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German Pages [445]
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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 50
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Ideologie und Moral im Nationalsozialismus Herausgegeben von Wolfgang Bialas und Lothar Fritze
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36961-6 ISBN 978-3-647-36961-7 (E-Book) Umschlagabbildung: Eingangstor zum Konzentrationslager Buchenwald Quelle: picture alliance / Design Pics © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Einleitung Wolfgang Bialas / Lothar Fritze
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I. Ethische Konzeptionen und Kontroversen
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Nationalsozialistische Ethik und Moral. Konzepte, Probleme, offene Fragen Wolfgang Bialas
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Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral? Lothar Fritze
65
II. Nationalsozialistische Täter
107
Hitlers Holocaust - Motiv Gunnar Heinsohn
109
Nazis mit reinem Gewissen? Zivile Funktionsträger und der Holocaust Mary Fulbrook
129
Eine Frage der Ehre. Anmerkungen zur Sexualität deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkriegs Regina Mühlhäuser
153
III. Nationalsozialistische Ideologie und Propaganda
175
Militärische Ethik im Totalen Krieg Peter J. Haas
177
Die Rolle der Evolutionsethik in der NS - Propaganda und im weltanschaulichen NS-Unterricht Richard Weikart
193
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Inhalt
IV. Nationalsozialistische Ethik: Der medizinische Diskurs
209
Den „Volkskörper“ im Blick. Medizin und Moral im Nationalsozialismus Florian Bruns
211
„Gnadentod“ und Ökonomismus. Zu ethischen Rechtfertigungsmustern der NS - „Euthanasie“ Uwe Kaminsky
235
Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument. Zur aktuellen Debatte über die Sterbehilfe Gerrit Hohendorf
267
V. Die SS als „moralischer Orden“
293
SS-Ethik im Rahmen der Moralphilosophie André Mineau
295
„Das Schwarze Korps“ und die Bestätigung der SS-Sippengemeinschaft Amy Carney
311
Der moralische Rigorismus der Unmoral. Die SS-Sonderstrafgerichtsbarkeit Christopher Theel
329
VI. Debatten nach dem Holocaust und Erinnerungspolitik
347
Universalismus und moralischer Relativismus. Zu einigen Aspekten der modernen Ethikdebatte und dem Nationalsozialismus Wulf Kellerwessel
349
Nationalsozialismus – Bolschewismus – Universalismus. Moralische Transformationen in der Geschichte als Problem der Ethik Rolf Zimmermann
369
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Inhalt
7
Ethik nach dem Holocaust. Jüdische Antworten Isaac Hershkowitz
399
Täterprofile. Zur moralischen Struktur von Populärgeschichte im Fernsehen Stewart Anderson / Wulf Kansteiner
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Autorenverzeichnis
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Einleitung Wolfgang Bialas / Lothar Fritze Die historiographische Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist weit fortgeschritten. Es dürfte kaum eine Phase in der Geschichte der Menschheit geben, die derart detailliert erforscht ist. Dies gilt vor allem für die geschichtlichen Abläufe sowie das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Beschreibung und Analyse von politischen Herrschaftssystemen sind ein wesentlicher Bestandteil der Totalitarismusforschung. Die Erforschung ideologiegeleiteter Diktaturen – wir sprechen auch von „Weltanschauungsdiktaturen“ – hat allerdings die Analyse der jeweiligen Systemideologie notwendigerweise einzuschließen. Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Systemideologie gehören die von den maßgebenden Ideologen und Führern vertretenen moralischen Überzeugungen. Wer sich um ein Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaft sowie der von ihr zu verantwortenden Verbrechen bemüht, wird sich daher auch dem Thema „Ideologie und Moral im Nationalsozialismus“ widmen müssen. Insofern ist es wohl kein Zufall, wenn sich neuere Forschungen zum Nationalsozialismus – neben Untersuchungen zum Herrschaftssystem und zur Herrschaftspraxis – verstärkt diesem Thema zuwenden und die ethischen Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie sowie die moralischen Überzeugungen der nationalsozialistischen Täter in den Blick nehmen. Dabei hat die Diskussion der letzten Jahre unter Stichworten wie „Täter mit gutem Gewissen“, „Moral der Unmoral“, „Transformationsmoral“ oder einer sogenannten „Moral in Anführungszeichen“ neue Impulse erhalten. Doch jede Beschäftigung mit dem Thema einer „nationalsozialistischen Moral“ sieht sich einem ernsten Einwand ausgesetzt : „Hat der Nationalsozialismus nicht gerade als Inbegriff von Unmoral und Inhumanität zu gelten, sodass es sich von vornherein verbietet, von einer ‚nationalsozialistischen Moral‘ zu sprechen und den Tätern überhaupt eine ‚Moral‘ zuzubilligen ?“ In der Tat ist es nicht leicht, sich von der in dieser Frage zum Ausdruck kommenden intuitiven Abwehrhaltung freizumachen und auch diese, nur allzu verständliche, Vorab - Einstellung kritisch zu hinterfragen. Denn was, so kann man fragen, sollte das für eine Moral sein, die Konzentrations - und Vernichtungslager, Holocaust und „Euthanasie“ rechtfertigt und welche moralischen Intuitionen sollten die Täter in den Lagern und die für ihre Einrichtung Verantwortlichen geleitet haben ? Waren Nationalsozialisten nicht vielmehr angetreten, „Böses“ zu tun ? Ja, verkörperten sie nicht selbst „das Böse“ ?
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Wolfgang Bialas / Lothar Fritze
Dennoch finden sich in nationalsozialistischen Texten unterschiedlicher Gattungen immer wieder moralische Begründungen : Nationalsozialistische Ideologen lieferten Rechtfertigungen für die Rassenpolitik. Nationalsozialistische Autoren operierten mit moralischen Kategorien wie Anstand und Würde, Ehre und Pflicht. Nationalsozialistische Ideologen und Täter legten Wert auf die Feststellung, im Horizont einer eigenen moralischen Ordnung und nach ihrem Selbstverständnis moralisch gehandelt zu haben. Offen ist vor allem die Frage nach den Motiven und Gründen derjenigen, die aktiv an den Verbrechen beteiligt waren oder sie durch ihre Zustimmung und Indifferenz erst ermöglichten. Welches Selbstverständnis hat die nationalsozialistischen Täter geleitet ? Waren sie tatsächlich überzeugt, dass ihr Handeln moralisch gerechtfertigt war ? Oder übernahmen sie einfach nur die von der nationalsozialistischen Ideologie bereit gestellten Gründe und Erklärungen ? Dass manche der nationalsozialistischen Täter, wie häufig von ihnen behauptet, massivste Menschenrechtsverletzungen und selbst die Vernichtung des europäischen Judentums tatsächlich als moralisch richtig und notwendig ansahen, wird wohl für immer schwer verständlich bleiben. Dem Widerstreben, auch nationalsozialistischen Tätern subjektiv moralische Beweggründe zuzugestehen, kann man nur begegnen, indem man sich klarmacht, dass ein menschliches Verhalten zu verstehen und es nachzuvollziehen nicht heißt, es zu billigen. Nationalsozialistische Täter dürften nur in Ausnahmefällen pathologische Kriminelle gewesen sein. Häufig erschienen sie als durchschnittliche, „normale“ Menschen, die unter anderen Umständen nicht in Versuchung gekommen wären, sich an Verbrechen und Massenmord zu beteiligen. Waren die Täter durch ihre ideologische Indoktrinierung in ihrer Urteilsfähigkeit tatsächlich derart eingeschränkt, dass sie faktisch als unzurechnungsfähig oder bestenfalls nur bedingt schuldfähig zu gelten haben ? Wie lässt sich die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen unmoralischen, kriminellen Taten einerseits und Tätern ohne jedes Unrechtsbewusstsein andererseits moralphilosophisch verständlich machen ? Freilich : Diese Diskrepanz ist nur dann eine theoretische Herausforderung, wenn man Rechtfertigungsargumentationen für glaubwürdig und das von Tätern herausgestellte gute Gewissen für nicht nur vorgetäuscht hält. Bei dem Versuch, das eine vom anderen zu unterscheiden, stößt allerdings die Moralphilosophie an ihre Grenzen. Diese und eine Fülle weiterer Fragen waren Gegenstand einer internationalen Tagung, die vom 18. bis 20. November 2010 am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden stattfand. Während es zahlreiche Untersuchungen zur Ideologie des Nationalsozialismus in der deutschsprachigen Forschung gibt, stehen solche zur „nationalsozialistischen Moral“ erst am Anfang. Der vorliegende Band dokumentiert im Wesentlichen die überarbeiteten und erweiterten Beiträge der Dresdener Tagung. Die Tagung war konzipiert als ein Aufeinandertreffen von moralphilosophischen, geschichtswissenschaftlichen und medizinethisch - historischen Forschungsdis-
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Einleitung
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kursen zum Nationalsozialismus. Einige der Beiträge wurden zusätzlich aufgenommen. In seinem Eröffnungsbeitrag behauptet der erste Herausgeber dieses Bandes, Wolfgang Bialas, Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung, die Herausbildung einer eigenen moralischen Ordnung des Nationalsozialismus. Er rekonstruiert, wie nationalsozialistische Ideologie, Philosophie und Medizinethik eine rassenethische Moral zu begründen versuchten, von der die Nationalsozialisten behaupteten, dass sie als wissenschaftliche Moral in Übereinstimmung mit Natur - und Lebensgesetzen sowie der Schöpfung stehe. Die moralische Konditionierung der nationalsozialistischen Täter zielte auf die Ausbildung eines „ethnischen Gewissens“, das moralische Verpflichtungen auf Angehörige der eigenen rassischen Gemeinschaft einschränkte. Weder handelten sie ohne moralische Orientierung noch in dem Bewusstsein, dass das, was sie taten, moralisch verwerflich war. Diskutiert werden u. a. folgende Fragen : – die Konditionierung eines „neuen Menschen“ als eines „Rassenkriegers“ bzw. „politischen Soldaten“, der frei von religiösen und humanistischen Ressentiments in seinem Handeln von der rassenethischen Partikularmoral geleitet wurde; – die wechselseitige Konstituierung von nationalsozialistischer Ideologie und Moral in der mit moralischen Bedeutungen aufgeladenen deutschen Gesellschaft; – die Ablösung bürgerlich - christlicher Moral durch den „artgerechten biologischen Humanismus“ der neuen rassenethnischen Moral, der Eugenik, Euthanasie und Rassenmord als moralisch unbedenklich und bevölkerungspolitisch geboten rechtfertigte; – die nationalsozialistische Vernichtungsdrohung gegen die bürgerliche Gesellschaft und ihr humanistisch - christliches Wertesystem rassenindifferenter Fürsorge und Nächstenliebe, die für die kulturelle Degenerierung der Geschichte verantwortlich gemacht wurden; – die Ermächtigung zur rassenpolitischen Korrektur dieser Entwicklungen, die das uneingeschränkte Recht der rassisch Hochwertigen, Gesunden und Starken zur Führung in Übereinstimmung mit dem Gesetz natürlicher Auslese wieder durchsetzen sollte; – das Phänomen der nationalsozialistischen Täter mit gutem Gewissen, auf das weltanschauliche Überzeugungstäter wie bürokratische Schreibtischtäter und opportunistische Karrieretäter gleichermaßen Wert legten, um in ihrem Selbstverständnis frei von egoistischen, niederen und verwerflichen Motiven zu handeln; – schließlich die ambivalente Diskriminierung der Juden als einer unmoralischen Rasse, die zugleich als Verkörperung einer rassenindifferenten Vernunftmoral identifiziert wurde, was sie aus der Sicht der Nazis besonders gefährlich machte.
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Wolfgang Bialas / Lothar Fritze
Der zweite Herausgeber des Bandes, Lothar Fritze, Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung, geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob die führenden Nationalsozialisten eine andere Moral hatten. Zunächst hält der Autor fest, dass auch die nationalsozialistischen Täter ein System moralischer Normen akzeptiert haben und zugleich die Verpflichtung verspürten, diese Normen im eigenen Verhalten zu befolgen. Zu diesen Normen gehörte ein Minimum an moralischen Grundnormen, das mit dem Minimum, das auch von Bürgern demokratischer Verfassungsstaaten akzeptiert wird, weitgehend übereinstimmt. Die nationalsozialistischen Täter müssten also weder amoralische Personen gewesen sein noch müssten sie andere moralische Grundnormen vertreten haben. Zudem könnten sie das, was sie taten, durchaus in dem Bewusstsein getan haben, denjenigen Normen, die sie selbst akzeptierten, zu genügen. Wenn diese Täter gleichwohl Verbrechen begingen, kann man dies, so der Autor, wenigstens zum Teil verstehen, wenn man annimmt, dass sie andere außermoralische Überzeugungen hatten. Unter außermoralischen Überzeugungen versteht Fritze Überzeugungen nicht - moralischer Art, die allerdings in moralisch relevante Überlegungen als Prämissen eingehen oder in ihnen eine Rolle spielen können. Außermoralische Überzeugungen beziehen sich weder auf ein moralisches Sollen noch implizieren sie Werturteile in einem moralischen Sinne. Sie entschieden allerdings wesentlich darüber, welche Reichweiteregeln, welche Rechtfertigungsgründe und welche abgeleiteten moralischen Normen bei der Befolgung der moralischen Grundnormen akzeptiert werden. Diese Deutung schließt keineswegs aus, dass die nationalsozialistischen Täter neben anderen außermoralischen Überzeugungen auch andere moralische Überzeugungen hatten, die sich in der praktischen Befolgung der moralischen Grundnormen niederschlugen. Fritze gelangt schließlich zu dem Ergebnis : Die Täter, die von der moralischen Rechtmäßigkeit ihres Handeln überzeugt waren, haben moralisch versagt, insoweit sie ihr Handeln auf unhaltbare außermoralische Überzeugungen stützten deren Unhaltbarkeit sie hätten erkennen können. Täter mit gutem Gewissen haben vor allem kognitive Pflichten verletzt. Ausgehend von der Resignation anerkannter Holocaust - Forscher, die Motive Hitlers für die Vernichtung des Judentums zu erklären, legt Gunnar Heinsohn folgende Hypothese vor : Schon bald nach dem Ersten Weltkrieg habe Hitler das Judentum als Urheber des Tötungsverbots, insbesondere des Verbots des Infantizids und des Genozids sowie der Tötung Behinderter identifiziert. Mit der Entstehung der jüdischen Ethik der Lebensheiligkeit und des Fremdenschutzes seien althergebrachte Tötungsrechte in Misskredit geraten, deren Ausübung nunmehr als Verbrechen galt. Die Akzeptanz dieser „jüdischen Ethik“ habe, Hitler zufolge, unannehmbare Konsequenzen. Mit ihrem universalen Tötungsverbot führe sie zu einer Beeinträchtigung des Kampfes der Völker um Territorien und untergrabe die Kampfmoral der nordischen Rasse durch ein schlechtes Gewissen. Heinsohn, Soziologe, Wirtschaftswissenschaftler und Genozidforscher, zieht auf der Basis dieser Hypothese mehrere Schlussfolgerungen : Hitlers Antisemitismus sei nicht rassistisch - biologistischer Natur; viel-
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Einleitung
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mehr müsse die Beseitigung der Juden als Versuch begriffen werden, die jüdische Ethik auszumerzen und das Recht auf Tötung aller Schwachen sowie aller Gegner im Rassenkampf wieder herzustellen. Hitler, so fasst Gunnar Heinsohn zusammen, habe die jüdischen Menschen als „Ansteckungsquelle“ für alle Nichtjuden zerschmettern lassen, um das jüdische Programm der Lebensheiligkeit aus dem deutschen Bewusstsein zu löschen. Sein Ziel sei es gewesen, eine Zeitenwende herbeizuführen, um die vormosaische archaische Stammesmoral erneut zur Geltung zu bringen. Mary Fulbrook, Professor of German History and Director of the Centre for European Studies at University College London, untersucht anhand der Memoiren von Udo Klausa Selbstentlastungsstrategien von nationalsozialistischen Tätern. Klausa war vom Februar 1940 bis Anfang Dezember 1942 als Landrat im Landkreis Bedzin, einem Distrikt mit drei Städten und 63 ländlichen Gemeinden im östlichen Oberschlesien, tätig. In dieser Zeit wurde die ansässige Bevölkerung vertrieben, um Platz für deutsche Umsiedler zu schaffen, und es wurden Zehntausende von Juden nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg hielt er sich zunächst lange versteckt und wurde dann, mit Hilfe „familiärer Beziehungen“, in die begehrte Entnazifizierungsgruppe 5 „Entlastet“ aufgenommen. Fulbrook zeigt, wie Klausa versucht, durch eine Verurteilung der praktischen Umsetzung der nationalsozialistischen Politik, nicht aber der grundlegenden Ziele dieser Politik, sich ein reines Gewissen auch im Nachhinein zu bewahren. Indem als „wirkliche Nazis“ stets die anderen gelten, stelle Klausa eine Selbst - Distanzierung her, die Fulbrook für eine Schlüsseltaktik der Selbstexkulpation hält. Des Weiteren zeigt die Autorin aber auch, dass diese Taktik nur in begrenztem Maße verfängt. Denn die Darstellungen Klausas zeigen, dass ihm zumindest zum Zeitpunkt der Abfassung der Memoiren Bedenken und Zweifel an der Rechtmäßigkeit und moralischen Unbedenklichkeit seiner Tätigkeit als Landrat kamen. Deshalb sei es ihm unmöglich gewesen zuzugeben, an bestimmten Ereignissen mitgewirkt oder auch nur von ihnen Kenntnis gehabt zu haben. Die subjektive Möglichkeit einer mitleidlosen Beteiligung an Verbrechen führt Fulbrook auf einen „Kolonialrassismus“ zurück, der in der Annahme einer Hierarchie von höher - und minderwertigen Völkern wurzele. Noch während des Krieges drohte Himmler seinen SS - Männern, er würde „unsittliche Handlungen“ nicht tolerieren. In unzähligen Schriften hatten NS Propagandisten die „rassische Reinheit“ als ein höchst schützenswertes Gut, ja als geradezu „heilig“ herausgestellt. Aus diesen ideologischen Prämissen ergaben sich sowohl für die SS - Führung als auch das Oberkommando der Wehrmacht klare Verhaltensorientierungen. Regina Mühlhäuser vom Hamburger Institut für Sozialforschung, zeigt in ihrem Beitrag, dass und wie diese restriktiven Orientierungen unter den Bedingungen des Krieges gegen Polen und die Sowjetunion in einem eher pragmatischen Herangehen zum Teil aufgegeben wurden : Zwar galten sexuelle Zusammentreffen – Vergewaltigung ebenso wie Prostitution und einvernehmliche Verhältnisse – mit einheimischen Frauen als „unerwünscht“, da sie gegen die NS - Rassevorstellungen verstießen und die mili-
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Wolfgang Bialas / Lothar Fritze
tärische Disziplin, die Gesundheit sowie das Ansehen der Truppe gefährdeten. Gleichzeitig aber erachtete man männliche Virilität auch als Ausdruck von Stärke, männlicher Ehre und letztlich förderlich für das Erreichen der Kriegsziele. Die Hamburger Historikerin macht deutlich, dass die militärischen Befehlshaber es nur selten darauf anlegten, bestehende Verbote durchzusetzen. Stattdessen betrieben Wehrmacht und SS erheblichen Aufwand, um ihre Männer durch einen umfangreichen Disziplinierungsapparat unter Kontrolle zu halten. Während die Wehrmacht unter Verweis auf deren Ehefrauen und Freundinnen in der Heimat an die Moral ihrer Männer appellierte, lesen sich die Regelkataloge der SS, so Mühlhäuser, wie pragmatische Gebrauchsanweisungen zur Minimierung gesundheitlicher Risiken des Geschlechtsverkehrs. Peter J. Haas, Professor of Jewish Studies and Director of the Samuel Rosenthal Center for Judaic Studies at Case Western Reserve University, sucht auf der Basis einer Untersuchung des „Militärkodexes“ des NS - Regimes zu allgemeinen Erkenntnissen bezüglich des Verhältnisses zwischen „Militärkodices“, also jenen Erwartungen und Instruktionen, die sich auf das Verhalten von professionellen Militärs beziehen, und den ethischen Vorstellungen in der „zivilen“ Gesellschaft gelangen. Haas zufolge zeige der NS - „Militärkodex“, wie er sich im Laufe der Zeit speziell für das Verhalten an der Ostfront herausgebildet hat, dass jeder Versuch, eine objektive und allgemein gültige Ethik der Kriegführung zu formulieren, zum Scheitern verurteilt ist. Kriegführung stehe zumindest in der Moderne außerhalb der Grenzen ethischer Beschränkungen. Haas macht zunächst deutlich, dass und wie sich die Wehrmacht nach und nach der rassistischen nationalsozialistischen Ethik der Kriegführung weitgehend anpasste. Der nationalsozialistische „Militärkodex“ habe dem einzelnen Soldaten die Möglichkeit geboten, seine Taten zu rechtfertigen. Es lasse sich, so die Überzeugung des Autors, kein Regelwerk entwickeln, das eine „humane Kriegführung“ verlässlich durchsetze. Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, so wie sie im „Kommissarbefehl“ kodifiziert und schließlich umgesetzt wurde, reflektiere nicht die Bösartigkeit des Krieges an sich, sondern zeige den Krieg als ein rationales System ohne innere moralische Korrektive. Die Nationalsozialisten waren Vertreter der Darwin’schen Evolutionslehre. Hitler und andere führende Nationalsozialisten gingen von einer Abstammung des Menschen aus dem Tierreich aus. Richard Weikart, History Professor at California State University, Stanislaus, fasst die auf der Evolutionstheorie fußende Haltung der Nationalsozialisten zu Ethik und Moral unter dem – von den Nationalsozialisten nicht verwendeten – Begriff der Evolutionsethik zusammen. Als Grundlage für die Evolutionsethik habe den Nationalsozialisten eine rassistische Version des Neo - Darwinismus gedient. In seinem Beitrag zeigt der Autor, auf welche Weise moralische Pflichten unter Rückgriff auf biologische Gesetze begründet und in Lehrplänen für die weltanschauliche Erziehung von SS und Polizei präsentiert wurden. Als moralische Pflicht eines jeden deutschen Volksgenossen und überhaupt jedes Angehörigen der nordischen Rasse habe der Kampf gegen die drei Hauptursachen für den Niedergang eines jeden Volkes
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Einleitung
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gegolten : die sinkende Geburtenrate, die sogenannte Gegenauslese und die Rassenvermischung. Letztlich, so Weikart, sei die Rassenpolitik der SS nicht nur auf die Förderung der Interessen der nordischen Völker gerichtet gewesen, sondern habe – dem Selbstverständnis der SS entsprechend – im Dienste überhaupt der Höherentwicklung der Menschheit gestanden. Damit habe sich die Evolutionsethik in Widerspruch zu demokratischen Normen, humanitären Erwägungen und zur Idee der Gleichberechtigung befunden. Angesichts der als „Euthanasie“ bezeichneten Mordaktion an psychisch Kranken und Behinderten sowie der tödlichen Menschenversuche in Konzentrationslagern stellt sich die Frage, wie es zu derart eklatanten Verstößen gegen elementare Gebote der Menschlichkeit und der ärztlichen Fürsorge kommen konnte. Auf der Suche nach möglichen Antworten wirft Florian Bruns, Medizinhistoriker an der Universität Erlangen-Nürnberg, einen Blick auf die ethischen Standards, denen deutsche Ärzte in der Zeit zwischen 1933 und 1945 folgten. Bruns fragt nach den damaligen Moralvorstellungen der Mediziner sowie danach, inwieweit sie von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst waren. Gab es eine spezifisch nationalsozialistische Medizinethik, und wenn ja, wer brachte sie den Ärzten und Medizinstudierenden in Deutschland nahe ? Der Autor zeichnet die im nationalsozialistischen Deutschland geführten Diskurse über Ethik in der Medizin nach und stellt die in diesem Zusammenhang entscheidenden Protagonisten und Institutionen in ihrem Wirken dar. Schließlich zeigt Bruns, wie mit der nationalsozialistischen Praxis der Zwangssterilisationen zugleich zwei konstitutive Prinzipien ärztlicher Moral offiziell außer Kraft gesetzt wurden – die Schweigepflicht und das Nichtschadensgebot; er setzt sich mit der Postulierung einer Gesundheitspflicht des Einzelnen auseinander und macht deutlich, dass offenbar viele der an den „Euthanasie“ - Tötungen beteiligten Ärzte überzeugt waren, das moralisch Richtige zu tun. Die Ermordung psychisch Kranker und geistig Behinderter während des Zweiten Weltkriegs – euphemistisch unter dem Begriff der „Euthanasie“ zusammengefasst – steht auch im Mittelpunkt der Untersuchung von Uwe Kaminsky. Der Medizin - und Religionshistoriker zeigt zum einen, dass auch im Nationalsozialismus solche Tötungen gerechtfertigt werden mussten, und er zeigt zum anderen, wie euphemistische Rechtfertigungen („Gnadentod“, „Freimachungsmaßnahmen“ aus Gründen des Luftschutzes ) zu einer Herabsetzung der Hemmschwelle zur Überschreitung des Tötungsverbots beitrugen. Kaminsky macht deutlich, dass eugenische Argumentationen, die im Nationalsozialismus erneut aufgegriffen wurden, keinen Automatismus zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ausgelöst haben. Die These, die nationalsozialistische Euthanasie lasse sich folgerichtig aus der Rassenhygiene ableiten, unterschlage sowohl die nationalsozialistische Polykratie als auch die Dynamik des Geschehens, die sich aus den herrschaftsimmanenten Konkurrenzen speise. Der Autor spricht daher in Anlehnung an den verschlungenen Weg zum Holocaust von einer „twisted road“ zur „Euthanasie“. Im Beitrag werden die für die nationalsozialistischen Tötungsaktionen gegebenen Begründungen und Rechtfertigungen herausgearbeitet und es
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wird deutlich, dass im Verlaufe des Krieges medizinische Selektionskriterien zugunsten ökonomisch-utilitaristischer in den Hintergrund traten. Die „Euthanasie“ - Tötungen seien nunmehr vor allem mit Nützlichkeitserwägungen und unter Berufung auf Notstandssituationen gerechtfertigt worden. Dabei haben, so Kaminsky, evangelische Theologen die prinzipielle Möglichkeit einer Notstandsindikation zur „Euthanasie“ zwar anerkannt, allerdings, im Unterschied zur Haltung offizieller Vertreter des NS - Regimes, die Auffassung vertreten, dass eine solche faktisch nicht gegeben war. Eine Ablehnung der „Euthanasie“ blieb gleichwohl während der gesamten Kriegszeit die Position beider Kirchen. Gerrit Hohendorf, Psychiater, Medizinhistoriker und Medizinethiker an der Technischen Universität München, stellt sich der Frage, ob sich aus der Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“ Konsequenzen für die aktuelle Debatte um die Sterbehilfe ableiten lassen. Scheinbar sei die Sache klar : Die Krankenmorde im Nationalsozialismus haben mit Sterbehilfe in unserem heutigen Verständnis nichts zu tun. Die Nationalsozialisten haben den Begriff der Euthanasie missbraucht, um ihre mörderischen Absichten zu verschleiern. Eine detaillierte Untersuchung der Genese der verschiedenen Formen der NS „Euthanasie“ mache jedoch nach Überzeugung des Autors deutlich, auf welch abschüssiger Ebene sich die Debatte um den rechtlichen Status sogenannten lebensunwerten Lebens spätestens seit Anfang der 1920er Jahre in Deutschland bewegte. Ohne die Begrifflichkeit medizinischer Erlösung hätten die Euthanasieaktionen nie in der Form praktiziert werden können. Hohendorf rekonstruiert die gegenwärtige deutsche Euthanasie - Debatte und verweist dabei auf ein Problem, das nicht angemessen reflektiert werde. Nämlich: Wer entscheidet über den Lebenswert eines Lebens von Menschen, die sich aktuell nicht mehr äußern können ? Das Prinzip der Selbstbestimmung, so die Überlegung von Hohendorf, entbindet den Arzt im Falle von Patienten, die zu einer autonomen Entscheidung aktuell nicht mehr in der Lage sind, nicht davon, ein Werturteil über bestimmte Leidenszustände zu fällen. Hinzu komme, dass eine Legalisierung der Tötung auf Verlangen bzw. der ärztlichen Suizidbeihilfe auf Basis des Prinzips der Selbstbestimmung dazu führen könne, dass beispielsweise Menschen mit schwerer Behinderung und Leidenszuständen sich genötigt fühlen könnten, ihren Freitod zu wählen, um der Gesellschaft nicht mehr zur Last zu fallen. Ganz ohne Zweifel hat die SS Böses im großen Maßstab getan. Zugleich spielte sie indes eine wichtige Rolle bei der Konzeptualisierung der nationalsozialistischen Ethik. Ist aber, so fragt André Mineau, Professor of Ethics and History at the University of Quebec, Canada, eine „Ethik des Bösen“ überhaupt vorstellbar, da es der Ethik doch schließlich um das Gute geht ? Der Autor zeigt zunächst, dass und wie die SS - Ethik deontologische, konsequentialistische und perfektionistische Ansätze kombinierte, sich um moralische Konzepte wie Pflicht, das Gute sowie Tugend organisierte und dabei zugleich diese Konzepte ihrer Universalität beraubte. An die Stelle der universalen Gültigkeit moralischer Normen habe sie einen biologischen Egoismus gesetzt, der dem Gesetz der natürlichen Auslese folgte. Dementsprechend seien für die SS - Ethik drei
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Einleitung
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Gefahren relevant gewesen : der Rückgang der Geburtenrate, die Gegenauslese und die Vermischung der Rassen. Für die SS seien moralisch angemessene Handlungen solche im Interesse des deutschen Volkes gewesen, wobei sie die Zugehörigkeit zum deutschen Volk auf der Grundlage von rassischen Zurechnungskriterien bestimmte und die Verwirklichung des Gemeinwohls als Bewahrung der rassischen Substanz des Volkes definierte. Nach Mineau konnte durch diese Begrenzung des Gemeinwohls auf ein einzelnes Volk letztlich jede Form von Gewalt legitimiert werden. Die SS - Ethik habe, indem sie nur einem Teil der Menschheit einen Wert beimaß, einen exzessiven Egoismus verfolgt und damit zugleich eine starke nihilistische Komponente aufgewiesen. Amy Carney, Historikerin at Ohio University, widmet sich den Bestrebungen Heinrich Himmlers, die SS zu einer „Sippengemeinschaft“ zu formen, der nicht nur seine SS Männer, sondern ebenso deren Ehefrauen und Kinder sowie ihre Nachfahren angehören sollten. Voraussetzung für den Eintritt in diese Gemeinschaft sei die Zugehörigkeit zur nordischen Rasse gewesen. Auf Basis gemeinsamer nordischer Blutszugehörigkeit habe man alles Trennende – Religionszugehörigkeit, regionale Identitäten, soziale Statusunterschiede – überwinden und eine rassebewusste biologische und kulturelle Einheit herstellen wollen, die zur Vorhut des nationalsozialistischen Rassenstaates werden sollte. Die Autorin zeigt, wie dabei die SS - Wochenzeitschrift „Das Schwarze Korps“ zu einer Art ideologischem Zentralorgan der SS wurde mit Themenschwerpunkten wie der Eugenik, der Bedeutung von Ehe und Familie sowie der Bevölkerungspolitik des Dritten Reiches. „Das Schwarze Korps“, so lässt Amy Carney deutlich werden, war der Verbreitung und Erläuterung der biologischen Weltsicht der SS gewidmet und diente letztlich der Herausbildung einer rassischen Aristokratie im nationalsozialistischen Deutschland. Der Dresdener Historiker Christopher Theel widmet sich in seinem Beitrag der SS - und Polizeigerichtsbarkeit. Diese sollte in erster Linie die Funktion einer Militärgerichtsbarkeit der Waffen - SS erfüllen und somit ein Instrument der politischen und militärischen Führung in der Hand des Reichsführers - SS sein. Darüber hinaus aber sollte sie sich nach dem Willen Himmlers zu einer neuen, sich vom römischen Rechtsdenken emanzipierenden Gerichtsbarkeit auf der Grundlage germanischen Rechtsempfindens entwickeln. Sie sollte mithin eine dem nationalsozialistischen Wesen und den Aufgaben des NS-Staates entsprechende artgerechte Rechtsprechung herausbilden, deren Anspruch es war, sich letztlich als vorbildlich für die allgemeine Strafrechtspflege zu erweisen. Wie Theel deutlich macht, sollten die SS - und Polizeigerichte dabei „Pionierarbeit“ leisten. Der Autor diskutiert in diesem Zusammenhang Bemühungen, die „Richterpersönlichkeit“ aus dem „starren Rahmen des Gesetzes“ zu befreien und ihre Bedeutung bei der Findung des Rechts zu stärken, sowie die damit einhergehenden Versuche, das herkömmliche „Tatstrafrecht“ durch ein „Täterstrafrecht“, das an der Gesamtpersönlichkeit des Täters anknüpfte, zu ersetzen. Die Aufgabe der neu zu schaffenden Rechtswissenschaft sah man unter anderem darin, dem deutschen Volk ein im „völkischen Rechtsempfinden“ gegründetes
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Wolfgang Bialas / Lothar Fritze
Rechtssystem zu geben. Gleichzeitig jedoch war man sich der Tatsache bewusst, dass dieses Rechtsempfinden, etwa in der Frage der Tötung „lebensunwerten Lebens“, bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung noch nicht vorausgesetzt werden konnte, die erst noch zu rechtlichem Fühlen und Denken im nationalsozialistischen Sinne erzogen werden musste. Am Beispiel des berüchtigten Urteils des Obersten SS - und Polizeigerichts gegen Max Täubner aus dem Jahr 1943 zeigt Theel, wie sich SS - Richter zu rechtspraktischen Problemen verhielten, die sich aus dem mörderischen Auftrag der SS ergaben. In seinem Beitrag macht der Münsteraner Philosoph Wulf Kellerwessel auf eine gravierende Schwierigkeit einiger zeitgenössischer Moralkonzeptionen aufmerksam, die sich im Zusammenhang mit der Frage nach einer rationalen Kritik an nationalsozialistischen Handlungsnormen ergibt. Ihm geht es dabei um den Nachweis, dass ein offener oder verdeckter Relativismus in der Ethik eine vernunftgeleitete Kritik nationalsozialistischer Handlungsregeln unmöglich macht. Exemplarisch zeigt dies der Autor an den Positionen von G. Harman, B. Williams und M. Walzer. Sowohl Harmans als auch Williams’ metaethische Überzeugungen als auch Harmans Internalismus seien problematisch, zudem fehle es dem reiterativen „Universalismus“ von Walzer an kritischer Substanz. Zwar sind, so Kellerwessel, die genannten Moralphilosophen völlig unverdächtig, mit einer menschenverachtenden Ideologie wie der des Nationalsozialismus zu sympathisieren. Dennoch seien ihre Moralkonzeptionen ungeeignet, den Nationalsozialismus und seine Regeln des Handelns überzeugend zu kritisieren. Ein normativer Universalismus hingegen verfüge über ein entsprechendes Kritikpotential. Dies gelte insbesondere für den diskursanalytischen Universalismus. Der Konstanzer Philosoph Rolf Zimmermann begründet die These, dass Nationalsozialismus und Bolschewismus geschichtliche Ausprägungen eines moralischen Andersseins seien, deren Praxis der Massenvernichtung als Rassenmord oder Klassenmord aus Moral verstanden werden könne. Diese Interpretation, so Zimmermann, verliere ihren paradoxen Anschein, wenn man die Rede von Moral nicht von vornherein auf ein bestimmtes inhaltliches Vorverständnis oder apriorische Strukturen einschränkt. Die Analyse des Nationalsozialismus wie des Bolschewismus lege deren moralische Kerne, gesellschaftlich - politischen Normengefüge und Gewaltverhältnisse als geschichtliche Alternativen zum egalitären Universalismus der westlichen Tradition frei. Der „Gattungsbruch“ des Nationalsozialismus, für den der Holocaust stehe, verweist nach Auffassung des Autors auf die Transformation zu einem moralischen Anderssein, dem auf Seiten des Bolschewismus „Soziozide“ korrespondierten. Die Perspektive zur Schaffung des „neuen Menschen“ mit einer neuen Moral stelle – neben wichtigen Unterschieden – die übergreifende Gemeinsamkeit dar, die darüber hinaus in eine innerweltliche „Erlösungsmoral“ münde. Beide moralisch - geschichtliche Formationen müssten als radikale partikularistische Gebilde im Gegensatz zu einer universalistischen Moral verstanden werden. Im Zuge einer komparativen Moralbetrachtung werde damit auch die besondere Eignung des egalitären Universalismus, als deskriptiver wie normativer Leitfaden alternativer Moralen
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Einleitung
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deutlich. Zimmermann vertritt die Konzeption eines metaethischen Pluralismus, die jede Art von monistischer Moralbetrachtung fragwürdig mache. Als Produkt einer historischen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert müsse der Universalismus in seiner Kontingenz gesehen werden. Sein normativer Leitbegriff menschlicher Gleichheit gründe nicht in der Natur oder der Vernunft, sondern im Willen der Gleichstellung aller Menschen, der sich geschichtlich - prozessual universalisieren, aber nicht begrifflich garantieren lasse. Isaac Hershkowitz, Philosophy Professor at Bar - Ilan University, Israel, liefert eine meta - ethische Studie jüdischer Antworten auf den Holocaust. Auf der Grundlage einer phänomenologischen Übersicht über die Bandbreite der Antworten auf die Frage, welche ethischen Schlussfolgerungen aus dem Holocaust zu ziehen seien, entwickelt der Autor ein Modell jüdischer ethischer Antworten. Hershkowitz zufolge sind zunächst zwei divergierende Ansätze zu unterscheiden : der partikularistische und der universalistische Ansatz. Partikularistische Antworten, die den Holocaust als „göttlichen Posaunenschall“ in Reaktion auf einen konkreten Fehler im Leben der jüdischen Gemeinschaft interpretieren, werden als „ideologisch“ klassifiziert. „Moralische Erleuchtung“, so vermutet Herskowitz, sei nur von universalistischen Antworten zu erwarten; nur sie könnten eine Botschaft bieten, die von der gesamten Menschheit akzeptiert werden kann. Obwohl sich auch innerhalb des universalistischen Ansatzes verschiedene Strömungen identifizieren ließen, sei den verschiedensten Denkern eine gewisse „moralische Rastlosigkeit“ sowie die übereinstimmende Ansicht eigen, vor der Aufgabe zu stehen, die Welt in Ordnung bringen zu müssen. Diese jüdischen Denker fühlten sich angetrieben, das moralische Ansehen der Welt wiederherzustellen. Stewart Anderson und Wulf Kansteiner, kultur - und intellektuellengeschichtliche Historiker an der Universität Binghamton/USA, reklamieren einen Mangel an kritischer Analyse der Geschichte und Struktur der moralischen Dimension der Erinnerung des Holocaust in den Holocaust Studies. Ihre Analyse von ZDFFernsehsendungen über den Holocaust von Mitte der 1960er Jahre bis in die Gegenwart sieht die frühen 1980er Jahre, also die Zeit nach der Einführung des Holocaust - Paradigmas und vor der Kommerzialisierung des ( west )deutschen Fernsehens als die am meisten selbstreflektierte und selbstkritische Zeit der deutschen Fernsehgeschichte. Anderson und Kansteiner diskutieren ausgiebig das sogenante „Knopp - Fernsehen“ historischer Unterhaltung, das erfolgreich politisch korrekte antinazistische Botschaften mit widersprüchlichen Bildern kombiniert hat, in denen die Macht der Nazis gefeiert wurde. Schließlich interpretieren sie die Ausstrahlung einer Holocausterinnerung, die dessen Gewalt zelebrierte, als eine Mischung aus Interesse am Holocaust, philosemitischen Werten und der Überwindung von Tabus und Hemmschwellen. Die Übertragung der englischen Originaltexte ins Deutsche haben Dr. Mirko Wittwar und Elisabeth Orrison vorgenommen. Walter Heidenreich und Christine Lehmann danken wir für Ihre Umsicht bei der Herstellung der Druckvorlagen.
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I. Ethische Konzeptionen und Kontroversen
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Nationalsozialistische Ethik und Moral. Konzepte, Probleme, offene Fragen Wolfgang Bialas Nationalsozialismus und Holocaust wurden als Zerstörung des moralischen Gefüges der westlichen Welt und möglicher Rückfall der Menschheit in die Barbarei gesehen, wobei die Moral als kulturelle Sicherung galt, die Menschen gegen ihre innere Natur durch die Zivilisation aufgezwungen worden sei. Die Täter des Holocaust hätten das wahre Wesen des Menschen enthüllt. Unter der Oberfläche kultureller Domestizierung und moralischer Sicherungen warte der Mensch auf Gelegenheiten, wieder zur Bestie zu werden, die er in seiner zivilisatorischen Verkleidung immer geblieben sei. Auschwitz wurde jedoch nicht nur als Bruch mit der europäischen Moderne, sondern auch als Konsequenz in ihr selbst angelegter Ambivalenzen und Destruktionspotenziale beschrieben.1 Schließlich verweist die Rede von Gattungsbruch und Gattungsversagen auf die destruktive Rationalität nazistischer ethnozentrischer Partikularmoral, die sich gegenüber einer universellen Vernunftmoral durchgesetzt habe.2 In der deutschsprachigen Literatur stehen Forschungen zur nationalsozialistischen Moral und Ethik noch am Anfang.3 Unter Stichworten wie „nationalsozialistische Täter mit gutem Gewissen“,4 „Moral der Unmoral“, „nationalistische Transformationsmoral“, sogenannte nationalsozialistische Moral oder „Moral in Anführungszeichen“5 hat die Diskussion hier gerade erst begonnen. Die in der Debatte verwendeten Begriffe und Metaphern zeigen, dass die Annahme einer eigenständigen nationalsozialistischen Moral in der Forschung
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Vgl. Michael Prinz / Rainer Zitelmann ( Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1994. Vgl. Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2005. Für die englischsprachige Literatur vgl. Peter J. Haas, Morality after Auschwitz. The Radical Challenge of the Nazi Ethic, Philadelphia 1988, sowie Eve Garrard/ Geoffrey Scarre ( Hg.), Moral Philosophy and the Holocaust, Ashgate 2003; für die deutsche Diskussion außer den oben schon benannten Werner Konitzer / Raphael Gross ( Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, sowie Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a. M. 2010. Vgl. Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen, Köln 1998. Werner Konitzer, Moral oder „Moral“ ? Einige Überlegungen zum Thema „Moral und Nationalsozialismus“. In : Konitzer / Gross ( Hg.), Moralität des Bösen, S. 97–115.
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umstritten ist. Was soll das schließlich für eine Moral sein, die Konzentrations und Vernichtungslager, Holocaust und Euthanasie gerechtfertigt hat ? Es ist völlig angemessen, Auschwitz als „die Wirklichkeit des moralisch Unmöglichen“6 zu bezeichnen. Zweifellos ist der Nationalsozialismus der Inbegriff von Unmoral und Inhumanität. Die Verfolgung, Ausgrenzung und Vernichtung der europäischen Juden war nicht nur ein beispielloses Verbrechen, sie war auch zutiefst unmoralisch. Diese Feststellung bedarf keiner weiteren Begründung und lässt doch viele Fragen offen. Geht es vor allem darum, zu verstehen, warum nationalsozialistische Täter ihre Verbrechen begangen haben ? Oder liegt die größere Herausforderung darin zu begreifen, warum sie ihre Verbrechen nicht als solche erkannt haben – vorausgesetzt, sie haben tatsächlich an die rassenethischen Begründungen für die Notwendigkeit der Judenvernichtung geglaubt und diese deshalb wirklich für moralisch gerechtfertigt gehalten ?
I.
Die nationalsozialistischen Werterevolution : Rassenethik und Konditionierung des neuen Menschen
Die nationalsozialistische Werterevolution zielte auf die Umkehrung des bürgerlich - christlichen Wertesystems. Dessen erfolgreiche und nachhaltige Umformung erlaubte es nationalsozialistischen Tätern, in der Überzeugung zu handeln, dass ihr Verhalten moralisch unbedenklich oder sogar geboten war. An die Stelle traditioneller Werte traten konkrete Direktiven und Verhaltenserwartungen. Auch dann, wenn Menschen Unrecht tun und unmoralisch handeln, suchen sie nach Rechtfertigungen für ihr Handeln. Das gilt vor allem dann, wenn sie ausdrücklich gesetzte oder informelle Grenzen einer allgemein anerkannten moralischen Ordnung überschreiten – wenn sie also Dinge tun, die nach geltenden Normen kriminell und unmoralisch sind. Vor einem Handeln, das sie selbst als unmoralisch ansahen, würden die meisten Menschen zurückschrecken. Offensichtlich bedarf es der plausiblen Darstellung des Unmoralischen als der Moral einer neuen Ordnung, damit Menschen bereit sind, entsprechend zu handeln. Es war den nationalsozialistischen Tätern wichtig, vor sich selbst als anständige, moralisch handelnde Menschen dazustehen. Menschen, die dem nationalsozialistischen System nicht kritisch, skeptisch oder ablehnend gegenüber standen, verhielten sich mit hoher Wahrscheinlichkeit so, wie das von ihnen erwartet wurde. Sie wollten vor allem nicht auffallen und waren bereit, sich anzupassen, um auch weiterhin ihren Alltag möglichst ungestört leben zu können. Moralische Bedenken hatten sie dabei in der Regel nicht. Vielmehr unterstellten sie, dass es weder moralisch noch unmoralisch, sondern einfach vernünftig und eine Frage des gesunden Menschenverstandes sei,
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Hartmut Kuhlmann, Ohne Auschwitz. In : Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 1/1997, S. 101–110, hier 107.
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seinen eigenen Interessen zu folgen und zunächst einmal an sich selbst zu denken. Durch die biologische Werterevolution des Nationalsozialismus wurde die konventionelle Moral nicht einfach durch die neue Rassenmoral ersetzt, sondern diese galt weiter als eine Art sekundäre Gewissensinstanz. Es gab noch immer Dinge, die ein anständiger Mensch nicht tat : Lüge, Diebstahl, Vorteilsnahme, Korruption, Grausamkeit, Mord galten nach wie vor als unmoralisch und eines anständigen Deutschen unwürdig. Denkfiguren bürgerlicher Moral wurden im Ergebnis des nationalsozialistischen Wertewandels ersetzt, aber auch übernommen. Zu denen, die übernommen und funktional in die neue moralische Ordnung integriert wurden, gehörten das Gewissen als innere Instanz moralischer Selbstbefragung, die ethische Diskriminierung des Egoismus als unmoralisch und das Zulassen von Bedenken als Zeichen moralischer Ernsthaftigkeit und deren Überwindung als Beleg moralischer Stärke. Die nationalsozialistische Werterevolution zielte auf die Umwertung aller Moralbegriffe und geistigen Orientierungen des Menschen. Rassenbiologischer Naturalismus und metaphysische Politik erklärten die Menschen zu Trägern höherer Prinzipien. Ihr Wert wurde danach bestimmt, ob sie die Durchsetzung dieser Prinzipien durch ihr Handeln unterstützten oder ob sie ihnen als Verkörperung gegenteiliger Prinzipien im Weg standen. In dieser Sicht zählten Menschen nur als Angehörige einer Rasse, mit der sie entweder, wie die Juden, zur Vernichtung bestimmt waren oder, wie die Deutschen, als Angehörige der nordischen Rasse die Weltherrschaft übernehmen sollten. Nicht was sie mit ihrem Handeln im Sinn hatten, sondern was die Geschichte, die Nation, die Partei oder der Führer mit ihnen vorhatte, wurde in dieser heilsgeschichtlichen Perspektive zur eigentlichen Bedeutungsebene des Geschichtlichen.7 Durch die biopolitische Radikalisierung des Sozialdarwinismus und romantischer Konzepte von Nation und Volk suchte der Nationalsozialismus eine wissenschaftliche Moral zu entwickeln. Die Anschlussfähigkeit dieser Moral an Natur - und Lebensgesetze sollte ihr Plausibilität sichern in einer Zeit, die an naturwissenschaftlich - technische Lösungen tatsächlicher oder ideologisch konstruierter sozialer Probleme glaubte. Die nationalsozialistische Weltanschauung war anschlussfähig an die intuitive Weltsicht vieler Menschen, der sie systematische Kohärenz und wissenschaftliche Plausibilität gab.8 Die weltanschauliche Einbindung der neuen Ethik nahm ihnen nicht nur eigene moralische Urteile ab, sondern legte ihnen auch nahe, was sie in Übereinstimmung mit dieser Ethik zu tun hatten. Die damit verbundene Entlastung von eigener Verantwortung und der moralischen Wertung ihres Handelns wurde von vielen begrüßt.
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Vgl. Wolfgang Bialas, Der Nationalsozialismus und die Intellektuellen. Die Situation der Philosophie. In : ders. / Manfred Gangl ( Hg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 13–50. Vgl. Peter J. Haas, Doing Ethics in an Age of Science. In : Good and Evil After Auschwitz, S. 109–118, hier 110 f.
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Nationalsozialistische Ideologie und Moral haben sich wechselseitig begründet. Die nationalsozialistische Gesellschaft war mit moralischen Bedeutungen aufgeladen, die nazistische Rassenmoral selbst war eine ideologische Konstruktion. Zur Begründung einer originär nationalsozialistischen Ethik benutzte man historische und naturgesetzliche, rassische und bevölkerungspolitische, volkshygienische und biologische Argumente. Das Zusammenspiel dieser Argumente gab der nationalsozialistischen Rassenpolitik einen pseudowissenschaftlichen Referenzrahmen. Moralische Begriffe wie Anstand, Ehre, Treue und Pflicht wurden in der nationalsozialistischen Ideologie geradezu inflationär gebraucht. Sie sollten unterstreichen, dass die nationalsozialistische Bewegung von moralischen Prinzipien und Werten geleitet war und solche Prinzipien auch von ihren Anhängern einforderte. Die nationalsozialistische Ideologie zielte auf die Herausbildung einer neuen Moral, die sie auf drei Ebenen begründete : 1. dem Nachweis einer Krise bürgerlicher Moral, 2. der Vision einer neuen Moral und 3. der Begründung einer Politik moralischer Konditionierung des neuen Menschen.9 Nach ihrem Selbstverständnis war die nationalsozialistische Moral : – höhere, an absoluten Werten und Ideen orientierte Moral im Gegensatz zu einer intuitiven Common - Sense- Moral; – deutsche Moral im Gegensatz zu undeutscher Moral; – rassenbewusste Moral im Gegensatz zu artfremder Moral; – national - völkische Moral im Gegensatz zur internationalistischen Klassenmoral der bellizistischen Aufspaltung von Nation und Volk in feindliche soziale Gruppen; – Herrenmoral zur Durchsetzung der Rechte der Stärkeren im Gegensatz zu einer Moral des Schutzes der Schwachen und Bedürftigen vor den Übergriffen der Mächtigen; – global ausgreifende rassische Moral im Gegensatz und in Konkurrenz zur bürgerlich - christlichen wie bolschewistisch - atheistischen Moral; – antijüdische Moral. Die Plausibilität der nationalsozialistischen Moral sollte unter anderem durch folgende theoretische Begründungen und Gedankenfiguren nachgewiesen werden : – die Unterordnung des Einzelnen unter die Funktionalität eines größeren Ganzen oder die Durchsetzung höherer Ideen; – die Annahme ewiger Lebens - und Naturgesetze, die durch eine christlich - jüdische Moral der Gleichheit und Mitmenschlichkeit in ihrer Wirkung eingeschränkt seien; 9
Vgl. dazu aus nationalsozialistischer Sicht Herbert Graf, Der neue Mensch im neuen Staat, Berlin 1934, sowie Erich Jaensch, Der Gegentypus. Psychologisch - anthropologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie, ausgehend von dem, was wir überwinden wollen, Leipzig 1938.
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– die Einschränkung der Geltung universeller Werte entsprechend der Differenzierung von höher - und minderwertigem Leben; – den Anspruch, als Ingenieure der Ausmerzung minderwertigen und der Züchtung höherwertigen Lebens über die natürlich - biologischen Grundlagen und kulturellen Bedingungen menschlichen Lebens zu entscheiden;10 – die Anmaßung, Menschen im Experimentierfeld der Herstellung einer neuen Ordnung auf ihren Wert und ihre Funktionalität für diese Ordnung festzulegen. Die nationalsozialistische Moral war als prozedurale Tugendmoral konzipiert, in der als absolut gesetzte Tugenden im Pathos unbedingter Gefolgschaft mit der ingenieurtechnischen Haltung des moralischen Experiments zusammengeführt wurden. An die Stelle der moralischen Intuitionen des Common Sense setzte sie einen ideologischen Katalog von Tugenden und Geboten. Der Idealtyp des neuen Menschen war der rassebewusste, ideologisch überzeugte und informierte Weltanschauungskrieger – der politische Soldat.11 Dieser neue Mensch zeichnete sich durch moralische Urteilskraft im Sinne des Nationalsozialismus aus – durch vorauseilendes Mitdenken, nicht aber durch blinde leidenschaftslose Pflichterfüllung.12 Er wurde nicht als gedanken - und bedenkenloser Befehlsempfänger vorgestellt, sondern als jemand, der bewusst Verantwortung übernahm. Körperlich und geistig gesund sei er hart mit sich selbst und wäge jede seiner Handlungen kühl ab, um dann aber, wenn er einmal eine Entscheidung getroffen habe, entschlossen das zu tun, was er für notwendig, gerecht und sittlich halte. „Wir wollen eines vor allem – stets ehrlich vor uns selbst dastehen, wissen, warum wir so und nicht anders handeln, und uns klar sein über die Tragweite unserer Handlungen, die Folgen mit klarem Blick abwägen [...]. Wir wollen so leben, dass wir stets die Verantwortung vor uns selbst tragen können.“13 Das deutsche Volk sollte zu biologischen Haltungen und Gefühlen erzogen werden. Es sollte einen Rassencharakter entwickeln und ein „ethnisches Gewissen“ ausbilden.14 In Begründungsversuchen nationalsozialistischer Ethik wurde immer wieder die Bedeutung des Gewissens hervorgehoben, das aus einer rassenindifferenten Instanz persönlicher Verantwortung zu einem Rassengewissen15 10 Siehe Detlev J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, sowie ders., Die Genesis der Endlösung aus dem Geiste der Wissenschaft. In : Zerstörung des moralischen Selbstbewusstseins : Chance oder Gefährdung ? Hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1988, S. 24–48. 11 Vgl. Gerhard Stoedtner, Soldaten des Alltags. Ein Beitrag zur Überwindung des bürgerlichen Menschen, Leipzig 1939, sowie zur Diskussion Paula Diehl, Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS - Männer, Berlin 2005. 12 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat, Frankfurt a. M. 2005, S. 22. 13 „Moral – kritisch betrachtet“. In : Das Schwarze Korps vom 31. August 1944. 14 Vgl. Claudia Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge 2003. 15 Vgl. Martin Staemmler, Aufgaben und Ziele der Rassenpflege. In : Ziel und Weg, 3 (1933) 14, S. 415–422, hier 41.
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werden sollte. Der moralische Kern des Menschen, in dem sich sein Leben als moralisches Subjekt zusammenfasse, sei sein Gewissen. Vor ihm müsse sein normatives Selbstbild in der Konfrontation mit seinen Handlungen bestehen. Eben das sollte die Ersetzung des am Mitmenschen orientierten Gewissens durch das Rassengewissen leisten, das nur Artgenossen gegenüber moralische Verpflichtungen anerkannte. „Artfremden“ und „Gemeinschaftsschädlingen“ wurden moralische Zuwendung und Nächstenliebe ver weigert. Die neue Moral galt nur für erbgesunde Angehörige der eigenen Rasse. „Fremdes Blut“ sollte daran gehindert werden, mit der eigenen Gemeinschaft in Berührung zu kommen. Gegen eine diffus christliche oder allgemeinmenschliche Nächstenliebe sollte moralische Empathie auf Angehörige der rassischen Volksgemeinschaft beschränkt werden. Rassisch Minderwertige und Fremdrassige wurden aus dem Geltungsraum gegenseitiger moralischer Verpflichtungen ausgeschlossen. Die Deutschen sollten der nationalsozialistischen Ideologie und ihren rassenethischen Urteilen mehr vertrauen, als ihren lebensweltlichen Erfahrungen und Intuitionen oder ihrer eigenen Urteilskraft. Ihre rassenethische Konditionierung zur Bereitschaft, sich ohne moralische Skrupel an der Verfolgung der Juden zu beteiligen, wurde zugleich als ihre moralische Aufartung zum neuen Menschen dargestellt. Das Gesunde brauche den Kampf ums Dasein, um sich vor möglicher Verweichlichung zu schützen.16 Die rassenbiologische Ideologie unterstellte, dass rassische Zugehörigkeit und die entsprechende Affinität zu einer bestimmten Moral durch Vererbung generiert würden. Damit korrespondierte die Verpflichtung, die Möglichkeit der Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse nicht durch rassisches Fehlverhalten zu verspielen. Zu dem, was die Angehörigen der höheren Rasse durch rassenpolitische Zuschreibung immer schon waren, sollten sie sich zugleich durch rassebewusstes Verhalten erst machen. Die Zugehörigkeit der Deutschen zur nordischen Rasse stellte sie in die moralische Bewährung. Durch „Einsatz, Kampf und Hingabe der Person“17 für die Sache des Nationalsozialismus sollten sie nachweisen, dass sie zu Recht einer rassischen Elite zugerechnet wurden. Sie waren aufgefordert, ein um die Kategorie der Rasse angeordnetes Wertesystem auszubilden und sich von diesem nicht nur in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit, sondern auch in ihrem Alltag leiten zu lassen. Durch ihre Teilnahme an der Verfolgung und Stigmatisierung der Juden sollten die Deutschen, ihre Zustimmung zur neuen Rassenordnung zeigen. Ihre Bereitschaft zu Opfer, Hingabe und Verzicht sollte beweisen, dass sie persönlich auf der Höhe der ihnen durch ihre Rassenzugehörigkeit eröffneten Möglichkeiten standen. Die nationalsozialistische Rassenethik ließ zumindest den Angehörigen der nordischen Rasse einen individuellen Entwicklungsspielraum. Wären die Men16 Vgl. Karl Kötschau, Zur nationalsozialistischen Revolution in der Medizin. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 23, S. 884–889, hier 884 f. 17 Kurt Leese, Rasse – Religion – Ethos, Gotha 1934, S. 16.
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schen bereits durch ihre Rassenzugehörigkeit hinreichend bestimmt, so die Begründung, so könnten sie weder Verantwortung auf sich nehmen noch schuldig werden. Eine ausschließlich biologische Lehre vom Menschen ließe keinen Raum für persönliche Bewährung oder Versagen. Zwar seien die Menschen durch ihre Rassenzugehörigkeit für bestimmte Werte, Ideale und Überzeugungen disponiert. Dennoch liege es in der Verantwortung der Deutschen, ihre Disposition zu Höherem durch die Ausbildung einer artgemäßen Haltung zu unterstreichen. Sie sollten nachweisen, dass sie persönlich bereit waren, jene Haltungen auszubilden, die ihnen als moralischer Bonus qua Rassenzugehörigkeit bereits unterstellt wurden. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie durch ihr Verhalten die ihnen als Angehörigen einer hochwertigen Rasse zugeschriebenen Qualitäten bestätigen. Die moralische Diskriminierung der Juden wurde durch eine selektive Rassenmoral gerechtfertigt. Diese ersetzte eine universelle Vernunft - und Gattungsmoral durch eine rassenbewusste völkische Partikularmoral. In der Verfolgung der Juden sollte sich der neue Mensch und mit ihm die neue Moral herausbilden. Zwar erklärte man die Juden für überflüssig in einer künftigen, nach rassischen Kriterien organisierten Gesellschaft. Zugleich waren sie jedoch funktional zur Herstellung dieser Ordnung. Sie wurden gebraucht, um den neuen Menschen moralisch zum Rassenkrieger und biologischen Soldaten zu konditionieren. Im Bewusstsein der Verantwortung gegenüber seiner Rasse und seinem Volk müsse der neue Mensch fähig sein, „allen fremden, nicht artgemäßen Versuchungen“18 zu widerstehen. Da dem Menschen die Triebsicherheit des Tieres fehle, sich intuitiv seiner Art gemäß zu verhalten, müsse er zu biologischem Denken, Fühlen und Verhalten erst erzogen werden. Diese Konditionierung der Deutschen zu instinktsicherem moralischem Verhalten werde sie intuitiv in Übereinstimmung mit den Rassengesetzen handeln lassen. Für Tiere sei artgemäßes Verhalten unproblematisch. In dieser Hinsicht sei der Mensch dem Tier unterlegen. Es sei faktisch ausgeschlossen, dass sich Tiere im Widerspruch zu ihrer Art verhalten würden. Tiere, die aus der Art schlügen und sich widernatürlich verhalten würden, hätten dank des Gesetzes natürlicher Auslese keine Überlebenschancen. Bei Menschen sei das grundsätzlich anders. Die Geschichte menschlicher Zivilisation könne als fehlgeschlagenes Experiment der prinzipiellen Förderung von Vielfalt, Differenz und Toleranz beschrieben werden. Diese rassenindifferente Prinzipienlosigkeit habe zur Zersetzung, Verunsicherung und Unterdrückung der menschlichen Natur geführt. Die Rasse als Wesenskern menschlicher Identität habe in dieser Entwicklung keine Rolle gespielt. Durch artfremde, rassenübergreifende Vermischung habe sich die Menschheit von ihrer Bestimmung der Höherentwicklung durch natürliche Auslese und rassische Kohärenz entfernt. In bewusster Gegensteuerung zur kulturellen Domestizierung müssten die ihrer biologischen Natur entfremdeten Menschen erst wieder lernen, Versuchungen zu rassenindifferentem Verhalten zu 18 Franz Schattenfroh, Wille und Rasse, Berlin 1939, S. 182.
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widerstehen und die Souveränität eines artgemäßen Egoismus auszubilden. Ihre Konditionierung zu instinktsicherem Verhalten legte ihnen ein solches Verhalten als moralisch nahe.19 In einem soziologisch - anthropologischen Experiment sollte die Herrenrasse zur Vernichtung rassisch minderwertiger, lebensunwerter Menschen moralisch konditioniert werden. Die Ablösung der neuen nationalsozialistischen Moral von der alten Moral sollte durch die Herausbildung des neuen Menschen vorangetrieben werden, der die Tötung für lebensunwert und minderwertig erklärten Lebens mit seinem rassenethischen Gewissen vereinbaren konnte.20 Dabei demonstrierte die SS als rassische Elite, „wie man eine Rasse durch Ausmerzung anderer Rassen herstellt“.21 Sie nahm für sich in Anspruch, als Prototyp des neuen Menschen die neue nationalsozialistische Moral exemplarisch zu verkörpern. Die SS sah sich nicht nur als rassische Avantgarde der Umgestaltung der deutschen Gesellschaft, sondern war selbst ein sozialer und ethischer Mikrokosmos, in dem diese künftige, nach einer Moral der Stärke und Rücksichtslosigkeit organisierte Gesellschaft im Kern vorweggenommen und gelebt wurde.
II.
Die neue Moral. Die Ablösung bürgerlicher Rassenindifferenz durch einen artgerechten Humanismus
Der rassenbiologischen Ordnung der Menschheit in der Differenzierung minder - und höherwertiger Rassen stand die moralische Werteordnung der bürgerlichen Gesellschaft entgegen. Die nationalsozialistische Ethik brach mit der bürgerlich - christlichen Ethik, benutzte aber auch traditionelle moralphilosophische Argumentationsfiguren wie den kategorischen Imperativ. Sie trat mit dem Anspruch an, radikal mit den aus ihrer Sicht historisch überholten Traditionen bürgerlicher Moral zu brechen. Im moralischen Ausnahmezustand des nicht nur politischen, sondern ganzheitlich - anthropologischen Umbruchs sollten von bürgerlicher und christlicher Moral etablierte Werte als überlebt und nicht mehr zeitgemäß außer Kraft gesetzt werden. Die am Individuum orientierte bürgerliche Moral wurde durch die völkische Moral von Rasse und Gemeinschaft ersetzt. Im Anschluss an Nietzsches Kritik christlicher Moral als Schutz der Schwachen und Bedürftigen, der Minderwertigen und Lebensunwerten vor dem Zugriff der zur Herrschaft bestimmten Starken und Mächtigen wurde die bürgerliche Moral als historisch überlebte Sklavenmoral kritisiert, die es geschafft habe, den Herrenmenschen ein schlechtes Gewissen einzureden.22 Gegen diese 19 Vgl. „Dem Leben verschworen“. In : Das Schwarze Korps vom 20. Mai 1943. 20 Vgl. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors : Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1997, sowie Karin Orth, Die Konzentrationslager - SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, München 2004. 21 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 638. 22 Vgl. z. B. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. In : ders., Werke in 6 Bänden, München 1980, Band 4, S. 1161–1235, hier 1168.
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Nationalsozialistische Ethik und Moral
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vermeintliche Universalisierung einer Moral der Schwäche setzte die nationalsozialistische Ideologie und Ethik die Vision einer mit dem guten Gewissen auch moralischer Überlegenheit agierenden Herrenrasse. Der neue Mensch sollte sich von den Fesseln moralischer Verpflichtungen gegenüber Bedürftigen und Schwachen befreien und sein Leben rassischen Imperativen unterordnen, anstatt nicht mehr zeitgemäßen Geboten unbedingter Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe zu folgen. Die biopolitische Neuordnung der Gesellschaft entlang der Kategorie der Rasse sah Menschen als Teil eines anthropologischen Experiments. Fragen der Ethik und Moral wurden im Nationalsozialismus nicht nur in den Sozial - und Geisteswissenschaften23 oder der Medizin24 behandelt, sondern auch in ideologischen Kampfschriften,25 essayistischer Publizistik, Prosa und Lyrik.26 Dabei zeigt sich ein variantenreiches Spektrum ihrer begriff lichen Bestimmung : – Als „eugenische Ethik“27 sollte sie auf einem „Rassengewissen“28 gründen. – Als selektive Rassenethik gerichtet gegen eine widernatürliche Moral rassenindifferenter Mitmenschlichkeit war ihr Geltungsbereich auf Angehörige der deutschen Volksgemeinschaft beschränkt.29 – Als natürliche Lebensethik sollte sie die Steigerung des Lebens in Übereinstimmung mit Natur - und Lebensgesetzen bewirken.30 – Als soldatische Ethik stellte sie Kampf, Opferbereitschaft und Charakterstärke gegen altbürgerliche Werte einer übersättigten Gesellschaft, die es verlernt habe, ihr Wertesystem an den Herausforderungen der Zeit zu bewähren und es gegen konkurrierende Wertesysteme durchzusetzen.31 – Als deutsche Ethik sollte sie weder eine Paragraphenethik noch eine Gesetzesethik sein, sondern Moral der Tat, eine Herren- , Volks - und Kampfmoral.32
23 Vgl. z. B. Kurt Hildebrandt, Norm, Entartung, Verfall, Bezogen auf den Einzelnen, die Rasse, den Staat, Berlin 1934; Georg Usadel, Zucht und Ordnung, Hamburg 1935, sowie Gerhard Hennemann, Grundzüge einer deutschen Ethik, Leipzig 1938. 24 Vgl. Karl Kötschau, Zur nationalsozialistischen Revolution in der Medizin. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 23, S. 884–889. 25 Vgl. „Arteigene Sittlichkeit“. In : Das Schwarze Korps vom 6. Mai 1937. 26 Vgl. z. B. Kurt Eggers, Vom mutigen Leben und tapferen Sterben, Oldenburg i. O., o. J., sowie Erwin Guido Kolbenheyer, Zwei Reden : Das Geistesleben in seiner volksbiologischen Bedeutung, München 1942. 27 F. C. S. Schiller, Die Eugenik als sittliches Ideal. In : Archiv für Rassen - und Gesellschaftsbiologie, 24 (1930), S. 342. 28 Edgar Weidner, Das neue ärztliche Denken im nationalsozialistischen Staate. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 13, S. 486–490; Fortsetzung und Schluss (1934) 14, S. 524–527. 29 Vgl. Friedbert Schulze, Das Sittengesetz des nordischen Menschen, Leipzig 1933, S. 27. 30 Vgl. Ernst Krieck, Mythologie des bürgerlichen Zeitalters, Leipzig 1939, S. 86. 31 Vgl. das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat (1933/1934). In : Nationalsozialistisches Jahrbuch 1938, S. 148–163, hier 152 f. 32 Vgl. Gerhard Hennemann, Grundzüge einer deutschen Ethik, Leipzig 1938.
