende Möglichkeit, „analoge Begriffe anschaulich zu ordnen“, so daß „die Kreiskomposition zum wichtigsten Ausdrucksmittel für alle naturwissenschaftlichen und mythischen Werke mittelalterlicher Autoren geworden“62 ist. Ein faktenreicher philosophischer oder theologischer Text, der eine Vielzahl von Informationen über Struktur und Aufbau komplexer Sachverhalte beinhaltet, und das gilt für die Consolatio ganz sicher, erfordert im Falle einer erkenntniserweiternden Illustration Bilder mit hierarchischen Strukturen und Anschauungssysteme mit zentralen Bezugspunkten. Die Radform kann also als diagrammatische Grundlage für eine Vielzahl komplexer und unterschiedlicher Bedeu-

_____________ 58 Karen Gloy: Das Verständnis der Natur. Bd. I: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995, S. 22f. 59 Dazu: Werner Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt a. M. 1979, S. 48ff. 60 Barbara Bronder: „Das Bild der Schöpfung und Neuschöpfung der Welt als orbis quadratus“, in: Frühmittelalterliche Studien 6/1972, S. 188-210, S. 188: „Dem in Kreisrund und in der kosmischen Vierheit abgebildeten Kosmos ist immanent die Vorstellung vom göttlichen Schöpfungs- und Erlösungshandeln.“ 61 Wolfgang Christian Schneider: „Semantische Symmetrien in mittelalterlichen Handschriften und Bildschnitzwerken“, in: Kat. „Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft“ (Bd. 1: Texte), Darmstadt 1986, S. 197-231; Karl Clausberg: „Symmetrie als Syntax mittelalterlicher Bilderschriften. Kunsthistorische Übergangsformen eines ‚Über-Historischen‘ Gestaltungsprinzips“, wie zuvor, S. 233-255 und ders.: „Scheibe, Rad, Zifferblatt. Grenzübergänge zwischen Weltkarten und Weltbildern“, in: Hartmut Kugler (Hrsg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, Weinheim 1991, S. 260-313. 62 Herbert von Einem: Der Mainzer Kopf mit der Binde, Köln-Opladen 1955, S. 23.

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tungszusammenhänge angenommen werden; als rota ist sie die universelle Folie für Texte und Vorstellungen, die auf analoge Strukturen zurückgreifen wie Erdkreis, Himmelsstadt, Windrose und Sphärenkreis.63 Ein Rad-Diagramm erzählt nicht, sondern es vermittelt eine universelle, gleichzeitige Schau von übergeordneten Zusammenhängen.64 Das bestätigt Christel Meier, wenn sie generell über Schemabilder spricht: Mit ihrer kompositionellen und konzeptionellen Bestimmtheit durch geometrische Formen wie Kreis, Kreuz, Viereck, Raute, Rad und deren Kombinationen stehen sie im Gegensatz zum narrativen Bild, das eine Handlung, Szene, Situation visualisiert [...].65

Der Blick des Betrachters auf ein so geartetes Bild- und Begriffsschema erfolgt aus einer gewissermaßen olympischen Sichtweise,66 einer göttlichen Zusammenschau: „The obvious one was to represent the system diagrammatically as if characterized by an Olympian viewer who could stand outside the system.“67 Genau diese göttliche Schau beschreibt auch Boethius im 5. Buch der Consolatio: Omne namque futurum divinus praecurrit intuitus et ad praesentiam propriae cognitionis retorquet ac revocat nec alternat, ut aestimas, nunc hoc, nunc aliud praenoscendi vice, sed uno ictu mutationes tuas manens praevenit atque

_____________ 63 Robert Suckale: „Thesen zum Bedeutungswandel der gotischen Fensterrose“ (1981), in: Peter Schmidt / Gregor Wedekind (Hrsg.), Robert Suckale. Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, Berlin 2003, S. 327-360, S. 332. 64 So auch Wolfgang Kemp: Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987, S. 78, in Bezug auf die Fensterrosen: „[...] sie blieben in der Regel reine Schema- oder Diagrammbilder oder verbildlichten Zeit in ihrer überindividuellen Form, als Wandel der Jahreszeiten oder des menschlichen Geschicks ganz allgemein.“ 65 Christel Meier: „Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter“, in: Wolfgang Harms (Hrsg.), Text und Bild, Bild und Text, Stuttgart 1990, S. 35-65 (DFG-Symposion 1988), hier S. 37/38. Zum oft etwas gedankenlosen Gebrauch des Begriffs des ‚narrativen‘ oder ‚erzählerischen‘ in der Kunstgeschichtsschreibung siehe: Eberhard König: „Buchmalerei – eine narrative Kunst?“, in: Nigel F. Palmer / Hans-Jochen Schiwer (Hrsg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, S. 141-148. 66 Martin Kemp: „Temples of the Body and Temples of the Cosmos: Vision and Visualization in the Vesalian and Copernican Revolutions“, in: Brian Scott Baigrie (Hrsg.), Picturing Knowledge: Historical and Philosophical Problems concerning the use of Art in Science, Toronto 1996, S. 40-85, S. 66: „[...] a different strategy from that of a perspectival picture.“ 67 Kemp (Anm. 66), S. 66.

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complectitur. Quam comprehendendi omnia visendique praesentiam non ex futurarum proventu rerum, sed ex propria deus simplicitate sortitus est.68

Die Einfachheit der göttlichen Natur wird von Pseudo-Dionys neuplatonisch als Kreis bestimmt: [...] quidam aeternus cyclus, per optimum, ex optimo et in optimo et in optimum inenerrabili conversione circuiens, et in eodem et per idipsum et proveniens semper et manens et revolutus.69

Das Diagramm veranschaulicht als „Malerei des Unsichtbaren“70 einen ordo mundi, der nicht nur mit dem körperlichen Auge zu sehen ist, sondern auch als eine Projektion des inneren Auges71 zu verstehen ist. Es zeigt demnach, was hinter der Erscheinung liegt; es ist eine eindringliche, von allen Nebensächlichkeiten abstrahierende Darstellung des Wesenhaften einer Sache,72 das allein aus der sinnlichen Wahrnehmung nicht erkennbar

_____________ 68 De consolatione V.6p, 157-164, S. 272/273: „Denn allem Zukünftigen eilt das göttliche Schauen voraus, wendet es um und ruft es zurück zur Gegenwärtigkeit des eigenen Erkennens und wechselt nicht, wie du meinst, veränderlich bald dies bald jenes Vorhererkennen, sondern beharrend und mit einem Schlage kommt es deinen Veränderungen zuvor und umfaßt sie. Diese Gegenwart, alles zu umfassen und zu erblicken, besitzt Gott nicht vom Ablauf der künftigen Dinge her, sondern aus der Einfachheit seiner eigenen Natur.“ 69 Pseudo-Dionysius Areopagita: De divinis nominibus, übers. v. Johannes Scottus Eriugena, PL 122, Sp. 1136C-1137A Gott ist wie „[...] ein ewiger Kreis, der durch das Beste, aus dem Besten und im Besten in höchster Unfehlbarkeit um und um kreist und in unaussprechlicher Rückkehrbewegung die Kreisform erfüllt.“ Zitiert nach Christel Meier: „Die Quadratur des Kreises. Die Diagrammatik des 12. Jahrhunderts als symbolische Denk- und Darstellungsform“, in: Patschovsky (Anm. 23), S. 23-54, hier S. 38. Siehe auch: Werner Beierwaltes: „Henosis“, in: ders., Denken des Einen (Anm. 53), S. 123-154, hier S. 138ff. 70 So der Titel des überaus erhellenden Aufsatzes von Meier (Anm. 65), in dem die erkenntnistheoretischen Grundlagen mittelalterlicher Diagrammatik dargelegt werden. 71 Siehe L. Kalmár: „Über die ihrem Charakter nach ‚Uniformiter-Difformis‘ Ausdehnung des Triangulums als ‚Muster‘ der Mittelalterlichen Darstellung geschichtlicher Abläufe (Eine Untersuchung über die Koordination der Dreiecksminiatur im ‚Psalterium Decem Cordarum‘ des Joachim de Fiore vom tropologisch-ikonologischen Aspekt aus)“, in: Acta Hist. Hung. 23/1977, S. 57-93. Kalmár untersucht die geschichtsphilosophischen Überlegungen des Zisterzienser-Abtes Joachim von Fiore (†1204) und deren Vermittlung in Form von geometrischen Figuren. Nach Kalmár sind diese Schemata für die Augen des Geistes (mentis oculi) bestimmt. Siehe auch: Gian Luca Poteastà: „Geschichte als Ordnung in der Diagrammatik Joachims von Fiore“, in: Patschovsky (Anm. 23), S. 115146. 72 Diagramme können als visuelle Komprimierungen verstanden werden; um Deutlichkeit zu gewährleisten, konzentrieren sie sich allein auf das Nötigste an bild-

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ist.73 Es handelt sich also nicht um empirisch unmittelbar feststellbare Realitäten, die abgebildet werden können, sondern es wird ein memorativ verankerter Erkenntnisprozeß synoptisch veranschaulicht, der als ein ascensus, als ein Übergang vom Materiellen zum Immateriellen, in einer materialis manuductio per visibilia ad invisibilia74 vonstatten geht. Dieser Prozeß erfordert eine Entsprechung in der Wahrnehmung des Menschen. „Die diagrammatische Tafel, das aufgezeichnete Konzeptpanorama verkehren das innere Sehen der Mnemotechnik in ein äußeres.“75 Das äußere, das körperliche Auge ist in der Räumlichkeit und der Gegenwärtigkeit eingebunden, das Diagramm ist in der Lage, zeitübergreifend Bilder des inneren, geistigen Auges76 zu bieten, und liefert damit die visuelle Manifestation komplexer Gedankengänge und Zusammenhänge,77 die wiederum nur auf der Basis memorierter Texteinheiten wirksam werden können.78 Bezieht man dies nun wieder direkt auf die Consolatio, dann wird durch das Rad-Diagramm aus Montecassino eine Visualisierung, ein quasi göttlicher Blick auf einen Text vermittelt, der nicht den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen ist. Das Diagramm liefert eine Idee von der überzeitlichen Sicht Gottes, wie Boethius sie selbst beschrieben hat: „Quae sint, quae fuerint veniantque, / Uno mentis cernit in ictu.“79

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lich-graphischer Präsenz. Dazu: Ulrike Maria Bonhoff: Das Diagramm. Kunsthistorische Betrachtung über seine vielfältige Anwendung von der Antike bis zur Neuzeit, Münster 1993, S. 40. Bert S. Hall: „The Didactic and the Elegant: Some Thoughts of Scientific and Technological Illustrations in the Middle Ages and Renaissance“, in: Brian Scott Baigrie (Hrsg.), Picturing Knowledge: Historical and Philosophical Problems concerning the use of Art in Science, Toronto 1996, S. 3-39, hier S. 9. Johannes Scotus Eriugena: Expositiones in ierarchiam Coelestem, CCSL 31, I 506, S. 15. Dazu: Meier (Anm. 65), S. 39. Renate Lachmann: „Kultursemiotischer Prospekt“, in: Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hrsg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. XVII-XXVI, hier S. XXII. Zum inneren Auge: Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter, 2 Bde., Münster 1985, bes. Bd. 2, S. 931ff. Bonhoff (Anm. 72), S. 2: „Das Diagramm als graphische Darstellung breitet vor unseren Augen aus, was sprachlich nur mit erheblichem Aufwand als Kette von Feststellungen beschrieben werden kann. Es veranschaulicht dabei nicht sichtbare, sondern zeitliche oder logische Zusammenhänge, die mit einem Blick abgelesen werden können.“ Dazu: Mary Carruthers: „Moving Images in the Mind’s Eye“, in: Jeffrey F. Hamburger / Anne-Marie Bouché (Hrsg.) (Anm. 10), S. 287-305. De consolatione V.3c, 11-12, S. 236/237: „Das, was ist, was war und was sein wird, / Faßt er mit Einem Blick seines Geistes.“

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Auch der Mensch ist in eingeschränktem Maße zu einer solchen Sicht fähig. Zu Beginn von De vanitate mundi unterscheidet Hugo von St. Viktor (†1141) zwischen dem oculus carnis und dem oculus cordis, zwischen körperlichem und geistigem Auge; das Sehen des inneren Sehorgans ist dem körperlichen Sehen80 weit überlegen: Habes alium oculum intus multo clariorum isto, qui praeterita, praesentia et futura simul respicit, qui suae visionis lumen et aciem per cuncta diffundit, qui occulta penetrat, subtilia investigat, luce aliena ad videndum non indigens, sed sua ac propria luce prospiciens.81

Dem Betrachter wird im Prozeß des verstehenden Sehens eine Ahnung der göttlichen Erkenntnis vermittelt, er nähert sich dem Guten im Zuge des ascensus an, das Gute wird verinnerlicht, und es kann eintreten, was Boethius im 3. Buch behauptet: „Omnis igitur beatus deus. Et natura quidem unus; participatione vero nihil prohibet esse quam plurimos.“82 In der Regel sind Diagramme einem Text vor- oder nachgestellt, manchmal stehen sie allerdings auch für sich, ohne jeden Text. In der Montecassiner Handschrift jedoch ist das Diagramm einer Reihe von mathematischen Texten nachgestellt, auf die es sich nicht unmittelbar bezieht. Es verweist vielmehr auf eine Schrift, die dem Betrachter nicht unmittelbar vorliegt, die aber als so bekannt vorausgesetzt wird, daß der Leser/Betrachter sie mit Hilfe der diagrammatischen Schrift- und Bildstruktur in einem Maße vergegenwärtigen kann, als hätte er sie vor sich liegen. Die Consolatio ist in einem Maße verdichtet und präsent, das über das sukzessive Lesen und Verstehen von Text hinausgeht. Die komplexe Struktur der Trostschrift wird in einem Blick83 erfaßt, der als visio

_____________ 80 Michael Camille: „Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practises of Seeing“, in: Robert S. Nelson (Hrsg.), Visuality Before and Beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw, Cambridge 2000, S. 197-223. 81 Hugo von St. Viktor: De vanitate mundi, PL 176, 703C-704B: „Du hast im Inneren ein anderes, diesem an Klarheit weit überlegenes Auge, das das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige gleichzeitig wahrnimmt, das seines Schauens Licht und Sehkraft über Alles ausgießt, das Verborgenes durchdringt, dem sich Entziehenden nachgeht und zum Sehen eines fremden Lichtes nicht bedarf, sondern kraft seines eigenen Lichtes wahrnimmt.“ Dazu: Karl Müller: „Zur Mystik Hugos von St. Viktor“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 45, N.F. 8/1927, S. 175189, bes. 182ff. 82 De consolatione, III.10p, 93-95; S.136/137: „Jeder Glückselige ist Gott. Von Natur gibt es allerdings nur einen einzigen; doch nichts hindert, daß es durch Teilnahme so viele wie möglich gibt.“ 83 Ludwig M. Eichinger: „Vor Augen geführt bekommen. Text-Bild-Kombinationen als Merkhilfen“, in: Klaus Dirscherl (Hrsg.), Bild und Text im Dialog, Passau 1993, S. 429-449 (PINK, Passauer Interdisziplinäre Kolloquien, Bd. 3), hier S. 429: „Dem Bild kann man auf den ersten Blick ansehen, worum es geht, seine