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– Als biologische Ethik zielte sie auf die Wiedergeburt des Instinkts, nachdem das Christentum den biologischen Instinkt für geistige Gesundheit und arteigene Moral durch die Ausbildung einer lebensfremden Feindesliebe zerstört habe.33 Die völkische Rassenethik war unvereinbar mit dem politischen Humanismus der Menschen - und Bürgerrechte und der christlichen Fürsorgeethik unbedingter Nächstenliebe. Rassenbewusstes Verhalten sollte durch die Ausbildung biologischer moralischer Haltungen und Intuitionen zur fraglos selbstverständlichen Routine werden : – Die Deutschen sollten dazu befähigt werden, aus einem Rasseninstinkt heraus moralisch im Sinne des Nationalsozialismus zu urteilen, zu handeln und biologische Verantwortung für die Volksgemeinschaft zu übernehmen. – Während für Angehörige der rassischen Volksgemeinschaft ein „Gemeinnutz auf Gegenseitigkeit“34 als zeitgemäße Haltung ausgezeichnet wurde, sollte „Artfremden“ gegenüber ein rassenbiologisch aufgeklärter Eigennutz der Höherwertigen gegenüber den Minderwertigen zur Geltung kommen. – Der „neue Mensch“ des Nationalsozialismus sollte als politischer Soldat und Rassenkrieger im weltanschaulichen Entscheidungskampf bedingungslos der „moralischen Urteilskraft des Blutes“ vertrauen. Die verbindende Klammer zwischen der nazistischen Kritik bürgerlicher Moral, dem Versuch der Begründung und Durchsetzung einer originär nationalsozialistischen Moral und der moralischen Konditionierung des neuen Menschen war die Infragestellung einer ausnahmslos alle Menschen einschließenden universellen Moral.35 Das bürgerliche Gesellschafts - und Wertesystem wurde für seine rassenindifferente, den nationalen Organismus schwächende Moral kritisiert und sollte durch einen artgemäßen biologischen Humanismus ersetzt werden. Einerseits verwarf die nazistische Ideologie etablierte Begriffe und Konzepte bürgerlich - christlicher Moral als anachronistisch und nicht mehr zeitgemäß. Andererseits sollten diese Konzepte nach ihrer ideologischen Umwertung zum ethischen Begründungsrahmen nationalsozialistischer Rassenmoral werden. Im radikalen Bruch mit dem bürgerlichen Wertesystem beanspruchte der Nationalsozialismus humanistische Grundwerte wie menschliche Würde, Gemeinnutz auf Gegenseitigkeit und Nächstenliebe in rassenbiologischer Konnotation für die eigene moralische Ordnung. Diese und andere Grundwerte bürgerlich christlicher Ethik wurden zwar auch in einer aggressiven antihumanistischen Rhetorik kritisiert. Der Grundtenor nationalsozialistischer Rassenethik war jedoch, diese als Vollendung des Humanismus durch die dafür prädestinierte nordische Rasse darzustellen. Die Ausbildung artgerechter Haltungen und eines 33 Vgl. Karl Pintschovius, Die Wiedergeburt des Instinktes. In : Das Reich vom 18. August 1940. 34 Das Schwarze Korps vom 28. November 1940. 35 Vgl. Ernst Tugendhat, Der moralische Universalismus in der Konfrontation mit der Nazi- Ideologie. In : Moralität des Bösen, S. 61–75.
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verlässlichen Rasseninstinkts sollte die Deutschen dazu befähigen, den Humanismus von rassenindifferenten Übertreibungen zu befreien und auf eine rassenethische Grundlage zu stellen.36 Dieser Balanceakt von Kritik und Vereinnahmung humanistischer und christlicher Rhetorik soll im Folgenden an Beispielen nazistischer rhetorischer Figuren vorgestellt werden : – Die Deutschen sollten auf die Stimme ihres Gewissens hören und ihren moralischen Intuitionen folgen – geleitet von einem Rasseninstinkt sollten sie intuitiv und guten Gewissens im Sinne der nazistischen Rassenideologie urteilen und handeln.37 – Appelliert wurde an ihre Urteilskraft, ihre Verantwortungsbereitschaft und ihr Pflichtbewusstsein – an die „Urteilskraft des Blutes“ und die Verantwortung gegenüber Rasse und Volk.38 – Nicht robotergleiche, gesichts - und charakterlose Massemenschen sollten sie sein, sondern Persönlichkeiten mit einem eigenen individuellen Profil – dem des rassenbewussten Volksgenossen.39 – Die nationalsozialistische Ideologie versprach, menschlicher Würde den ihr angemessenen Geltungsrahmen zu geben – durch die Aufartung rassenbiologisch leistungsfähiger Menschen, denen allein ein Leben in artgemäßer Würde zugestanden wurde.40 – Die Deutschen sollten nach dem Prinzip der Nächstenliebe handeln – nachdem sie sich mit Hilfe rassischer Natur - und Lebensgesetze vergewissert hatten, wer als Nächster mitmenschliche Zuwendung verdiente und wem sie aus rassenhygienischen und volksgesundheitlichen Gründen als fremdartig Anderen verweigert werden müsse.41 – Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Werterevolution, so wurde behauptet, stehe der Mensch – der als Individuum jedoch lediglich „das vorübergehende Gefäß für die zeitweilige Aufbewahrung der Erbmasse“42 sei. – Humanismus und Menschenrechte, Glaubens - und Gewissensfreiheit wurden ausdrücklich anerkannt – solange sie nicht im Widerspruch zu den Rassen-
36 Vgl. Alfred Bäumler, Der Kampf um den Humanismus. In : ders., Politik und Erziehung. Reden und Aufsätze, Berlin 1937, S. 57–66, hier 57 f. 37 Vgl. „Geist, Instinkt, Glaube“. In : Das Schwarze Korps vom 5. November 1942. 38 Vgl. Walter Gross, Die ewige Stimme des Blutes im Strome deutscher Geschichte. Rundfunkrede vom 14. Juli 1933. In : Ziel und Weg, 3 (1933) 10, S. 257–260. 39 Vgl. „Das Ende des Lebens“. In : Das Schwarze Korps vom 25. März 1943. 40 Vgl. Walther Brunk, Nationalsozialistische Erbpflege, Blutmaterialismus oder göttliches Naturgesetz ? In : Der Schulungsbrief, 3. Folge 1939, S. 356–358 und Walter Hebenbrock, Nationalsozialistische Wohlfahrtspflege ist Gesundheitsdienst. In : Der Schulungsbrief, 12. Folge 1938, S. 440–446. 41 Walter Gross, Unsere Arbeit gilt der deutschen Familie. In : Nationalsozialistische Monatshefte, (1939) 107, S. 99–106. 42 H. Finck, Volksgesundheit und Liebesleben. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 8, S. 287–294, hier 289.
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gesetzen standen und ihre Geltung auf biologisch vollwertige Menschen eingeschränkt war.43 – Auch nach der Freigabe lebensunwerten Lebens zur gezielten Tötung bekannte sich die nationalsozialistische Ideologie zur Heiligkeit und Unantastbarkeit menschlichen Lebens – i. e. des nach rassenbiologischen Kriterien für lebenswert befundenen Lebens.44 Diese Gegenüberstellung ethischer Konzepte mit universellem Geltungsanspruch und ihrer rassenpartikularen Brechung auf den moralischen Führungsanspruch der nordischen Rasse zeigt, dass es der nationalsozialistischen Ideologie zumindest rhetorisch ernst damit war, mit ihrer Rassenethik die Versprechen des Humanismus einzulösen – für diejenigen, die darauf auf Grund ihrer Rassenzugehörigkeit einen Anspruch hatten. Gewachsen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft war der Nationalsozialismus zugleich die politisch konzentrierte Drohung der Vernichtung von Bürgerlichkeit. Dem bürgerlichen Wertesystem wurde die egalitäre Ersetzung natürlicher Auslese durch eine christliche Fürsorgeethik und kulturzerstörerische Fantasien gleicher Menschen - und Bürgerrechte vorgeworfen. Durch diese pseudohumanistische Untergrabung des Kampfes ums Dasein habe es die natürlichen Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklung zerstört. Dem setzte die nationalsozialistische Ideologie die Befreiung menschlichen Verhaltens von moralischen Hemmungen im Namen einer höheren Vernunft und Humanität entgegen. Der Nationalsozialismus war kein „Sozialismus der Gleichheit“, sondern bekannte sich zur „naturgegebenen und gottgewollten Ungleichheit“45 der Menschen. Die Menschheit oder den Menschen schlechthin gebe es nicht, sondern immer nur Menschen bestimmter rassischer Prägung und Mischungen.46 Die durch christliche Moral und bürgerliche Menschenrechte verfolgte Idee der Gleichheit aller Menschen habe den natürlichen Kampfgeist und Rasseninstinkt der hochwertigen Rasse durch „humanitäre Charakterlosigkeit“47 zersetzt und ihr Überleben gefährdet. Empathie und Mitmenschlichkeit ausnahmslos allen Menschen gegenüber wurden als rassenindifferente Menschheitsverbrüderung und anachronistisches Relikt eines durch den Nationalsozialismus überwundenen bürgerlichen Zeitalters diskreditiert.
43 Vgl. Kurt Hildebrandt, Norm, Entartung, Verfall. Bezogen auf den Einzelnen, die Rasse, den Staat, Berlin 1934, S. 276. 44 Vgl. Gerhard Wagner, Rasse und Volksgesundheit. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 18, S. 675–685, hier 683. 45 Gerhard Wagner, Gesundheitsführung im nationalsozialistischen Staat. In : Der Schulungsbrief, 1. Folge 1939, S. 45–46, hier 46. 46 Vgl. Walter Gross, Rasse und Weltanschauung. In : Der Weltkampf, März 1938 (171), S. 97–108, hier 105. 47 Friedrich Wieneke, Charaktererziehung im Nationalsozialismus, Soldin 1936, S. 17 und 19.
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Ein Völker und Rassen übergreifendes universelles Wertesystem lehnte die nationalsozialistische Ethik ab.48 Gegen die Annahme allgemeiner Menschheitswerte bekannte sie sich zur Letztbegründung durch den Wert der Rasse. Die Menschen seien weder gleich noch gleichwertig, sondern entsprechend ihrer rassischen Zugehörigkeit höher - oder minderwertig. Der Wert eines Menschen werde durch seine Erbanlagen entschieden.49 Die Ungleichheit der Menschen sei eine Naturtatsache, die Annahme ihrer Gleichheit dagegen stehe im Widerspruch zum biologischen Denken.50 Die nationalsozialistische Vorstellung von Gerechtigkeit versprach nicht Jedem das Gleiche, sondern Jedem das Seine.51 Die Zugehörigkeit zur rassischen Volksgemeinschaft war die Bedingung dafür, die Geltung der Gemeinschaftsmoral für sich beanspruchen zu können. Gemeinschaftsfremde galten als unmoralisch. Auf sie fand die Gemeinschaftsmoral keine Anwendung. Sie waren entweder der Willkür ausgesetzt oder aber den Geboten einer negativen Moral, die auf ihre Diskriminierung und Vernichtung zielte. Gegen eine „gedankenlose Humanität“ ( Gründel ), die nur die Minder wertigen schütze, wurde die höhere Humanität der Rasse gesetzt.52 Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse entschied darüber, ob von ihren Angehörigen moralisches oder unmoralisches Handeln zu erwarten war. Zugleich waren die Angehörigen der höherwertigen Rasse aufgefordert, ihre individuelle Eignung durch die Ausbildung einer entsprechenden Haltung nachzuweisen. Die artgerechte Wertordnung sollte sich bei ihnen zu einem Rasseninstinkt habituell verfestigen. Der Nationalsozialismus stellte die natürlichen Bindungen der Menschen an die Rasse und ihre ethischen Verpflichtungen gegenüber dem Volk heraus. Nur im Zusammenhang seiner Rassenzugehörigkeit, so hieß es, könne der Einzelne seine Fähigkeiten und individuellen Eigenheiten ausbilden. Diese Zugehörigkeit entscheide darüber, wer moralische Zuwendung verdiene und wer nicht.53 An die Stelle christlicher Selbstverleugnung setzte die neue Moral das Prinzip der Selbstbehauptung gegenüber den geringer Wertigen. Auch die Moral wurde als Feld natürlicher Auslese bestimmt. Nicht nur die Stärksten und Widerstandsfähigsten müssten sich im Daseinskampf erst durchsetzen, sondern auch die Moralischsten. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung wurde zum moralischen Gottesurteil erklärt. Wer sich in diesem Kampf durchsetze, behaupte sich damit zugleich als moralisch. Die Auslese im Daseinskampf wurde als göttliches Gesetz zur Vernichtung der Untauglichen und Lebensuntüchtigen über die Heiligkeit 48 Vgl. Gerhard Hennemann, Grundzüge einer deutschen Ethik, Leipzig 1938, S. 5. 49 Vgl. Was ist Sozialismus ? In : SS - Leithefte, BA NS 31/421, S. 116. 50 Vgl. Walter Gross, Der Rassegedanke des Nationalsozialismus. In : Der Schulungsbrief, 2. Folge (1934), S. 6–20, hier 14. 51 Vgl. Ferdinand Roßner, Die Biologie im Kampf mit lebensfeindlichen Mächten. In : Der Weltkampf, (1937) 157, S. 1–7, hier 5. 52 Vgl. Ernst Günther Gründel, Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932, S. 316 f. 53 Vgl. Erwin Guido Kolbenheyer, Der Einzelne und die Gemeinschaft, München 1939, S. 27.
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menschlichen Lebens gestellt.54 Die Durchsetzung dieses Gesetzes verwirkliche den „Willen des Schöpfers nach Aufstieg und Gesundheit des Menschengeschlechts“, den die „liberalistische Humanität als Hüterin des Minderwertigen, des Faulen und des Verbrechens“55 durchkreuzt habe. Aus Demut und Achtung vor der Schöpfung müsse sich der Mensch hüten, das durch Daseinskampf und natürliche Auslese vollzogene moralische Gottesurteil in Frage zu stellen. Der blasphemische Zweifel an der normativen Berechtigung dieses Urteils müsse aus Achtung vor der Schöpfung mit der Vernichtung lebensunwerten Lebens beantwortet werden. Diese bevölkerungspolitisch einzig vernünftige Antwort auf die Gefährdung von Gesundheit und Existenz des deutschen Volkes befinde sich in Übereinstimmung mit der geltenden Rassen - und Gemeinschaftsmoral. Als biologischer Organismus sei das Volk den gleichen Gefährdungen ausgesetzt wie jeder Mensch. Auch ein Volk sei mehr oder weniger gesund und handlungsfähig, unterliege Stimmungsschwankungen und müsse sich mit Versuchungen auseinandersetzen, deren Gefahren ihm nicht von vornherein bewusst seien. Bevor rassenbewusstes Verhalten als gesundheitsbewusstes Verhalten zur biologischen Selbstverständlichkeit werde, müsse ein Volk unter Umständen zunächst durch eine seine Existenz bedrohende Krise gehen. Dabei wurde von der Konfrontation mit dem möglichen Untergang des deutschen Volkes eine aufklärende Wirkung erwartet. Die bevölkerungspolitische Aufklärung über die Gefahren der Indifferenz gegenüber den Gesetzen der Rasse und des verantwortungslosen Umgangs mit der völkischen Substanz der Nation werde die notwendige Bewusstseinsveränderung schaffen, um die Wende einzuleiten. Spätestens dann, wenn den Deutschen klar werde, dass zwischen ihrem eigenen Leben und dem Zustand des völkischen Organismus ein direkter Zusammenhang bestehe, würden sie aus ihrer Lethargie aufwachen. Im Wissen, dass ihre eigene Lebensqualität durch die rassische Zusammensetzung des Volkskörpers bestimmt werde, könne ihnen die rassische Gesundheit ihres Volkes nicht länger gleichgültig sein. Die Indifferenz zahlreicher zucht - und artvergessener Deutscher gegenüber dem Gesetz der Rasse habe mit dem „Eindringen artfremden Blutes“ zum Niedergang des deutschen Volkes und zur „Zersetzung von Glauben, Charakter und Moral“56 geführt. Ihre Mischung mit anders gearteten Menschen habe die Lebenskraft der Deutschen beschädigt und sie innerlich zerrissen.57 Deshalb müssten Artfremde und Minderwertige aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden, damit alle Deutschen eine Chance hätten, sie als Volksschädlinge zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Ihre öffentliche und gesetzlich geregelte Ausgrenzung verringere zugleich die Wahrscheinlichkeit gemeinschaftszersetzender Rassenmischung, die nun kenntlich sei als Verbrechen am Volk. 54 Vgl. Wagner, Rasse und Volksgesundheit, S. 683. 55 Weltkampf April 1936 (148), S. 183 ( aus der Rubrik „Weltverjudung und Abwehr“). 56 Walter Gross, Politik und Rassenfrage. In : Ziel und Weg, 3 (1933) 14, S. 409–415, hier 412. 57 Vgl. Gerhart Schinke, Woran sterben Völker ? Auslese und Gegenauslese. In : SS - Leitheft, 5 (1939) 3, S. 15–19, hier 15 f.
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Nationalsozialistische Ethik und Moral
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Handeln in Übereinstimmung mit den Natur - und Lebensgesetzen : Die rassenethische Begründung von Eugenik und Euthanasie
Der Nationalsozialismus sah sich als Bewegung zur Genesung des deutschen Volkes durch die Mobilisierung der gesunden Instinkte des Lebens.58 An die Stelle der Fürsorge für Schwache und Kranke setzte er die Pflege und Züchtung des starken und gesunden Menschen. Statt in fremdrassiger Sentimentalität erblich Minderwertige künstlich am Leben zu halten, müsse lebensunwertes Leben ausgeschaltet werden. Dadurch werde zugleich das „Zusammengehörigkeitsgefühl des Volkes“59 gestärkt. Mitleid mit den Erbkranken sei nicht nur ein Verstoß gegen die Gesetze der Natur und des Lebens, sondern auch gegen den Willen Gottes. Das Leben kümmere sich nirgends und niemals um einzelne Individuen und ihr kleines Schicksal. Jeder Mensch sei nur ein Glied in der Kette des Lebens und Tropfen im großen Strom des Blutes der Geschichte.60 Mit der Losung „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ wurde der Anspruch unterstrichen, niedrige egoistische Instinkte unter die Kontrolle des völkischen Gemeinwesens zu bringen. Aus nationalsozialistischer Sicht standen nicht die Rechte des Einzelnen, sondern seine Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft im Mittelpunkt. Jeder Mensch sei nur so viel wert, wie er der Gemeinschaft nütze.61 Die Gesetze des Lebens seien eben deshalb von brutaler Härte, damit das Kranke vernichtet werde, ehe es zur Gefahr für den Bestand der Rasse werden könne. Handeln in Übereinstimmung mit den Lebensgesetzen verlange, hart und mitleidslos gegenüber denen zu sein, die keine Überlebenschance hätten, wenn sie im Kampf ums Dasein auf sich allein gestellt wären. Die Ausbildung einer solchen Haltung kennzeichne die moralische Elite der neuen Menschen. Wer dem Überlebenskampf aus eigenen Kräften nicht gewachsen sei, dem müsse aus rassenethischen Gründen jegliche Hilfe zum Überleben verweigert werden. Die von der neuen Rassenmoral geprägten Deutschen sollten bereit sein, das durch die Gesetze des Lebens und der Rasse selbst ausgesprochene Todesurteil für rassisch Minderwertige persönlich zu vollstrecken. In ihrem Falle reichte die mitleidlose Akzeptanz der natürlichen Auslese und Vernichtung minderwertigen Lebens nicht aus. Von ihnen wurde ein eigener Beitrag zur Herstellung einer von lebensunwertem Leben und minder wertigen Rassen freien Gesellschaft erwartet. Sie sollten die Tötung der durch das Leben zum Tode Geweihten selbst übernehmen. Im Ergebnis der nationalsozialistischen Umkehrung der Werte nahmen Schwäche und Bedürftigkeit, Stärke und Durchsetzungsvermögen neue Bedeu58 Vgl. Erich Rudolf Jaensch, Der Gegentypus - Psychologisch - anthropologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie ausgehend von dem, was wir über winden wollen, Leipzig 1938, S. XXXII. 59 Ebd., S. 210. 60 Vgl. Gross, Politik und Rassenfrage, S. 413. 61 Vgl. Franz Schattenfroh, Wille und Rasse, Berlin 1939, S. 193.
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tungen an. Leidensfähigkeit, Toleranz und Friedfertigkeit galten nicht mehr als Zeichen moralischer Auserwähltheit, sondern als Indiz für die Unfähigkeit, sich im Daseinskampf zu behaupten. Gerade die Starken, den Daseinskampf Dominierenden wurden aufgefordert, nicht durch falsche Humanität und übertriebenes Mitleid mit Minderwertigen und Lebensuntauglichen den Daseinskampf zu verfälschen. Universelle rassenindifferente Humanität führe zu Rassenverfall. Sie verhindere die notwendige Ausmerzung schlechter und werde zur wirtschaftlichen Belastung hochwertiger Rassen. Wegen der übermäßigen Vermehrung Minderwertiger und Untauglicher müssten immer mehr Mittel aufgewandt werden, um Menschen am Leben zu erhalten, die aus eigener Kraft nicht lebensfähig wären. Anstatt Gesunde und Arbeitsfähige zu unterstützen, würden Menschen am Leben erhalten, die sich selbst und der Gemeinschaft nur zur Last fielen. Eine sich selbst überlassene Natur, die immer das Gesunde und Starke fördere, hätte diese längst rücksichtslos ausgemerzt.62 Erst das Eingreifen des Menschen in die natürliche Auslese habe zur Entartung geführt. Der Schutz auch derjenigen, deren Leben es nicht wert sei, erhalten zu werden, habe die natürliche Auslese zwischen Hochwertigen und Minderwertigen verhindert. Eine Moral der Schwäche habe die Natur - und Lebensgesetze daran gehindert, sich im natürlichen Kampf ums Dasein entsprechend zur Geltung zu bringen. Das Naturgesetz des Kampfes ums Dasein kenne jedoch keine Einschränkungen durch moralische Erwägungen. Es sei ein Gesetz, das immer zum Vorteil der Starken wirke. Ihnen verhelfe es zu der ihnen zustehenden Führungsposition in der Gesellschaft. Für rassisch Hochwertige gebe es keinen Grund, ihre Herrschaft über Minderwertige mit schlechtem Gewissen auszuüben. Stattdessen sollen sie ihre naturgesetzliche Führungsposition auf eine entsprechende Herrenmoral gründen. Die Starken müssten vor der moralischen Erpressung durch die Schwachen geschützt werden, anstatt die Lebensuntüchtigen vor vermeintlichen Übergriffen der Stärkeren in Schutz zu nehmen. Kulturelle und religiöse Ressentiments im Daseinskampf hätten moralischen Verfall und die Unterdrückung der natürlichen Instinkte zur Folge. Schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung gab es jedoch auch massive Kritik an einer rassenbiologischen Ethik. Insbesondere Menschen, die zu schwach seien, um selbst für sich zu sorgen oder einzustehen, so wurde argumentiert, brauchten besondere Fürsorge. Gerade im Umgang mit ihnen zeige sich, was die Prinzipien der Humanität wert seien. Gegen die gebräuchlichen Euphemismen volksgesundheitlicher Fürsorge, wonach ihre Tötung im Interesse der rassisch Minderwertigen selbst liege, die so von ihrem eigenen Leiden erlöst würden, aber auch davon, der Gemeinschaft weiter zur Last zu fallen, schrieb Emil Abderhalden 1929 in einem Artikel der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Ethik: „Mit einer rein biologisch begründeten Ethik ist es durchaus vereinbar, Schwächlinge zu vernichten. Die Idee, Schwachen zu helfen und sie besonders zu pflegen, ist gegenüber biologischen Gesichtspunkten etwas ganz 62 Vgl. Walter Gross, Die ewige Stimme des Blutes im Strome deutscher Geschichte. Rundfunkrede vom 14. Juli 1933. In : Ziel und Weg, 3 (1933) 10, S. 257–260, hier 259.
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Nationalsozialistische Ethik und Moral
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Neues. Die Fürsorge für geistig und chronisch Kranke ist so stark gesteigert worden, die Kosten für ihre Unterbringung und Pflege sind so hoch, dass manche meinen, dass dabei für die Gesunden zu wenig übrig bleibe. Von rein biologischen Gesichtspunkten aus ließe sich sicher ethisch begründen, dass man zum Nutzen der Gesunden solche Kranken töten müsse. Unser ganzes Inneres bäumt sich gegen eine solche ‚Ethik‘ auf.“63 Gegen mögliche Rechtfertigungen und Begründungen der Tötung lebensunwerten Lebens bestand er darauf, eine biologische Ethik am Prinzip unbedingter Mitmenschlichkeit zu kontrollieren. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung bekannte sich Abderhalden dann ausdrücklich zu einer Rassenethik, in der Gemeinnutz selbstverständlich vor Eigennutz gehe.64 Gegen das Naturrecht setzte die nationalsozialistische Ethik das Recht der Natur. In ihrem naturalistischen Fatalismus sahen sich die Nationalsozialisten durch die Natur selbst zu eugenischer Kontrolle und rassenbiologisch begründeter Herrschaft ermutigt. Nach ihrem Selbstverständnis handelten sie in Übereinstimmung mit den Lebens - und Naturgesetzen, und hier insbesondere dem Gesetz der natürlichen Auslese.65 Dieses Gesetz sorge dafür, dass sich die Lebenstüchtigen gegenüber den Schwachen und Hilfsbedürftigen durchsetzen würden. Menschen, die aus eigener Kraft nicht in der Lage seien, sich im Kampf ums Dasein zu behaupten, hätten auch kein Recht zu leben. Ein Lebensrecht wurde nur Menschen zugestanden, die aus eigener Kraft lebensfähig waren. Nach der Einschränkung der Lebensgesetze durch humanistische Eingriffe des Menschen in die vermeintliche Grausamkeit der Natur sollte durch Rassenhygiene und Eugenik eine Umkehrbewegung zur Gesundung der Gesellschaft eingeleitet werden. Rassenhygienische Eingriffe in eine durch rassenindifferenten Humanismus und Nächstenliebe degenerierte Natur wurden mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, einen ursprünglichen, von ethischen Erwägungen unberührten Zustand der Natur wiederherzustellen. Unter dem moralischen Druck kultureller Normen, so die Argumentation, hätten sich die Menschen von ihrer inneren Natur entfernt. Anstatt souverän ihren natürlichen Instinkten und Intuitionen zu folgen, hätten sie deren kulturelle Diskreditierung als animalisch und barbarisch akzeptiert. Zu einem natürlichen Verhalten in Übereinstimmung mit ihrer biologischen Natur seien sie nicht mehr in der Lage. Gegen moralische Skrupel, rassisch Minderwertige und Erbkranke zu töten, wurde argumentiert, dass es auch für die Betroffenen das Beste sei, wenn sie von ihren Leiden erlöst würden. Da diese Menschen aus eigener Kraft nicht lebensfähig seien, fehle ihnen auch die Kraft, sich selbst zu töten. Selbst wenn sie die Einsicht gehabt hätten, dass ihr Tod die einzige Lösung in einer für sie ausweglosen Lage war, hätten sie ihre Tötung nicht selbst vollziehen können. 63 Emil Abderhalden, Sind ethische Grundzüge wandelbar ? In : Ethik, 5 (1929) Mai, S. 410–421, hier 413. 64 Vgl. Emil Abderhalden, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. In : Ethik, 12 (1935/36) 1, S. 1–12. 65 Vgl. Wieneke, Charaktererziehung im Nationalsozialismus, S. 43.
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Eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung nationalsozialistischer Rassenpolitik spielte der um Rassenhygiene und Volksgesundheit organisierte medizinische Diskurs, der sich am Paradigma einer rassenbiologischen Anthropologie orientierte.66 Die „neue Ethik des Arztberufes“ sah im deutschen Arzt einen „Gesundheitsführer“, der nicht mehr vor allem mit „charitativer Fürsorge“ für Pflege - und Betreuungsbedürftige, sondern mit „produktiver Vorbeugung“67 der Verhinderung der Entstehung lebensunwerten Lebens beschäftigt war. Während der Arzt früherer Zeiten den kranken Einzelmenschen heilen wollte, sei der „nationalsozialistische Mediziner“ nicht mehr „Arzt des Individuums“, sondern „Arzt der Nation“.68 Für den neuen Arzt sei ein kalter Humanismus weder zeitnoch standesgemäß. Unheilbar Kranken und Behinderten wurde die Fürsorge verweigert. Künftig sollten Menschen mit nicht therapierbaren Behinderungen gar nicht erst geboren werden.69 Nur die rassisch Hochwertigen konnten mit medizinischer Fürsorge rechnen. Der neue Arzt sollte nicht mehr von pseudohumanistischem Mitleid70 gegenüber seelisch Kranken und geistig Behinderten gehemmt werden. Ethische und religiöse Bedenken gegenüber Eingriffen in die Lebensrechte Erbkranker wurden als unbegründet zurückgewiesen.71 Vor Gott mochten alle gleich sein, vor dem deutschen Arzt waren sie es nicht. Seine Zuwendung gelte ausschließlich „hilfesuchenden deutschen Volksgenossen“,72 und auch hier nur den Erbgesunden. Ausgehend von seinem „rassenhygienisches Gewissen“73 müsse der deutsche Arzt Erbkrankheiten und deren Träger ohne konfessionelle oder überholte professionelle Ressentiments eines kranken Zeitgeistes als „biologischer Soldat“74 bekämpfen. Der eugenische Eingriff in das Leben rassisch Minderwertiger und ihre gezielte Tötung wurden als sozialhygienische Korrektur unhaltbarer volksgesundheitlicher Zustände gerechtfertigt. In dieser Perspektive wurde die Euthanasie als Korrektiv einer außer Kontrolle geratenen, nicht länger an Bedingungen gebundenen Fürsorge für Pflegeund Betreuungsbedürftige in der Ambivalenz von Drohung und Versprechen eingeführt. Diese unaufgelöste Ambivalenz bestimmte die deutsche Euthanasiedebatte vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Dabei verwies die Drohung, Leben gezielt zu beenden, wenn es nur noch durch fürsorgende Unter66 Vgl. dazu die von 1931 bis 1939 erschienene Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, Ziel und Weg. 67 E. Hamann, Ärztliche Standesethik im Dritten Reich. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 17, S. 641–645, hier 645. 68 Th. Lang, Der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund. In : Nationalsozialistische Monatshefte, (1930) 1, S. 38–39, hier 39. 69 Vgl. Wilhelm Pfannenstiel, Gedanken über das Wertproblem in der Medizin. In : Ziel und Weg, 5 (1935) 5, S. 122–128, hier 127. 70 Vgl. Edgar Weidner, Das neue ärztliche Denken im nationalsozialistischen Staate. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 13, S. 486–490, hier 489. 71 Vgl. Wagner, Rasse und Volksgesundheit, S. 683. 72 Weidner, Das neue ärztliche Denken, S. 524. 73 Roderich von Ungern - Sternberg, Wie verhält sich die Rassenhygiene zur Sozialpolitik? In: Ziel und Weg, 4 (1934) 17, S. 654–656, hier 656. 74 Weidner, Das neue ärztliche Denken, S. 489 f.
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stützung aufrechterhalten werden konnte, auf knappe Ressourcen der Sozial und Gesundheitspolitik. Für die Pflege und Lebenserhaltung unheilbar Kranker, so das Argument, würden überproportional Mittel eingesetzt, die für die Grundversorgung des gesunden und leistungsfähigen Teils der Bevölkerung fehlen würden. Dagegen übernahm das Versprechen, ein dauerhaft auf Leiden und Schmerz reduziertes Leben zu beenden die unterstellte Eigenperspektive der unheilbar Kranken und geistig Behinderten. Da diese sich selbst in ihrer Hilf losigkeit nicht hinreichend artikulieren könnten, brauchten sie Fürsprecher, die in der Lage seien, sich in ihre Situation einzufühlen und die für die Betroffenen, aber auch für die Gesellschaft, beste Lösung zu finden. Diese Lösung, die auch die Betroffenen selbst wählen würden, wenn sie denn wählen könnten, könne nur ihre Erlösung durch gezielte Tötung sein. Im Selbstverständnis ihrer Befürworter wurde Euthanasie so zur Erlösung von Menschen, die selbst nicht in der Lage waren, ihrem unwürdigen, lebensunwerten Leben ein Ende zu setzen. Deshalb waren sie auf die Hilfe derjenigen angewiesen, die eine solche Erlösungseuthanasie als moralische Pflicht gegenüber der Gemeinschaft der Gesunden, aber auch gegenüber den nicht therapierbar Kranken und Minder wertigen sahen. Die nationalsozialistische Rassenideologie rechtfertigte Euthanasie und Holocaust als Tötungen zur Wiederherstellung eines gesunden Volkskörpers und der Erlösung der Menschheit von rassisch - kulturellen Krankheiten und ihren menschlichen Erregern. Sie verstand ihr politisches Programm der Rassenhygiene und Volksgesundung als angewandte Biologie.75 Ihre ideologische Selbstermächtigung zum therapeutischen Eingriff in geschichtliche Fehlentwicklungen zielte auf die Befreiung von unbedingten moralischen Verpflichtungen zwischen Menschen als Angehörigen einer Gattung. Die biologische Vervollkommnung der menschlichen Gattung sollte durch die Auslese höherer bei gleichzeitiger Ausmerze niederer, für lebensunwert befundener Menschen erreicht werden. Euthanasie und Holocaust können als Varianten rassenbiologisch begründeter Vernichtung von Menschen gesehen werden, denen ein nicht therapierbarer Defekt ihres Erbmaterials bescheinigt wurde. Diese galten entweder als unheilbar erkrankt oder aber sie waren kraft ihrer schicksalhaften Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse zur Ausmerze bestimmt. Auch wenn kein direkter Weg von der Euthanasie zu Auschwitz führte, lassen sich doch im Blick auf die Technologie der Massentötung, das an den Vernichtungsaktionen beteiligte medizinische Personal und die, wenn auch modifizierte, rassenhygienisch begründete Vernichtung für minderwertig erklärten Lebens Kontinuitäten und Parallelen feststellen, die den Vergleich lohnen. Nächstenliebe und Fürsorge für den Mitmenschen ungeachtet seiner Rassenzugehörigkeit und Lebensqualität wurden als christlich - humanistische Selbstver75 Vgl. u. a. Änne Bäumer ( Hg.), NS - Biologie, Stuttgart 1990, sowie Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz ( Hg.), Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992.
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leugnung der menschlichen Natur diffamiert. Deshalb wurden die Deutschen aufgefordert, sich zu ihrer eigenen Natur zu bekennen und gegen die moralische Erpressung durch einen natur widrigen Humanismus zu behaupten. Es gebe keinen Grund, die in der Zugehörigkeit zur nordischen Rasse gegründete Überlegenheit in allen Belangen mit schlechtem Gewissen wahrzunehmen oder zugunsten egalitärer Phantasien nicht wahrnehmen zu wollen. Sicher sei die natürliche Auslese der besten und lebenstüchtigsten Individuen der Art hart und grausam gewesen.76 Das entgegengesetzte Extrem, alles Schwache und Verkrüppelte zu pflegen und zu erhalten, sei jedoch mindestens genau so verheerend in seinen bevölkerungspolitischen Auswirkungen. Es habe zu einer Anhäufung von Menschen geführt, die weder etwas leisten würden noch Freude an ihrem Leben hätten.77 Frei von ethischen, religiösen oder anderen Rücksichten sollten die Deutschen als Herrenrasse nach den Geboten einer neuen Moral handeln, die das uneingeschränkte „Naturrecht des Stärkeren“ in den Mittelpunkt stellte. Die Geschichte sollte wieder unter das Naturgesetz des Kampfes ums Dasein nach dem alleinigen Recht des Stärkeren gestellt werden. Dieser normative Naturalismus einer rassenbiologischen Evolution sah sich im Einklang mit der biologischen Evolution. Die Natur kenne weder Mitleid noch Moral, sondern nur das Recht des Stärkeren. Der Stärkere aber müsse seinem natürlichen Instinkt folgen, um den Feind nicht nur zu besiegen, sondern ihn auch zu vernichten. Er brauche keine Moral, da er seine Ziele aus eigener Kraft und ohne moralischen Druck gegen die Schwächeren durchsetzen könne. Die Rechte der Stärkeren einzuschränken, um die Schwachen und Bedürftigen vor ihren Übergriffen zu schützen, wurde als widernatürlich denunziert. Im Drang zum Leben setze sich die Humanität der Natur als Moral der Stärke gegen eine unmoralische Humanität der Schwäche durch. Die moralische Orientierung an der Schutzbedürftigkeit der Individuen dagegen lege der Gemeinschaft, der Rasse und den Stärkeren normative Fesseln an. Rassenpolitik unterstütze den natürlichen Ausleseprozess durch die Vernichtung der Kranken und Schwachen. „Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen, da der Drang zum Leben in seiner letzten Form alle lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität der einzelnen immer wieder zerbrechen wird, um an seine Stelle die Humanität der Natur treten zu lassen, die die Schwäche vernichtet.“78 Die Natur bediene sich des Kampfes als Mittel, um das Leben stark und gesund zu erhalten. „Denn was im Kampf nicht siegen kann, geht notwendig zugrunde.“79 Es sei ein Gesetz des Lebens, alles Schwache und Minderwertige 76 Vgl. Alfred Mjöen, Die biologische Lebensauffassung und Sippenpflege. In : Michael Hesch / Günther Spannaus ( Hg.), Kultur und Rasse. Otto Reche zum 60. Geburtstag, München 1939, S. 131–139, hier 131 f. 77 Vgl. Walter Gross, Rasse und Weltanschauung. In : Der Weltkampf, (1938) 171, S. 97– 108, hier 103 f. 78 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1938, S. 145. 79 Von den ewigen Gesetzen des Lebens, S. 29.
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zu vernichten und nur das Starke zur Fortpflanzung zuzulassen.80 Deshalb wurde das Recht auf Fortpflanzung nur rassisch Hochwertigen und Gesunden zugestanden. Fortpflanzung müsse dort unmöglich werden, wo sie Leid, Elend und Schaden für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft bedeuten würde.81 Rassenhygienische Vorsorge sollte sicherstellen, dass Erbkranke und Minderwertige gar nicht erst geboren würden. Anstatt durch übertriebene Fürsorge ihr Leben künstlich zu verlängern, sollen diese entweder sich selbst und damit dem sicheren Tod überlassen oder aber gezielt ausgemerzt werden.82 Während in der Natur alles Ungesunde und Minderwertige von selber aussterbe, müsse in einer kulturell degenerierten Gesellschaft dem Verfall bewusst rassenpolitisch gegengesteuert werden. An die Stelle von Fürsorge und Mitmenschlichkeit den Schwachen und Bedürftigen gegenüber sollten Härte und Unbarmherzigkeit treten. Hart gegen sich selbst und andere müsse alles getan werden, um die Lebensgesetze der Rasse durchzusetzen.83 Menschen sollten sich hüten, das Leben und die Welt besser machen zu wollen als ihr Schöpfer. Man solle es der Natur überlassen, die Menschen nach ihrer Lebenstauglichkeit durch natürliche Auslese im Daseinskampf zu sortieren. Was die Natur wolle, dem solle sich der Mensch nicht entgegenstellen. Er solle sich hüten, ihr ins Handwerk zu pfuschen. Der Mensch bleibe Teil der Natur, auch wenn er in falsch verstandener Humanität meine, sich für die Lebensuntüchtigen und Schwachen einsetzen zu müssen. Was wie Humanität aussehe, untergrabe in Wirklichkeit die natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz. Im Kampf ums Dasein würden sich naturgesetzlich zwingend die Stärkeren gegen die Schwächeren durchsetzen. Je gesünder das Volk sei, umso größer werde auch die Brutalität sein, mit der es seinen Bestand und seine Zukunft sicherstelle. Hier gehe es nur um das Recht des Stärkeren.84 Eine an Humanismus und christlicher Nächstenliebe orientierte Kultur lasse der Natur nur wenig Möglichkeiten, Minderwertiges auszumerzen. Der unbedingte Schutz der Schwachen und Wertlosen führe dazu, dass die Minderwertigen dem ihnen „sonst drohenden Schicksal der frühzeitigen Vernichtung“85 entgingen. Deshalb müsse nationalsozialistische Rassenpolitik Lebensunwertes ausmerzen.86 Aus dem gesunden Instinkt der Rasse lebende „rassenbewusste 80 Vgl. SS - Mann und Blutsfrage. Hg. vom Reichsführer SS, SS - Hauptamt - Schulungsamt, Berlin 1941, S. 5. 81 Vgl. Walther Brunk, Nationalsozialistische Erbpflege, Blutmaterialismus oder göttliches Naturgesetz ? In : Der Schulungsbrief, (1939) 3, S. 356–358, hier 356. 82 Vgl. Heinz Neu, Biologische Politik. Deutschland, das künftige Reich gesunder Wohlfahrt, sozialer Gerechtigkeit und pflichtbewusster Freiheit. In : Der Weltkampf, (1933) 110, S. 43–51, hier 49. 83 Vgl. Walter Gross, Volk und Rasse. In : Der Schulungsbrief, (1939) 4, S. 143–148, hier 147. 84 Vgl. „Ächtung der Entarteten“. In : Das schwarze Korps vom 1. April 1937. 85 „Lebensgestaltung, wie wir sie wollen“. In : Das schwarze Korps vom 27. März 1935. 86 Vgl. Karl Zimmermann, Biologie und Rasse. In : Der Weltkampf, (1936) 148, S. 145– 159, hier 150.
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Hochmenschen“ hätten keine moralischen Skrupel, Erbkranke zu töten. Für sie sei klar, dass es dabei um die Zukunft des deutschen Volkes gehe.87 Unterschieden wurde zwischen der negativen Eugenik der Ausmerzung Minder wertiger und der positiven Eugenik der Verbesserung der rassischen Substanz Hochwertiger. In der Metaphorik des Gartens wurde dazu aufgefordert, zunächst das sich rasch vermehrende „menschliche Unkraut in der Kultur“ zu beseitigen um die „Verschlechterung der menschlichen Rasse“88 zu stoppen. Zur Verbesserung von Menschenrasse und Menschenleben bedürfe es jedoch auch einer positiven Eugenik, die bewusst die Besten, Stärksten, Gesündesten und Fähigsten fördere. Vor allem die negative Eugenik sei, wie nicht anders zu erwarten, auf heftigen Widerstand gestoßen. Schließlich verstoße sie „besonders stark gegen den humanitär - christlichen Standpunkt einer bedingungslosen Gleichmacherei“.89 Im Nationalsozialismus trat die Verpflichtung der Deutschen auf ihr rassisches Gemeinwesen und die Volksgesundheit an die Stelle der Common - Sense Moral mitmenschlicher Gegenseitigkeit. Das unbedingte und allgemeine Tötungsverbot christlicher und bürgerlicher Moral sollte durch das Tötungsgebot für Menschen und Gruppen ersetzt werden, die als nicht therapierbare Bedrohung der Volksgesundheit identifiziert wurden. Gegen die kulturell induzierte intuitive Tötungshemmung, die ausnahmslos alle Menschen einschloss, wurde die konditionierte Tötungsbereitschaft gesetzt. Aus Verantwortung für das Gemeinwesen, das deutsche Volk und die nordische Rasse sei die Tötung von Volksschädlingen und Gemeinschaftsunfähigen moralisch geboten, um die bevölkerungspolitische Krise, die das deutsche Volk in seiner Existenz bedrohe, zu lösen. Tötungen rassisch Minderwertiger und unheilbar Kranker wurden als rassenhygienische Maßnahme zur Wiederherstellung eines gesunden Volkskörpers und der Erlösung der Menschheit von biologisch - kulturellen Krankheiten und ihren menschlichen Erregern begründet. „Du sollst den Schädling töten !“,90 hieß es. Eine bürgerlich - humanistische Ethik schütze die Schwachen und Minderwertigen vor den Risiken des Daseinskampfes. Nur so könnten diese überleben. Im Daseinskampf natürlicher Auslese hätten sie nicht bestehen können. Die Natur hätte sie als lebensunfähig ausgemerzt. Solche Menschen müssten härter angefasst und in den Kampf des Lebens hinein gestoßen werden. Dass sie keine Chance haben, diesen Kampf zu bestehen, ist dabei unterstellt. Ohne Hilfe und Zuwendung den Folgen ihrer Behinderung im Lebenskampf ungeschützt ausgesetzt, müssen sie hier unterliegen. Natürliche Auslese bedeutete in ihrem Falle 87 Karl Kötschau, Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Revolution in der Medizin. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 1, S. 11–16, hier 11. 88 Ferdinand Canning Scott Schiller, Die Eugenik als sittliches Ideal. In : Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 24 (1930), S. 342–347, hier 342. 89 Brunk, Nationalsozialistische Erbpflege, Blutmaterialismus oder göttliches Naturgesetz?, S. 356. 90 Kurt Eggers, Vom mutigen Leben und tapferen Sterben, Oldenburg i. O., o. J., S. 71.
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den sicheren Tod. Gegen die Anmaßung des Menschen, der Natur seinen Willen aufzuzwingen und die Schöpfung zu verbessern, wurde zu Demut, menschlichem Maß und Ehrfurcht vor dem Leben in seiner durch Gott geschaffenen Form aufgerufen. Mit dem Bekenntnis zu biologischen Natur - und Lebensgesetzen wurde gegen die künstliche Verlängerung des Lebens aus eigener Kraft nicht lebensfähiger Menschen argumentiert. Menschen seien in ihrem Handeln nicht frei, sondern abhängig von Art, Rasse und Blut. Die Rede vom freien Willen stehe im Widerspruch zu den Lebens - und Naturgesetzen und habe mit der rassenbiologischen Wirklichkeit nichts zu tun.
IV.
Die ethische Diskriminierung der Juden
Die Vernichtung der Juden und der durch sie verkörperten Moral wurde als korrigierender Eingriff in eine durch moralische Restriktionen aus ihrer natürlichen Ordnung geratene Geschichte gerechtfertigt.91 Dieser Eingriff zielte tatsächlich auf eine Umwertung aller Werte und die moralische Grenzüberschreitung. Es genügte den Nazis nicht, über Leben und Tod der ihrer Willkür ausgelieferten Angehörigen „minder wertiger Rassen“ verfügen zu können. Die Entmenschlichung der zur Vernichtung bestimmten Opfer sollte diesen mit dem Verlust der Selbstachtung und Würde unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen vorführen, dass sie kulturell, moralisch und sozial bereits tot waren, bevor sie auch physisch vernichtet wurden, wenn sie nicht vorher schon durch Hunger oder Krankheit eines natürlichen Todes starben. Für sie galten moralische Kategorien schon vor ihrem biologischen Tod nicht mehr. Im anthropologischen Experimentierfeld der neuen Ordnung wurde den Juden der Status moralischer Subjekte, Würde und Respekt, nicht mehr zugestanden. Ihr Denken und Fühlen, Handeln und Verhalten war nicht mehr relevant für ihre Beurteilung. Reduziert auf die Zugehörigkeit zu einer moralisch minder wertigen Rasse galt das Bezugssystem gegenseitiger moralischer Verpflichtungen für sie nicht mehr. Sie wurden Praktiken der Erniedrigung und Entmenschlichung ausgesetzt, damit sie dem ideologischen Zerrbild rassisch minder wertiger Untermenschen entsprachen. Hannah Arendt hat dieses Element totaler Herrschaft prägnant erfasst : „Sind die Bewegungen erst einmal an die Macht gekommen, so beginnen sie, die Wirklichkeit im Sinne ihrer ideologischen Behauptungen zu verändern.“92 Die durch ihre Rassenzugehörigkeit definierten Juden hatten keine Möglichkeit, ihrer Stigmatisierung zu entgehen. Ihre Konvertierung zur christlichen Religion, ihre kulturelle Assimilation oder ihr demonstrativer Patriotismus wurden von den Nazis als rassenbiologisch irrelevant und als bewusste Strategie der Gefährdung der nordischen Rasse zurückgewiesen. 91 Vgl. Harold Kaplan, Conscience and Memory, Chicago 1994, S. 59. 92 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 719.
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Immer wieder wurde herausgestellt, dass die Juden „Gegenspieler und Todfeind der höchsten Werte und der tiefsten Ideen der europäischen Völker“93 seien. Ihre Fremdheit habe nichts mit ihrem Glauben, ihrer Moral oder Erziehung zu tun und könne so auch nicht „durch konfessionelle Übertritte, durch Emanzipation und Assimilation [...] geändert werden“.94 Die den Juden angeborenen erblich - rassischen Anlagen ließen sich durch keinerlei Einflussnahme verändern. Die Judenfrage lasse sich auch nicht lösen durch die Vertreibung der Juden aus Deutschland und ihre Ansiedlung in einem anderen europäischen Land. Vielmehr müssten sie aus ganz Europa vertrieben werden. Nachdem diese Frage der Zukunft der Juden in Europa entschieden war – sie hatten hier keine Zukunft, verschob sich der Schwerpunkt der Judenfrage auf die Bestimmung des Personenkreises, der als jüdisch gelten sollte. Hier dürften „grundsätzlich nur rassische Erwägungen maßgebend sein, nicht aber Fragen der Religionszugehörigkeit oder der Bodenständigkeit, Staatsangehörigkeit und dergleichen“.95 Der den Juden durch die nazistische Rassenideologie zugestandene individuelle Spielraum erschöpfte sich darin, die ihrer Rasse zugeschriebenen moralisch ver werf lichen Haltungen in der stereotypen Karikatur individuell zu verkörpern. Die antisemitische Rassenideologie legte jedoch auch in ihrem Fall Wert darauf, es nicht bei der anonymen Zuschreibung negativer moralischer Eigenschaften zu belassen, sondern der jüdischen Unmoral durch die Auf listung moralisch verwerf licher Handlungen und Haltungen, denen konkrete Personen zugeordnet wurden, ein persönliches Gesicht zu geben. In der stereotypen Benutzung der immer gleichen martialischen Rhetorik zeigte insbesondere der Stürmer grauenvolle Judenschädel und Teufelsfratzen, hinter deren „Maske der Unschuld“ alle Laster zu erkennen seien. Abgebildet wurden jüdische Rasseschänder, aus deren Gesichtern das Grauen und der Teufel sprachen.96 Die rassenethische Umwertung der Werte zielte darauf, sinnliche Wahrnehmungen und moralische Intuitionen durch eine ideologische Ordnung mit eigenen Bildern und Bedeutungen zu ersetzen. Was in seiner gewünschten ideologischen Bedeutung sinnlich nicht wahrnehmbar war, wurde durch übertriebene Karikaturen und inszenierte Bilder, etwa im Stil des primitiven pornografischen Antisemitismus des Stürmer, sinnlich wahrnehmbar gemacht. Die Notwendigkeit der Ideologie wurde mit der Unterscheidung zwischen einer täuschenden Oberfläche der Dinge und Erscheinungen und ihrem eigentlichen Wesenskern begründet. Hannah Arendt hat dieses Merkmal totalitärer Ideologie prägnant festgehalten : Ideologisches Denken „emanzipiert sich [...] von der Wirklichkeit, so wie sie uns in unseren fünf Sinnen gegeben ist, und besteht ihr gegenüber auf einer eigentlicheren Realität, die sich hinter diesen Gegenständen verberge, es aus dem Verborgenen beherrsche, und die wahrzunehmen wir einen sechsten Sinn benötigen. Den sechsten Sinn vermittelt eben 93 94 95 96
Walter Gross, Zur Lösung der Judenfrage. In : Neues Volk, 9 (1941) 5, S. 4–5, hier 5. Ebd. Ebd. Vgl. dazu die Sonderausgabe des Stürmer vom Januar 1938.
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die Ideologie.“97 Die ideologische Konditionierung der fünf Sinne durch den sechsten Sinn der Ideologie zielte darauf, rassenbiologische Wahrheiten sichtbar zu machen. Durch ideologische Aufklärung sollten z. B. assimilierte Juden, die sich nicht mehr als Juden zu erkennen gaben und auch nicht mehr als solche zu erkennen waren, wieder als Juden identifizierbar werden. Um die Minderwertigkeit der jüdischen Untermenschen, aber auch die untergründige Gefährlichkeit rassischer Kontaminierung und jüdischer Weltverschwörung nachzuweisen, konnte sich der nationalsozialistische Antisemitismus nicht mit abstrakten Zuschreibungen begnügen. Auch dem ideologisch ungeschulten Auge sollten die den Juden zugeschriebenen Stigmata sinnlich anschaulich vermittelt werden. Eben dazu bedurfte es der eindringlichen Bilder, der aussagekräftigen Statistiken und der wissenschaftlichen Beweiskraft der zweifelsfreien Expertise. All das leistete beispielhaft die filmische Stigmatisierung des Ewigen Juden aus dem Jahre 1940. Dieser Film, der die Deutschen auf die Vernichtung der jüdischen Rasse einstimmen sollte, kann ohne Übertreibung als Meisterwerk menschenverachtender Propaganda bezeichnet werden. Dank eines raffinierten Zusammenspiels einprägsamer Bilder, signalartiger Schlagworte und suggestiver Beweismittel wurde in ihm ein facettenreiches Bild der jüdischen Gefahr beschworen. Jüdische Verschlagenheit und Skrupellosigkeit, großstädtische Ghettokultur und weltmännisches Auftreten, abgründige Primitivität und listige Verschlagenheit, grenzenlose Anpassungsfähigkeit gepaart mit eiskalter Berechnung, kurz : die Fähigkeit, in wechselnden Gestalten und unterschiedlichen Rollen mit allen Mitteln das eine Ziel zu verfolgen, von dem die jüdische Rasse besessen sei : die Eroberung der Welt durch Finanzspekulation und politische Verschwörung, durch Kapitalismus, Kommunismus und die rassische Kontaminierung ihrer Wirtsvölker – all das ließ nur einen ( ideo )logischen Schluss zu : Im Interesse der Selbsterhaltung und des Überlebens, der Volksgesundheit und Sozialhygiene die jüdische Rasse rücksichtslos auszumerzen. Mit zwei Beispielen wird im Film auf die besondere Gefährlichkeit assimilierter Juden verwiesen, die gerade dadurch, dass sie nicht mehr als solche zu erkennen seien, unbemerkt und ungestört an der rassischen Zersetzung des deutschen Volkes arbeiten könnten. Eine Szene des Films zeigt junge Männer, die durch ihre traditionelle Kleidung und ihre Bärte unschwer als Juden zu erkennen sind. In einer anderen Einstellung werden die gleichen Männer dann rasiert, frisiert und in westlicher Kleidung gezeigt, wobei Überblendungen der Bilder den Kontrast zwischen ihrer früheren und der nunmehr an die westliche Gesellschaft assimilierten äußeren Erscheinung noch unterstreichen. Eine andere Szene schließlich zeigt Berliner Salon - und Kaffeehausjuden, die sich im Duktus ihrer filmischen Repräsentation in empörender Selbstverständlichkeit das Milieu dieser kulturellen Orte zu eigen gemacht hätten und für das ideologisch ungeübte Auge nicht mehr von normalen Berlinern zu unterscheiden seien. Gerade weil 97 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 719.
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manche Juden sich für den oberflächlichen Betrachter nicht mehr von Deutschen unterschieden, müsse ihr seelischer Typus herausgearbeitet werden – ihre Eitelkeit und religiöse Unduldsamkeit, ihr eiskalter Verstand und ihre schöpferische Unproduktivität, ihre Habgier, Heuchelei und Unwahrhaftigkeit ebenso wie ihre Verschlagenheit und Feigheit.98 So wird in einem Text zur Begründung der Einführung des Judensterns die Verstellungskunst der Juden in den Mittelpunkt gestellt : „Genau so wie in seiner Lebensführung hat der Jude auch körperlich die Eigenschaften eines Chamäleons, das jeweils nach den Umständen die Farbe seiner Umgebung annimmt. [...] Gerade für den Schutz gegen diese körperlich getarnten Juden war die Einführung des Judensterns eine Maßnahme der seelischen Seuchenbekämpfung.“99 Es gehe darum, den Juden unter der Maske raffinierter Tarnung zu erkennen, gerade wenn er oberflächlich betrachtet genau so aussehe, wie die Deutschen. Ohne ausreichende ideologische Sensibilität und Schulung seien die Deutschen den raffinierten Täuschungen der Juden hilf los ausgeliefert. Für sie stellte die nationalsozialistische Ideologie eindringliche Beispiele, Bilder und Erzählungen bereit, die die behauptete rassisch minderwertige Existenz der Juden veranschaulichen sollten.100 Ein entscheidendes Element antisemitischer Rassenpolitik war die Übersetzung ihrer ideologischen Stigmatisierung in sinnliche Wahrnehmungsmuster. Sie wurden nicht mehr als Menschen, sondern als Untermenschen und Ungeziefer dargestellt. Als Schädlinge des Volkskörpers müssten die Juden rigoros bekämpft werden. Das deutsche Volk müsse vor ihnen durch eine prophylaktische Rassenhygiene geschützt werden. Der Jude sei kein Mensch, sondern eine Fäulniserscheinung, die sich im deutschen Volk als Spaltpilz eingenistet habe.101 Schädlings - und seelische Seuchenbekämpfung, sozialhygienische Gesundheitsprophylaxe und moralische Reinigung, Schutz der Volksgemeinschaft vor rassischer Überfremdung und Rassenmischung – das sind einige der ideologischen Begründungen, mit denen der Kampf gegen die Juden geführt wurde. Die Juden hätten einen anderen Moralkodex als die Nichtjuden. Eben deshalb könnten sie auch nicht erwarten, nach den moralischen Standards des deutschen Volkes behandelt zu werden. „Die gänzliche Ausschaltung des Judentums aus Europa ist keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Sicherheit der Staaten. Der Jude wird immer so handeln, wie es seinem Wesen und seinem Rasseinstinkt entspricht. Er kann gar nicht anders. Wie der Kartoffelkäfer die Kartoffelfelder zerstört, so zerstört der Jude die Staaten und Völker. Dagegen
98 Vgl. Werner Dittrich, Erziehung zum Judengegner. Hinweise zur Behandlung der Judenfrage im rassenpolitischen Unterricht, München 1937, S. 6–23. 99 Ahasver, Ein Blick in das Verbrecheralbum. In : Neues Volk, 9 (1941) 12, S. 6–9, hier 6. 100 Vgl. Julia Schäfer, Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918–1933, Frankfurt a. M. 2005. 101 Vgl. Walter Buch, Des nationalsozialistischen Menschen Ehre und Ehrenschutz, München 1939, S. 15.
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gibt es nur ein Mittel : radikale Beseitigung der Gefahr.“102 Während die Juden als Angehörige einer minderwertigen Rasse bereits durch ihren Instinkt gezwungen seien, unmoralisch zu handeln, müssten die Deutschen erst vergleichbare Intuitionen ausbilden, um instinktsicher im Sinne des Nationalsozialismus moralisch zu handeln. Die Instinktsicherheit, mit der sie den Vorteil ihrer Rasse verfolgten, mache die Juden zunächst den noch um eine artgemäße Haltung ringenden Deutschen überlegen. Gesteigert werde die Gefährlichkeit dieser Situation noch dadurch, dass die bürgerlich - christliche Moral der Deutschen mit ihren Ideen von Nächstenliebe und Gleichheit aller Menschen in Würde und Wert auch die Juden in den Geltungsbereich dieser Moral einbeziehe. Den Juden könne ihr unmoralisches Handeln nicht einmal zum Vor wurf gemacht werden : Sie könnten gar nicht anders, als ihrem Instinkt zu folgen, der sie zur Zerstörung der Staaten und Völker konditioniert habe. Hier gelte es einzuschreiten, radikal und wirkungsvoll, jedenfalls ohne moralische Ressentiments. Jede andere Haltung wäre leichtsinnig und verantwortungslos, dem deutschen Volk, ja ganz Europa gegenüber. Das Ausmaß der Gefahr zwinge zum Handeln. Sie müsse beseitigt werden, schnell, gründlich und ein für alle mal. Als „Volksschädlinge“ seien sie tatsächlich „mit der Krebskrankheit, mit einer wuchernden und zerstörenden Geschwulst“103 vergleichbar. Bei der Konditionierung rassenpolitisch korrekten Verhaltens tat sich insbesondere die von Julius Streicher herausgegebene Wochenzeitung Der Stürmer her vor. In praktisch jeder Ausgabe wurden diejenigen, die meinten, sich den Juden gegenüber auch weiterhin menschlich und unbefangen als Freunde, Kollegen, Nachbarn oder Kunden verhalten zu können, mit der Veröffentlichung ihres Namen und ihrer Adresse gemahnt, ihr politisch naives und unbedarftes oder bewusst provozierendes rassenpolitisches Fehlverhalten zu korrigieren. Kamen sie dieser Aufforderung nach, so blieb auch das nicht unerwähnt, sondern wurde lobend als Beispiel zur Nachahmung empfohlen. So denunzierte der Stürmer immer wieder nichtjüdische Deutsche, die freundschaftliche Beziehungen zu Juden unterhielten, Geschäfte mit Juden machten oder Juden vor Gericht vertraten, die bei Juden kauften, von Juden Waren bezogen oder die jüdische Vertreter beschäftigten. Es wurden Deutsche benannt, die mit Juden in öffentlichen Lokalen beobachtet wurden oder die sich von Judenärzten behandeln ließen, die bei der Beerdigung von Juden gesehen wurden oder die sich an anderen Orten öffentlich mit Juden zeigten, Menschen, die Juden in Schutz nahmen, die Geld bei Juden borgten, ihnen zu Familienfeiern einen Tisch oder Geschirr ausliehen oder die die Frechheit besessen hatten, Juden ein glückliches
102 Joseph Goebbels, Überwundene Winterkrise. Rede im Berliner Sportpalast vom 5. Juni 1943. In : ders., Der steile Aufstieg. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1942/43, München 1944, S. 287–306, hier 301. 103 Der asoziale Mensch. Ein biologisches Gleichnis. In : Das Reich vom 23. November 1941.
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neues Jahr zu wünschen.104 Freundschaftliche, nachbarschaftliche, kollegiale oder geschäftliche Begegnungen und Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden sollten unterbunden, das Zusammenleben deutscher Juden und Nichtjuden zum Feld völkischer Bewährung werden, auf dem die Deutschen ihre Unterstützung der nationalsozialistischen Rassenpolitik zeigen sollten.105 Im Nationalsozialismus wurden moralische Haltungen und Handlungen, die im Gegensatz zur Rassenmoral standen, politisch kriminalisiert und entsprechend verfolgt. Den Juden wurde die Anerkennung als moralische Subjekte verweigert. Sie waren aus dem Geltungsraum moralischer Verpflichtungen ausgeschlossen. Ihre Diskriminierung und Verfolgung als „minder wertige Untermenschen“ oder „Volksschädlinge“ wurde ausdrücklich als gesetzeskonforme Politik im Interesse des deutschen Volkes gerechtfertigt und zum moralischen Gebot der Volksgesundheit erklärt. Offensichtlich waren viele Deutsche dankbar für Gründe, die den Ausschluss der Juden aus dem Geltungsbereich moralischer Verpflichtungen als rechtmäßig rechtfertigten. Für die Mehrheit politisch indifferenter Deutscher genügte die Angst vor Nachteilen im Falle ihrer Weigerung, die moralische Stigmatisierung der Juden zu akzeptieren, damit sie verlässlich im Sinne des Systems funktionierten.
V.
Die moralische Haltung der Täter
Nach 1. der Kennzeichnung der Täter als pathologische Gewaltverbrecher, 2. der Gegenthese Hannah Arendts von der unauffälligen Persönlichkeitsstruktur banaler Täter, die in keinem Verhältnis zur Monstrosität der von ihnen begangenen Verbrechen stand, und 3. der Anonymisierung der Täter durch ihre Einordnung in die arbeitsteilig organisierten Abläufe einer modernen Industriegesellschaft und Bürokratie hat sich schließlich 4. mit der Formel der „ordinary men“ ( Browning ), der gewöhnlichen Deutschen, die Einsicht durchgesetzt, dass die Täter häufig aus der Mitte der deutschen Gesellschaft kamen. Differenzierungen nach weltanschaulichen Überzeugungstätern, bürokratischen Schreibtischtätern, opportunistischen Karrieretätern, psychopathischen Triebtätern oder Ähnlichem ergänzen diese Typologie oder lassen sich ihr zuordnen. Nationalsozialistische Täter waren nur in Ausnahmefällen pathologische Kriminelle. Häufig erschienen sie als durchschnittliche, normale Menschen, die unter anderen Umständen weder die Gelegenheit gehabt hätten noch in Versuchung gekommen wären, sich an Verbrechen und Massenmord zu beteiligen. Das trifft auch für diejenigen zu, die sich nicht selbst an Verbrechen beteiligt, diese aber auch nicht verhindert, sondern stillschweigend geduldet haben. Auch sie machten später häufig den Zeitgeist und die ideologisch aufgeladene Atmosphäre dafür verantwortlich, dass sie Menschen, die aus rassischen oder politi104 Vgl. Der Stürmer, Heft 6, Februar 1938. 105 Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2008.
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schen Gründen verfolgt wurden, nicht geholfen hätten. Eingeschüchtert durch das nazistische Terrorsystem seien sie froh gewesen, nicht selbst Ziel von Diskriminierung und Verfolgung zu sein. Begegnungen mit Menschen, die ihre Hilfe gebraucht hätten, hätten sie bewusst vermieden. Im Nachhinein bestanden sie darauf, dass sie ihnen unter anderen Umständen beigestanden, zumindest aber Mitleid, Sympathie und Achtung nicht verweigert hätten. In dieser Argumentation wird den Umständen die entscheidende Rolle bei der Qualifizierung eines bestimmten Handelns als moralisch oder unmoralisch zugeschrieben. Die Täter stellten sich als Opfer von Zeitumständen dar, mit denen sie sich arrangiert hätten. Darin unterschieden sie sich in nichts von der Mehrheit der Deutschen. Die Vorteile, die ihnen die bereitwillige Zusammenarbeit mit dem System brachten – Anerkennung, beruf licher Aufstieg und Gelegenheit zu persönlicher Profilierung, hätten sie selbstverständlich wahrgenommen. Für sie habe es weder Gründe noch Gelegenheiten gegeben, die Bedingungen dieses Arrangements kritisch infrage zu stellen. Im Vergleich der Vor - und Nachteile, die das nationalsozialistische System für ihr persönliches Leben gebracht habe, hätten die Vorteile eindeutig überwogen. Für die ideologischen Begründungen nationalsozialistischer Politik hätten sie sich nicht interessiert. Eigene Entscheidungen und Urteile seien ihnen erspart geblieben. Dafür seien sie im Nachhinein dankbar, da sie so vermeiden konnten, persönlich Schuld auf sich zu laden. Schuldig könne nur werden, wer Gesetze übertrete oder moralische Normen verletze, wer seinen persönlichen Vorteil auf Kosten Anderer suche oder Anderen bewusst aus eigener Initiative Leid und Schaden zufüge. Von all dem könne bei ihnen keine Rede sein. Weder hätten sie solche Gelegenheiten gehabt noch sie gesucht. Im Nachhinein sei ihnen natürlich der unmoralische und kriminelle Charakter ihres Handelns bewusst. Da sie das, was sich jetzt als Verbrechen darstelle, jedoch nicht selbst initiiert und so also auch nicht persönlich zu verantworten hätten, könne ihnen dafür auch keine Schuld zugerechnet werden. Kurz : Aus heutiger Sicht seien sie unter den damaligen Umständen schuldunfähig gewesen. Entweder also behaupteten die Täter, durch ihre ideologische Indoktrinierung in ihrer moralischen Urteilsfähigkeit so sehr eingeschränkt gewesen zu sein, dass sie nur bedingt schuldfähig waren. Als Opfer der Verhältnisse hätten sie nicht in freier Entscheidung gehandelt. Diese Tatsache müsse mindestens als mildernder Umstande gelten, der zwar nicht die kriminelle Qualität und moralische Ver werf lichkeit ihrer Taten, wohl aber ihre Schuldfähigkeit als Täter relativiere. Dafür waren sie häufig sogar bereit, die kriminelle Qualität oder moralische Verwerf lichkeit ihrer Taten zu akzeptieren, legten aber Wert darauf, nicht auf ihre Taten reduziert zu werden. Oder aber sie nahmen für sich in Anspruch, gleichgültig und indifferent gegenüber den politischen Verhältnissen und ihren ideologischen Grundlagen gewesen zu sein. In jedem Falle sei ihnen nicht bewusst gewesen, Unrecht zu tun oder unmoralisch zu handeln. In ihrem Selbstverständnis hätten sie rechtmäßig und moralisch gehandelt, nämlich in Übereinstimmung mit geltenden Recht und der nationalsozialistischen Rassenmoral.
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Durch Aufzeichnungen und Interviews nationalsozialistischer Täter sind solche Argumentationen gut dokumentiert.106 Dabei spielen die Umstände, unter denen diese Aufzeichnungen gemacht wurden, eine entscheidende Rolle. In aller Regel entstanden sie nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus im Zusammenhang bevorstehender Prozesse. In diesen Argumentationen standen moralische Überlegungen neben rechtlichen Erwägungen. Auch wenn die Täter angesichts der Möglichkeit, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt zu werden, ihr Leben zu retten versuchten, sind diese Aufzeichnungen dennoch wertvolles Material, das Aufklärung über die moralische Ordnung des Nationalsozialismus verspricht. Auch die Verfälschungen und Verzerrungen ihrer Motive und Gründe geben Aufschluss darüber, wie die nationalsozialistische Ideologie zur moralischen Haltung der Täter wurde. Dabei reichte das Spektrum von fanatischem Glauben an die Ziele des Nationalsozialismus bis zu professioneller Distanz und pflichtbewusster Beamtenmentalität. Es versteht sich von selbst, dass ihre moralischen Rechtfertigungen nicht einfach übernommen werden können. Es wäre aber auch verfehlt, diese durchschaubaren Entlastungsversuche als irrelevant für die Erklärung nazistischen Täterverhaltens zu ignorieren. In aller Regel haben nationalsozialistische Täter als Angehörige militärischer Einheiten oder anderer politischer Organisationen, und dabei im Zusammenhang von Befehls - und Entscheidungshierarchien gehandelt, also nicht auf eigene Initiative und in eigener Verantwortung. Dennoch hatten sie Gelegenheit und wurden auch dazu ermutigt, sich persönlich hervorzutun. Diejenigen, die sich persönlich an der Verfolgung und Vernichtung der Juden beteiligten, wussten sich dabei in Übereinstimmung mit den Gruppennormen der Einheiten, in denen sie dienten. Wenn sie ihren weltanschaulichen Überzeugungen folgten, dann bestimmten diese auch ihre moralischen Überlegungen und Entscheidungen. Rechtfertigt diese Konstellation ihrer ideologisch induzierten moralischen Verrohung den Anspruch nationalsozialistischer Täter auf verminderte Schuldfähigkeit, darin vergleichbar der in psychischen Defekten gegründeten emotionalen Verrohung sogenannter Triebtäter ? Eine andere Frage ist die Straffähigkeit bzw. - mündigkeit nationalsozialistischer Täter, die im Schutz rassenpolitischer Ideologie in den Lagern ihre gestörte Persönlichkeit ausleben konnten. In den verschiedensten Zusammenhängen haben die meisten Deutschen den Nazismus entweder ausdrücklich unterstützt oder durch verlässliche Erfüllung vermeintlich unproblematischer und unpolitischer Dienstpflichten erst die Umsetzung nationalsozialistischer Politik ermöglicht. Auch wenn sie der nazistischen Rassenideologie und - ethik indifferent gegenüber standen, konnten sie deren Ziele engagiert auch ohne innere Beteiligung unterstützen.107 Sie sahen 106 Vgl. u. a. Gitta Sereny, Am Abgrund. Eine Gewissenforschung, Frankfurt a. M. 1980, sowie Martin Broszat ( Hg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höss, München 1996. 107 „Das Beunruhigende an der Person Eichmann war doch gerade, dass er wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend
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sich in der Pflicht, ihr Bestes zur Erfüllung der ihnen gestellten Aufgaben zu leisten, deren Berechtigung sie nicht infrage stellten. Daraus scheint zu folgen, dass Menschen unmoralisch handeln können, ohne selbst unmoralische Haltungen auszubilden. Diese Paradoxie löst sich dann auf, wenn moralische Indifferenz selbst als unmoralische Haltung identifiziert wird – als Weigerung, eine Situation moralisch zu beurteilen und entsprechend zu handeln. Ein anderer Erklärungsansatz geht von der ethisch motivierten Kollaboration der meisten Deutschen mit dem Nationalsozialismus aus. Deutsche Ärzte und Richter, Theologen und Lehrer, die Kommandanten der Konzentrations - und Vernichtungslager, aber auch das Eisenbahnpersonal, hätten ihre Arbeit mit einer Hingabe, Leidenschaft und Professionalität getan, die nur eine Schlussfolgerung zulasse : Alle diese Menschen, die den Betrieb der nazistischen Tötungsmaschinerie des Holocaust in Gang hielten, ohne die er nicht so reibungslos und effizient verlaufen wäre, hielten, was sie taten, für sinnvoll, nützlich und moralisch unbedenklich. Sie hätten nicht leidenschaftslos lediglich ihre Pflicht erfüllt oder ihren Dienst getan, sondern im Holocaust die Ver wirklichung von Idealen gesehen, denen sie selbst verpflichtet waren.108 Es ist eine kontrovers diskutierte Frage, ob sich klassische ethische Theorien überhaupt auf extreme Ereignisse wie den Holocaust anwenden lassen, deren Möglichkeit zur Zeit ihrer Formulierung nicht vorhersehbar war, und die deshalb auch nicht als historische Referenz in die systematische Begründung solcher Theorien und die Diskussion als moralisch oder unmoralisch herausgestellter Praktiken eingehen konnten. Bezweifelt wird, dass die von der klassischen Ethik entwickelten Normen, Urteile und Begründungen ausreichen, um den Holocaust in seiner moralisch - ethischen Dimension zu begreifen.109 Die Annahme einer eigenen moralischen Ordnung des Nationalsozialismus kann als Antwort auf diese historiographisch - methodologische Skepsis gesehen werden. Sie wurde erstmals systematisch 1988 von Peter Haas in seinem Buch Morality after Auschwitz entwickelt. Das Buch hat im englischsprachigen Raum eine Debatte ausgelöst, die bisher in Deutschland kaum rezipiert wurde. Dabei ging es u. a. um die Bestimmung nationalsozialistischer Ethik und Moral sowie um Bedingungen der Plausibilität von Moral und Kriterien der Vergleichbarkeit unterschiedlicher moralischer Systeme. Grundzüge der Argumentation von Peter Haas sollen im Folgenden referiert und diskutiert werden. Unter einer Ethik verstand Haas ein in sich stimmiges System von Überzeugungen, Werten und Ideen, das einen Maßstab dafür bereitstellte, bestimmte Handlungen eindeutig als moralisch oder unmoralisch zu kennzeichnen. Ethinormal waren und sind.“ Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986, S. 326. 108 Vgl. Peter J. Haas, Morality after Auschwitz. The Radical Challenge of the Nazi Ethic, Philadelphia 1988, S. 1. 109 Zur Diskussion vgl. Rolf Zimmermann, Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt sowie die entsprechende Kritik und Replik. In : Erwägen, Wissen, Ethik, 20 (2009) 3, S. 415–496.
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sche Theorien ließen sich u. a. danach unterscheiden, ob sie nach dem Universalisierungsgrundsatz einen allgemeinen Geltungsanspruch des von ihnen nach rationalen Kriterien begründeten Wertesystems behaupteten oder ob sie die Stimmigkeit moralischer Wertesysteme in der Plausibilität ihrer Urteile und Wertungen im Kontext ihrer je spezifischen Entstehung und Geltung sahen. Entweder gelten moralische Urteile als objektiv und wissenschaftlich begründbar, oder sie beziehen ihre Plausibilität aus kulturell spezifischen Begründungen und der persönlichen Glaubwürdigkeit derjenigen, die diese Urteile aus ihren Erfahrungen und Haltungen gewinnen. Haas hob u. a. von einer Wertegemeinschaft geteilte kulturelle Denkweisen und allgemein akzeptierte sprachliche Konventionen als Gründe für die Plausibilität eines Wertesystems hervor. Während eine Ethik ein systematisches Verständnis von gut und böse ermögliche, bezeichne eine Moral diejenigen Werte, die zum Bestand einer solchen Ethik gehören sollten. Eine Ethik müsse bestimmten formalen Kriterien genügen und Standards bereit stellen, die es erlaubten, konkrete Ziele als gut oder schlecht und entsprechende Handlungen als richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen zu beschreiben. Formale Eigenschaften einer Ethik seien für ihren Erfolg wichtiger, als ihre besonderen Inhalte. Um erfolgreich zu sein, müsse eine Ethik zunächst schlüssig und widerspruchsfrei sein, aber auch anschlussfähig an das, was Menschen bereits als ethisch plausibel und moralisch sehen würden. Entscheidend für die Akzeptanz eines neuen weltanschaulichen und moralischen Paradigmas sei eben seine Anschlussfähigkeit an bereits etablierte Weltsichten. Menschen seien dann bereit, ein ethisches System zu übernehmen, wenn es mit ihrer eigenen Weltsicht und ihrer intuitiven Bestimmung von moralisch und unmoralisch übereinstimme. Nach Haas’ Behauptung, dass der Inhalt einer wissenschaftlich begründeten Ethik nur eine untergeordnete Rolle für ihre allgemeine Akzeptanz spielt, würde es ausreichen, dass eine Ethik bestimmte formale Kriterien erfüllt, um akzeptiert zu werden.110 Im wissenschaftlichen Zeitalter sei es vor allem ihre mögliche naturwissenschaftliche Begründung, die einer Ethik Plausibilität verschaffe und Zustimmung sichere, so seine Argumentation. In der Tat haben nationalsozialistische Autoren die gegen eine bürgerlich - christliche Moral eine biologische Rassenmoral durchsetzen wollten, immer wieder betont, dass sich eine solche Moral in Übereinstimmung mit den Natur - und Lebensgesetzen und damit auch dem Willen Gottes und dem Gedanken der Schöpfung befinde, also in Übereinstimmung mit etablierten wissenschaftlichen und religiösen Autoritäten. Haas geht davon aus, dass im Nationalsozialismus wie in jedem anderen politischen System interne Geltungskriterien darüber entscheiden, welches Handeln als moralisch geboten und welches als moralisch bedenklich oder unmoralisch gilt. Mit der Akzentuierung des internen Geltungsparadigmas von Moral würden Menschen moralische Entscheidungen immer im Rahmen des ethischen Sys110 Haas, Morality after Auschwitz, S. 38.
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tems treffen, in dem sie sich bewegen. Angewandt auf den Nationalsozialismus könnten dann nicht einzelne Täter für den Holocaust verantwortlich gemacht werden, sondern ausschlaggebend für ihre moralischen Haltungen sei das ethische Universum, dem sie angehören. Akzeptiert werden müsse, dass sich für nationalsozialistische Täter die Frage ihrer persönlichen Verantwortung in dem für sie stimmigen rassenethischen System stellte. Die moralische Qualität ihres Handelns habe sich für sie durch die in ihrer Wertegemeinschaft geltenden Normen und als moralisch legitim ausgezeichneten Praktiken entschieden. Die pseudoethischen Begründungen des Holocaust, die den Tätern zur Rechtfertigung ihres Handelns dienten, werden in der Literatur zumeist als durchschaubare Verschleierung ihrer wahren Motive und Gefühle abgetan. Sie seien so abwegig, dass jeder, der die pseudointellektuelle Sophistik der Massenvernichtung zu höheren Zwecken analytisch ernst nehme, damit bereits in die Falle nazistischer Euphemismen gehe und dem Holocaust eine, zumindest aus der Sicht der Täter, plausible Bedeutung zugestehe. Peter Haas dagegen nahm den Tätern ihre Behauptung ab, dass sie mit sich selbst im Reinen waren, ihr Handeln für sie also moralisch unbedenklich war. Sie seien sich der moralischen Dimension ihres Handelns bewusst gewesen, so wie sich diese für sie darstellte. Eine für sie stimmige Ethik des Nationalsozialismus habe sie in der Überzeugung handeln lassen, das Richtige und moralisch Gebotene zu tun. Dass sie Judenverfolgung und Holocaust moralisch gerechtfertigt fanden und entsprechend handelten, sah er nicht als leere, rhetorische Floskel, sondern als Herausforderung, in das Begreifen der Täter auch deren Selbstverständnis einzubeziehen.111 Das demonstrativ ausgestellte gute Gewissen der meisten nationalsozialistischen Täter irritiert. Sowohl weltanschauliche Überzeugungstäter als auch bürokratische Schreibtischtäter und opportunistische Karrieretäter legten Wert darauf, mit gutem Gewissen das aus ihrer Sicht Richtige, Notwendige, situativ Angemessene und moralisch Gebotene zu tun. Es war den an der programmatischen Begründung, propagandistischen Popularisierung, politischen Durchsetzung, logistischen Ermöglichung und unmittelbaren Durchführung nazistischer Rassenpolitik Beteiligten wichtig, in ihrem Selbstverständnis frei von egoistischen, niederen und verwerf lichen Motiven zu handeln. Dafür stellte die nazistische Ideologie „noble, ehrenhafte“ Gründe der Abwendung von Gefahren für die Volksgemeinschaft bereit. Höhere Werte von Rasse und Volk sollten durchgesetzt, Gefahren von der Volksgemeinschaft durch die Ausmerze von Volksschädlingen abgewendet werden. Etwaige moralische Bedenken und mitmenschliche Empathie ihren Opfern gegenüber sollten den Tätern möglichst erspart 111 Zur Diskussion und Kritik von Haas’ Buch vgl. u. a. John K. Roth ( Hg.), Ethics after the Holocaust : Perspectives, Critiques, and Responses, St. Paul, Minnesota 1999; Jack Bemporad / John T. Pawlikowski / Joseph Sievers ( Hg.), Good and Evil After Auschwitz: Ethical Implications for Today, Hoboken, New Jersey 2000 und Emil L. Fackenheim, Nazi Ethic, Nazi Weltanschauung and the Holocaust. In : The Jewish Quarterly Review, LXXXIII, 1–2 (1992), S. 167–172.
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werden, Zweifel an der Berechtigung der Rassenpolitik gar nicht erst aufkommen. In der moralischen Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft setzten sich Opportunismus und Indifferenz als dominierende Verhaltensmuster durch. Es war möglich, die Konsequenzen nationalsozialistischer Ideologie zu akzeptieren, auch ohne deren Inhalte, Begründungen und Voraussetzungen zu teilen. Weder handelten die nationalsozialistischen Täter ohne moralische Orientierung noch in dem Bewusstsein, dass das, was sie taten, moralisch verwerf lich war. Vielmehr entwickelte der Nationalsozialismus ein eigenes Wertesystem, aus dem klar hervorging, was als moralisch gerechtfertigt und geboten, und was als unmoralisch und ver werf lich zu gelten hatte. Die Übernahme und Verinnerlichung des rassenethischen Wertesystems verhinderte einen Wertekonflikt mit dem bürgerlich - christlichen Wertesystem, das nicht mehr galt. Diejenigen, die sich auf den Boden der neuen Moral stellten, akzeptierten die nationalsozialistische Rassenpolitik als moralisch unproblematisch. Moralische Skrupel hatten sie nicht. Solche Skrupel stellen sich immer dann ein, wenn Menschen durch ein ihnen als politisch notwendig und rechtmäßig begründetes Verhalten in Widerspruch zu ihrem inneren moralischen Wertesystem geraten. Die Ersetzung des bürgerlich - christlichen Wertesystems durch das rassenethische Wertesystem half, einen solchen Wertekonflikt zu vermeiden. Eine neue moralische Ordnung ließ ein ansonsten als problematisch empfundenes Handeln dann nicht nur als rechtmäßig in Übereinstimmung mit geltenden Gesetzen, sondern auch als moralisch erscheinen. Die moralische Verfassung der Täter war Schnittpunkt zahlreicher Einflüsse. Dabei waren ihre Motive und Beweggründe ebenso entscheidend für ihr Handeln, wie die ihr Leben bestimmenden soziokulturellen Umstände, die sie unhinterfragt akzeptierten und als unproblematisch unterstellten. Im Horizont einer eigenen moralischen Ordnung handelten sie in ihrem Selbstverständnis moralisch und mit dem guten Gewissen, das Richtige zu tun. Frei von eigennützigen Motiven hätten sie das übergeordnete Interesse des deutschen Volkes verfolgt. Für ihre Verbrechen suchten sie Rechtfertigungsgründe aus einer Gemengelage historischer Konstellationen und ideologischer Begründungen. Sie behaupteten, überzeugt davon gewesen zu sein, dass ihr Handeln moralisch gerechtfertigt war. Die ethischen Begründungen der Rassenpolitik fanden sie entweder tatsächlich plausibel oder sie benutzten sie, um ohne innere Beteiligung eine Distanz zwischen sich und ihrem Handeln aufzubauen. Erklärungsbedürftig ist die ganze Bandbreite von Haltungen und Verhalten im Nationalsozialismus, die sich auf moralische Beweggründe beriefen : Ideologischer Fanatismus und das Ethos der Pflichterfüllung, aber auch Opportunismus und Indifferenz gegenüber den Opfern nationalsozialistischer Rassenpolitik wurden mit moralischen Gründen gerechtfertigt. Auch Indifferenz gegenüber der ideologischen Begründung der Judenverfolgung musste der Loyalität gegenüber dem nationalsozialistischen System nicht im Wege stehen. Ideologischer Fanatismus konnte sich auch am Schreibtisch entfalten und war mit Pflichter-
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füllung aus Prinzip vereinbar, ebenso wie Beamtentugenden mit ideologischem Fanatismus einhergehen konnten. Moralische Urteilsfähigkeit setzt die reflexive Distanz gerade zu jenen Gruppen voraus, denen man ohne eigene Entscheidung angehört. Mit dem Ausfall ihrer Urteilskraft sind Menschen in gewissem Sinne tatsächlich nicht mehr moralisch schuldfähig. Die intuitive Sicherheit, moralisch und unmoralisch voneinander zu unterscheiden, ist ihnen abhanden gekommen. Ist also, wer sich zum Zeitpunkt der Begehung unmoralischer Handlungen keiner Schuld bewusst ist, schuldunfähig ? Entlastet fehlendes Unrechtsbewusstsein zur Tatzeit die Täter von der persönlichen Verantwortung für ihre Taten, die sie nach geltendem Recht und den in ihrer Binnengruppe geltenden Normen für rechtmäßig und moralisch hielten ? Es ist diese Diskrepanz zwischen zweifellos unmoralischen kriminellen Taten und Tätern, die behaupten, sich keiner Schuld bewusst gewesen zu sein, die ein Problem darstellt. Allerdings wird eine solche Diskrepanz erst dann zum Problem, wenn man annimmt, dass es sich dabei nicht von vornherein um eine zur Entlastung gedachte Behauptung der Täter wider besseren Wissens handelt. Zu vermuten ist, dass die meisten, die sich nach dem Ende des Nationalsozialismus zu rechtfertigen suchten, dabei weniger vom schlechten Gewissen der ihnen nunmehr bewussten moralischen Ver werf lichkeit ihrer Handlungen getrieben waren, als von dem Ziel, möglichst straffrei davonzukommen. Dabei verwiesen sie vor allem auf die Zeitumstände und die seinerzeit geltenden Gesetze und moralischen Normen, die ihnen ihr Handeln als rechtmäßig und moralisch unbedenklich erscheinen ließen. Andere gaben sich moralisch geläutert und äußerten nun im Nachhinein Reue und Bedauern. Welche dieser gegenteiligen Haltungen strategischen Überlegungen geschuldet und welche tatsächlich Ausdruck der biographischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus waren, ist schwer zu sagen. Fraglich ist, ob ihre damaligen Aussagen, Rechtfertigungsversuche, Äußerungen von Betroffenheit oder gar Scham und Schuld tatsächlich die Beweggründe der Täter wiedergeben. Das Widerstreben dagegen, nationalsozialistischen Tätern moralische Beweggründe zuzugestehen, ist verständlich. Dass sie wirklich, wie häufig von ihnen behauptet, Judenverfolgung und Holocaust als moralisch richtig und notwendig ansahen, scheint absurd. Damit ist zugleich die entscheidende Frage zur Einschätzung der Wirkungsmächtigkeit der Rassenethik angesprochen. Nur dann, wenn für die Täter die moralische Berechtigung nazistischer Rassenpolitik plausibel war, kann davon ausgegangen werden, dass ethische Überlegungen ihr Selbstverständnis prägten. Das schließt nicht aus, dass auch andere Erwägungen für ihre Bereitschaft zum Mitmachen eine vergleichbare oder sogar gewichtigere Rolle gespielt haben.112 Teilen Menschen, die aus unserer Sicht unmoralisch handeln, unsere Standards moralischen Handelns, so dass sie bewusst unmoralisch handeln ? Oder 112 Lothar Fritze verweist in diesem Zusammenhang auf außermoralische Überzeugungen, die für die Überlegungen und Zielsetzungen der Täter Bedeutung erlangten ( siehe seinen Beitrag in diesem Band ).
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handeln auch sie in ihrem eigenen Selbstverständnis nach Kriterien einer eigens zur Rechtfertigung ihres Handelns eingeführten neuen Werteordnung moralisch? War das vermeintlich gute Gewissen der Täter nur vorgespielt oder verdankte es sich eben der Einführung einer solchen moralischen Ordnung, die moralisch und unmoralisch im Ergebnis einer Umwertung traditioneller Werte neu definierte ? Nach dem Ende des Nationalsozialismus haben sich nationalsozialistische Täter durch den Ver weis auf ideologische Indoktrinierung sowie Verantwortungs - und Entscheidungshierarchien für ihr Handeln zu rechtfertigen versucht. Zugleich verwiesen sie häufig auf ihre politische Indifferenz und Naivität, die sie daran gehindert habe, den verbrecherischen Charakter des nationalsozialistischen Systems zu erkennen. Für sie selbst seien Verlässlichkeit, Fleiß und Disziplin die entscheidenden Tugenden gewesen. Geprägt vom Berufsethos verlässlicher Pflichterfüllung sahen sie sich selbst als unpolitisch. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass sie sich der moralischen Verwerf lichkeit ihrer Verbrechen bewusst waren. Webers Unterscheidung von Gesinnungs - und Verantwortungsethik kann auch auf das Begreifen der moralischen Ordnungen des Nationalsozialismus angewendet werden. Während der Gesinnungsethiker sich für die üblen Folgen einer aus reiner Gesinnung begangenen Tat nicht verantwortlich fühlt, rechnet der Verantwortungsethiker mit den durchschnittlichen Defekten der Menschen, die eben weder vollkommen sind, noch aus reiner Gesinnung handeln, und die eben deshalb für die Folgen ihres Handelns verantwortlich sind.113 Nationalsozialistische Täter guten Gewissens beriefen sich in der Tat auf ihre reine, von eigenen Interessen und Egoismen freie Gesinnung, aus der heraus sie sich uneigennützig in den Dienst höherer Werte gestellt hätten. Aus der Perspektive einer verantwortungsethischen Sicht auf den Holocaust und seine Täter liegt hier bereits der moralphilosophische und anthropologische Irrtum. Paradoxerweise ist es die Annahme, Menschen seien dann moralisch im Recht, wenn sie sich von individuellen Neigungen frei machen oder diese aus ihrem als moralisch qualifizierten Handeln heraushalten, die sie für die ideologische Verführung zu unmoralischem Handeln empfänglich macht. Sie gehen dann davon aus, dass ihre außeralltägliche Moral nichts mit ihrem alltäglichen Leben zu tun habe, dass eben deshalb selbst eine außeralltägliche Bedeutung annimmt. Es bleibt die Frage, ob diejenigen, die sich aktiv an der Verfolgung und Ermordung der Juden beteiligten, verdrängen, umdeuten oder durch Alkohol betäuben mussten, was auch sie sonst zu Demütigungen, Folter und Mord unfähig gemacht hätte. Oder waren sie tatsächlich mit dem guten Gefühl dabei, das aus ihrer Sicht Richtige und Notwendige zu tun ? Sahen sie es als Auszeichnung, zu denen zu gehören, denen zugetraut wurde, moralische Grenzen zu überschreiten, die als kulturell gesichert galten ? Fühlten sie Stolz und Genugtuung 113 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf. In : ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, S. 505–560, hier 551 f.
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bei ihren abscheulichen Taten ? Genossen sie die Angst derjenigen, die ihnen bedingungslos ausgeliefert waren ? Empfanden sie in der Ausnahmesituation, selbst über Leben und Tod anderer Menschen entscheiden zu können, vielleicht sogar eine gesteigerte Lust zu leben ? Weder die Psychologisierung der Moral noch ihre Soziologisierung können die Verknüpfung von sozialen Umständen und Motiven der Täter plausibel erklären. Während die Psychologisierung der Ethik die Täter dämonisiert, von denen angenommen wird, sie hätten sich bewusst dafür entschieden, unmoralisch zu handeln, verwandelt ihre Soziologisierung sie in Opfer des Systems, dass sie zu systemkonformen Verhalten konditioniert habe. Unter Bedingungen, unter denen die Moral als Unmoral, das menschlich Naheliegende als abwegig und unvernünftig und das Verbrechen als patriotische Pflicht dargestellt wurden, sei es ihnen nicht möglich gewesen, ihr eigenes Verhalten kritisch zu reflektieren.114 Der Holocaust gehört zu den nicht entschuldbaren, nicht wieder gutzumachenden und nicht zu vergebenden Taten. Selbst wenn die Täter im Nachhinein Reue für ihre Taten empfunden hätten, gab es für sie keine Möglichkeit der Wiedergutmachung. Sie konnten nicht erwarten, dass ihnen vergeben wurde. Als Ausdruck des radikal Bösen kann der Holocaust als das, „was Menschen weder bestrafen noch vergeben können“,115 gesehen werden. Nationalsozialistische Täter sind für die Verbrechen, die sie begangen haben, auch dann verantwortlich, wenn sie durch historische Konstellationen, die sie selbst nicht zu verantworten haben, erst zu Tätern geworden sind. Die Berücksichtigung der Umstände, unter denen Menschen unmoralisch gehandelt haben, führt nicht zwingend zu ihrer Entlastung von moralischer Verantwortung. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus gingen die Täter auf Distanz zu den Verbrechen, die sie initiiert, begangen oder stillschweigend geduldet hatten. Persönliche Verantwortung bestritten sie nun u. a. durch die geschichtsphilosophische Distanzierung und Dramatisierung historischer Ereignisse. So entwickelte etwa Hans Frank, ehemals Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus im November 1945 auf der Anklagebank in Nürnberg aus der Retrospektive des verlorenen Krieges und der Diskreditierung nationalsozialistischer Ideologie eine apokalyptische Vision. In dieser Vision verschmolzen Krieg, Judenvernichtung und Bombenterror in Deutschland zu einer leidenden Menschenmasse. Seine Vision ging so : „Wir sitzen dem Gericht gegenüber. Und schweigend flutet der endlose Zug der Toten vorbei. Ohne Unterbrechung. Bleich und farblos, ohne Laut fließt der Strom des Elends im trüben gelblich - grauen Licht der Ewigkeit dahin. Sie alle, alle wogen weiter ohne Pause, in trüben Dunst gehüllt, getrieben von den Flammen der Menschheitsqual – hierhin – dorthin – hierhin – weiter und weiter, und es ist kein Ende zu sehen [...] Die Men114 Hannah Arendt spricht in diesem Zusammenhang von „Bedingungen [...], in denen das Verbrechen legal und jede menschliche Handlung illegal war“. Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 311. 115 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 701 f.
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schen, die in diesem Krieg dem Leben entrissen wurden, sind die grausigste Beute des Todes, der voller Hass und Zerstörungslust wütete – Jung und Alt, Wachsen und Gedeihen, Stolz und Demut [...] Dort gehen sie – Polen, Juden, Deutsche, Russen, Amerikaner, Italiener – alle Nationen, sie bluten und schwinden dahin. Und eine Stimme schreit: Dieser Krieg muss sein, denn nur solange ich lebe kann er kommen ! Oh, was habt ihr leiden müssen, bis es vorüber war, Allmächtiger Gott !“116
Die vielschichtige Realität des Krieges und des Massenmordes an den Juden wird bei ihm zum gleichsam metaphysischen Geschehen von Tod, Elend und Krieg, das menschliches Maß, menschliche Vorstellungskraft und Verantwortung übersteigt. Zwischen Tätern und Opfern unterscheidet er dabei nicht. In der Sequenz des Traumes werden die Menschen zu Statisten einer infernalischen Inszenierung, die solche Unterschiede ebensowenig kennt, wie religiöse, ethnische und nationale Zugehörigkeiten. Im apokalyptischen Gleichklang des Todes werden Täter und Opfer eins. Selbst die Juden, gerade noch als minderwertige Rasse einem gnadenlosen Vernichtungsprozess ausgesetzt, erscheinen nun als eine Nation unter anderen unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner der je spezifischen nationalen Zugehörigkeit, die nun auch ihnen zugestanden wird. Hass und Zerstörungslust werden zu Attributen des Todes, der in einem apokalyptischen Entscheidungskampf mit dem Leben selbst steht. In diesem apokalyptischen Szenario werden Menschen entweder dem Leben entrissen oder aber dem Tod als Beute verweigert. Die Botschaft dieses Weltuntergangsszenarios ist klar : Im Horizont der Ewigkeit und Unermesslichkeit menschlichen Leidens versagen die Kategorien der Differenzierung menschlicher Welten. In einem gleichsam schicksalhaften Geschehen widerfährt Menschen, was sie selbst weder fassen noch beeinflussen können. Was sie sich gegenseitig antun, wird gegenstandslos angesichts der übermächtigen Schicksalsmacht, der sie alle ausnahmslos ausgeliefert sind. Historische Ereignisse werden in die Zeitlosigkeit eines unheimlichen, grauenvollen und bedrückenden Geschehens gehoben und dadurch in ihrer historischen Spezifik unkenntlich. Nur wenige Indizien deuten auf den historischen Ausgangspunkt, in dem sich am Verbluten der Nationen Weltgeschichte zur Apokalypse gesteigert hat. Nachdem alles vorüber ist, wird Gericht gehalten. Es ist die Geschichte selbst, die als Weltgericht im Angesicht des Todeszuges der Opfer Überleben zur Schuld erklärt. Nicht Schuldige werden benannt, sondern die Täter eingereiht in ein Geschehen, das Schuldige und Unschuldige nicht kennt. Wenn es eine Schuld gibt, dann ist es die gemeinsame Schuld der Lebenden, ein solches Grauen überlebt zu haben. Gleichgültig, ob sie an der Tötung der Opfer beteiligt waren oder aber auf der Seite der Opfer zufällig die für sie vorgesehene Vernichtung überlebt haben, im Trauma des Überlebens angesichts derer, die nicht überlebt haben, trifft sie eine gemeinsame Schuld. Nicht die Nationalsozialisten haben in dieser Rhetorik gewütet, sondern der Tod, der ewige Gleichmacher, hat Juden wie Deutsche gleichermaßen aus dem Leben gerissen. Das 116 Gustave M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch, Frankfurt a. M. 1962, S. 50 – zu Hans Frank vgl. Joachim C. Fest, Gesichter des Dritten Reiches, München 2002, S. 286–299.
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Leiden einzelner Menschen aus Fleisch und Blut wird zur Qual der Menschheit erklärt, die nur Gott allein, allmächtig und unerforschlich in seinem Tun, zu verantworten habe. Die Ernsthaftigkeit von Franks vermeintlichen Gewissensqualen ist von Gilbert, der als Gerichtspsychologe beim Nürnberger Prozess mit ihm zu tun hatte, mit guten Argumenten bezweifelt worden. Als „Schausteller des Gewissens“ habe sich Frank in die „Dramatisierung seiner Scham“ gesteigert, ohne wirkliche Scham und Trauer über seine Taten zu empfinden.117 Gilberts Skepsis wird bestätigt durch Frank selbst, der sich nach dem Bericht seiner Traumsequenz bei ihm vergewisserte, dass sein Bericht den gewünschten Eindruck eines ernsthaft um Verstehen Bemühten, vom Ausmaß des Geschehens überwältigten Menschen macht, der ohne eigene Schuld in den Sog apokalyptischer Ereignisse geraten ist.
VI.
Moralisches und unmoralisches Handeln
Dass Menschen unmoralisch handeln, kann eine Vielzahl von Gründen haben. Zunächst unterstellt diese Redeweise die Möglichkeit, dass Menschen intuitiv zwischen moralischem und unmoralischem Handeln unterscheiden können. Ihnen wird die Fähigkeit zu unabhängigen moralischen Urteilen und zur Unterscheidung von moralisch und unmoralisch zugestanden. Weiterhin wird ihnen zugetraut, Versuchen der ideologischen Manipulation und gesetzlichen Festschreibung der Unmoral zu geltendem Recht aus eigener moralischer Kraft zu widerstehen. Im Raster eines internen Begründungssystems von Moral erscheint diese Annahme als Illusion. Die Annahme, es sei unproblematisch, zwischen moralisch und unmoralisch zu unterscheiden, geht davon aus, dass sich unmoralisch handelnde Menschen der moralischen Verwerf lichkeit ihres Handelns bewusst sind, was sie aber nicht daran hindert, trotzdem unmoralisch zu handeln. Wer unmoralisch handelt weiß, dass er mit Ablehnung oder sogar Verachtung seiner Mitmenschen rechnen muss. Nimmt er das in Kauf, dann aus Gründen, die aus seiner Sicht die Nachteile moralischer Diskreditierung zumindest ausgleichen. Woran erkennen wir aber, ob ein bestimmtes Handeln moralisch verwerf lich oder geboten, ob es problematisch, unbedenklich oder aber moralisch irrelevant ist ? Diese Frage für bedeutsam zu halten unterstellt, dass Menschen die moralische Beurteilung ihres Handelns und Verhaltens nicht gleichgültig ist. Solange es einen von allen geteilten Konsens darüber gibt, welches Handeln als moralisch und welches als unmoralisch gelten soll, ist das unproblematisch. Gilt als „moralisch“ ein Handeln in Übereinstimmung mit dem geltenden Wertesystem, dann gilt im Umkehrschluss jede Abweichung von diesem Wertesystem als ungesetzlich und unmoralisch. Diese Redeweise unterstellt zugleich, dass auch die117 Arno Gruen, Der Fremde in uns, München 2002, S. 112.
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jenigen, auf deren Handeln wir uns moralisch wertend beziehen, unsere moralischen Standards teilen. Wenn wir ihnen vorwerfen, unmoralisch zu handeln, so gehen wir intuitiv davon aus, dass sie sich selbst der moralischen Verwerf lichkeit ihres Handelns bewusst oder aber dass sie prinzipiell fähig sind, diese zu erkennen. Erfolgt die moralische Bewertung von Menschen und ihrer Handlungen am Maßstab der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, so geht es nicht mehr um die Anerkennung aller, sondern nur noch um die derjenigen, die der eigenen Gemeinschaft angehören. Nur ihr Urteil zählt. Das der anderen gilt entweder als irrelevant oder ihnen wird das Recht auf ein moralisches Urteil ganz abgesprochen. In der alltagssprachlichen Verwendung wird in aller Regel nicht zwischen der Faktizität und Geltung ethischer Normen unterschieden. Von einem Handeln, das Menschen als moralisch oder unmoralisch gilt, nehmen sie an, dass es moralisch bzw. unmoralisch ist. Diese intuitive Gleichsetzung hindert sie daran, politisch und kulturell sanktioniertes unmoralisches Handeln auch als solches zu erkennen. Damit rückt das System der ethischen Begründungen und Rechtfertigungen moralisch legitimen Handelns in den Blick. Die Herausstellung einer Binnenperspektive von Moral erklärt die Entstehung moralischer Haltungen aus dem intersubjektiven Zusammenhang der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die sich gegenüber anderen Gemeinschaften durch eben diese exklusive Binnenmoral definiert und abgrenzt. Von denjenigen, auf deren Handeln wir uns moralisch wertend beziehen, nehmen wir an, dass sie unsere moralischen Standards teilen. Wenn wir ihnen vorwerfen, unmoralisch zu handeln, so gehen wir intuitiv davon aus, dass sie sich selbst dessen bewusst oder aber dass sie prinzipiell fähig sind, die moralische Verwerf lichkeit ihres Handelns zu erkennen. Handeln sie im Wissen um den unmoralischen Charakter ihres Tuns, so nehmen wir an, dass sie aus Gründen und unter Einflüssen handeln, die ihre moralischen Standards überlagern und in der konkreten Situation nicht hinreichend zur Geltung kommen lassen. Es ist ihnen nur ausnahmsweise, keineswegs jedoch als Normalzustand möglich, so eine weitere Annahme, Unrecht zu tun und unmoralisch zu handeln, ohne dafür wirkungsmächtige Rechtfertigungen zu finden oder aber nach einer für sie plausiblen Umwertung ihr Handeln als moralisch legitim und sich selbst als anständige Menschen zu sehen. Unter dieser Voraussetzung zielt die Analyse auf Demagogie und Terror, auf ideologische Substitute moralischer Werte und pathologische Persönlichkeitsstörungen, die dafür verantwortlich gemacht werden können, dass der universelle Geltungsanspruch einer im Prinzip von allen geteilten Moral zeitweise gestört ist. An der Möglichkeit, diese Störung zu beheben, wird dabei nicht gezweifelt. Mit der Annahme einer internen Begründung von Moral ist es nicht mehr möglich, bestimmte Handlungen oder Urteile als moralisch oder unmoralisch von einem Standpunkt außerhalb ihres Wertesystems zu qualifizieren. Auch gegensätzliche Wertesysteme und Haltungen müssten dann als moralisch akzeptiert werden. Solange sie innerhalb ihres eigenen kulturellen Geltungssystems
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plausibel sind, gelten sie als moralisch. Das von ihnen jeweils als moralisch oder unmoralisch qualifizierte Verhalten kann nicht mehr von einem kulturell übergreifenden Standpunkt aus beurteilt werden. Die Annahme einer universalistischen Moral – einer für alle Menschen verbindlichen gegenseitigen Verpflichtung auf gemeinsame Werte und Menschenrechte, lässt sich dann nicht mehr aufrechterhalten. Die Annahme einer internen Begründung von Moral wirft neben der Frage nach der Überzeugungskraft ethischer Systeme die ihrer Vergleichbarkeit von einem Standpunkt außerhalb ihres eigenen Geltungssystems auf. Wenn die Überzeugungskraft ethischer Systeme nur von ihrer internen logischen Struktur abhängt, dann lassen sich diese nicht mehr nach rationalen Kriterien miteinander vergleichen. Moralische Haltungen beziehen dann ihre Plausibilität aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die sich gegenüber anderen Gemeinschaften durch ihre exklusive Binnenmoral definiert und abgrenzt. Wird moralisch als Handeln in Übereinstimmung mit einem internen Geltungssystem ethischer Werte und Normen definiert, so gelten im Umkehrschluss Menschen und Handlungen außerhalb des Geltungsbereichs dieses Systems interner Regeln als unmoralisch. Die Akzeptanz der internen Plausibilität jedes Wertesystems, das sich widerspruchsfrei aus einem bestimmten ethischen System ableiten lässt, ergänzt einen ethischen Relativismus durch einen Positivismus der Moral: Als moralisch gilt dann, was innerhalb eines ethischen Systems plausibler Geltungsgründe von Moral als schlüssig, widerspruchsfrei und intuitiv richtig erscheint. Ethische Systeme und die durch sie als moralisch begründeten Werte und Praktiken lassen sich nach dieser Annahme weder in ihrem eigenen Referenzrahmen noch von außen kritisieren oder rational miteinander vergleichen. Thomas Nagel hat zwei mögliche Perspektiven bei der Analyse menschlichen Handelns unterschieden, zwischen denen es eine situativ stimmige Balance zu finden gelte, um Menschen und ihrem Handeln gerecht zu werden. Zum einen sehen wir Menschen als autonome Subjekte, die für ihr Handeln verantwortlich sind. Zum anderen aber ist ihr Handeln das Ergebnis von Umständen, in die sie, in der Regel ohne eigenes Zutun, gestellt sind, für das sie also auch nicht verantwortlich gemacht werden können. Moralisch seien zwar alle Menschen einem Schicksal unter worfen, was uns jedoch nicht daran hindern sollte, sie danach zu beurteilen, was sie tatsächlich getan oder unterlassen haben, ohne sie von vornherein von ihrer Verantwortung durch die Frage zu entlasten, wie sie sich unter anderen, für moralisches Handeln günstigeren Umständen verhalten hätten.118
118 Vgl. Thomas Nagel, Mortal Questions, Cambridge 1979, S. 37.
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Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral ? Lothar Fritze Die Frage, ob Nationalsozialisten eine andere Moral, womöglich eine spezifisch nationalsozialistische Moral, hatten, drängt sich angesichts der Quantität und Qualität der nationalsozialistischen Verbrechen nachgerade auf. Sie stellt sich aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft der westlichen demokratischen Verfassungsstaaten, in denen universell geltende Menschenrechte anerkannt werden. Zu sagen, die Nationalsozialisten hatten eine andere Moral, ist unproblematisch und umgangssprachlich nicht ungewöhnlich. Natürlich : Wenn jemand glaubt, Juden oder Kommunisten umbringen zu dürfen, dann hat er eine „andere Moral“ als diejenigen, die dies nicht glauben. Wenn im Folgenden gleichwohl ein scheinbar selbstverständlicher Befund – nämlich dass die Nationalsozialisten eine andere Moral hatten – problematisiert werden soll, geschieht dies in der Absicht, das Denken maßgebender nationalsozialistischer Täter zu vergegenwärtigen und darüber hinaus einen Beitrag zu leisten zur Aufklärung der „inneren Logik“ des moralischen Denkens generell.
I.
Moralische Überzeugungen
Mit dem Terminus „Moral“ werden verschiedene Sachverhalte erfasst, sodass sich auch die Moralphilosophie schwer tut zu sagen, was eigentlich das spezifisch „Moralische“ ist beziehungsweise welche Sachverhalte den „Bereich des Moralischen“ ausmachen. Angesichts dieser Schwierigkeiten möchte ich nicht fragen, was „Moral ist“ oder was wir unter „Moral“ verstehen, sondern ich möchte in Übereinstimmung mit der Ausgangsfrage erörtern, was wir ( jedenfalls auch ) meinen, wenn wir sagen, dass jemand „eine Moral hat“. Wer eine Moral hat, hat offenbar ( auch ) moralische Überzeugungen. Aber was sind „moralische Überzeugungen“ ? Was kennzeichnet moralische Überzeugungen im Gegensatz zu Überzeugungen, denen wir dieses Prädikat nicht zusprechen ? Überzeugungen sind durch die kognitive Einstellung des Für - wahr - oder Fürrichtig - Haltens gekennzeichnet. Eine Überzeugung ist ein nur schwer zu erschütternder Glaube eines bestimmten Inhalts. Nicht jede Überzeugung muss auf Gründen basieren. Überzeugungen können auch aus Evidenzgefühlen erwachsen. Unter „moralischen Überzeugungen“ verstehe ich Überzeugungen, die eine
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bestimmte Sorte von Maßstäben für die Bewertung von menschlichen Handlungen darstellen – und zwar von Handlungen, die nicht nur für den Handelnden selbst relevant sind. Dabei handelt es sich um Maßstäbe, anhand derer beurteilt werden kann, ob eine Handlung richtig oder falsch und dementsprechend zu billigen oder zu missbilligen ist. Moralische Überzeugungen sind geeignet, Urteile zu fällen über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Handlungen und Handlungsweisen. Aus diesen Urteilen wiederum lassen sich allgemeine Forderungen deduzieren, die an Handlungen gestellt werden. So folgt aus dem moralischen Urteil „Zu töten ist falsch“ die Forderung „Du sollst nicht töten !“. Solche Forderungen, die sprachlich die Form von Imperativen annehmen, bringen Normen zum Ausdruck. Normen haben Aufforderungscharakter; sie sind Instrumente der Handlungssteuerung. Sie können sowohl die Form des Gebots als auch die des Verbots sowie der Erlaubnis annehmen. Normen bestimmen, was man im Regelfall tun oder lassen soll. In den Bereich der Moral fallen aber nicht nur moralische Normen. Darüber hinaus werden auch Moralprinzipien vertreten. Moralprinzipien sind letzte Maßstäbe zur Begründung und Beurteilung von subjektiven Maximen, von Handlungen, von moralischen Urteilen oder auch von Normen. Solche Moralprinzipien sind etwa die Goldene Regel, der Kategorische Imperativ, der Universalisierungsgrundsatz innerhalb der Diskursethik oder das utilitaristische Prinzip. In unser moralisches Denken können des Weiteren normative Prämissen eingehen. Man kann zum Beispiel eine grundsätzliche Gleichheit und Gleichbefähigung aller Menschen unterstellen und fordern, alle Menschen gleich zu behandeln, oder aber das Dogma einer natürlichen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit postulieren. Zudem gibt es Meinungen darüber, wovon die moralische Qualität einer Handlung abhängt beziehungsweise auf welche Merkmale sich Billigung oder Missbilligung beziehen – auf die Motive des Handelnden, auf die Handlung selbst oder die Folgen der Handlung. In den Bereich der Moral gehören ferner Auffassungen darüber, welchen Entitäten ein moralischer Status zuerkannt werden soll, das heißt, welche Arten von Entitäten als schutzwürdig angesehen und welche diesbezüglichen Rangfolgen akzeptiert werden sollen. Schließlich unterscheiden sich moralische Vorstellungen danach, wie die Inhalte der Moral gewonnen werden. Die Inhalte der Moral können zum Beispiel aus nicht - moralischen Faktoren hergeleitet werden – etwa aus den subjektiven Interessen aufgeklärter und urteilsfähiger Individuen oder aber, wie im nationalsozialistischen Denken, aus den Erfordernissen der Selbsterhaltung und Stärkung des Volkes; man kann versuchen, sie aus heiligen Schriften oder aus der Vernunft abzuleiten oder aus dem Handlungsbegriff selbst zu deduzieren; man kann sie auf Rechte zurückführen, die die Menschen haben oder die ihnen zugesprochen werden; man kann den Begriff der Moral von vornherein an bestimmte inhaltliche Forderungen, wie etwa die nach gleicher Berücksichtigung der Interessen aller, binden.
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Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral ?
II.
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Verschiedene Moralen ?
Alle diese Überzeugungen sind Überzeugungen, die in den Bereich dessen fallen, was wir üblicherweise als „Moral“ bezeichnen. Allgemein lässt sich sagen : Moralische Überzeugungen haben normative Bezüge. Sie implizieren Bewertungen am Maßstab dessen, was man tun soll, und sie enthalten die diesen Bewertungen entsprechenden Verhaltensaufforderungen. Allerdings ist zu bedenken, dass all diese Überzeugungen unter den moralischen Überzeugungen der Bevölkerung des Westens zu finden sind. Dies gilt beispielsweise selbst für das utilitaristische Prinzip, mit dem in Extremsituationen sogar die Tötung unschuldiger Menschen gerechtfertigt werden kann. Für Nationalsozialisten waren gerade Opferkalkulationen utilitaristischer Art kennzeichnend. Würde man nun sagen, dass Menschen, die in diesen Fragen unterschiedliche Meinungen vertreten, auch verschiedene Moralen haben, dann müsste man einräumen, dass auch in den demokratischen Verfassungsstaaten des Westens ganz unterschiedliche Moralen vertreten werden. Ich vermute allerdings, dass Unterschiede dieser Art nicht gemeint sind, wenn man fragt, ob Nationalsozialisten eine andere Moral hatten. Wenn wir fragen, ob Nationalsozialisten eine andere Moral hatten, dann fragen wir, ob sich die Moral der Nationalsozialisten jenseits dieser Unterschiede von den im Westen vertretenen Moralen unterschieden hat. Den gedanklichen Hintergrund dieser Frage bilden zum einen die vielen Handlungen der Nationalsozialisten, die wir für Verbrechen halten, und zum anderen die Vermutung, dass diese Handlungen auf dem Boden einer westlichen Menschenrechts - Moral nicht als gerechtfertigt hätten betrachtet werden können. Was uns verstört und zum Auslöser dieser Frage wird, sind also moralisch inakzeptable Handlungen – in diesem Falle Handlungen von Nationalsozialisten –, wobei es uns primär darum geht, die Überzeugungen, aus denen dieses Handeln erwachsen ist, zu begreifen. Damit ergibt sich Folgendes : Wenn man wissen will, welche Moral eine Person hat, muss man diejenigen moralischen Überzeugungen ermitteln, die ihr Handeln – und zwar ihr Handeln gegenüber anderen – maßgeblich beeinflussen. Für das, was man tut oder lässt, sind aber vor allem die Normen ausschlaggebend, die man selbst akzeptiert. Die von einer Person akzeptierten Normen fungieren als Gründe, die dafür sprechen, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Wenn man also wissen will, welche – praktisch relevante – Moral eine Person hat, muss man vor allem ermitteln, welche moralischen Normen sie akzeptiert. Für die Beurteilung des Handelns einer Person ist es dabei unerheblich, welche Begründungen diesen Normen oder welche Moralprinzipien den Handlungsentscheidungen zugrunde liegen.
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III.
Was heißt es, eine Moral zu haben ?
Um eine Moral zu haben, reicht es offenbar nicht aus, moralische Normen nur zu kennen. Gefordert ist vielmehr, dass man Normen auch akzeptiert. Man akzeptiert eine Norm dann, wenn man sie verinnerlicht hat, wenn man zugleich gewillt ist, sie im eigenen Handeln systematisch zu befolgen. Die Akzeptanz einer Norm ist an einen solchen Willen gekoppelt. Das Haben einer Moral muss also mit dem Gefühl des Verpflichtetseins verbunden sein, bestimmte moralische Normen zu befolgen. „Eine Moral haben“ heißt eine Verpflichtung spüren, bestimmten, in der Regel auch von anderen Mitgliedern der Gesellschaft erhobenen, Verhaltensaufforderungen folgen zu sollen. Solche Forderungen bezüglich des Handelns und Unterlassens bezeichnet man als „moralische Normen“. Eine Verpflichtung, moralische Normen zu beachten, verspürt man nur denjenigen Normen gegenüber, die man selbst für gültig hält und daher akzeptiert hat – wobei man eine Norm dann für gültig hält, wenn man sie als begründet erachtet, das heißt : wenn man selbst überzeugt ist, einen Grund zu haben, sie zu befolgen. Eine Moral haben heißt somit moralische Normen akzeptieren und gleichzeitig die aufrichtige Verpflichtung verspüren, diese Normen im eigenen Handeln beachten zu sollen. Eine Moral hat man, wenn man im Falle eines vermeidbaren und pflichtgemäß zu vermeidenden Verstoßes gegen eine als gültig erachtete Norm über das eigene Verhalten empört ist und entsprechende Schuldgefühle entwickelt. In einem solchen Falle spricht man davon, dass sich das Gewissen des Betreffenden meldet. Das Gewissen kann als eine interne Kontrollinstanz beschrieben werden, die eine Differenz zwischen dem gesollten und dem tatsächlichen Handeln registriert und dem Betreffenden signalisiert. Ein moralisches Handeln ist ein normgemäßes Handeln aus Pflicht – das heißt auf Basis der Einsicht in die Begründetheit der Normen und dem Willen, den sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu genügen. Eine Moral hat man, wenn man moralische Überzeugungen der genannten Art hat.
IV.
Hatten die Nationalsozialisten überhaupt eine Moral ?
Die Frage „Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral ?“ unterstellt zumindest die Möglichkeit, dass die Nationalsozialisten überhaupt eine Moral in diesem Sinne hatten. Diese Unterstellung wird nicht allgemein akzeptiert. Obwohl die Nationalsozialisten ihren Kampf selbst als einen Kampf gegen das Böse verstanden, nahmen viele Interpreten der nationalsozialistischen Gewalttaten als geradezu selbstverständlich an, dass die Täter selbst „das Böse“ gewollt hätten, ja dass es sich bei ihnen um amoralische, zutiefst ver worfene Menschen gehandelt haben müsste. Diese Einschätzung erscheint nicht wirklich hilfreich, das Denken von Nationalsozialisten zu entschlüsseln. Redeweisen dieser Art dürften vor allem als Ausdruck des Gefühls der Fassungslosigkeit zu ver-
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stehen sein, das uns angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen stets von Neuem befällt. Ich behaupte stattdessen, dass zumindest die maßgeblichen Nationalsozialisten tatsächlich eine Moral in dem hier gemeinten Sinne hatten. Auch Nationalsozialisten haben ein sozial geltendes System moralischer Normen akzeptiert, aus dem für jeden Verhaltensforderungen entsprangen, und sie haben somit die Verpflichtung verspürt, diese Normen im eigenen Verhalten zu befolgen und sie gegebenenfalls nach außen zu vertreten. Dass sich auch Nationalsozialisten an Normen orientierten, lässt sich an vielen Verlautbarungen plausibilisieren. Wenn beispielsweise Hitler in einer Rede zur Eröffnung der Internationalen Automobil - und Motorradausstellung ausführt : „Wer im Kraftwagen fährt, trägt [...] Verantwortung [...] für das Leben seiner Mitmenschen. Wer damit aber leichtfertig umgeht, handelt verbrecherisch und gewissenlos“,1 so postuliert er die Geltung einer Moralnorm – nämlich des Gebots, Schaden von Mitmenschen abzuwenden.2 Oder : Wenn Heinrich Himmler in einer seiner Reden ausruft, „das Gewissen“ gebiete es, „diese harte Reinigung [ nämlich die Endlösung der Judenfrage – L. F.] durchzuführen“,3 so wird deutlich, dass von einer Abwesenheit jeglichen moralischen Wollens nicht notwendiger weise die Rede sein muss. Natürlich ist es eine intellektuelle Zumutung, die „Endlösung der Judenfrage“ als Ausdruck eines moralischen Wollens zu begreifen. Doch die Berufung auf das Gewissen, das eine bestimmte Handlungsweise gebiete, zeigt, dass sich Himmler sowohl gedanklich als auch semantisch innerhalb des moralischen Diskurses bewegte und es darauf anlegte, sein Handeln moralisch zu rechtfertigen. Wenn derselbe Himmler erklärt, man sei „nicht berechtigt“, „irgend etwas an Hartem und Schwerem, was heute getan werden kann, aufzusparen“, denn man könne es „nicht verantworten“, so „unanständig“ zu sein und das ungelöste Judenproblem den eigenen Kindern zu überlassen,4 dann zeigt dies, dass auch Himmler – jedenfalls soweit wir diese Äußerungen für bare Münze nehmen dürfen – bemüht war, sein Handeln an moralischen Normen auszurichten. Gerade dieser Wille aber, geltende Moralnormen zu befolgen, ist es, den man üblicherweise als einen moralischen Willen begreift. Es ist daher falsch, Nationalsozialisten pauschal ein moralisches Desinteresse zu unterstellen oder sie für amoralische Wesen zu halten, ihnen einen fehlenden Willen zu attestieren, sich überhaupt an moralischen Normen zu orientieren, oder sie für unfähig zu halten, moralische Verpflichtungen zu erkennen. 1 2 3 4
Adolf Hitler, [ Rede zur Eröffnung der Internationalen Automobil - und Motorradausstellung vom 17. Februar 1939]. In : Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, Wiesbaden 1973, Band II /1, S. 1083. Freilich ist damit über die Begründung dieser Norm noch nichts ausgesagt. So bezeichnet Hitler diejenigen, die andere Menschen im Straßenverkehr schuldhaft töten oder verletzen als „Schädlinge am Volk“ ( ebd.). Heinrich Himmler, Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen. Hg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt a. M. 1974, S. 204. Ebd., S. 202, 204.
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Auch Hitler und andere Nationalsozialisten hatten ganz offenbar moralische Überzeugungen, und sie haben innerhalb ihres Überzeugungssystems Überlegungen angestellt, wie moralisch zu handeln sei. Wenn es allerdings zutreffend ist, dass Nationalsozialisten eine Moral in dem hier gemeinten Sinne hatten, bleibt die Frage, ob sie eine andere Moral hatten. Dies wird in der Tat von vielen Autoren als selbstverständlich angenommen.
V.
Akzeptierten die Nationalsozialisten andere moralische Normen ?
Statt zu fragen, ob die Nationalsozialisten eine andere Moral hatten, möchte ich zuerst erörtern, ob sie andere moralische Normen akzeptierten. Dabei beziehe ich die Frage, ob Nationalsozialisten andere Normen akzeptierten, zunächst ausschließlich auf moralische Grundnormen.
1.
Grundnormen
Grundnormen werden üblicher weise abstrakt und allgemein formuliert. Sie schreiben zwar bestimmte Handlungsweisen vor; jedoch erfassen sie nicht alle Situationen. Grundnormen enthalten keine Festlegungen, auf welche Arten von Entitäten sie sich beziehen, anhand welcher Merkmale diese Entitäten zu identifizieren sind und ob sie unbeschränkt oder nur bedingt gelten und, falls nur bedingt, welche einschränkenden Bedingungen anerkannt werden. Daher enthalten sie für viele konkrete Anwendungsfälle keine Verhaltensanweisungen. Vertreten zwei Personen sprachlich identische Forderungen, vertreten sie, so meine Begriffsfestlegung, dieselbe Norm. Als Grundnormen sollen diejenigen Normen gelten, die in der allgemeinsten Formulierung auftreten, die mit der jeweiligen, in der Norm ausgedrückten Handlungsanweisung noch vereinbar sind. Eine solche Grundnorm ist beispielsweise das Tötungsverbot. Grundnormen sind aber auch die Verbote, andere Menschen zu verletzen, zu vertreiben, ihrer Freiheit zu berauben, zu bestehlen oder zu belügen. Zu solchen Grundnormen gehören des Weiteren Gebote – wie etwa die Gebote, für seine Kinder zu sorgen, in Not geratenen Menschen zu helfen oder Verträge einzuhalten. Diese Grundnormen dürften in allen oder fast allen Gesellschaften und zu allen Zeiten zu finden sein; sie haben also kulturübergreifende Gültigkeit. In Übereinstimmung mit dieser empirischen Feststellung kann man definieren : Grundnormen haben überall die gleiche Form und sind gesellschaftlich und kulturell invariant. Eine Konzentration auf Grundnormen scheint mir auch deshalb sinnvoll, weil ich vermute, dass sie den Intentionen derjenigen Autoren entspricht, die davon ausgehen, dass Nationalsozialisten tatsächlich eine andere Moral hatten. Solche Autoren glauben offenbar, dass die Nationalsozialisten bestimmte moralische Grundnormen nicht akzeptierten und sich deshalb für berechtigt hielten, diese
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Normen systematisch zu übertreten, oder sie nehmen sogar an, dass Nationalsozialisten die Negation dieser Normen als geltend unterstellten. Eine solche Extremposition scheint Hannah Arendt vertreten zu haben. Sie behauptete, „das ‚neue‘ Recht Hitlers“ hätte verlangt, „dass die Stimme des Gewissens jedermann sage : ‚Du sollst töten‘“.5 Wenn diese Deutung von Arendt zutreffend sein sollte, hätten die Nationalsozialisten nicht nur das Tötungsverbot nicht akzeptiert, sondern stattdessen die Norm propagiert „Du darfst töten“ oder gar „Du sollst töten !“.
2.
Übereinstimmende moralische Grundnormen
Natürlich wissen wir, dass Nationalsozialisten gegen moralische Grundnormen verstoßen haben : Sie haben Menschen verletzt und getötet; sie haben Menschen vertrieben und zwangsweise ausgesiedelt; sie haben Menschen ihrer Freiheit beraubt und versklavt; sie haben Menschen bestohlen, sie haben gelogen und Verträge gebrochen. Aber was ist daraus hinsichtlich unserer Ausgangsfrage zu schlussfolgern ? Folgt aus der Tatsache, dass man gezielt und systematisch Normen verletzt, dass man diese Normen nicht für gültig hält oder sie nicht akzeptiert ? Dies ist zu verneinen. Der Schluss, aus der bewussten und mit gutem Gewissen gewollten Verletzung einer Norm folge, dass man sie nicht akzeptiert, ist innerhalb des hier vorgeschlagenen Begriffssystems falsch. Ich behaupte stattdessen, dass es denkbar ist, dass Nationalsozialisten alle genannten Grundnormen in dem eingangs genannten Sinne für gültig gehalten und akzeptiert haben – und wenigstens in diesem Sinne keine andere Moral hatten. Dies gilt übrigens auch für eine Reihe von Grundwerten wie Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit oder Ehre sowie für menschliche Tugenden wie Ehrlichkeit, Treue, Kameradschaftlichkeit, Leistungswille, Anständigkeit, Ritterlichkeit oder Opferbereitschaft, die von Nationalsozialisten in ihrer abstrakt - allgemeinen Form in derselben Weise vertreten beziehungsweise eingefordert wurden. Dass Nationalsozialisten Grundnormen akzeptiert haben, scheint mir geradezu evident. So hatte Hitler die zehn Gebote als „Ordnungsgesetze“ für „absolut lobenswert“ erklärt.6 Dass er überhaupt die Orientierung an moralischen Normen für verpflichtend hielt, ließe sich an vielen Äußerungen plausibel machen. In seiner schon erwähnten Rede zum Beispiel führte er weiter aus : „Grundsätzlich aber ist es überhaupt unnationalsozialistisch, seinen anderen Volksgenossen gegenüber rücksichtslos zu sein.“7 Mitmenschen gegenüber nicht 5 6 7
Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1995, S. 188 f. Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Aufgezeichnet von Heinrich Heim, hg. und kommentiert von Werner Jochmann, München 2000, Dok. 43, S. 104. Hitler, [ Rede zur Eröffnung der Internationalen Automobil - und Motorradausstellung vom 17. Februar 1939], S. 1083.
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rücksichtslos zu sein ist eine Grundnorm, die auch wir vertreten und die überhaupt eine kulturübergreifende Geltung haben dürfte. Für Himmler gilt dasselbe. Himmler war selbstverständlich nicht der Meinung, dass man andere Menschen ohne einen rechtfertigenden Grund umbringen dürfe. Noch im Mai 1940 hatte er in einer Denkschrift zur Ostpolitik, die von Hitler gebilligt worden war, „die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich“8 abgelehnt. Später hatte er seine Auffassung geändert. Aber auch dann war Himmler nicht der Meinung, dass es erlaubt sei, Juden nach Gutdünken umzubringen. Auch die Tötung von Juden musste begründet und gerechtfertigt werden. Er hat also sehr wohl das Tötungsverbot nicht nur gekannt, sondern auch akzeptiert, und er glaubte gleichzeitig, es in bestimmter Hinsicht oder unter bestimmten Voraussetzungen übertreten zu dürfen. Es bestätigt sich also : Auch wenn man eine Norm verletzt, muss man diese nicht für ungültig halten. Die Begründung dafür ist einfach und jedem bekannt: Es ist denkbar, dass man Normen verletzt, diese Verletzung aber für erlaubt oder gar für geboten hält. Einer solchen Erlaubnis bedarf es nur, weil die Norm gilt. Wer beispielsweise die Erlaubnis anerkennt, dass man sich gegen einen Aggressor notfalls auch mit tödlichen Mitteln zur Wehr setzen darf, kann gleichzeitig die Norm „Du sollst nicht töten !“ akzeptieren. Und würde sich nicht ebenso jeder Vertreter der Todesstrafe ( zu Recht ) gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, er lehne das Tötungsverbot ab ?
3.
Täter mit gutem Gewissen
Bei den führenden Nationalsozialisten haben wir es mit Tätern zu tun, die der Überzeugung waren, dass ihr Handeln moralisch gerechtfertigt ist. Führende Nationalsozialisten, unter ihnen Hitler und Himmler, waren Täter mit gutem Gewissen. Sie waren überzeugt, dass ihr Handeln mit ihren moralischen Überzeugungen, insbesondere mit den von ihnen akzeptierten Moralnormen in Übereinstimmung steht. Weder Hitler noch Himmler scheinen ernsthaft in Erwägung gezogen zu haben, dass sie Verbrechen begehen. Auch für sie galt, was wohl für die meisten gilt : Die „Bösen“ sind die Anderen. Was sie selbst taten, hielten sie für gerechtfertigt. Sie handelten weder in dem Bewusstsein noch mit dem Willen, etwas moralisch Verbotenes, etwas Böses zu tun. Dies ist zugleich der Grund, weshalb es im Rahmen ihres Denkens unmöglich war, ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln – was allerdings nicht ausschließt, dass sie wussten oder vermuteten, dass andere ihr Handeln als verbrecherisch betrachten würden. Wenn wir das Verbrechertum des Nationalsozialismus begreifen wollen, dann müssen wir vor allem begreifen, wie es möglich ist, dass Menschen moralische 8
Heinrich Himmler, Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten. In : Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, Dok. 37, S. 299.
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Grundnormen verletzen, diese Verletzung aber für erlaubt oder geboten halten. Das gute Gewissen vieler Täter, das sich an vielen Äußerungen von Tätern nachweisen ließe, begründet also den eigentlichen Erklärungsbedarf. Es gilt zu erklären, wie sich Menschen über das moralische Verbotensein von Handlungen irren können, die ganz offenbar moralische Grundnormen verletzen.9 Wenn es generell gelingt, plausibel zu machen, dass es anderen Menschen möglich ist, Dinge mit gutem Gewissen zu tun, die wir vor dem Hintergrund einer Menschenrechts - Moral für Verbrechen halten, dann müssen wir uns nicht zu der höchst unplausiblen Annahme versteifen, dass es sich bei den nationalsozialistischen Tätern durchweg um amoralische oder boshafte Menschen handelte – um Menschen also, die entweder an einem normengeleiteten Handeln nicht interessiert waren oder aber das Ziel und den Zweck ihres Handelns in einer Schädigung anderer gesehen haben und damit gleichsam die Gesinnung exemplifizierten, die Kant „teuf lisch“10 genannt hatte.
VI.
Die Spezifik von Moralnormen
Moralnormen sind von Normen der Konvention, der Sitte oder der Etikette zu unterscheiden. Von einer „Moralnorm“ sprechen wir in der Regel11 dann, wenn sie in ihrer inhaltlichen Bestimmung existenziell bedeutsam ist – wenn ihre Befolgung oder Nichtbefolgung maßgebliche Konsequenzen für die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse, für die Bewältigung des Daseins, für die Vermeidung von Leiden hat.
1.
Geltung und Zustimmung
Im Folgenden werde ich von einer Moralnorm sprechen, wenn eine akzeptierte Norm zwei ( formale ) Merkmale aufweist.12 Erstens : Die Norm wird mit dem
9 Siehe dazu Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus, Köln 1998, sowie ders., Täter und Gewissen. Zur Typologie des Täterverhaltens. In : Aufklärung und Kritik, 12 (2005) 1, S. 82–94. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt aus juristischer Sicht neuerdings Udo Ebert, Die „Banalität des Bösen“ – Herausforderung für das Strafrecht, Stuttgart 2010, insbes. S. 5–19. Siehe auch Jörg Arnold, „Täter mit gutem Gewissen“. Impulse einer moralphilosophischen Untersuchung über die DDR - Vergangenheit für das Strafrecht. In : Matthias Mahlmann ( Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit. Festschrift für Hubert Rottleuthner, Baden - Baden 2011, S. 439–457. 10 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In : ders., Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Band 7, B 36. 11 Ich sehe hier von Auffassungen ab, denen zufolge wir auch moralische Pflichten gegenüber der Natur haben. 12 Vgl. Norbert Hoerster, Was ist Moral ? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008, S. 13.
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Anspruch auf allgemeine Geltung vertreten. Zweitens : Die Norm wird mit dem Anspruch auf allgemeine Zustimmung vertreten. Zum ersten Merkmal : Moralische Forderungen richten sich an einen Adressaten, und sie beziehen sich auf bestimmte Entitäten und Anwendungsfälle. Der Anspruch auf allgemeine Geltung ist erfüllt, wenn der Normvertreter die mit einer Moralnorm verbundene Forderung an jedermann in einer relevant ähnlichen Position richtet und sie für alle Entitäten der gleichen Art sowie in jeder relevant ähnlichen Situation erhebt. Zu diesem Zweck dürfen in der Normformulierung nur sprachliche Ausdrücke auftauchen, die die Geltung der Norm nicht in willkürlicher Weise auf einzelne Fälle einschränken. In die Formulierung von Normen dürfen insbesondere keine Eigennamen oder idexikalischen Ausdrücke wie „ich“, „du“, „wir“, „dort“, „hier“, „jetzt“, „mein Volk“, „meine Religionsgemeinschaft“ u. dgl. eingehen.13 Wer die Forderung erhebt „Du sollst nicht töten !“, kann diese Forderung nicht nur an bestimmte Personen richten; er kann sie aber auch nicht nur auf einzelne Individuen beziehen oder nur auf ausgewählte Orte oder nur auf bestimmte Zeiten beschränken. Insofern gilt : Moralnormen werden mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung vertreten. Daraus folgt allerdings nicht, dass eine Norm nur dann allgemein ( universal) gilt, wenn sie sich an alle Menschen als Adressaten richtet und wenn sich zugleich die normierte Handlung auf alle Menschen bezieht. Die Moralnorm „Eltern sollen für ihre Kinder sorgen !“ erfüllt weder die eine noch die andere Bedingung. Auch die Forderung, für die Selbsterhaltung des eigenen Volkes zu kämpfen, wäre in diesem Sinne eine moralische Forderung. Sie richtete sich an alle Mitglieder aller Völker. Zum zweiten Merkmal : Der Anspruch auf allgemeine Zustimmung ist erfüllt, wenn der Normvertreter der Auffassung ist, dass jeder ( oder fast jeder ) einen guten Grund hat, für die gesellschaftliche In - Geltung - Setzung dieser Norm zu optieren. Zum einen heißt dies nicht, dass eine Norm nur dann eine Moralnorm ist, wenn sie faktisch von allen akzeptiert wird. Vielmehr ist es nicht ausgeschlossen, dass einer allein eine Moralnorm vertritt. Zum anderen heißt dies nicht, dass buchstäblich jeder andere tatsächlich unter Rationalitätsbedingungen einen Grund hat, dieser Norm zuzustimmen. Hier mag es Ausnahmen geben. Der Normvertreter muss allerdings überzeugt sein, dass alle ( oder fast alle ) Mitmenschen ebenfalls einen hinreichenden subjektiv guten Grund haben, diese Norm zu akzeptieren, und er muss wünschen, dass sie eine allgemeine Akzeptanz findet. Insofern gilt : Moralnormen gelten als allgemein zustimmungsfähig und werden mit dem Anspruch auf allgemeine Zustimmung vertreten.
13 Vgl. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin 2003, S. 33 f.
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2.