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intellectualis der visio dei84 nahekommt;85 Voraussetzung dafür ist die tiefe meditative Verankerung des Textes im Gedächtnis sowohl des Künstlers als auch des Betrachters.86 Fol. 73v aus Montecassino zeigt noch eine weitere Besonderheit: Von deutlich späterer Hand87 wurde die oben nur kurz erwähnte Königsformel88 eingefügt, die zudem mit den Buchstaben – a, b, c, d – versehen ist. Damit ist ihre Lesefolge vorgeben und eine weiterer Hexameter geschaffen: regno, regnavi, regnabo, sum sine regno, was vermutlich als eine Anpassung an die anderen Hexameter anzusehen ist. Diese Reihung

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Gleichzeitigkeit erlaubt uns ‚Einsicht‘, wo der Abfolge des geschriebenen Textes erst gefolgt sein will, um zur Einsicht zu kommen.“ Zur visio intellectualis: David Ganz: Medien der Offenbarung. Visionsdarstellungen im Mittelalter, Berlin 2008, S. 9-23. Zur viso Dei Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, bes. S. 103-112: „visio dei“. Alois M. Haas: „Unio mystica. Hinweise zur Geschichte des Begriffs“, in: Dietmar Pfeil / Michael Schilling / Peter Strohschneider / Wolfgang Frühwald (Hrsg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, S. 1-17. In dem Traktat De visione Dei des Nikolaus von Kues wird, ausgehend von einer bildlichen Darstellung, das Wesen Gottes im Rahmen einer geometrischen Argumentation sichtbar. Dazu: Michel De Certeau: „Nikolaus Cusanus. Das Geheimnis eines Blicks“, in: Volker Bohn (Hrsg.), Bildlichkeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 325-353, bes. 329ff. Ernst (Anm. 22), hier S. 95: „Betrachtet man zunächst das höchste Wesen Gott, so gehen die Kirchenschriftsteller davon aus, daß in seinem Verstande alles präsent ist.“ Dieses „geteilte“ Gedächtnis ist überindividuell und kann als kulturelles Gedächtnis bezeichnet werden. Dazu: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 19: „Individuen und Kulturen bauen ihr Gedächtnis interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen auf. Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speichermedien und kultureller Praktiken.“ Hier hat sich wohl ein späterer Leser des Buches, der die allgemeinen Darstellungen der Fortunaräder mit den Tituli kannte, veranlaßt gesehen, diese vervollständigend nachzutragen. Pickering (1966), wie Anm. 5, S. 125, streicht die Prägnanz dieser Formulierung heraus: „So deutlich auch das große Rad der Fortuna in dem Boethiustext vorgebildet ist, es war ein genialer Einfall irgendeines Künstlers des frühen 12. Jahrhunderts, die Moral der dynastischen Geschichte durch vier Könige (Könige aber schon in dem Text) agieren zu lassen und die drei Zeitformen des Verbums regno durch eine Null-Form (sum sine regno) zu supplieren.“ Pickering unterteilt sehr schematisch die mittelalterliche Geschichtsbetrachtung in eine profane, an Boethius orientierte, dynastische, zyklische Geschichte und eine an Augustinus orientierte Heilsgeschichte: Pickering (1966), wie Anm. 5, S. 65, Kap. F, 112-145, sowie Pickering (1967 und 1976), beide wie Anm. 5.

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entspricht nicht einer Lesart, die durch die Drehrichtung des Rades und die zeitliche Folge bestimmt ist: regno, regnavi, sum sine regno und regnabo – ich herrsche, ich habe geherrscht, ich bin ohne Herrschaft, ich werde herrschen. Das oberste regno zeigt die gleiche Zeitstufe wie das unterste sum sine regno. Von einem Moment auf den andern kann alles verloren sein, im Augenblick der Herrschaft ist auch ihr Verlust präsent. Dieser Aspekt wird auch durch das die Kreismitte des Diagramms in oben und unten teilende Begriffspaar prosperitates und adversitates betont. Dieser Anordnung entsprechen auch die Figuren am Rad – oben der reich gewandete König, unten der aller Besitztümer verlustig gegangene, fast nackte Mensch. Die an der Horizontalen sich orientierenden Begriffe regnabo und regnavi entsprechen der Zukunft und der Vergangenheit, die aber angesichts der dominanten Vertikalen von regno – sum sine regno eine verminderte Bedeutung zu haben scheinen; so fragt denn Augustin listig: „Duo ergo illa tempora, praeteritum et futurum, quomodo sunt, quando et praeteritum iam non ‚est‘ et futurum nondum ‚est‘.“89 Die Zeitspannen, auch die gewesenen und die zukünftigen, müssen jedoch auch nach Augustin für den Menschen existieren; als seelische Erfahrung müssen sie in der Gegenwart existieren, und sie müssen, um gemessen werden zu können, eine Art Ausdehnung aufweisen. Als diese Ausdehnung kann die horizontale, den inneren Kreis teilende Linie angesehen werden. Möglicherweise findet sich in der Königsformel mit der starken Betonung der Gegenwart eine Reflexion antiker Zeittheorie, insbesondere der Augustins in Buch XI der Confessiones.90 Die verwendeten Stammformen des Verbums regnare erinnern sehr an die Konjugation der Verben im Lateinunterricht: Regno, regnavi, regnatum, regnare, die durch ihre Rhythmisierung leicht zu memorieren sind. An eben diese Reihung scheint sich die Königsformel anzulehnen, eine Vermutung, die durch die Tatsache, daß die Consolatio ein Basistext der mittelalterlichen Bildung auf jedem Niveau gewesen ist, unterstützt wird. Anhand der Formel wurde zunächst das Fortunarad im Gedächtnis aktiviert und dann

_____________ 89 Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse, zweisprachige Ausgabe; aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, Confessiones, XI, 14.17, S. 628/629: „Diese beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ‚ist‘, das Zukünftige noch nicht ‚ist‘?“ Das Jetzt als „Grenze zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht“ zeigt sich in der distentio animi. Diese distentio animi ist die Ausdehnung, die der Geist vollziehen kann, indem er in der Erinnerung und in der Erwartung Punkte fixiert, zwischen denen er messen kann. Zeit ist nach Augustin ein seelisches Vermögen; Confessiones, XI. 20 ff. 90 Dazu: Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 1993.

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konnte als nächstes der detaillierte Text der Consolatio hervorgeholt werden. Doch die Formel veranschaulicht auch eine andere Bedeutungsebene des Rades: die Zeit, und zwar die göttliche wie die menschliche. Wiederum bietet sich dem Betrachter in quasi göttlicher Schau die umfassende Wahrnehmung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Gott ist [...] causa igitur est omnium. Eodem modo causa temporum tempora movet, ipsa vero a nullo in nullo tempore movetur. Est enim plus quam tempus et plus quam motus. Non est locus igitur neque tempus.91

Die zeitliche Komponente ist einerseits in der Kreisstruktur als göttliches, überzeitliches Sehen aufgelöst, andererseits wird sie für den menschlichen Erfahrungsbereich durch die unterschiedlichen Positionen der Figuren am Rad angezeigt und durch die Formel nochmals verstärkt. Der Kreis ist ein Bild der Ewigkeit, in dem nach Bernardus Silvestris (Mitte 12. Jh.) alle Zeitebenen zusammenfallen: „[...] eternitatis imago tempus.“92 Durch die Anschaulichkeit der sprachlichen Konsekution der Königsformel ist die Verschränkung von Ewigkeit und andauernder Zeitlichkeit des weltlichen Geschehens zum Ausdruck gekommen: „[...] Platonem sequentes deum quidem aeternum, mundum vero dicamus esse perpetuum.“93 Der Verlauf des Schicksals drückt sich in der Veränderung und in der Zeit aus. Die Formel vereinfacht die Lesbarkeit des Diagramms unter Beibehaltung der philosophisch-theologischen Komplexität im Sinne eines mehrfachen Deutungssinns. Die Bestimmung der Figuren als irdische Könige verleiht dem Schema eine unmittelbare, zeitverbundene Eindeutigkeit, die dem Fortunarad im Rahmen der mittelalterlichen Ikonographie die universelle Verständlichkeit und Anwendbarkeit ermöglicht hat. Auch ein König ist der Macht des Schicksals unterworfen, auch die höchste irdische Macht kann alles verlieren. Das Rad des Schicksals, der Fortuna, dreht sich ohne Ansehen der Person. Die existentielle Erfahrung von Verlust wird ständeübergreifend veranschaulicht und hebt angesichts katastrophaler Ereignisse und Leiderfahrung für einen Moment soziale Unterschiede auf. Durch die Königsformel konnte ein Fortunarad auch ohne die genaue Textkenntnis der Consolatio verstanden werden.

_____________ 91 Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon (De divisione naturae), Inglis P. SheldonWilliams / L. Bieler (Hrsg.), Dublin 1981, I, 1. c. 96-98: Gott „[...] ist die Ursache aller Dinge, er bewegt als Ursache der Zeiten die Zeiten, er selbst wird aber von keiner Zeit und in keiner bewegt. Er ist nämlich mehr als Zeit und mehr als Bewegung. Folglich ist er weder Ort noch Zeit.“ Siehe auch nochmals Boethius, De consolatione V.3c, 11-12, S. 236/237 (Anm. 79). 92 Bernardus Silvestris: Cosmographia, Peter Dronke (Hrsg.), Leiden 1978, I 4, 13. S.119: „Das Abbild der Ewigkeit ist die Zeit.“ 93 De consolatione V.6p, 58-60, S. 266/267: „[...] so wollen wir, Platon folgend, Gott zwar ewig, die Welt aber dauernd nennen.“

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Matthias Vollmer

Die figuralen Elemente, die bislang die Initiale auf die unterschiedlichste Weise ausgefüllt haben, sind nun außerhalb der die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehenden Grundform, eben des Kreises, angebracht. Diagramm und Elemente der Initialgestaltung sind einander angenähert,94 in der Synopse werden die Begriffe und die als imagines agentes agierenden Figuren erkenntnisstiftend und erkenntniserweiternd verschmolzen. Die Verbindung von visio dei und veranschaulichtem Leiden entspricht exakt den Maßgaben der Mnemonik. Die Figuren bewegen sich nicht nur, sie sind auch bewegend, das meditative Element verbindet sich mit dem affektiven.95 Die kosmische Dimension des Diagramms erfährt durch die sich abkämpfenden Figuren am Rad die unmittelbare Einbindung in den Bereich menschlicher Erfahrung.96 Die philosophische Reflexion wird wieder in den Bereich existentieller Schicksalsbedingtheit hereingeholt, und eine der Grundfragen der Consolatio wird präsent: „Si quidem deus [...], est, unde mala? Bona vero unde, si non est?“97 Die Frage nach dem Leiden ist durch die unter dem Rad liegende Figur verkörpert, doch sie ist auch hier tröstend im Sinne des Boethius zu beantworten: Die Erkenntnis des wahren Guten und das Einswerden mit ihm im kosmischen Gesamtplan läßt das Böse verschwinden. Diese Antwort ist, ebenso wie in der Consolatio, verbunden mit einem Akt kontemplativer Welterkenntnis, welcher die Leiderfahrung aufheben will und zu einem Mangel an philosophischer Reflexion herabmindern möchte. Das Schicksalsrad übernimmt damit stellvertretend für die hier nicht gezeigte Glücksgöttin die Funktion einer Theodizee-Verhinderung.98 Da die Übel in der Welt

_____________ 94 Eine direkte Verbindung von Initiale, Diagramm und nachfolgendem Text findet sich in Roberts von Grosseteste De sphera (kurz nach 1215) in Oxford, Bodleian Library, Laud Misc. 644 (S.C. 1487) Bayeux, ca. 1268-1274, fol. 143r- 147, hier fol. 143r. Aus dem oberen Abschluß einer I-Initale wächst leicht nach links versetzt ein Sphärendiagramm heraus. Dazu: Kathrin Müller: „Formen des Anfangs. Sphärendiagramme aus dem 13. Jahrhundert“, in: Birgit Schneider (Hrsg.), Diagramme und bildtextile Ordnungen, Berlin 2005, S. 85-96 (Horst Bredekamp / Gabriele Werner (Hrsg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 3.1). 95 Vgl.: Jean-Philippe Antoine: „Ars memoriae – Rhetorik der Figuren, Rücksicht auf Darstellbarkeit und die Grenzen des Textes“, in: Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a. M. 1991, S. 53-73, bes. 54f sowie 66f. 96 Sie wirken darüber hinaus auch als imagines agentes, welche die Aufmerksamkeit des Betrachters anregen und als Memorierhilfe dienen. 97 De consolatione, I.4p, 96-102; S. 20-22: „Gibt es einen Gott, woher das Übel? Gibt es keinen, woher das Gute?“ 98 Stefan Lorenz: „Theodizee“, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel 1971-2007, Bd. 10, Sp. 1066-1073.

Das Bild vor Augen – den Text im Kopf

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allein unter der Herrschaft der Fortuna ihre Wirksamkeit entfalten und somit auf einem Irrtum, d.h. mangelnder Einsicht, beruhen, werden sie, genau wie Fortuna selbst, im Moment der Erkenntnis obsolet. Fortuna als Verkörperung von falschem Glück und nichtigem Leid dient allein dazu zu zeigen, daß sie, die Glücksgöttin, und nicht ein guter Gott für die Übel in der Welt verantwortlich ist. Das Denkmodell der Fortuna ist ein pädagogisch intendierter und nützlicher Irrtum, dessen argumentative Aufhebung eine mögliche Theodizeefrage unnötig erscheinen läßt. Wie kam es nun zur Einfügung der Illustration in diese Sammelhandschrift? Um dies zu erklären, sei ein wenig Spekulation gestattet: Nach Niederschrift der beiden mathematischen Traktate ist es, wie oben schon einmal angeführt, einem künstlerisch begabten Mönch aufgefallen, daß es in diesem Zusammenhang einen anderen Text einer der beiden soeben gelesenen Autoritäten gibt, der sich in den Kontext nicht nur einfügt, sondern ihn beträchtlich erweitert, nämlich De Consolatione Philosophiae des Boethius. Dieser Mönch zeichnete nach einem ersten Anlauf auf fol. 73r das durch Inschriften erweiterte Radschema auf fol. 73v, das unmißverständlich den abwesenden, aber wichtigen Text im Gedächtnis des Lesers oder auch des Vorlesenden evozieren sollte. Ob der Zeichner auch der Autor der Schriftzeilen gewesen ist, kann nicht gesagt werden. Die Hexameter und die Begriffe aus der Consolatio schaffen im Verein mit dem Bild ein dichtes, diagrammatisches Verweissystem, das dem gebildeten Leser den philosophischen Text in allen wichtigen Abschnitten, gerade auch mit den komplexen metaphysischen Implikationen, vergegenwärtigen konnte. Der Text, auf den sich das Schema bezieht, ist zwar nicht da, aber er ist vor dem geistigen Auge des gelehrten Betrachters so präsent, als hätte er ihn wirklich vor sich. Ein späterer Benutzer setzte dann noch einmal die Königsformel in die Zeichnung auf fol. 73v ein, welche der hohen Abstraktionsstufe des Schemas eine etwas anschaulichere, lebensnähere Komponente verlieh und auf einer unmittelbareren Ebene das Gesamtkonzept unterstützte. Die Bildidee des mittelalterlichen Fortunarades ist nun eigentlich komplett, allein die Person der Glücksgöttin ist noch nicht ins Bild gesetzt. Das Radschema von Montecassino ist weit mehr als ein Fortunarad. Es ist einerseits ein Lesezeichen, ein Literaturhinweis, der nach der Lektüre von De arithmetica auf ein weiteres Werk desselben Autors verweist. Es ist darüber hinaus ein visuelles, textsubstituierendes Denk- und Gedächtnisbild, das einen komplexen philosophischen Text detailliert in Erinnerung ruft, ihn gleichzeitig in eine analoge99 Struktur überträgt und durch

_____________ 99 Von Einem (Anm. 62), S. 23, geht davon aus, daß allein die Kreisfigur in circulum analoge Begriffe anschaulich zu ordnen vermag. Analogie kann als Bezeichnung

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Matthias Vollmer

die synoptische100 Visualisierung einer Denkbewegung seinen Erkenntnischarakter erweitert. Es handelt sich hier um ein Wissens-Bild, das gelesen und nicht betrachtet werden soll. Nahezu alle späteren Fortunaräder weisen die gleiche Grundstruktur auf wie diese früheste Darstellung aus Montecassino, oft ist die Glücksgöttin selbst noch gezeigt. Prinzipiell kann jedes Glücksrad so verstanden werden, wie hier dargelegt; die Einbindung in den Rahmen des klösterlichen kommunikativen Gedächtnisses läßt diese Interpretation zu. Das Glücksrad kann in seiner Funktion als textsubstituierendes Zeichen lektüre- und damit auch erkenntniserweiternd wirksam werden. Es kann als Kommentar zu dem Text begriffen werden, dem es zwar zur Seite gestellt ist, auf den es jedoch nicht unmittelbar verweist.101 Die Mehrzahl der Fortunaräder sind nicht etwa als Illustrationen der Consolatio selbst beigefügt, sondern finden sich in anderen, weiteren Kontexten, die nicht immer eine so intensive Bildlektüre erfordern wie hier gezeigt. Im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ist das Rad der Fortuna zu einem Zeichen des kulturellen Gedächtnisses geworden, das weitaus häufiger betrachtet als gelesen wurde.