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Konkretisierung als Anwendungsvoraussetzung
Eine Moral der grundlegenden Menschenrechte, die eine Reihe von Grundnormen akzeptiert, weist jedem Menschen Abwehr - oder auch Anspruchsrechte zu, die ohne eine anerkannte Rechtfertigung nicht eingeschränkt werden dürfen. Nicht - gerechtfertigte Verletzungen dieser Rechte gelten als illegitim. Um nun zu begreifen, dass auch Täter, die solche Rechte verletzten, ihr Handeln an moralischen Grundnormen wie zum Beispiel dem Tötungsverbot orientiert haben können, muss man sich die Konkretisierungsbedürftigkeit von Grundnormen vergegenwärtigen. Erstens : Der universelle Geltungsanspruch einer Moralnorm sagt nichts über die Reichweite der Norm aus. Die Norm „Du sollst nicht töten !“ verbietet eine Handlungsweise, nämlich das Töten. Insoweit ist lediglich klar, dass sie sich nur auf den Umgang mit Entitäten bezieht, die überhaupt getötet werden können, also auf Lebewesen. Darüber hinaus sagt sie aber nicht, wer oder was nicht getötet werden darf. Sieht man von buddhistischen Vorstellungen ab, wird die Norm üblicherweise so verstanden, dass sie das Töten von Menschen, aber nicht das von Tieren verbietet. Viele verstehen diese Norm näherhin so, dass sie ein Verbot des Tötens von geborenen Menschen bedeutet, viele so, dass sie nur die Tötung anderer Menschen, also nicht die Selbsttötung, untersagt. Für die Norm „Du sollst nicht lügen !“ gilt Ähnliches. Aus der Normformulierung folgt zunächst nur, dass sie sich auf den Umgang mit Wesen bezieht, die belogen werden können. Ob aber nur Menschen oder auch andere möglicherweise existierende Vernunftwesen nicht belogen werden dürfen, ist unbestimmt. Damit ergibt sich : Erst die jeweils akzeptierte Festlegung der Reichweite einer Grundnorm entscheidet darüber, welche konkreten Handlungen erlaubt oder verboten sind. Zweitens : Moralische Grundnormen müssen stets in konkreten Handlungssituationen befolgt werden. Da aber Grundnormen unspezifisch formuliert sind, enthalten sie keine Anweisungen, was unter konkreten Bedingungen zu tun oder zu lassen ist. So etwa enthalten Grundnormen keine Verhaltensanweisung für Notfälle oder Gefahrensituationen – für Fälle zum Beispiel, in denen ihre Beachtung mit einer massiven Schädigung für den Handelnden selbst oder für Mitbetroffene verbunden sein könnte. Sie enthalten keine Verhaltensanweisung für den Fall, dass andere Personen Grundnormen verletzen und damit ihren Unterlassungspflichten nicht nachkommen. Sie enthalten auch keine Regelung für den Fall, dass Grundnormen untereinander in Konflikt geraten. Somit zeigt sich : Wer eine Grundnorm kennt, weiß noch nicht vollständig, welche konkreten Handlungen durch sie verboten sind. Drittens : Grundnormen werden mitunter nicht direkt befolgt, sondern unter Berücksichtigung der konkreten Umstände in konkretere Normen transformiert. Die ( konkrete ) Norm etwa, die fordert, man solle Sterbenden den Wunsch auf Schmerzlinderung erfüllen, ist eine Konkretisierung der Grundnorm, anderen Menschen zu helfen. Aus Grundnormen können unter Berücksichtigung von
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Merkmalen, die sowohl die Handlungsbedingungen als auch den Handelnden selbst betreffen, konkrete Normen abgeleitet werden.
3.
Reichweiteregeln, Rechtfertigungsgründe, abgeleitete Normen
Daraus ergibt sich eine für das Verständnis der menschlichen „Moralpraxis“ wesentliche Konsequenz : Um zu wissen, was in einer konkreten Handlungssituation getan und was unterlassen werden soll, genügt es unter Umständen nicht, die moralischen Grundnormen zu kennen. Moralisch relevante Entscheidungen werden darüber hinaus bestimmt durch die für gültig gehaltenen Reichweiteregeln und Rechtfertigungsgründe sowie durch die subjektiv anerkannten abgeleiteten Normen. Wir können das Handeln der Täter - mit - gutem - Gewissen zu einem beträchtlichen Teil, wenngleich nicht vollständig, verstehen, wenn wir annehmen, dass sie andere Reichweiteregeln oder andere Rechtfertigungsgründe oder andere abgeleitete Normen akzeptierten.
VII. Reichweiteregeln Grundnormen bestimmen nur unpräzise, was getan oder unterlassen werden soll. Deshalb muss ihr Anwendungsbereich durch Reichweiteregeln festgelegt werden. Reichweiteregeln bestimmen, auf wen moralische Normen zutreffen sollen. Manche Reichweiteregeln bestimmen, welche Wesen Mitglieder der Moralgemeinschaft sind. Andere Reichweiteregeln ergeben sich aus der Funktion, die bestimmte Mitglieder der Moralgemeinschaft haben, beziehungsweise aus der Rolle, die sie ausfüllen.
1.
Allgemeines
Wie unbestimmt Grundnormen sein können, dürfte am Beispiel des Tötungsverbots bereits deutlich geworden sein. Man sollte sich aber des Weiteren verdeutlichen, dass auch andere Verständnisse derselben Norm möglich sind, und man sollte sich klarmachen, dass selbst die Festlegung, das Tötungsverbot nur auf die Tötung von ( anderen ) Menschen zu beziehen, dieses noch immer unterbestimmt sein lässt : Man kann das Tötungsverbot nicht nur auf geborene Menschen, sondern überhaupt auf menschliche Individuen und damit auch auf Embryonen beziehen. Man kann das Tötungsverbot nur auf menschliche Individuen mit Zukunftswünschen oder überhaupt auf leidensfähige Wesen oder nur auf beseelte Wesen oder auch generell auf Vernunftwesen beziehen. Des Weiteren kann die Reichweite des Tötungsverbots ethnisch, rassisch oder auch bezüglich anderer ( etwa medizinischer ) Kriterien eingeschränkt werden.
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Um die Norm „Du sollst keinen ( anderen ) Menschen töten !“ befolgen zu können, muss man wissen, welche Formen des Lebens menschliches Leben verkörpern und welche Formen menschlichen Lebens als „Mensch“ gelten und daher von diesem Verbot erfasst werden. Selbst dann aber, wenn das Menschsein des betreffenden Wesens unstrittig ist, kann diese Norm weiteren Einschränkungen bezüglich ihrer Reichweite unterliegen. Eine ethnische Einschränkung beispielsweise läge vor, wenn die Reichweite etwa mit der Abstammung von einer Gemeinschaft oder der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zusammenfiele. Eine solche Einschränkung lag vor, als das Tötungsverbot des Dekalogs auf den Bereich des Bundesvolkes Israel beschränkt und noch nicht, wie in nachexilischer Zeit, schrittweise vom traditionellen Rechtssubjekt, dem israelitischen Vollbürger, auf den Menschen schlechthin ausgeweitet worden war.14 Festlegungen der Reichweite einer Norm beruhen auf Relevanzüberlegungen. Wer die Norm „Du sollst nicht töten !“ als die Forderung versteht, keinen anderen Menschen zu töten, bringt mit diesem Normverständnis zum Ausdruck, dass für ihn nur die Tötung von anderen Menschen moralisch relevant ist. Gleichzeitig bringt er damit zum Ausdruck, dass für ihn weder die Selbsttötung noch die Tötung von Nicht - Menschen Verletzungen des Tötungsverbots darstellen. Wir können also festhalten : Egal welche Kriterien für die Festlegung der Reichweite einer Norm in Anschlag gebracht werden, sie müssen innerhalb des betreffenden Überzeugungssystems als moralisch relevant gelten.15 Das heißt aber : Es müssen Begründungen vorgelegt werden können, warum die nicht erfassten Wesen unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Tötung nicht als in relevanter Hinsicht ähnlich und damit auch moralisch nicht gleichberechtigt gelten. Ansonsten kollidierten die in Anschlag gebrachten Kriterien mit dem universellen Geltungsanspruch von Moralnormen. Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich einige Konsequenzen. Erstens : Erst durch die Festlegung der Reichweite einer Norm wird in Verbindung mit dem Wortlaut dieser Norm die jeweilige moralische Verpflichtung definiert. Festlegungen zur Reichweite von Normen haben insofern normative Konsequenzen; sie sind also selbst moralisch relevant. Welche Moral eine Person hat, hängt wesentlich von den akzeptierten Reichweiteregeln ab. Zweitens : Reichweitefestlegungen, die die formalen Konsistenzanforderungen erfüllen, berühren nicht die universelle Geltung der Norm. Die verschiedenen Verständnisse der Norm „Du sollst nicht töten !“ könnten alle der Universalisierungsforderung genügen – sie haben aber unterschiedliche Reichweiten. Drittens : In Abhängigkeit von den akzeptierten Reichweiteregeln kann ein und dieselbe Norm( formulierung ) „Du sollst nicht töten !“ mit Handlungen vereinbar sein ( mit dem Töten leidensfähiger Tiere, der Abtreibung, dem Infantizid, dem Selbstmord, dem 14
Vgl. Frank - Lothar Hossfeld, „Du sollst nicht töten !“ Das fünfte Dekaloggebot im Kontext alttestamentlicher Ethik, Stuttgart 2004, S. 13, 68 f., sowie Matthias Köckert, Die Zehn Gebote, München 2007, S. 21, 76 f. 15 Welche Kriterien dafür überhaupt in Frage kommen und wie sich die Akzeptanz dieser Kriterien ihrerseits begründen ließe, ist an dieser Stelle nicht unser Thema.
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Töten Stammes - oder Volksfremder oder geistig Behinderter ), die aus der Perspektive anderer Reichweiteregeln als illegitim gelten.
2.
Nationalsozialistische Reichweiteregeln
Betrachtet man nun das moralische Denken von Nationalsozialisten, so stellt man fest, dass führende nationalsozialistische Ideologen zwar dieselben moralischen Grundnormen wie wir, aber andere Reichweiteregeln vertreten haben. Damit stellt sich die Frage, wie Reichweiteregeln festgelegt werden beziehungsweise wovon es abhängt, welche Reichweiteregeln wir akzeptieren. Die Antwort darauf lautet : Bei der Festlegung der Reichweite einer Moralnorm spielen außermoralische Überzeugungen beziehungsweise außermoralische Annahmen eine maßgebliche Rolle. Zur Illustration dieser These nenne ich drei nicht - moralische Theoreme, die für die Festlegung der Reichweite von Grundnormen innerhalb des nationalsozialistischen Denkens eine zentrale Bedeutung hatten. Erstens : Unter Berufung auf rassen - und kulturtheoretische Annahmen unterstellten Nationalsozialisten eine natürliche Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Völkern und Rassen. Dieser außermoralischen Annahme entsprechend lehnten sie das Postulat einer normativen Gleichheit aller Menschen ab. So war Hitler der Auffassung, dass der sogenannte Arier gleichsam die Krone der Schöpfung verkörpere, den „Urtyp“ dessen, was man „unter dem Worte ‚Mensch‘“ verstehe.16 Den Anspruch des Ariers, Angehörige niederer Rassen in seinen Dienst stellen zu dürfen, hielt er aufgrund der naturgegebenen, wenngleich im Kampf zu bewährenden, Überlegenheit des Ariers sowie aufgrund seiner kulturschöpferischen Befähigung und Tätigkeit für gerechtfertigt. Hitler huldigte „dem aristokratischen Grundgedanken der Natur“ und glaubte, „die Unterordnung des Schlechteren und Schwächeren“ gemäß „dem ewigen Wollen, das dieses Universum beherrscht,“ verlangen zu dürfen.17 Das heißt aber : Arier und NichtArier hatten hinsichtlich der Geltung moralischer Grundnormen nicht den gleichen Status. Zweitens : Auf der Basis evolutionstheoretischer und anthropologischer Überlegungen haben nicht alle Nationalsozialisten die Zugehörigkeit aller Menschen zu ein und derselben menschlichen Gattung anerkannt. Manche Ideologen haben graduelle Abstufungen des Menschseins unterstellt. Ein – sicherlich extremes – Beispiel dieser Denkungsart lieferte Hermann Gauch. „Der nichtnordische Mensch“, so schrieb er, „nimmt also eine Zwischenstellung zwischen Nordischem Menschen und den Tieren, zunächst den Menschenaffen, ein. Er ist darum kein vollkommener Mensch, er ist so überhaupt kein Mensch im eigentlichen Gegensatz zu dem Tiere, sondern eben nur ein Uebergang dazu, eine Zwischenstufe.“18 16 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, 504.–508. Auflage München 1940, S. 317. 17 Ebd., S. 421. 18 Hermann Gauch, Neue Grundlagen der Rassenforschung, Leipzig 1933, S. 77 f.
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Mit diesen theoretischen Annahmen fielen bestimmte menschliche Wesen (in diesem Falle nicht - nordische Menschen ) nicht in den Geltungsbereich der akzeptierten Moralnormen. In der Tat lassen sich nun Äußerungen nationalsozialistischer Täter anführen, die für die Vermutung sprechen, dass verschiedene Opfergruppen von den Nationalsozialisten nicht – oder jedenfalls nicht im Vollsinne – als Menschen betrachtet wurden. In diese Richtung geht zum Beispiel die lapidare Feststellung eines Mitglieds eines der an Judenerschießungen beteiligten Polizeibataillone : „Der Jude wurde von uns nicht als Mensch anerkannt.“19 Ungeachtet dessen halte ich die Deutung, die geistig tonangebenden Nationalsozialisten oder auch an Erschießungen unmittelbar Beteiligte hätten eine rassistisch begründete Reichweiteregel akzeptiert, nach der Juden oder auch andere Opfer nicht zu den Menschen zählten und damit aus dem Kreis der von den Grundnormen erfassten Wesen herausfielen, für nicht überzeugend.20 Auch wenn es falsch sein dürfte, eine kohärente nationalsozialistische Moral zu unterstellen, so spricht doch gegen diese Deutung die Tatsache, dass auch Nationalsozialisten um Rechtfertigungen für ihre Tötungshandlungen bemüht waren – und zwar nicht nur, um Dritte zu beeindrucken, sondern auch, um vor ihrem eigenen Gewissen bestehen zu können. Ein solches Bemühen aber wäre kaum erklärbar, wenn Nationalsozialisten nicht auch überzeugt gewesen wären, dass die Tötung von Juden im Normalfall illegitim ist, weil sie einen Verstoß gegen das jedem Menschen zustehende Recht auf Leben darstellt – und also gerechtfertigt werden muss. Ein vom SS - Hauptamt herausgegebener Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass alle Menschen, „ob Weiße, Gelbe oder Schwarze“, „neben der gemeinsamen Fortpflanzungsmöglichkeit bestimmte, für den Menschen kennzeichnende Merkmale und Eigenschaften“ haben und die gesamte Menschheit daher ein und derselben Art angehört.21 Drittens : Den Kern der Hitler’schen Weltanschauung bildet die politische Theorie eines universellen Überlebenskampfes von Völkern und Rassen. Unabhängig von seinen rassentheoretischen Annahmen hat Hitler – und zwar in (ihm unbewusster ) Übereinstimmung mit Thomas Hobbes – nicht an die Möglichkeit einer langfristig stabilen und friedenserhaltenden Kooperation unter Naturzustandsbedingungen, im speziellen Fall unter Bedingungen einer allgemeinen Völ19 Zit. nach Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1998, S. 331. Goldhagen meint gar ( im Gegensatz zu Christopher R. Browning ), in den Tausende von Seiten umfassenden Stellungnahmen der Angehörigen des Polizeibataillons 101 fehle „jeder Hinweis, dass die Deutschen die Juden als Menschen akzeptiert hätten“ ( ebd., S. 641). 20 Siehe dazu Lothar Fritze, Moralische Rechtfertigung und außermoralische Überzeugungen. Sind „totalitäre Verbrechen“ nur in einer säkularen Welt möglich ? In : Leviathan, 37 (2009) 1, S. 5–33, hier 17–20. 21 SS - Hauptamt : Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei. In: Hans - Adolf Jacobsen / Werner Jochmann ( Hg.), Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933–1945, Bielefeld 1961, S. 1–10, hier 2. Vgl. auch Martin Staemmler, Rassenpflege im völkischen Staat, München 1937, S. 14 f.
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ker - und Staatenkonkurrenz geglaubt. Dementsprechend ging Hitler davon aus, dass es der Kampf um knappen Lebensraum und Ressourcen verbietet, die Interessen der Angehörigen anderer Völker oder anderer Rassen als gleichberechtigt zu berücksichtigen. Unter diesen Bedingungen, so war Hitler offenbar überzeugt, hat jede Partei ( jeder Staat, jedes Volk ) ein – in Hobbes’scher Terminologie – „Recht auf alles“.22 Damit fielen die Individuen konkurrierender Völker und Rassen aus dem Kreis derer, die von den Grundnormen erfasst werden, heraus. In der Auseinandersetzung konkurrierender Überlebenseinheiten bleibt somit unter den Bedingungen eines moralisch und rechtlich ungeregelten Naturzustandes nur das „Recht des Stärkeren“. Im Ergebnis haben wohl alle führenden Nationalsozialisten Reichweiteregeln akzeptiert, die sich zum Teil von denen unterschieden, die wir im Rahmen einer universalistischen Menschenrechtsethik vertreten. Darunter waren auch ethnisch und rassistisch begründete. Diese Unterschiede sind moralisch bedeutsam. Sie verweisen auf Unterschiede zwischen der „Moral“ der Nationalsozialisten und der unseren. Zu fragen ist aber : Warum nimmt jemand beispielsweise an, nichtnordische Menschen verkörperten unterentwickelte Formen des Menschseins und müssten demzufolge nicht wie wirkliche Menschen behandelt werden ? Weil er selbst ein schlechter Mensch ist, amoralisch oder gewissenlos ? Oder weil er über bestimmte Sachverhalte der äußeren Welt andere Anschauungen hat, weil er zum Beispiel eine andere oder eine falsche Theorie vertritt ? Die Antwort auf diese Frage ist den angeführten Beispielen zu entnehmen. Sie zeigen, dass es letztlich außermoralische Annahmen sind, die zu den spezifischen – moralisch relevanten – Reichweiteregeln zumindest führen können. In den genannten Beispielen sind es Überlegungen sowohl aus dem Bereich der Naturwissenschaft beziehungsweise der Anthropologie als auch der politischen Philosophie.
3.
Universalistische Reichweiteregeln ?
Aus der Sicht derer, die die zugrunde liegenden außermoralischen Annahmen Andersdenkender nicht teilen, sind die daraus resultierenden Reichweitebeschränkungen Ausdruck einer nicht - universalistischen Moral. Will man jedoch das Selbstverständnis der Nationalsozialisten erfassen, kann man diese Reichweite - Festlegungen nicht als Preisgabe des universalistischen Standpunktes beschreiben. Eine solche Preisgabe ist es eben nur aus der Sicht derer, die die Grenzziehung zwischen höher - und minderwertigen Völkern und Rassen beziehungsweise zwischen vollkommenen und nicht - vollkommenen Menschen oder aber die Hitler’sche Lebenskampf - Theorie nicht akzeptieren und damit die in Anschlag gebrachten Reichweite - Kriterien für moralisch irrelevant halten. Aus nationalsozialistischer Sicht aber bestand kein Zweifel, dass sie die von ihnen 22 Thomas Hobbes, Leviathan, Hamburg 1996, S. 108.
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akzeptierten Grundnormen mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung und allgemeine Zustimmung vertreten. Zum einen wurde die Geltung der Normen für alle akzeptiert, die in einem moralisch relevanten Sinne als gleich zu betrachten sind. Zum anderen kam es auf die Zustimmung derer, die in einem moralisch relevanten Sinne nicht als Gleichberechtigte betrachtet wurden, nicht an. Darüber hinaus billigte Hitler das sich aus der Tatsache des nicht aufhebbaren Überlebenskampfes von Völkern und Rassen ergebende „Recht“, sich zum Zwecke der eigenen Existenzsicherung alles Notwendige auch gewaltsam zu holen, jedem Konkurrenten zu. Er hielt „alle Wesen“ auf dieser Erde für „gleich in ihrem Recht zum Leben“; sie alle hätten „das Recht, dies Recht zu verfechten“.23 Zumindest insoweit hatte Hitler einen in jeder ( nicht nur in nationalsozialistischer ) Hinsicht universalistischen Standpunkt vertreten – einen Universalismus bezüglich des Selbstbehauptungsrechtes. Natürlich werden, indem man für seine Selbsterhaltung kämpft, die Interessen der Anderen gerade nicht so berücksichtigt als wären es die eigenen. Gerade Letzteres hielt Hitler unter Berücksichtigung der menschlichen Erfahrung für ausgeschlossen. Jedes Volk, so war er überzeugt, strebt nach Verbesserung seiner Lage – auch auf Kosten anderer Völker; „jedes Volk sieht als Recht an, was es hat, und keines fragt : Wir wollen abwägen, ob vielleicht, gemessen an dem Zustand anderer Völker, unser Leben zu gut gestaltet ist“.24 Diese Präferenz für das Eigeninteresse, die wir beispielsweise auch im privaten Umgang mit dem Recht auf Notwehr anerkennen, wird allerdings jedem zugestanden. Gerade deshalb aber wird jeder, der die diesbezüglich relevanten anthropologischen und politischen Überzeugungen Hitlers teilt, vernünftiger weise auch seiner Auffassung von der Legitimität des Kampfes um Lebensraum und knappe Ressourcen zustimmen. Insoweit sich Hitler gedanklich in der Lebensraum - Theorie bewegte und eine Konfusion mit seinen rassistischen Überzeugungen vermied, beanspruchte er für das deutsche Volk lediglich ein Recht, das er allen Völkern zugestand. In einer Rede führte er dazu aus : „Das Spiel der freien Kräfte wird im Völkerleben weiter walten. Schließlich wird das tüchtigste Volk die Erde beherrschen. Wir wissen nicht, welches Volk es sein wird. Aber wir möchten unser Volk nicht ausscheiden von diesem Wettbewerb.“25 Ob die den jeweiligen Rechtfertigungen zugrundeliegenden Überzeugungen ( etwa die Überzeugung von einem durch Kooperation nicht aufhebbaren Überlebenskampfes um knappe Existenzvoraussetzungen ) zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren sind, ist keine moralische Frage – es handelt sich nämlich um keine Frage, die mit moralphilosophischer Reflexion zu beantworten wäre. Bei 23 Adolf Hitler, „Was wir wollen“. Rede auf NSDAP - Versammlung in Oldenburg vom 18. Oktober 1928. In : Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, München 1994, Band III/1, Dok. 37, S. 168. 24 Adolf Hitler, „Wir und die Reichswehr – Unsere Antwort an Seeckt und Geßler“. Rede auf NSDAP - Versammlung in München vom 15. März 1929. In : Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, München 1994, Band III /2, Dok. 6, S. 49. 25 Hitler, „Was wir wollen“, S. 168 f.
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Überzeugungen dieser Art handelt es sich um außermoralische oder nicht - moralische Überzeugungen. Gleichzeitig hatten manche Nationalsozialisten die übliche Reichweite einer universalistischen Moral ausgedehnt. Himmler beispielsweise betrachtete jede Art von Jagd als Mord an unschuldigen Lebewesen.26 Hitler war zum einen der Meinung, dass auch zukünftige Menschen in die Reichweite der moralischen Normen fallen. Zum anderen vertrat er die Auffassung, dass es sich bei einer Geburtenverhinderung um eine Form der ( unerlaubten ) Tötung handelt.
VIII. Rechtfertigungsgründe Moralische Normen verpflichten zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen; die Pflichten jedoch, die sich aus ihnen ableiten lassen – so muss man sich klarmachen –, gelten in der Regel nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich solchen des Normalfalles. Diese Pflichten sind insofern bedingt; sie gelten nicht uneingeschränkt. Anders gesagt : Die auf diese Weise formulierten Verpflichtungen sind zu erfüllen, solange keine außergewöhnlichen Umstände, keine Ausnahmebedingungen, vorliegen, die eine Nichterfüllung der unter Normalbedingungen geltenden Pflicht27 erlauben. Derartige Erlaubnisse zur Normverletzung, die selbst wiederum moralische Regeln verkörpern, nennt man „Rechtfertigungsgründe“.
1.
Allgemeines
Rechtfertigungsgründe verweisen auf Umstände, bei deren Vorliegen geltende Normen verletzt werden dürfen. Bei diesen Umständen kann es sich um dauerhaft gegebene Probleme der Existenzsicherung handeln, die einen Kampf um knappe überlebenswichtige Ressourcen ( etwa einen Krieg um Nahrung oder Wasser ) auslösen. Es kann sich ebenso um situationsbezogene Ausnahmebedingungen handeln, die eine Gefahrenabwehr ( zum Beispiel eine Notwehrhandlung ) erforderlich machen. Es kann sich ferner um Verstöße gegen eine geltende Normenordnung handeln, die von einer Ordnungsmacht sanktioniert werden 26 So Josef Wulf, Heinrich Himmler. Eine biographische Studie, Berlin - Grunewald 1960, S. 9. 27 Eine nicht absolut beziehungsweise nicht unbedingt, also nur unter Normalbedingungen geltende Pflicht wird mitunter auch als „Prima - facie - Pflicht“ bezeichnet ( siehe beispielsweise David Ross, Ein Katalog von Prima - facie - Pflichten. In : Dieter Birnbacher / Norbert Hoerster [ Hg.], Texte zur Ethik, S. 253–269). Ich selbst habe diese Terminologie mitunter verwendet ( siehe Fritze, Moralische Rechtfertigung und außermoralische Überzeugungen, S. 5–33, sowie ders., Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, München 2012, S. 373). Andere Autoren lehnen sie jedoch ab ( siehe John R. Searle, Wie wir die soziale Welt machen. Die Struktur der menschlichen Zivilisation, Berlin 2012, S. 329–331).
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(Bestrafungen, die individuelle Rechte einschränken oder gar, wie im Falle der Todesstrafe, gänzlich vernichten ). Es kann sich zudem um Pflichtenkollisionen handeln – um Situationen also, in denen die Ausführung einer gebotenen Handlung ( etwa die Hilfe für einen Bedrohten ) zugleich die Verletzung einer anderen geltenden Norm einschließt ( etwa das Belügen des unrechtmäßigen Angreifers ). Es kann sich schließlich um Opferkalkulationen utilitaristischer Art handeln – also darum, dass der Schutz bestimmter Interessen die Aufopferung anderer Interessen, notfalls auch der Opferung von Menschen, erforderlich macht. Rechtfertigungsgründe schließen die ( moralische ) Rechtswidrigkeit einer Normverletzung aus. Liegt ein moralischer Rechtfertigungsgrund vor, ist die unter Normalbedingungen verbotene Verletzung der Moralnorm nicht unerlaubt. Sie kann daher auch nicht legitim sanktioniert werden. Rechtfertigungsgründe sind Instrumente der Konfliktregulierung. Sie legen fest, wie Handlungsalternativen, die mit einer Verletzung individueller Interessen einhergehen, zu entscheiden sind – wie zum Beispiel in bestimmten Fällen eines Widerstreits zwischen Interessen unterschiedlicher Parteien zu verfahren ist oder wie eine Wahl zwischen zwei möglichen Weltzuständen getroffen werden soll. Rechtfertigungsgründe entscheiden über die Legitimität der Verletzung von Fremdinteressen. Dass die Normverletzung nur im Falle des Vorliegens eines gültigen Rechtfertigungsgrundes als legitim gilt, bestätigt die Geltung der Norm. Ob Rechtfertigungsgründe innerhalb einer Gemeinschaft moralische Geltung besitzen, hängt von ihrer gesellschaftlichen Anerkennung ab. Bei der praktischen Beurteilung von Handlungen ist zu unterscheiden, ob die Gültigkeit eines Rechtfertigungsgrundes oder das Vorliegen eines gültigen Rechtfertigungsgrundes umstritten ist. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich folgende Konsequenz : Die moralische Legitimität oder Illegitimität einer Handlung ist nicht allein an ihrer äußeren Form erkennbar. Eine Handlung – zum Beispiel : A erschlägt B – kann eine moralische Grundnorm verletzen ( hier das Tötungsverbot ) und trotzdem moralisch legitim sein.
2.
Gefahrenabwehr und Notwehr
Nimmt man nun die nationalsozialistischen Täter in den Blick, so ist es offensichtlich, dass sie ihr Handeln häufig unter Berufung auf Gefahrenabwehr - beziehungsweise Notwehrsituationen gerechtfertigt haben oder auf Nachfrage gerechtfertigt hätten. Die Berufung auf derartige Rechtfertigungen erklärt ihr gutes Gewissen, bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass sie sich tatsächlich in solchen Situationen befanden und ihr Handeln gerechtfertigt war. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die Gefahrenabwehr und die Notwehr auch in unserer Moral anerkannte Rechtfertigungsgründe sind. Hitlers Lebenskampf - Theorie kann nicht nur genutzt werden, um spezifische Reichweiteregeln zu konstruieren; sie ist ebenso geeignet, Rechtfertigungen
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unter Bezugnahme auf Rechtfertigungsgründe abzuleiten. Im Ergebnis bleibt es sich weitgehend gleich, wie man die Begründung für die Erlaubnis der Grundnormverletzung moralphilosophisch konstruiert : über eine Beschränkung der Reichweite oder aber über die Konstruktion einer Gefahren - oder Notwehrlage. Wie bereits erwähnt, hatte Hitler jedem Volk ein natürliches Recht zugebilligt, für seine Selbsterhaltung zu kämpfen. Dieses Recht war also universalistisch konzipiert. In einem solchen Kampf um Lebensraum und knappe Ressourcen, einem Hobbes’schen „Krieg aller gegen alle“, dürfen die Angehörigen fremder Völker getötet oder versklavt werden, wenn dies erforderlich ist, entweder um die Gefahren abzuwenden, die aus einer Unterversorgung mit Existenzvoraussetzungen ( Wasser, Ackerböden, Rohstoffe etc.) entspringen, oder um Angriffe von Feinden oder Mitkonkurrenten abzuwehren. Ein Großteil, der von Hitler und anderen führenden Nationalsozialisten ins Feld geführten Rechtfertigungen basieren auf den Rechtfertigungsgründen der Gefahrenabwehr beziehungsweise der Notwehr. Der Abwehr der Gefahren, die Hitler glaubte identifiziert zu haben, schrieb er eine enorme Bedeutung zu – und zwar sowohl für das deutsche Volk und die arische Rasse als auch für die Menschheit insgesamt. Als solche ( vermeintliche) Gefahren identifizierte er etwa : die Unterversorgung mit Lebensraum und die drohende Übervölkerung Deutschlands, die „Rassenvermischung“ und die Verschlechterung des Genpools, den Einfluss des „raffenden“ Kapitals und den „internationalen Finanzkapitalismus“, den Bolschewismus und die „expansiven Bestrebungen des Slawentums“, die „jüdische Dominanz“ in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur und überhaupt die davon ausgehende allgemeine „Verjudung“, die liberale Demokratie, die Vorrangstellung des Materialismus und den „kulturellen Verfall“. Aus diesen Gefahrenanalysen leitete er Handlungsmaximen ab, die auch ein gewaltsames Eingreifen beinhalteten. Um das nationalsozialistische Denken wirklich zu verstehen, ist es unverzichtbar, Rechtfertigungsargumentationen zunächst unabhängig von der Frage zu analysieren, ob manche Argumente womöglich in der Absicht vorgebracht wurden, Handlungen zu rechtfertigen, die aus ganz anderen Erwägungen ausgeführt werden sollten. Nur so wird man begreifen, dass auch das moralische Denken im Nationalsozialismus die allgemein anzutreffende innere Struktur von Rechtfertigungen aufwies. Natürlich ist mit „Rationalisierungen“ der angedeuteten Art zu rechnen. Solche sollten in einem weiteren Schritt identifiziert werden. Allerdings würden wir einen Täter, der an keine seiner Rechtfertigungen glaubt, sondern sie in Täuschungsabsicht vorbringt, nicht mehr als Täter mit gutem Gewissen betrachten. Auf solche Täter wäre das hier vorgeschlagene Analyseschema nicht anwendbar. Hitler aber und mit ihm andere nationalsozialistische Ideologen und Praktiker haben diese „Bedrohungen“ ernst genommen. Hitler fühlte sich zweifellos verpflichtet, die Ernährungsgrundlage des deutschen Volkes zu sichern und die Gefahr einer erneuten Blockade Deutschlands durch den Aufbau einer deutschen Vormachtstellung auf dem Kontinent zu bannen. 62 Millionen Deutsche
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„auf dem sogenannten wirtschaftsfriedlichen Wege weiter zu ernähren“ hielt er für unmöglich. Das deutsche Volk lebe auf einer „unmöglichen Grundfläche“, sei „von gigantischen Staatengebilden umgeben“ und darüber hinaus „pazifistisch verseucht“ und „demokratisch vergiftet“.28 Er war überzeugt, dass die schmale Energie - und Rohstoffbasis Deutschlands im Interesse der nationalen Sicherheit ausgebaut werden muss. Hinzu kamen Feinde im Inneren. Neben den Kommunisten galt als Hauptfeind das Judentum, das Hitler als teuf lisches „‚Ferment der Dekomposition‘“29 erschien. Zum einen behauptete er, dass vom jüdischen Wesen eine Art Ansteckungsgefahr ausgehe. Deshalb seien Juden – so erläuterte er dem ungarischen Reichsver weser von Horthy in einer Unterredung am 17. April 1943 – „wie Tuberkelbazillen zu behandeln, an denen sich ein gesunder Körper anstecken könne“.30 Zum anderen nahm Hitler an, dass sich das Judentum zu einer Vernichtungsaktion gegen das deutsche Volk verschworen hat. Dieser Suggestion entsprechend, hatte es sich das Übel der deutschen Widerstandshandlungen selbst zugezogen. „Als sie gegen das deutsche Volk den Plan einer totalen Vernichtung fassten“, so konnte Goebbels verkünden, „unterschrieben sie damit ihr eigenes Todesurteil.“31 Zentrale Rechtfertigungen für das eigene Handeln wurden des Weiteren aus der ( tatsächlichen oder vermeintlichen ) Bedrohung durch den Bolschewismus hergeleitet. Er galt als die eigentliche, aktuelle Herausforderung. Hitler glaubte an einen bevorstehenden Vernichtungskampf, der auf Leben und Tod geführt werden würde und dem auszuweichen nicht möglich sei. Selbst Führer einer Weltanschauungsdiktatur, war er überzeugt, dass die bolschewistischen Führer entsprechend der marxistischen Utopie eine internationale revolutionäre Strategie verfolgen, die „die ganze Welt langsam erschüttern und zum Einsturz bringen“32 wird. Im Bolschewismus sah er eine Bedrohung der gesamten westlichen Welt. Er sah sich einem „weltanschaulich fundierte[ n ] Angriffswille[ n ] gegenüber“, wobei sich die „militärischen Machtmittel“ dieses Angriffswillens „in rapider Schnelligkeit von Jahr zu Jahr“ steigerten. Und er setzte hinzu : „Gegenüber der Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in den Hintergrund zu treten !“33 28 Adolf Hitler, „Geist und Doktor Stresemann ?“ Rede auf NSDAP - Versammlung in München vom 2. Mai 1928. In : Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, München 1992, Band II /2, Dok. 268, S. 814. 29 Hitler, Mein Kampf, S. 498. 30 Andreas Hillgruber ( Hg.), Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Zweiter Teil. Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1942– 1944, Frankfurt a. M. 1970, S. 257. 31 Joseph Goebbels, Der Krieg und die Juden. In : ders., Der steile Aufstieg. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1942/43, München 1944, S. 263–270, hier 270. 32 Adolf Hitler, [ Rede vor dem Industrieklub in Düsseldorf vom 27. Januar 1932]. In : Domarus, Hitler, Band I /1, S. 77. 33 [ Adolf Hitler ], Denkschrift Hitlers über die Aufgaben eines Vierjahresplans. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3 (1955) 2, S. 204–210, hier 204 f. ( Hervorhebung getilgt).
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Auf dem Höhepunkt seiner Macht, während der Sommeroffensive der deutschen Wehrmacht 1942, fasste Hitler das Motiv der Gefahrenabwehr sowie die übernationale Bedeutung der nationalsozialistischen Revolution so zusammen : „Wäre im Jahre 1933 dieser Sieg einer Weltanschauung nicht errungen worden oder wäre es damals nicht gelungen, den Neubau des Reiches durchzuführen, die Einheit des Reiches restlos sicherzustellen und vor allem die deutsche Wehrmacht aufzurichten, dann würde, ob in diesem oder einem anderen Jahr, eine vollständig ungerüstete, wehrlose deutsche Nation das Opfer geworden sein eines Giganten, der wieder aus Asien über Europa hinweggezogen wäre. [...] Was anstelle dieses heutigen Europa – von unser aller eigenen Heimat wollen wir gar nicht reden – treten würde, weiß derjenige, der den Osten gesehen hat.“34
In all diesen Äußerungen nahm Hitler den Rechtfertigungsgrund der Notwehr in einem Modus in Anspruch, nämlich dem der präventiven Selbstverteidigung, wie er zumindest im modernen Völkerrecht – sieht man von der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika35 ab – nicht oder kaum akzeptiert wird. Da Rechtfertigungsgründe selbst moralische Regeln verkörpern, wird deutlich, dass die Nationalsozialisten, zumindest in dieser Hinsicht, nämlich insofern sie eine präventive Gewaltanwendung für gerechtfertigt hielten, eine ( jedenfalls von der heutigen deutschen Mehrheitsgesellschaft ) abweichende Moral hatten. Für das Verständnis des moralischen Denkens im Nationalsozialismus ist es wesentlich zu begreifen : Nationalsozialisten fühlten sich moralisch berechtigt, diese und andere Probleme offensiv anzugehen und auf Bedrohungen präventiv zu reagieren – auch wenn dabei Interessen anderer verletzt werden. Hinzu kam, dass die bolschewistischen Verbrechen längst in Westeuropa bekannt geworden waren, sodass auch die Nationalsozialisten einen, was die Tatsache dieser Verbrechen anlangt, durchaus zutreffenden Blick auf den Bolschewismus hatten. Für Joseph Goebbels stand daher fest, dass mitzuhelfen im Kampf gegen die „infernalische Weltpest“ des Bolschewismus, die „krasseste Blut - und Terrorherrschaft, die die Welt je sah“, „Pflicht eines jeden verantwortungsbewussten Menschen“ sei.36 Gefahren - und Notwehrsituationen wurden auch in anderer Hinsicht konstruiert. In der nationalsozialistischen Ideologie erschienen die Juden – sowohl in Gestalt eines „parasitär lebenden“ Volkes innerhalb des „deutschen Volkskörpers“ als auch in Gestalt des ( angeblich ) jüdisch dominierten Finanzkapitalis-
34 Adolf Hitler, Geheimrede vom 30. Mai 1942 vor dem „militärischen Führernachwuchs“. In : Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 707–723, hier 712 f. ( Hervorhebungen getilgt ). Vgl. auch [ ders.], Hitlers politisches Testament. Die Bormann Diktate vom Februar und April 1945. Mit einem Essay von Hugh R. Trevor - Roper und einem Nachwort von André François - Poncet, Hamburg 1981, S. 79. 35 The National Security Strategy of the United States of America, September 2002 (www.whitehouse.gov / nsc / nss.pdf; 5.10. 2005). 36 Joseph Goebbels, Der Bolschewismus in Theorie und Praxis, München 1936, S. 8, 28.
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mus sowie insbesondere in Gestalt des „jüdischen Bolschewismus“ – nicht nur als die gefährlichsten Feinde des deutschen Volkes : Man unterstellte zugleich, dass von ihnen eine aktuelle Bedrohung ausgehe ( und sei es nur in Gestalt einer Infizierung mit den für das Judentum als charakteristisch angenommenen Denkund Verhaltensweisen ), sodass sich das deutsche Volk, ja die gesamte Zivilisation, in einer Notwehrsituation befände. In diesem Sinne wurde auch die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Osten durch SS - Brigaden und Polizeibataillone gerechtfertigt. Obwohl die Tötung der Juden „vom Ursprung her nichts mit der Bekämpfung von Partisanen [...] zu tun hat“,37 sondern dem Rassenantisemitismus sowie der Angst vor dem „jüdischen Bolschewismus“ entsprang, konnten diese Aktionen, nachdem der Partisanenkampf hinter der deutschen Front eröffnet war, als prophylaktische Partisanenbekämpfung ausgegeben werden.38 Juden galten als Feinde im Rücken der Wehrmacht und ihre Bekämpfung als Kriegsnotwendigkeit.39 Ähnlich argumentierte Himmler, als er den Entschluss rechtfertigte, das jüdische Volk, also auch Frauen und Kinder, „von der Erde verschwinden zu lassen“. Er begründete dies mit dem Hinweis, er habe sich „nicht für berechtigt“ gehalten, nur „die Männer auszurotten“, gleichzeitig aber „die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen“.40 Eine solche Begründung zu geben ist aber überhaupt nur dann notwendig, wenn auch er überzeugt war, dass die Tötung subjektiv unschuldiger Menschen unter Normalbedingungen ein moralisches Unrecht darstellt und deshalb gerechtfertigt werden muss, oder aber, wenn er zumindest überzeugt war, dass seine Zuhörer diese Überzeugung haben. Die Massenerschießungen durch die sogenannten SS - Einsatzgruppen hinter der Ostfront folgten primär der Idee einer präventiven Bekämpfung von Feinden.41 Otto Ohlendorf, zeitweise Kommandeur einer der berüchtigten Einsatzgruppen und von Beruf Jurist, hatte deren Tätigkeit, einschließlich der Erschießung von Kindern, noch nach dem Krieg als zwingende Kriegsnotwendigkeit gerechtfertigt und sich mit der Intention des Führerbefehls identifiziert,42 „auch eine Gefahr zu bekämpfen, die in der Zukunft entstehen könnte“.43
37 Vgl. Andreas Hillgruber, Der Ostkrieg und die Judenvernichtung. In : Gerd R. Ueberschär / Wolfram Wette ( Hg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. „Unternehmen Barbarossa“ 1941, 2. Auflage Frankfurt a. M. 2011, S. 185–205, hier 196. 38 Vgl. Hans Mommsen, Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen „Endlösung der Judenfrage“, München 2002, S. 120, 123. 39 Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Zweiter Band : Die Jahre der Vernichtung 1939–1945, Bonn 2006, S. 236, 239. 40 [ Heinrich Himmler ], Rede bei der SS - Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943. In : Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Band 29, Nürnberg 1948, S. 110–173, hier 146. 41 Vgl. Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, München 2000, S. 469 f. 42 Vgl. ebd., S. 541 FN 22. 43 Zit. nach ebd.
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Ähnliche Rechtfertigungen konnten vorgebracht werden für eine Beschneidung der Rechte von Behinderten oder für die Aktionen zur Vernichtung unwerten Lebens. Auch hier ging es darum, Schaden von Mitmenschen und überhaupt vom deutschen Volk abzuwenden. Hitler nannte es eine „Halbheit, unheilbar kranken Menschen die dauernde Möglichkeit einer Verseuchung der übrigen gesunden zu gewähren“; zwar sei die unbarmherzige „Absonderung unheilbar Erkrankter“ eine „barbarische Maßnahme für den unglücklich davon Betroffenen“, sie sei aber „ein Segen für die Mit - und Nachwelt“.44 Mit all diesen Einlassungen werden Gründe generiert, die eine Verletzung von im Normalfall geltenden Grundnormen als moralisch erlaubt erscheinen lassen.
3.
Pflichtenkollisionen
Ist die Ausführung einer moralisch gebotenen Handlung unweigerlich mit der Verletzung einer anderen Moralnorm verbunden, bedarf es einer Regelung, wie Interessen - beziehungsweise Normenkonflikte dieser Art aufzulösen sind. Für die Auf lösung von Pflichtenkollisionen kommt die Regel in Frage, wonach die Erfüllung höherrangiger Pflichten eine Verletzung niederrangiger erlaubt. Eine solche Regel hat – da sie auf Entscheidungen über die Bedeutung von Werten gründet – normativen Charakter; die Akzeptanz der die Basis bildenden Rangfolge kann aber von außermoralischen Annahmen abhängen. Die führenden Nationalsozialisten betrachteten Völker als die eigentliche „menschliche Wirklichkeit“ – als diejenige Wirklichkeit, „die nicht mehr weiter abgeleitet werden kann“, deren Geheimnis „unmittelbar aus dem Geheimnis des Lebens und Werdens [...] entgegen[ zu ]nehmen“ ist. Das Volk galt als ein „Gesamtwesen“,45 als eine „überpersönliche und überzeitliche Gesamtwesenheit gleichen Blutes und einheitlicher geistig - seelischer Prägung“, die Einzelmenschen nur als „Erscheinungsformen ihrer Völker“.46 Ausgehend von dieser ontologischen, also außermoralischen, Annahme postulierte man einen normativen Vorrang der Gemeinschaft, des Volkes, der Rasse oder auch des Staates, gegenüber dem Einzelnen, ja auch der Summe der Einzelnen. Für Hitler war der Staat eine Organisation von Einzelnen „gleichen Wesens und gleicher Art“ zur „besseren Ermöglichung der Fortpflanzung ihrer Art sowie der Erreichung des dieser von der Vorsehung vorgezeichneten Zieles ihres Daseins“.47 Der einzelne
44 Hitler, Mein Kampf, S. 278 f. 45 Reinhard Heydrich, Aufgaben und Aufbau der Sicherheitspolizei im Dritten Reich. In : Hans Pfundtner ( Hg.), Dr. Wilhelm Frick und sein Ministerium. Aus Anlaß des 60. Geburtstages des Reichs - und preußischen Ministers des Innern Dr. Wilhelm Frick am 12. 3.1937, München 1937, S. 149–153, hier 149. 46 Werner Best, Erneuerung des Polizeirechts. In : Kriminalistik, 12 (1938) 2, S. 26–29, hier 27. 47 Hitler, Mein Kampf, S. 164–166.
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Mensch erschien dieser organizistischen Auffassung gemäß als eine „Aufbauzelle“ im „Volkskörper“ und konnte somit „nie der Zweck, sondern nur das Mittel eines politischen Planens und Handelns sein“.48 Daher betrachtete Hitler das „Gesamtschicksal“ als das „Primäre“ und das „Einzelschicksal“ als das „Sekundäre“.49 Sofern Hitler überhaupt bereit war, dem einzelnen Menschen einen Eigenwert zuzubilligen, glaubte er, den „Wert eines Menschen“ danach bestimmen zu können, ob man „ihn entfernen kann ohne ihn zu ersetzen“ : „Wenn nicht, dann hat er einen Wert.“50 Der Einzelne hat Wert, sofern er eine Funktion innerhalb des Ganzen wahrnimmt. Deshalb hat das „individuelle Glück des Einzelmenschen“ zurückzutreten, „weil eben“, wie Himmler formulierte, „der wirkliche Sinn und die Erfüllung des Einzeldaseins im Volk und nicht im Ich liegt“.51 Indem die Erhaltung und Entfaltung des Volkes zum höchsten Wert erklärt wurde, hatte der Nationalsozialismus in der Tat eine neue „Werteordnung“, eine umgekehrte Rangordnung der Werte, etabliert. Daraus ergaben sich normative Konsequenzen. Der völkische Staat sei „‚Rechtsstaat von oben‘, d. h. Rechtsstaat um des Ganzen willen“.52 Während es in der überwundenen „individualistischen“ Ordnung53 „keinen höheren Wert“ gab, „dem man den Menschen opfern durfte“, könne es die Aufgabe des nationalsozialistischen Staates nicht sein, „den Einzelnen zu schützen und ihm zu nützen, sondern allein, die Erhaltung und Entfaltung des Volkes sicherzustellen“.54 Daraus zog Werner Best die Konsequenz : „Für diesen Zweck ist der Einzelne nur untergeordnetes Mittel, das eingesetzt und geopfert werden muss, wie es die Lebensnotwendigkeiten des Volkes erfordern.“55 Damit aber war ein Rechtfertigungsgrund von enormer Tragweite anerkannt worden. Es musste nunmehr als gerechtfertigt gelten, individuelle Rechte in beliebiger Weise zu verletzen, wenn dies im Interesse der Selbstbehauptung und Entwicklung des Volkes erforderlich erscheint. Somit musste es auch als erlaubt gelten, gegebenenfalls selbst unschuldige Mitmenschen zu töten. Wie Normenkonflikte aufzulösen sind, brachte Hitler auf einen
48 Heinrich Himmler, Aufgaben und Aufbau der Polizei des Dritten Reiches. In : Hans Pfundtner ( Hg.), Dr. Wilhelm Frick und sein Ministerium. Aus Anlaß des 60. Geburtstages des Reichs - und preußischen Ministers des Innern Dr. Wilhelm Frick am 12. 3.1937, München 1937, S. 125–130, hier 127 f. 49 Adolf Hitler, Rede auf NSDAP - Versammlung in Plauen i. V. vom 5. Mai 1928. In : Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, München 1992, Band II /2, Dok. 269, S. 831 ( Hervorhebung getilgt ). 50 Adolf Hitler, „Was ist Nationalsozialismus ?“ Rede auf NSDAP - Versammlung in Heidelberg vom 6. August 1927. In : Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, München 1992, Band II /2, Dok. 160, S. 460. 51 Himmler, Aufgaben und Aufbau der Polizei des Dritten Reiches, S. 127 f. 52 Best, Erneuerung des Polizeirechts, S. 27. 53 Die Grundrechte der Weimarer Verfassung waren mit dem § 1 der „Verordnung zum Schutze von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 außer Kraft gesetzt worden. 54 Best, Erneuerung des Polizeirechts, S. 26 f. 55 Ebd., S. 27.
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einfachen Nenner : „Das Recht der persönlichen Freiheit tritt zurück gegenüber der Pflicht der Erhaltung der Rasse.“56 Der Unterschied zwischen einer individualistischen Menschenrechtsethik und den moralischen Überzeugungen der Nationalsozialisten kommt vielleicht nirgends so deutlich zum Ausdruck wie in der Auszeichnung des Volkes als dem höchsten Wert.
4.
Opferkalkulationen utilitaristischer Art
Rechtfertigungen ganz eigener Art stellen Argumentationen dar, die die billigende Inkaufnahme von Rechtsverletzungen durch den dadurch gewährleisteten Schutz von Rechtsgütern rechtfertigen. Ein typisches Beispiel ist die Tötung Unschuldiger zu dem Zweck, andere Unschuldige, vorzugsweise eine größere Menge Unschuldiger, zu retten. Diese Kalkulationen beruhen in der Regel auf einem utilitaristischen Prinzip, also der moralischen Forderung, Handlungsentscheidungen am „größten Glück der größten Zahl“ auszurichten.57 Im Gegensatz zum universalistischen Prinzip des Utilitarismus allerdings waren die utilitaristischen Abwägungen der Nationalsozialisten ethnisch begrenzt. Opferkalkulationen utilitaristischer Art folgen der Idee der Opfer - beziehungsweise Leidminimierung. Sie zielen darauf ab, Schäden zu minimieren beziehungsweise den Nutzen zu maximieren. Auf der Basis derartiger Opferkalkulationen hat man versucht, die moralische Erlaubnis zu begründen, Tausenden und gar Millionen von Menschen das Leben zu nehmen oder es aufs Spiel zu setzen, um anderen Menschen das Leben zu bewahren oder auch Noch Ungezeugten ins Leben zu verhelfen. Vorgehensweisen, die im Lichte einer Alltagsmoral als Verbrechen erscheinen, sollen auf diesem Wege moralisch legitimiert werden. Die moralische Notwendigkeit, die Schädigung und Opferung von Menschen zu rechtfertigen, wurde empfunden, weil man um die gesellschaftliche Geltung der dadurch verletzten Grundnormen wusste und, so die Annahme, diese Normen auch selber akzeptierte. Auf der Basis von Opferkalkulationen utilitaristischer Art lässt sich die moralische Zulässigkeit, vielleicht sogar die Notwendigkeit einer Verletzung individueller Rechte begründen. Wer von der Gültigkeit derartiger Begründungen überzeugt ist, kann sich unter gegebenen Umständen moralisch berechtigt fühlen, Menschen in den Tod zu schicken oder sie auch selbst zu töten, wenn dadurch eine größere Zahl von Menschen gerettet wird oder Bedingungen entstehen, dass zukünftig mehr Menschen leben werden. Man wird die innere Logik einer Reihe von nationalsozialistischen Vorgehensweisen nur dann begreifen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass gerade
56 Hitler, Mein Kampf, S. 279. 57 Opferkalkulationen einer bestimmten Art können auch vertragstheoretisch begründet werden. Siehe dazu Lothar Fritze, Die Tötung Unschuldiger. Ein Dogma auf dem Prüfstand, Berlin 2004, Kap. II /3.
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solche Überlegungen eine zentrale Rolle in Hitlers Denken spielten. So soll er gegenüber dem für Danzig zuständigen Völkerbund - Kommissar Carl J. Burckhardt gesprächsweise geäußert haben, er könne nicht hinnehmen, dass sein Volk Hunger leidet – um daran die rhetorische Frage anzuschließen : „Soll ich dann nicht besser zwei Millionen auf dem Schlachtfeld lassen, als noch mehr durch Hunger zu verlieren ?“58 Diese Überlegung lässt deutlich werden, wie sich Hitler bestimmten Problemen geistig zu nähern pflegte, und sie lässt vor allem auch seine Geringschätzung individueller Rechte erkennen. Hitlers Denken folgte einem radikalen Verständnis der utilitaristischen Idee von der Austauschbarkeit von Individuen. Dem Prinzip der Austauschbarkeit des Individuums entsprechend, kann der Verlust des Lebens des Einen durch das dadurch möglich gewordene Weiterleben oder die dadurch wirklich werdende Geburt eines Anderen aufgewogen werden. Das Individuum gilt diesem Denken als ersetzbar. Das konkrete Individuum ist gleichsam nur ein Platzhalter einer bestimmten Menge von Leben. Jedem Einzelnen kann sein Leben – selbst mit Absicht – genommen werden, wenn dadurch die Gesamtmenge an menschlichem Leben steigt. Mit dieser Idee ist die Zubilligung eines unbedingten Rechts auf Leben unvereinbar. Auch der unschuldige Einzelne darf – unter der Voraussetzung seiner Ersetzung – aufgeopfert werden. Dementsprechend war Hitler überzeugt, dass für die moralische Bewertung eines Staatsmannes letztlich die sich für sein Volk ergebende und durch ihn zu verantwortende Gesamtbilanz aus den Verlusten und dem Zugewinn an Menschenleben ausschlaggebend ist. Damit verfügte Hitler über eine Denkfigur, die geeignet schien, auch Opferkalkulationen großen Stils zu rechtfertigen. „Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen“, so ließ er sich im August 1929 in einer Rede vernehmen, „und 700 000–800 000 der schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein.“59 Lässt man sich auf Gewinn - und - Verlust - Rechnungen dieser Art ein, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Schließlich konnten nach Hitler’schem Selbstverständnis sowohl Nicht - Zeugungen in der Vergangenheit als auch sich erst in der Zukunft realisierende Geburten in die Bilanz einberechnet werden. Mit einer solchen Bilanzierung ließ sich selbst die politische Entscheidung zur Kriegführung rechtfertigen. Unter Berücksichtigung vermiedener Nicht - Zeugungen präsentierte Hitler in einer Rede vor dem militärischen Führernachwuchs im Mai 1942 folgende Bilanz seines politischen Handelns : „Wir haben seit dem Jahre 1918 fortgesetzt eine Geburtenbeschränkung vorgenommen. Das ist seit dem Jahre 1933 unterbrochen worden. [...] Allein gegenüber dem Standard des Jahres 1932 hat es die nationalsozialistische Revolution fertiggebracht, 58 Zit. nach Carl J. Burckhardt, Meine Danziger Mission 1937–1939, München 1962, S. 266. 59 Adolf Hitler, „Appell an die deutsche Kraft“. Rede auf NSDAP - Reichsparteitag in Nürnberg vom 4. August 1929. In : Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, München 1994, Band III /2, Dok. 64, S. 348.
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in wenigen Jahren etwas über 2½ Millionen Menschen mehr zur Welt bringen zu lassen. Der jetzige Krieg hat uns noch nicht 10 % von dem gekostet, was dadurch allein mehr an Menschenleben in die deutsche Nation hineinfloss.“60 Und an anderer Stelle setzte er hinzu : „ich hoffe, dass wir in zehn Jahren mindestens zehn bis fünfzehn Millionen Deutsche mehr auf der Welt sind; [...] ich schaffe die Lebensvoraussetzungen.“61 Es dürfte kein Zweifel bestehen : Auch hierbei handelt es sich um eine moralische Argumentation, der die Annahme der ( Normalfall - )Geltung des Tötungsverbots zugrunde liegt. Hitler rechtfertigte nicht schlechthin ein Recht, Volksgenossen zu opfern, um irgendwelche Ziele zu erreichen ( in diesem Falle : um fremden Boden zu erobern ), sondern er knüpfte diese Rechtfertigung an den Ersatz des geopferten Lebens.
5.
Rechtfertigungsargumentationen
Rechtfertigungsgründe beschreiben Bedingungen, Situationen und Voraussetzungen, unter denen die Verpflichtung zur Beachtung moralischer Normen aufgehoben ist. Gleichzeitig nennen sie Kriterien, denen die normverletzenden Handlungen zu genügen haben. Wenn man nun fragt, auf der Basis welcherart von Überlegungen über das Vorliegen rechtfertigender Bedingungen entschieden wird, so lautet die Antwort auch hier : In die Konstruktion dieser rechtfertigenden Bedingungen gehen wesentlich außermoralische Überlegungen ein. So können Fragen des tatsächlichen Gegebenseins der Anwendungsvoraussetzungen moralischer Grundsätze ohne Berücksichtigung empirischer Tatsachen ( etwa der waffentechnischen Entwicklung ) oder auch ohne eine Beurteilung der Natur des Gegners ( etwa seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen ) nicht sinnvoll diskutiert werden. Ebenso muss eine Prüfung behaupteter Opferbilanzen auf empirische Daten oder auch auf nomologisches Wissen der Realwissenschaften zurückgreifen. Eine Diskussion des behaupteten Vorrangs des Volkes gegenüber dem Individuum hat die Dignität beziehungsweise Plausibilität der unterstellten Ontologie zu prüfen. Wir gelangen also auch dann, wenn wir Rechtfertigungsargumentationen unter Bezugnahme auf Rechtfertigungsgründe in den Blick nehmen, zu demselben Ergebnis – nämlich, dass außermoralische Überzeugungen und Annahmen eine wichtige, unter Umständen auch eine entscheidende Rolle spielen können. Darüber hinaus aber – und auch dies sollte deutlich geworden sein – sind Rechtfertigungsargumentationen mit moralischen Überzeugungen ver woben. Entscheidend dafür, ob eine Rechtfertigungsargumentation, die auf Rechtfertigungsgründe Bezug nimmt, als legitim gelten beziehungsweise auf Akzeptanz stoßen kann, ist die prinzipielle Akzeptanz der Gründe, der Denkfiguren, die 60 Hitler, Geheimrede vom 30. Mai 1942 vor dem „militärischen Führernachwuchs“, S. 715 ( Hervorhebungen getilgt ). 61 Hitler, Monologe im Führerhauptquartier, Dok. 17, S. 58.
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vorgebracht werden, um eine Normverletzung als moralisch erlaubt zu rechtfertigen. Die Frage der Anerkennungswürdigkeit von Rechtfertigungsgründen ist eine normative Frage. Ob man Notwehr oder auch positive Opferbilanzen als Rechtfertigungsgründe anerkennt, hängt von den moralischen Überzeugungen ab, die man hat – im Falle von Opferkalkulationen davon, ob man ein utilitaristisches Moralprinzip akzeptiert. Selbst im Falle übereinstimmender außermoralischer Überzeugungen kann demnach die Anerkennung oder Nicht - Anerkennung von Opferkalkulationen utilitaristischer Art als Rechtfertigungsgrund ausschlaggebend dafür sein, ob eine Handlung als moralisch legitim gilt. In Fällen dieser Art geben tatsächlich die moralischen Einstellungen den Ausschlag für die jeweilige Bewertung. Wer also zum Beispiel – wie etwa Axel Freiherr von dem Bussche, der sich nach einschlägigen Erlebnissen zu einem Selbstmordattentat auf Hitler bereit fand – der Auffassung ist, dass Massenexekutionen Unschuldiger, aus welchen Gründen auch immer sie vollzogen werden, nicht zu rechtfertigen sind, hat ganz offenbar eine andere Moral gehabt als die Nationalsozialisten, die dieses Vorgehen für erlaubt hielten.
IX.
Abgeleitete Normen
Menschliches Handeln ist konkret. Es findet statt unter bestimmten Existenzbedingungen und in bestimmten Situationen. Die handelnden Menschen haben bestimmte Überzeugungen, und sie verfolgen bestimmte Ziele. Moralische Grundnormen allein sagen in vielen Fällen nicht, was zu tun oder zu lassen ist. Um ihnen folgen zu können, müssen sie in konkrete Handlungsmaximen umgesetzt werden. Erst die konkreten Handlungsbedingungen bestimmen in Verbindung mit den sonstigen, den nicht - moralischen Überzeugungen des Handelnden, welches Verhalten ( Handeln / Unterlassen ) gefordert ist, um den Grundnormen Rechnung zu tragen. Auf diese Weise werden gestützt auf moralische Grundnormen konkrete Verhaltensgrundsätze ( Regeln, Normen ) abgeleitet, deren Befolgung moralische Grundnormen verletzen können.
1.
Allgemeines
Das praktische Leben hält Situationen bereit, in denen eine Befolgung moralischer Grundnormen gerade nicht im Interesse der von der Handlung oder Unterlassung Betroffenen liegt. Wenn beispielsweise ein Arzt einem bewusstlosen Unfallopfer die lebensrettende Transfusion verabreicht, unterstellt er, im Interesse des Betroffenen zu handeln; er unterstellt, dass der Betroffene in Kenntnis seiner Lage in die damit verbundene Körper verletzung einwilligen würde. Der handelnde Arzt beruft sich auf eine mutmaßliche Einwilligung. Es kann ein moralischer Fehler sein, dem Wortlaut einer moralischen Grundnorm zu folgen. Es kann sein, dass man, indem man einer Grundnorm („Du
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sollst niemandes Körper verletzen !“) folgt, eine andere, in der betreffenden Situation wichtigere Grundnorm („Du sollst einem Bedürftigen helfen !“) verletzt. Im Unterschied zu einer ausdrücklichen, bewusst gegebenen Einwilligung eines Betroffenen in die Verletzung seiner individuellen Rechte beruht eine Berufung auf eine mutmaßliche Einwilligung auf einer Interpretation der Interessen des Betroffenen. Mit diesen Interessen können sowohl diejenigen gemeint sein, die er artikulieren würde, wenn für ihn die Gelegenheit bestünde, sich zu äußern ( wenn er beispielsweise nicht bewusstlos wäre ), als auch diejenigen, die er nach Auffassung des Interpreten äußern würde, wenn jener Betroffene sich in einem aufgeklärten, das heißt informierten, und urteilsfähigen Zustand befände. Letztere sollen „objektive Interessen“ genannt werden. Im Allgemeinen gilt Folgendes : Bezieht sich eine mutmaßliche Einwilligung auf objektive Interessen, und wurden die objektiven Interessen der Person oder der Personengruppe korrekt interpretiert, dann kann eine Verletzung artikulierter subjektiver Interessen moralisch erlaubt oder gar geboten sein. Das aber heißt, dass unter diesen Voraussetzungen – wie im Falle des ohne ausdrückliche Einwilligung helfenden Arztes – auch eine Verletzung von Grundnormen erlaubt oder geboten sein kann. Ein anderer Fall ist gegeben, wenn ein Handelnder und die von der Handlung betroffenen Personen außermoralische Überzeugungen teilen, die von Dritten nicht akzeptiert werden – entweder weil ihnen diese Überzeugungen gar nicht bekannt sind oder weil sie diese Überzeugungen als unbegründet oder falsch ablehnen. Unter Berücksichtigung spezifischer außermoralischer Überzeugungen können konkrete Normen ( Regeln, Verhaltensgrundsätze ) abgeleitet werden, deren Befolgung zwar Grundnormen verletzt, zugleich aber eine Art und Weise darstellt, das von ( anderen oder auch denselben ) Grundnormen allgemein geforderte Verhalten zu ver wirklichen. Eine solche Moralpraxis unterscheidet sich von der unseren dadurch, welches Grundnormen verletzende Verhalten zur Verwirklichung eines Grundnormen geschützten Interesses für moralisch erlaubt oder geboten gehalten wird.
2.
Nationalsozialistische Handlungsgrundsätze
Nationalsozialisten haben in zentrale Fragen ihr Handeln unter Berufung auf mutmaßliche Einwilligungen gerechtfertigt. Die Denkfigur der mutmaßlichen Einwilligung in Verbindung mit der Idee des objektiven Interesses hatte zwar für das nationalsozialistische Denken nicht dieselbe fundamentale Bedeutung wie die der Gefahrenabwehr und der Notwehr; sie war aber, speziell im Denken Hitlers, stets virulent und sorgte in vielen Fällen für das gute Gewissen, das man sich selbst dann bewahrte, wenn man andere Menschen oder auch ganze Völker unterdrückte, ihnen die Freiheit nahm oder sich über sie erhob.
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Hitler und andere führende Ideologen waren der Ansicht, dass, wer über die rechte Einsicht verfügt, das Recht, ja die Pflicht hat, politisch zu herrschen und die notwendigen Maßnahmen im Lebenskampf sowie zur Umgestaltung des Lebens einzuleiten. Daher erschien die faktische Abschaffung des Parlamentarismus nach Hitlers „Machtergreifung“ nicht als Willkürakt eines Despoten. Nach nationalsozialistischem Selbstverständnis folgte Hitler einer mutmaßlichen Einwilligung des seit Versailles ausgebeuteten und gedemütigten deutschen Volkes, das sich nunmehr gegen die Bedrückungen und Bedrohungen im Interesse jedes einzelnen Volksgenossen zur Wehr setzt. Wenn es dazu der Diktatur eines einsichtsvollen, tatkräftigen und wohlwollenden Führers bedarf, entspricht die Ausübung einer solchen Herrschaft den objektiven Bedürfnissen jedes Einzelnen sowie des Volkes als einem Ganzen. Bekanntlich war für Hitler der Kampf gegen den „jüdischen Bolschewismus“ ein Gebot der Durchsetzung des zivilisatorischen Fortschritts. Zugleich war er überzeugt, dass Deutschland nicht nur das moralische Recht, sondern auch die politische Pflicht hat, die germanischen Völker in dem unausweichlichen Entscheidungskampf mit dem bolschewistischen Gegner zu führen. Für Hitler war es eine Frage der persönlichen Verantwortung seine ( vermeintlichen ) Erkenntnisse der Gesetzmäßigkeiten des Völker - und Rassenkampfes in den Dienst der ( objektiven ) Interessen des deutschen Volkes und überhaupt aller germanischen Völker sowie der arischen Rasse zu stellen. Die Wahrnehmung dieser Verantwortung davon abhängig zu machen, dass die Volksgemeinschaften selbst die existenzielle Notwendigkeit der offensiven Führung dieses Kampfes erkennen und in die Führung Hitlers einwilligen, hätte er als unmoralisch empfunden. Seine Überzeugung, aus einer zutreffenden Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit der Daseinsbewältigung die richtige Politik ableiten zu können, ließ ihn überzeugt sein, die objektiven Interessen der germanischen Völker zu vertreten und daher unter legitimer Berufung auf eine mutmaßliche Einwilligung zu handeln. Ähnlich dachte Goebbels. Aus der Überlegenheit Deutschlands leitete er sowohl eine „politische Pflicht“ als auch ein „moralisches Recht“ für die Deutschen ab, Europa zu führen.62 Auf der Basis solcher Überlegungen war es möglich, aus der Grundnorm „Du sollst ( als Politiker ) im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts wirken !“ etwa die konkrete Norm abzuleiten „Du sollst, wenn es der Kampf für den Fortschritt erfordert, die Initiative und Führung übernehmen !“. Wer diesem abgeleiteten konkreten Verhaltensgrundsatz in der Überzeugung folgt, sich dabei legitimerweise auf eine mutmaßliche Einwilligung berufen zu dürfen, glaubt, dass er im ( objektiven ) Interesse der Betroffenen ( also derjenigen, die sich seiner Führung beugen müssen ) handelt. Deshalb war für Hitler weder mit seiner Diktatur noch mit der Durchsetzung des deutschen Führungsanspruchs gegenüber denjenigen Völkern, die ebenfalls an der Ausschaltung des Bolschewismus interessiert 62 [ Joseph Goebbels ], Die Tagebücher von Joseph Goebbels, München 1994, Band II /2, S. 223 (2. November 1941).
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waren, eine Rechts - oder Interessenverletzung verbunden. Aus der unterstellten mutmaßlichen Einwilligung folgte das moralische Recht, das Selbstbestimmungsrecht sowohl des deutschen Volkes als auch der anderen germanischen Völker, so weit wie nötig, einzuschränken. Nach Hitlers Vorstellung wurden gerade auf diese Weise die Grundnormen befolgt, Schaden vom eigenen Volk und der eigenen Rasse abzuwenden und den gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern.
3.
Handeln im Dienste der Betroffenen
Im Unterschied zu Rechtfertigungsgründen werden abgeleitete Normen, so jedenfalls das Selbstverständnis der Handelnden, in Übereinstimmung mit den Interessen derjenigen Betroffenen befolgt, deren Interessen als schützenswert gelten. Als Betroffene im Falle des von den Nationalsozialisten erhobenen Führungsanspruchs gelten nur diejenigen, denen gegenüber dieser Anspruch durchgesetzt wurde – nicht diejenigen, die die Nationalsozialisten bekämpften. Der Anspruch, im Interesse der Betroffenen zu handeln, bezog sich also zunächst auf das deutsche Volk beziehungsweise die germanischen Völker insgesamt. Hitler aber ging noch darüber hinaus. Wie Aristoteles, für den es für Sklaven aufgrund ihrer Natur „nützlich und gerecht“ war, „Sklaven zu sein“,63 glaubte auch er, dass die „Eingeborenen“ in den besetzten Gebieten künftig „weit besser leben [ werden ] als jetzt“.64 Die Versklavung, so Hitler, liegt im ( objektiven ) Interesse der Versklavten !65 Aus der Analyse abgeleiteter konkreter Handlungsgrundsätze ergibt sich : Trotz übereinstimmender moralischer Grundnormen kann das, was in verschiedenen Gesellschaften moralisch gefordert ist, verschieden sein. Und umgekehrt: Gelten in einer Gesellschaft moralische Aufforderungen, die denen einer anderen Gesellschaft widersprechen, folgt daraus nicht, dass in ihnen unterschiedliche moralische Grundnormen vertreten werden. Denn : Aus Grundnormen können unter Bezugnahme auf außermoralische Annahmen und Überzeugungen konkrete Normen beziehungsweise Verhaltensgrundsätze abgeleitet werden. Unterscheiden sich die außermoralischen Annahmen oder Überzeugungen, ergeben sich aus denselben Grundnormen unterschiedliche abgeleitete Normen.
X.
Wie ist es denkbar, Böses mit gutem Gewissen zu tun ?
Wenn wir davon reden, dass Böses mit gutem Gewissen getan wird, so meinen wir eine Situation, in der moralische Grundnormen bewusst und willentlich (aus 63 Aristoteles, Politik. In : ders., Philosophische Schriften in sechs Bänden, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg 1995, Band 4, 1255a. 64 Hitler, Monologe im Führerhauptquartier, Dok. 19, S. 63. 65 Vgl. auch Hitler, Mein Kampf, S. 324.
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unserer Sicht ) ungerechtfertigter weise verletzt werden und der Handelnde zugleich von der moralischen Legitimität seines Vorgehens überzeugt ist.
1.
Rechtfertigende Argumentationen
Ein gutes Gewissen kann man sich bei der Verletzung moralischer Grundnormen dann bewahren, wenn man über rechtfertigende Argumentationen verfügt. Diese Argumentationen müssen entweder zeigen, dass die geschädigten Entitäten aufgrund der akzeptierten Reichweitefestlegungen von den infrage kommenden Grundnormen nicht erfasst werden, oder sie müssen anerkannte Gründe oder Sachverhalte, also Rechtfertigungsgründe, benennen, die diese Verletzungen rechtfertigen, oder aber sie müssen plausibel machen, dass Interessenverletzungen gar nicht stattgefunden haben, dass es sich bei der Befolgung der konkreten Handlungsgrundsätze vielmehr um eine spezifische Art und Weise handelte, durch Grundnormen geschützte Interessen zu verwirklichen. In jedem Falle aber gilt : Sehr häufig entscheiden außermoralische Annahmen oder Überzeugungen darüber, welche Rechtfertigungen für die Übertretung von geltenden Grundnormen akzeptiert werden. Der Unterschied zwischen uns und den nationalsozialistischen Tätern ( sofern es sich um Täter mit gutem Gewissen handelt), besteht zwar nicht ausschließlich, aber doch in nicht unwesentlichem Maße in unterschiedlichen außermoralischen Annahmen oder Überzeugungen.
2.
Außermoralische Annahmen und Überzeugungen
Unter außermoralischen Annahmen beziehungsweise außermoralischen Überzeugungen verstehe ich Annahmen oder Überzeugungen nicht - moralischer Art. Inhalt außermoralischer Überzeugungen können unter anderem metaphysische oder ontologische Annahmen, Annahmen über kontingente Tatsachen oder Sachverhalte, Theorien über die Beschaffenheit und das Funktionieren der natürlichen und sozialen Welt, Vorstellungen über das Verhalten von Menschen oder Völkern, Hypothesen über Kausalverhältnisse sowie Wert - und Zielvorstellungen sein. Solche nicht - moralischen Annahmen können in moralischen Überlegungen, in Überlegungen also, was zu tun oder zu lassen ist, als deskriptive Prämissen, als Aussagen über Tatsachen oder auch als nicht - moralische Werturteile eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Nicht - moralische Werturteile beziehen sich vor allem auf Zustände oder Ereignisse der subjekt - internen oder der äußeren Welt und beurteilen diese unter dem Gesichtspunkt ihrer Wünschbarkeit bzw. Vorzugswürdigkeit.66 Auch nicht - moralische Werturteile können nun allerdings moralische Relevanz gewinnen. Sie gewinnen moralische Relevanz dann, wenn es prinzipiell 66 Vgl. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 47.
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möglich ist, die beurteilten Zustände und Ereignisse durch menschliches Handeln herbeizuführen oder zu verhindern und die entsprechenden Handlungen auch ausgeführt werden. Sofern nämlich die moralische Qualität einer Handlung auch danach beurteilt wird, welche Zustände oder Ereignisse, welche nichtmoralischen Werte also, sie verwirklicht beziehungsweise zu verwirklichen beabsichtigt, erweisen sich nicht - moralische Werturteile als relevant für moralische Handlungsurteile.67 Für die Moral, die einer hat, können auch seine moralisch relevanten nicht - moralischen Werturteile ausschlaggebend sein.
3.
Außermoralische Überzeugungen innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie
Nicht alle für das politische Handeln von Nationalsozialisten relevanten Überzeugungen müssen genuin nationalsozialistische Überzeugungen gewesen sein. Viele, ja nahezu alle ihrer Ideen und Theoreme dürften aus tradierten Denkzusammenhängen stammen. Welche außermoralischen Überzeugungen hatten die führenden Nationalsozialisten, die wir nicht akzeptieren ? Einige derer, die besonders wichtig erscheinen, seien im Folgenden aufgelistet : Hitler war der Auffassung, dass sich Völker ( und Staaten ) in einem moralisch und rechtlich ungeregelten Naturzustand befinden, der praktisch nicht verlassen werden kann. Dies galt für ihn jedenfalls insofern, als sich auch völkerrechtliche Vereinbarungen infolge des Fehlens eines Gewaltmonopols seiner Auffassung nach nicht durchsetzen lassen. Demgemäß hat er ein auf Dauer herrschaftsfreies friedliches Zusammenleben von Völkern für unrealistisch gehalten und ist von einem ewigen Kampf der Völker um Lebensraum ausgegangen. Er hat in diesem Zusammenhang unterstellt, dass das deutsche Volk unter einem Mangel an Lebensraum leidet und die Disproportion zwischen Lebensraum und Volkszahl nur durch eine Erweiterung seines Lebensraumes effektiv überwinden kann. Nationalsozialisten haben eine Reihe von vermeintlichen Gefahren – darunter eine jüdische und „jüdisch - bolschewistische“ Gefahr – identifiziert, die das deutsche Volk beziehungsweise seine Lebensinteressen bedrohen. Nationalsozialisten haben die Existenz unterschiedlich begabter Rassen unterstellt und auf dieser Grundlage eine welthistorische Mission der germanischen Rasse postuliert. Nationalsozialisten haben das Postulat einer grundsätzlichen Gleichheit und Gleichbefähigung aller Menschen nicht akzeptiert und die Idee der gattungsmäßigen Einheit des Menschengeschlechts zumindest in Zweifel gezogen. Nationalsozialisten haben eine organizistische Gemeinschaftsauffassung vertreten, das heißt, sie haben Völker oder Staaten als eigenständig existierende Organismen, ja als Lebewesen betrachtet. Darüber hinaus haben sie Entitäten 67 Vgl. ebd., S. 47 f.
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dieser Art, nämlich dem deutschen Volk beziehungsweise der arisch - germanischen Rasse, einen – unbedingt zu schützenden – Eigenwert zugeschrieben. Entsprechend dieser ontologischen und axiologischen Auffassungen, tauchten in ihren Moralvorstellungen nicht nur Individuen, sondern auch überindividuelle Wesenheiten auf, deren Interessen es zu berücksichtigen galt. Nationalsozialisten haben einen absoluten Vorrang des je eigenen Volkes gegenüber fremden Völkern sowie einen wertmäßigen Vorrang des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen postuliert. Dementsprechend hatte Hitler das Recht eines Volkes, mit allen notwendigen Mitteln für seine Selbsterhaltung zu sorgen, als jederzeit und unter allen Umständen vorrangig erklärt – gleichgültig, welche Folgen sich für andere Völker und deren Bevölkerung oder auch für Angehörige des eigenen Volkes daraus ergeben.
4.
Moralisches Unrechtsbewusstsein ?
Auf der Basis dieser und anderer außermoralischer Überzeugungen haben Nationalsozialisten Argumentationen konstruiert, die die Übertretung moralischer Grundnormen, einschließlich des Tötungsverbots, erlaubt erscheinen ließen. Derartige Argumente sind die kognitive Voraussetzung dafür, sich auch im Falle einer Verletzung moralischer Grundnormen ein gutes Gewissen bewahren zu können. Auf diese Weise konnten es Nationalsozialisten für moralisch erlaubt halten, dass man selbst unschuldige Menschen – Angehörige anderer Völker wie Angehörige des eigenen Volkes – gegebenenfalls absichtlich tötet oder deren Tod in Kauf nimmt. Mit anderen Argumenten versuchte man plausibel zu machen, dass bestimmte Vorgehensweisen nicht das sind, was sie zu sein scheinen, nämlich Rechtsverletzungen, sondern dass es sich vielmehr darum handele, moralische Grundnormen auf eine situationsbedingt angemessene Weise zu befolgen. Mit wieder anderen Argumentationen versuchte man plausibel zu machen, dass die vermeintliche Interessenverletzung im recht verstandenen Interesse der Betroffenen liegt. Auch solche Argumentationen können den Tätern ein ruhiges Gewissen sichern und das Entstehen eines Unrechtsbewusstseins verhindern. Es zeigt sich : Handlungen, die man – etwa aus der Sicht einer universalistischen Menschenrechtsethik – für verbrecherisch halten muss, können in einer anderen Moralpraxis als erlaubt gelten. Die Gültigkeit von Rechtfertigungen hängt nicht unwesentlich von der Akzeptierbarkeit der in sie eingegangenen außermoralischen Überzeugungen, einschließlich der moralisch relevanten nicht - moralischen Werturteile, ab. Eine bestimmte Sorte von außermoralischen Überzeugungen ist logisch oder empirisch widerlegbar. Eine andere Sorte wird man durch Kohärenzprüfungen oder Plausibilitätsüberlegungen als nicht anerkennungswürdig ausweisen können. Von wieder einer anderen Sorte wird man fragen können, ob es gute Gründe gibt, sie zu akzeptieren. So zum Beispiel ist es nicht ausgeschlossen, unzutreffende Identifikationen von Gefahren - oder Notwehrsituationen oder unzutref-
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fende Interpretationen von Interessen zu erkennen; ebenso ist es möglich, theoretische Annahmen oder Erklärungen zu widerlegen. Ein vorschneller Hinweis auf die „andere Moral“ der Täter würde jedenfalls diesen Erkenntnisprozess unterbinden. Schwieriger wird es, wenn sich die Rechtfertigungen der Täter auf von uns nicht akzeptierte metaphysische, also rational nicht widerlegbare Prämissen stützen. Moralische Überzeugungen, die auf divergierenden metaphysischen Annahmen beruhen – etwa einer Ontologie, in der Völker oder Staaten als selbständige Wesenheiten erscheinen –, können inkommensurabel sein.
XI.
Hatten die Nationalsozialisten andere moralische Überzeugungen ?
Wir haben bereits gesehen, dass die Nationalsozialisten einen partikularen, das heißt auf das eigene Volk beziehungsweise die eigene Rasse bezogenen, Utilitarismus pflegten. Für das Hitler’sche Denken hatte der Gedanke der Opferminimierung eine zentrale Bedeutung. Er war überzeugt, dank seiner Fähigkeit zur Gefahrenanalyse moralisch verantwortlich unter dem utilitaristischen Gesichtspunkt einer Minimierung von Opferzahlen handeln zu können : „Ich sehe“, so erklärte er im Führerhauptquartier sein Denken und Handeln, „nur noch die Opfer, welche die Zukunft fordert, wenn heute ein Opfer nicht gebracht wird.“68 Wie schriftliche und mündliche Verlautbarungen zeigen, beherrschten Überlegungen dieser Art sein Denken. Dabei führte er Kalkulationen von äußerster Vagheit an, um ein konkretes, opferträchtiges Handeln zu rechtfertigen. Hitler zögerte nicht, aus theoretisch voraussetzungsvollen Spekulationen Prinzipien des politischen Handelns abzuleiten und diese moralisch zu begründen. So glaubte er, dass langandauernde Friedenszeiten mit Depravationserscheinungen verbunden sind, zu denen typischerweise auch ein Rückgang der Geburtenzahlen gehört. Auch ein Frieden kostet also dergestalt „Opfer“.69 Damit aber stellt sich die Frage der Rechtfertigbarkeit eines Krieges vor dem Hintergrund ganz neuartiger Opferbilanzen. Auf der Basis dieser außermoralischen Annahmen ergeben sich Kalkulationen, die für die Bereitschaft, Krieg zu führen, Konsequenzen haben müssen. Utilitaristische Überlegungen zur Opferminimierung sind aber keineswegs genuin nationalsozialistisch. Opferkalkulationen lagen dem Prinzip nach auch dem vom Bundestag beschlossenen, mittler weile aber für verfassungswidrig erklärten, Luftsicherheitsgesetz zugrunde. Typisch für totalitäre Systeme sind allerdings Opferkalkulationen großen Stils; charakteristisch ist die Bereitschaft, für das Leben und das Glück zukünftiger Generationen Tausende, Zehntausende, ja Hunderttausende gegenwärtig lebender Menschen zu opfern. 68 Hitler, Monologe im Führerhauptquartier, Dok. 25, S. 71. 69 Vgl. Hitler, Geheimrede vom 30. Mai 1942 vor dem „militärischen Führernachwuchs“, S. 715.
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Man kann in diesem Zusammenhang auch fragen, ob der im Organisationsbuch der NSDAP verankerte Verhaltensgrundsatz als ein moralisches Prinzip zu deuten ist. Dort hieß es, dass ein Nationalsozialist „stets richtig handeln“ werde, „wenn er sich täglich prüft und fragt, ob seine Arbeit und sein Verhalten vor dem Führer bestehen können“.70 Später hatte Hans Frank diesen Grundsatz in eine an Kants Kategorischen Imperativ gemahnende Form gebracht und gefordert : „Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“71 Der mutmaßliche Führerwille wird hier zum Maßstab des richtigen Handelns erhoben. Die Verantwortung des Einzelnen besteht darin, aus seiner Kenntnis des allgemeinen Führerwillens heraus die in der konkreten Situation richtige Handlungsweise zu bestimmen. Einerseits hatte dieser Grundsatz – seiner beabsichtigten Wirkung nach – wohl eher den Charakter eines herrschaftstechnologischen Disziplinierungsinstruments. Andererseits mag man sagen, habe der Witz dieses Imperativs gerade darin bestanden, dass die Vernunft als im Führerwillen verkörpert gedacht wurde und insofern auch der Deuter des vernünftigerweise Gebotenen, nämlich der Einzelne, ganz im Sinne Kants als Selbstgesetzgeber auftrat. Als genuin nationalsozialistisch dürfte der Grundsatz zu bezeichnen sein, als Heiratspartner „grundsätzlich und ausnahmslos“ nur Angehörige des deutschen Volkes zu wählen. Diese „Treue zum Blut des eigenen Volkes“ galt als „höchste Pflicht“, die man nicht ungestraft verletzen könne; ihr nachzukommen war zugleich die „höchste Ehre jedes einzelnen“.72 Dieses Moralprinzip galt als Instrument zur Abwehr von Gefahren, die sich aus einer Vermischung mit minder wertigen Rassen für die Selbsterhaltungschancen des deutschen Volkes ergäben. In welchem Umfang die Nationalsozialisten andere moralische Prinzipien vertraten und inwieweit diese Prinzipien selbst wiederum durch außermoralische „Bestandteile“ der nationalsozialistischen Ideologie gestützt wurden, mag an dieser Stelle letztlich offen bleiben. Hitlers antiindividualistischer Standpunkt jedenfalls ließ ihn nicht nur die Belange der Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellen; er suchte nach Moralprinzipien, die die Legitimität des Verhaltens des Einzelnen unter dem Gesichtspunkt der Wünschbarkeit der Folgen bewerten, die dieses Verhalten, als ein verallgemeinertes und über Jahrhunderte hinweg gedacht, für eine Gesellschaft vermutlich haben wird. So ging er davon aus, dass die Wahrnehmung bestimmter Rechte zwar persönliche Wünsche eines Einzelnen zu befriedigen vermag, eine allgemeine Gewährung derselben Rechte sich aber zugleich für zukünftige Generationen katastrophal auswirken kann. Auf Basis dieser Erwägung begründete er ein universelles Testverfahren, nämlich „jede Tat, die bedenklich erscheint, von dem höheren Gesichtspunkte zu prüfen, was würde sein, wenn das, was wir augenblicklich als Recht ansehen, unsere 70 Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP ( Hg.), Organisationsbuch der NSDAP, München 1936, S. 4 ( Hervorhebung getilgt ). 71 Hans Frank, Technik des Staates, Berlin 1942, S. 15 f. 72 Walter Groß, Deine Ehre ist die Treue zum Blute deines Volkes, Berlin 1943, S. 31 f. (Hervorhebungen getilgt ).
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Vorfahren auch schon als Recht angesehen und auch schon getan hätten“.73 Daraus leitete Hitler den Grundsatz ab, in der Gegenwart keine Verhaltensweisen zu dulden, von denen man sagen muss, dass es gut war, dass unsere Vorfahren sie unterlassen haben, oder dass es besser gewesen wäre, wenn sie sie unterlassen hätten. Individuelle Rechte können diesem Universalisierungsprinzip gemäß nur dann gewährt werden, wenn ihre allgemeine Gewährung nicht nur die augenblickliche „Weiterfortführung des Lebens noch ermöglicht“, sondern wenn sie „die Grundlage des Lebens sein könnte“.74 Man könne, so fuhr er fort, „nie dem Grundsatz huldigen, wesentlich ist, dass wir leben“, sondern man müsse „letzten Endes dem Grundsatz huldigen, wesentlich ist, dass die leben können, die nach uns kommen“.75
XII. Noch einmal : Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral ? Diese Frage schlicht zu bejahen wird der Komplexität des Problems nicht gerecht. Gerade weil die nationalsozialistische Praxis zu klaren Verurteilungen Anlass gibt, sollte man zwar naheliegende, aber allzu einfache Antworten zu vermeiden suchen. Erstens : Die Nationalsozialisten haben ein ähnliches Minimum an moralischen Grundnormen akzeptiert, wie auch wir es akzeptieren. In diesem Sinne hatten sie keine andere Moral. Vergegenwärtigt man sich diesen Umstand, wird man die Diagnose, wir wären im Falle des traditionellen moralischen Denkens des Westens und des nationalsozialistischen Denkens mit zwei sich wechselseitig ausschließenden Moralen konfrontiert, für wenig hilfreich, ja auch für gefährlich halten. Diese Redeweise suggeriert nämlich, dass wir uns, wollen wir Verbrechen vermeiden, nur für die richtige Moral entscheiden müssten. Die Dinge liegen aber komplizierter. In der menschlichen Geschichte sind unendlich viele Verbrechen von Menschen verübt worden, die die Grundnormen der traditionellen Moral akzeptierten. Die Akzeptanz dieser Grundnormen garantiert jedoch noch kein moralisches Handeln. Allerdings folgt auch umgekehrt aus einer Verletzung von Grundnormen nicht, dass die Handlung moralisch falsch war. Hier liegt das Problem ! Es gibt Verletzungen von moralischen Grundnormen, die als legitim gelten und die auch wir für legitim halten. Auf diesem Zusammenhang beruht – bewusst oder unbewusst – das gute Gewissen vieler Täter. Jedes Grundnormen verletzende Handeln wird als legitim ausgewiesen, wenn es gelingt, einen plausiblen Grund zu nennen oder eine überzeugende Argumentation vorzule73 Adolf Hitler, „Ein Kampf um Deutschlands Zukunft“. Rede auf NSDAP - Versammlung in Dresden vom 18. September 1928. In : Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, München 1994, Band III /1, Dok. 26, S. 84. 74 Ebd., S. 83. 75 Ebd., S. 84.
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gen, dass eine Normenverletzung unter den gegebenen Umständen moralisch erlaubt ist. Ob wir eine solche Verletzung als legitim betrachten, hängt häufig von unseren außermoralischen Überzeugungen ab. Deshalb hätte eine argumentative Auseinandersetzung mit Tätern mit gutem Gewissen unter anderem auch an deren – von den unseren abweichenden – außermoralischen Überzeugungen anzusetzen. Die Behauptung, auch die Nationalsozialisten hätten ein ähnliches Minimum an moralischen Grundnormen akzeptiert, ist nicht gänzlich unabhängig von der vorgeschlagenen Begriff lichkeit. So ist es zum Beispiel durchaus möglich – wenn auch nicht üblich und auch nicht wirklich praktikabel –, Rechtfertigungsgründe in die Normformulierung mit aufzunehmen. Entscheidet man sich für eine solche sprachliche Regelung, würden für den Fall, dass unterschiedliche Rechtfertigungsgründe akzeptiert werden, auch verschiedene Grundnormen vertreten. Zweitens : Entscheidend für das Verständnis des moralischen Denkens von Nationalsozialisten ist die Erkenntnis, dass sie – neben anderen moralischen Überzeugungen ( anderen moralischen Prinzipien, anderen Rechtfertigungsgründen, anderen normativen Prämissen ) – auch andere außermoralische Überzeugungen hatten. Daraus ergab sich : Nationalsozialisten haben Relevanzkriterien für die Bestimmung der Reichweite moralischer Grundnormen akzeptiert, die wir nicht akzeptieren; sie haben Rechtfertigungen für Normverletzungen als gültig erachtet, die wir nicht als gültig erachten, und sie haben konkrete Normen befolgt, die wir ebenfalls nicht befolgen. Diese Differenzen lassen sich in einem beträchtlichen Maß auf die Akzeptanz unterschiedlicher außermoralischer Annahmen und Überzeugungen zurückführen. Zweifellos haben die Nationalsozialisten Rechtfertigungen für gültig erachtet, die wir aus der Sicht eines Menschenrechtsuniversalismus nicht akzeptieren. Diese Rechtfertigungen können sich auf moralische Regeln oder Prinzipien stützen, die wir akzeptieren ( etwa das Prinzip der Notwehr ) oder auf solche, die wir nicht akzeptieren ( etwa das Prinzip der Austauschbarkeit des Individuums ). Das Ideensystem der Nationalsozialisten war daher geeignet, Handlungsweisen zu rechtfertigen, die wir für verbrecherisch halten. Und in diesem Sinne hatten sie eine andere Moral. Drittens : Nationalsozialisten haben zum Teil andere moralische Prinzipien akzeptiert. So kann als eines der Hauptkennzeichen des moralischen Denkens von Nationalsozialisten die Idee der Austauschbarkeit des Individuums gelten. Nationalsozialisten nahmen an, dass es moralisch erlaubt ist, Menschen das Leben zu nehmen, um anderen Menschen das Leben zu bewahren oder Ungeborenen das Leben zu ermöglichen. In Extremsituationen kann zwar auch in westlichen Verfassungsstaaten auf Kalkulationen utilitaristischer Art zurückgegriffen werden; die exzessive Berufung auf dieses Moralprinzip war jedoch kennzeichnend für die nationalsozialistische Moral. Viertens : Hitler ging es in letzter Instanz darum, die geistigen Voraussetzungen zu schaffen, die zur Durchsetzung der Ansprüche und der Vorherrschaft
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des eigenen Volkes notwendig waren. Für Hitler waren moralische Normen dem Menschen nicht vorgegeben, sondern dessen Schöpfung. Sie waren für ihn interessenfundiert und hatten instrumentellen Charakter. Moralische Normen aber – und hier liegt der entscheidende Unterschied zu einer individualistischen Ethik – müssen sich nach Hitlers Vorstellung im unausweichlichen Lebenskampf der Völker „bewähren“. Etwa in diesem Sinne hatte Hitler in Mein Kampf ausgeführt : „Wenn aber Völker um ihre Existenz auf diesem Planeten kämpfen, mithin die Schicksalsfrage von Sein oder Nichtsein an sie herantritt, fallen alle Erwägungen von Humanität oder Ästhetik in ein Nichts zusammen; denn alle diese Vorstellungen schweben nicht im Weltäther, sondern stammen aus der Phantasie des Menschen und sind an ihn gebunden. [...] [ Absatz ] Damit haben aber alle diese Begriffe beim Kampfe eines Volkes um sein Dasein auf dieser Welt nur untergeordnete Bedeutung, ja scheiden als bestimmend für die Formen des Kampfes vollständig aus, sobald durch sie die Selbsterhaltungskraft eines im Kampfe liegenden Volkes gelähmt werden könnte.“76
Hitler begründet an dieser und vielen anderen Stellen einen ontologischen und wertmäßigen Vorrang des Volkes vor dem Individuum. Nach dieser Vorstellung kann der Einzelmensch „nie der Zweck, sondern nur das Mittel eines politischen Planens und Handelns sein“.77 Die Nationalsozialisten haben eine ontologische Vorentscheidung, nämlich das Individuum als einen Teil des „Volkskörpers“ zu sehen, mit dem Postulat eines normativen Kollektivismus verknüpft und die Erhaltung und Entfaltung des je eigenen Volkes zum höchsten Wert erklärt. Aufgabe der Politik ist es danach, die Erhaltung und Entfaltung des eigenen Volkes sicherzustellen. Darüber hinaus ergeben sich aus dieser „völkischen Grundauffassung“, wie die Ausführungen Hitlers deutlich machen, normative Konsequenzen sowohl für den Umgang mit den Individuen des eigenen Volkes als auch den Individuen konkurrierender beziehungsweise verfeindeter Völker. Schon der einzelne Volksgenosse hat sich den Lebensnotwendigkeiten des Volkes unterzuordnen, ja er kann diesem Zweck notfalls geopfert werden. Erst recht gilt dies aber für die Individuen fremder Völker, die um denselben Lebensraum und dieselben Ressourcen kämpfen. Kein Volk kann – nach Überzeugung Hitlers – im Daseinskampf moralisch verpflichtet sein, seine Überlebens - und Entfaltungschancen zugunsten fremder Völker und deren Angehörige zu beeinträchtigen. Das heißt nicht, dass Hitler die Anerkennungswürdigkeit bzw. Geltung moralischer Gebote im Umgang mit den Angehörigen anderer Völker in jeder Hinsicht geleugnet haben muss. Allerdings hat er die Auffassung vertreten, dass die Pflicht zur Rücksichtnahme dann vollständig erlischt, wenn durch eine solche Rücksichtnahme die Verwirklichung existenzieller Interessen des eigenen Volkes untergraben wird – wenn etwa, so das Beispiel Hitlers, „die Selbsterhaltungskraft eines im Kampfe liegenden Volkes gelähmt werden könnte“. Unter derartigen Voraussetzungen ist sogar – dies ergibt sich als Konsequenz – die 76 Hitler, Mein Kampf, S. 195. 77 Himmler, Aufgaben und Aufbau der Polizei des Dritten Reiches, S. 127.
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direkt - vorsätzliche, einschließlich der absichtlichen Tötung von Angehörigen anderer Völker moralisch nicht zu beanstanden.
XIII. Eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen ? Ist der Versuch, auch die nationalsozialistischen Verbrechen wie andere Verbrechen zu erklären, nicht eine Relativierung dieser Verbrechen ? Ja und nein ! Ja, es ist eine Relativierung – und zwar insofern, als damit behauptet wird, dass sich diese Verbrechen von anderen Verbrechen nicht derart unterscheiden, dass sie sich einem einheitlichen Erklärungsmuster entzögen oder gänzlich unverstehbar wären. Nein, es ist keine Relativierung – und zwar deshalb, weil diese Erklärungen an der Tatsache der moralischen Verwerf lichkeit der zu erklärenden Verbrechen nichts ändern. Die Frage, die sich die Täter – sofern sie tatsächlich glaubten, etwas Erlaubtes zu tun – hätten stellen müssen, ist, ob es moralisch erlaubt war, ihr Handeln auf die entsprechenden außermoralischen Überzeugungen zu stützen. Insofern stehen wir auch im Falle der führenden Nationalsozialisten vor einem moralischen Problem. Aber dieses moralische Problem liegt zum Teil auf einer anderen Ebene als mitunter gedacht. Es liegt nicht – oder jedenfalls nicht nur – im Bereich des moralischen Wollens beziehungsweise der moralischen Überzeugungen, sondern im Bereich der Urteilsbildung sowie der Entschlussfassung. Es mag auch darin liegen, welche Gewohnheiten man ausgebildet und welche Einstellungen man kultiviert hat. Das Versagen der Nationalsozialisten – sofern es sich um Täter mit gutem Gewissen handelt – ist zum einen ein kognitives Versagen und zum anderen ein Versagen, das sich auf unverantwortbare Handlungsentschlüsse zurückführen lässt. Zum einen gilt, dass jeder Einzelne, der als ein vernünftiges Wesen anerkannt werden will, auch für seine Urteils - und Willensbildung verantwortlich ist. Die Täter haben moralisch versagt, weil sie ihr Handeln auf eine unhaltbare Ideologie stützten, deren Unhaltbarkeit sie hätten erkennen können. Täter mit gutem Gewissen haben kognitive Pflichten verletzt. Die Erfüllung kognitiver Pflichten in Bezug auf relevante Fragen ist Bedingung der Möglichkeit rationalen, also verantwortbaren Handelns. Insofern diese Pflichtverletzungen vermeidbar waren, sind sie den Tätern als ein moralisches Versagen zuzurechnen. Zum anderen ist nicht nur eine Verletzung kognitiver Pflichten zu beklagen. Das Versagen der Täter liegt ebenso begründet in einer unverantwortbaren Haltung den eigenen Überzeugungen gegenüber. Kennzeichnend für das Verhalten von Tätern mit gutem Gewissen ist die kaltschnäuzige Anmaßung, auf der Basis eines vagen Für - wahr - Haltens Menschenrechte verletzen, ja sogar massenhaft Menschen opfern zu dürfen. Ich halte diese Einstellung für unverantwortlich. Betrachtet man diese Ursachen für das Versagen der nationalsozialistischen Täter, so hatten die Nationalsozialisten in der Tat eine andere Moral. Dies aller-
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Lothar Fritze
dings ist nur zum geringeren Teil eine spezifische NS - Moral; es ist vor allem eine Moral, deren Struktur wir bei allen ideologisch oder religiös motivierten Groß - Verbrechern beobachten. Spezifisch nationalsozialistisch sind allerdings verschiedene der außermoralischen Annahmen. Von einer spezifischen NS Moral zu reden mag – bestenfalls – unschädlich sein, trägt aber zum Verständnis kaum etwas bei. Um das Handeln der Nationalsozialisten verstehen und erklären zu können, ist es unverzichtbar, auch ihre außermoralischen Überzeugungen zu ermitteln. Zudem ist der Versuch, nationalsozialistische Verbrechen wie manche andere Verbrechen zu erklären, in folgendem Sinne vorzugswürdig : Die vorgestellte Erklärung zeigt, wozu Menschen, die keineswegs als bösartig beschrieben werden müssen, fähig sind, wenn es ihnen gelingt, ihr Tun vor sich selbst zu legitimieren und damit ihre persönliche Integrität zu wahren. Die nationalsozialistischen Verbrechen von vornherein auf die Amoralität oder Boshaftigkeit der Täter zurückzuführen hieße, die für uns bequemste Deutung zu wählen. Da wir uns selbst für moralisch integere Wesen halten, rückte für uns der Gedanke, wir hätten in Verbrechen dieser Art ver wickelt werden können, in das Reich des Undenkbaren. Der Unterschied aber zwischen uns, die wir eine Menschenrechtsethik akzeptieren, und nationalsozialistischen Tätern mit gutem Gewissen liegt nicht auf dem Gebiet des moralischen Wollens, sondern – jedenfalls sehr häufig – auf dem der außermoralischen Überzeugungen. Die vorliegende Analyse hat gezeigt : Täter mit gutem Gewissen haben zwar moralisch versagt, ihnen muss aber in erster Linie keine Moral beigebracht werden, sondern rationales Denken. Und zum rationalen Denken gehört, dass man ein vernünftiges, hinreichend skeptisches Verhältnis zu den eigenen außermoralischen Überzeugungen herstellt.
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II. Nationalsozialistische Täter
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Hitlers Holocaust - Motiv Gunnar Heinsohn
I.
Die Resignation der Forscher
Léon Poliakov (1910–1997) hat wie kein anderer den Holocaust und auch alle anderen Mordtaten an Juden in den Blick genommen. „Mr. Antisemitism“ nennt man ihn in Nordamerika für seine achtbändige „Geschichte des Antisemitismus“ (1977–1988). Von La Condition des Juifs en France aus dem Jahre 1946 bis zur englischen Umarbeitung des arischen Mythos ( The Aryan Myth ) im Jahre 1996 folgt ein halbes Jahrhundert lang Buch auf Buch und Aufsatz nach Aufsatz. Doch bis kurz vor seinem Ableben will die Ratlosigkeit über Adolf Hitler (1889–1945) und seine Vernichtung der Juden nicht weichen. Kann da ver wundern, dass weniger erfahrene Forscher gleich ganz verzweifeln wollen ? Als ein früher Meister der Hitlerforschung mit ebenfalls jahrzehntelanger Beobachtung der Debatte gehört Alan Bullock1 (1914–2004) in diese Gruppe : „Je mehr ich über Hitler lerne, desto schwerer fällt es mir, ihn zu erklären.“2 Ulrich Herbert (*1951) als Deutschlands vielleicht angesehenster Nachwuchshistoriker zur NS - Zeit3 und schon 1999 Träger des Leibnizpreises findet ebenfalls keinen befriedigenden Zugang zur Materie : „Da es keine Theorie des Holocaust gibt, [...] ist es im Grunde immer wieder nur die Auseinandersetzung mit dem Geschehen selbst, die das Bedürfnis nach Aufklärung stillen kann.“4 Götz Aly (*1947) als einer der fleißigsten Autoren zum Thema will allenfalls ausschließen, was auf keinen Fall eine wichtige Rolle gespielt habe : „Kein ernsthafter Historiker wird heute ‚Hitlers Obsessionen‘ [...] die hauptsächliche oder gar alleinige Verantwortung an der Ermordung der europäischen Juden zuschreiben.“5 Aber selbst mit dieser Minimalposition stößt er auf Widerstand seines 1 2 3 4 5
Vgl. Alan Bullock, Hitler : A Study in Tyranny, London 1952; ders., Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1953. Ron Rosenbaum, Die Hitler - Debatte. Auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen, München 1999, S. 7. Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996; ders. ( Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt a. M. 1998. Herbert, Best, S. 66. Götz Aly, Die vielfachen Tatbeiträge zum Mord an den europäischen Juden. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 1. 2002, S. 49.
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Gunnar Heinsohn
fünfzehn Jahre jüngeren Kollegen Hanns C. Löhr (*1961) : „An der Verantwortung Adolf Hitlers für die Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges besteht kein Zweifel.“6 Beide Wissenschaftler wollen ihr Bestes geben, ja resümieren jeweils ein kleines Lebenswerk, denn sie schreiben auf Einladung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Jahrestag der Auschwitzbefreiung (27. Januar 1945). Noch mehr Aufmerksamkeit als die bisher Genannten genießt Ian Kershaw (*1953) als bislang ausgreifendster Hitler - Biograph.7 Aber auch er kann nicht mehr als eine historische Reportage liefern : „Hitler hat uns auf schlimmste Weise gezeigt, wozu wir fähig sind. ‚Auschwitz‘ liegt an der Grenze der Erklärbarkeit : Historiker können beschreiben, wie es so weit gekommen ist, aber warum es dazu kam, ist eine ganz andere Frage.“8 Auch nach weiteren sieben Jahren des Nachdenkens kommt er einer Erklärung nicht näher : „[ Hitler war ] ein autoritärer Typ, besessen von einem außerordentlichen und kaum zu verstehenden Vernichtungswillen.“9 Kaum anders als Kershaw klingt der Befund des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels von 2007, Saul Friedländer (*1932). Mit seiner These von einem spezifisch deutschen Erlösungs - Antisemitismus schöpft er eine der rund 50 seit 1945 präsentierten allgemeinen Theorien des Holocausts.10 Er wird aber weniger wahrgenommen, weil seinerzeit alle Welt immer noch mit Daniel Goldhagens (*1959) These von einem extrem eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen beschäftigt ist.11 Allerdings gelingt Friedländer die Resignation gegenüber Hitlers Motiv volle zwanzig Jahre früher als Kershaw : „Wir wissen im Einzelnen, was geschah; wir kennen die Abfolge der Ereignisse, aber die Tiefendynamik des Phänomens entgleitet uns.“12 Auch Israels führender Holocaust - Historiker, Yehuda Bauer (*1926), muss seine Leser im Stich lassen : „Hitler ist im Prinzip erklärbar; das bedeutet aber nicht, dass er erklärt worden ist.“13 Führt ein Ausscheren in die Philosophie weiter ? Die Ungarin Agnes Heller (*1929) ragt als Moraltheoretikerin in diesem
6 Hannes C. Löhr, Hitlers Befehl. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 1. 2004, S. 33. 7 Vgl. Ian Kershaw, Hitler. 1889–1936, 2. Auf lage Stuttgart 1998. 8 Ders., „In gewisser Weise war er der Mann ohne Eigenschaften. Die Geschichte Hitlers ist auch die Geschichte seiner Unterschätzung.“ Ein Gespräch mit Ian Kershaw, dem Verfasser der neuen großen Hitler - Biographie. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 10. 1988, S. 4 f. 9 Ders., „Was wäre gewesen, wenn ?“, Interview von Frank Schirrmacher und Stefan Aust mit Ian Kershaw. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 3. 2005, S. 36. 10 Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bände, München 1998. 11 Vgl. Daniel N. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996. 12 Saul Friedländer, Vom Antisemitismus zur Judenvernichtung. Eine historiographische Studie zur nationalsozialistischen Judenpolitik und Versuch einer Interpretation. In : Eberhard Jäckel / Jürgen Rohwer ( Hg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlußbildung und Verwirklichung, Stuttgart 1985, S. 18–60, hier 49. 13 Rosenbaum, Die Hitler - Debatte, S. 7.
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Metier heraus14 und bekommt dafür – nach sieben früheren Ehrungen – 2010 die Goethe - Medaille : „Der Holocaust ist weder zu erklären noch zu verstehen. Er hatte keinen Zweck; er war weder die Befreiung noch ein Ereignis innerhalb einer Kausalitätskette. [...] Was irrational und per se unvernünftig ist, lässt sich nicht integrieren.“15 Wenden wir uns nach Polen an Wladyslaw Bartoszewski (*1922), der Auschwitz nicht nur selbst durchleidet, sondern danach die Ausbildung zum Historiker absolviert. Auch er macht keine Hoffnung : „Die historische, politische, theologische und philosophische Literatur über Auschwitz umfasst heute einige Tausend Bände und noch viel mehr kleinere Beiträge in wohl allen Sprachen. Das Phänomen Auschwitz beschäftigt nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Künstler. Trotzdem bleibt es auch für die neuen Generationen unfassbar, unbegreifbar, fast unglaublich.“16 Was sagen die gebildeten Laien ? Wer könnte besser für sie sprechen als Ernst Cramer (1913–2010) ? Er gehört zu den 1945 geretteten Juden und verdichtet sein sechzigjähriges Grübeln im Januar 2006 zum Auschwitzbefreiungstag vor dem Deutschen Parlament : „Dieser Genozid, war die größte Katastrophe, welche die Juden je befiel und gleichzeitig [ die ] unbegreif lichste Tragödie in der deutschen Geschichte.“17 Wenn Wissenschaft und Philosophie versagen, haben die Künstler das Wort. Auf die Judenvernichtung hat wohl keiner mehr Zeit verwendet als Claude Lanzmann (*1925), der 1985 den neunstündigen Film Shoah präsentiert : „Ich behaupte, dass es keine [ historischen Erklärungen ] gibt. Meine eherne Regel war, nicht verstehen zu wollen. Auf die Frage nach dem Warum antwortete ein SS - Mann dem Häftling Primo Levi : Hier ist kein Warum. Das ist die Wahrheit. Die Suche nach dem Warum ist absolut obszön. [...] Die Historiker knüpfen ihre Kausalkette – Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, die Niederlage im Ersten Weltkrieg, Bolschewismus, Hitlers Jugenderlebnisse und so fort. [...] Es mag notwendige Bedingungen für das Entstehen des mörderischen Antisemitismus geben, hinreichend sind sie jedoch nicht.“18 Natürlich gibt es auch Holocaustforscher, die aus volkspädagogischen Gründen nicht nach Hitlers Motiv Ausschau halten wollen. Sie fürchten durch Konzentration auf den obersten Herren, seine zahllosen Helfer reinzuwaschen. Eine solche Gefahr ist selbstredend nicht abzuweisen. Doch wenn man einmal ein 14 Vgl. Agnes Heller, A Philosophy of Morals, Oxford 1990. 15 Dies., „Schreiben nach Auschwitz ? Schweigen über Auschwitz ? Philosophische Betrachtungen eines Tabus. Die Weltzeituhr stand still“. In : Die Zeit vom 7. 5. 1993, S. 61 f. 16 Wladyslaw Bartoszewski, „Unfassbar, unbegreif lich, unglaublich : Die Baupläne von Auschwitz“. In : Die Welt vom 17. 2. 2009, S. 7. 17 Ernst Cramer, „In vielen Menschen hatte der Teufel über Gott gesiegt“. In : Die Welt vom 28. 1. 2006, S. 4. 18 Claude Lanzmann, „Der Tod ist ein Skandal“. Der französische „Shoah“ - Verfilmer Claude Lanzmann über sein Leben, seinen Memoirenband „Der patagonische Hase“, die Erinnerung an die Judenvernichtung und die Gegenwart der Vergangenheit. In : Der Spiegel vom 6. 9. 2010.
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paar hundert Völkermorde auf dem Schreibtisch hat, wird schnell deutlich, dass willige Vollstrecker niemals fehlen, aber zumeist nicht die Position innehaben, von der die Befehle ausgehen.19 Dass sich fast immer Täter finden, kann mithin die Genozide nicht erklären. Denn diese Menschen sind ja auch vor und nach den Tötungen verfügbar. Nach Léon Poliakov ist der erfahrenste – und medial vielseitigste – aller Hitlerforscher Joachim Fest (1926–2006). 43 Jahre lang legt er Arbeiten zu Hitlerdeutschland vor.20 Zwei Jahre vor seinem Tode ergreift er die Gelegenheit, über die Vergeblichkeit seines Tuns zu klagen : „Ich verstehe es [ das Ermorden der Juden – G. H.] nicht, und keiner, der sich je damit beschäftigt hat, ist einer überzeugenden Deutung [...] auch nur nahe gekommen.“21 Wie sollen Eltern, Erzieher, Lehrer, Pfarrer, Journalisten, Politiker und Professoren aufklären, wenn sie bei den besten Fachleuten auf die Frage „Warum Auschwitz“ keine Antwort bekommen ? Die an den Erwachsenen verzweifelnden Schüler finden – kurz vor Unterrichtsbeginn – nicht einmal bei Wikipedia eine Lösung : „Nur mit Hitlers Erlaubnis, Billigung und Anordnung, so der weitgehende historische Konsens, konnten untergebene NS - Tätergruppen die Juden systematisch ausrotten. Gleichwohl ist weiter umstritten, welche Faktoren diese Eskalation maßgeblich verursachten.“22 Nicht jedoch Hitlers Motiv, sondern seine „Erlaubnis“ wird dann untersucht. Lediglich die Kontroversen um die tatsächlich nicht immer leicht zu entwirrenden Schritte ihrer Umsetzung werden ausgebreitet. So sehen die einen den Holocaust schon im Herbst 1939 in Vollzug.23 Andere bestreiten das frühe Töten in Polen nicht, meinen aber, dass es ganz endgültig erst im Dezember 1941 losgehe, weil da die USA in den Krieg eintreten.24 Doch der zeitliche Abstand zwischen seinen Schüssen erklärt ja nicht das Motiv eines Mörders. Da halten die Analytiker sich weiter bedeckt. Allerdings wirkt der Nestor unter all diesen Gelehrten – Léon Poliakov eben – am Ende seines Weges nicht mehr gar so pessimistisch. In seinem letzten Aufsatz „Les vraies raisons des crimes hitlériens“ („Die wirklichen Gründer der hit-
19 Vgl. Gunnar Heinsohn, Lexikon der Völkermorde, Reinbek bei Hamburg 1999. 20 Etwa Joachim Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1963; ders., Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1973; ders., Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981, Reinbek bei Hamburg 2006. 21 Ders., „Mitleidlosigkeit bis zum allerletzten Punkt“. In : Die Welt vom 10. 9. 2004, S. 3. 22 Wikipedia, „Holocaustforschung“ ( http ://de.wikipedia.org / wiki / Holocaustforschung; November 2010). 23 Vgl. Peter Longerich, Die Eskalation der NS - Judenverfolgung zur ‚Endlösung‘. Herbst 1939 bis Sommer 1942. In : Symposium on the Origins of Nazi Policy, Gainesville / FL 1998. 24 Vgl. Hans Safrian, Die Eichmann - Männer, Wien 1993; Christian Gerlach, Die Wannseekonferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden. In : WerkstattGeschichte, 6 (1997) 18, S. 7–44; ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998.
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lerischen Verbrechen“) zitiert er – in seiner eigenen französischen Übersetzung – folgende Passage des Autors dieser Zeilen aus dem Jahre 1995 : „Hitler lässt keinen Zweifel an seinem Wissen, dass seine genozidalen ‚Methoden‘ archaischem Recht entsprechen. Eben deshalb will er das heidnische Recht der Antike wiederherstellen, das dem jüdischen Gesetz hatte weichen müssen. Am 6. August 1942 monologisiert er : ‚Ich kann mir denken, dass mancher sich heute an den Kopf greift : Wie kann der Führer nur eine Stadt wie Petersburg [ Leningrad ] vernichten ! Wenn ich erkenne, dass die Art in Gefahr ist, dann tritt an die Stelle des Gefühls eiskalte Vernunft: ich sehe nur noch die Opfer, welche die Zukunft fordert, wenn heute ein Opfer nicht gebracht wird. / Petersburg verschwindet. Hier muss man zu antiken Prinzipien übergehen, die Stadt muss total dem Erdboden gleichgemacht werden. [ Auch ] Moskau als Sitz der [ kommunistischen ] Lehre wird vom Erdboden verschwinden. / Ich empfinde nichts, wenn ich Kiew, Moskau und Petersburg dem Erdboden gleichmache‘25. / ‚Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung‘, droht Hitler bereits zu Beginn der dreißiger Jahre. Mit seiner Entscheidung für die Beseitigung des Judentums sollte dieses Genozidhindernis aus dem Wege geräumt werden.“26
Die komplette Passage stammt aus Warum Auschwitz ?, das der Autor – zwei Jahre nach einer Erstfassung seiner Holocaust - These in Essayform27 – 1995 veröffentlich hatte.28 Der Psychoanalytiker Béla Grunberger (1903–2005) schließt sich wie Poliakov dieser These bald an.29 Ihn interessiert aber vorrangig des Autors Sicht vom abendländischen Judenhass als Ausdruck des Konflikts zwischen dem sohnesverschonenden Gott Abrahams und dem sohnesopfernden Gott der Christen.30 Der katholische Intellektuelle Carl Amery (1922–2005) fußt 1998 mit seinem Buch Hitler als Vorläufer ebenfalls auf Warum Auschwitz? Bis jedoch mit Dan Stone ( University of London ) ein Holocaustforscher im engeren Sinne die Holocausterklärung aus Warum Auschwitz ? adaptiert,31 vergeht ein halbes Jahrzehnt.32 2005 folgt Rolf Zimmermann mit Philosophie nach
25 Albert Speer, Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzung mit der SS, Stuttgart 1981, S. 422. Bibliographische Angabe nicht in Poliakovs Übersetzung des Heinsohn - Originals von 1995 ( siehe unten FN 28). 26 Léon Poliakov, Les vraies raisons des crimes hitlériens. In : L’Infini. Littérature, Philosophie, Art, Science, Politique, 46 (1996), S. 76–79, hier 77. 27 Vgl. Gunnar Heinsohn, Umweltapokalyptiker und Ökokrieger. Die Zukunft des Völkermords. In : Joachim Wilke ( Hg.), Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt „Natur im Kopf“, Stuttgart, 21.–26. Juni 1993, Band 1 : Problemata. Hg. vom Kulturamt des Landeshauptamtes Stuttgart, Stuttgart - Bad Cannstatt 1993, S. 225–260. 28 Vgl. Gunnar Heinsohn, Warum Auschwitz ? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 164 f. 29 Vgl. Béla Grunberger / Pierre Dessuant, Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung, Stuttgart 2000. 30 Zuerst Gunnar Heinsohn, Was ist Antisemitismus ? – Der Ursprung von Monotheismus und Judenhaß, Frankfurt a. M. 1988. 31 Vgl. ders., What Makes the Holocaust a Uniquely Unique Genocide ? In : Journal of Genocide Research, 2 (2000) 3, S. 411–430. 32 Vgl. Dan Stone ( Hg.), Theoretical Interpretations of the Holocaust, Amsterdam 2001, S. 94 f.
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Auschwitz. Jonathan C. Friedman ( University of Maryland, College Park ) übernimmt die Gedanken 2011 in The Routledge History of the Holocaust.33 Der Autor hat also nicht viel vorzuweisen an Überzeugungskraft für die Kollegen. Aber worum geht es ? Kein Zweifel besteht auch für den Autor damals daran, dass der Judenmord vor Kriegsbeginn beschlossen ist. Der Geheimbefehl (21. 9.1939) von Reinhard Heydrich (1904–1942) – als Chef des SS - „Reichssicherheitshauptamtes“ Hitlers Tatwerkzeug, nicht aber sein Motivgeber – nur drei Wochen nach Kriegsbeginn setzt Vorarbeiten ja voraus. Raoul Hilberg (1926–2007) berichtet, dass nicht einmal er seinen Führer verstanden habe : „Heydrich sagte zu ihm [ Adolf Eichmann, 1906–1962] : Der Führer hat nun die physische Ausrottung des jüdischen Volkes beschlossen. Und selbst Heydrich scheint beunruhigt gewesen zu sein. Selbst er konnte die Konsequenz dieser Worte nicht ganz verstehen.“34 Gleichwohl gibt er den Vernichtungsbefehl heraus : „An die Chefs aller Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei Betrifft : Judenfrage im besetzten [ polnischen ] Gebiet. Ich nehme Bezug auf die heute in Berlin stattgefundene Besprechung und weise noch einmal darauf hin, daß die geplanten Gesamtmaßnahmen ( also das Endziel ) streng geheim zu halten sind. Es ist zu unterscheiden zwischen 1. dem Endziel ( welches längere Fristen beansprucht ) und 2. den Abschnitten der Erfüllung des Endzieles ( welche kurzfristig durchgeführt werden ). Die geplanten Maßnahmen erfordern gründlichste Vorbereitung sowohl in technischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Es ist selbstverständlich, dass die heranstehenden Aufgaben von hier in allen Einzelheiten nicht festgelegt werden können. Die nachstehenden Anweisungen und Richtlinien dienen gleichzeitig dem Zwecke, die Chefs der Einsatzgruppen zu praktischen Überlegungen anzuhalten.“35
Selbst die vermeintliche Eigenmächtigkeit, mit der SS - Führer gegen Hitlers Willen oder doch ohne sein Wissen den Holocaust in einen sich verselbständigenden Prozess ver wandelt hätten, wird hier als Aufforderung „zu praktischen Überlegungen“ direkt anbefohlen.
33 Vgl. Jonathan C. Friedman ( Hg.), The Routledge History of the Holocaust, London 2011, S. 509. 34 Raul Hilberg, Podiumsdiskussion. In : Eberhard Jäckel / Jürgen Rohwer ( Hg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlußbildung und Verwirklichung, Stuttgart 1985, S. 187. 35 Schnellbrief Heydrichs an die Chefs der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei vom 21. September 1939, die „Judenfrage“ in den besetzten Gebieten Polens betref fend (http ://forum.ioh.pl / download.php ?id=65003&sid=da446dc1a4f1064e25c40689840 351d4).
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Hitlers Holocaust-Motiv
II.
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Hitlers unstrittige Motive für die anderen Großtötungen
Die erste große Opfergruppe Hitlerdeutschlands – mehr als 100 000 Tote ab September 1939 von über 300 000, die es eigentlich treffen sollte – wird vernichtet, weil sie als kostspielige Belastung und damit Schwächung der Nation von innen gesehen wird.36 Behinderte werden – zuerst in Polen – überall in den Grenzen des angestrebten Großreiches getötet. Die Behinderten außerhalb desselben aber werden kein Angriffsziel. Als eine weitere große Opfergruppe werden Sinti und Roma – mit Zwangssterilisationen ab 1934, Deportationen seit 1936 und mindestens 200 000 Toten bis 1945 – ermordet, weil sie – obwohl unbestrittene Indo - Arier – als soziale Kostgänger gelten. Roma außerhalb der Grenzen des angestrebten Großreiches werden nicht getötet. Das gilt auch für ausgewählte Kontingente innerhalb seiner Grenzen, obwohl der sogenannte Auschwitz - Erlass Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942 als Anweisung zur Endlösung nicht überinterpretiert ist.37 Als Menschen, die dem Verdacht unterliegen, sich kaum oder überhaupt nicht fortzupflanzen und sogar andere in diese Richtung ‚anzustecken‘, werden Homosexuelle verfolgt. 5 000 bis 15 000 werden seit 1935 unter dem Stigma des Rosa Winkel in Konzentrationslager verschleppt. Zwischen 50 und 60 Prozent von ihnen kommen um. Eine Ermordung aller Homosexuellen innerhalb des Reiches oder gar jenseits seiner Grenzen ist gleichwohl nicht vorgesehen.38 Die absolut größte Opfergruppe Hitlerdeutschlands bilden die Slawen. Der „Generalplan Ost“39 hat über 150 Millionen im Visier, aus der UdSSR allein 100 Millionen. Rund 11 Millionen – ohne im Kampf gefallene Soldaten – kommen seit September 1939 um. Sie leben in Territorien, die „Lebensraum“ für 30 Millionen deutsche Siedler werden sollen. Slawen außerhalb der Grenzen des angestrebten Großreiches werden nicht verfolgt. Das gilt auch für germanisierte Slawen ( Ruhrpolen etc.), die sogar selbst Siedler werden können.40 Die wohl kleinste Gruppe von Verfolgten bilden 25 000 bis 30 000 Bibelforscher bzw. Zeugen Jehovas, die nicht einmal 0,04 Prozent der Reichsbevölkerung ausmachen. Ihre strikte Befolgung des jüdischen Tötungsverbotes mit der Konsequenz der Kriegsdienstver weigerung wird als ihr schwerstes Delikt geahndet. Fast die Hälfte aller Bibelforscher erleidet Strafverfolgung und Haft. 36 Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS - Staat : Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1983. 37 Verbreitet als Schnellbrief des Reichskriminalpolizeiamts vom 29. Januar 1943. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 301 ff. 38 Vgl. Rüdiger Lautmann / Winfried Grikschat / Egbert Schmidt, Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In : Rüdiger Lautmann ( Hg.), Seminar Gesellschaft und Homosexualität, Frankfurt a. M. 1977, S. 325 ff. 39 Vgl. Czeslaw Madajczyk ( Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan. Dokumente, München 1994. 40 Vgl. Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse - und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003.
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Gunnar Heinsohn
2 000 werden – gekennzeichnet mit einem lila Winkel – in Konzentrationslager verbracht. Rund 1500 kommen um. 270 von ihnen werden wegen Ver weigerung des Kriegsdienstes hingerichtet.41 Weil sie auch den Antisemitismus ablehnen, sind die gegen die Bibelforscher gerichteten ideologischen Angriffe den antijüdischen am ähnlichsten. Hitlerdeutschlands zweitgrößte Opfergruppe, die umgehend ab 1933 verfolgt wird und am Ende über fünfeinhalb Millionen Menschen verliert, soll überall umgebracht werden. Auch in Gebieten, die nicht Teil des Reiches werden sollen ( Ungarn, Frankreich, Balkan etc.), werden sie getötet. Über Hitlers Motiv hinter diesem Massenmord fehlt bisher ein Konsens : „Man wird sich noch einmal Hitler zuwenden müssen. [...] An der Spitze stand Hitler allein !“42
III.
Hitlers eigener Hass auf das Judentum
Aus seiner österreichischen Zeit (1889–1913) „ist keine antisemitische Bemerkung des jungen H.[ itler ] überliefert. / Die entscheidende Frage aber, wann der Antisemitismus für H. zum Kern - und Angelpunkt wurde, kann aus seiner Linzer und Wiener Zeit nicht beantwortet werden. Diese Entwicklung ist späteren Jahren zuzuordnen. Als Hitler 1919 als Politiker in München in Erscheinung trat, operierte er bereits mit aggressiven antisemitischen Parolen.“43 Seit diesem Befund gilt die Frage nach dem Inhalt von Hitlers eigenem Judenhass als „unbeantwortet und womöglich unbeantwortbar“.44 Zu dieser Verzweif lung der Gelehrten trägt natürlich bei, dass der junge Hitler in Österreich jüdische Künstler bewundert, Zionisten gegen Antisemiten verteidigt, gerade nicht von jüdischen Händlern hintergangen wird, deshalb nur ihnen seine gemalten Kleinigkeiten zum Verkauf überlässt und auch an der Kunstakademie nicht von jüdischen Professoren abgelehnt wird. Noch 1938 – nach dem „Anschluss“ Österreichs – kümmert Hitler sich persönlich um die sichere Passage des verehrten Linzer Familiendoktors Eduard Bloch (1872–1945) nach Amerika.45 Was sagt nun ein Hitler ohne persönlichen Geifer gegen Juden bereits 1920 – nach dem ähnlich gehaltenen Gemlich - Brief vom 16. 9. 1919 ?46 „Denken Sie nicht, dass Sie eine Krankheit bekämpfen können, ohne den Erreger zu töten, ohne den Bazillus zu vernichten, und denken Sie nicht, dass Sie die Rassentuber41 42 43 44 45 46
Vgl. Gerald Hacke, Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR. Feindbild und Verfolgungspraxis, Göttingen 2011. Eberhard Jäckel, Der SS - Intellektuelle. Bedurfte es keiner Befehle Hitlers, um die Vernichtungspolitik in die Welt zu setzen ? [ Rezension von Herbert, Best ]. In : Die Zeit vom 29. 3. 1996, S. 18. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996, S. 498–502. Joachim Fest, „Der Auftrag kam von Hitler“. In : Die Woche vom 29. 11. 1996, S. 38– 39, hier 38. Vgl. Hamann, Hitlers Wien, S. 56 ff. Vgl. Eberhard Jäckel / Axel Kuhn ( Hg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 88 ff.
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kulose bekämpfen können, ohne zu sorgen, dass das Volk frei wird von dem Erreger der Rassentuberkulose. Das Wirken des Judentums wird niemals vergehen, solange nicht der Erreger, der Jude, aus unserer Mitte entfernt ist.“47 Dass mit dieser „Krankheit“ bzw. „Rassentuberkulose“ kein rassistisch - biologistischer Antisemitismus gemeint ist, wird schon daran deutlich, dass es keinen generellen Hass Hitlers auf Semiten gibt. So werden die arabisch - „semitischen“ Palästinenser eingeladen, beim Holocaust zu helfen und ihr Führer Mohammed Amin al - Husseini (1893–1974) macht besessen mit.48 Auf Husseinis Veranlassung von 1943 betreibt „Reichsleiter“ Alfred Rosenberg (1893– 1946) sogar das Verbot des Terminus Antisemitismus : „Mit der Ver wendung dieses Wortes wird immer die arabische Welt getroffen, die nach Aussagen des Großmufti überwiegend deutschfreundlich ist. Das feindliche Ausland benutzt den Hinweis, dass wir mit dem Wort ‚Antisemitismus‘ arbeiten und damit auch bekunden wollen, dass wir die Araber mit den Juden in einen Topf werfen.“49 Dass mit „Rassentuberkulose“ etwa Geistiges und nicht etwas Biologisches, also keine Furcht vor genetischem Absinken durch Mischehen mit Juden gemeint ist, unterstreicht Hitler noch in einer seiner letzten Bekundungen (3. Februar 1945). Dabei macht er auch deutlich, dass ihm „Arier“ oder „Germanen“ keineswegs als permanent höher zu züchtender Gipfel der menschlichen Spezies gelten :50 „Ich war nie der Meinung, dass etwa Chinesen oder Japaner rassisch minder wertig wären. [...] Ich gebe zu, dass ihre Tradition der unsrigen überlegen ist. / Unser nordisches Rassebewusstsein ist nur gegenüber der jüdischen Rasse aggressiv. Dabei reden wir von jüdischer Rasse nur aus sprachlicher Bequemlichkeit, denn [...] vom genetischen Standpunkt aus gibt es keine jüdische Rasse. Die Verhältnisse zwingen uns zu dieser Kennzeichnung einer rassisch und geistig zusammengehörigen Gruppe, zu der die Juden in aller Welt sich bekennen, ganz gleichgültig, welche Staatsangehörigkeit der Pass für den einzelnen ausweist. Diese Menschengruppe bezeichnen wir als die jüdische Rasse. [...] Die jüdische Rasse ist vor allem eine Gemeinschaft des Geistes. / Geistige Rasse ist härter und dauerhafterer Art als natürliche Rasse. Der Jude, wohin er auch geht, er bleibt ein Jude [...] und muss uns als ein trauriger Beweis für die Überlegenheit des ‚Geistes‘ über das Fleisch erscheinen.“51
47 Ebd., S. 178 f. 48 Vgl. Klaus Gensicke, Der Mufti von Jerusalem und die Nationalsozialisten. Eine politische Biographie Amin el - Husseinis, aktualisierte, vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe Darmstadt 2007; David G. Dalin / John F. Rothmann, Icon of Evil. Hitler's Mufti and the Rise of Radical Islam, New York 2008. 49 „Die Benutzung des Begriffs hat zu unterbleiben“ ( http ://www.ns-archiv.de / verfolgung/ antisemitismus / begriff_abschaffen.php ). 50 So etwa Richard Weikart, Hitler’s Ethic. The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress, New York 2009. 51 Hugh Trevor - Roper / André Francois - Poncet ( Hg.), Hitlers Politisches Testament. Die Bormann Diktate vom Februar und April 1945, Hamburg 1981, S. 66–69 [Hervorhebungen G. H.].
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Gleichwohl ist Hitler nicht ohne Rassismus. In reinster Form richtet er sich gegen Schwarzafrikaner. Rund 2 000 aus seinem Herrschaftsbereich werden in Internierungslager gebracht, wo viele aufgrund der brutalen Bedingungen umkommen. Massenerschießungen oder Vergasungen gibt es nicht.52 Andere überleben den Krieg in Berlin – etwa als Unterhaltungskünstler für Afrikafilme. Rund 400 Afrodeutsche werden bis 1937 zwangssterilisiert.53 Für Afrika wird in den zurückzuerobernden deutschen Kolonien Apartheid vorgesehen. Eine mörderische „Endlösung der Negerfrage“ aber ist nicht geplant.54 Hitler macht unmissverständlich deutlich, dass es ihm beim Kampf gegen das Judentum um etwas anderes geht als bei seiner Abwertung von Schwarzafrikanern. Er handelt sie nämlich zusammen ab : „Von Zeit zu Zeit wird in Illustriertenblättern dem deutschen Spießer vor Augen geführt, dass da und dort zum ersten Mal ein Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja Heldentenor oder dergleichen geworden ist. Während das blödselige Bürgertum eine solche Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, / versteht der Jude sehr schlau daraus einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner den Völkern einzutrichternden Theorie von der Gleichheit der Menschen zu konstruieren. Es dämmert dieser verkommenen bürgerlichen Welt nicht auf, / dass es ein verbrecherischer Wahnwitz ist, einen geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus ihm einen Advokaten gemacht zu haben.“55
Wenn Hitler mit jüdischer „Rassentuberkulose“ nichts Biologisches meint, sondern an „geistige Rasse“ denkt, die andere Geisteshaltungen „zersetzen“ könne, was könnte dann ihr wichtigstes Merkmal sein ? Aktuelle Deutungen können sich darunter nichts Konkretes vorstellen, glauben sogar, dass Hitler Juden als „biologisch unmoralisch“ („biologically immoral“) einschätzt und mit ihrer Vernichtung „die Unmoral aus der Welt entfernen“ („would rid the world of immorality“) wolle.56 Andere sind überzeugt, dass mit „geistiger Rasse“ auf keinen Fall etwas Religiöses gemeint sei, die Juden in Hitlers Tagen sogar erstmals „nicht wegen ihres Glaubens verfolgt“ („It was not for their faith that the Jews were persecuted in Hitler’s day“) würden.57 Was aber ist denn die moralische Basis der jüdischen Religion ? Ihre Kurzformel hat sie in Hosea 6 :6 : „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer“. Ihre wuchtigste Forderung lautet „Du sollst nicht töten“ (2. Mose 20 :13 u. 5. Mose
52 Vgl. Bettina Schäfer, Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe. In : Michèle Maillet, Schwarzer Stern, Berlin 1994, S. 187–188, hier 188. 53 Vgl. May Opitz, Rassismus, Sexismus und vorkoloniales Afrikabild in Deutschland. In : Katharina Oguntoye / May Opitz / Dagmar Schultz ( Hg.), Farbe bekennen. Afro - deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 17–64, hier 58. 54 Vgl. Clarence Lusane, Hitler’s Black Victims. The Experiences of Afro - Germans, Africans, Afro - Europeans and African Americans during the Nazi Era, New York 2002. 55 Adolf Hitler, Mein Kampf (1925/27), „Volksausgabe“ in einem Band, München 1930, S. 478 f. 56 Weikart, Hitler’s Ethic, S. 198. 57 Leni Yahil, The Holocaust. The Fate of European Jewry, 1932–1945, New York 1990, S. 5.
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5 :17). Ihr Menschenschutz ist am schwersten zu befolgen : „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst“. (3. Mose 19 :33–34). Das Credo, auf das sich alle jüdischen Richtungen einigen, verdichtet sich in der sogenannten „goldenen Regel“ : „Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute. / Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen : Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst“ (5. Mose 30 :15/19). Schon im Altertum gibt es Staunen aus anderen Völkern über das Prinzip der Lebensheiligkeit. Gegen 300 v. u. Z. kontrastiert Hekataeus von Abdera das jüdische Kindestötungsverbot mit dem griechischen Recht auf Aussetzung und Infantizid.58 Im 1. Jahrhundert u. Z. schreibt Tacitus über die Juden : „Es ist eine tödliche Sünde, ein ungewolltes Kind zu töten.“59 Erkennt Hitler „jüdischen Geist“ vielleicht gerade in dieser Bestimmung ? Auf dem Nürnberger Parteitag von 1929 wendet er sich direkt gegen das jüdische – und seit Konstantin dem Großen auch christliche – Gesetz des Lebensschutzes: „Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700 000 bis 800 000 der Schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein. Das Gefährlichste ist, dass wir selbst den natürlichen Ausleseprozess abschneiden [ durch Pflege der Behinderten und Schwachen – G. H.]. Der klarste Rassestaat der Geschichte, Sparta, hat diese Rassegesetze planmäßig durchgeführt.“60 Schon in Mein Kampf (1925) verdammt er die Ethik der Lebensheiligkeit : „Es ist nicht zufällig in erster Linie immer der Jude, der solche todgefährlichen Gedankengänge [ der Geburtenkontrolle und Erhaltung jeden neugeborenen Kindes – G. H.] in unser Volk hineinzupflanzen versucht und versteht.“61 Die erste – von Hitler persönlich abgezeichnete – Großtötung trifft „Vollarier“, die als Behinderte oder Schwerstverletzte des Überfalls auf Polen (1. 9. 1930) in seinem Machtbereich leben. Gegen diese „Euthanasie“ gibt es durchaus Widerstand. So wehrt sich Eugen Stähle (1890–1948) als Hitlers Beauftragter für die Tötung von Behinderten in der württembergischen Anstalt Grafeneck am 4. Dezember 1940 gegen den Stuttgarter Oberkirchenrat Reinhold Sautter (1888–1971). Dieser an sich national gesinnte Mann hält ihm in einem privaten Gespräch die „Tötung lebensunwerten Lebens“ als Bruch der Zehn Gebote vor. Stähle antwortet : „Das 5. Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ ist gar kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung.“62 58 Menahem Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Vol. 1 : From Herodotus to Plutarch, Jerusalem 1976, S. 29. 59 Ders., Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Vol. 2 : From Tacitus to Simplicius, Jerusalem 1980, S. 26. 60 Hans - Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945, Göttingen 1992, S. 152. 61 Hitler, Mein Kampf, S. 149. 62 Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 321.