_____________ für Verhältnis und Ähnlichkeit verstanden werden. Von Platon (Timaios, 69b) wurde die Analogie als kosmisches Strukturprinzip begriffen, mittels dessen Gott die Dinge so ordnet, daß sie analog und ebenmäßig sind. Dazu: Kluxen, Wolfgang: „Analogie I“ in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel 1971-2007, Bd. 1, Sp. 214-230, hier Sp. 215/216. 100 Die anschaulichen Vorzüge eines synoptischen Schemas gegenüber einem Text betont auch Elizabeth Sears: The Ages of Man. Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton, New Jersey 1986, S. 19: „The lengthy text was thus summarized, reduced to a single figure.“ Sowie: Felix Thürlemann: Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln 1990, S. 182: „Das Diagramm, auch ‚Schema‘ genannt, ist eine Diskursform, die darauf abzielt, Strukturen der Inhaltsebene auf der Ausdrucksebene möglichst direkt darzustellen.“ 101 Weitere Beispiele, die diese Lesart unterstützen in: Matthias Vollmer: Fortuna Diagrammatica. Das Rad der Fortuna als bildhafte Verschlüsselung der Schrift ‚De Consolatione Philosophiae‘ des Boethius, Frankfurt a. M. u.a. 2009.

Das Bild vor Augen – den Text im Kopf

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Abb. 1: Sammelhandschrift aus Montecassino, fol. 73r, L’Abbazia di Montecassino, Codex Cas. 189. © L’Abbazia di Montecassino.

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Abb. 2: Sammelhandschrift aus Montecassino, fol. 73v, L’Abbazia di Montecassino, Codex Cas. 189. © L’Abbazia di Montecassino.

The Catalan Tradition of Boethius’s De consolatione: A New Hypothesis FRANCESCA ZIINO (Pavia)1 A Catalan version of Boethius’s The Consolation of Philosophy was made by Pere Saplana around 1360, and revised by Antoni Ginebreda around 1390. Unfortunately, the original version by Saplana is apparently lost. However, a philological analysis of the contents of one of the Hebrew versions of Boethius’s work, examined by Mauro Zonta, suggests that Saplana’s version was at least partially known to the Hebrew translator of Boethius, Shemuel Benveniste, who might have employed it for his own work. After having examined some important passages of the beginning of these translations, the article ends with a tentative stemma of the textual history of the “Catalan Boethius”.

In 14th and 15th century Spain, Boethius’s De consolatione philosophiae won a noteworthy success both in its Latin text and in its vernacular translations. In the kingdom of Aragon we find three Catalan translations of this work after 1350, and two at least of these translations spread outside the Catalan area, being retranslated into Castilian, Latin and even Hebrew. The textual history of the Catalan Boethius is, therefore, quite complex, and many questions are still to be solved. In recent article published in Carmina Philosophiae,2 I examined some aspects of two Catalan translations, i.e., their relationship with the tradition of Latin commentary on the Consolatio: now this is a short note on their connection with a Hebrew translation of the Consolatio, in the light of some new hypotheses.

_____________ 1

2

This article is a reprinted version, with some slight alterations, of the article appeared in Carmina Philosophiae 10/2001: p. 31-38. Although still valid, it would need a more detailed revision according to some new data (see in particular note 4 below). I hope to have time to do this in the near future. Many thanks to Mauro Zonta for having inserted into the Appendix the Hebrew passages and having translated them into English. See F. Ziino, “Some Vernacular Versions of Boethius’s De Consolatione Philosophiae in Medieval Spain: Notes on their Relationship with the Commentary Tradition”, Carmina Philosophiae 7/1998: p. 37-65; reprinted with an addenda in New Directions in Boethian Studies, edited by N.H. Kaylor, Jr. and P.E. Phillips (Studies in Medieval Culture XLV), Kalamazoo 2007: p. 83-107. I refer to this article for all bibliographical information and further data.

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According to the current opinion, the first Catalan translation was made by the Dominican friar Pere Saplana from Tarragona. He dedicated it to Prince James of Mayorca, while the latter was in prison at the command of King Peter IV of Aragon, at Barcelona, around 1360. Saplana said he used a commentary on the Consolatio by Thomas Aquinas, so that his translation is more a “translation-commentary”, i.e. an expanded paraphrase of the original text, rather than a literal version. The complete text of Saplana’s version is apparently lost, apart from the dedicatory letter to James.3 Saplana’s version was revised by an anonymous author, and a short part of this revision (from the prologue to the middle of Book I, met. 4) is still preserved in the MS Barcelona, Arxiu de la Corona d’Aragò, Ripoll 113.4 Moreover, we have what is probably a complete Castilian version of the revised text, made or copied in 1436 by Pedro de Valladolid, a servant of King John of Navarre (later John II of Aragon). It is preserved in the MS Madrid, Biblioteca Nacional, 10193, and, as I have shown in my edition of it, the relevant passages of the text of this Castilian version correspond to the Ripoll fragment. As a matter of fact, both Madrid and Ripoll texts have not been taken into account as faithful witnesses of Saplana, but I will show that they deserve more credit. Another Catalan translation of Boethius was made by the Dominican Antoni Ginebreda, who says he used a previous translation of Boethius, addressed to a Prince of Mayorca; but, as the latter was incomplete, lacking the history of Theodoric in the preface, the table of contents and some parts of Book V, he decided to revise and complete it. The general consensus is that Ginebreda used Saplana’s version. As a matter of fact, there is a strong similarity between the two versions, but also many differences. Ginebreda’s version had a good fortune, both in the direct and in the indirect tradition. We have nine manuscripts5 and at least one 15th-

_____________ 3

4

5

The only one manuscript which surely included it was once found in the Library of the Monastery of Montserrat, but only a short description and some passages of it (including the letter to James) are still extant. About this, see Ziino, “Some Vernacular Versions”, reprinted version, p. 103-104, notes 16-17. However, the complete Catalan text of this revision is apparently preserved in the MS Cervera, Arxiu Històric, Boeci 2 (BITECA 2780). This manuscript seems to have been written down in the period 1390-1430 and is very damaged (some folios of it are missing). I have not yet had time to examine this manuscript directly, but I have recently found these informations via Internet (http://sunsite.berkeley.edu/Philobiblon/BITECA/2780.html). Seven extant manuscripts are listed in Ziino, “Some Vernacular Versions”, reprinted version, p. 85. An eighth complete copy of the text is found in MS Munich, BSB, Hisp. 145: see J. Perarnau i Espelt, “El Boeci català complet de Munic (BSB, Hisp. 145)”, Arxiu de texts catalans antics 25/2006: p. 453-460. Finally, a

Catalan Tradition of Boethius

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century edition, as well as a manuscript and four early prints of some Castilian translations of it. Finally, another indirect witness of the Catalan Boethius exists: it is a Hebrew version of the Consolatio, composed by Samuel Benveniste in 1412 at Asentiu near Balaguer in Catalonia. Its complete text is preserved in an unique MS (St. Petersburg, Oriental Institute, B 18), and has been studied by Mauro Zonta in a recent article.6 Benveniste says that he translated the text from a vernacular version that he might have already seen twenty years before;7 a quick perusal of his translation shows its close relationship to Saplana’s and Ginebreda’s versions. The most debated question about the Catalan tradition has been, up to now, how much Ginebreda’s revision affected Saplana’s text. Let us see the relevant lines of Ginebreda’s preface, quoted from the MS Berkeley, Bancroft Library, UCB 160, f.1r: “Since in the said exposition [i.e. the translation by Saplana] there were many faults (deffaliments) and since the said translator left (leixà) the fourth and fifth proses and the third and fourth metres of Book V and, at the beginning of the book, the history of Theodoric, Boethius’s persecution, (the explication) of the title of the book and the index were not found, and inside the work there were many faults, I was asked by Bernat Johan, noble man of Valencia, [...] to correct the said faults, so that such an important work would not remain incomplete.”

What is the meaning of Ginebreda’s words? Did he revise Saplana’s text, or did he simply insert some parts which were lacking in it? In order to answer to this question, one has to remark first that in the supposed Castilian version of the revised text of Saplana’s translation (MS Madrid, 10193) the relevant parts of Book V are present, although in a different form if compared to Ginebreda’s. Moreover, a historical prologue is found also in the Madrid text, although it is remarkably different by Ginebreda’s: Ginebreda speaks estensively of Theodoric’s and Boethius’s history, and substantially reproduces the preface of the Latin commentary on the Consolatio written around 1300 by Nicholas Trevet; on the contrary, the

_____________

6

7

ninth fragmentary manuscript (MS Sevilla, Biblioteca Colombina, 5-5-26, ff. 121132) is described in L. Cifuentes, “La promociò intellectual i social dels barberscirurgians a la Barcelona medieval: L’obrador, la biblioteca i els béns de Joan Vicenç (fl. 1421-1464)”, Arxiu de texts catalans antics 19/2000: p. 429-479, on p. 458. M. Zonta, “Le origini letterarie e filosofiche delle versioni ebraiche del De consolatione philosophiae di Boezio”, in Hebraica. Miscellanea di studi in onore di Sergio J. Sierra per il suo 75° compleanno, a cura di F. Israel, A.M. Rabello, A.M. Somekh, Torino, 5759/1998: p. 571-604 (reprinted in this book). About this, see Zonta, “Le origini letterarie e filosofiche delle versioni ebraiche”, p. 577 and 585.

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prologue of the Madrid MS is quite short, it does not deal with Theodoric’s biography, and it reproduces the prologue of the Latin commentary by William of Aragon, a physician and writer living in Aragon about the end of the 13th century. Now, a detailed and hitherto neglected comparison between Ripoll, Madrid, Ginebreda and Benveniste will clarify – I hope – the extent of Ginebreda’s revision, and the obscure points of the textual history of the Catalan Boethius. First of all, one has to notice that the structure of the Hebrew translation is rather singular. After Benveniste’s own preface, the text begins with a preface which reproduces the “prolech” of Ginebreda’s version, i.e. the history of Theodoric and of Boethius’s persecution, together with the explication of the title of the book and of the seven names of the author. Then, there is a table of the contents of each metre and prose of the text, which looks like an abridged version of Ginebreda’s table. This should account for a dependence of Benveniste from Ginebreda; but some further elements are at variance with that. After this preface, we find the text of Saplana’s dedicatory letter to James of Mayorca, which is preceded by the formula: “So said the vernacular translator.” It seems that this formula would mark the beginning of the actual text of the translation. As a matter of fact, after the letter we find another preface, which reproduces the “prolech” of Saplana’s version as found in the Ripoll and Madrid MSS (see Appendix, n. 1).8 So, which is the text translated by Benveniste? Ginebreda or Saplana? A perusal of the Hebrew text shows that, in general, it closely follows Saplana’s text as we read it in the fragment of Ripoll and in the Madrid MS; but, here and there, it completes Saplana with passages taken from Ginebreda. Where each Catalan version gives a totally different text, Benveniste reproduces Saplana’s text: this is the case of the allegorical explanation of the two letters, P and T, depicted on the robe of Lady Philosophy in Book I, prose 1, in which the Hebrew text and Madrid share the same interpretation as “principius” and “terminus”, while Ginebreda reads them as “pratica” and “theorica” (see Appendix, n. 2). Going on with the text, we find that, where Ginebreda has some passages which are not found in Saplana, Benveniste inserts these passages only in 60 percent of the cases (11 out of 18, according to my inquiry), sometimes “mixing” Ginebreda’s passages with sentences found in Madrid. On the contrary, when Saplana has a more complete text, Benveniste always reproduces it.

_____________ 8

About the structure of Benveniste’s Hebrew translation, see M. Zonta, La filosofia antica nel Medioevo ebraico, (Philosophica 2), Brescia 1996, p. 265.

Catalan Tradition of Boethius

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However, a decisive solution to this question is given by the situation of Book V. In that book, where, in proses 4-5 and metres 3-5, the difference between Ginebreda and Saplana is patent and each text develops in an almost totally different way, Benveniste almost always translates Saplana’s version as we read it in the Madrid MS. As a matter of fact, Benveniste shows not to ignore Ginebreda’s version: in a case (prose 4th), he quotes a passage from Ginebreda, marking it as an insertion from a different text into his main source; thereafter, he writes that he will put what corresponds to Ginebreda’s version “at the end of the text.” In facts, at the end of Book V of the Hebrew translation, we find some passages from Ginebreda, preceded by the formula: “other passages from the book which were outside (the text) above.” It should be noticed that the Hebrew term ½iÈÈuniyyot used here by Benveniste with regard to these passages might be meant as “passages missing in the text”, as well as “marginal glosses appended to the text.” The above data might give evidence for the hypothesis that Benveniste used, as a source for his translation, a Catalan manuscript of Saplana’s version which had, at the beginning and in the margins, some long extracts from Ginebreda’s (if not his version as a whole). Benveniste might have chosen to integrate into his text only the historical preface and some passages here and there, lacking in Saplana, but he mantained Saplana as his main source. I might even infer that such a manuscript constituted one of the first stages in the development of Ginebreda’s text, a sort of “correction” of Saplana’s. Later the copyists probably inserted Ginebreda’s alternative readings and passages into the text, so substituting Saplana’s original wording (see Appendix, n. 3). Moreover, the witness of Benveniste has a substantial importance for a correct assessment of some aspects of the Catalan tradition. Generally, it was thought that the Ripoll text and Madrid’s Castilian version were the result of a mere revision of Saplana; and the fact that Book V is missing in Ripoll made it difficult to assess which parts of it, as found in Madrid MS, were also found in Saplana’s original text, and which parts are only an innovation by the Castilian translator. Now the Hebrew version allows us to date the variant readings of Madrid in Book V back to the Catalan original, and not before 1391 – which might have been, accoding to the preface of Benveniste, the date when he first came into possession of the Catalan Boethius he used. This early date might also account for a close relationship between Benveniste’s source and the autograph text of Ginebreda’s, which is usually dated back to 1390. The above tentative conclusions might be strenghtened by a complete collation of the Hebrew text, which appears to be of the utmost impor-

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tance for the reconstruction of Saplana’s original version, and I hope to be able to report more evidence about that in the next future.9

Appendix A. Structures of the different texts Catalan translation by Pere Saplana, MS Montserrat (lost)

Castilian translation of Saplana’s translation, MS Madrid, B.N., 10193

Hebrew translation from the Catalan, by Samuel Benveniste, MS St. Petersburg, Oriental Institute, B 18 Dedicatory Preface by the preface by GiHebrew translanebreda: Per ço tor: Book of Boeci, com lo libre de by the sage... Consolaciò de Boeci Boethius, one of the es fort necessari a sages of Rome, recrear los homens translated into the qui son en tribuHoly language...10 laciò... Historical proHistorical prologue: Per ço com logue: In order to lo libre seguent, lo know perfectly the qual ffeu lo glorios meaning of this doctor Boeci, sia book, which the millor entes... prince, the excellent sage Boethius, composed...11

Catalan translation by Antoni Ginebreda, MS Berkeley, Bancroft Library, UCB 160

_____________ 9 Mauro Zonta and I are planning to work on a complete collection of these texts. 10 Hebrew text: . 11 Hebrew text: .

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Catalan Tradition of Boethius

Table of contents (divided into chapters)

Table of contents (divided into proses and metres)

Dedicatory letter by Saplana: Molt alt e excellent senyor e molt amable infant en Jacme de Mallorques... Historical prologue: A major e pus perfeta declaracio del dit libre, deveu saber que Boeci...

Historical prologue: A mayor e mas perfecta declaracion del dicho libro es cosa notadora que Boecio…

Text: Io las que solie esser en gran estudi e qui e fet diversos e molts libres e dictats…

Text: Ay mesquino, yo que solia seyer en gran estudio, e que he fechos muchos e diversos dictados…

Text: Io las qui solia esser en gran estudi e qui he fets molts e diversses dictats e molts libres…

Table of contents (divided into proses and metres) Dedicatory letter by Saplana (Said the vernacular translator): Very high and excellent beloved lord ‘infante’ en Jacme de Mayorca...12 Second historical prologue: For a great perfection of the explanation of this said book, it is necessary to know that Boethius...13 Text: Alas! I was diligent at the doors of science with great zeal and I have composed and made many books and many treatises...14

_____________ 12 Hebrew text: 13 Hebrew text: 14 Hebrew text:

. .

.

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B. The different explications of the letters P and T in Book I, prose 1 Catalan revised version of Saplana’s translation, MS Barcelona, Arxiu de la Corona d’Aragò, Ripoll 113 Per les dites letres, ço es P e T, son enteses dues coses, ço es principi e terme, e la un deu esser ab l’altre ca poch valria començar la cosa si no la termenava hom.

_____________ 15 Hebrew text:

.

Castilian translation of Saplana’s revised translation, MS Madrid, B.N., 10193

Catalan translation by Ginebreda, MS Berkeley, Bancroft Library, UCB 160

Por las dos letras P T son entendidas dos cosas, conviene saber, prinçipio e termino, e la una deve seer con la otra ca poco valdria començar la cosa si non la acaba omne.

Per les dues letres, ço es P e T, son enteses dues parts de sciençia, ço es praticha la qual dona conexença manual, que en greguesch es appellada praxis, e comença per P; la segona es speculativa, la qual en greguesch es appellada theoricha e comença per T.

Hebrew translation of the Catalan translation, by Samuel Benveniste, MS St. Petersburg, Oriental Institute, B 18 The two said letters, i.e. R (sic!) and T, are meant as things, i.e. beginning and end, and the one needs to be together with the other, because the usefulness is little when the man begins a thing, if he does not end it.15

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Catalan Tradition of Boethius

C. A tentative stemma textuum of the Catalan tradition of Boethius

1360

S R

1390

SG G

1412

1436

H

M

Legenda: S: Catalan translation by Saplana text of Saplana’s translation with appended “corrections” by GiSG: nebreda G: text of Ginebreda with corrections included into the main text R: text of Saplana’s revised translation as preserved in MSS Barcelona, Arxiu de la Corona d’Aragò, Ripoll 113, and Cervera, Arxiu Històric, Boeci 2 M: Castilian translation of Saplana’s as preserved in ms. Madrid, Biblioteca Nacional, 10193 H: Hebrew translation of SG by Samuel Benveniste (using a text probably dating back to 1390 ca.)

Le origini letterarie e filosofiche delle versioni ebraiche del De Consolatione Philosophiae di Boezio MAURO ZONTA (ROMA) Boethius’s main work, The Consolation of Philosophy, was translated into Hebrew twice: in 1412, in Catalogna, by the Spanish Jew Shemuel Benveniste, and in 1423, in Italy, by the Italian Jewish translator Bonafoux Bonfil Astruc. The former work, fully preserved in a unique manuscript now in St. Petersbourg, is still unpublished; it is based upon the 14th-century Catalan version of The Consolation of Philosophy, made by Pere Saplana (1360 ca.), as revised by Antoni Ginebreda (1390 ca.). The latter one, preserved in two manuscripts, has been published in 1967 by Sergio Sierra; it is based upon the Latin original text of Boethius’s work, but includes a number of passages apparently taken from two famous Latin Medieval commentaries on it, by Nicholas Trivet and by pseudo-Thomas Aquinas. The article includes a general view of both translations and a detailed examination of the relationship to their sources.

Il De consolatione philosophiae di Anicio Manlio Severino Boezio (circa 480524) rappresentò certamente uno dei più importanti tramiti del pensiero antico nel mondo latino medievale. Opera mista di prosa e di poesia, di filosofia e di letteratura, il De consolatione riscosse, tra il IX e il XV secolo, un vastissimo interesse non solo nelle cerchie filosofiche europee, ma anche nel pubblico dei lettori «profani»: un interesse che fu causa ed effetto insieme delle numerose traduzioni, o meglio «volgarizzamenti» dell’opera nelle lingue delle principali nazioni nascenti nell’Europa del tempo, dall’anglosassone al francese, dal provenzale al catalano e al castigliano, dall’antico tedesco al volgare toscano1. A quest’opera di volgarizzamento non poterono che collaborare anche i filosofi e traduttori ebrei, i quali, specialmente nella Spagna del Quattrocento, si erano posti in un autentico rapporto di emulazione-imitazione nei confronti dei loro contemporanei e conterranei cristiani, ed erano quindi tutt’altro che insensibili alle tendenze del pensiero e della letteratura europea dell’epoca. Questo stimolo filosofico e letterario si tradusse nella redazione, nel breve volgere di un decen-

_____________ 1

Per una rassegna bibliografica in merito, si rimanda a L. Obertello: Severino Boezio (Accademia ligure di scienze e lettere, Collana di monografie 1), vol. II, Genova 1974.

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nio, di ben due versioni ebraiche del De consolatione: la prima venne composta da Shemuel Benveniste presso Balaguer, in Catalogna, nel 1412; la seconda fu opera di ‘Azaryah ben Yosef ben Abba Mari (Bonafoux Bonfil Astruc) e venne redatta a Macerata Feltria e a Pietrarubbia, in Italia, nel 1423. È stato merito proprio del prof. Sergio J. Sierra aver proceduto alla pubblicazione, nel 1967, dell’editio princeps della versione di Astruc2. Tale edizione, per forza di cose, non ha potuto tuttavia soffermarsi in profondità sul complesso problema delle origini dell’opera, la quale, come venne rilevato sia dallo stesso Sierra3, sia da G. Sermoneta4, non è una vera e propria traduzione letterale dello scritto di Boezio, bensì una versione parafrastica, a tratti molto libera, dei suoi contenuti, tanto che non è difficile supporre che sia stata redatta con l’aiuto di qualcuno dei molti commenti latini medievali sul De consolatione. La ricerca su queste origini non è stata ancora ripresa ed approfondita; d’altra parte, rimane ancora inedita la traduzione di Benveniste, fatta sinora oggetto solo di un breve studio, difficilmente reperibile e pressoché ignorato dagli studiosi del settore. Scopo del nostro contributo è dunque quello di ricostruire la genesi delle due versioni ebraiche tardomedievali del De consolatione philosophiae, nel tentativo di stabilire quali furono le loro fonti e quale fu l’uso che ne fecero i due traduttori. I risultati generali della ricerca sono già stati esposti, sinteticamente, in altra sede5; qui si condurrà invece uno studio analitico della documentazione di appoggio alle tesi già esposte, con alcune integrazioni ed approfondimenti. Tale studio darà – crediamo – un’ulteriore conferma dell’ampia conoscenza che, negli ambienti filosofici ebrei spagnoli del Quattrocento, si aveva dei testi del pensiero cristiano, antico e medievale, e quindi dell’ampiezza dei rapporti che intercorrevano tra la cultura ebraica del tempo e l’ambiente circostante.

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3 4 5

Boezio: De Consolatione Philosophiae. Traduzione ebraica di ‘Azaria ben R. Joseph Ibn Abba Mari detto Bonafoux Bonfil Astruc 5183-1423, a cura di S.J. Sierra, TorinoGerusalemme 1967. L’edizione riproduce il testo della versione così come risulta dal manoscritto di Parigi, Bibliothèque Nationale, hébr. 895, completato in alcuni punti grazie al confronto con il manoscritto di Mosca, The Russian State Library, Collez. Ginzburg, n. 181; in ogni caso, le varianti di quest’ultimo codice sono elencate nell’apparato critico dell’edizione, posto alle pp. 143-157 dell’opera. Cfr. Boezio: De Consolatione, ed. Sierra, p. xvii-xviii. Nella recensione del volume di Sierra pubblicata in Rivista degli studi orientali 43/1968, p. 223-229. M. Zonta: La filosofia antica nel Medioevo ebraico. Le traduzioni ebraiche medievali dei testi filosofici antichi, Brescia 1996, p. 262-267.

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1. La traduzione catalano-ebraica di Shemuel Benveniste Che tale Shemuel (ben) Benveniste avesse redatto una versione ebraica del De consolatione philosophiae era già noto ai bibliografi del Sei e del Settecento, da G. Bartolocci a J.Ch. Wolf6; più tardi, nel 1880, I. Ben-Jacob scrisse di averne visto il testo completo in un manoscritto, del quale non diede però la collocazione7. M. Steinschneider, nel suo repertorio delle traduzioni ebraiche medievali8, fondandosi sui dati forniti da Ben-Jacob ipotizzò che la persona di questo traduttore fosse da identificarsi con un dotto medico ebreo di Tarragona, che fu verso il 1350 al servizio del re d’Aragona Pietro IV il Cerimonioso. Fu tuttavia solo nel 1893 che G. Sacerdote segnalò il ritrovamento, in un manoscritto di Roma (si tratta del codice oggi conservato alla Biblioteca Vaticana con la segnatura Neofiti 8)9, di un breve passo (non più che un frammento) di una versione ebraica anonima del De consolatione, che egli ritenne di poter identificare con quella di Benveniste. A questo passo, Sierra dedicò una succinta analisi nell’introduzione alla sua edizione della versione di Astruc10; fu poi G. Vajda, in sede di recensione, a segnalare che il testo completo della traduzione ebraica di Benveniste era sopravvissuto in un manoscritto, che si trova oggi a S. Pietroburgo nella biblioteca dell’Istituto di Orientalistica dell’Accademia delle Scienze di Russia11. Vajda aveva tratto la notizia dalla lettura di un articolo dello studioso russo I. Ginzburg, pubblicato pochissimi anni prima, che per primo aveva identificato i contenuti del manoscritto (il quale, con ogni probabilità, corrisponde a quello brevemente descritto da Ben-Jacob)12. Ed è proprio da quest’ultimo studio che si ricavano le poche informazioni sinora note su questa versione: il nome e alcune notizie biografiche dell’autore (vissuto nel periodo 1390-1412 e quindi non identificabile con

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Cfr. Boezio: De Consolatione, ed. Sierra, p. xxv e note. Y. Ben-Ya‘aqov: O޼ar ha-sefarim, Vilna 1880, p. 340, al numero 1480. M. Steinschneider: Die hebraeischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin 1893 [rist. Graz 1956], § 278, p. 466. 9 G. Sacerdote: “I codici ebraici della Pia Casa de’ Neofiti in Roma”, in: Atti della Reale Accademia dei Lincei. Memorie della classe di scienze morali s. IV, vol. 10/1892, 157-194, alle pp. 163-165. 10 Cfr. Boezio: De Consolatione, ed. Sierra, p. xxiv-xxvii. 11 Cfr. G. Vajda, in: Revue des études juives 128/1969, p. 124-126. 12 I.I. Ginzburg: “EvrejsNaja versija soÿinenija «Ob utešenij filosofiej»” (Una versione ebraica del De consolatione philosophiae), in: .ratkije Soobäÿenija Instituta Narodov Azii 69/1965, p. 114-122. Come viene dichiarato a p. 114, nota 1 del testo, l’articolo riprende le pp. 14-22 della tesi di dottorato dello stesso I. Ginzburg: Sistema etiki Boetsija po ego soÿineniju «Utešenije filosofiej» (Il sistema etico di Boezio nella sua opera De consolatione philosophiae).

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il medico di Pietro IV, bensì, forse, con un suo nipote), nonché la data e il luogo di composizione dell’opera. La notizia più interessante, dal punto di vista storico-letterario, che si ricava dalla breve descrizione di Ginzburg è che la versione di Benveniste venne condotta non sull’originale latino, bensì sulla base di una versione catalana dell’opera13. Ma di quale versione si tratta? La storia della tradizione catalana del De consolatione si presenta estremamente complicata, e non è ancora stata chiarita del tutto dagli specialisti: una parte del materiale relativo è infatti andato perduto, e molti dei testimoni manoscritti superstiti non sono stati ancora studiati con la dovuta attenzione, sicché qualsiasi tentativo di ricostruzione risulterebbe oggi necessariamente provvisorio e incompleto14. La prima versione catalana del De consolatione fu comunque, quasi certamente, il «volgarizzamento» composto tra il 1358 e il 1362 da Pere Plana (o Saplana), un domenicano catalano, e dedicato all’infante Giacomo (IV), nominalmente re di Maiorca ma in realtà, in quegli anni, prigioniero a Barcellona del cugino, il re Pietro d’Aragona. Il testo originale dell’opera, che si leggeva in un manoscritto conservato nella biblioteca del monastero di Montserrat, è probabilmente andato perduto al principio dell’Ottocento; ne resta solo un frammento iniziale, copiato da un erudito dell’ epoca, che comprende appunto la lettera dedicatoria a Giacomo di Maiorca15. In ogni caso, dalle tracce superstiti del testo e dalle affermazioni del suo stesso autore si può ricavare che tale volgarizzamento era una parafrasi del De consolatione, elaborata da Saplana sulla scorta dei due commenti latini medievali dell’opera composti da Nicholas Trivet e dallo pseudoTommaso d’Aquino; questa parafrasi era preceduta, appunto, dalla lettera dedicatoria a Giacomo IV e da un breve prologo, ascritto a Tommaso d’Aquino, che iniziava con le parole: A major e pus perfecta declaraciò del dit libre, deveu saber…, «a maggiore e più perfetta spiegazione di questo libro, dovete sapere…».