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Nun mag man einwenden, dass Stähle nicht Hitler sei. Doch der württembergische Ministerialrat ist ansonsten für Beschäftigungen mit der Geschichte des Tötungsverbotes nicht bekannt. Für Hitler gilt das nicht, so dass aus Stähle durchaus eine Sprachregelung von ganz oben sprechen kann. Wenn sie nicht von daher kommen soll, müsste man eine andere Quelle dingfest machen. Gleichwohl kann man nicht behaupten, dass Hitler die Passage Philos ( ca. 15 v. u. Z. – 40 u. Z.) zum jüdischen Infantizidverbot kennt : „Untersagt ist [ uns Juden] die Aussetzung von Kindern – ein Frevel, der bei zahlreichen anderen Völkern infolge ihrer angeborenen Menschenfeindlichkeit gang und gäbe ist. [...] Es müsste denn einer so töricht sein zu glauben, dass gegen Fremde diejenigen sich freundlich zeigen werden, die an den durch Abstammung mit ihnen Verbundenen treulos gehandelt haben. Als Totschläger und Kindermörder aber geben sich durch die klarsten Beweise die zu erkennen, die selbst Hand an sie anlegen.“63 Dass schon Philo das Tötungsverbot nicht mehr versteht, sondern idealisiert, kann hier nicht weiter dargelegt werden. In der Sicht des Autors erwächst es aus dem Verbot des Kindesopfers, das polytheistische Alt - Israeliten, die monotheistische Juden nicht werden wollen, unter dem Deckmantel des Geburtenkontroll - Infantizids umgehen könnten.64 Wenn nicht von Stähle, sondern von Hitler selbst die Attacke auf das Tötungsverbot als „jüdische Erfindung“ ausgeht, dann muss man zum Danziger Senatspräsidenten (1933/34) Hermann Rauschning (1887–1982) zurück, der 1932 in die NSDAP eintritt, sie 1934 wieder verlässt und in der Zwischenzeit bis zu 13- mal mit Hitler zusammentrifft.65 Zur Authentizität der Äußerungen Hitlers in Rauschnings Gespräche mit Hitler (1988 [1940]) gibt es in der wissenschaftlichen Beurteilung ein ausgeprägtes pro und contra. Die etablierte Geschichtsschreibung verteidigt die Grundsubstanz seiner Berichte.66 Andere Autoren – darunter weit rechts stehende67 – lehnen ihn als Quelle vollkommen ab.68 Etliche Autoren zitieren Rauschning deshalb gar nicht mehr, während andere ihn cum grano salis heranziehen. Dass Rauschning keine Mitschriften seiner Begeg63 Philo, Über die Einzelgesetze, 3, XX : 110–119 ( http ://www.earlyjewishwritings.com/ text / philo / book29.html). 64 Vgl. Gunnar Heinsohn, Theorie des Tötungsverbotes und des Monotheismus bei den Israeliten sowie der Genese, der Durchsetzung und der welthistorischen Rolle der christlichen Familien - und Fortpflanzungsmoral. In : Joachim Müller / Bettina Wassmann (Hg.), L’invitation au voyage zu Alfred Sohn - Rethel. Festschrift für Alfred Sohn - Rethel zum 80. Geburtstag, Bremen 1979. Gunnar Heinsohn, Die Erschaffung der Götter : Das Opfer als Ursprung der Religion, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 147 ff. 65 Vgl. Theodor Schieder, Herrmann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ als Geschichtsquelle, Opladen 1972. 66 Ebd.; Martin Broszat, „Enthüllung ? Die Rauschning - Kontroverse“. In : ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Vergangenheit, München 1988. 67 Siehe etwa Wolfgang Hänel, Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ – Eine Geschichtsfälschung, Ingolstadt 1984. 68 Siehe auch Fritz Tobias, Auch Fälschungen haben lange Beine. Des Senatspräsidenten Rauschnings „Gespräche mit Hitler“. In : Karl Corino ( Hg.), Gefälscht ! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, Nördlingen 1988, S. 91–105.
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nungen mit Hitler liefert und in seinem Text eigene Interpretationen stecken, ist für alle an der Kontroverse Beteiligten unstrittig. Hier wird weder der einen – „weitgehend richtig“ – noch der anderen Extremposition – „alles frei erfunden“ – gefolgt. Passagen jedoch, die ähnlich auch aus anderer Quelle bekannt sind, werden herangezogen. Wollte man bei Rauschning referierte – typisch rechts nietzscheanische – Gedanken Hitlers zur Gewissensbildung durch das Judentum als Quelle einfach verwerfen, müsste man Rauschning selbst zum Schöpfer dieser Überlegungen erklären. Immerhin ist das Manuskript der 1940 erschienenen Gespräche schon 1939 – also noch vor den großen Tötungen – fertig. Sie wirken deshalb viel harmloser als das, was dann wirklich passiert : „Diffamierung hat das Buch keinesfalls verdient. Es stellt in Teilen, vor allem in den beiden Schlusskapiteln, eine Mischform zwischen Literatur und historischer Quelle dar (vielleicht hilft ein Vergleich mit den Werken Alexander Kluges weiter ), dies in einer Einzigartigkeit, die auch der Tatsache geschuldet ist, dass sie in den Jahren 1933/34 angesiedelt ist und von einem Protagonisten eines exponierten Gebietes verfasst wurde. Dass das Buch in Verruf geriet, geht zum Teil auf seine anfänglich viel zu unkritische, weil vielleicht auch bequeme Verfügbarkeit als Zitatensteinbruch für Historiker zurück. ‚Von sensationeller Begeisterung zu skandalumwitterter Verdammung‘ könnte man als Leitsatz für die Rezeptionsgeschichte ausgeben. Dabei handelt es sich um eine historische Quelle eines intelligenten Beobachters, der die Substanz des Diktators und seines Werkes lange vor dessen Ende intuitiv auf den Punkt brachte.“69
Aus den Begegnungen mit Hitler destilliert Rauschning : „Dieses teuf lische ‚Du sollst, du sollst !‘ Und dieses dumme ‚Du sollst nicht !‘ Es muss heraus aus unserem Blut, dieser Fluch vom Berg Sinai ! [...] Der Tag wird kommen, an dem ich gegen diese Gebote die Tafeln eines neuen Gesetzes aufrichten werde. Und die Geschichte wird unsere Bewegung als die große Schlacht für die Befreiung der Menschheit erkennen, Befreiung vom Fluch des Sinai. [...] Dagegen kämpfen wir : gegen den masochistischen Geist der Selbstquälerei, gegen den Fluch der sogenannten Moral, die man zum Idol macht, um die Schwachen vor den Starken zu schützen, angesichts des ewigen Kampfes, des großen Gesetzes der göttlichen Natur. Gegen die sogenannten Zehn Gebote kämpfen wir.“70 Die wenigen Großen im Reich, die dem Diktator entgegen treten, scheinen ihn zu begreifen. Und es ist auffällig, dass die Kirchenleute unter ihnen nicht ihre christliche Seite ins Feld führen, sondern die jüdische Ethik, der auch sie sich verpflichtet fühlen. Da wird also nicht „Jesus ist für mich gestorben“ gesäuselt, sondern prophetisch gedonnert. So greift Münsters Bischof Clemens August von Galen (1878–1946) am 3. August 1941 Hitler in öffentlicher Predigt für die Ermordung der Behinderten an : „Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volke, wenn das hl. Gottesgebot : ‚Du sollst nicht töten‘, das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott, unser Schöpfer, 69 Bernd Lemke, Rezension zu : Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler. Mit einer Einführung von Marcus Pyka, Zürich 2005. In : H - Soz - u - Kult vom 2. 8. 2006 ( http:// hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / rezensionen /2006–3–081). 70 Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Wien 1988, S. 210.
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von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird.“71 Hitler erachtet das jüdische Tötungsverbot und seinen Gewissensabkömmling aber nicht allein als Beschränkung seiner internen Bevölkerungspolitik gegen Behinderte, sondern mehr noch als Beeinträchtigung seiner externen Eroberungs - und Ausmordungspläne. So ist er überzeugt (11. 11. 1941), dass der Erste Weltkrieg vor allem wegen frommer Rücksichtnahme verloren gegangen sei : „Im Weltkrieg haben wir es erlebt: der Staat, der einzig religiös war, war Deutschland; und gerade der Staat hat verloren.“72 Schon vor seinem Angriff auf Polen brüstet er sich (11. August 1939) vor dem Hohen Kommissar des Völkerbundes für Danzig, dem Schweizer Carl Jacob Burckhardt (1891–1974) : „Wenn ich Krieg zu führen habe, würde ich lieber heute als morgen Krieg führen. Ich würde ihn nicht wie das Deutschland Wilhelms II. führen, das ständig Gewissensqualen wegen der vollständigen Anwendung seiner Waffengewalt hatte. Ich werde bis zum letzten rücksichtslos kämpfen.“73 Da seine Megatötungen Richtung Osten zwei bis dreistellige Millionenzahlen anstreben, kreist Hitler immer wieder um diesen Gigantismus : „‚Lächerliche hundert Millionen Slawen werden wir absorbieren oder [ nach Sibirien ] verdrängen. Wenn hier einer von Betreuen spricht, den muss man gleich ins KZ stecken‘.“74 Er weiß, dass er dafür die völkerrechtlichen Bestimmungen der jüdischchristlichen Epoche rückgängig machen muss : „Wir haben die Pflicht zu entvölkern, wie wir die Pflicht der sachgemäßen Pflege der deutschen Bevölkerung haben. Es wird eine Technik der Entvölkerung entwickelt werden müssen. Was heißt entvölkern, werden Sie fragen. Ob ich ganze Volksstämme beseitigen wolle ? Jawohl, so ungefähr, darauf wird es hinauslaufen. / Es wird eine der wichtigsten Aufgaben einer deutschen Politik für alle Zeiten sein, das weitere Wachstum der slawischen Völker mit allen Mitteln zu verhindern. Der natürliche Instinkt gebietet jedem Lebewesen, seinen Feind nicht bloß zu besiegen, sondern ihn zu vernichten. In früheren Zeitaltern gab es das gute Recht des Siegers, ganze Stämme, ganze Völker auszurotten. / Unsere Revolution ist nicht bloß eine politische und soziale. Wir stehen vor einer ungeheuren Umwälzung der Moralbegriffe und der geistigen Orientierung des Menschen. Mit unserer Bewegung ist erst das mittlere Zeitalter, das Mittelalter, abgeschlossen. Wir beenden einen Irrweg der Menschheit. Die Tafeln vom Berge Sinai haben ihre Gültigkeit verloren. Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung.“75
71
Heinrich Portmann, Kardinal von Galen. Ein Gottesmann seiner Zeit. Mit einem Anhang : Die drei weltberühmten Predigten [1948], Münster 1961, S. 357. 72 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe mit bisher unbekannten Selbstzeugnissen Adolf Hitlers, Abbildungen, Augenzeugenberichten und Erläuterungen des Autors : Hitler wie er wirklich war, Stuttgart 1976, S. 77. 73 Ernst Deuerlein, Hitler. Eine politische Biographie, München 1969, S. 144. 74 6. 8. 1942, wiedergegeben bei Speer, Der Sklavenstaat, S. 422. 75 Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 129 f., 210.
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Friedrich Nietzsches (1844–1900) Original zum „Gewissen“ – Die Fröhliche Wissenschaft (1887) – liest Hitler 1924 in der Landsberger Festungshaft : „Sünde ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum darauf aus, die ganze Welt zu ‚verjüdeln‘.“76 Nietzsche vertieft diesen Befund im selben Buch um ein Verständnis dessen, was die Psychoanalyse später Sublimierung der Triebe nennen wird, wenn er die Juden als „das moralische Genie unter den Völkern“ bezeichnet, weil „sie den Menschen in sich tiefer verachtet haben als irgendein Volk“.77 Hitler sucht in der Geschichte nach Mustern für Tötungen, die erst in der Neuzeit als Menschheitsverbrechen unter Strafe gelangen. Er will vor die Epoche zurück, in der ein Franciscus de Vittoria (1486–1546) im Jahre 1539 fordern kann : „Als erster Rechtstitel kann die natürliche Gesellschaft und Gemeinschaft aller Menschen angerufen werden. / Was ist im gerechten Krieg gegen Unschuldige erlaubt ? Erstens. ‚Den Unschuldigen und Gerechten sollst Du nicht töten‘ [2. Mose 23 :7 – G. H.]. / Es ist in einem Staat nicht zulässig, für die Verbrechen der Übeltäter, Unschuldige zu bestrafen. Daher ist es auch nicht zulässig, für das Unrecht von Übeltätern bei den Feinden Unschuldige zu töten. / Auch wenn der Fürst die Macht zur Kriegführung hat, so darf er doch nicht zu allererst Gelegenheiten und Gründe für den Krieg suchen, sondern ‚womöglich mit allen Menschen Frieden halten‘, wie Paulus vorschreibt [ Römer 12:18 – G. H.]. Er soll aber auch immer wieder daran denken, dass die anderen unsere Nächsten sind, die wir wie uns selbst lieben müssen [3. Mose 19 :18/33 f. Markus 12 :31 – G. H.] / Ist der Krieg schon einmal aus gerechten Gründen heraus entstanden, so darf er nicht zur Vernichtung des Volkes, gegen das er gerichtet ist, geführt werden.“78
Wenn Hitlers Bewegung ein „Mittelalter“ abschließt, dann teilt er die Historie in drei Epochen ein, in deren letzterer sein eigenes Gesetz gelten soll. Dabei reicht das 1. Weltzeitalter bis zum Erlass des Moses - Gesetzes am Sinai und sei von einem allgemeinen Recht auf Völkeraustilgung bestimmt gewesen. Das 2. Weltzeitalter von Moses’ Sinaigesetz bis hin zu Hitler sei durch eine sträf liche Zurückdrängung des Rechts auf Ausrottung zwischen den Völkern und des Rechts auf Auslese der Neugeborenen à la Sparta innerhalb des Volkes belastet gewesen. Das 3. Weltzeitalter beginne mit seiner Machtergreifung, die den Deutschen die Wiederherstellung der Rechte auf Infantizid und Genozid bringe. Denn – so verkündet er bereits im August 1930 : Der Jude „vernichtet in jedem Menschen den natürlichen Instinkt zur Selbsterhaltung“.79 Hitlers „Umwälzung“ der Moralbegriffe richtet sich mithin direkt gegen eine biblische Dreiteilung der Geschichte. In dieser ist das 1. Weltzeitalter die Aera 76 Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft [1882]. In : ders., Werke. Hg. von Karl Schlechta, 2. Band, Darmstadt 1966, Aphorismos 135. 77 Ebd., Aphorismos 136. 78 Franciscus de Vittoria, De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in Barbares [ Vorlesungen über die kürzlich entdeckten Inder und das Recht der Spanier zum Kriege gegen die Barbaren, 1539]. Hg. von Walter Schätzel, Tübingen 1952, S. 43. 79 Enrico Syring, Hitler. Seine politische Utopie, Berlin 1994, S. 42.
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ante legem ( Ära vor dem Gesetz ). Sie dauert vom Beginn des Menschengeschlechts bis zum Erlass der Zehn Gebote am Sinai. Das 2. Weltzeitalter ist die Aera sub lege ( Ära unter dem Gesetz ). Sie dauert von Moses bis Jesus. Das 3. Weltzeitalter ist die Aera sub gratia ( Ära unter der Gnade ). Sie dauert von der Fleischwerdung ( incarnatio ) des Herrn in Jesus bis zum Ende aller irdischen Tage. Hitler will mithin zurück in die heidnische Antike : „Schon im Altertum seien ganze Völker liquidiert worden. Volksstämme seien so nebenbei umgesiedelt worden, und die Sowjetunion habe ja gerade in letzter Zeit genügend Beispiele gegeben, wie man es machen könne.“80 Schuld am Untergang dieser Epoche sei die jüdische Ethik : „Der gleiche Jude, der damals das Christentum in die antike Welt eingeschmuggelt hat und diese wunderbare Sache umgebracht hat, er hat nun wieder einen schwachen Punkt gefunden : das angeschlagene Gewissen unserer Mitwelt. / Der Frieden kann nur kommen über eine natürliche Ordnung. Die Ordnung setzt voraus, dass die Nationen sich so ineinanderfügen, dass die Befähigten führen. Der Unterlegene erhält damit mehr, als er aus eigenem würde erreichen können. Durch das Judentum wird diese Ordnung zerstört.“81 Noch mitten im Siegen bleibt er besessen von der Vorstellung, dass schon ganz wenige Juden diese Erfolge unterminieren könnten. So beschwört er am 21. Juli 1941 den kroatischen Kriegsminister Slavko Kvaternik (1878–1947) : „Wenn auch nur ein Staat [ der Achse – G. H.] aus irgendwelchen Gründen eine jüdische Familie bei sich dulde, so würde diese der Bazillenherd für eine neue Zersetzung werden.“82 Erziehung soll solche Anfälligkeit zumindest für die Zukunft ausschalten. Die wehrfähigen Männer erhalten diese durch praktische Übung. Ihnen wird seit dem Angriff auf die Sowjetunion vom Juni 1941 garantiert, dass sie für Kriegsverbrechen nicht mehr juristisch belangt werden, also wie die Todesschwadronen der SS agieren dürfen, weil nun neue, also archaische Gesetze gelten. Schon am 13. Mai 1941 erhalten die Soldaten generelle Tötungserlaubnis : „Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.“83 Vorerst gilt noch die Einschränkung der Opfer auf Mitglieder der kommunistischen Partei ( Befehl vom 6. Juni 1941) : „Sie [ die Kommissare – G. H.] sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der
80 Hildegard von Kotze, Heeresadjutant bei Hitler 1938–1943. Aufzeichnungen des Majors Engel, Stuttgart 1974, S. 71. 81 Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, S. 106. 82 Andreas Hillgruber ( Hg.), Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler 1939–1942, Frankfurt a. M. 1967, S. 614. 83 Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“ und über besondere Maßnahmen der Truppe [ Kriegsgerichtsbarkeitserlaß ] vom 13. 5.1941 ( http ://www.1000dokumente.de / index.html ?c=dokument_de&dokument=0093_kgs& object=translation&st=&l=de ).
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Waffe zu erledigen. / Die Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen.“84 Hinter dem Befehl steht die Zuversicht, dass man Überzeugungen durch Tötung der Überzeugten ausschalten könne. Wilhelm Keitel (1882–1946) als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht sieht (23. September 1941) jedenfalls keine Probleme für eine solche Praxis. Für ihn handelt es sich bei der Tötung der Kommissare „um die Vernichtung einer Weltanschauung“, die er „billige“ und „decke“.85 Warum sollte die NS - Führung die entsprechende Ausschaltung der jüdischen Ethik für weniger machbar halten als die des Marxismus - Leninismus ? Aus dem Stand können die für die SS Ausgewählten töten, während in der Wehrmacht immer noch „verjüdelte“ Christen dominieren : „Diese ‚Aufgaben‘ [ Tötung der Kommissare – G. H.] seien so schwierig [ so Heydrich – G. H.], dass ‚man sie nicht dem Heer zumuten‘ könne.“86 Hitler beobachtet die zähen Fortschritte seiner Tötungsmoral genau und klagt am 18. Oktober 1942 : „Er wisse ja, dass man im Heer die gegebenen Befehle, wie z. B. den Kommissarbefehl, gar nicht od[ er ] nur zögernd befolgt habe. Schuld habe das Oberkommando, das aus dem Soldatenberuf möglichst einen Pastorenstand machen wolle. Wenn er seine SS nicht hätte, was wäre dann alles noch unterblieben ! Jodl erwidert, dass auch im Kriege internationale Vereinbarungen gelten, auch zum Wohl der eigenen Truppe.“87 Doch im Verlauf der Ostgenozide, die als Polen - und Rußlandfeldzüge falsch etikettiert sind, töten immer mehr einfache Soldaten mit. Niemand weiß, wie viele es sind. Doch bis zu 50 Prozent werden für möglich gehalten.88 Die Umformung der Wehrmacht zu einer SS – also aller deutschen Männer zu gewissenlosen Schlächtern – bleibt Ziel der „Entjudung“ und der Entfernung der jüdischen Seite des Christentums. Hitler erklärt deshalb im September 1943, dass die „SS das beste sei, was er seinem Nachfolger hinterlasse und ‚dass der Aufbau der Wehrmacht in den germanischen Ländern unter der Kontrolle der SS vor sich gehen müsste‘“.89 Gleichwohl weicht die Sorge vor „Zersetzung“ nicht. Deshalb wird der Nachwuchs schon lange vor der Wehrfähigkeit auf einen neuen Katechismus einge84 Hans Buchheim / Martin Broszat / Hans - Adolf Jacobsen / Helmut Krausnick, Anatomie des SS - Staates, München 1967, S. 501 f. [ Hervorhebungen G. H.]. 85 Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941, 3. Auf lage Bonn 1993, S. 530, FN 62. 86 Buchheim / Broszat / Jacobsen / Krausnick, Anatomie des SS - Staates, S. 452. 87 Kotze, Heeresadjutant bei Hitler 1938–1943, S. 130 f. 88 Vgl. Christian Hartmann, Krieg und Verbrechen – Zur Struktur des deutschen Ostheeres 1941–1944. In : Horst Möller / Aleksandr O. Cubar’jan ( Hg.), Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch russischen Beziehungen, Band 2, München 2005, S. 18–26, hier 18. 89 Bernd Wegner, Hitlers politische Soldaten. Die Waffen - SS 1933–1945, 4. durchgesehene und verbesserte Auf lage Paderborn 1990, S. 314.
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Gunnar Heinsohn
schworen, in dem das „Du sollst nicht töten“ vom Sinai durch ein archaisches Gebot vom „ewigen Kampf“ ersetzt wird : „Du sollst den Feind nicht schonen, sondern ihm mit grimmiger Wehr begegnen, denn er will von Dir erschlagen sein. Seine Aufgabe ist, dich zu stacheln, und deine Aufgabe : ihn zu bezwingen. Sorge nicht, dass deiner Feinde ein Ende wäre; es entstehen dir immer neue. Alles Geschmeiß ist überfruchtbar und wucherisch; darum zwingt es uns zur Bekämpfung.“90 Bei dieser Erziehung zur Entjudung wird nichts dem Zufall überlassen. Die Jungelite etwa, die es auf die Wewelsburg der SS schafft, speist von Tellern mit aufgemalten Totenköpfen und sammelt sich in Kapellen, deren Bankwangen ebenfalls mit Schädeln und Knochen verziert sind.91 Nie wieder soll diese Jugend vernehmen : „Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst“ (5. Mose 30 :15/19). Denn niemals zuvor sind Juden, die ihnen das sagen könnten, so entsetzlich für ihre Religion vernichtet worden.
IV.
Was soll die Judenvernichtung erreichen ?
Hitler will die archaischen Stammespraktiken des Infantizids und der Genozids wiederherstellen und dafür das Volk des Tötungsverbotes vom Sinai auslöschen. Bald nach dem Ersten Weltkrieg identifiziert er das Judentum als Verursacher für die ethische Überwindung dieser uralten Tötungssitten. Die Niederlage des Deutschen Reiches im Krieg von 1914–18 schiebt auf „religiöse Prinzipien“. Sie seien allein von deutscher Seite eingehalten worden, wodurch der Wille zum bedingungslosen Töten für den Sieg „zersetzt“ worden sei. Diese Analyse erstellt Hitler ausdrücklich ohne persönlichen Hass auf Juden. Er ist frei von „Radau Antisemitismus“. Hitler versteht sich nicht etwa als besonders rücksichtsloser Übertreter des jüdisch geschöpften Tötungsverbotes, sondern als dessen kompromissloser Beseitiger. Aus dem Studium der Geschichte gewinnt er die Überzeugung, dass vor Entstehung der jüdischen Ethik der Lebensheiligkeit und des Fremdenschutzes ganz andere Normen herrschen – die Stärkung nach innen durch Tötung behinderten Nachwuchses sowie die Unüberwindbarkeit nach außen durch Ausrottung und nicht nur Nieder werfung des Gegners. Diesen althergebrachten Tötungsrechten will er für eine globale Führungsrolle Deutschlands und die Germanisierung Europas bis zum Ural von neuem Geltung verschaffen. Über 100 Millionen Slawen sollen durch sofortige Tötung, Zwangsarbeit, „Umvolkung“ oder Deportation nach Sibirien eliminiert werden. Etwa 11 Millionen kommen bis Kriegsende um. 90 Theodor Fritsch, Der neue Glaube, 3. Auf lage Leipzig 1936, S. 169. 91 Vgl. Karl Hüser, Wewelsburg 1933–1945. Kult - und Terrorstätte der SS, Paderborn 1987, S. 217.
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Hitlers Holocaust-Motiv
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Der Beseitigung der Juden für die Ausmerzung der jüdischen Ethik ist als Maßnahme zur Wiederherstellung eines Rechts auf Tötung aller internen „Kostgänger“ und „Zersetzer“ sowie aller – vorzüglich jedoch slawischen – raumpolitischen Gegner gedacht. Sie erfolgt deshalb gleichzeitig mit der Eroberung östlichen Lebensraums. Dabei handelte es sich nicht wie bei den Feldzügen gegen Frankreich, Dänemark und Nor wegen um reguläre Kriege, sondern um genozidale Megatötungen unter dem Schutze der Wehrmacht. Es ist eben diese Absicht – ideologisch eisern gegen die Bündnispartner suchenden deutschen Generäle durchgehalten –, die auf der slawischen Seite den Widerstand dann so stark werden lässt. Die deutschen Männer sollen bei ihrer blutigen – und niemals endenden Arbeit – im „Volkstumskampf“ zur Gewinnung und Verteidigung riesiger Territorien niemals wieder von Gewissensbissen gehemmt werden, die für Hitler eine „jüdische Erfindung“ sind. Niemand soll ihnen mitten im Austilgen „Du sollst nicht töten“ zurufen dürfen. Und wenn es doch einer tut, soll das in den Kämpfern keine Saite der Barmherzigkeit mehr zum Klingen bringen. In der Abfolge SS, Ostheer und Hitler - Jugend sollen – eine „Arbeit von 100 Jahren“ ( Alfred Rosenberg ) – die Deutschen deshalb auch innerlich wieder an den Kodex des Tötens herangeführt werden. In einer kalt - modernen Sprache könnte man sagen, dass Hitler die hardware – die jüdischen Menschen – zerschmettern lässt, um die software – das jüdische Programm der Lebensheiligkeit – aus dem deutschen Bewusstsein zu löschen. Auch Nichtjuden – insbesondere Christen – werden beseitigt, wenn sie aktiv für ihr jüdisch - ethisches Erbe des Lebensschutzes eintreten, sich also – wie vor allem die Bibelforscher – als jüdisch „infiziert“ erweisen. Im nationalsozialistischen Musterland – dem von Polen annektierten „Warthegau“ – werden deshalb nicht nur die polnischen katholischen Priester getötet, sondern auch die deutschen Protestanten der SS - Kontrolle unterworfen und das Konkordat mit dem Vatikan, das im Altreich formal in Geltung bleibt, außer Kraft gesetzt. Bei den Christen gilt die Liebes - und Lebensethik jedoch als prinzipiell noch heilbare „jüdische Infektion“. Schließlich bietet der Glaube an Jesu Blutopfer als Heilstat – die nichtjüdische Seite des Christentums – allemal genügend eigenständigen Religionsstoff für Erlösung. Juden hingegen können nicht einmal durch Abschwören auf Schonung rechnen. Weil sie nach Jahrtausenden der Verfolgung immer noch da sind, gelten sie als unrettbar mit der Lebensheiligkeit „verseucht“ und deshalb als gefährliche „Ansteckungsquelle“ für alle Nichtjuden. Hitler bedient sich für die Beseitigung des Judentums aller verfügbaren Antisemiten – religiöse Gegner, Rassisten, Antizionisten, Palästinenser, ökonomische Konkurrenten. Doch „Hitler war der Schuldige, der allen anderen Schuldigen ihre Chance gab“ („the culprit who gave all the other culprits their chance“).92 92 Clive James, „Blaming the Germans : The Much Lauded Revisionist Study of the Holocaust [ by Goldhagen ] Goes too Far“. In : The New Yorker vom 22. April 1996, S. 44 ff., hier 50.
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Gleichwohl schmiedet Hitler kein Antisemiten - Bündnis. Wenn von den 11 Millionen getöteten Slawen auch nur 50 Prozent Antisemiten waren, dann lässt er ebenso viele Antisemiten töten wie Juden und es rettet sie nicht einmal, dass sie zuvor am Holocaust aktiv mitwirken. Mit den Parolen über „jüdisch - plutokratische“ Kriegstreiber hinter Churchill und Roosevelt oder „jüdisch - bolschewistische“ Partisanen hinter den deutschen Fronten schafft er zusätzliche Vorwände für die Überzeugung der noch nicht Tötungswilligen unter den Deutschen. Nicht jedoch die herkömmlichen Antisemitismen oder die Zugriffsmöglichkeiten des Krieges auf Europas Juden bewirkten – quasi automatisch – aus sich heraus Auschwitz. Es ist vielmehr Hitlers ganz eigenes Motiv der Ethikbeseitigung, das dann auch alle übrigen antijüdischen Bestrebungen zum Zuge kommen lässt. So zumindest sieht es der Autor. Ein letztes Wort kann er damit allerdings nicht beanspruchen. Nimmt man 1967 als Startjahr der wuchtigsten, bestfinanzierten und bis heute ungebrochenen Welle der Holocaustforschung, dann mögen noch ganz andere Erkenntnisse nach vorne drängen. Es mag sich aber auch der Eindruck vertiefen, den Isaac Deutscher (1907–1967) in eben jenem Jahr und kurz vor seinem Tode ganz intensiv verspürt : „Für den Historiker, der die Massenvernichtung der Juden zu verstehen sucht, ist der absolut einmalige Charakter dieser Katastrophe das schwer wiegendste Hindernis. Es ist nicht lediglich eine Frage der Zeit und der historischen Perspektive. Ich bezweifle, dass man in tausend Jahren Hitler, Auschwitz, Majdanek und Treblinka besser verstehen wird, als wir es heute tun. Wird man dann eine bessere historische Perspektive besitzen ? Es könnte sogar das Gegenteil der Fall sein, dass die Nachwelt alles noch viel weniger versteht als wir.“93
93 Zit. nach Friedländer, Vom Antisemitismus zur Judenvernichtung, S. 18.
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Nazis mit reinem Gewissen ? Zivile Funktionsträger und der Holocaust Mary Fulbrook Arno Lustiger – Historiker, Holocaust - Überlebender, in Deutschland lebend und aus der kleinen polnischen Stadt Bedzin stammend – zitierte einmal Stanislaw Jerzy Lecs Kommentar zu Nazis, die von keinerlei Schuldgefühlen geplagt wurden : „Ihr Gewissen ist rein, sie haben es nie benutzt.“1 Eine Untersuchung der Rollen und Selbstdarstellungen nationalsozialistischer Funktionsträger, die an der Enteignung, Ausbeutung, Erniedrigung und Ghettoisierung der Juden in Lustigers Heimatstadt Bedzin und der Umgebung beteiligt waren, liefert faszinierendes Material für unser Verständnis von „Nazis mit reinem Gewissen“. Eine solche Analyse vermag Einsichten sowohl dazu zu vermitteln, wie der Holocaust möglich war, als auch zu Aspekten der Hinterlassenschaften derjenigen, die Nachkriegskarrieren machten, als ob sie niemals „wirkliche“ Nationalsozialisten gewesen wären. Arno Lustiger war einer der wenigen Überlebenden der einst blühenden jüdischen Gemeinde von Bedzin; Zehntausende, die anfangs noch die Politik der Ghettoisierung und Zwangsarbeit der Anfangsjahre der nationalsozialistischen Besatzung überlebt hatten, wurden schließlich in den Ausrottungsfabriken von Auschwitz ermordet, die nur etwa 25 Meilen gen Süden lagen. Es gab drei Hauptwellen der Deportation : Im Mai und im August 1942, und dann bei der endgültigen Räumung des Ghettos im Sommer 1943. Über die miteinander verbundenen Ghettos von Sosnowiec und Bedzin wurden insgesamt etwa 85 000 Juden in die Gaskammern von Auschwitz transportiert. Aus der Stadt Bedzin selbst wurden insgesamt etwa 25 000 ehemalige Einwohner ermordet (ungefähr die Hälfte der Gesamtzahl der Einwohner ), zusammen mit weiteren ca. 10 000 Juden aus den umliegenden Städten und Dörfern im Landkreis Bedzin, einem Distrikt mit drei Städten und 63 ländlichen Gemeinden im östlichen Oberschlesien. Eine entscheidende Vorbedingung für das schließliche Zusammentreiben war die vorherige Konzentration der Juden in immer beschränkteren Räumen, unter immer strikterer Kontrolle und unter immer stärkerem Terror – Prozesse, die unter der Oberaufsicht des Landrates abliefen, des hauptsächlichen zivilen Verwalters bzw. wichtigsten Regierungsbeamten der Gegend. 1
Zit. nach Arno Lustiger, Sing mit Schmerz und Zorn : Ein Leben für den Widerstand, Berlin 2004, S. 300.
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Mary Fulbrook
Udo Klausa war in dieser Zeit dort Landrat. Klausa war von seiner Ernennung im Februar 1940 an persönlich für die Gegend zuständig, bis er sich Anfang Dezember 1942 endgültig zum Militärdienst verabschiedete. Allerdings war er während zweier kurzer Militärdienstzeiten nicht physisch anwesend : Zunächst vom 1. Juli bis Mitte Oktober 1940, und dann noch einmal vom Frühjahr bis zum Spätherbst 1941. Nach dem Krieg hielt sich der ehemalige Landrat so lange versteckt, bis die Entnazifizierungsprogramme der Alliierten in deutsche Hände übergegangen waren; dann gelang es ihm mit Hilfe „familiärer Beziehungen“, in die begehrte Entnazifizierungsgruppe V „Entlastet“ aufgenommen zu werden, und er begann eine erfolgreiche Karriere im öffentlichen Dienst Nachkriegsdeutschlands. Seine Nachkriegsgeschichte lässt sich als eine Kombination aus „unschuldig und unwissend“ zusammenfassen : Er behauptete, dass er physisch abwesend war, wann immer irgendetwas Unerfreuliches geschah, dass er wenig oder nichts von dem gewusst habe, was in der Gegend geschah, für die er verantwortlich war, und dass er, wenn er überhaupt gewahr wurde, dass Verbrechen stattfanden, weder persönlich darin verwickelt war noch den Wunsch verspürt habe, länger zu bleiben und zu riskieren, „unschuldig schuldig zu werden“. Seine Selbstdarstellungen der Nachkriegszeit – sowohl in seinen Memoiren (beendet im Jahre 1980) als auch in seinen diversen Aussagen in Verbindung mit Ermittlungen der Ludwigsburger Zentralstelle für die Aufklärung von NS - Verbrechen – widersprechen in vielerlei Weise den Aufzeichnungen der Archive. Doch die Tricksereien mit Erinnerung und fehlerhafter Datierung, die Geschichten, die sich um bestimmte Ereignisse ranken, sowie das Weglassen anderer, all dies liefert entscheidende Hinweise darauf, wie es möglich war, einerseits aktiver Nazi gewesen zu sein und andererseits anschließend ein überzeugter demokratischer und aufrechter Bürger der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit, ohne auch nur die geringsten Gewissensbisse zu verspüren. Mehr noch, Klausas Blick auf seine Erlebnisse wie auch spätere Erzählungen sind wahrscheinlich typisch für viele andere. Ein Vergleich der Archivquellen und der späteren Selbstdarstellungen des Landrates von Bedzin deckt die Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen derer auf, die den Auftrag hatten, Himmlers Rassenpolitik letztlich umzusetzen. Eine solche Analyse zeigt auch einige der später von ehemaligen Nationalsozialisten angewandten Strategien, mit deren Hilfe sie sich einer jeden Form persönlicher Schuld für ihre Rolle in der sich entwickelnden Verfolgung der Juden zu entledigen versuchten, falls sich doch einmal das Gewissen regte.2 2
Dieser Artikel basiert auf dem Buch: Mary Fullbrook, A Small Town near Auschwitz: Ordinary Nazis and the Holocaust, Oxford 2012. Mit nur geringfügigen Änderungen stammen Teile des Artikels direkt von verschiedenen Teilen des Buches. Ich danke dem Leverhulme Trust vielmals für ein Major Research Fellowship, in dessen Verlauf etliche der Forschungsarbeiten zu Bedzin durchgeführt wurden; diese beziehen sich auf ein umfassenderes Projekt zur Generationenfrage, das in Mary Fulbrook, Dissonant Lives: Generations and Violence through the German Dictatorships, Oxford 2011 angesprochen wird.
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Nazis mit reinem Gewissen ?
I.
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„Kolonialrassismus“ und die Frage der Empathie
Lecs Kommentar, wenn auch in für ihn typischer Weise plakativ und beißend, allerdings auch in vielen Fällen zutreffend, deckt eine breitere Wahrheit bezüglich der Methoden ab, mit denen der Massenmord an den Juden in die Praxis umgesetzt wurde : Viele der Funktionsträger, welche die Grundlagen für das letztendliche Ausrottungsprogramm legten, strebten dieses Ergebnis weder an, noch versuchten sie, es zu rechtfertigen. Unter Historikern gibt es nach wie vor eine tiefe Kluft bezüglich der Beurteilung der relativen Rolle, welche die Absichten, Motive, politischen Ideologien und sozialen Kontexte im Täterhandeln spielten.3 Im Gegensatz zu einigen derer, die das eigentliche Töten befahlen und durchführten und die in vielen Fällen möglicherweise von einer Kombination aus Sadismus und Antisemitismus motiviert waren, waren viele der mittleren und höheren Funktionsträger häufig von den Anforderungen ihrer offiziellen Rollen innerhalb eines Systems geprägt anstatt von irgend welchen persönlichen Animositäten oder ideologischen Sichtweisen bezüglich des sogenannten „Judenproblems“. Solche Funktionsträger waren häufig schockiert angesichts der schließlich mörderischen Ergebnisse der Rassenpolitik, zu deren Umsetzung und Aufrechterhaltung sie selbst beigetragen hatten. In den kürzlich annektierten Gebieten wurde die Rassenpolitik im Kontext dessen umgesetzt, was man als Ideologie eines „Kolonialrassismus“ bezeichnen könnte, ver wurzelt in und begleitet von der Bereitwilligkeit, durch Terror zu herrschen, nicht aber direkt motiviert durch irgendwelche vorweg bestehenden Vernichtungsabsichten. Eine der Methoden, mit deren Hilfe sich örtliche Funktionsträger später ein „reines Gewissen“ bewahren konnten, bestand darin, ihre eigene Rolle in der Vorbereitungsphase der „Endlösung“ überhaupt nicht wahrzunehmen. Die physischen und psychologischen Vorbedingungen für die schließliche Deportation wurden in den ersten Kriegsjahren geschaffen. Diejenigen, die diese Politik umsetzten, waren die örtlichen Funktionsträger : Sie entwarfen diese Politik nicht, die ihnen über die Kanäle der Verwaltungshierarchie übermittelt wurde, genauso wenig standen sie in dem Maße in der Frontlinie der Gewalt wie die Angehörigen der SS, Gestapo oder gewöhnlichen Polizei. Doch hinsichtlich dessen, was als „Germanisierung“ bekannt war, hatten sie eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung des Rassismus inne; sie spielten eine zentrale Rolle in der sich entwickelnden Tragödie, die in der Massenvernichtung kulminierte. Bei seiner Ernennung zum Landrat war Klausa kein Neuling in der Rolle des Verwalters des nationalsozialistischen Rassismus in den kürzlich besetzten und annektierten Gebieten. Im Herbst 1938 hatte er einen Posten im Sudetenland übernommen, in der Folge der Übernahme dieses Grenzterritoriums durch 3
Siehe beispielsweise die Unterschiede zwischen Christopher Browning, Ordinary Men Reserve police Battalion 101 and the final solution in Poland, und Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners.
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Mary Fulbrook
Deutschland nach der Münchener Konferenz. Dann war ihm – im Frühjahr 1939 – nach der deutschen Invasion dessen, was von der Tschechoslowakei noch übrig war, eine Rolle in der Verwaltung von Böhmen und Mähren übertragen worden. Mit der Invasion Polens im September 1939 wurde Klausa erneut versetzt. Er wurde persönlicher Assistent August Jägers, der wiederum der Stellvertreter des Leiters des Reichsgaues Wartheland ( oft als Warthegau bekannt ), Arthur Greiser, war. Nach seinem eigenen Zeugnis wurde Klausa im Winter 1939–40 nur allzu vertraut mit der brutalen Natur der Politik der „Germanisierung“, als Hunderttausende von Polen und Juden aus ihren Häusern vertrieben, unter schrecklichen Bedingungen in Transitlagern festgehalten und über die neue Grenze in dasjenige deutsch - besetzte Gebiet Polens gebracht wurden, das unter Hans Frank zum „Generalgouvernement“ geworden war. Im Februar 1940 erreichte Klausa sein Karriereziel. Er erhielt den begehrten Posten eines Landrats im Distrikt von Bedzin, einem in dem schmalen Streifen Landes östlich von Kattowitz, jenseits der sogenannten „Polizeigrenze“, welche dieses Gebiet vom Hauptterritorium des erweiterten Deutschen Reiches trennte. Die „Germanisierung“ des Gebietes, für das er nun zuständig war, stellte eine Aufgabe dar, an der er sich nach seinem eigenen Zeugnis recht fröhlich beteiligte, zumindest teilweise. Dieser Teil bezog sich auf die Behandlung der in das Gebiet kommenden Deutschen. Wenn er auch unglücklich über die gewaltsamen Vertreibungen war, die man für notwendig hielt, um Platz für die Neuansiedlung von Deutschen zu schaffen, so verfolgte er doch, wie er in seinen Memoiren darlegt: „Mit mehr Engagement betrieb ich die Fürsorge für die in das Gebiet strömende deutsche Bevölkerung.“4 In diesem Zusammenhang versucht er, moralische Überlegenheit zu gewinnen, indem er betont, er habe darauf bestanden, dass den neu ankommenden Deutschen das Recht gegeben werde, die Kirche zu besuchen, auch wenn dies nicht völlig mit der nationalsozialistischen Politik der Zeit übereingestimmt habe. Sein Beharren darauf, er habe die Möglichkeit der Religionsausübung gesichert, war auch hilfreich dabei, nach dem Krieg positive Zeugnisse bezüglich seiner Person zu erhalten.5 Und die zeitgenössischen Quellen lassen nur wenig Zweifel, dass Klausa darauf bedacht war, die „Neuansiedlung“ der Deutschen im Landkreis für die Neuankömmlinge so angenehm wie möglich zu machen : Er gab die Anweisung, die Verwaltung solle „den Umsiedlern alle nur möglichen Erleichterungen für die Fertigstellung neuen Wohnraumes [...] gewähren […]. Bei der Möbelbeschaffung der aus der beschlagnahmten polnischen Vermögensmasse zur Verfügung gestellten Möbel sind die Umsiedler ebenfalls gegenüber reichs- und volksdeutschen Ansprüchen bevorzugt zu behandeln.“6 Es gibt in diesem zeitgenössischen 4 5 6
Landesverband Rheinland ( henceforth LVR ), Klausa 400, Udo Klausa, ‚Erlebt – Davongekommen. Erinnerungen‘, Band I : ‚Erlebt – Überlebt, 1910 – 1948‘ (1980), im Folgenden zit. als ‚Erlebt‘, S. 144. Vgl. ebd. Zirkular vom 14. April 1942 an die Bürgermeister und Amtskommissare, unterzeichnet von Klausa ( Archivum Państwowe w Katowicach, Starosta Powiatu Bedzinskiego, 771/69, Fol. 10).
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Nazis mit reinem Gewissen ?
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Dokument keinerlei Hinweis auf die Erkenntnis, dass die „eingezogenen“ Güter und Möbel ihren ursprünglichen Besitzern vielleicht nicht hätten abgenommen und den ankommenden Deutschen übergeben werden sollen. Es handelt sich um einen typischen Ausdruck von Eroberungsmentalität, die gewaltsamen Raub als in gewisser Weise legitimierte Aneignung betrachtet, sowie um die Mentalität eines Kolonialrassismus, der entsprechend die Bedürfnisse Deutscher Vorrang gegenüber den Rechten anderer Gruppen genießen. Eine solche Mentalität erlaubt es auch, die prinzipielle Politik von der Verantwortung für die praktische Umsetzung abzutrennen : Es ist die Brutalität der praktischen Umsetzung, die falsch ist, nicht die Politik selbst. Dementsprechend sind es auch nur diejenigen, die mit Akten körperlicher Gewalt betraut sind, und tatsächlich auch nur manche Arten physischer Gewalt, die als falsch angesehen werden. Dies erlaubt dann die Unterscheidung in „wirkliche Nazis“ und in diejenigen, die – angeblich – nur nominell oder in gewisser Weise dazu gebracht worden waren, Mitglieder der NSDAP zu werden. Die Behandlung der Nazis als „Andere“ sowie die Selbst - Distanzierung stellen eine Schlüsseltaktik dar, um sich das Gefühl eines reinen Gewissens zu bewahren. Obwohl er seit Februar 1933 bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches Mitglied der NSDAP gewesen war – wovon er in einer Weise berichtet, welche den Eindruck erweckt, als sei ihm kaum eine Wahl geblieben, wenn er seine Karriere weiter verfolgen wollte – distanziert sich Klausa in seinen Memoiren wiederholt von denjenigen, die er als „die Nazis“ bezeichnet. Die Nazis sind immer die anderen : Fanatiker, Braunhemden, SS - Angehörige. Angehörige der zivilen Ver waltung werden in der Rolle dargestellt, die sie erst nach dem Krieg spielten : Loyale Diener des Staates, in keiner Weise politisch. Dies ist eine direkte Falschdarstellung des hochgradig politisierten Charakters – sowohl bezüglich des persönlichen Einsatzes als auch der praktischen Aufgaben und Verantwortlichkeiten – des öffentlichen Dienstes im Dritten Reich. Doch spiegelt sie eine sehr weit verbreitete Bereitwilligkeit im Nachkriegsdeutschland wider, die ganze Schuld – entsprechend der „Hitler und seine Spießgesellen“ - Sicht der Geschichtsschreibung – auf einige wenige Leute an der Spitze sowie auf die Frontlinie der physischen Nazi - Gewalt, insbesonders die SS und Gestapo abzuwälzen, während man den Anspruch auf die „Anständigkeit“ der Armee aufrecht erhält, ein Anspruch, der im öffentlichen Bewusstsein durch die Wehrmachtsausstellung in den 1990ern nur allzu deutlich untergraben wurde. Wenn sie auch erst im Jahre 1980 fertig gestellt wurden, so sind Klausas Memoiren doch sehr stark in der Geisteshaltung der 1950er verfasst. In seinen Memoiren erweckt Klausa den Eindruck – um bei dem Beispiel der Germanisierungspolitik zu bleiben –, dass die Kehrseite der „Umsiedlung“, nämlich Menschen herauszuwerfen, um Platz für diejenigen zu schaffen, die neu hereinkamen, etwas war, womit er nichts zu tun hatte, wovon er, wie er behauptete, „schon genug gehabt“ hatte während seines Aufenthalts in Posen.7 Voller 7
LVR, Klausa 400, Erlebt, S. 143.
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Mitgefühl distanziert er sich von der tatsächlichen Praxis, Menschen aus ihren Häusern hinaus zu werfen und sie in das Generalgouvernement zu schicken, um Platz für hereinkommende deutsche „Umsiedler“ zu schaffen, und typischerweise schiebt er die volle Verantwortung der SS zu. Mit einer gewissen Widersprüchlichkeit behauptet Klausa, einerseits schreckliche Szenen mit angesehen zu haben, für welche die SS verantwortlich gewesen sei, und dennoch nie wirklich anwesend gewesen zu sein : „Irgendeine Beteilungsnotwendigkeit oder -möglichkeit bestand nicht. Das wurde alles von der SS erledigt, und man konnte bestenfalls mit gebundenen Händen miterleben, welche herzzerreißenden Szenen sich abspielten. Ich war nie dabei.“8 Merkwürdigerweise gibt Klausa wenige Seiten später in seinen Memoiren zu, dass die Gendarmerie, für die er zuständig war, tatsächlich an den „Umsiedlungen“ beteiligt war. Es mag schon sein, dass Klausa keinerlei Notwendigkeit sah, bei gewaltsamen Vertreibungen und „herzzerreißenden Szenen“ persönlich anwesend zu sein. Allerdings war er der offiziell Verantwortliche für Wohnraumpolitik und erzwungene Bevölkerungsverschiebungen, wobei die Zivilverwaltung Hand in Hand mit den Polizeibehörden arbeitete, um sicher zu stellen, dass die deutsche Politik so „glatt“ wie möglich umgesetzt wurde. Die Aufzeichnungen dieser Zeit geben Hinweise darauf, dass der Landrat tief in die Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern sowie in gewaltsame „Umsiedlungen“ verstrickt war, sowohl grundsätzlich durch seine offizielle Stellung als auch durch die Erfüllung seiner Pflichten in der Praxis. Doch geben uns die Archivbestände nur einen geringen Eindruck davon, was dies für die Betroffenen bedeutete. Klausas Memoiren auch nicht. In Klausas Selbstdarstellung findet sich kaum ein Hinweis auf das, was mit den Zehntausenden Juden im Landkreis Bedzin geschah; es gibt lediglich einen kurzen Kommentar, der darauf verweist, dass sämtliche Umsiedlungen bereits vor seiner Zeit geschehen seien. Indem er sich auf die nördlichen Gebiete seines Bezirks bezieht, kommentiert Klausa : „Juden gab es in diesem Kreisteil nicht, sie waren alle in den drei Städten konzentriert worden, wenn es überhaupt anderswo auch Juden gegeben haben sollte. Zu meiner Zeit passierte in dieser Hinsicht keine Umsiedlung.“9 Wie so vieles andere in Klausas Darstellung der Erfahrungen, welche die Juden im Landkreis Bedzin machten, erscheint auch dies als ein entlarvendes und in diesem Fall massives Versagen der Erinnerung. Es stellt ebenso ein Versagen dabei dar, die Auswirkungen der deutschen Politik auf diejenigen, die ihr Gegenstand waren und ihr zum Opfer fielen, zu registrieren. Während seiner Zeit in Bedzin machte sich Klausa in vielerlei Weise im Sinne der Germanisierungspolitik nützlich. Er gab seine Zustimmung zu einer ganzen Reihe von Maßnahmen und half bei deren Umsetzung. Durch diese Maßnahmen wurde bestimmt, wo Juden leben durften, wie weit und mit welchen Mit8 9
Ebd., S. 143. Ebd., S. 151.
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teln sie reisen durften, die Stunden, in denen sie sich im Freien aufhalten durften, die Menge und Art der Lebensmittel, die ihnen zur Verfügung standen. Er beaufsichtigte auch die Tätigkeit der Gendarmerie bei der Aufrechterhaltung von „Gesetz und Ordnung“ in den ländlichen Teilen seines Gebietes und unterstützte die Verhängung von Sanktionen für die Überschreitung irgendeiner der unzähligen Regeln und Vorschriften, welche die Deutschen verhängten, einschließlich des Nichttragens des stigmatisierenden Judensterns. Eine systematische Analyse der Archivquellen, welche den Prozess der Vertreibung der Juden aus ihren Häusern, ihre Beschränkung auf zunehmend überfüllte und ungesunde Behausungen in den ärmeren Teilen der Stadt sowie ihre schließliche Konzentration in rein jüdischen Ghettogebieten dokumentieren, zeigt durchgängig die leitende Hand des Landrates. Dies gilt ebenso für die Analyse seiner Unterstützung bestimmter Terroraktionen, der Verhängung von Vergeltungsmaßnahmen als „Strafe“ für das geringste Anzeichen von Ungehorsam seitens der unterjochten Bevölkerung. All diese Aktivitäten sowie die damit zusammenhängenden Veränderungen, die in der Zeit zwischen 1940 und 1942 bezüglich der Lebens - und Arbeitsbedingungen der Juden stattfanden, erwiesen sich schließlich als fruchtbar insofern, als es dadurch möglich wurde, im Zuge der Evakuierungsmaßnahmen von Mai und August 1942 Zehntausende Juden zu ihrer massenhaften Ermordung zu deportieren und schließlich im Sommer 1943 die miteinander verbundenen Ghettos von Sosnowiec und Bedzin endgültig zu räumen. Es mag sein, dass der Prozess der Ghettoisierung nicht von Anfang an als eine Station auf dem Weg zum Massenmord gedacht war, doch logistisch gesehen war dieser ihr funktionales Ergebnis. All diese Maßnahmen auf dem Weg dorthin ermöglichten es schließlich denen, die an vorderster Front der Gewalttaten standen – der SS, der Gestapo und den normalen Polizeikräften – die Selektionen, die Einkerkerung und die Deportation von etwa 85 000 Juden aus dieser Gegend in die Gaskammern von Auschwitz in die Tat umzusetzen. Wären sie nicht terrorisiert, gedemütigt, ihrer Menschenwürde beraubt und gezwungen worden, unter beengten und schrecklichen Umständen sowie mit kaum ausreichender Lebensmittelversorgung zu leben, wäre es den Juden etwas weniger schwer gefallen, gegen das Schicksal Widerstand zu leisten, dass ihnen schließlich zuteil wurde, oder ihm sogar zu entgehen. Zu der Zeit, in der Klausa seine Memoiren schrieb, stand er eindeutig in einem moralischen Konflikt. Während er in den Archivdokumenten ganz sachlich die logistischen Probleme bespricht, die sich aus der Umsiedlung der Juden in immer kleiner werdende Gebiete ergaben, erscheint rein gar nichts davon in Klausas Memoiren. In Letzteren bringt er häufig ein gewisses Maß an Mitleid mit den unterdrückten Juden seiner Gegend zum Ausdruck, wenn er zum Beispiel anmerkt, sie hätten unter den „kümmerlichsten“ Umständen in einem besonders armen „jüdischen Teil“ der Stadt gelebt und feststellt, dass das Erlebnis der frühen Terrorakte „fürchterlich gewesen sein“ muss.10 Doch er bestrei10 Ebd., S. 142.
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tet entweder, dass jemals irgendwelche Juden woanders als an diesem bestimmten Ort gelebt hätten oder dass, falls sie doch einmal irgendwo anders gelebt hätten und schließlich von dort vertrieben worden wären, er selbst irgend etwas damit zu tun gehabt habe. Die systematische Konzentration von Juden in immer kleineren Bereichen, zusammengedrängt unter immer schlimmeren Wohnbedingungen, die er als Landrat beaufsichtigte und in die Tat umsetzte, findet keinen Platz in seinen Memoiren. Er behauptet (fälschlich), dass er schließlich im August 1942 seinen Militärdienst antrat, vor der endgültigen Phase der Ghettoisierung in einem umgrenzten Bereich, als deren Zweck die fröstelnd machenden Protokolle des Treffens der örtlichen Behörden mit Dreier, dem für jüdische Angelegenheiten zuständigen Gestapobeamten bei der Zentralstelle der Gestapo in Kattowitz, ausdrücklich angeben, dass sie die endgültige Räumung des Ghettos und die „Säuberung“ von Bedzin von seiner jüdischen Bevölkerung bei Weitem erleichtern werde. Klausa scheint zu dieser Zeit nur wenig Mitgefühl mit denjenigen Teilen der Bevölkerung empfunden zu haben, die Gegenstand nationalsozialistischer Diskriminierung und Unterdrückung waren. Es handelt sich um einen Mangel an Empathie, ein Versagen dabei, auch nur den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, welche Auswirkungen die deutsche Politik auf diejenigen hatte, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, denen ihr Besitz sowie ihre Lebensgrundlage genommen wurde und die dazu gezwungen wurden, unter ungesunden und häufig lebensbedrohlichen Umständen zu existieren, so dass sie häufig tödlichen Krankheiten zum Opfer fielen, die aus Mangelernährung und unzureichenden hygienischen Umständen entstanden, oder die eingekerkert und zu Sklavenarbeit herangezogen oder getötet wurden, weil sie nicht an ihrer eigenen erzwungenen Unterdrückung mitgewirkt hatten.
II.
Die Grenzen der Zivilisierungsmission
Auch andere Funktionsträger scheinen ein unerschütterliches Vertrauen in die Höher wertigkeit der Deutschen und die Minder wertigkeit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gehabt zu haben, über die sie die Herrschaft errungen hatten. Das Tagebuch eines gewissen „Alexander Hohenstein“ ( ein Pseudonym) liefert einige Beweise für Reaktionen in der fraglichen Zeit; insbesondere deuten sowohl seine als auch Klausas wachsende Unruhe die Grenzen dessen an, was aus der Perspektive des kolonialen Rassismus noch akzeptabel erschien. Obwohl ihre Karrieren unterschiedlich verliefen, wobei Hohenstein im Vergleich zu Klausa eine deutlich geringere Bereitschaft zeigte, sich systemkonform zu verhalten, ist ein kurzer Vergleich dennoch erhellend. Eineinhalb Jahre lang, von 1941–42, war Hohenstein ein niederrangiger örtlicher Funktionsträger ( Amtskommissar ) und der Bürgermeister der Stadt „Poniatowec“ ( ebenfalls anonymisiert ) im neu annektierten Reichsgau Wartheland. Das Hohenstein dorthin geschickt wurde, in das koloniale Grenzland der
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östlichen Provinzen des vergrößerten Großdeutschen Reiches, stellte eine gewisse Bestrafung dar, da er in seiner ursprünglichen Position im „alten“ Reich gewisse Probleme mit den nationalsozialistischen Behörden gehabt hatte. Im Sommer 1942 wurde Hohenstein zum Gegenstand disziplinarischer Maßnahmen, die dazu führten, dass er von seinem Posten zurücktreten musste, aus der NSDAP ausgeschlossen wurde und in das „alte“ Reich zurückkehrte. Nach einer Zeit der Tätigkeit in der Industrie wurde er an die Front geschickt; er überlebte den Krieg, hatte aber anschließend keinerlei Möglichkeit mehr, seine ehemalige Karriere im öffentlichen Dienst wieder aufzunehmen, da er durch seine Einstufung in die Gruppe III „Minderbelasteter“ – später zurückgestuft in Gruppe IV „Mitläufer“ – diskreditiert war. Zunehmend verbittert übergab er seine Tagebücher dem Institut für Zeitgeschichte in München, das im Jahre 1963 eine bearbeitete Fassung davon veröffentlichte.11 Klausa und Hohenstein waren beide Angehörige der „Kriegsjugendgeneration“.12 Hohenstein war im Jahre 1901 geboren, Klausa 1910. Als Angehörige der gebildeten Stände teilten sie in hohem Maße den latenten Rassismus ihrer Zeit und sahen die deutsche „Zivilisation“ gegenüber der Lebensweise der polnischen Bevölkerung, mit deren Unter werfung sie beauftragt waren, als inhärent höherwertig an. Beide nahmen bis zu einem gewissen Grad das Leid der Juden wahr, die in den Gebieten lebten, für welche sie verantwortlich waren. In unterschiedlicher Weise kommt ihre Beunruhigung durch die Eskalation der nationalsozialistischen Politik hin zum Völkermord in ihren Selbstdarstellungen zum Ausdruck, was in Hohensteins Fall auch durch die Aufzeichnungen über seine Karriere bestätigt wird. Während er sich mit beachtlicher Energie und großer ideologischer Begeisterung der Mission widmete, sein Grenzgebiet zu „zivilisieren“, fühlte sich Hohenstein von der Praxis des nationalsozialistischen Rassismus zunehmend beunruhigt.13 Schockiert notiert er die Bedingungen, deren Zeuge er im überfüllten Ghetto seiner Stadt wurde. Als er aufgefordert wird, weitere Juden aufzunehmen, die aus einer Nachbarstadt vertrieben worden waren, zeigt sich Hohenstein darüber erfreut, wie es ihm unter persönlichem Einsatz gelang, in gewissem Ausmaß Transportmöglichkeiten für persönlichen Besitz sowie für diejenigen, die kaum in der Lage waren, die etlichen Kilometer zu ihrem neuen „Zuhause“ zu laufen, zu organisieren. Auch bemühte er sich, eine gewisse Systematik in die Verteilung des beengten und knappen Raumes im bereits überfüllten jüdischen Quartier zu bringen. Eine gewisse Klassenaffinität überwand die rassischen Unterschiede, als Hohenstein im Dezember 1941 den örtlichen Vorsteher des Judenrates sowie seine hoch gebildete und ebenfalls berufstätige Ehefrau zu einem geselligen Abend zu sich nach Hause in die offizielle Residenz des Landrates einlud. Bei dieser Gelegenheit hörte Hohenstein angeblich 11 Vgl. Alexander Hohenstein, Wartheländisches Tagebuch, München 1963. 12 Michael Wildt, Generation des Unbedingten : das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Fulbrook, Dissonant Lives. 13 Hohenstein, Wartheländisches Tagebuch.
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die ersten Andeutungen bezüglich der Politik des Massenmordes, der nun im nahe gelegenen Chelmno anzulaufen begann, dem ersten Lager, in dem Tötungen durch Vergasung stattfanden, beginnend bereits im Dezember 1941. Hohenstein war auch zutiefst schockiert, als man ihn aufforderte, einen sechsten Kandidaten für eine öffentliche Erhängung im März 1942 zu bestimmen, was er nicht tat; er brachte auch nicht den angemessenen Enthusiasmus angesichts dieses Demütigungsrituals zum Ausdruck, indem er statt dessen durch seine Körpersprache – er blickte auf seine Stiefel – seine Ablehnung dieses Spektakels signalisierte. Diese öffentliche Erhängung war der Vorbote der Einkerkerung der gesamten jüdischen Bevölkerung der Stadt in der Kirche sowie ihrer anschließenden Deportation und Ermordung, was etwa einen Monat später stattfand. Wohl aufgrund etlicher kleinerer Zwischenfälle und geringfügiger Zeichen des Unwohlseins von Hohensteins Seite angesichts der ihm begegnenden Rassenpolitik sowie aufgrund seines Mangels an Unterstützung der öffentlichen Hinrichtung, wurde er schließlich disziplinarisch belangt, seiner Ämter beraubt und zurück in den Westen geschickt. Für Hohenstein reichte die Mission des Kolonialrassismus bis unmittelbar vor die letzten Stadien des Massenelends und Massenmordes, schloss diese aber nicht mit ein. Auch Klausa scheint sich zunehmend unwohl gefühlt zu haben angesichts des Verlaufes, den die Entwicklung im Landkreis Bedzin nahm, für den er verantwortlich war, obwohl er zu keinem Zeitpunkt seine Stellung verlor oder seine Karriere im nationalsozialistischen Staat aufs Spiel setzte. Soweit wir wissen, nahm er – in seiner weitaus bedeutsameren Position innerhalb der Hierarchie der örtlichen Behörden – uneingeschränkt an einer ähnlichen öffentlichen Hinrichtung teil, die im April 1942 in Bedzin stattfand, ebenfalls nur einen Monat vor der ersten größeren Deportation von Juden aus der Stadt zu ihrer Ermordung in den Gaskammern, in diesem Falle in Auschwitz. In seinen Memoiren erwähnt er diese Erhängung nicht, doch angesichts Klausas offizieller Stellung als Landrat erscheint es als sehr wahrscheinlich, dass er bei der Ausschmückung und Beobachtung des Spektakels eine offizielle Rolle zu spielen hatte. Angesichts der Todesdeportationen von Mai und August 1942 scheint Klausa allerdings beachtliches Unwohlsein verspürt zu haben, was sich möglicher weise psychosomatisch in undefinierbaren körperlichen Beschwerden und Verdauungsproblemen ausdrückte – obwohl dies auch von seiner Erkrankung während des vorangegangenen Sommers und Herbstes herrühren konnte, welche dazu geführt hatte, dass er krankheitshalber nicht länger am Russlandfeldzug teilgenommen hatte.14 Was auch immer die Ursache war, die Symptome ließen sich nicht so einfach mit physischen Mitteln beheben : Seine Frau beklagt sich in Briefen an ihre Mutter im Frühsommer 1942 wiederholt über Klausas „Ner ven“. Obwohl er von einem längeren Erholungsaufenthalt sichtlich sonnengebräunt, 14
Diese Interpretation liefert Ute Benz, die (unter dem Pseudonym „Elisabeth Hagen“) aus Briefen von Klausas Ehefrau Alexandra an ihre Mutter aus dieser Zeit zitiert. Siehe Ute Benz, Frauen im Nationalsozialismus : Dokumente und Zeugnisse, München 1993, S. 89.
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wohlgenährt und in körperlich gutem Zustand zurückkehrte, blieb der Zustand seiner „Ner ven“ schlimm, so dass seine Kur anscheinend nichts als Geldverschwendung gewesen war. Doch nachdem die umfangreiche Deportation vom August 1942 abgeschlossen war, wirkte er wieder entspannter und seine Stimmung hob sich erkennbar. Zu diesem Zeitpunkt scheint Klausa sich darum bemüht zu haben, an die Front zurückzukehren. Wie wir gleich sehen werden, stimmt irgendetwas nicht mit der Geschichte, die er später erzählte, denn sie ist in vielen Einzelheiten sachlich unwahr. In seiner Erzählung davon, dass ihm nicht gefiel, was er sah, und dass er daher lieber sein Leben an der Front riskieren wollte, als weiterhin an den Verbrechen teilzuhaben, die sich in ungeahntem Ausmaße im östlichen Oberschlesien anbahnten, mag man allerdings eine gewisse unterschwellige psychologische Logik sehen. Anders als Hohenstein wurde Klausa nicht auffällig genug, um disziplinarische Maßnahmen auf sich zu ziehen, doch ist es durchaus denkbar, dass sich zu diesem Zeitpunkt mögliche Gewissensbisse bemerkbar zu machen begannen. Sowohl Hohenstein als auch Klausa waren in verschiedener Weise durch das System gezwungen, sich in bestimmter Weise zu verhalten, wenn auch mit unterschiedlicher Verantwortung und unter unterschiedlichen Zwängen. Hohenstein war sich in der Tat ausdrücklich der Zwänge des Systems bewusst und äußerte sich seinerzeit entsprechend; Klausa stellt in seinen Memoiren nur kurz die Frage, ob es wohl richtig gewesen sei, einem solchen System zu dienen, nur um das Problem als zu umfangreich zurückzuweisen, um es in diesem Zusammenhang zu diskutieren. Nach dem Krieg scheint keiner der beiden irgendwelche Bedenken bezüglich des Verhaltens gehabt zu haben, zu dem sie sich entschieden hatten, und beide scheinen sich das Gefühl bewahrt zu haben, persönlich anständig geblieben zu sein und nichts auf dem Gewissen zu haben. Selbst nachdem er disziplinarisch belangt worden war, seine Stellung sowie seine NSDAP - Mitgliedschaft verloren hatte und gewissermaßen in Schande auf dem Rückweg nach Westdeutschland war, sagte Hohenstein in seinem Tagebuch seinem Gebiet im Warthegau Lebewohl, indem er einen Lobgesang auf die Höher wertigkeit der Deutschen anstimmte und seine fortwährende Unterstützung der deutschen „Zivilisierungsmission“ zum Ausdruck brachte, von der seine Tätigkeiten durchdrungen gewesen seien.15 Klausa versicherte wiederholt seine Unschuld, indem er sich weigerte, einen Zusammenhang zwischen dem herzustellen, was er gesehen hatte, und dem, was sich aufgrund seiner Handlungen entwickeln konnte. In Klausas Fall spielten noch weitere Mechanismen eine Rolle dabei, dass er sich unangefochten ein solches Gefühl der Unschuld bewahren konnte, denn die Aufzeichnungen aus dieser Zeit ließen sich tatsächlich nicht so ohne Weiteres mit den etwas anderen moralischen Vorstellungen der Nachkriegszeit in Übereinstimmung bringen. Daher waren Erzählungen, Lücken und Abwesenheiten
15 Hohenstein, Wartheländisches Tagebuch.
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gefordert, um die nun zunehmend unangenehmeren Aufzeichnungen der Vergangenheit in einen akzeptableren Interpretationsrahmen zu bringen.
III.