_____________ 13 Ginzburg: Evrejskaja versija, p. 119. 14 La bibliografia sulla tradizione catalana medievale del De consolatione è segnalata in Zonta: La filosofia antica, p. 263 n. 14; il saggio più approfondito sull’argomento sinora apparso è J. Riera i Sans: “Sobre la difusiò hispanica de la Consolaciò de Boeci”, in: El crotalòn. Anuario de filología española 1/1984, p. 297-327, dal quale riprendiamo buona parte delle notizie discusse qui innanzi. 15 Riera i Sans: Sobre la difusió, p. 298-299; il testo venne pubblicato per la prima volta in J. Villanueva: Viage literario a las iglesias de España, Tomo xviii (Viage á Barcelona), Madrid 1851, p. 205-6. Tuttavia, il testo completo di una revisione della versione di Saplana potrebbe essere sopravvissuto in un manoscritto non ancora esaminato nei dettagli: cfr. in questo volume l’articolo di F. Ziino, The Catalan Tradition of Boethius’s De consolatione: A New Hypothesis, alla nota 4.

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D’altro canto, di questo volgarizzamento sono sopravvissute diverse rielaborazioni: una di esse, probabilmente la più antica e fedele all’originale, è giunta a noi solo in un breve frammento, pubblicato nel 185716, e in una versione completa in castigliano, tuttora inedita. Ma il più importante e diffuso rifacimento della versione catalana di Saplana fu quello realizzato, su invito del nobile valenzano Bernat Joan, dal domenicano Antoni Ginebreda verso il 1390; rifacimento che viene solitamente considerato come una traduzione a sé stante, e che ebbe a sua volta una storia alquanto intricata. Il testo originale, infatti, sembra essere andato perduto e le redazioni che ne rimangono sono, almeno in parte, il risultato di ulteriori manipolazioni: tale è per esempio il testo edito nel secolo scorso da B. Muntaner17, al quale (data l’indisponibilità di altre edizioni) faremo comunque riferimento nel corso del nostro studio. L’opera di Ginebreda consiste probabilmente in una «correzione» e in una serie di integrazioni del testo di Saplana: Ginebreda stesso, nella prefazione alla sua opera, afferma di essersi limitato a premettere all’opera di Saplana un lungo proemio, che includeva la storia di Teodorico e della persecuzione di Boezio e una spiegazione del titolo dell’opera, e una «tavola» o indice dei contenuti, procedendo inoltre ad alcune correzioni del testo, e in parti colare a colmare le lacune che Saplana aveva lasciato nel tradurre i metri terzo e quarto e le prose quarta e quinta del libro V del De consolatione18. Si presenta, a questo punto, il problema di capire a quale di queste diverse «redazioni» della versione di Ginebreda si rifece Shemuel Benveniste. Per risolvere la questione, occorre riesaminare sistematicamente lo schema e i contenuti della sua versione catalano-ebraica del De consolatione. Dei due manoscritti superstiti dell’opera di Benveniste, il più antico è certamente Neofiti 8. Cartaceo, recentemente restaurato e costituito oggi da 255 fogli, questo codice venne copiato da diverse mani in grafia spagnola del secolo XV. Il colophon dell’ultima opera in esso contenuta (un

_____________ 16 Cfr. P. Bofarull y Mascaró, “Documentos literarios en antigua lengua catalana (siglos XIV y XV), in: Colección de documentos inéditos del Archivo General de la Corona de Aragón 13, Barcelona 1857, p. 395-413. 17 B. Muntaner (ed.): Libre de Consolacio de Philosophia lo qual feu en lati lo glorios Doctor Boeci transladat en romanç catalanesch…, Barcelona 1873-1904. 18 Riera i Sans: Sobre la difusió, p. 309. Ginebreda scrive infatti (secondo ciò che risulta da una traduzione castigliana, unica testimonianza superstite del testo della sua prefazione): E por quanto en la dicha exposición [s’intende, quella di Saplana] avía algunos defectos, especialmente porque el dicho exponedor dexa del quinto libro la quarta e la cinquena prosas e el tercero et el quarto metros: et essomesmo por quanto en el comienço del dicho libro non era la estoria de Theodorico nin la persecución de Boecio nin el titulo del dicho libro, nin essomesmo en el dicho libro non oviesse tabla… porende Bernal Juan… roguó a mi… que yo quiesiesse suplir los dichos defectos…

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Sefer ‫ݾ‬iddušê ޻;L@;N ), copiata da tale Mosheh ben Eli‘ezer ben Manuel, è

datato del 27 kislev 5200 (4 dicembre 1439)19, ed è presumibile – come si ricava dallo studio delle filigrane – che anche il resto del codice sia stato copiato intorno alla metà del Quattrocento. In particolare, la versione ebraica del De consolatione philosophiae occupa i ff. 71v-82v: essa inizia traducendo le prime parole del proemio di Ginebreda20, e si interrompe ex abrupto a metà del testo della prosa I del libro I21 – un’interruzione dovuta certamente alla caduta di uno o più fascicoli del manoscritto22. Purtroppo, il testo della versione è oggi reso pressoché illeggibile dalla corrosione esercitata dall’inchiostro, sicché il codice in questione è ormai di scarsissimo aiuto per lo studio dell’opera. È invece generalmente ben leggibile l’altro testimone superstite: il manoscritto di S. Pietroburgo, Istituto di Orientalistica, B 18. Si tratta di un codice di carta, di 114 fogli scritti in grafia tedesca del secolo XVII: secondo il colophon (f. 113r), il testo venne copiato nel 163123. È dunque quasi esclusivamente sui dati forniti da questo manoscritto che si condurrà l’analisi che segue. Il testo di Shemuel Benveniste si apre al f. 3r del codice con un’introduzione del traduttore ebraico, in prosa rimata, che è assente nel manoscritto di Roma. Dopo le consuete premesse, secondo i canoni della tradizione letteraria ebraica, il traduttore fa il suo primo accenno al De consolatione affermando di essersi imbattuto nel libro e di essersi accorto che sarebbe stato di grande utilità per lui e per gli uomini che erano immersi nell’afflizione e nelle angustie (f. 5r, ll. 19-20: ʤʦʤ ʸʴʱʤ ʩʺʥʠʸʡʥ «ʤʸʶʤʥʸʲʶʡʭʩʩʥʸʹʤʥʬʩʢʸʸʹʠʭʩʹʰʠʬʥʩʬʺʬʲʥʺʤʡʸ); dichiara poi il proprio nome, Shemuel ben Benveniste ben Shemuel ben Benveniste di Barcellona, uno dei «superstiti della strage» (f. 5v, ll. 3-4: ʺʹʰʡʰʡʸʿʡʬʠʥʮʹʩʰʠ

_____________ 19 Cfr. f. 250r, ll. 2-5, e il testo del colophon pubblicato da Sacerdote: I codici ebraici, p. 165. 20 Cfr. f. 71v, l. 6. 21 Cfr. f. 82r, ultima linea, dove si leggono le parole: «ed è allevata al latte della filosofia e grazie ad essa si fortifica e si perfeziona», corrispondenti alle parole nodrida ab let de philosophia, e per aquella es fortificada e acabada del testo di Ginebreda (Libre de Consolacio, ed. Muntaner, p. 21, ll. 10-12). 22 L’analisi codicologica del manoscritto rivela che molti dei fascicoli dei quali esso originariamente si componeva sono andati perduti: per l’esattezza, tali fascicoli erano collocati tra i ff. 58 e 59, 82 e 83, 122 e 123, 136 e 137, 202 e 203 del codice. 23 Ginzburg: Evrejskaja versija, p. 117 n. 4. Per lo studio di questo codice, abbiamo utilizzato la copia microfilmata conservata, sotto il n. 52946, presso l’Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts della Jewish National and University Library di Gerusalemme; ringraziamo la direzione di tale istituto per avercene consentito la consultazione.

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«ʡʸʧʩʡʩʸʹʭʲʧʰʥʬʶʸʡʩʡʹʥʺʮ ʺʹʰʡʰʡ ʯʡʬʿʦʬʠʥʮʹʸʿʡ). Con «strage» egli allude probabilmente alla celebre persecuzione antiebraica scatenata nel regno d’Aragona nel 1391, alla quale Benveniste afferma poi di essere sopravvissuto rifugiandosi in terra straniera (f. 5v, l. 14: …ʧʩʸʫʰ ʵʸʠʡ ʤʩʧʮ ʩʬ ʯʺʩʥ). Egli dovette però essere successivamente tornato in patria, perché – come dichiara più oltre – vent’anni dopo, l’anno della morte del re Martino I d’Aragona (1410), venne gettato in prigione e torturato (ff. 5v-6r). A questo punto, Benveniste passa a spiegare brevemente i motivi, l’oggetto e le modalità della sua traduzione: «ʩʦʢʸʮʭʧʰʺʠʥ«ʩʰʠʰʤʥʥʡʩʺʠʸʷʧʦʧʸʴʱʧʦʠʮʩʺʲʣʩʩʫʥ ʭʧʰʮʥʩʺʠʸʷʩʰʠʥʤʮʧʰʮʩʱʩʠʥʡʥʮʹʠʸʷʰʥ«ʩʸʡʲʯʥʹʬʬʥʤʷʩʺʲʠʥ «ʩʸʥʶʩʬʯʥʠʩʺʠʲʮʥʡʩʫʩʹʴʰʡʩʹʮ ʺʥʠʷʩʺʲʤʬʥʩʦʮʸʺʶʷʹʸʴʮʤʷʩʺʲʮʤʥʣʡʧʮʤʺʥʡʷʲʡʩʺʫʬʤʥ ʸʡʣʤʭʲʨʣʱʴʺʥʯʩʰʲʤʺʸʥʶʤʰʺʹʺʠʬʸʹʠʬʫʤʡʩʺʡʤʡʩʺʺʥʠʡ «ʯʩʰʲʤʺʰʡʤʣʠʮʸʥʮʹʬʺʥʬʮʤʠʬʭʩʮʲʨʤʸʮʥʹʩʰʠʺʥʮʥʷʮʺʶʷʡʥ «E giacché conoscevo fin d’allora [probabilmente, da prima del 1391] questo libro, l’ho letto e ne ho tratto piacere… e mi sono consolato delle mie afflizioni… e l’ho tradotto in lingua ebraica… Si chiama «Boeci sulla consolazione», ma io l’ho chiamato «Consolatore della mia anima», perché in esso ho trovato conforto… E ho proceduto tra le tortuosità allusive dell’autore e del traduttorecommentatore, traducendo lettera per lettera, parola per parola, così che non si alterasse la forma del contenuto e non si corrompesse il senso del discorso; ma in alcuni luoghi ho conservato il contenuto, non le parole, per consentire la comprensione del significato…» (ff. 6r, ultima linea – 6v, l. 14).

Segue poi un’interessante annotazione relativa alla traduzione di alcuni «termini tecnici» del De consolatione, che si carica di significati filosoficoideologici (sembra infatti alludere ad un ripudio delle dottrine astrologiche): ʯʮʣʦʤʤʥ ʬʦʮʤ ʺʫʸʲʮʤ ʬʲ ʥʩʸʡʣʡ ʤʸʥʮʤ ʧʰʥʨʸʥʴ ʭʹ ʩʺʷʺʲʤʥ …ʺʥʩʺʮʠ ʠʬ ʺʥʮʥʣʮ ʺʥʲʸ ʥʠ ʺʥʡʥʨ ʭʣʠʬ ʺʥʩʤʬ «E ho tradotto il vocabolo «fortuna», che designa nelle sue parole [scil. di Boezio] la costellazione, con «la fortuna e il caso» perché l’uomo ha beni o mali immaginari e non reali…». (f. 6v, ll. 15-16).

Con il f. 7r inizia il testo della traduzione vera e propria: essa si apre con una «premessa» che riprende alla lettera il «prologo» (prolech) della versione catalana di Ginebreda (ed è qui, come si è detto, che inizia anche il frammento conservato nel manoscritto di Roma). Ne pubblichiamo qui le prime righe, confrontandole con il testo della loro fonte: ʩʱʩʠʥʡ ʤʬʥʲʮʤ ʭʫʧʤ ʸʹʤ ʸʡʧʹ ʤʦʤ ʸʴʱʧ ʯʩʰʲ ʺʲʣ ʯʲʮʬ ʤʮʣʷʤ ʧʰʠʩʹ ʭʣʠʬ ʷʩʴʱʮ ʸʺʥʩʤ ʭʲʨʤʥ ʤʮʥʶʲ ʸʺʥʩʤ ʤʰʲʨʤʹ ʩʴʬ ʺʥʮʩʬʹʡ ʠʨʧ ʠʬʡ ʺʥʸʶʥ ʺʥʡʸ ʺʥʲʸ ʥʤʥʠʶʠʺ ʸʹʠʫ ʭʤ ʥʸʲʶʥ ʥʩʰʲ ʬʲ ʢʠʣʩʥ ʸʹʠ ʹʨʥʢ ʪʬʮ ʷʿʩʸʥʣʠʩʨ ʸʥʴʱ ʤʴ ʧʩʰʤʬ ʩʥʠʸʤ ʯʮ ʯʥʲ ʠʬʡ ʯʩʸʥʱʩʰ

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ʩʥʠʸ ʯʫʬʥ .ʭʫʧʤ ʤʦ ʢʥʸʤʬ ʯʫ ʸʧʠʥ ʸʮʹʮʡ ʭʩʹʬ ʤʥʶ ʥʺʥʩʸʦʫʠʬ ʺʰʩʣʮ ʯʥʠʢʤ ʹʥʴʬʥʷʸʴʬ ʭʩʮʩʤ ʩʸʡʣ ʸʴʱʡ ʡʥʺʫ ʠʶʮʰʹ ʥʲʣʺʹ ʠʥʤ … ʥʣʥʠʩʨ ʥʩʡʠ ʭʲ ʷʩʸʥʣʥʠʩʨʹ ʸʧʠʥ ʩʹʩʮʧ ʷʬʧʡ ʤʠʩʥʥʹʩʬ ʤʡ ʺʡʹʬʥ ʣʥʮʲʬ ʥʬʫʥʩʹ ʭʩʮʩ ʺʡʧʸ ʤʡʥʨ ʵʸʠ ʹʷʡʬ …ʥʫʬʤ ʥʩʹʰʠʥ ʬʫ ʭʲ ʥʫʬʩʥ …ʭʩʡʸ ʭʩʥʢ ʥʹʩʬʧʤ ʤʩʥʨʰ ʲʥʸʦʡʥ ʤʠʩʰʥʰʴʮ ʥʹʸʥʢ ʩʫ ʺʥʸʱʩʷʥ ʤʬʹʮʮʡ ʪʬʮ ʤʩʤ ʦʠ ʤʡ ʥʣʮʲʩʥ ʷʩʸʥʬʠ ʺʰʩʣʮʬ ʭʬʩʧ ʥʰʩʦ .ʥʿʲʺ ʺʰʹʡ ʥʿʹʩ ʧʩʹʮʤ ʺʥʮ ʩʸʧʠ ʪʥʬʮʬ ʬʩʧʺʤʹ ʥʰʩʦ ʧʸʦʮʤ ʥʩʬʠ ʠʡʩʹ ʭʩʧʥʬʹ ʥʬ ʧʬʹ ʤʦ ʷʩʸʥʣʥʠʩʨ ʺʧʬʶʤ ʤʠʸ ʩʫ ʸʫʦʰʤ ʭʩʰʹ ʸʹʲ ʥʿʠʩʬ ʸʹʤ ʸʱʠʮʡ ʥʣʩʮʲʤʹ ʸʧʠ ʯʩʰʲ ʤʦ ʩʠʡ ʸʥʫʦʩʹʥ ʷʩʸʥʣʥʠʩʨ ʯʫʡʥ ʥʩʡʠʬ ʥʧʬʹ ʣʥʡʫ ʤʮʫʡʥ ʥʰʩʦ ʭʹʮ ʥʠʩʶʥʤ ʪʩʠʥ …ʤʮʥʸ ʪʬʤ ʤʠʸʩʥ ʣʧʴ ʩʬʡ ʭʥʬʹʡʥ ʺʧʰʡ Apparato:24 ʯʩʰʲ N] – SP; ʸʡʧʹ N] + ʸʹʤ SP; ʹʨʥʢ scripsi] ʨʹʥʢ SP; ʤʠʩʥʥʹʩʬ scripsi] ʤʠʩʰʥʹʩʠ SP; ʤʠʩʢʥʰʴʮ scripsi] ʤʠʩʠʥʸʴʮ SP; ʯʫʡʥ N] – SP. Ms. di San Pietroburgo, Istituto di Orientalistica, B 18, f. 7r, ll. 1-19 Premessa. Per una completa conoscenza del senso di questo libro, composto dall’illustre sapiente Boezio, giacché la ragione più forte e il motivo più sufficiente che ha un uomo di piangere e addolorarsi per la sua miseria e le sue angustie è quando molti mali e afflizioni lo colpiscono senza peccato e senza colpa, è opportuno porre qui il racconto di Teodorico re dei Goti il quale per la sua crudeltà ordinò di mettere in prigione e poi di uccidere questo sapiente. Per questo bisogna che sappiate che si trova scritto nella cronaca di Friculfo ga’on della città di Lexovia, nella parte quinta: e dopo che Teodorico con suo padre Teodo…25, egli e i suoi uomini andarono… a cercare una terra buona e ampia dove potessero soggiornare, perché erano stati cacciati dalla Pannonia, e con la forza soggiogarono molti popoli … e andarono con tutto il loro esercito nella città di Illirico, dove si accamparono.

Libre de Consolacio de Philosophia, ed. Muntaner, pp. 5, l. 7-6, l. 11 Per ço que lo libre seguent,lo qual feu lo glorios doctor Boeci, sia mils entes com la major raho quel hom ha da planyer sa miseria es com sens colpa ha hom tribulacio,

per tal coue posar aci la istoria de Theodorich rey del Gots lo qual per la sua gran iniquitat feu metre en preso e puys ociure aquest doctor. E per ço deuets saber que segons que recita Freculphus bispe de Lexovia en lo cinque libre de les sues istories, que despuys que Teodorich son gitat de Pannonia ab son pare Theodomir, ell e les sues gens anaren a cerchar terra en que poguessen estar, e per força darmes subjugaren molta gent e van se posar ab tot lur estol en una ciudad la qual es appellada Illirich en la qual se aturaren.

_____________ 24 Sigle impiegate nell’apparato: N = ms. Roma, Biblioteca Apostolica Vaticana, neofiti 8; SP = ms. S. Pietroburgo, Biblioteca dell’Istituto di Orientalistica, B 18. 25 Lacuna nel testo?

Le origini delle versione ebraiche

Era allora re nell’impero d’Oriente Zenone, che cominciò a regnare, dopo la morte di Gesù Cristo, l’anno 476. Il suddetto Zenone, poiché aveva visto il successo di questo Teodorico, gli mandò messaggeri che si recarono da lui e gli ricordarono in qual modo, dopo che lo aveva tenuto in carcere il principe Leone per dieci anni, Zenone lo aveva fatto uscire di lì, e con quanto onore lo aveva rimandato da suo padre. Dunque, Teodorico in pace e senza timore venne a Roma…

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E ladonchs tenia lo imperi oriental Zeno, lo qual comença de regnar apres la passio de Jhesuchrist lany cccclxxvi: aquest Zeno, conexent la prosperitat e proesa daquest Theodorich trames li missatgers que vingues a ell, e que li membras sots quina forma com un princep qui erat appellat Leho lo hagues ben x anys tengut presoner ab quanta honor lo hagues trames a son pare. Adonchs Theodorich sens tota pahor vench en Roma…

La traduzione, quasi sempre molto letterale, di questo «prologo» continua, nel codice di S. Pietroburgo, sino al f. 8v, l. 16, e si chiude con le parole: «… perché era in un’isola vicina a quel luogo», corrispondenti alle ultime parole del testo catalano:… ell vehent qui era en una illa prop de aquella (Libre de Consolacio, ed. Muntaner, p. 9, ll. 29-30). Inizia, a questo punto, la traduzione ebraica di una seconda «premessa», intesa a dare una spiegazione dei sette nomi dell’autore (Anicius Manlius Boëtius Exconsul Ordinarius Patricius). Anche questo passo riprende alla lettera – benché con una breve omissione iniziale – il passo corrispondente del testo della versione di Ginebreda, secondo l’edizione di Muntaner: ʬʲʭʩʸʥʮʤʤʦʤʸʴʱʤʸʡʧʮʤʸʹʬʠʸʷʰʺʥʮʹʤʲʡʹʤʮʣʷʤ ʩʺʬʡʥʺʥʺʩʧʴʩʬʡʥʠʱʥʮʩʬʡʨʡʥʮʹʩʱʩʡʠʠʸʷʰʯʥʹʠʸʤʥʺʥʮʩʬʹ ʱʥʮʭʥʹʥʬʩʴʤʠʬʥʺʥʺʩʧʴʭʥʹʥʤʧʶʰʠʬʭʬʥʲʬʩʫʧʶʥʰʮ Ms. di S. Pietroburgo, f. 8v, ll. 17-20

Libre de Consolacio, p. 10, ll. 9-13

Premessa dei sette nomi che si danno al principe che ha composto questo libro, e che indicano la sua perfezione. Il primo: è chiamato «Avici», che significa «senza macchia» o «senza vizio» e «invitto», perché mai lo vinse alcun vizio, né cadde su di lui alcuna macchia.

En aquest titol son posats vii noms del dit doctor, per los quals son enteses les sues prerogatiues, com primerament ell es appellat Auici qui vol dir sens vici o no vençut, com james per negun viçi no poch esser vençut.

Alla traduzione di questo passo segue, ai ff. 9v-14v, la «tavola» o indice dell’opera, che riporta brevi riassunti di ciascuna delle parti (prose e metri) nelle quali si divide il testo boeziano. Si noti tuttavia che, nel testo edito della versione catalana, questa «tavola» si legge invece alla fine dell’opera; inoltre, Benveniste dà, di ciascun riassunto, un testo più breve, omettendo

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tra l’altro le citazioni degli incipit di ogni prosa e metro. Ecco dunque le prime linee della «tavola» nella traduzione ebraica: ʤʶʩʬʮʤ .ʭʩʸʥʴʱ ʤʹʹʬʥ ʺʥʶʩʬʮ ʲʡʹʬ ʷʬʧʰ ʯʥʹʠʸʤ ʷʬʧʤ ʭʩʮʲʨ ʩʺʹ ʧʩʰʤʥ ʥʸʲʶʥ ʥʮʥʩ ʩʹʥʷ ʩʱʩʠʥʡ ʤʫʡ ʪʩʠ ʤʡ ʸʴʱʩ ʤʰʥʹʠʸʤ ʡʥʺʫʩ ʤʺʲʥ ʸʡʲ ʯʮʦʡ ʺʥʧʡʹʺʥ ʺʥʸʩʹ ʸʡʧʮ ʤʩʤʹ ʣʧʠʧ .ʥʡʠʫʬ ʸʥʴʱʤ .ʥʩʲʸʥ ʥʩʬʠʥʢ ʭʤ ʤʷʰʠʥ ʩʫʡ ʤʧʰʠʥ ʯʥʢʩ ʩʫ ʩʰʹʤ .ʤʢʤʥ ʭʩʰʩʷ .ʠʩʩʴʥʱʥʬʩʴʤ ʠʩʤʥ ʥʮʧʰʬ ʤʮʫʧ ʤʹʠ ʥʬ ʤʺʠʸʰ ʪʩʠ ʥʡ Apparato: ʤʡ N] ʥʡ SP. Ms. di S. Pietroburgo, f. 9r, ll. 1-7

La prima parte si divide in sette metri e sei prose. Nel primo metro racconta come Boezio pianga la sua miseria e tribolazione, e dà due motivi del suo dolore: il primo, che egli aveva composto poesie e canti di lode nel tempo passato, e ora scriveva lamenti e sospiri; il secondo, che il dolore, il lamento e il pianto erano i suoi (soli) compagni.

Nella prima prosa si racconta come gli fosse apparsa una donna sapiente, ed era la filosofia.

Libre de Consolacio, pp. 259, l. 6-260, l. 7 Aci comença la taula del primer libre de la Consolacio de Philosophia, lo qual es partit en vii metres e vi proses. En lo primer metre tracta sots quina forma Boeci plora son treball, e dona vi rahons de son plor: la primera per tal com ell hauia acostumat de fer dictats graciosos, e ara hauiels a ser dolorosos en los primers versos; la segona raho que solament tristor era sa companya; la tercera que aço que hauia apres mentre era jouelo aconsolaua; la quarta que per la dita tristor era enuellit; la quinta que mentre hauia bon temps era tots jorns malat, e ara com era trist no podia morir; la vi era que fos amichs qui tant lo hauien loat lo hauien enganat… En la primera prosa recita que com ell fos axi desconsolat li apparech una dona la qual era philosophia…

Al termine della «tavola», nella versione di Benveniste, si legge una traduzione della lettera dedicatoria della versione catalana a Giacomo di Maiorca. Stranamente, la versione ebraica di questa lettera è preceduta dalla formula amar ha-ma‘tiq ha-lo‘ez, «disse il traduttore in volgare» – quasi che la parte precedente non fosse anch’essa una traduzione del volgarizzamento catalano. In realtà, tutto il passo seguente della versione di Benveniste (e che si legge, nel ms. di S. Pietroburgo, ai ff. 14v, l. 15 – 16v, l. 8) è in parte dissimile dal testo di Ginebreda pubblicato da Muntaner, e

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Le origini delle versione ebraiche

presenta invece alcune importanti analogie con i pochi frammenti superstiti del testo originale della versione di Saplana. Le prime linee della lettera, nella versione di Benveniste, recitano: ʩʰʠ ʟʠʷʣʥʩʮʣ ʩʮʷʢʰʩʠ ʸʲʰʤ ʡʤʠʰʤ ʯʥʣʠʤ ʣʠʮ ʤʡʢʥ ʠʹʰʥ ʭʥʸʩ ʣʠʮ ʳʥʱʫʠʹ ʤʮ ʪʮʲʥ ʪʩʰʴʬ ʺʬʥʫʩʥ ʧʫ ʩʡ ʯʩʠʹ ʲʣʥʩ ʩʺʥʩʤʡ ʪʣʡʲ ʪʮʮ ʭʩʰʴ ʸʺʱʮʡ ʪʺʸʹʬ ʩʺʸʮʠʥ ʩʺʡʹʧ ,ʪʩʺʥʸʶʡ ʪʮʧʰʬ ʬʫʥʠ ʯʲʮʬ .ʤʠʩʸʷʡ ʭʧʰʺʤʬ ʬʫʥʺ ʺʰʢʥʤ ʤʡʩʺʫʡ Ms. di S. Pietroburgo, ff. 14v, ll. 15-20 (Benveniste)

Libre de Consolacio, p. 3, ll. 1-8 (Ginebreda)

Riera i Sans, Sobre la difusió cit., p. 299, ll. 4-8 (Saplana)

Molto eccelso ed elevato ed amato signore infante en Jacme de Mayorca : giacché io tuo servo so di non aver la possibilità di essere con te, benché io desideri molto di consolarti nelle tue tribolazioni,

Molt alt e poderos e e carament amable senyor infant en Jacme de Malorcha : yo servidor vostre desijant que pogues esser present ab vos per ço queus consolas en vostres tribulacions,

Molt alt e excellent senyor e molt amable infant en Jacme de Mallorques. Jo vehén que ab vos

ho pensato di servirti in mia assenza con uno scritto decente leggendo il quale tu possa consolarti.

la qual cosa no mes leguda, em pensat que en absencia vos servescha per honest scriptura en la qual vos puxats consolar.

no puc esser present, la qual cosa desig molt per ço que us pogués aconçolar en vostras tribulacions, m’he pensat que en absència vos servescha per escriptura, en la qual vos pugau aconsolar en vostres tribulacions.

Il testo della lettera è seguito da un passo che racconta la storia di Boezio, del libro e della sua famiglia: passo che, nel testo edito da Muntaner, si trova invece, in forma parzialmente diversa, dopo la «storia di Teodorico», benché si abbia motivo di credere che, nella versione originale di Ginebreda (e, prima, in quella di Saplana), si leggesse subito dopo la dedicatoria. Non a caso, le prime linee del passo corrispondono esattamente al superstite frammento corrispondente della versione di Saplana: ʸʹ ʤʩʤ ʩʱʩʠʥʡʹ ʺʲʣʬ ʩʥʠʸ ʸʫʦʰʤ ʤʦʤ ʸʴʱʤ ʸʥʠʩʡ ʺʥʮʬʹ ʺʬʥʣʢʬ …ʤʮʥʸ ʺʰʩʣʮ ʩʡʥʹʧ ʯʩʡ ʣʠʮ ʣʡʫʰʥ ʤʬʥʲʮ Ms. di S. Pietroburgo, f. 15v, ll. 4-6

Riera i Sans, Sobre la difusió cit., 299

A maggior perfezione della spiegazione

A major e pus perfeta declaració del dit libre,

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del detto libro, bisogna sapere che Boezio era un principe molto alto e onorato tra i maggiorenti della città di Roma…

deveu saber que Boeci fo baró molt noble entre los romans…

Le parole seguenti, in effetti, si rivelano pressoché identiche a quelle che si leggono nel corrispondente brano della traduzione castigliana della più antica e fedele rielaborazione della versione di Saplana (conservata oggi nel ms. di Madrid, Biblioteca Nacional, n. 10193). Si confronti, a titolo di esempio, questo breve passo: ʤʶʴʧ ʹʴʰʡʥ ʭʬʹ ʡʬʡ ʤʶʸʺʰ ʤʰʩʣʮʤ ʨʬʮ ʯʲʮʬ ʸʫʦʰʤ ʩʬʠʮʥ ʠʸʩ ʩʫ ʸʹʠ ʹʩʥ ʸʥʧʠ ʢʥʱʰ ʥʱʥʱ ʩʫ ʥʺʥʠʸʡʯ .ʤʫʥʺʬ ʥʮʶʲ ʪʩʬʹʤʬ ʹʠʸ ʥʡ ʤʱʫʩʥ ʤʩʬʲʮ ʭʹ ʤʺʩʤ ʤʡʥʹʧ ʤʹʠ ʬʩʲʮ ʧʷʬ ʥʣʢʰʬ ʪʸʣʤ ʩʬʠʮ ʸʩʲʤ ʨʬʮ ʯʫʡʥ .ʸʢʱʰʥ ʧʺʴʤ ʭʺʱʰ ʦʠʥ .ʤʫʥʺʡ ʢʬʣ ʤʫʫʥ ʥʱʥʱ .ʥʩʠʶʠʶ ʥʮʮʥʸʺʰ ʤʦ ʸʥʡʲʡʥ .ʸʫʦʰʤ ʨʠʷʸʥʨ Ms. di S. Pietroburgo, f. 15v, ll. 14-20

Ms. di Madrid, n. 10193, f. 7r26

Il detto Manlio (Malli), per salvare la città, acconsentì di buon grado a lanciarsi dentro; e quando vide che il suo cavallo recalcitrava perché vedeva la strada davanti a sé, prese il manto di una donna nobile che era là e con esso coprì la testa del suo cavallo, e così saltò dentro, e allora l’apertura si riempì e si chiuse. Così la città fu salvata dal detto Manlio Torquato (Malli Torqat), e per questo furono esaltati i suoi discendenti.