Die Verfälschung der Erinnerung und die Funktion der Erzählungen
Die Juden standen nicht nur außerhalb der moralischen Gemeinschaft, der sich Klausa seinerzeit verbunden fühlte, sie standen ebenso außerhalb seines Erinnerungsvermögens, was jedenfalls ausdrücklich für die späteren Selbstdarstellungen gilt, die sich in den Archiv - und Familienaufzeichnungen finden. Weder in seinen Memoiren noch in seiner Verteidigung im Zuge der Ermittlungen der Ludwigsburger Zentralstelle erinnert sich Klausa auch nur daran, überhaupt Zeuge irgendwelcher Akte der Brutalität in dem Bezirk, für den er zuständig war, geworden zu sein, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen, zu denen wir gleich kommen werden. Klausas in den Archiven dokumentierte Lobesworte für die örtliche Gendarmerie, wenn diese Tötungen zur Vergeltung durchgeführt oder Juden erschossen hatte, die „zu fliehen versucht hatten“ – er verwendet die berüchtigte Phrase „auf der Flucht erschossen“ – finden in seinen Memoiren oder seiner Verteidigung keine Erwähnung. Es gelingt ihm in seinen Memoiren auch nicht, sich an den Vorfall vom Juni 1940 in dem kleinen Weiler Celiny zu erinnern, in dessen Verlauf 32 unschuldige Menschen getötet wurden, indem man sie an die Mauer eines Hauses stellte und erschoss, zur „Vergeltung“ für den Tod eines deutschen Gendarmen. Es hätte eigentlich seine Erinnerung auf Trab bringen müssen, dass die Ludwigsburger Zentralstelle für die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen diesen Vorfall gründlich untersucht hatte, woraufhin er fälschlich behauptete, er habe zu dieser Zeit in Frankreich gekämpft und sei nicht für den Kreis zuständig gewesen. In beschworenen Aussagen gegenüber den Rechtsbehörden im Zuge der Nachkriegsermittlungen versichert Klausa auch fälschlicherweise, dass er im Herbst 1942 ebenfalls im Militärdienst und nicht anwesend gewesen sei, als ein Gendarm namens Paul Grytz einen Juden namens Kupferberg und dessen Sohn erschoss, nachdem sie nur deshalb verhaftet worden waren, weil sie quer über ein Feld gelaufen waren, anstatt angesichts ihrer bevorstehenden Deportation in den Tod unter Kontrolle der Nazis zu bleiben. In beiden Fällen gibt Klausa nachweislich falsche Daten bezüglich seiner Abwesenheit durch den Militärdienst an. Einige Ereignisse allerdings, derer er eindeutig Zeuge geworden sein musste, lassen sich nur sehr schwer wegerklären, und es ist schwierig, eine gewisse oppositionelle Haltung oder gar Widerstand für sich in Anspruch zu nehmen, wenn man gleichzeitig behauptet, sich der verbrecherischen Natur des Regimes nicht bewusst gewesen zu sein. In Klausas Selbstdarstellung finden sich zwei Schlüsselerzählungen, die sein Bemühen illustrieren, zum Ausdruck zu bringen, es habe einen Wendepunkt der Erkenntnis und des Widerstandes gegeben, ohne
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gleichzeitig mehr an Wissen von oder sogar Teilnahme an dem, was vorging, zuzugeben, als er einzuräumen bereit war. Indem Klausa ein begrenztes Bewusstsein oder zumindest einen Verdacht bezüglich der grundsätzlich „verbrecherischen“ Natur dessen, was in dem Gebiet vorging, einräumt, gelingt es ihm, sich als eine Art Held darzustellen. Er gesteht kurz zu, dass er einmal Zeuge einer Deportation geworden sei : Sowohl in seinen Memoiren als auch in den Aussagen zu seiner Verteidigung behauptet er, er habe aus der Entfernung einen „Elendszug“ von vielleicht 1 000 Juden gesehen, die zur Mittagszeit an seinem Hause vorbei gezogen seien : Flankiert von ihrer eigenen jüdischen Miliz und angeführt von nur zwei deutschen Polizisten, waren sie auf dem Weg zum örtlichen Bahnhof. In Klausas Memoiren wird diese Geschichte zu einer Schlüsselerzählung : Angesichts dieser Gruppe rief er angeblich unmittelbar den Leiter der Polizei in Sosnowiec an, Alexander von Woedtke, der ihm eine beruhigende Geschichte von einer „Umsiedlung“ nach Russland erzählt habe. Entsprechend seinem Bericht hatte Klausa nichtsdestotrotz nun das Gefühl, dass er sich unmittelbar darum bemühen müsse, aus dem Gebiet zu verschwinden, und dass er nicht länger mit irgendwelchen verbrecherischen Handlungen verbunden sein dürfe, die möglicherweise dort im Gange waren : Dementsprechend arrangierte er angeblich seine beinahe unmittelbare Rückkehr in den Militärdienst an der Front, anstatt auf seiner „unabkömmlichen ( uk )“ Stellung an der Heimatfront zu bleiben, und er behauptet weiterhin, das er sich innerhalb weniger Tage zur Armee begeben habe. Diese Geschichte ist in einigen Punkten sachlich unrichtig. In der Tat hatte sich Klausa im Rahmen eines längeren Urlaubs vom aktiven Militärdienst aus gesundheitlichen Gründen in Bedzin aufgehalten : Er hatte einen Termin für eine medizinische Untersuchung, der zufällig auf den ersten Tag der Deportationen vom August 1942 fiel, bei welcher Gelegenheit er für tauglich zur Rückkehr zur Armee befunden wurde; in der Tat kehrte er nicht vor dem 1. Dezember 1942 an die Front zurück. Darüber hinaus war er im Herbst zuständig, als die endgültige Ghettoisierung ihre offizielle Zustimmung fand, unmittelbar vor derjenigen Deportation, durch die Bedzin schließlich von Juden „gesäubert“ wurde. Doch nutzt Klausa dieses zufällige Zusammentreffen der Daten dazu, eine noch heroischere Geschichte zu erzählen, die ihn wieder einmal bequemerweise zu entscheidenden Zeitpunkten im Laufe des Herbstes abwesend sein lässt. Ein weiterer Teil dieser Geschichte lässt Klausa angeblich die „Rettung“ eines Juden vor der Deportation versuchen, nämlich seines Hausmeisters, Gärtners, Hauswirtschafters und Faktotums, eines gewissen Laib Flojm, gemeinsam mit Flojms Frau und zwei kleinen Kindern. Die Geschichten widersprechen sich und geben die historischen Einzelheiten gravierend falsch wieder. Wenn man zusammenfügt, was möglicherweise tatsächlich geschah – obwohl dies nicht vollständig möglich ist – dann scheint es, als ob Klausa, um Flojm vor der Deportation zu retten, im Endeffekt an der Selektion teilnahm, die auf einem großen Sportgelände direkt gegenüber seinem Haus stattfand, bei der etwa 15 000 Juden drei Tage lang festgehalten wurden und in deren Verlauf mehr als 4 000 Juden
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selektiert wurden, um längs der Bahngleise nach Auschwitz geschickt zu werden. Im Verlauf der Aktion, so scheint es, überredete Klausa die SS Offiziere, welche die Selektion durchführten, dazu, dass „sein“ Jude, Laib Flojm, als unabkömmlicher Arbeiter im Gebiet bleiben durfte – wie dies viele örtliche Arbeitgeber taten, auch die berüchtigte SS Organisation Schmelt, die Zehntausende jüdischer Sklavenarbeiter in Schlesien beschäftigte.16 Die dann folgende Geschichte, er habe nicht nur Flojm, sondern auch dessen Frau und Kinder bis zu seiner eigenen Rückkehr an die Front versteckt – wobei er sich so porträtiert, als sei er beinahe in gleicher Weise den Nazis ausgeliefert gewesen wie die Familie Flojm, weshalb er ihnen „nicht länger“ habe helfen können – verleiht Klausas Selbstdarstellung eine Aura des Mutes gegenüber allen persönlichen Risiken, wird aber wieder nicht von den Tatsachen bestätigt, denn seine Abfahrt erfolgte weitaus später als dargestellt. Ohne hier noch weiter ins Detail gehen zu müssen, wird deutlich, dass Klausa Geschichten konstruiert. Diese Erzählungen scheinen sowohl den bekannten Tatsachen bezüglich dessen, was während seiner nominellen Zuständigkeit in der Gegend geschah, zu entsprechen, andererseits aber verschaffen sie ihm auch ein Alibi der Abwesenheit oder Unwissenheit oder beides. Es ist gut möglich, dass er sich an manche der von ihm genannten Daten nur noch verschwommen erinnerte und dass seine Erinnerung in manchen Einzelheiten sehr ungenau war. Doch es ist ebenfalls bemerkenswert, dass die unterschiedlichen Daten, die er für seine Abwesenheit aufgrund seiner militärischen Pflichten angibt, ihn des Öfteren bequem davonkommen ließen, soweit es um spätere rechtliche Ermittlungen ging, während wir doch aus den Archivquellen wissen, dass er zur fraglichen Zeit tatsächlich anwesend war. Doch liegt diesen Erzählungen vielleicht auch eine tiefere Wahrheit zugrunde : Sie deuten ein ungutes Gefühl an bezüglich der Art und Weise, in welcher der Kolonialrassismus unter eine Politik des Genozids subsumiert wurde. Dieserart spiegeln sie einen bestimmten inneren Zustand wieder, wenn auch nicht die äußeren Fakten der Situation, und sie erlauben es Klausa, die Einzelheiten der Zeit vor 1945 zumindest teilweise mit dem veränderten moralischen Rahmen sowie der Selbstinterpretation im veränderten interpretativen Kontext der Nachkriegszeit zu versöhnen. Die diesbezügliche Funktion seiner Geschichten wird in seinen Memoiren durchgängig evident : Seine Geschichten, von denen es viele gibt, längere und kürzere, stellen ihn beständig in einem guten Licht dar; vielleicht war dies bereits in sich eine Verteidigungsstrategie, mit deren Hilfe er nicht nur seiner Familie – für welche die Memoiren hauptsächlich geschrieben sind – sondern auch sich selbst deutlich machen konnte, dass es für ihn tatsächlich keinen Grund gab, ein schlechtes Gewissen zu haben.
16 Siehe darüber hinaus Sybille Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000.
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IV.
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Die Grenzen des Bösen : Hinter den Toren von Auschwitz
Einer der häufigsten Tricks ehemaliger Nationalsozialisten besteht darin, die Verortung und Natur des ultimativ Bösen auf Auschwitz zu beschränken. In gewissem Sinne stellte Auschwitz auch für Klausa die „finale Schwelle“ dar, die endgültige Überschreitung der moralischen Grenzen, mit dem berüchtigten Torbogen von Birkenau, welcher die Tore zum wahren Reich des Bösen bezeichnete. Auch hier wieder haben Erzählungen eine Schlüsselfunktion bei der Reinigung des Gewissens. In seinen Memoiren behauptet Klausa, er habe erst relativ spät im Verlaufe des Krieges von Auschwitz beziehungsweise von dem, was „wirklich“ in Auschwitz geschah, gehört, als er zufällig einen ehemaligen Schulkameraden im Zug getroffen habe. Dieser alte Schulfreund trug SS - Uniform, was Klausa angeblich schockierte ( jedenfalls stellt er die Dinge in seinen Memoiren so dar ). Als er von Klausa gefragt wurde, worin seine Tätigkeit bestehe, habe dieser Freund zurückgeflüstert, Klausa solle besser nicht fragen, es sei schrecklich. Klausa benutzt diese Geschichte, um wieder einmal seine eigene Unschuld und sein angebliches Nichtwissen von den tiefsten Tiefen des Naziregimes zu demonstrieren. Derartige „Zuggeschichten“ stellen eine relativ typische Art und Weise dar, zuzugeben, dass man tatsächlich „etwas“ statt „nichts“ gewusst habe, allerdings nur indirekt, aus zweiter Hand, und zur Kenntnis genommen nur unter einem gewissen Schock und indem man sich von der Verantwortung dafür distanzierte. Selbst wenn wir Klausas Version so akzeptieren, wie er sie überliefert, bleibt seine Ausdrucksweise doch erhellend. Klausa berichtet über seinen ehemaligen Schulfreund : „Sicher hat er nichts Böses getan. Ich nehme an, er musste auf einem Wachturm stehen und schießen, wenn ein Häftling floh. Mit der eigentlichen Henkeraufgabe in Auschwitz hat er ganz gewiss nichts zu tun gehabt.“17 Man fragt sich, worin nach Klausas Verständnis denn die „eigentliche Henkeraufgabe“ wirklich bestand, wenn das Schießen auf jeden, der von diesem Ort des Massenmordes, diesem „Anus der Welt“, zu entkommen versuchte, nicht dazu gehörte. Und wen könnte man denn „wirklich“ zur Verantwortung ziehen, wenn die Teilhabe am Bösen tatsächlich nur auf diejenigen beschränkt war, welche zum Funktionieren der Gaskammern und Krematorien beitrugen ? Vielleicht nur die Mitglieder der Sonderkommandos, welche mit der Drecksarbeit betraut waren, die zur „Duschkammer“ Verurteilten physisch dorthin zu begleiten und anschließend die Körper heraus zu holen und in die Öfen zu schieben – nicht aber die SS Wachen auf den Wachtürmen, deren Aufgabe es war, auch erstere zu bewachen, die selber in Kürze dem selben Prozess zum Opfer fallen würden ?
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LVR, Klausa 400, Erlebt, S. 156.
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In jedem Fall ist es bemerkenswert, dass Klausa noch vierzig Jahre nach dem Krieg, inmitten der blühenden Bundesrepublik Deutschland, auf diese typische Nazi - Vorstellung zurückgreifen konnte, dass es in gewisser Weise legitim gewesen sei, jemanden zu erschießen, der versuchte, zu fliehen : Das Echo der alten Phrase „auf der Flucht erschossen“, die so häufig ver wendet wurde, wenn unschuldige Menschen getötet wurden, weil sie der Brutalität der Nazis zu entkommen versuchten oder weil sie nach ihrer Flucht entdeckt und nach Auschwitz zurück gebracht worden waren. Klausas Bedenken und Zweifel begannen möglicherweise bereits im Verlauf des Jahres 1942, als er selber erkannt hatte, was „Auschwitz“ bedeutete, und nicht, wie er in seinen Memoiren behauptet, etwa zwei Jahre später während einer angeblich zufälligen Begegnung im Zug. Wie er in einer der Aussagen zu seiner Verteidigung am 16. Dezember 1975 sagte : Obwohl er zu dieser Zeit angeblich nicht wusste, wohin die Transporte gingen, war ihm nichtsdestotrotz „klar, dass hier ein Verbrechen geschehen sollte. Und ich wollte mit diesem Verbrechen nichts zu tun haben.“18 Wo auch immer Klausa wirklich die Grenze zog, ab der das „Böse“ tatsächlich begann, hier ist die Tatsache von Bedeutung, dass er vor der letzten Station der Judenverfolgung zurück schreckte : Ihrer Vernichtung durch Gas, wenn sie nicht „auf der Flucht“ erschossen wurden. Sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um ein typisches Syndrom, dass mit Hilfe der exzessiven Konzentration auf den ultimativen Schrecken von Auschwitz – gleichzeitig in sich selbst vollkommen gerechtfertigt – unbeabsichtigt dabei half, nach dem Kriege diejenigen zu decken, die das nationalsozialistische System der Rassenverfolgung möglich gemacht hatten, allerdings ohne dass sie selber diese „letzte Schwelle“ überschritten hätten. Die Geschichte nimmt noch eine weitere merkwürdige Wendung. Klausa stützt seine Vermutungen bezüglich der angeblichen Unschuld seines ehemaligen Schulfreundes, indem er hinzufügt : „Übrigens erfuhr ich nach dem Krieg, dass es ihm doch gelungen sei, von Auschwitz fort und an die Front zu kommen.“ Mehr noch, sein ehemaliger Schulfreund „hat überlebt und ist wohl auch nicht behelligt worden“.19 Dies ist ein bemerkenswertes Echo von Klausas eigener Erzählung : Dass es seinem Freund „gelang“, vom Ort des ultimativ Bösen wegzukommen und statt dessen an die Front zu gehen, und dass er nach dem Krieg niemals von Strafverfolgung behelligt wurde. Demnach funktioniert diese Erzählung als Ganzes in der Weise, die Literatur wissenschaftler als mise - en - abîme bezeichnen, als Text im Text, als eine Miniatur, welche die Geschichte als Ganzes spiegelt : nah dran, in angeblich legitimer Weise Hilfe leistend, aber nicht wirklich ein haftbar zu machender Teilnehmer auf der Seite des Bösen, nach dem Krieg niemals von Strafverfolgung 18 Bundesarchiv ( im Folgenden BArch ) B 162/7723, Fol. 212. 19 LVR, Klausa 400, Erlebt, S. 156.
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betroffen oder für schuldig befunden – in konzentrierter Form sieht all das nach einem Muster oder einer Verpackung aus, die dazu gedacht war, andere von der eigenen Unschuld zu überzeugen. Man kann mit einem gewissen Zynismus feststellen, dass es sich bei diesem Teilgeständnis der Mitwisserschaft in Verbindung mit gleichzeitiger Distanzierung, bei dieser Entschlossenheit, ein gewisses Maß an gebrochenem Nichtwissen und doch erwiesener Unschuld zu bekennen, um eine Nachkriegsdarstellung handelte, mit der Klausa – sowie unzählige ehemalige Nazis – bequem leben konnten. Von den deutschen Gerichten, die bei der Ermittlung und Verfolgung derer, die in die Maschinerie des nationalsozialistischen Staates verwickelt gewesen waren, in berüchtigter Weise langsam und nachlässig operierten, nicht zur Verantwortung gezogen worden zu sein, wurde als eindeutiger Unschuldsbeweis dargestellt. Selbstverständlich ist im streng rechtlichen Sinne jeder so lange unschuldig, bis ihm eine Schuld nachgewiesen wird, doch hängt dies natürlich davon ab, dass man sich einem gerechten Verfahren stellen muss, anstatt der Gerechtigkeit zu entgehen und die Vergangenheit zu verdrehen.
V.
Abwesenheit und Amnesie
Auch stand Klausa mit den Mustern seiner Selbstdarstellung in der Nachkriegszeit bei Weitem nicht allein. Viele von Klausas Kollegen im Gebiet von Sosnowiec und Bedzin gaben an, auch sie hätten nichts mit dem zu tun gehabt, was „tatsächlich“ dort geschah, und hätten wenig oder nichts davon gewusst : Die Akten in Ludwigsburg sind voller ähnlicher Zeugnisse von Angehörigen der Zivilverwaltung und von Menschen, die in die wirtschaftliche Ausbeutung jüdischer Arbeitskraft verwickelt waren. Diese Leute protestierten, sie hätten niemals irgendetwas von dem gesehen, gehört oder in irgendeiner Weise an dem teilgenommen, was um sie herum geschah. Nach dem Krieg schien keine der drei Schlüsselpersonen, die bei der Vereinbarung und Umsetzung der Ghettoisierungspolitik eng zusammen gearbeitet hatten – der Polizeichef von Sosnowiec, von Woedtke, der Bürgermeister von Sosnowiec, Franz - Josef Schönwälder, sowie der Bedziner Landrat Klausa – akzeptieren zu wollen, dass sie für die Ghettoisierung der Juden eine Verantwortung trügen oder überhaupt irgendetwas von dem blutigen Ende gewusst hätten, welches die von ihnen geschaffenen Ghettos nahmen. Franz - Josef Schönwälder, Bürgermeister von Sosnowiec vom 7. Januar 1940 bis zum 26. Januar 1945, machte am 11. Juni 1960, im Alter von 63 Jahren, zu welcher Zeit er als Architekt in Wesel tätig war, eine Aussage gegenüber den Ludwigsburger Ermittlern. Er gab an, er sei im Sommer 1942, als nach seinen Angaben die einzige Aktion gegen Juden in seiner Gegend stattgefunden haben könnte, in Urlaub gewesen, und er behauptete, dass er daher nichts von irgendeiner Misshandlung von Juden in seinem Gebiet gewusst habe und nichts damit zu tun gehabt habe : „Bis zum Sommer 1942 fanden keine Deportationen von
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Juden statt. Im Sommer 1942 ging ich in Urlaub. Nach meiner Rückkehr im Juli erfuhr ich, dass in der Zwischenzeit innerhalb drei Tagen sämtliche Juden bis auf einen Arbeitstrupp von etwa 1200 Männern und Frauen abtransportiert waren, und zwar meines Wissens nach Theresienstadt und Auschwitz. Als Grund für den Abtransport wurde angegeben, dass die Juden in einem größeren Lager zusammengefasst besser zur Arbeit herangezogen werden könnten. Was mit ihnen geschehen ist, weiss ich nicht.“20 Indem er bequemer weise seine eigene Rolle bei der Ghettoisierung und tatächlich auch die große Ghettoräumung im Sommer 1943 vergaß, fuhr Schönwälder fort, zu versichern : „Über Misshandlungen von Juden in Sosnowitz war mir nichts bekannt worden. Die Juden waren vollständig aus unserer Kommunalverwaltung ausgegliedert. Sie standen unter eigener jüdischer Verwaltung, die wiederum ihre Anweisungen von der Einsatzstelle für Judenarbeit unter Leitung von SS-Oberführer Schmelt erhielt.“21 So wurde das ganze Elend im Ghetto als ein Problem dargestellt, das im Kern die jüdische Ghettoverwaltung und die SS betraf. Ein ähnliches Muster wird in den Aussagen evident, die der ehemalige Polizeichef von Sosnowiec, Alexander von Woedtke, machte. In seiner Aussage vom 8. März 1960, als er als Pensionär in Göttingen lebte, versucht von Woedtke, einen Teil der Verantwortung auf Schönwälder abzuwälzen, während er ihn gleichzeitig teilweise entlastet : „Erwähnen möchte ich, dass Herr Schönwälder als Oberbürgermeister von Sosnowitz die Hauptlast dieser Umquartierung der Juden zu tragen hatte. Diese Aktion ging reibungslos vor sich; es kam hierbei nicht zu irgendwelchen Ausschreitungen. […] Mir ist […] bekannt, dass er [Schönwälder] zwar ein Nationalsozialist, jedoch kein Judenverfolger war. Da Herr Schönwälder seine Amtsgeschäfte ernst nahm, war er zum Teil auf die Juden angewiesen.“22 Auch macht von Woedtke die Juden selber für die Lebensbedingungen der Juden verantwortlich, indem er jede Erwähnung der Methoden vergisst, aufgrund derer die deutsche Verwaltung tatsächlich für deren furchtbare Situation verantwortlich war : „Erwähnen möchte ich, dass die Juden in Sosnowitz eine eigene Verwaltung und einen eigenen Ordnungsdienst hatten.“23 Von Woedtke gesteht die Teilnahme der unter seinem Kommando stehenden Polizeikräfte an dem zu, was er als eine rein „administrative“ Rolle bei der „Räumung“ des Ghettos in der geringen zur Verfügung stehenden Zeit ausgibt, wodurch einige „Schwierigkeiten“ entstanden seien : „Die Räumung des Ghettos musste in so kurzer Zeit erfolgen, dass ich mit meinen ordnungspolizeilichen Aufgaben Schwierigkeiten hatte.“24 Doch bringt er zum Ausdruck, nicht seine Polizeikräfte, sondern statt dessen diejenigen des Hauptquartiers der Staats20 21 22 23 24
BArch B 162/1608, Fol. 19R. BArch B 162/1608, Fol. 19R - 20. BArch B 162/1608, Fol. 127. Ebd. BArch B 162/1608, Fol. 129.
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polizei seien für alle „politischen“ Aspekte dieser Aktion verantwortlich gewesen: „Ich möchte betonen, dass meine Dienststelle nur ordnungspolizeiliche und verwaltungspolizeiliche Aufgaben zu erfüllen hatte im Gegensatz zu den politischen Aufgaben der Staatspolizei-Leitstelle, die dem Reichssicherheitshauptamt unterstand.“25 Merkwürdigerweise gaben allerdings selbst Angehörige des Hauptquartiers der Staatspolizei in Kattowitz an, „nichts davon gewusst zu haben“, da sie „monatelang“ ( wie es Walter Baucke behauptete ) anderswo gewesen seien, oder sie behaupteten ( in den Worten von Franz Gawlik ): „Über die Judenaussiedlung vermag ich nichts zu sagen, weil ich damit nichts zu tun hatte. Dies war allein Sache des Judenreferats. Überdies gab es in Kattowitz keine Juden mehr, sondern nur noch in Sosnowitz, wo auch ein großes Ghetto war.“26 Andere, die mit verschiedenen Tätigkeiten auf niederer Ebene in der Gegend betraut waren, zeigten ähnliche Erinnerungslücken und unternahmen ähnliche Versuche, die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Rudolf Braune, ein ehemaliger nationalsozialistischer Geschäftsmann, der jüdische Firmen übernommen hatte, deren Besitzer zuvor enteignet worden waren, war 52 Jahre alt und lebte in Hamburg, als er im Sommer und Herbst 1961 in unregelmäßigen Abständen Aussagen machte, wobei er Gespräche mit den Rechtsbehörden wiederholt abbrach oder verschob. Doch auch er behauptete, nichts gewusst und wenig mitbekommen zu haben, obwohl er angeblich versucht hatte, „seine“ Juden vor der Deportation zu bewahren.27 Johannes Karl Hähnel, ehemaliger Postbeamter und nun „Flüchtling aus Oberschlesien“ ( entsprechend der damaligen Darstellung in Westdeutschland eines der vielen „deutschen Opfer“), lebte in dem süddeutschen Ferienort Lenggries am Fuße der Alpen und gab im Jahre 1960 an, er habe gewusst, dass etwa 6 000 Juden aus Olkusz ( Ilkenau ) nach Auschwitz deportiert worden waren. Doch nach seinen Angaben hatte dies zu einer Zeit stattgefunden, als er selber sich in Verbindung mit nicht näher bezeichneten Pflichten anderswo aufgehalten habe. Er behauptete ebenfalls, das er bei seiner Rückkehr nicht wirklich wahrgenommen habe, dass die Juden nicht mehr da waren, da sie bereits vor ihrer Deportation ihre Häuser und das Ghetto sowieso nicht mehr hätten verlassen dürfen, so dass ihre Abwesenheit ihm kaum aufgefallen sei.28 Theodor Clausen, ein ehemaliger höherer Verwaltungsinspektor und Standesbeamter in Sosnowiec, der zur Zeit seiner Aussage in München lebte, behauptete, er habe niemals irgendwelche „Aktionen gegen Juden oder […] Aussiedlungen“ wahrgenommen, auch sei er niemals Zeuge irgendwelcher Todesfälle oder Misshandlungen von Juden oder Polen in der Stadt geworden, da sein Büro auf der anderen Seite der Stadt gewesen sei, etwa drei bis vier Kilometer vom Ghetto entfernt, und weil er „spät abends im Büro“ gearbeitet
25 26 27 28
BArch B 162/1608, Fol. 126. BArch B 162/19657, Fol. 506, 517. BArch B 162/1609. BArch B 162/7711, Fol. 126–8.
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habe.29 Johann Weißfloch, ehemaliger Kriminalermittler in Sosnowiec, hatte ganz ähnlich von irgendwelchen Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung nichts gesehen oder gehört, da sich seine Aktivitäten hauptsächlich auf „die einlaufende Post und auf den Nachrichtendienst“ konzentriert hätten.30 Selbst Heinrich Mentgen, Klausas vielgepriesener Leiter der Gendarmerie im Landkreis Bedzin, hatte nichts gesehen, nichts gewusst, und konnte sich an nichts erinnern. Auch er war angeblich abwesend gewesen – zur Hochzeit seines Sohnes entweder im Jahre 1942 oder 1943, er konnte sich an das genaue Jahr nicht mehr erinnern – als, wie ihn sein Fahrer angeblich bei seiner Rückkehr informiert habe, sämtliche Juden Bedzins deportiert wurden. Man hatte ihm die noch vorhandenen Blutspuren am Bahnhof gezeigt, doch hatte er, wie er behauptete, selber nichts gesehen.31 Es wurde nie der Frage nachgegangen, wo er in dem „anderen“ Jahr gewesen war, in dem sein Sohn nicht geheiratet hatte, indem aber eine weitere größere Deportation stattgefunden hatte, oder was er in all den dazwischen liegenden Monaten getan hatte. Kurz gesagt, diejenigen die in einer Reihe von Funktionen damit betraut gewesen waren, das deutsche System in der Gegend umzusetzen, gaben später an, dass sie überhaupt nichts gesehen oder gehört hätten, während geschätzte 85 000 Menschen aus den umliegenden Städten, Dörfern und Orten deportiert wurden, wobei die Ghettos von Bedzin und Sosnowiec als Durchgangsstationen auf dem Weg in die Arbeitslager und Gaskammern von Auschwitz fungierten. So wenig plausibel es auch klang, all diese Deutschen behaupteten, dass sie bis in die späten Abendstunden gearbeitet hätten, mit anderen Pflichten beschäftigt gewesen, im Urlaub oder auf der Hochzeit eines Sohnes gewesen seien – bzw. in Klausas Fall an die Front „verschwunden“ seien – und zwar immer dann, wenn es zu irgendeiner Gewaltaktion oder Deportation kam, deren Zeugen sie doch hätten werden müssen, und angeblich hatten sie erst zu einem späteren Zeitpunkt – aus zweiter Hand, indem man ihnen davon erzählte – irgendetwas von dem erfahren, was angeblich stattgefunden hätte. Unbesehen aller Unterschiede im Detail ist doch das allgemeine Muster dieser Erzählungen von bemerkenswerter Ähnlichkeit : Beschäftigung nur mit Routinearbeiten und respektablen Pflichten; Abwesenheit aus der Gegend, wann immer irgendjemand anderer etwas Böses getan hatte; später teilweise Erkenntnis aufgrund bruchstückhafter Hinweise. Was auch immer der Grund für diese Vertuschungen der Nachkriegszeit war, Menschen wie von Woedtke, Schönwälder und Klausa waren mit Sicherheit weitaus intensiver in die Geschehnisse in der Region verwickelt als sie bereit waren, zuzugeben. Eine zynische Sichtweise könnte diese angeblichen Lücken und Verzerrungen der Erinnerung als durchaus in Übereinstimmung befindlich
29 BArch B 162/7723, Fol. 53. 30 BArch B 162/7723, Fol. 45. 31 BArch B 162/7723, Fol. 214–6.
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ansehen mit dem inoffiziellen Nachkriegskonsens, dass die beste Verteidigungsstrategie darin bestehe, jedes relevante Wissen glatt zu leugnen. Ob dieses Muster der Selbstdarstellung aktiv unter ehemaligen Kollegen abgestimmt wurde, die nach wie vor in persönlichem Kontakt zueinander standen ( wie wir es in mindestens einem Fall wissen ), oder indem man mit Leuten sprach, die ähnliche Erfahrungen und Sichtweisen hatten, oder ob sie unabhängig voneinander und beinahe unterbewusst entstanden, ist nicht leicht festzustellen. Eine freundlichere Sichtweise könnte zu dem Ergebnis kommen, dass insbesondere Klausa nicht in gleichem Maße Eigenaktivität gezeigt hatte wie von Woedtke und Schönwälder und tatsächlich während längerer Zeiträume abwesend war – wenn auch nicht ganz so lange, wie er später behauptete. Intern hatte er möglicherweise stärker gegen die Entwicklung opponiert als diese seiner Kollegen, und vielleicht hatte er ein stärkeres Unwohlsein verspürt gegenüber dem, in das er unvermeidlicherweise verwickelt wurde, während er seine Rolle in der Gegend ausfüllte. Daher war er eventuell der Meinung, er persönlich habe nichts zu vertuschen, und war daher nicht bereit, sich auf eine umfangreichere Debatte über seine Rolle einzulassen, wobei er es einfacher fand, zu behaupten, er sei am Ort des Geschehens nicht anwesend gewesen, indem er mit den Daten seines Armeedienstes ein wenig elastisch umging. Vielleicht hatte er bis zu diesem Zeitpunkt sogar damit begonnen, seiner eigenen Geschichte Glauben zu schenken, brachte nun tatsächlich die Daten durcheinander, und hatte in jedem Fall kaum zur Kenntnis genommen, welche Auswirkungen die Politik der Nazis auf die Opfer hatte und welches Elend während der ganzen Zeit um ihn herum geherrscht hatte, weswegen es ihm leicht fiel, sich später nicht mehr daran zu „erinnern“.
VI.
Schlussfolgerungen
So trägt diese Geschichte eines „durchschnittlichen“ Nazis viel zu unserem Verständnis der Frage bei, „wie Auschwitz möglich war“, sowohl bezüglich der Mentalitäten als auch deren Auswirkungen auf das Verhalten. Selbst innerhalb des Systems gefangen – wenn auch in sehr privilegierter Stellung, die ihm, anders als den Opfern des Nationalsozialismus, viele Optionen ließ – war Klausa möglicherweise innerlich lahm gelegt. Er hatte sich, und das seit seiner Jugend, dem Dienst an seinem Staat im Rahmen der Zivilverwaltung sowie dem Kampf für sein Vaterland in Kriegszeiten verschrieben. Als er schließlich erkannte, was ersteres tatsächlich in der Praxis bedeutete – was sehr lange dauerte, aber für sehr viele andere ebenso galt – sah sich Klausa tatsächlich in einer emotionalen und politischen Falle gefangen. Er gab selber zu, er habe nicht offen zu sprechen gewagt. „Man musste sich damals ganz schrecklich vorsehen“, wie er es in seinen späteren Memoiren formulierte, und er war ganz offensichtlich nicht bereit, sein Leben und Wohlergehen sowie das seiner Familie durch irgendwelchen von außen kommenden Widerstand zu riskieren, so verwirrt er
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auch durch die verspätete, aber wachsende Erkenntnis der mörderischen Natur des Systems, dem er diente, gewesen sein mag. An seinen Nerven „leidend“, war Klausa unfähig, weder damals noch später, irgendeine klare Opposition gegenüber dem, was sich abspielte, zum Ausdruck zu bringen oder auch nur zuzugeben, was er wusste; vielleicht wollte er noch nicht einmal „wissen“, was er wusste. Seine einzige Zuflucht scheint darin bestanden zu haben, zu versichern, es sei ihm trotz fortgesetzter und vielleicht teilweise psychosomatisch bedingter Beschwerden gelungen, eine Tauglichkeitsuntersuchung der Armee zu überstehen, die entsprechenden Behörden davon zu überzeugen, dass er zum Kriegsdienst tauglich sei, und zur Armee zurückzukehren, sowie vorzugeben, er habe „nichts gewusst“, was möglicherweise gleichermaßen im Sinne seiner psychologischen Gesundheit und der Vermeidung einer Strafverfolgung war. Was auch immer Klausas persönliche Gefühle und Reaktionen in der entsprechenden Zeit waren, so ist es doch unzweifelhaft, dass er zu keinem Zeitpunkt auf dem Weg, der schließlich Auschwitz ermöglichte, irgendein Zögern in seinem tatsächlichen Verhalten und bei der getreuen Erfüllung seiner offiziellen Pflichten zeigte : Durchgehend spielte er die ihm zugedachte Rolle innerhalb des Systems und setzte die Rassenpolitik der Stigmatisierung, Ausgrenzung, Beschränkung und Ghettoisierung getreulich um. Kolonialrassismus, was nicht dasselbe ist wie Goldhagens „Ausrottungsantisemitismus“, war ein Schlüsselelement für die Entwicklung der Vorbedingungen des Völkermordes. Genauso wenig, soweit es die Quellen der Zeit erkennen lassen, zeigte Klausa zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwelche erkennbaren Regungen gegenüber dem Leid, dem Mitmenschen bis dahin aufgrund der Politik der Nationalsozialisten ausgesetzt waren – bis er, einige Jahrzehnte nach den Geschehnissen, die er beschreibt, sich in seinen Memoiren darum bemühte, so etwas wie Mitleid für die Opfer der nationalsozialistischen Politik zum Ausdruck zu bringen. Eine strikte Trennung innerhalb seines Bewusstseins, nach der Gruppen von Menschen nach „rassischen“ Kriterien definiert und in eine Hierarchie von Höher und Minderwertigkeit eingeordnet wurden, stellte eine der Vorbedingungen für die Umsetzung der Politik des Kolonialrassismus dar. Sie erlaubte auch einen Mangel an Mitgefühl mit den Opfern dieser Politik : ein vollständiges Versagen dabei, sich ihre Erfahrungen und Lebensbedingungen – sowie die Umstände ihres Todes – vorzustellen und Mitleid mit ihnen zu empfinden. Es liegt zum Teil auch an den Einstellungen und dem Verhalten von Menschen wie diesem hoch gebildeten Juristen und hochrangigen Beamten – dem angesichts seiner eigenen Verstrickung in das System anscheinend erst dann flau wurde, als er erkannte, was das nächste Glied der Kette sein würde, das schließliche Ergebnis der Ausgrenzung und Ghettoisierung –, dass es letztendlich denen, die an der Front der Gewalttaten standen, ermöglicht wurde, den Holocaust in die Tat umzusetzen. Klausas Fall lässt sich eventuell an einem ganz spezifischen Punkt auf der Skala einordnen, angesichts der Tatsache, dass er eine verantwortliche Rolle in der Zivilver waltung eines Bezirkes innehatte, der so
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nahe an den Gaskammern von Auschwitz war, doch stellt er gleichzeitig ein vollkommen normales Beispiel dar, in dem Sinne, dass eben dieser Mangel an Mitgefühl mit den Opfern des Rassismus in früheren Stadien sowie die spätere Entschlossenheit, „nichts davon gewusst zu haben“, sehr weit verbreitet waren. Dieses Versagen des Mitgefühls, dieser Unwille, zu sehen und aufzunehmen, was tatsächlich geschah, stellte eine Vorbedingung für das Funktionieren des Systems und deshalb schließlich für die Maschinerie der Vernichtung dar. Für die Vertreter der Naziherrschaft in dieser Provinz stellte die Verleugnung jedes Wissens von „Auschwitz“ bzw. „dieser Funktion von Auschwitz“ als einer letzten Schwelle zum Bösen ein bequemes Mittel dar, sich selbst von jeder Schuld freizusprechen. Aus der Nachkriegsperspektive dieser Beteiligten war alles, was sie benötigten, ein kurzzeitiges Alibi und Geschichten von Abwesenheit zum entscheidenden Zeitpunkt, manchmal in Verbindung mit Andeutungen bruchstückhaften Hörensagens. Die große Mehrheit derer, die von den westdeutschen Rechtsbehörden verhört wurden und sich entlang dieser Linie äußerten, waren dann in der Lage, ihre Pensionen in Frieden und Wohlstand zu genießen, ungestört von unangenehmen Erinnerungen bzw. mit in jeder Hinsicht „reinem Gewissen“.
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Eine Frage der Ehre. Anmerkungen zur Sexualität deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkriegs* Regina Mühlhäuser Am 15. März 1946 sagte Hermann Wilhelm Göring, während des Zweiten Weltkriegs Oberster Befehlshaber der deutschen Luftwaffe, im Zeugenstand des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg aus. Die Anklagepunkte gegen ihn lauteten Verschwörung [ zum Angriffskrieg ], Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er selbst stellte sich als Entscheidungsträger im Rahmen einer Kriegsführung dar, die das Normale nicht verlassen hätte. Von seinem Verteidiger Dr. Otto Stahmer nach seiner Einstellung gegenüber Straftaten der ihm unterstellten Soldaten in den besetzten Gebieten gefragt, führte Göring aus, er habe sich „alle Fälle, die irgendwie schwerer Art waren“, persönlich vorlegen lassen und nicht selten bereits gesprochene Urteile der Divisionsgerichte wieder aufgehoben, „weil sie zu mild waren, besonders wenn es sich um Schändung von Frauen gehandelt hat. In diesem Fall habe ich stets die Todesstrafe, die vom Gericht ausgesprochen war, bestätigt, wenn nicht von Seiten der beleidigten Partei in Ausnahmefällen ein Gnadengesuch eingegeben wurde. [...] Ich war darüber hinaus Gerichtsherr auch für diejenigen Bewohner der besetzten Gebiete, die vor ein Luftwaffengericht gestellt wurden; also zum Beispiel, wenn [...] die eingeborene Zivilbevölkerung feindlichen Fliegern auf der Flucht geholfen [ hatte ]. Die Kriegslage erforderte selbstverständlich, dass hier im Allgemeinen scharf durchgegriffen wurde. Ich möchte aber betonen, dass in diesem Zusammenhang selbstverständlich von den Gerichten die vorgeschriebene Todesstrafe auch gegen Frauen verhängt wurde. In all diesen Fällen, wo es sich um Frauen handelte, habe ich während der gesamten Kriegsjahre nicht einen einzigen, aber auch nicht einen einzigen Fall bestätigt; ich habe vielmehr jeden Fall, wo es sich um eine Frau handelte, selbst dort, wo es sich um tätliche Angriffe und Beteiligung an einem solchen gegen Angehörige meiner Luftwaffe gehandelt hat, also auch in schwersten Fällen, Begnadigung ausgesprochen und nicht unter ein einziges Urteil bei einer Frau meine Bestätigungsunterschrift gesetzt.“1
Nach Görings Darstellung hatte er persönlich dafür Sorge getragen, dass Luftwaffenangehörige, die schwere Verbrechen begangen hatten, bestraft worden * 1
Für Diskussion und Kommentare danke ich Carsten Gericke, Therese Roth und Gaby Zipfel. Zit. nach Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vom 14. November 1945 – 1. Oktober 1946 [ im Folgenden IMT ], Nürnberg 1947, Band 9, S. 404.
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seien, mitunter auch mit dem Tod. Als erstes Beispiel führte er Männer an, die wegen des Tatvorwurfs der „Notzucht“ vor Wehrmachtsgerichten gestanden hatten. In welchem Maße die Luftwaffe bei Vergewaltigungsfällen in den besetzten Gebieten tatsächlich Todesurteile gegen Soldaten verhängt hat, muss in Zukunft untersucht werden. Die Forschungen von Birgit Beck haben allerdings bereits gezeigt, dass die Wehrmacht Fälle von „Notzucht“ an der Front und in den besetzten Gebieten in der Regel nicht als „primäres Vergehen“ erachtete. Der Großteil sexueller Gewalttaten wurde von vornherein nicht verfolgt. Die wenigen Fälle, die letztlich vor Gericht kamen, wurden nach Kriterien der militärischen Effizienz als Verletzung der Disziplin und Gefahr für das Ansehen und den Zusammenhalt der Truppe bewertet. Das Strafmaß variierte je nach Kriegsverlauf und Territorium; die Todesstrafe scheint jedoch nur in Ausnahmefällen verhängt worden zu sein und die Männer, die zu vergleichsweise hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, mussten diese in der Regel nicht absitzen.2 Die Art und Weise, in der Göring in seiner Aussage ungefragt auf die angeblich strenge Bestrafung sexueller Gewalttaten zu sprechen kommt, deutet nicht zuletzt vor diesem Hintergrund darauf hin, dass er die Erzählung vor allem nutzt, um sich als korrekten und ehrbaren militärischen Befehlshaber zu inszenieren, der auch in der extremen Situation des Kriegs nach moralischen Grundsätzen gehandelt hat. Er habe, so die implizite Botschaft, die grundlegenden zivilisatorischen Übereinkünfte kriegführender Staaten in der Moderne nicht verletzt. Dabei ging es Göring offensichtlich nicht nur darum, die nationalsozialistische Kriegsführung zu legitimieren, sondern auch sich selbst als moralisch integren Menschen darzustellen. Als der Vorsitzende des Nürnberger Gerichts, Richter Robert H. Jackson, ihn einige Tage später fragte, ob es richtig sei, dass er sich gegen die Übersetzung des Wortes Schändung mit „rape“ ( Vergewaltigung ) verwahrt habe, bekräftigte Göring, er sei bereit, „absolut und gerne die Verantwortung auch für schwerste Dinge zu übernehmen, die ich getan habe. Diese Äußerung lehne ich aber ausdrücklich als mir widersprechend ab“.3 Mit seiner entschiedenen Ablehnung war allerdings keine erkennbare Empathie mit den betroffenen Frauen verbunden. Görings Formulierung der „beleidigten Partei“ lässt vielmehr darauf schließen, dass er Vergewaltigung als Ehr verletzung erachtete, deren Hauptleidtragende die männlichen Angehörigen der Opfer seien.4
2
3 4
Vgl. Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939–1945, Paderborn 2004, S. 427, 308–325; Christian Thomas Huber, Die Rechtsprechung der deutschen Feldkriegsgerichte bei Straftaten von Wehrmachtssoldaten gegen Angehörige der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten, Marburg 2007, S. 95; David Raub Snyder, Sex Crimes under the Wehrmacht, Lincoln, NE 2007, S. 137 f. IMT, Band 9, S. 624. Zum Topos Ehrverletzung vgl. Ruth Seifert, Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse. In : Alexandra Stiglmayer ( Hg.), Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen, Freiburg i. Brsg. 1993, S. 85–108.
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Mitte des 20. Jahrhunderts entsprach diese Argumentation Görings dem Werte - und Normensystem in Europa und den USA. Erst seit Mitte der 1990er Jahre werden die Verletzungen der Opfer sexueller Kriegsgewalt in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert und die Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Teil des Genozids vor internationalen und internationalisierten Gerichten zur Anklage gebracht.5 1946 galten sie auch in der Vorstellung der Alliierten nicht als zu ahndendes Verbrechen, sondern vielmehr als quasi natürliche Begleiterscheinung des Kriegs. Man ging davon aus, bei sexueller Gewalt handele es sich – wie Gaby Zipfel formuliert hat – „um einen natürlichen, wenn auch forcierten Akt zwischen Mann und Frau, der nicht wirklich verletzend sei, solange nicht extreme Gewalt angewendet würde“.6 In diesem Sinne wurden sexuelle Gewalttaten bei den Nürnberger Prozessen auch nicht angeklagt. Besonders brutale Fälle tauchten in der Beweisführung zwar an verschiedenen Stellen auf, allerdings lediglich um die Perversion und Unzivilisiertheit der Täter zu illustrieren. Auch der nächste Argumentationsschritt Görings, in dem er sich als Retter von feindlichen Saboteurinnen und Spioninnen beschrieb, nahm Bezug auf virulente Moralvorstellungen in westlichen staatlichen Armeen. Während viele Formen von Gewalt im Krieg als notwendig, mitunter ehrenhaft, zumindest aber als hinzunehmen galten, verstießen einige gegen die, wie Lutz Klinkhammer es ausgedrückt hat, „männliche Matrix des Kriegs“.7 Einer dieser Grenzübertritte bestand in der Ermordung von Frauen und Kindern. Tatsächlich empfand ein Teil der Wehrmachtssoldaten, wie Sönke Neitzel und Harald Welzer gezeigt haben, im Angesicht der Ermordung von Frauen und Kindern in der Sowjetunion ernsthaftes Entsetzen, gar Scham. Insbesondere ranghöhere Soldaten fürchteten einen damit einhergehenden moralischen Verfall zukünftiger Generationen der deutschen Gesellschaft. Weder Schuldgefühle noch negative Zukunftsvisionen führten allerdings dazu, dass die Männer sich bemüht hätten, den Tötungsaktionen entgegenzutreten oder Rettungsmaßnahmen in die Wege 5
6
7
Einen Überblick über die Literatur zum Thema gibt Ingwer Schwensen, Sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten. Auswahlbibliographie für die Erscheinungsjahre 2002 bis 2008. In : Mittelweg 36, 18 (2009) 1, S. 67–90. Zu aktuellen Diskussionen siehe u. a. Kirsten Campbell, Transitional Justice und die Kategorie Geschlecht. Sexuelle Gewalt in der Internationalen Strafgerichtsbarkeit. In : Mittelweg 36, 18 (2009) 1, S. 26–52; Carsten Gericke / Regina Mühlhäuser, Vergebung und Aussöhnung nach sexuellen Gewaltverbrechen in Kriegs - und Konfliktregionen. Zur Funktion und Bedeutung internationaler Strafprozesse. In : Susan Buckley - Zistel / Thomas Kater ( Hg.), Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit, Baden - Baden 2011, S. 91–111. Gaby Zipfel, Ausnahmezustand Krieg ? Anmerkungen zu soldatischer Männlichkeit, sexueller Gewalt und militärischer Einhegung. In : Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser ( Hg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex - Zwangsarbeit in NS Konzentrationslagern, Berlin 2008, S. 55–74, hier 73. Lutz Klinkhammer, Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941–1944. In : Rolf - Dieter Müller / Hans - Erich Volkmann ( Hg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 815–836, hier 834.
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zu leiten.8 Die Verve, mit der Göring dem gegenüber insistiert, er habe sich für Frauen, denen die Todesstrafe drohte, eingesetzt, selbst wenn sie den ihm unterstellten Soldaten ernsthaft geschadet hatten, offenbart, dass er sich nicht nur als unbescholtenen Menschen, sondern vor allem als ehrbaren Mann zu inszenieren suchte. Deutlich wird, dass das Verhalten gegenüber Frauen im Allgemeinen und die Ausübung sexueller Gewalt im Besonderen zum Symbol werden konnte, das die Schnittstelle zwischen Ehrenhaftigkeit und Ehr verlust markierte. Während Göring seine Anständigkeit bzw. die der Wehrmacht am Beispiel von Todesurteilen in Fällen von Vergewaltigung hervorhob, stempelte er implizit diejenigen, die sexuelle Gewalt verübt hatten, als „deviante“ Einzeltäter ohne „Manneszucht“ und Moralgefühl ab, die die Armee entehrt hätten. Damit zeichnete er ein Bild, das wenig mit der gerade erst vergangenen Realität des Kriegs zu tun hatte. Durch eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen aus allen Stadien und Territorien des Kriegs, der Besatzung und der „Endlösung“ wissen wir heute, dass sexuelle Gewalttaten für viele Soldaten ein selbstverständlicher Bestandteil des Kriegs waren. Deutsche Truppenangehörige zwangen Frauen ( mitunter auch Männer ), sich zu entkleiden, sie befingerten sie im Rahmen von Leibesvisitationen und Hausdurchsuchungen, fotografierten sie nackt, sie unter warfen sie sexueller Folter, verübten Vergewaltigungen ( mit dem Penis, mit anderen Körperteilen, auch mit Gegenständen ), sie zwangen Frauen in die sexuelle Versklavung.9 Die Quellen deuten darauf hin, dass auch Männer solche Taten verübten, für die dies vor dem Krieg undenkbar gewesen wäre. Während des Kriegs und der Besatzung konnten sexuelle Gewalttaten innerhalb des Männerbundes Wehrmacht / SS zum Beweis für siegreiche Männlichkeit und – in der Weiterung – männliche Ehre werden. Im Folgenden möchte ich genau an dieser Schnittschnelle von sexueller Gewalt als Symbol für Ehrenhaftigkeit / Ehr verlust ansetzen und nach den Zusammenhängen zwischen Sexualität, Geschlecht, männlichen Ehrvorstellungen und Moral fragen. Wenn man von einer „NS - Moral“ sprechen will, zielt diese sicherlich auf das Selbstverständnis der Volksgemeinschaft. Moralische Verpflichtungen bestanden gegenüber denjenigen, die man als „Volksgenossen“ erachtete. Gesellschaftliche Normen, auch sexuelle Normen, befanden sich entsprechend in einem Wandlungsprozess im Verhältnis zur Vor - NS - Zeit. In Anlehnung an Raphael Gross verwende ich den Begriff der „NS - Moral“ nicht als eine
8 9
Vgl. Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011, S. 193. Vgl. z. B. das Quellenmaterial in Wendy Jo Gertjejanssen, Heroes, Survivors. Sexual Violence on the Eastern Front during World War II, unveröffentlichte Doktorarbeit, University of Minnesota 2004; Doris L. Bergen, Sexual Violence in the Holocaust. Unique or Typical ? In : Dagmar Herzog ( Hg.), The Holocaust in International Perspective, Chicago 2006, S. 179–200; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941–1945, Hamburg 2010; Neitzel / Welzer, Soldaten, S. 217–228.
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normative, sondern als eine deskriptive Kategorie : „als Bezeichnung [...] der während einer bestimmten Zeit geschaffenen Werte“.10 Um zu beschreiben, welche Normen und Werte im Zuge des Kriegs hervorgebracht wurden, werde ich zunächst unterschiedlichen Formen von Sexualität nachgehen, die Angehörige von Wehrmacht und SS während des Kriegs in der Sowjetunion ausgeübt haben. Wie gingen die Männer mit heterosexuellen Zusammentreffen um ?11 Im zweiten Teil erörtere ich die militärischen Einhegungen. Wie versuchten Wehrmacht und SS ihre Männer in kontrollierte Bahnen zu leiten ? Der dritte Teil geht der Frage nach, wie die Situation an der Front und in den besetzten Gebieten mit dem Leben der Soldaten innerhalb der Reichsgrenzen in Verbindung stand. Galten hier andere Moralvorstellungen ? Im Fazit werde ich die unterschiedlichen individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Perspektiven zusammenführen und die These vertreten, dass es im deutschen Militär einen besonderen Moralkodex gab, der widersprüchliche Vorstellungen über das sexuelle Verhalten „arischer“ Männer und Kontakte zu Frauen, die als „rassisch unerwünscht“ galten, nivellierte. Darüber hinaus komme ich auf Nachkriegs - Umdeutungen wie die von Göring zurück und frage nach deren Bedeutung für die Thematisierung des Vernichtungskriegs bis heute.
I.
Sexuelle „Eroberungen“
Generalmajor Jürgen W., Artillerist bei der 20. Infanteriedivision, notierte am 7. Oktober 1941 über einen militärischen Erfolg seiner Einheit im Raum Nawlja ( Russland ) : „Das Dorf wird gesäubert, in schneidigem Angriff, ála Truppenübungsplatz, geht die 6. Kp. [ Kompanie ] vor, macht 120 Gefangene und reiche Beute. Auch ein Wohnwagen mit ‚Damens‘ für die tapferen Russen wird erbeutet, die Insassinnen sind allerdings durch das M.G. - Feuer leicht beschädigt; aber warum ziehen sie auch in den Krieg. ‚Leckere Mädchen‘ meinen die Landser, als sie zurückkommen.“12 Selbstzeugnisse wie dieses legen die Vermutung nahe, dass die militärischen Akteure sexuelle Gewalt nicht unbedingt als Gewalt verstanden. In zahlreichen 10 Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a. M. 2010, S. 16. 11 Die Geschichte homosexueller Zusammentreffen deutscher Männer in der Sowjetunion ist bisher weitgehend unerforscht. Zum Umgang von Wehrmacht und SS mit Verstößen gegen Paragraph 175 vgl. Geoffrey J. Giles, The Denial of Homosexuality. Same Sex Incidents in Himmler’s SS and Police. In : Journal of the History of Sexuality, 11 (2002) 1/2, S. 256–290; Geoffrey J. Giles, A Gray Zone Among the Field Gray Men. Confusion in the Discrimination Against Homosexuals in the Wehrmacht. In : Jonathan Petropoulos / John K. Roth ( Hg.), Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath, New York 2005, S. 127–146; Monika Flaschka, Race, Rape and Gender in Nazi Occupied Territories, PhD. Dissertation, Kent State University 2009, S. 137–176. 12 Jürgen W., Tagebuch in Russland ( Archiv des Hamburger Institut für Sozialforschung [HIS - Arch ], NS - O 22, Karton 4).
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Aufzeichnungen von Soldaten wird die „Eroberung“ von Frauen in humorigem Ton und manchmal anzüglich als etwas geschildert, das jenseits der eigentlichen Kriegshandlungen gelegen habe. Die Vorstellung, dass den Soldaten als Ausgleich für die Härten und Entbehrungen ihres Kriegserlebens eine Belohnung zustünde, durchzieht Jürgen W.s gesamtes Tagebuch : Woche für Woche schreibt er über „leckeres“ Essen und „feine“ Genussmittel ( die von Plünderungszügen stammen ) und versucht zu begründen, warum er und seine Männer sich diese jeweils verdient hätten. Frauen, so macht die Diktion der zitierten Tagebuchstelle deutlich, fielen aus seiner Sicht in dieselbe Kategorie. Generell deutet die Sprache in zeitgenössischen wie später entstandenen EgoDokumenten deutscher Soldaten darauf hin, dass viele glaubten, die totale Verfügungsgewalt über „die Frauen des Feindes“ zu haben – und zwar unabhängig von ihren politischen Überzeugungen. Wie direkt sexuelle Gewalt mit anderen Formen von Gewalt verwoben waren, verdeutlicht ein Gespräch zwischen dem 23 - jährigen Mechanikermaat Helmut Hartelt und dem 21 - jährigen Matrosen Horst Minnieur. In einem Kriegsgefangenlager 1943 in Großbritannien meinten die beiden sich unbeobachtet – nicht wissend, dass die Briten eine Abhöranlage installiert hatten und ihr Gespräch aufzeichneten – und unterhielten sich über Erschießungsaktionen, die Minneur als Reichsarbeitsdienst - Leistender in Litauen beobachtet hatte. Zentral in seiner Erzählung ist ein „hübsches Weib“, die auf die Frage, wohin sie ginge, „zur Erschießung“ geantwortet hatte. Seine Kameraden und er hätten geglaubt, sie mache einen Witz, erfuhren später aber von ihrem Tod – wobei der unnahbare Stolz der Frau ihnen offensichtlich Bewunderung abgetrotzt hatte. „Hartelt : Die Weiber, die sind doch miterschossen worden da ? Minnieur : Ja. Hartelt : Haben Sie das gesehen, wo die hübsche Jüdin noch dabei war ? Minnieur : Nein, da waren wir nicht mehr da. Wir wussten bloß, dass sie erschossen wurde. Hartelt : Hat die denn irgendwie was vorher gesagt ? Waren Sie mit der zusammen noch einmal ? Minnieur : Ja, wir waren ja den vorletzten Tag noch zusammen, den anderen Tag wundern wir uns, sie kommt nicht mehr. Da fuhren wir weg mit der Maschine. Hartelt : Hat die mitgearbeitet da ? Minnieur : Die hat da mitgearbeitet. Hartelt : Straßenbau ? Minnieur : Nein, Kasernen saubergemacht bei uns. Wo wir da waren, die acht Tage sind wir in die Kaserne reingekommen, schlafen, damit wir nicht draußen – Hartelt : Da hat sie sich auch gewiss hacken lassen noch ? Minnieur : Hacken lassen hat sie sich, aber man musste sich vorsehen, das man nicht gekriegt wurde da. Das ist ja nichts Neues, die sind umgelegt worden die Judenweiber, dass es nicht mehr schön war. Hartelt : Was hat sie denn gesagt so, dass sie - ? Minnieur : Gar nichts. Ach, wir haben uns unterhalten, [...] in Göttingen war sie auf der Universität. Hartelt : Da hat sie sich zur Hure machen lassen !
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Minnieur : Ja. Sie haben es nicht gemerkt, dass es eine Jüdin war, war auch ganz anständig und so. Ist eben Pech gewesen, musste mit dran glauben ! Da sind 75 000 Juden erschossen worden.“13
Die jungen U - Boot - Soldaten siezten sich, waren also offensichtlich nicht näher miteinander bekannt, sprachen aber trotzdem über Massenerschießungen, sexuelle Gewalt und „Rassenschande“. Diese Offenheit deutet darauf hin, dass es sich keineswegs um ungewöhnliche oder tabuisierte Gesprächsthemen unter den Soldaten handelte. Gerade für junge Soldaten konnte ein Sprechen über Gewalt, das von einer gewissen Abgehärtetheit, ja Verrohtheit zeugte, eine Affirmation ihrer Männlichkeit darstellen.14 Die Formulierung, die Frau habe „sich hacken lassen“, offenbart, wie normal das Verschmelzen von Sexualität und Gewalt in den Augen der Soldaten war. Dabei wurde den Frauen nicht selten die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an dem zugeschrieben, was ihnen widerfahren war, im vorliegenden Fall durch Hartelt, der unterstellte, die Frau sei bereits in Deutschland zur „Hure“ geworden. Gewissermassen dient Hartelt dies gar als Rechtfertigung für die Ermordung der Frau. Minnieurs Reaktion offenbart die Ambivalenz, die die Männer angesichts solcher Situationen empfinden konnten. Zunächst äußerte er gegenüber Hartelt sein Interesse an der „schönen Frau“, von der er im Gespräch persönliche Details, wie ihr Studium in Göttingen, erfahren hatte. Gleichwohl schloss er sich dessen Einwand an und legte nahe, die Jüdin hätte die Männer in Deutschland mithilfe ihrer Anständigkeit getäuscht. Den ihn offenbar bewegenden Konflikt, dass seine Kameraden eine Studentin umgebracht hatten, die ihm gefiel, löste er schließlich in dem lapidaren „Pech gehabt“ auf. Sie war eben zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Tötungsaktionen an sich stellte er nicht in Frage. Deutlich wird in dem Gespräch der beiden darüber hinaus, dass der NS - Straftatbestand „Rassenschande“, nach dem Geschlechtsverkehr mit Jüdinnen und Juden streng verboten war, das Verhalten deutscher Männer nur sehr bedingt beeinflusste. Die Sorge der Soldaten scheint, wie Minnieurs Kommentar deutlich macht, vor allem darin bestanden zu haben, sich nicht erwischen zu lassen. Moralische Bedenken scheinen kaum von Belang gewesen zu sein – obgleich sexuelle Kontakte nach der NS - Ideologie eindeutig als „Schädigung des Volkskörpers“ galten : nach der „Erblehre“ wurde „jüdisches Blut“ vererbt; nach der „Imprägnationslehre“ führte schon der bloße Kontakt mit einer Person, die als jüdisch galt, zur Infektion mit dem Jüdischen.15 Der Gedanke, durch „jüdisches 13 Zit. nach Neitzel / Welzer, Soldaten, S. 164 f. 14 Vgl. Frank Werner, Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg. Geschlechtsspezifische Dimensionen der Gewalt in Feldpostbriefen 1941–1944. In : Veit Didczuneit / Jens Ebert / Thomas Jander ( Hg.), Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 283–294, hier 286. 15 Die „Imprägnationslehre“ von Dinter und Streicher, die heute oft unter dem Begriff kontagionistischer Antisemitismus gefasst wird und nach der der ( weiblich gedachte ) „deutsche Volkskörper“ unauflöslich durch „den Juden / das Jüdische“ „infiziert“ sei,
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Blut“ beschmutzt zu werden, konnte auch besondere Formen sexueller Gewalt hervorbringen. Die polnische Jüdin Sala Pawlowicz erinnert sich in ihren 1964 veröffentlichten Memoiren „I will survive“, wie ein „volksdeutscher“ Polizist sie zwang sich auszuziehen und sie mit der Peitsche folterte, während er sie beschimpfte, da er sie nicht „haben konnte“.16 Grundsätzlich scheinen viele Männer vor Ort davon ausgegangen zu sein, dass die Regelungen in der Sowjetunion sowieso relativ locker gehandhabt würden. So erklärten beispielsweise einige SS - Männer in Minsk Anfang 1943 öffentlich, dass die Bestimmungen gegen „Rassenschande“ nur im Reich gälten und „im Osten“ außer Kraft gesetzt seien. Bezeichnenderweise hatte dieser Vorfall keinerlei Konsequenzen.17 Auch zögerten die Männer in vielen Fällen nicht, sich der Frauen als Zeuginnen zu entledigen. In seiner Studie zur Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion hat Andre Angrick gezeigt, dass ein besonders perfides Moment darin bestehen konnte, dass SS - Männer jüdische Frauen in der (falschen ) Hoffnung ließen, sie würden sie am Leben lassen, wenn sie ihnen zu Willen seien.18 Angesicht der katastrophalen Ernährungslage war es Angehörigen von Wehrmacht und SS in vielen Regionen auch möglich, sexuelle Kontakte im Tausch gegen Nahrungsmittel oder Gebrauchsgüter zu suchen. Als die Filmemacherin Ruth Beckermann einen ehemaligen Sanitätssoldaten der Wehrmacht 1995 fragte, ob er Gewalt gegen Frauen erlebt habe, antwortete er : „Dort, wo ich war, gab es, glaube ich, nie eine Vergewaltigung. Wegen des Hungers in der Bevölkerung war das auch gar nicht nötig. Verstehen Sie mich : Wenn die Frauen am Leben bleiben wollten, mussten sie sich eigentlich prostituieren. Das habe ich auf der Halbinsel Kertsch, auf der Krim, erlebt. [...] Die Soldaten, die ein wenig mitfühlend waren [...] gaben den Kindern das Kochgeschirr zum Spülen. Wir haben das jedenfalls so aussehen lassen, damit die Offiziere nicht bemerkten, dass wir den Kindern zu essen gaben, denn das war ja verboten. Dort war auch so ein liebes Mädchen, deren Mutter ich mein Geschirr manchmal zum ‚auswaschen‘ gab. Ich sah einen Soldaten bei ihr und fragte sie, warum sie das mache, also warum sie sich mit einem deutschen Soldaten einlasse. Sie antwortete, dass sie es aus Hunger täte. ‚Aber ihr habt doch gerade Brot
war theoretisch völlig unvereinbar mit der zeitgenössischen Erbbiologie. Gleichwohl blieben im NS - Alltag, etwa auch in Gerichtsverfahren zu „Rassenschande“, beide Vorstellungen virulent ( Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002). Bei einigen „Rassenschande“ - Prozessen innerhalb der Reichsgrenzen kam es auch zu Verurteilungen, obgleich der Richter davon ausging, dass es nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen, sondern z. B. Onanie praktiziert worden sei. Hier zeigt sich deutlich, dass nicht nur die Reproduktion, sondern das Begehren im Fokus stand ( Alexandra Przyrembel, „Rassenschande“. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003). 16 Sala Pawlowicz unter Mitarbeit von Kevin Klose, I will survive, London 1964, S. 35–37. 17 Vgl. Hans Heinrich Wilhelm, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/1942, Bern 1996, S. 479. 18 Vgl. Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003, S. 359 f.
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bekommen ? !‘ sagte ich. Sie hat mir das Brot gezeigt : Es war nicht essbar. Das waren lauter Sägespäne, außen war ein bisschen Mehl.“19
Die Darstellung dieses ehemaligen Soldaten verdeutlicht den fließenden Übergang zwischen sexueller Gewalt und sexuellem Tauschhandel. Er zeichnet die Zwangslage, in die die einheimischen Frauen geraten konnten, deutlich nach und betont das Moment struktureller Gewalt, in dem manche sich entschieden, auf sexuellen Tauschhandel einzugehen. Tatsächlich war die Ernährungssituation auf der Halbinsel Krim ( Ukraine ) katastrophal. Im Februar 1942 starben täglich 15 bis 17 Menschen an Unterernährung.20 Der ehemalige Wehrmachtssoldat zeigt Empathie für die Frauen in dieser Situation. Trotz dieser ungewöhnlich offenen und kritischen Perspektive hinterfragt er das Verhalten der Männer nicht. Die Koppelung von Soldat - Sein und Prostitution erscheint – gerade in Abgrenzung von Vergewaltigung – als wohl nicht schöner, aber irgendwie doch menschlicher Teil des Soldatenlebens. Sexuelle Triebe, so der Subtext, müssten in dieser Zwangssituation genauso befriedigt werden wie der Hunger. Mit dieser Vorstellung war der ehemalige Soldat nicht allein. Prostitution als selbstverständliche Begleiterscheinung des preußischen Heers hat eine lange Geschichte. Auch für Wehrmachtssoldaten und SS - Männer gehörten Besuche bei professionellen Prostituierten zum soldatischen Leben. In den „besetzten Ostgebieten“ war Prostitution vor dem Einmarsch der Deutschen offiziell verboten gewesen, weswegen sich das Gewerbe im Verborgenen abspielte. Um mit einer Frau in Verhandlungen zu treten, musste ein Mann entweder die örtlichen Gegebenheiten kennen, die Hilfe von Dritten in Anspruch nehmen oder von einer Frau direkt angesprochen werden. Eine nahe liegende Möglichkeit für deutsche Soldaten, sich nach Prostitution umzusehen, boten Märkte.21 Um die sexuellen Aktivitäten der Soldaten unter Kontrolle zu behalten, richtete die Wehrmacht 1942 schließlich gezielt eigene, militärisch kontrollierte Bordelle ein. In welchem Ausmaß die Soldaten dieses Angebot nutzten, ist bisher unerforscht. Die Akten der Wehrmacht zeigen allerdings, dass es hier durchaus zu Konkurrenzen unter den Soldaten, mitunter gar zu Handgreif lichkeiten kam. Dabei spielten Vorstellungen von Ehre und Männlichkeit eine zentrale Rolle, wie z. B. eine Szene deutlich macht, die die ehemalige Wehrmachtshelferin Ilse Schmidt in ihrer Autobiografie darstellt. Der Oberst forderte seine Männer auf, mit ihm in ein neu eröffnetes Bordell zu gehen – eine Loyalitätsbekundung, der sich der Einzelne nicht entziehen durfte.22
19 Ruth Beckermann, Jenseits des Krieges. Ehemalige Wehrmachtssoldaten erinnern sich, Wien 1998, S. 102 f. 20 Vgl. Manfred Oldenburg, Ideologie und Militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942, Köln 2004, S. 68 ff., 87. 21 Vgl. Frank Vossler, Propaganda in die eigene Truppe. Die Truppenbetreuung in der Wehrmacht 1939–1945, Paderborn 2005, S. 353. 22 Vgl. Ilse Schmidt, Die Mitläuferin. Erinnerungen einer Wehrmachtsangehörigen, Berlin 1999, S. 47 f.
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In der Etappe, in der die Männer oft über Wochen und Monate am selben Ort stationiert waren, bot sich manchen auch die Möglichkeit, Flirts, einvernehmliche sexuelle Affären, längerfristige Verhältnisse oder ernsthafte Liebschaften einzugehen. Manfred Oldenburg zitiert in seiner Studie über die Besatzungspolitik der Wehrmacht auf der Krim einen Feldpostbrief des Unteroffiziers Herbert K. aus der 72. Division, der am 30. Juli 1942 während seines Einsatzes bei Sewastopol schrieb : „In letzter Zeit liegen wir immer an einem Ort und hätten genug Möglichkeiten vor allem mit Mädchen plaudern zu können. Viele meiner Kameraden nutzen das auch reichlich aus. Aber ich habe in dieser Angelegenheit meine Grundsätze. Es sind Russen und damit unsere Feinde. Also Abstand. Vor einigen Wochen noch sind liebe Kameraden durch ihre Hand gefallen. Mancher Landser fiel gerade in dieser Gegend den heimtückischen Überfällen der Partisanen zum Opfer.“23 Aus Herbert K.s Sicht durfte ein Soldat die Kriegssituation niemals aus den Augen verlieren – zum einen aus Gründen der militärischen Sicherheit, zum anderen um den Abstand zur feindlichen Bevölkerung zu wahren. Tatsächlich war es gerade die emotionale Bindung, die manche Männer zu Frauen aus den besetzten Gebieten der UdSSR entwickelt hatten und die sich u. a. in einer nicht unerheblichen Zahl von Heiratsgesuchen ausdrückte, die bei den Verantwortlichen in Militär und Verwaltung während der gesamten Dauer von Krieg und Besatzung erhebliche Unsicherheiten hervorrief. Gerade längerfristige Verhältnisse waren Ausdruck dafür, dass die rassen - und volkstumspolitischen Ziele des Regimes und die Vorstellungen des Einzelnen keineswegs deckungsgleich waren.