E el dicho Malli por restaurar toda la dicha çibdat se quiso lançar de dentro; e quando vio refusar su caballo, tomo un manto de una noble dueña que era alli e pusole sobre la cabeça del cavallo e bien asi salto de dentro, e tantoste la abertura se junto e se çerro. E asi fue la dicha çibdat librada por el dicho Malli Torquat por la qual cosa fueron ensalçados los romanos e los sus subçesores27.

Finalmente, terminato questo ultimo «proemio», al f. 16v, l. 9 ha inizio il testo vero e proprio della traduzione del De consolatione; testo che appare per lo più conforme alla redazione della versione di Ginebreda edita da

_____________ 26 Il brano in questione è stato pubblicato da R.G. Keightley: “Boethius in Spain: A Classified Checklist of Early Translations”, in A.J. Minnis (ed.): The Medieval Boethius. Studies in the Vernacular Translations of De Consolatione Philosophiae, Cambridge 1987, p. 169-187, p. 183 n. 21. 27 L’episodio qui narrato si legge, in forma però più breve e in un luogo differente, anche nell’edizione Muntaner della versione di Ginebreda: cfr. Libre de Consolacio, ed. Muntaner, pp. 10, l. 27 - 11, l. 2 (lo dit Malli dix que ell si deuia lançar com per les grands noblees que los seus havien setes en Roma a ell se pertanyia, e armat per tal com lo cauall duptaua posali en lo cap un mantell de una noble dona e salta en lo pou…).

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Muntaner, e che termina al f. 109v, ll. 9-11, dove si legge il colophon del traduttore: ʸʩʢʠʬʡ ʬʥʡʢʡ ʸʹʠ ʡʩʨʰʩʹʠ ʸʴʫʡ ʩʸʱʠʮʡ ʸʴʱʤ ʺʷʺʲʤ ʤʮʬʹʰ .ʨʸʴʬ ʡʿʲʷ ʺʰʹ ʯʥʩʱ ʹʣʧʬ «Ho terminato la traduzione del libro mentre ero prigioniero nel villaggio di Asentíu28 che si trova nel distretto di Balaguer, […]29 del mese di sivan dell’anno 5172 (= maggio-giugno 1412)».

Anche nel testo del De consolatione tradotto da Benveniste, tuttavia, non si rileva sempre una perfetta corrispondenza con la versione di Ginebreda – almeno, non nella forma in cui quest’ultima è giunta sino a noi nei manoscritti e nelle edizioni. La versione di Benveniste omette alcuni passi, corrispondenti in buona parte proprio alle prose quarta e quinta e al metro quarto del libro V del De consolatione: sostanzialmente, si tratta degli stessi passi che, secondo la testimonianza di Ginebreda, mancavano dal testo originale della versione di Saplana. I passi in questione vengono però aggiunti dal traduttore dopo il colophon, in una serie di apposite «appendici», sotto il titolo di nus‫;ݾ‬ºIN ;‫ݾ‬eLIN G?-B;-M?@?L B;-‫ݾ‬i޼޼OHCSSIN le-G;¹F;B, «altri passi del libro esclusi (dal testo) qui sopra». Tali passi presentano le seguenti corrispondenze con il testo di Ginebreda nell’edizione di Muntaner: ms. di S. Pietroburgo, ff. 109v, l. 12 – 110v, l. 6 = Libre de Consolacio, ed. Muntaner, p. 237, l. 26 ss. (libro V, prosa 4); ms. di S. Pietroburgo, ff. 110v, l. 8 – 112 v, l. 8 = Libre de Consolacio, ed. Muntaner, pp. 240, l. 23 – 246, l. 24 (libro V, prosa 4, metro 4 e prosa 5); ms. di S. Pietroburgo, ff. 112v, l. 10 – 113r, l. 7 = Libre de Consolacio, ed. Muntaner, pp. 250, l. 5 – 251, l. 7 (libro V, metro 5); ms. di S. Pietroburgo, ff. 113r, ll. 9 – 17 = Libre de Consolacio, ed. Muntaner, p. 252, ll. 11 – 23 (libro V, metro 5).

Non sembra azzardato concludere, dai dati che abbiamo or ora esaminato, che la fonte letteraria impiegata da Shemuel Benveniste fosse proprio la primitiva redazione, andata poi perduta30, della versione catalana del De consolatione redatta da Antoni Ginebreda. Infatti, da quanto affermato dallo

_____________ 28 Si tratta di una piccola frazione del municipio di Bellcaire, nella provincia spagnola di Lerida: cfr. Enciclopedia universal ilustrada europeo-americana, vol. VI, Madrid s.d., p. 621. 29 Manca l’indicazione del giorno. 30 Cfr. Riera i Sans: Sobre la difusió, p. 308. Per tutta la questione si veda, in questo volume, Ziino, The Catalan Tradition.

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stesso Ginebreda31 si arguisce che questa redazione primitiva era costituita dal testo della versione di Saplana, cui erano stati però aggiunti, all’inizio, prima della lettera dedicatoria, la «storia di Teodorico», la spiegazione del titolo dell’opera e la «tavola» dei contenuti, e, alla fine, le integrazioni dei passi mancanti del libro V del De consolatione. Ora, si noti che la versione ebraica di Benveniste è l’unico testimone superstite che presenti esattamente questa disposizione delle diverse parti del testo, mentre in tutti gli altri testimoni della versione di Ginebreda, manoscritti e a stampa, la struttura del testo si presenta rielaborata: in particolare, la lettera dedicatoria è spostata all’inizio dell’opera, e i passi del libro V aggiunti da Ginebreda si trovano già inseriti al loro posto, nel corpo del testo32. Inoltre, come si è visto, in più punti il testo di Benveniste appare molto più vicino a quello di Saplana che al testo di Ginebreda edito da Muntaner: segno – a nostro giudizio – del fatto che Benveniste stava impiegando proprio la redazione originale di quest’ultimo, che si limitava presumibilmente a completare la versione di Saplana senza alterarne la struttura. È dunque probabile che Shemuel Benveniste, al momento di redigere la sua versione, avesse tra le mani, se non il testo autografo di Ginebreda, almeno una sua copia diretta. D’altra parte, se si accetta l’ipotesi che il testo di Boezio sul quale Benveniste, nel 1412, condusse la sua traduzione fosse effettivamente lo stesso che egli aveva visto più di vent’anni prima, prima della persecuzione del 1391 – come si potrebbe desumere dall’ «introduzione» che abbiamo tradotto sopra – la cosa diventa perfettamente plausibile: nel 1391, infatti, Ginebreda aveva probabilmente appena completato la stesura della sua versione (redatta forse nel corso dell’anno 1390)33, e sarebbe quindi perfettamente comprensibile che, a quella data, Benveniste potesse disporre di una delle prime copie dell’opera, non ancora «manipolata» da copisti e lettori. Se è così, la tradizione ebraica ci offre, con la versione di Benveniste, uno strumento davvero prezioso per ricostruire una tappa, rimasta sinora in ombra, della storia della tradizione tardomedievale di uno dei più fortunati scritti filosofici dell’antichità.

2. La versione latino-ebraica di Bonafoux Astruc Se la versione di Shemuel Benveniste rappresenta la traduzione letterale in lingua ebraica di un volgarizzamento catalano del De consolatione, la

_____________ 31 Cfr. qui sopra, nota 18. 32 Cfr., a proposito delle diverse «redazioni» superstiti della versione di Ginebreda, Riera i Sans: Sobre la difusió, p. 318-324; Keightley: Boethius, p. 175-184. 33 Riera i Sans: Sobre la difusió, p. 315.

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versione di Bonafoux Astruc è invece essa stessa un autentico «volgarizzamento» ebraico dello scritto di Boezio, dove il testo della fonte è parafrasato con l’aggiunta di numerosi excursus storico-filosofici e reso in un linguaggio letterariamente raffinato, farcito di citazioni e allusioni al testo biblico. Bonafoux Astruc era anch’egli originario della Catalogna: cacciatone in seguito alle persecuzioni antiebraiche che avevano colpito Benveniste, si era rifugiato prima a Perpignano e poi in Italia centro-meridionale; qui fu attivo, probabilmente come medico, alla corte di vari prìncipi, tra il 1420 e il 1450 circa34. Già Sierra, nella sua edizione, accennò ad alcuni degli aspetti più interessanti della traduzione di Astruc: l’introduzione del traduttore35, la presenza di numerosi termini e glosse latine o comunque romanze36, le integrazioni e le rielaborazioni del testo originale. È soprattutto su queste ultime che intendiamo soffermarci ora, al fine di risolvere il problema delle fonti letterario-filosofiche dell’opera. Anticipando le conclusioni che emergeranno dai dati presentati e analizzati qui di seguito, crediamo di poter affermare che le fonti impiegate da Bonafoux Astruc per redigere la sua versione furono almeno tre: 1. il testo originale latino. In molti punti, infatti, la versione di Astruc coincide letteralmente con il testo di Boezio, sicché è da escludere che egli abbia conosciuto l’opera solo attraverso un volgarizzamento medievale (per solito, molto libero rispetto all’originale); 2. il commento latino sul De consolatione composto dal domenicano inglese Nicholas Trivet negli ultimissimi anni del secolo XIII, che ebbe grandissima diffusione nel corso del Trecento37;

_____________

34 Per i pochi dati bio-bibliografici relativi a Bonafoux Astruc, cfr. Boezio: De consolatione, ed. Sierra, p. xi-xv. Ad essi va aggiunto che Astruc fu autore, a Civitanova Marche nel 1426, di una traduzione del Libro delle malattie dei bambini di #?N, «più onorevole, nobile», renda esattamente il latino nobilior. 14. Libro IV, metro 4, in riferimento al passo: «Si mortem petitis, propinquat ipsa / sponte sua volucres nec remoratur equos». H, p. 112, ll. 6-7: .ʭʩʱʥʱ ʤʲʡʸʠ ʺʥʮʬ ʹʩ ʤʰʤ ʤʶʩʬʮʤʥ ʺʥʧʶʤ ʩʮʫʧ ʭʩʡʺʥʫʹ ʤʮ ʩʴʫ «Secondo quel che scrivono i retori e i poeti, la morte ha quattro cavalli». NT [A, f. 87ra; V, f. 160rb; V¹, f. 54r]: Equos. Isti equi dicuntur partiales dispositiones periodi per quas homo ad mortem tendit… Cfr. anche il commento al passo «Cum polo Phoebus roseis quadrigis…» (libro II, metro 3):

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[A, f. 32va; V, f. 56va; V¹, f. 16r]: Poete currum solis quatuor equis trahi fingunt propter quatuor diversitates diei… PT, p. 160c, ll. 66-68: Per equos mortis intelliguntur partiales dispositiones periodi per quas homo ad mortem tendit. Cfr. anche il commento al passo citato del libro II, metro 3 (PT, p. 136b, ll. 36 ss.): Poetae enim fingunt currum solis trahi quatuor equis propter quatuor diversitates solis. È interessante notare l’opera di combinazione di dati differenti, e collocati in punti diversi dell’opera, compiuta dal traduttore ebraico. Il riferimento ai «cavalli della morte» è stato infatti connesso da Astruc con la spiegazione data dai commentatori, in un altro passo dell’opera, a proposito delle «quadrighe» del sole, dove si adduce, appunto, la testimonianza dei «poeti». I «quattro cavalli» della morte di cui parla la versione ebraica, che corrispondono probabilmente alle quattro età dell’uomo, sono così identificati con i «quattro cavalli» del Sole che, nella finzione poetica, rappresentano i quattro momenti della giornata (dall’alba al tramonto). 15. Libro IV, prosa 6, in riferimento al passo: «Et victricem quidem causam dis, victam vero Catoni placuisse familiaris noster Lucanus ammonuit». H, p. 118, ll. 2-7:

ʩʸʠʹʩʱ ʯʡ ʤʩʤʹ ʸʮʠ ʸʹʠ ʥʰʠʷʥʬ ʸʮʠʮʮ ʬʹʮ ʪʩʬʠ ʠʩʡʠ ʤʦʮʥ ʤʦʮʥ .ʥʸʥʡʩʧ ʭʲ ʭʧʬʤʬ ʯʩʣʥ ʭʲʨ ʸʺʥʩ ʥʬ ʤʩʤ ʭʤʩʰʹʮ ʩʮ ʱʥʩʴʮʥʴʥ ʥʺʥʠ ʩʰʩʣʥ ʩʮʲʨ ʺʥʤʥʬʠʤ ʩʰʩʲʡ ʡʨʩʩ ʭʰʮʠ .ʺʥʮʩʬʹʡ ʲʣʩʬ ʸʹʴʩʠ ʩʠ ʩʰʩʲʡ ʣʠʮ ʤʹʷ ʤʩʤ ʤʦʥ ʱʩʸʠʹʩʱ ʥʤʦʥ ʯʥʧʶʰʥ ʤʸʥʡʢ ʥʩʬʠ ʸʹʠ ʯʩʣ ʥʬ ʤʩʤʹ ʯʩʮʠʮ ʤʩʤ ʠʥʤ ʩʫ ʱʥʩʴʮʥʴ ʷʬʧʮ ʤʩʤ ʸʹʠ ʩʰʥʨʠʷ .ʥʺʷʥʬʧʮ ʸʡʮ ʸʺʥʩ ʭʲʨʥ

«Di ciò ti porto l’esempio del discorso di Lucano, che disse: ‘Chi, tra Cesare e Pompeo, aveva più ragione e giusto motivo di combattere con il suo compagno? Non è possibile saperlo con certezza’. E piacquero agli occhi della divinità le ragioni di colui al quale essa diede forza e vittoria, ossia Cesare; il che fu molto duro per Catone, che era dalla parte di Pompeo. Infatti, Catone credeva che Pompeo avesse più ragione del suo avversario». NT [A, f. 93ra; V, f. 171rb]:

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… Lucani, qui describens bellum inter Pompeium et Iulium Cesarem, cum quereretur cuius causa iustior esset, sic determinavit: victrix causa diis placuit, sed victa Catoni… Iste autem Cato partem Pompeii iustiorem reputavit et cum eo contra Iulium Cesarem dimicavit. Sed iudicium dei quo iudicio Cesari victoriam contulit, hoc ipso videtur approbasse causam Iulii Cesaris… PT, p. 163a, ll. 13-16; 27-31: … Lucani, qui describens bellum inter Pompeium et Iulium Cesarem, cum quaereretur ab eo cujus causa esse justior, dixit: victrix causa diis placuit, sed victa Catoni… Cum autem Julius pugnaret contra Pompejum, Cato iudicavit Pompejum esse justum, attribuens sibi causam victricem. Alii autem judicabant Julium esse justum, attribuentes sibi causam victricem… La lunga spiegazione, data da Astruc, del celebre verso di Lucano (Pharsalia, I, 128) qui parafrasato da Boezio rivela chiaramente la sua dipendenza dall’uno o dall’altro dei due commenti latini esaminati. Appare peraltro probabile, in questo caso, una maggiore rassomiglianza con il commento di Trivet; si veda, per esempio, la frase finale di Astruc: «credeva che Pompeo avesse più ragione del suo avversario», che riecheggia la frase di Trivet: «Cato partem Pompeii iustiorem reputavit»48. 16. Libro IV, metro 7, in riferimento al passo: «Bella bis quinis operatus annis / ultor Atrides Phrygiae ruinis…». H, p. 123, ll. 1-3:

ʩʱʩʸʢ ʠʸʷʰʤ ʭʩʰʥʩʤ ʺʥʮʥʠ ʠʡʶ ʸʹ ʤʩʤʹ ʯʥʰʩʮʠʢʠʮ ʬʹʮ ʤʠʩʡʮʥ …ʭʩʰʹ ʤʸʹʲ ʯʮʦʬ ʺʩʣʩʮʺ ʺʮʧʬʮ ʭʲ ʠʩʩʥʸʨʬ ʸʥʶʮʡ ʣʮʲʥ

«E porta l’esempio di Agamennone, che era capo dell’esercito dei popoli greci – che si chiamano ‘Greçi’ – e stette ad assediare Troia con una guerra lunghissima. della durata di dieci anni». NT [A, f. 97vb; V, f. 180rb]: Primum exemplum est de Agamemnone… qui convocatis principibus Grecorum in Frigiam cum exercitu transfretavit et Troiam decennio obsedit… Apparato: exemplum] – V; decennio] – V.

_____________ 48 Anche la versione catalana di Ginebreda si diffonde qui con un lungo excursus storico, che non trova però sostanziale corrispondenza nel passo di Astruc. Cfr. Libre de Consolacio, ed. Muntaner, p. 204-205.

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PT, p. 164c, ll. 91-93: Menelaus convocatis principibus Graecorum transfretavit in Phrygiam et obsedit Trojam decem annis… In questo, come in altri casi precedentemente esaminati, la parafrasi che Astruc dà degli involuti versi boeziani riprende quasi alla lettera il passo corrispondente di uno dei due commenti latini in questione; e anche qui il modello sembra essere rappresentato piuttosto dal commento di Trivet che da quello dello pseudo-Tommaso – dove, tra l’altro, l’«esempio» è riferito non ad Agamennone (com’è nella versione ebraica), bensì al fratello Menelao. 17. Libro IV, metro 7, in riferimento al passo: «Flevit amissos Ithacus sodales, / quos ferus vasto recubans in antro / mersit immani Polyphemus alvo; / sed tamen caeco furibundus ore / gaudium mestis lacrimis rependit». H, p. 123, ll. 8-12:

ʤʩʤ ʸʹʠ ʷʰʲʤ ʥʮʩʴʩʬʥʴ ʣʩ ʬʲ ʧʡʨʬ ʭʩʧʶʸʰʥ ʭʩʢʥʸʤ ʥʩʤ ʤʮʹʥ ʺʸʠʹʰʤ ʤʸʥʡʧʺ ʭʲ ʩʹʩʬʥʠ ʬʡʠ .ʠʥʤʤ ʩʠʡ ʺʧʠ ʤʸʲʮʡ ʥʰʥʲʮ ʸʣ ʠʥʤʥ ʺʧʠ ʯʩʲ ʭʠ ʩʫ ʥʬ ʤʩʤ ʠʬʥ ʷʰʲʤ ʥʺʥʠ ʯʹʩʹ ʺʲʤ ʤʥʷʥ ʬʩʧʥʤ ʥʬ .ʣʧʠʤ ʥʰʩʲʮ ʥʺʥʠ ʸʥʲʥ ʸʷʰ

«E là vennero uccisi e cucinati da Polifemo, il gigante che risiedeva in una grotta in quell’isola. Ma Ulisse, con i compagni rimastigli, attese il momento in cui il gigante si addormentò: quegli non aveva che un solo occhio, ed egli gli cavò ed accecò quell’unico occhio». NT [A, f. 98ra; V, f. 180vb]: [Ulixes] pervenit ad antrum Poliphemi, qui erat gygas maximus unicum habens oculum sed maximum in fronte, qui socios Ulixis comprehendens occidit et comedit. Super quo contristatus, Ulixes observavit quando predictus gygas cibo repletus dormiret, accedensque ad dormientem oculum eius unicum effodit. Apparato: maximum] magnum V.

PT, p. 165a, ll. 17-22: … venit ad antrum Poliphemi qui erat maximus gygas habens unicum oculum in fronte, qui socios Ulyssis occidit et voravit: super quo Ulysses contristatus sustinuit usque quo praedictus gygas cibo repletus obdormiret, quo dormiente oculum quem in fronte habuit eruit.

Le origini delle versione ebraiche

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I termini impiegati da Astruc fanno pensare che egli si sia basato questa volta sul commento dello pseudo-Tommaso: si consideri l’espressione BI‫ݾ‬CF Q?-KCQQ;B, «sperò e attese», che sembra più vicina al sustinuit («resistette, attese») impiegato da quest’ultimo, piuttosto che all’observavit di Trivet. 18. Libro IV, metro 7, in riferimento al passo: «Victor immitem posuisse fertur / pabulum saevis dominum quadrigis». H, p. 123, ll. 20-22: ʷʹʥʲʥ ʢʸʥʤ ʤʩʤ ʠʥʤʥ ʣʠʮ ʣʲ ʸʥʡʢʥ ʷʦʧ ʤʩʤʹ ʩʣʩʸʩʹʥʡ ʢʸʤ ʭʢʥ .ʭʩʱʥʱʬ ʭʸʹʡ ʬʥʫʠʬ ʯʺʥʰ ʤʩʤʥ ʭʩʹʰʠʤ ʡʰʥʢʥ «Ed uccise Busiride, che era un uomo fortissimo, che uccideva e opprimeva e derubava gli uomini, dando la loro carne in pasto ai cavalli». NT [A, f. 99ra; V, f. 182rb]: Diomedes tyrannus quidam erat… qui… bona hominum rapiebat et per rapinam eos depauperabat, propter quod dicitur homines dedisse pabulum equis suis. PT, p. 165a, ll. 84-86: Diomedes fuit rex Thraciae, qui equos suos pavit humana carne… La discrepanza più notevole tra la versione ebraica e i due commenti latini consiste proprio nell’identificazione del personaggio protagonista dell’episodio qui riferito (la sesta fatica di Ercole): mentre i commentatori lo individuano, a ragione, come Diomede, Astruc lo chiama «Busiride». Quest’ultima identificazione, peraltro, non è probabilmente il risultato di un errore singolare di questo traduttore: essa si ritrova infatti non solo nelle versioni catalane del De consolatione49, ma anche nella versione medioinglese dell’opera di Boezio, redatta da Geoffrey Chaucer intorno al 138050. Si tratta dunque di un altro possibile indizio dell’impiego, da parte di Astruc, della versione catalana di Ginebreda – probabilmente, attraverso la traduzione di Benveniste.

_____________ 49 Cfr. al riguardo Keightley: Boethius in Spain, p. 183-184 e nota 23; cfr. anche Zonta: La filosofia antica, p. 266. 50 Cfr. Minnis: Medieval French and English Translations, p. 348-349.

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Mauro Zonta

19. Libro IV, metro 7, in riferimento al verso: «Stravit Antaeum Lybicis arenis». H, p. 123, ll. 24-28: ʤʬʥʢʱʤ ʺʠʦ ʥʬ ʤʺʩʤʥ ʣʠʮ ʷʦʧ ʤʩʤʹ ʷʰʲʤ ʥʠʩʨʰʩʠ ʭʲ ʭʧʬʰ ʭʢʥ ʸʹʠʮ ʹʬʹ ʭʩʮʲʴ ʥʺʸʥʡʢʥ ʥʧʫ ʳʱʥʺʩʥ ʬʣʢʩ ʦʠ ʵʸʠʬ ʬʴʥʰ ʤʩʤʹʫʹ ʵʸʠʬ ʥʬʴʰʡ ʥʧʫ ʬʣʥʢ ʺʠ ʺʠʦʤ ʤʬʥʢʱʤ ʩʬʥʷʸʩʠ ʤʠʸʹʫʥ ʤʬʧʺʡ .ʥʢʸʤʥ ʥʤʦʧʡ ʥʺʥʠ ʸʶʥ ʸʩʥʠʤ ʯʮ ʤʬʲʮʬ ʥʤʩʡʢʤ ʤʰʤ ʬʩʣʢʤʹ «E combattè anche con il gigante Anteo, che era molto forte, ed aveva questa proprietà: quando cadeva a terra, la sua forza e il suo vigore crescevano di tre volte. E quando Ercole vide questa proprietà – ossia che la sua forza cresceva quando cadeva a terra – lo sollevò al di sopra dell’aria, lo strinse al petto e lo uccise». NT [A, f. 99rb; V, f. 182va]: Antheus gygas erat… cui talis virtus erat quod, si… ex fatigatione debilitaretur, ex tactu terre statim recuperabat vires… Quod percipiens Hercules ipsum a terra elevavit et supra pectus suum tenendo strinxit, quousque spiritum exhalaret. Apparato: virtus] vutor [sic!] V; suum] – V; spiritum] – A.

PT, p. 165b, ll. 5-8; 12-14: Antaeus erat gigas de terra progenitus, cujus erat talis virtus, quod si aliquando ex sagittatione defatigaretur, tactu terrae statim recuperabat vires… Quod Hercules cognoscens, ipsum a terra elevavit et supra pectus suum ipsum tenendo oppressit quousque spiritum exhalaret. Lo stretto rapporto sussistente tra l’excursus di Astruc sulla storia di Anteo (la nona fatica d’Ercole) e i passi corrispondenti dei commenti di Trivet e dello pseudo-Tommaso balza immediatamente agli occhi. Quasi ogni parola dei due commenti si ritrova anche nella versione ebraica del De consolatione: la qualifica di «gigante», la sua particolare «virtù», il modo tenuto da Ercole nell’ucciderlo. La notizia della «triplicazione» della forza di Anteo, data dal solo Astruc, potrebbe essere sorta da un errore di lettura della fonte latina, probabilmente da una dittografia di terre (Astruc sembra infatti aver letto: tactu terre ter statim recuperabat vires). Infine, l’affermazione che Ercole «vide» la proprietà di Anteo suggerisce che Astruc si sia basato qui sul commento di Trivet, che usa in questo punto il verbo percipere, «accorgersi, vedere», piuttosto che su quello dello pseudo-Tommaso, che parla invece di cognoscere.

Le origini delle versione ebraiche

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20. Libro V, metro 1, in riferimento al passo: «Rupis Achemeniae scopulis… / Tigris et Eufrates uno se fonte resolvunt». H, p. 126, ultima l. - 127, l. 2: ʺʧʺ ʭʩʫʬʥʤ ʺʥʸʤʰʤ ʤʬʠ ʩʰʹʹ ʤʮ ʭʩʴʥʱʥʬʩʴ ʭʩʡʺʥʫʹ ʩʴʫʥ .ʤʠʩʰʩʮʸʠ ʩʸʤ ʺʧʺ ʣʧʩ ʥʣʧʠʺʩʥ ʥʸʡʧʺʩʥ ʵʸʠʬ «E come scrivono i filosofi, questi due fiumi scorrono sotto terra e si riuniscono sotto i monti dell’Armenia». NT [A, f. 102rb; V, f. 187vb]: Sallustius auctor cultissimus asserit tam Tygris quam Eufratis fontes in Armenia demonstrari… Apparato: asserit] + quod V; Eufratis] + sunt V; demonstrari] devinati [?] V.

PT, p. 166b, ll. 29-32; 56-58: Tigris et Euphrates resolvunt se uno fonte scopulis, idest ex concavitatibus rupis Achemeniae, idest montis Parthiae… Hieronymus auctoritate Salustii dicit quod ortus Tigris et Euphratis demonstratur in Armenia, idest in Parthia… Il riferimento del traduttore ebraico ai «filosofi» cela, presumibilmente, le citazioni di Sallustio e di Gerolamo riportate dai commentatori; ed anche l’interpretazione di «rupe achemenia» come «Armenia» non può che essere derivata dalla lettura dei due commenti in questione.

Namenregister Hinweis: Die Seitenangaben sind kursiv gesetzt, wenn der Name nur in einer Fußnote genannt wird. Biblische und andere literarische Personen sind nicht aufgenommen. $bş Bakr 0u½ammad ,bn =akari\\Ć al5Ćzĩ 411 Adalbold von Utrecht 21, 77, 83-85, 157, 161, 162, 167, 168, 171, 172, 176, 177, 373 Adolf II. von Nassau 138 Aemilius Paullus 0acedonicus, /ucius 415 Aesop 63 Aguayo, Fray Alberto de 14, 15 Alanus ab Insulis Alain de /ille 101, 193, 314, 315, 316, 321, 325 Albertus 0agnus 120, 121 Albrecht von Eyb 53, 60, 136, 155 Alfred der Große 6, 75, 159, 411 Alkuin 3, 4, 6, 20, 21, 159, 319, 324 Ambrosius von 0ailand 2, 257 Amerbach, Johann(es) (von) 41 Ammonios 2 Andreas von Regensburg 97, 98, 130 Anonymus Bruxellensis 161, 167, 171, 172 Anonymus Einsiedlensis 161, 167, 176 Anonymus Erfordensis 4, 179 Anonymus Sangallensis 44, 54, 159, 160, 164, 165, 170, 172, 175, 177, 352 Apuleius 211 Arend de Keysere 46, 308 Aristoteles 2, 51, 62, 96, 199, 202, 247, 261, 335-338, 370 Ascensius s. Badius Ascensius, Jodocus

Astruc, Bonafoux Bonfil 5, 13, 196, 313, 397, 398, 410-429 Augustinus 1, 2, 23, 62, 80, 84,107, 109, 113, 163, 173, 176, 177, 186, 193, 208, 209, 211, 212, 238, 243, 249, 277, 337, 355, 356, 379, 380 ¶Azaryah ben