II.
Militärische Einhegungen
Die militärische Führung stand generell vor einem Dilemma. Sexuelle Zusammentreffen galten einerseits als unerwünscht, weil sie die militärische Disziplin, die Gesundheit und das Ansehen der Truppe gefährdeten, die Gefahr von Spionage vergrößerten und zudem gegen die NS - Rassevorstellungen verstießen. Andererseits erachtete man sexuelle Zusammentreffen aber auch als normalen, quasi unvermeidbaren Teil von Kriegen und letztlich förderlich für die Kriegsziele. So gab es zwar zahlreiche militärische Anordnungen, die „Notzucht“ untersagten oder „uner wünschten Geschlechtsverkehr“ unter Strafe stellten. Diese wurden aber nur selten in die Tat umgesetzt. Bereits am 31. Juli 1940, einen Monat nach der deutschen Besetzung Frankreichs, hatte der Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch sich unter dem Betreff „Selbstzucht“ mit dem „Geschlechtsleben des Soldaten im 23 Unteroffizier Herbert K., 13. Kp./ Inf.Rgt. 105 (72 ID ), Brief, 30. 7. 1942 ( Bibliothek für Zeitgeschichte Stuttgart [ BfZ ], Sammlung Sterz ), zit. in Oldenburg, Ideologie und militärisches Kalkül, S. 118.
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Felde“ auseinandergesetzt. Am 6. September 1941 wurden seine Ausführungen auch unter den Truppenführern an der Ostfront verbreitet : „Bei der Verschiedenartigkeit der Veranlagung der Menschen ist es [...] unausbleiblich, dass auf sexuellem Gebiet da und dort Spannungen und Nöte auftreten, denen gegenüber man die Augen nicht verschließen kann und darf. Mit einem Verbot geschlechtlicher Betätigung in den besetzten Gebieten ist die Frage jedenfalls nicht zu lösen. Ein solches Verbot würde zweifellos neben anderen nachteiligen Folgen auch die Zahl der Notzuchtverbrechen und die Gefahr von Verstößen gegen den § 175 steigern.“24 Von Brauchitsch ging davon aus, Männer würden je nach individueller Disposition sexuelle „Spannungen und Nöte“ aufstauen, die sich – sofern es keine gemäßigten heterosexuellen Möglichkeiten gebe – in sexuellen Gewalttaten oder homosexuellen Akten zu entladen drohten. In der Wehrmacht war von Brauchitschs Vorstellung – ein Soldat sei seinen Trieben in bestimmten Situationen ausgeliefert, das heißt kein bewusst entscheidendes Subjekt, sondern Objekt seiner eigenen Biologie – weit verbreitet. Deutlich wird dies auch in den Strafprozessen, die in einigen Fällen wegen des Tatvorwurfs der „Notzucht“ gegen Soldaten geführt wurden. So erachteten die Wehrmachtsgerichte einen Soldaten nur als eingeschränkt schuldfähig, wenn sie diagnostizierten, dass er zum Zeitpunkt der Tat unter „sexuellem Notstand“ oder „Triebstau“ gelitten habe. Dieser Umstand fiel allerdings dann nicht ins Gewicht, wenn die Richter davon ausgehen konnten, dass der Mann, z. B. weil er in einer Großstadt stationiert war, eine andere Möglichkeit zum Abbau seiner „sexuellen Nöte“ gehabt hätte.25 Prostitution wurde in dieser Logik zum Mittel, um potenziell „deviantem“ Sexualverhalten von Soldaten vorzubeugen und auf diese Weise die Stabilität der Besatzungsherrschaft zu gewährleisten. Tatsächlich hatten sich das Oberkommando des Heeres ( OKH ), das Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ) sowie der Persönliche Stab Reichsführer SS ( RF - SS ) bereits in Frankreich, Polen und anderen besetzten Gebieten damit befasst, wie die sexuellen Aktivitäten der Soldaten zu kontrollieren seien.26 Dabei strebten sie keine generelle Unterbindung heterosexueller Aktivitäten an. Denn die Befriedigung sexueller Bedürfnisse galt ihnen als Mittel, um die Leistung der Soldaten zu optimieren. Männliche Virilität galt als Ausdruck von Stärke und letztlich förderlich für die Kriegsziele. Hitler erläuterte diese Überzeugung im April 1942 : „Wenn der deutsche Mann als Soldat bereit sein“ solle, 24 OKH, von Brauchitsch, Schreiben an den Generalquartiermeister, betr. : Selbstzucht, 31. 7. 1940 ( Bundesarchiv - Militärarchiv Freiburg [ BA - MA ], RH 53–7/ v. 233a /167). 25 Zum Begriff der „Geschlechtsnot“ siehe Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt, S. 272 ff. 26 Vgl. u. a. Insa Meinen, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Bremen 2002; Max Plassmann, Wehrmachtsbordelle. Anmerkungen zu einem Quellenfund im Universitätsarchiv Düsseldorf. In : Militärgeschichtliche Zeitschrift, 62 (2003) 1, S. 157–173; Vossler, Propaganda in die eigene Truppe; Robert Sommer, Das KZ - Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009, S. 34 ff.
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„bedingungslos zu sterben“, dann müsse er „auch die Freiheit haben, bedingungslos zu lieben.“27 Damit rekurrierte er auf eine gängige Vorstellung, der zufolge Liebe und Kampf die existenziellen Erfahrungen der menschlichen beziehungsweise männlichen Existenz seien. Im Kampf figurierte „Liebe“ als Sublimation für die beständige Angst der Männer, getötet zu werden.28 „Der Kombattant, dem die Bereitschaft zum Töten ( Verletzungsmacht ) abverlangt bzw. zugestanden wird, muss sich“, wie Gaby Zipfel konstatiert, „gleichzeitig der Verletzungsoffenheit stellen, der Möglichkeit, getötet zu werden“.29 Die Vorführung sexueller Lust kann hier auch als Überwindung der eigenen Todesangst gelesen werden, die zwar offiziell nicht legal ist, den Männern aber – solange sie in vorgesehenen Bahnen verläuft – zugestanden wird. Wie die combat - effectiveness heterosexueller Aktivität der Soldaten im Einzelnen beurteilt wurde, hing in hohem Maße von der mittleren Ebene der militärischen Hierarchie ab : von den Offizieren, die für die Führung der Truppe sowie für die Planung, Durchführung und insbesondere die Kontrolle militärischer Einsätze verantwortlich waren. Um den Soldaten heterosexuelle Aktivitäten zu ermöglichen, gleichzeitig aber die Risiken zu minimieren, setzten sowohl OKH und OKW als auch RF - SS auf ein abgestuftes System von Disziplinarmaßnahmen : Belehrung, Sanierung, Behandlung, Befragung, Bestrafung.30 Gewöhnlich erhielt ein Wehrmachtssoldat bereits während der Ausbildung ein Merkblatt, das zur sexuellen Disziplin mahnte. Die am weitesten verbreitete Schrift mit dem Titel „Deutscher Soldat!“ wurde bereits am 6. Februar 1936 vom Reichskriegsministerium herausgegeben und in leicht unterschiedlichen Fassungen in Frankreich ebenso wie in den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten verteilt. Eine Version, die 1943 in der Ukraine kursierte, lautete : „Deutscher Soldat ! Hüte dich vor geschlechtlichen Ausschweifungen ! Sie setzen deine Leistungsfähigkeit herab und sind deiner Gesundheit nicht zuträglich. Ein geschlechtskranker Soldat ist dienstunfähig. Selbstverschuldete Dienstunfähigkeit ist eines deutschen Soldaten unwürdig ! Geschlechtskrankheiten können eheuntauglich und zeugungsunfähig machen. Von dir erwartet das Vaterland aber nicht nur höchste soldatische Leistung, es will auch, dass du einst eine gesunde deutsche Familie gründest und ihm gesunde Nachkommen schenkst.“31
Das Merkblatt appellierte an die militärische und die „volkstumspolitische“ Verantwortung der Männer. Im Vordergrund stand hier der Gedanke der „Mannes27 Henry Picker ( Hg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, 2. Auflage Berlin 1997 [ Original 1951], S. 332. 28 Vgl. Gaby Zipfel, „Blood, Sperm, and Tears“. Sexuelle Gewalt in Kriegen. In : Mittelweg 36, 10 (2001) 5, S. 3–20. 29 Dies., Ausnahmezustand Krieg ?, S. 58. 30 Vgl. Mühlhäuser, Eroberungen, S. 175–239. 31 OKH, Merkblatt Deutscher Soldat !, ohne Datum [1939] ( National Archives and Record Administration [ NARA ], RG - 242 78/189, Bl. 654 f. ).
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zucht“, demzufolge der Einzelne aufgerufen war, sich zu mäßigen, um die Wehrkraft der Truppe und die „Volksgesundheit“ sicherzustellen. Das Merkblatt wurde auch im Unterricht über die Risiken unkontrollierter sexueller Kontakte verteilt, ebenso wie dort auch Kondome und die neuen Standorte von sogenannten Sanierstuben ausgegeben wurden, die der Soldat innerhalb einer Stunde nach vollzogenem Geschlechtsverkehr besuchen sollte, um seinen Penis desinfizieren zu lassen. Bei einigen Wehrmachtsoffizieren stieß die Einrichtung von „Sanierstuben“ ebenso wie die Verteilung von Kondomen auf Kritik. Der Befehlshaber des Wehrkreises VII, der für die Rekrutierung und Ausbildung von Soldaten in Südbayern verantwortlich war, mahnte am 20. April 1943, die Wehrmacht dürfe sich zwar „nicht durch Prüderie über die Gefahren hinwegtäuschen lassen oder das Problem der Geschlechtskrankheiten zu leicht nehmen“, müsse aber auch vermeiden, „dass die sanitären Schutzmaßnahmen von den Soldaten als stillschweigende Billigung oder gar Anreiz zum außerehelichen Geschlechtsverkehr aufgefasst“ würden.32 Gerade junge Männer scheinen eine derartige Infektion mitunter auch als Beweis ihrer sexuellen Abenteuerlust und Potenz, gewissermaßen als Trophäe, betrachtet zu haben. In einem Schulungsbrief vom 15. Juli 1942 stellte das Marineamt jedenfalls klar, dass der seit Kriegsbeginn verbreiteten Einstellung, derzufolge „Geschlechtskrankheiten nicht unehrenhaft, ja sogar ein Zeichen besonderer Männlichkeit wären, [...] scharf entgegenzutreten“ sei.33 War ein Mann erkrankt, wurde er umgehend von den anderen isoliert, behandelt und einer polizeilichen Befragung unterzogen, um die „Ansteckungsquelle“ zu ermitteln. In einigen Fällen zog die Ansteckung auch Disziplinarstrafen nach sich. Birgit Beck und David Raub Snyder haben zudem gezeigt, dass Männer mitunter wegen des Tatvor wurfs „Notzucht“ vor Wehrmachtsgerichten angeklagt und auch verurteilt wurden. In diesen Verfahren ging es allerdings darum, dass sie die militärische Disziplin verletzt und dem Ansehen der Truppe geschadet hatten. Rasse - und volkstumspolitische Erwägungen spielten dabei in der Regel keine Rolle. Tatsächlich kennen wir von der Ostfront bisher nur vier Divisiongerichtsverfahren wegen dem Tatvorwurf „Rassenschande“. In zwei Fällen rechtfertigten sich die Angeklagten, sie hätten nicht gewusst, dass es sich bei der in Frage stehenden Frau um eine Jüdin handelte. Ob sie es tatsächlich nicht wussten, ist den Akten nicht zu entnehmen. Letztlich folgten die Richter ihrer Argumentation und sprachen sie frei.34
32 Stellvertretendes Generalkommando VII A. K., betr. : Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, 20. 4. 1943 ( NARA, RG - 242 78/189, Bl. 6130737 f., hier 6130737). 33 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Schulungsbrief, 15. 7. 1942, Anlage Soldat und Frau, S. 8 ff., zit. in Franz W. Seidler, Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Sanitätsführung 1939–1945, Neckargemünd 1977, S. 102. 34 Vgl. Snyder, Sex Crimes under the Wehrmacht, S. 191–200; Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt, S. 278.
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Die weitreichendste Maßnahme, mittels derer die Wehrmacht versuchte, Einfluss auf die Sexualität der Soldaten zu nehmen, bestand in der Einrichtung wehrmachtseigener Bordelle. Die Wehrmacht erhoffte sich von Militärbordellen eine Disziplinierung der Soldaten ebenso wie eine dauerhafte medizinische Überwachung der Prostituierten. Mit der Einrichtung von Bordellen war außerdem die Absicht verbunden, die „Kampfmoral“ der Soldaten zu heben und sie nachhaltig an das System zu binden, indem die Militärführung Verständnis für den Einzelnen demonstrierte und seine Kampfbereitschaft belohnte.35 Die SS beteiligte sich ausdrücklich nicht an der Einrichtung von Bordellen. Bereits Ende 1941, in der Planungsphase, vor der Einrichtung des ersten Wehrmachtsbordells, erklärte der Vertreter des Höheren SS - und Polizeiführers, dass die Errichtung von Bordellen zwar für die Wehrmacht zweckmäßig sein könne, für SS - und Polizeiangehörige „aus weltanschaulichen Gründen“ aber nicht in Frage komme ( was allerdings nicht hieß, dass die SS - Männer vor Ort die Wehrmachtsbordelle nicht nutzten ).36 Während die Wehrmacht im Zusammenhang mit „unerwünschtem Geschlechtsverkehr“ versuchte, die Soldaten nicht nur für die militärischen, sondern auch für die „rassehygienischen“ Zielsetzungen zu sensibilisieren, gehörte die untrennbare Verknüpfung von militärischen und rassischen Zielen für die SS - Männer von vornherein zum Programm. Reichsführer- SS Heinrich Himmler sah in der „SS - Sippengemeinschaft“ die Ver wirklichung einer „rassischen Auslese“, die als Fundament einer Höherzüchtung und damit Veredelung der „arischen Rasse“ dienen sollte. Diesem Grundgedanken der „rassischen Zucht“ zufolge hatte der einzelne SS - Mann sein sexuelles Begehren im Sinne der „SS - Sippe“ und der deutschen „Volksgemeinschaft“ zu disziplinieren. Im Kriegsgebiet kollidierte dieses Ideal der Selbstkontrolle allerdings mit der Vorstellung, dass Männer ihre Triebe ausleben müssten, um ihre Kampfkraft voll entfalten zu können. Die SS - Führung war sich dieses Widerspruchs bewusst : Zwar mahnte sie den Einzelnen, sich zu zügeln, ging aber gleichzeitig davon aus, dass die SS - Männer dennoch unkontrollierte sexuelle Kontakte eingehen und sich dabei mit sexuell übertragbaren Krankheiten infizieren würden. Ende 1938 erhielten SS - Anwärter deshalb beispielsweise das folgende Schulungspapier : Merkblatt 1. Geschlechtliche Enthaltsamkeit schädigt nicht die Gesundheit. 2. Jeder außereheliche Geschlechtsverkehr kann zu einer Geschlechtskrankheit führen. 3. Übermäßiger Genuss von Alkohol führt zu sexuellen Ausschweifungen und dadurch zu zahlreichen Ansteckungen. 4. Verkehre außerehelich nie ohne Schutz. Den besten Schutz gewährt der Überzieher. 5. Nach schutzlosem Verkehr suche die Truppenkrankenstube auf. Selbst noch 12 Stunden nach dem Verkehr kann durch ärztliche Hilfe ein Tripper verhütet werden.
35 Vgl. Meinen, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, S. 75. 36 RMbO, gez. Dr. Runte, Schreiben an den RKO, betr. : den ausserehelichen Verkehr zwischen Deutschen und Angehoerigen eines fremden Volkstums, 24. 11. 1941 ( Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde [ BArch ], R 90/460, Bl. 170 f., hier 170).
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6. Die geringste Veränderung an den Geschlechtsteilen ( Brennen, Ausfluss, Wundsein, Geschwüre usw.) erfordert sofortige Meldung zwecks Vorstellung beim Truppenarzt.37
Der Sanitätsdienst der SS beschäftigte sich wenig mit den sexuellen Kontakten an sich, sondern vielmehr mit den potenziell negativen Folgen sowie der Prävention. Der moralische Ton, der zumindest bis 1944 in der Wehrmacht vorherrschte, findet sich hier nicht. Im Vergleich zum oben zitierten Wehrmachts Merkblatt „Deutscher Soldat !“ sprach das Schulungspapier der SS weder Pflicht, Ehre oder Moralvorstellungen der Männer an, noch appellierte es an ihre Vernunft. Stattdessen hatte die Auf listung den Charakter einer Gebrauchsanweisung. In pragmatischem Ton wurden die möglichen Nebenwirkungen sexueller Zusammentreffen ebenso ausgeführt wie Hinweise zur Erkennung und Behandlung. „Rassische“ Erwägungen scheinen auch hier eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt zu haben. Zwar forderte Himmler die SS - und Polizeiführer in der Ukraine 1941 auf, ihre Männer doch ausdrücklich zu erziehen, nur sexuelle Verbindungen einzugehen, „die sie verantworten können vor Deutschland, vor ihrem eigenen Blut und vor ihrem künftigen Kind“. Gleichzeitig räumte er aber ein, dass es „reine Glückssache“ sei, ob „das Mädchen, an das ein Soldat gerät, rassisch wertvoll oder unbrauchbar“ sei.38 Tatsächlich waren die Kriterien zur „rassischen Beurteilung“, die sich sich an physischen Merkmalen, medizinischen Diagnosen, charakterlichen Einschätzungen und der Biografie der Betroffenen orientierten – uneindeutig und abhängig von Territorium und Stadium des Kriegs und der Besatzung Veränderungen unterworfen.
III.
Heimatfront
Aus Nor wegen kannte die Wehrmachtsführung einige Fälle, in denen Soldaten Selbstmord begangen hatten, da ihnen ihre Lage zwischen der Familie in Deutschland und der Freundin im besetzten Gebiet aussichtslos erschienen war.39 Auch in den besetzten Gebieten der Sowjetunion fürchtete man solche Probleme. In der „Anweisung über Verhütung von Selbstmord“ vom 6. Oktober 1942 wies der Inspekteur des Sanitätswesens bei der Luftwaffe die Truppenärzte insofern an, sich besonders um die psychischen Probleme von Verheirateten und Verlobten zu kümmern :
37 Chef des SS - Hauptamtes, SS - Sanitätsamt, Ausbildungsbrief Nr. 5, 15. 11. 1938 ( BArch, NS 31/292, Bl. 62–95, hier 78). 38 RF - SS Himmler, Rede auf der SS - und Polizeiführertagung in der Feldkommandostelle Hegewald bei Shitomir, 19. 9. 1942 ( BArch, NS 19/4009, Bl. 78–127). 39 Vgl. Kare Olsen, Vater : Deutscher. Das Schicksal der norwegischen Lebensbornkinder und ihrer Mütter von 1940 bis heute, Frankfurt a. M. 2000, S. 25 f., 123.
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„Liebschaften Verheirateter oder Verlobter sind besonders ernst zu nehmen, vor allem dann, wenn solche Verhältnisse Folgen haben, sei es, dass Schwängerungen erfolgt sind, oder dass Konflikte mit Männern oder Freunden der Frauen sich ergeben. Die Fälle, in denen Soldaten aus derartigen Schwierigkeiten nicht mehr herausfinden, sind außerordentlich häufig, dass höchste Wachsamkeit geboten erscheint. In 19,4 Prozent der Fälle von Selbstmord bei der Luftwaffe, die bei L.In. 14 bearbeitet wurden, ergaben sich Liebes - und Ehekonflikte als Hauptursache, [...]. Vernünftiger Zuspruch und männlich kameradschaftliches Verständnis sowie Fühlungnahme mit den Frauen in der Heimat im Einverständnis mit allen Betroffenen können hier manche Kurzschlusshandlung verhüten.“40
Die Wehrmacht erachtete selbst den privatesten Lebensbereich der Soldaten als militärische Angelegenheit. Die Bindung an Familie und Freundinnen in der Heimat, die viele Soldaten wesentlich zum Kampf motivierte, sollte so unbelastet wie möglich bleiben. Dasselbe galt für den häufig lang ersehnten Heimaturlaub, der zur Erholung und Regeneration gedacht war und dazu, dass der Soldat sich wieder in Erinnerung rief, für wen und für welche Ziele er kämpfte.41 Dem Regime war außerdem daran gelegen, dass es während des Heimaturlaubs der Soldaten zur Zeugung von Nachwuchs kam,42 und zwar mit den Frauen, die – anders als die einheimischen Frauen im Besatzungsgebiet – aus nationalsozialistischer Sicht „rassisch erwünscht“ und dazu bestimmt waren. Beziehungskrisen, Streitereien und Eifersucht drohten solche Ziele zu unterlaufen – daher der Auftrag an die Truppenärzte, die Situation mit Einfühlung und Taktgefühl zu entschärfen. Von den Frauen in der Heimat verlangte man Verständnis für ihre Ehemänner, Verlobten und Freunde. Artikel in Frauenzeitschriften wie behördliche Stellen und Fürsorgerinnen wiesen Frauen darauf hin, dass es ihre Pflicht sei, in dieser schwierigen Situation aufopfernd bei ihren Männern zu stehen, selbst wenn sich diese zunehmend distanziert und fremd zeigten. Am 7. Juni 1943 legte Reichsminister der Justiz Otto Thierack in den „Richterbriefen“ dar, es sei die Aufgabe der Frau „in steter Pflichterfüllung an seiner [ des Mannes ] Stelle Haus und Hof“ zu bestellen und ihm durch „ihre Treue die Kraft zum Kampf“ zu erhalten. Sollten die Frauen ihre Ehre nicht hochhalten bzw. verteidigen, enttäuschten sie nicht nur die Erwartungen des Ehemannes, sondern auch die der Gemeinschaft und könnten nicht länger Schutz erwarten.43 Indem Thierack den 40 Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe, Anweisung für Truppenärzte über Verhütung von Selbstmord, Berlin, 6. 10. 1942 ( NARA, RG - 242 78/192, Bl. 6135832– 6135837, hier 6135834). 41 Sven Oliver Müller hat in seiner Studie über Feldpostbriefe deutscher Soldaten gezeigt, dass viele tatsächlich an ihre Mütter, Ehefrauen und Freundinnen schrieben, sie würden insbesondere kämpfen, damit deutsche Frauen vor den „bolschewistischen Horden“ geschützt blieben. Vgl. ders., Deutsche Soldaten und ihre Feinde. Nationalismus an Front und Heimatfront im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2007, S. 163 ff. 42 Vgl. Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe - und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991. 43 Verfügungen, Band IV, V. I. 28/348 vom 7. 6. 1943, auch zit. in Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995, S. 375.
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Ursprung dieser „Treuepflicht der Frau“ auf altgermanische Bräuche zurückführte, machte er deutlich, dass er diese Frage rassenpolitisch verstand. Zahllose Briefe legen Zeugnis davon ab, dass Männer wie auch Frauen fürchteten, die Partnerin / der Partner würde ihnen nicht treu sein.44 Die oft jahrelange Abwesenheit der Männer und die zunehmende Selbständigkeit der Frauen führten zu erheblicher Verunsicherung. Die Ehepartner klagten über Entfremdung, die Scheidungsrate stieg – wobei die NS - Behörden Scheidungen aus „rassischen Gründen“ beförderten und im Falle der Scheidung kurzfristig geschlossener „Kriegsehen“ keinen besonderen Grund zur Beunruhigung sahen; lediglich die Trennung länger verheirateter, als „arisch“ kategorisierter Ehepartner wurde als Bedrohung erachtet.45 Nach gängigem Verständnis musste man als normal akzeptieren, wenn Männern fern der Heimat sexuelle Kontakte suchten; dem gegenüber galten außereheliche Aktivitäten von Frauen allerdings als „unmoralisch“ und „Sittenverfall“. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers - SS ( SD ) beklagte im April 1944 : „Die Rückwirkung ehelicher Untreue von Soldatenfrauen auf die Männer an der Front ist als besonders schwer wiegend anzusehen. Die Männer werden durch Benachrichtigung seitens der Nachbarn über den Lebenswandel ihrer Frauen stark beunruhigt. Vielfach würde dann der Staat dafür verantwortlich gemacht, der nicht in der Lage sei, die Familie in Ordnung zu halten, während sie an der Front stünden.“46 In der Argumentation des SD stand wiederum die Frage der militärischen Effizienz im Mittelpunkt, ging es doch in erster Linie darum, die Soldaten / SS Männer nicht zu beunruhigen. Dagegen erschienen traditionelle sexualmoralische Wertvorstellungen, etwa der Topos ehelicher Treue, für SS und Wehrmacht wie auch das NS - Regime generell in mancher Hinsicht als hinderlich. NS - Ideologen wie Himmler oder Alfred Rosenberg verwarfen christliche Werte während sie gleichzeitig versuchten, an Bekanntes anzuknüpfen und traditionelle Glaubensbegriffe neu zu vereinnahmen, etwa in der Rede von „Schuld“ und „Sünde“ wider die „Rasse“ oder das Volk.47 In einem SS - Befehl proklamierte Reichsführer - SS Heinrich Himmler bereits am 28. Oktober 1939, es sei die Aufgabe deutscher Frauen und Mädel „guten Blutes“ auch außerhalb der Ehe „in tiefstem sittlichem Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden“. 44 Vgl. Inge Marszolek, „Ich möchte Dich zu gerne mal in Uniform sehen“. Geschlechterkonstruktionen in Feldpostbriefen. In : WerkstattGeschichte, 22 (1999) 1, S. 41–59; Ulrike Jureit, Zwischen Ehe und Männerbund. Emotionale und sexuelle Beziehungsmuster im Zweiten Weltkrieg. In : WerkstattGeschichte, 22 (1999) 1, S. 61–73; Christa Hämmerle, Entzweite Beziehungen ? Zur Feldpost der beiden Weltkriege aus frauen und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In : Veit Didczuneit / Jens Ebert / Thomas Jander ( Hg.), Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 241–252. 45 Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 369–373. 46 Meldungen vom 13. 4. 44, S. 6483. 47 Vgl. Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 15 f.
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Nur auf diese Weise könne man ein weiteres Absinken der Geburtenrate verhindern.48 Die Reaktionen auf diesen Vorstoß Himmlers innerhalb der Partei waren allerdings sehr umstritten, stand dies doch in krassem Widerspruch zu traditionellen Werten und Moralvorstellungen.49 Die Historikerin Annette Timm geht davon aus, dass in diesem Zusammenhang auch der Mythos entstanden ist, bei der von Himmler ins Leben gerufenen Organisation Lebensborn e. V. handele es sich um eine Zuchtanstalt, in der SS - Männer und „arische“ Frauen zusammengebracht worden seien, um Kinder „für die Volksgemeinschaft“ zu zeugen.50 Letztlich vertrat der Reichsführer - SS seine Position nicht mehr öffentlich, entwarf aber den längerfristigen Plan, traditionelle Wertvorstellungen zu modifizieren : etwa durch die „Aufklärung der Ehefrauen, die vielfach erst seit ihrer Verheiratung zu Ehrbarkeits - Fanatikerinnen“ würden, oder durch eine Umwandlung der Sprache : „Der Begriff ‚unehelich‘ muss gänzlich ausgemerzt werden.“51 Himmler und andere begriffen die Befreiung von traditionellen sexualmoralischen Schranken als „germanisches“ Projekt. Auch in dieser Vision existierten allerdings sexualmoralische Werte und Restriktionen. So wurde „Manneszucht“ als „arische“ Eigenschaft gesehen, die von hohem Charakter und „rassischer Überlegenheit“ zeugte. Dem gegenüber wurde „sexuelle Maßlosigkeit“ als deviant denunziert und mit „Judentum“ oder dem „Marxismus“ der Weimarer Zeit assoziiert. Generell verwehrten sich allerdings viele gegen die von Himmler und anderen eingeforderte Neudefinition sexueller Werte. In zahllosen Schriften unterschiedlicher Provenienz wurde bis zum Ende des Kriegs dargelegt, dass die NS - Ziele von „Rassereinheit“ und der wiedererstarkten Nation „von vorehelicher Keuschheit, der monogamen, kinderreichen Ehe und einem positiven Familienleben abhingen“.52 Gerade christliche Anhänger des Nationalsozialismus plädierten dafür, traditionelle konservative Werte zu fördern. Insgesamt gab es während des Nationalsozialismus weder ein einheitliches Verständnis von Sexualmoral noch eine in sich geschlossene Sexualpolitik. Historische Studien haben vielmehr gezeigt, dass die Regelungen sich häufig widersprachen und abhängig waren von der Zeit, dem Territorium und den Befehlsträgern vor Ort. Im Laufe der Zeit zeichnete sich aber, wie Dagmar Herzog in ihrem Buch „Die Politisierung der Lust“ gezeigt hat, ein deutlicher Trend gegen die „überkommene Moral“ ab. Die neue Moral richtete sich vor allem auf die 48 Vgl. Geheimerlass des Reichsführer - SS für die gesamte SS und Polizei (28. Oktober 1939), abgedruckt in Norbert Westenrieder, Deutsche Frauen und Mädchen ! Düsseldorf 1984, S. 42. 49 Vgl. George L. Mosse, Nationalism and Sexuality. Middle - Class Morality and Sexual Norms in Modern Europe, New York 1985, S. 166–169. 50 Vgl. Annette F. Timm, The Politics of Fertility in Twentieth - Century Berlin, New York 2010. 51 Vgl. Martin Bormann, „... über das Problem unserer volklichen Zukunft ...“, 29. 1. 1944, abgedruckt in Hans - Adolf Jacobsen, Der Weg zur Teilung der Welt, Koblenz 1977, S. 274. 52 Herzog, Politisierung der Lust, S. 24.
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Frage, wer mit wem Sex haben durfte – und dies war eine „rassenpolitische“ Frage.53 Während in Institutionen, die als „arisch“ galten wie etwa der HJ und dem BDM vorehelicher Sex durchaus gefördert wurde, wurden sexuelle Zusammentreffen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen streng über wacht und reguliert, z. T. verboten und mit hohen Strafen belegt. „Die Misshandlung und Ermordung derjenigen, die wegen angeblich ‚erblicher‘ oder ‚rassischer‘ Merkmale als ‚lebensunwert‘ galten,“ bilanziert Dagmar Herzog, „bildeten die Folie, vor der man die ‚rassisch Überlegenen‘ ermunterte, ihre Rechte zu genießen. Legitimation des Terrors und Aufforderung zu Lust gingen Hand in Hand.“54
Fazit Sexualmoral wurde im Nationalsozialismus in erster Näherung zu einer rassenund volkstumspolitischen Frage. Wer mit wem sexuelle Kontakte pflegte, was geboten und erlaubt war, was toleriert wurde, verfemt und verboten war, orientierte sich im Laufe der Jahre mehr und mehr daran, ob es dazu diente, die „Rasse“ rein zuhalten und die „Volksgemeinschaft“ zu stabilisieren. Dabei ging es nicht nur um Fragen von Reproduktion, d. h. die Zeugung „rassisch erwünschten“ Nachwuchses und die Hebung der Geburtenrate. Generell sollten die sexuellen Interessen des / der Einzelnen sich an „Rasse - und Volkstums“ - Kriterien orientieren – ein Ziel, das man mittels „volklicher Erziehung“ zu erreichen gedachte. Unterschiedliche Maßnahmen appellierten an den Einzelnen / die Einzelne, individuelle Verantwortung zu zeigen, um das Allgemeinwesen und die Volksgemeinschaft zu stützen und zu stärken. Dabei wurde sexuelle Selbstkontrolle ebenso als Zielsetzung und Ausdruck von hoher Moral gesehen wie auch als Quelle des ( moralisch überlegenen ) Deutschtums. Viele Aktivitäten – vom Sanitätsdienst der Wehrmacht ebenso wie von Fürsorgerinnen im Reich – waren darauf ausgerichtet, das Verhalten der einzelnen zu beeinflussen. So wurden etwa Sex unter starkem Alkoholeinfluss, Tuberkulose, sexuell übertragbare Krankheiten als „chronische Volkskrankheiten“ gesehen, die medizinisch wie gesellschaftlich und sozialpolitisch behandelt werden müssten. Zentral war dabei ein inkludierender Rassengedanke, der den deutschen Volksgenossinnen und - genossen Zugehörigkeit vermitteln und ihr Gemeinschaftsgefühl stärken sollte. Zahlreiche Maßnahmen wie finanzielle Hilfen oder Auszeichnungen wie das Mutterkreuz sollten dies unterstützen.55 Was auf der ideologisch - institutionellen Ebene schon uneindeutig war, zeigte sich auch in der täglichen Praxis als vielschichtig und häufig widersprüchlich. 53 Vgl. ebd., S. 36 ff. 54 Ebd., S. 25. Siehe auch Elizabeth D. Heineman, Sexuality and Nazism. The Doubly Unspeakable ? In : Journal of the History of Sexuality, 11 (2002) 1/2, S. 22–66. 55 Zu den Vergemeinschaftungsprozessen vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919–1939, Hamburg 2007.
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Einerseits waren die Grauzonen, wer als „rassisch erwünscht“ und wer als „unerwünscht“ oder „artfremd“ galt nicht objektiv gegeben und im Laufe der Zeit Änderungen unterworfen. Zwar schloss man Jüdinnen und Juden durchgängig als das Andere, als „die Volksgemeinschaft zersetzenden Elemente“ aus; davon abgesehen waren die Kriterien der Kategorisierung aber im Fluss. So wurden etwa Verhältnisse von deutschen Frauen und polnischen Zwangsarbeitern im Reich zunächst kategorisch und hart bestraft, zum Ende des Kriegs hin – als die Geburtenrate sank und Deutschland eine Niederlage fürchtete – aber oft toleriert; man erachtete die Kinder aus solchen Verhältnissen mitunter gar als „erwünscht“.56 Darüber hinaus hatte andererseits auch das Territorium starken Einfluss darauf, wie Regelungen ausgelegt wurden, was sich etwa darin zeigt, dass der NS - Straftatbestand „Rassenschande“ in den „besetzten Ostgebieten“ kaum zur Anwendung kam. Für die Soldaten und SS - Männer, die für Deutschland in den Krieg gezogen waren, galten ohnehin spezifische Sitten und moralische Normen, die zwar nicht von denen innerhalb der Reichsgrenzen losgelöst, aber doch anders gelagert waren. Die Zurichtung der Männer für den Kriegseinsatz umfasste sowohl die Entfesselung ihres „individuellen Gewaltpotentials“ ( Ulrich Bröckling ) als auch den Versuch, dieses durch eine Vielzahl von Disziplinierungstechniken unter Kontrolle zu halten.57 Als Kompensation für die extremen Zumutungen wie auch die geforderte Unterwerfungsleistung, machte man Zugeständnisse an die Soldaten.58 Im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg gehörte sexuelle Aktivität, insbesondere sexuelle Gewalt, zu diesen nicht immer legalen, aber in der Regel doch erlaubten Zugeständnissen. Zwar existierten eindeutige Verbote im Hinblick auf „unerwünschten“ oder „verbotenen“ Geschlechtsverkehr. Aber nur in den seltensten Fällen bemühten sich die Befehlshaber, diese auf dem Papier stehenden Verbote auch durchzusetzen. Auf diese Weise eröffneten sie den Männern Gelegenheitsräume, die diese – abhängig vom Territorium, den Normen in ihrer Einheit und ihren eigenen Vorstellungen – nutzen konnten. Das OKH, das OKW und der RF - SS betrieben allerdings nicht nur „passive“ Sexualpolitik durch Nichteingreifen, sondern schufen mit der Einrichtung von Bordellen ebenso wie mit den Sanierstuben, der Ausgabe von Kondomen und den Belehrungen über die Symptome und Risiken sexuell übertragbarer Krankheiten auch aktiv Gelegenheiten für ihre Männer, um vergleichsweise unkomplizierte, risikolose und kostengünstige sexuelle Kontakte zu suchen. Da Virili56 Gabriele Czarnowski, Zwischen Germanisierung und Vernichtung. Verbotene polnischdeutsche Liebesbeziehungen und die Re - Konstruktion des Volkskörpers im Zweiten Weltkrieg. In : Helgard Kramer ( Hg.), Die Gegenwart der NS - Vergangenheit, Berlin 2000, S. 295–303; Birthe Kundrus, Forbidden Company : Romantic Relationships between Germans and Foreigners, 1939–1945. In : Journal of the History of Sexuality, 11 (2002), 1/2, S. 201–222. 57 Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997, S. 10. 58 Vgl. Jan - Philipp Reemtsma, Die Wiederkehr der Hobbesschen Frage. Dialektik der Zivilisation. In : Mittelweg 36, 3 (1995) 6, S. 47–56, hier 51.
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tät aus Ausdruck siegreicher Männlichkeit galt und die sexuelle „Eroberung“ von Frauen als symbolische Eroberung eines feindlichen Territoriums gesehen wurden, galten heterosexuelle Aktivitäten letztlich als förderlich für die Kriegsziele. Sie wurden insofern keineswegs nur toleriert, sondern als positiver Faktor, wie Annette Timm es formuliert hat, als „grundlegender Treibstoff für den militärischen Apparat“ gesehen.59 Inwieweit die Befehlshaber in Wehrmacht und SS sexuelle Ausschweifungen ihrer Soldaten gezielt förderten, billigend oder mit Missfallen in Kauf nahmen oder disziplinierten, war abhängig von der Kriegssituation und den Normen und Perspektiven der Beteiligten. Generell waren diejenigen, die moralische Bedenken hegten, etwa dass die Einrichtung von Bordellen kontraproduktiv sei und eine ganze Generation junger Männer sittlich schädigen würde, aber eine Minderheit. Selbstzeugnisse von Soldaten und SS - Männern zeigen, dass viele Männer glaubten, totale Verfügungsgewalt über „die Frauen des Feindes“ zu haben. Innerhalb der männerbündischen Wehrgemeinschaft bildete sich eine spezifisch männliche, kriegerische Moral heraus, nach der Schwäche als weiblich diskreditiert und die Überwindung von Skrupeln und Zweifeln als Stärke hervorgehoben wurde. Auf keinen Fall unmännlich zu erscheinen war für die Erfahrung des Einzelnen zentral. Zwar wurden fürsorgende Fähigkeiten wie Kochen oder die Möglichkeit zum empfindsamen Gespräch durchaus honoriert, aber nur solange die Härte des Einzelnen außer Frage stand.60 In dieser Situation handelten die Männer oft auf eine Art und Weise, die vor dem Krieg undenkbar für sie gewesen wäre. „Gewalt oder Unterlassungshandeln musste nicht mehr als moralisch anstößig gelten, wenn es als männlich angemessen gedacht werden konnte.“61 Sexuelle Potenz – auch und vielleicht gerade, wenn sie sich in sexueller Gewalt äußerte – konnte in diesem Zusammenhang zu einem Ehrbeweis werden, zu einer Vorführung von Stärke und scheinbarer Unbesiegbarkeit, jedenfalls so lange die Taten als „combat effective“ galten und nicht den militärischen Zielen zuwiderliefen. Ein gesellschaftliches Bewusstsein darüber, dass es sich bei sexuellen Gewalttaten um Verbrechen handelte, bestand kaum.62 Dieses Zusammenspiel von männlichem Härte - Ideal, Gewaltausübung und Sexualität wurde nach dem Ende des Kriegs gezielt verdrängt und verleugnet. Ähnlich wie der eingangs zitierte Hermann Göring führte auch der ehemalige Oberbefehlshaber des Heeres Erich von Manstein während seiner Vernehmung 59 Annette F. Timm, Sex with a Purpose. Prostitution, Venereal Disease, and Militarized Masculinity in the Third Reich. In : Journal of the History of Sexuality, 11 (2002) 1/2, S. 223–255, hier 254. 60 Vgl. Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. 61 Werner, Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg, S. 289. 62 Dass es bis heute kein gesichertes gesellschaftliches Einverständnis gibt, dass es sich bei sexuellen Gewalttaten um Verbrechen handelt, analysiert Louise Du Toit, A Philosophical Investigation of Rape. The Making and Unmaking of the Feminine Self, New York 2009.
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vor dem Nürnberger Tribunal am 10. August 1946 ungefragt das Todesurteil gegen zwei Soldaten aus seinem Korps an, die in Russland der Vergewaltigung angeklagt waren, um zu belegen, dass in der Wehrmacht „Recht und Gesetz im Sinne eines anständigen Soldatentums“ geherrscht habe.63 Der Ver weis auf Sexualität sowie den militärischen Umgang damit als Ausdruck von Anständigkeit / Unanständigkeit, Moral / Unmoral, Ehre / Ehrverlust während des Massenmords kaschierte die gerade vergangene Realität. Gerade weil die Verwobenheit von sexueller Lust und extremer Gewalt ein auf besondere Weise affektiv aufgeladenes, moralisch höchst sensibles Thema ist, entwickelte diese Umdeutung erhebliche Wirkungsmacht. Obgleich der Vernichtungskrieg und die von deutschen Männern begangenen Verbrechen spätestens Anfang der 1990er Jahre zu einem umfangreich erforschten und umkämpften Thema wurden, blieb die Frage nach Sexualität, sexueller Gewalt und der Sexualisierung von Gewalt generell bis vor wenigen Jahren fast völlig ausgeblendet.
63 IMT, Band 20, S. 665. Vgl. auch Erich von Manstein, Verlorene Siege, Bonn 1955, S. 176 f. Welche Anstrengungen von Manstein in der Nachkriegszeit unternahm, um eine „gereinigte Erinnerung“ an den Krieg durchzusetzen und die Wehrmachtselite zu rehabilitieren, zeigt Oliver von Wrochem, Erich von Manstein. Vernichtungskrieg und Geschichtspolitik, Paderborn 2006, S. 109.
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III. Nationalsozialistische Ideologie und Propaganda
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Militärische Ethik im Totalen Krieg Peter J. Haas Im Folgenden möchte ich eine Analyse des nationalsozialistischen „Militärkodex“ vornehmen, so wie er entwickelt, zum Ausdruck gebracht und schließlich im Zuge der anlaufenden Operation Barbarossa im Jahre 1942 in vollem Umfang zur Anwendung gebracht wurde. Mit der Ver wendung des Begriffs „Militärkodex“ beziehe ich mich ganz allgemein auf die Erwartungen, Normen und Regeln, welche jenes Verhalten definieren, das von der Kriegerklasse bzw. im heutigen Kontext von professionellen Militärs erwartet wird. Ein solcher Kodex betrifft das Verhalten von Militärangehörigen in Kriegszeiten ( ius in bello), definiert aber häufig auch das „korrekte Verhalten“ ( Ritterlichkeit, Edelmut ), wie es von Soldaten in Uniform in Friedenszeiten erwartet wird. In der Moderne werden derartige Kodices häufig schriftlich niedergelegt und in der Form von „Ehrenkodices“, Verhaltenskodices, Feldmanualen, Militärjustiz, Kommandeursbriefen und dergleichen zu einer Doktrin zusammengefasst. In der vorliegenden Fallstudie werde ich mich besonders mit Kommandeursdirektiven des NS - Oberkommandos befassen, mit deren Hilfe Untergebene instruiert wurden, wie mit feindlichen Truppen und Kriegsgefangenen umzugehen sei. Wie wir sehen werden, entwickelte das NS - Regime im Laufe der Zeit einen expliziten Kodex militärischen Verhaltens an der Ostfront, der dem, was wir normalerweise unter moralischem Verhalten verstehen, diametral widersprach. Die Tatsache, dass ein derartiger „Militärkodex“ formuliert und angewandt werden konnte, spricht dafür, dass, obwohl solche Kodices notwendig und sogar wichtig sind, ihr Inhalt trotzdem flexibel ist. Ich möchte argumentieren, dass tatsächlich auch der NS - „Militärkodex“ einen Hinweis darauf darstellt, dass jeder Versuch, eine objektive und allgemein gültige Ethik der Kriegführung zu formulieren, letzten Endes zum Scheitern verurteilt ist. Mit anderen Worten, ich beabsichtige, im Folgenden zu argumentieren, dass Kriegführung zumindest in der Moderne letzten Endes sowie aufgrund ihrer ganzen Natur außerhalb der Grenzen ethischer Beschränkungen steht. Damit soll nicht gesagt werden, dass jeder Versuch, einen realisierbaren Militärkodex zu formulieren und durchzusetzen, zwecklos ist. Ganz im Gegenteil sind derartige Kodices von entscheidender Wichtigkeit, damit Soldaten sich auch dann noch ein gewisses Selbstwertgefühl bewahren können, wenn sie den Schrecken von Kampfoperationen ausgesetzt sind.1 1
Siehe Shannon French, Code of the Warrior : Exploring Warrior Values Past and Present, Lanham, MD 2003.
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Andererseits gilt ebenso, dass es in der Natur solcher Kodices liegt, nur von begrenztem Wert zu sein und daher in der tatsächlichen und anhaltenden Kampfsituation zwangsläufig zu versagen. Was ich in Bezug auf den NS - „Militärkodex“ feststelle, ist tatsächlich das Versagen traditioneller Normen der Kriegführung sowie ihre Ersetzung durch eine Art von umgekehrten „Militärkodex“ ( a kind of inverted „warrior code“ ), durch welchen die Grausamkeit des Krieges nicht nur anerkannt, sondern auch kodiert wurde. Wenn es um Ethik geht, stellt das Militär in jedem Fall einen undankbaren Rahmen dar. Letztendlich besteht die Aufgabe des Militärs darin, den Feind zu töten, wo auch immer und tatsächlich mit allen Mitteln. Dafür werden Soldaten ausgebildet. Vielleicht ist dies der Grund, warum Militärs so häufig die Notwendigkeit eines Verhaltenskodex’ verspürt haben, einer Auf listung von Erwartungen bezüglich Pflicht, Ehre, Berufsstolz sowie dessen, was man sogar als Ritterlichkeit bezeichnen könnte. Dem entsprechend sehen sich Berufsmilitärs nicht nur als moralisch Handelnde, sondern sogar als Menschen, welche die höchsten moralischen Ansprüche des Staates oder Volkes widerspiegeln, den bzw. das sie repräsentieren und verteidigen. Sie stellen den Anspruch – und werden auch häufig so gesehen –, vorbildliche Bürger zu sein. Meine Prämisse ist, dass die NS - Militärs in der Tat über einen Militärkodex verfügten, der eine hohe Vorstellung von Moral beinhaltete, dabei aber gleichzeitig die gröbste Misshandlung feindlicher Soldaten ( besonders sowjetischer Kriegsgefangener ) zuließ. Ich hoffe, aufgrund dieser Untersuchung zu allgemeineren Erkenntnissen bezüglich des Verhältnisses zwischen „Militärkodices“ einerseits und dessen, was man andererseits in der „zivilen“ Gesellschaft unter Ethik versteht, zu gelangen. Ich möchte meine Untersuchung mit einem anderen Krieg beginnen, mit einer Geschichte aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Am 2. September 1864 drang der Nordstaatengeneral William Tecumseh Sherman in die Stadt Atlanta, Georgia, in den Südstaaten ein. Diese Stadt war ein entscheidender Eisenbahnknotenpunkt sowie ein wichtiges Bevölkerungs - und Industriezentrum der Konföderation. Sie wurde von dem Südstaatengeneral John Bell Hood verteidigt und war sieben Wochen lang belagert worden. Schließlich entschloss sich Hood, zu retten, was von seiner Armee noch übrig war, und gab die Stadt auf, wobei er auf seinem Rückzug alles an militärischen Depots und Vorräten niederbrannte. Der Unionsgeneral Sherman betrat die Stadt am folgenden Tag und befahl allen Zivilisten, sie innerhalb einer Woche zu verlassen. Später gab er den Befehl, sämtliche militärischen und Regierungsgebäude niederzubrennen. Ob nun absichtlich oder nicht, gingen allerdings weite Teile der Stadt ebenfalls in Flammen auf. Der Brand von Atlanta war der Beginn eines bewussten Amoklaufs der Vernichtung durch General Sherman. In den folgenden Wochen führte Sherman seine Armee durch das südliche Georgia in Richtung auf die Hafenstadt Savannah. Dieser sogenannte „Marsch zum Meer“ richtete solche Verwüstungen an, dass diese Gegend bis heute weitgehend unbesiedelt geblieben ist. Shermans Politik der „verbrannten Erde“ ist bei vielen Südstaatlern bis heute als eine Tat lebendig, die sie als nahe am Völkermord empfinden.
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Der Grund für dieses Verhalten lag in der Politik des Nordens. Shermans Marsch sollte im Norden den Eindruck erwecken, dass der Süden am Rande der Niederlage stehe. Der Bürgerkrieg hatte sich seit vier Jahren dahingeschleppt, und der Norden war kriegsmüde. 1864 war ein Wahljahr, und der demokratische Kandidat, der ehemalige Unionsgeneral George McClellan, führte seine Kampagne im Namen des Friedens. Er versprach, einen Waffenstillstand zu schließen und die Unionstruppen aus dem Süden zurückzuziehen. Sein Gegner, Abraham Lincoln, der „Kriegspräsident“, schien am Rande einer Wahlniederlage zu stehen. General Sherman wusste dies, und sein Ziel war es, einen so vernichtenden Sieg zu erzielen, dass die Wähler im Norden sich für Lincoln entscheiden und der Union erlauben würden, den Krieg zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Das gelang. Der Süden stand unter Schock angesichts der Zerstörung Atlantas, die konföderierte Armee war auf der Flucht, der Norden sah den Sieg heraufdämmern, und kurz darauf gelang Lincoln die Wiederwahl. Keine zwei Monate nach Lincolns Wahlsieg schrieb Sherman ihm, dass er ihm die Hafenstadt Savannah als Weihnachtsgeschenk überreiche. Dann wandte Sherman sich nach Norden, nahm die Kapitulation von Joe Johnsons Armee an, vereinigte seine Kräfte mit denen Ulysses S. Grants, und innerhalb weniger Monate erzwang die Union die Kapitulation der letzten noch ernst zu nehmenden Armee der Konföderierten, Robert E. Lees Army of Northern Virginia. Der Bürgerkrieg war vorbei. Shermans Taktik der „verbrannten Erde“ mag brutal und zutiefst unmoralisch gewesen sein, besonders im Rahmen eines Bürgerkriegs, in dem es um die Union von Nord und Süd ging, doch mit ihrer Hilfe war der Krieg gewonnen worden. Ich verwende dieses einleitende Beispiel, weil William Tecumseh Sherman noch aus einem anderen Grund bekannt ist. Es liegen unterschiedliche Berichte vor, doch scheint es, als ob sein berühmtestes Zitate aus einer Rede stammt, die er am 19. Juni 1879 vor der Abschlussklasse der Militärakademie von Michigan hielt. Es gibt unterschiedliche Berichte davon, doch das Folgende scheint eine einigermaßen glaubwürdige Fassung zu sein : „Ich habe dort gestanden, wo ihr jetzt steht“, sagt Sherman den Kadetten, „und ich weiß genau, was ihr empfindet. Es ist vollkommen natürlich, dass in der Brust eines jeden von euch die Hoffnung und das Verlangen danach lebt, eines Tages die Fähigkeiten anwenden zu können, die ihr hier erworben habt. Unterdrückt es ! Ihr kennt nicht die furchtbaren Seiten des Krieges. Ich habe an zwei Kriegen teilgenommen und ich kenne sie. Ich habe Städte und Häuser zu Asche verbrennen gesehen. Ich habe tausende Männer auf der Erde liegen sehen, während ihre toten Gesichter zum Himmel blickten. Ich sage euch, der Krieg ist die Hölle !“ „Der Krieg ist die Hölle !“ Man kann dieses Zitat sowie die Gefühle dahinter natürlich in vielerlei Weise verstehen. Es mag sehr wohl sein, dass Sherman es in deskriptiver Weise meinte, als eine furchtbare Mischung aus Entbehrung, Hunger, Schmerz, Leid, Feuer und Tod. Dies würde zu dem passen, was er in seinem Befehl zur Vertreibung der Zivilisten aus Atlanta sagte : „Niemand kann den Krieg härter verurteilen als ich. Krieg bedeutet Grausamkeit, und man kann
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ihn nicht läutern, und diejenigen, die den Krieg in unser Land gebracht haben, verdienen alle Flüche und Ver wünschungen, die ein Volk nur aussprechen kann.“ Doch haben andere eine andere Bedeutung vorgeschlagen. Diejenige, auf die ich mich konzentrieren möchte, stammt aus dem 2. Kapitel von Michael Walzers Buch aus dem Jahre 1997, „Just and Unjust Wars : A Moral Argument with Historical Illustrations“.2 Dort argumentiert Walzer, dass Krieg in dem Sinne die Hölle sei, als Kriege ( und besonders moderne Kriege ) keine Grenzen bezüglich dessen kennen, was man dem Feind zufügen könne. Wie gerecht auch immer ein Krieg zu Beginn sein mag, jede Seite erzeugt eine Gegenreaktion der anderen Seite, und dies führt zu einer sich endlos weiterdrehenden Spirale größerer und größerer Grausamkeit. In diesem Zusammenhang zitiert Walzer General Dwight Eisenhower : „Wenn man zur Gewalt griff, wusste man nicht, wohin die Reise gehen würde [...]. Je tiefer man sich darin verstrickte, umso weniger gab es eine Grenze, außer [...] den Grenzen der Gewalt selbst.“3 Für Eisenhower und Walzer ist der Krieg „die Hölle“, weil es schließlich keine Grenze der Grausamkeit und des Leides mehr gibt, die er mit sich bringt. Er stellt ein unkontrollierbares Chaos mit offenem Ende dar. Der Krieg, besonders die moderne Kriegführung, insoweit er unvermeidlicherweise die Grenzen der Ordnung und Sinnhaftigkeit überschreitet, stellt tatsächlich eine Art Hölle dar. Dies bringt uns zurück zum „Militärkodex“. Die Vorstellung des Krieges als einer Hölle, so wie ich sie gerade zum Ausdruck gebracht habe, läuft diesem sowie der langen philosophischen Tradition des Westens direkt zuwider. Im Rahmen dieser Tradition hat man versucht, Grenzen der Kriegführung zu umschreiben und zu definieren, was man „gerechten Krieg“ nennt, sowohl im Sinne des ius ad bellum ( des gerechtfertigten Kriegseintritts ) als auch im Sinne des ius in bello ( der gerechten Art und Weise, einen Krieg zu führen ). Diesen Bemühungen sind unterschiedliche Konzeptionen entsprungen. Schon der römische Denker Cicero hat uns eine Theorie des bellum iustum hinterlassen. Diese Tradition wurde von der frühen Kirche aufgenommen, besonders von Augustinus von Hippo, sie wurde von Thomas von Aquin verfeinert, und sie reicht bis in unsere Tage. Sie hat sich in einer ganzen Reihe moderner, säkularer Formen niedergeschlagen – in verschiedenen Verträgen, in den diversen Genfer Konventionen, in den Regeln, die sich in den Militärdoktrinen unterschiedlicher Länder finden, wie zum Beispiel der israelischen „Tohar HaNeshek“ („Reinheit der Waffen“) oder dem Konzept der „inneren Führung“ der Bundeswehr. In den Vereinigten Staaten wird Militärethik an allen Akademien der Streitkräfte gelehrt, und die Militärkapläne haben unter anderem die Aufgabe, den jeweiligen Kommandeur in Fragen der Moral und Ethik zu beraten.
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Michael Walzer, Just and Unjust Wars : A Moral Argument with Historical Illustrations, New York 1977, S. 21–33. Ebd., S. 23.
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Selbstverständlich verläuft kein wirklicher Krieg nach den ethischen Maßstäben, die im Klassenzimmer aufgestellt und den Offizieren bei ihrer Ausbildung beigebracht werden. Nichtsdestotrotz, nach wie vor besteht das Ideal, das ein „gerecht geführter, gerechter Krieg“ nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich in gewisser Weise jede militärische Handlung „rechtfertigen“ kann. Das heißt, dass moderne Staaten in der Lage sein wollen, festzustellen, dass ihre Ver wendung von Streitkräften nicht nur moralisch gerechtfertigt ist, sondern dass ein solcher Einsatz auch mit moralischen Normen übereinstimmt. Jede Gesellschaft möchte behaupten können, dass sie moralisch überlegen sei und dass der Feind sich als derjenige gezeigt habe, welcher dem moralisch Handelnden die notwendige Unterstützung versagt. Dieser Anspruch auf moralische Überlegenheit erklärt, warum wir so schockiert und empört sind, wenn Missbräuche erkennbar werden, wie zum Beispiel die Misshandlung von Häftlingen in Abu Ghureib im Irak oder die gezielte Tötung unschuldiger Zivilisten „nur zum Spaß“ in Afghanistan. Teilweise liegt dies daran, dass die Menschen in einer Demokratie das Militär als eine Verlängerung der eigenen Kultur sehen, schließlich sind es ihre eigenen Söhne und Töchter, Nachbarn und Bekannten, die an den Kämpfen teilnehmen. Die Taten dieser Soldaten fallen auf das Land zurück, dessen Uniform sie tragen, und wenn diese Soldaten ein Dorf niederbrennen, Gefangene foltern und demütigen oder willkürlich Zivilisten töten, dann sind nicht nur Außenstehende, sondern auch das Heimatland der Ansicht, dass man zumindest eine Mitschuld trage. Diese existentielle Furcht widerspricht dem, was die meisten Zivilisten in einer modernen Demokratie zutiefst glauben wollen, dass es nämlich die andere Seite – der Feind – sei, die sich barbarisch aufführt, die Menschenleben nicht die angemessene Wertschätzung entgegen bringt und die mit unfairen Mitteln kämpft. Nicht nur wir Zivilisten erhalten uns ein starkes Gefühl des ius in bello, der gerechten und „rechtschaffenen“ Kriegführung, auch Soldaten fühlen sich durch derartige Handlungen beschmutzt. Selbst Soldaten als Täter übernehmen diese vielleicht unrealistischen Maßstäbe und verbringen Jahre, manche den Rest ihres Lebens, damit, sich mit Schuldgefühlen sowie den diversen Formen des Posttraumatischen Belastungssyndroms zu plagen. Aus den oben genannten Gründen können wir feststellen, dass das Militär ein zusätzliches Interesse an der Förderung eines Sinnes für militärische Ethik hat, jenseits der von Regierungen oder Bevölkerungen unterstützten Politik. Das Militär möchte den moralischen Charakter seiner Soldaten bewahren, und sei es nur aus dem simplen Grund, die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten. Schließlich müssen Soldaten stolz sein können auf das, was sie tun, sie müssen motiviert sein, und sie müssen gewillt sein, sich ein solides Selbstwertgefühl zu bewahren, während sie ihre Pflicht erfüllen, worin auch immer diese bestehen mag. Selbstverständlich enthält der daraus resultierende „Militärkodex“ militärische Tugenden wie Gehorsam, Loyalität und Mut, doch geht es immer auch um Ritterlichkeit, um Ehre, und darum, einer höheren Sache zu dienen. Autoren, die sich mit dem „Militärkodex“ beschäftigen, nennen häufig als eine sei-
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ner wichtigsten praktischen Funktionen, dass solch ein Kodex dabei hilft, die psychische Gesundheit des Soldaten aufrecht zu erhalten.4 Der Soldat ist nicht einfach nur ein marodierender Mörder. Der Soldat tötet, doch ungern und für eine gute Sache sowie aufgrund der angenommenen Notwendigkeit, sich oder seine Familie, das Land, die Lebensweise, sogar die Demokratie an sich zu verteidigen. Weiterhin muss der Soldat die Schlacht erfolgreich bestehen und anschließend nach Hause kommen, um ein normales ziviles Leben zu führen. Wir alle wissen natürlich, dass Soldaten aus dem Krieg heimkehren und an Depressionen sowie anderen psychologischen und häufig körperlichen Verwundungen leiden. Der „Militärkodex“ stellt eine Möglichkeit bzw. einen Versuch dar, zumindest den psychologischen Schaden zu begrenzen und mit den Nachwirkungen umzugehen. Die Frage ist, ob die Vorstellung eines „Militärkodex’“ tatsächlich realistisch ist oder nicht. Wenn, wie Sherman verkündete und wie Walzer es verstand, Krieg die Hölle ist in dem Sinne, dass er außerhalb der Grenzen der Ethik stattfindet, dann ist der Versuch, diese Tatsache hinter hochtönenden Militärkodices zu verbergen, letztendlich zwecklos und vielleicht sogar insofern schädlich, als er die Wahrheit verleugnet. Dies bringt mich auch zum Fall des NS - Soldaten und der Rolle des Militärs, sei es nun die normale Wehrmacht oder die Waffen SS. War dort ein Militärkodex gültig, der es Soldaten erlaubte, das zu begehen, was sich im Nachhinein eindeutig als Akte unnötiger Brutalität und Völkermord darstellt, und dabei ihr Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten ?5 Die Antwort, die ich vorschlagen möchte, besagt, dass ein solcher Kodex für den NS - Soldaten tatsächlich existierte und ihm eine Möglichkeit bot, seine Teilnahme an den Taten, in die er verwickelt war, zu rechtfertigen bzw. sich gerechtfertigt zu fühlen. Sicher, wie jeder andere Kodex auch war er zu keiner Zeit hundertprozentig wirksam. Er scheint allerdings sowohl für die Soldaten der Waffen SS als schließlich auch für diejenigen der Wehrmacht weitgehend wirksam gewesen zu sein. Er ist daher aufschlussreich, denn er beleuchtet das Ausmaß, in dem derartige Kodices ihren Zweck erfüllen können, und zwar mehr oder weniger unabhängig von ihrem tatsächlichen moralischen Inhalt.6 Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die Wehrmacht im Besonderen werfen. Ich tue dies aus zwei Gründen. Der erste besteht in der Tatsache, dass die 4 5
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Siehe u. a. French, Code of the Warrior. „Indem sie Verhaltensrichtlinien für sich selbst festlegen, in deren Rahmen sie bestimmte Beschränkungen akzeptieren und sogar ‚ihren Feinden Ehre erweisen‘, sind Krieger in der Lage, eine Art Rettungsleine zu schaffen, die es ihnen erlaubt, der Hölle des Krieges zu entkommen und sich wieder in ihre Gesellschaft zu integrieren“, French, Code of the Warrior, S. 7. Gray stellt fest, dass „die Hässlichkeit eines Krieges gegen einen Feind, der als Untermensch angesehen wird, kaum übertrieben werden kann. Der Kampf, so wie er unter solchen Bedingungen erlebt wird, stellt keine Erlösung dar [...]. Traditionelle Vorstellungen vom Krieg lösen sich auf angesichts der Anforderungen eines Vernichtungskrieges, in dem konventionelle Regeln nicht mehr gelten.“ Jesse Glenn Gray, The Warriors: Reflections on Men in Battle, Lincoln, NE 1998, S. 152 f.
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Wehrmacht eine moderne Militärorganisation mit einer bereits etablierten Geschichte der Zuschreibung eines Kodex’ ritterlichen militärischen Verhaltens darstellte, die sich auf die Reichswehr und ihre Vorläufer erstreckte. Sie unterscheidet sich daher historisch und strukturell von den militärischen Formationen der SS, welche direkt aus der Nationalsozialistischen Partei erwachsen waren und unmittelbar seit ihrer Gründung die NS - Ideologie widerspiegelten. Mit anderen Worten, die Wehrmacht stellte eine westliche Streitmacht im traditionellen Sinne dar, deren Wurzeln außerhalb des NS - Regimes lagen. Zweitens bietet die Umsetzung des NS - „Militärkodex’“ einen Ausblick darauf, wie radikal ein Militärkodex seinen Inhalt ändern und dennoch kohärent und für modernes Militär funktionsfähig bleiben kann. Bevor ich mich den spezifischen Beispielen zuwende, muss ich darauf hinweisen, dass die etablierte militärische Elite Deutschlands, im Wesentlichen das Offizierskorps der Wehrmacht, sich bezüglich der Nationalsozialistischen Partei in einer schwierigen politischen Situation befand. Einerseits wurde die offizielle Politik des nationalsozialistischen Deutschland des Wiederaufbaus des deutschen Militärs durch die Wiederherstellung der Waffenindustrie, die Wiederbewaffnung sowie die aggressiveren politischen Initiativen zur Wiedererlangung strategisch wichtiger Gebiete vom militärischen Establishment in vollem Umfang unterstützt. Die militärische Elite war sicherlich sehr darauf bedacht, den Beschränkungen des Versailler Friedensvertrages zu entkommen. Dem entsprechend kooperierte die Reichswehr (1935 in Wehrmacht umbenannt ) von Anfang an mit dem neu erstandenen nationalsozialistischen Staat.7 Doch eine Anzahl von Faktoren schien den Status der Wehrmacht zu bedrohen, die sich als die eine und einzige militärische Kraft im Staat sah und auch von der NS Regierung so gesehen wurde.8 Einer dieser Faktoren war das Aufkommen der parteieigenen militärischen Strukturen, erst der SA und dann der SS mit ihrer militärischen Komponente, der Waffen SS. Der Aufstieg der SS, und besonders der Divisionen der Waffen SS, stellte eine Bedrohung für den Status der Wehrmacht als des einzigen militärischen Arms der NS Regierung dar, und bei Ausbruch des Krieges im Jahre 1939 sahen sich die Führungskader der Wehrmacht mit der Möglichkeit konfrontiert, von der SS überholt zu werden. Diese Bedrohung wurde verschärft durch einen zweiten Faktor, nämlich die Drohung eines wirklichen Krieges. In den späten 1930ern wurde das Oberkommando des Militärs zunehmend besorgt angesichts Hitlers aggressiver Außenpolitik, und man
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Siehe Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS - Staat : Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 38 ff. Das bedeutet allerdings nicht, dass sämtliche Offiziere die NSIdeologie unmittelbar oder vollständig übernahmen. Vgl. ebd., S. 58–62. Siehe Jörg Echternkamp, „At War, Abroad and at Home. The Essential Features of German Society in the Second World War“. In : Ralf Blank u. a ( Hg.), Germany and the Second World War, Band IX / I : German Wartime Society 1939–1945 : Politicization, Disintegration, and the Struggle for Survival, Clarendon 2008, S. 49.
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bemerkte zutreffenderweise, dass Hitlers Militärstrategie die tatsächliche Bereitschaft sowie die Fähigkeiten der Wehrmacht überforderten. Dies führte zu weiteren Misshelligkeiten bezüglich Schlachtplänen und Bereitstellungen, obwohl die Folge der schnellen Siege im Westen die meisten dieser Besorgnisse überflüssig gemacht zu haben schien. Sie kehrten allerdings mit erneuter Wucht zurück, als Hitler die Entscheidung traf, die Invasion der Sowjetunion zu beginnen. Im Frühjahr 1941, als die Vorbereitungen für die Operation Barbarossa bereits im vollen Schwange waren, sahen sich die Wehrmachtgeneräle in einer Situation, die wie eine Neuauf lage ihrer Furcht, von der Partei überholt zu werden, aussah, als sie über den bevorstehenden ideologischen und Rassenkrieg informiert ( bzw. instruiert ) wurden und man sie warnte, dass dieser in einer anderen Weise geführt werden würde als derjenigen, welche für die Westfront gegolten hatte. Es ist einigermaßen umstritten, wie die Generäle darauf reagierten und ob es zum damaligen Zeitpunkt eine gewisse Opposition unter Bezugnahme auf militärische Ehre sowie die Moral der Truppe gab oder nicht. Tatsächlich scheinen zumindest gewisse militärische Vorbehalte bezüglich der politischen Richtung zum Ausdruck gebracht worden zu sein. Dies deutet die Führer weisung vom 21. August 1941 an, in der Hitler geradewegs feststellte, „die Vorschläge des OKH über die Fortführung der Operationen im Osten, datiert vom 18. August, entsprechen nicht meinen Vorstellungen“.9 So sah sich die Führung der Wehrmacht in der schwierigen Situation, ihre Einschätzung der Situation mit ihren eigenen Fähigkeiten in Übereinstimmung zu bringen, die Strategie umzusetzen, die ihr von Hitler aufgezwungen wurde, sowie mit dem Aufstieg einer parallelen, konkurrierenden militärischen Organisation umgehen zu müssen, all dies angesichts eines bevorstehenden und dann tatsächlichen Krieges. In diesem politisch aufgeladenen Kontext sah sich die Wehrmacht in eine Position manövriert, in der sie sich dem umfassenderen nationalsozialistischen Programm zur Umgestaltung Deutschlands stärker anpassen musste, wie weiter unten gezeigt werden wird.10 Damit soll nicht gesagt werden, dass die Reichswehr - und spätere Wehrmachtführung den traditionellen militärischen Ehrenkodex leichtfertig oder über Nacht aufgegeben hätte, sondern es soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sie im Laufe der Zeit einen langen Weg zurücklegte. Insgesamt darf aber festgestellt werden, dass die Wehrmacht zum Zeitpunkt der Wannseekonferenz weitgehend auf einer Linie mit der NS - Ideologie und - Politik lag. Dies galt nicht nur für die höheren Ränge des Offizierskorps, sondern ganz ebenso für die niederen militärischen Dienstgrade, die zunehmend aus Wehrpflichtigen bestanden, die im national-
9 Zit. nach James Steiner, Hitler’s Wehrmacht : German Armed Forces in Support of the Führer, Jefferson, NC 2008, S. 92. 10 Vgl. Jürgen Förster, „Ideological Warfare in Germany, 1919 to 1945“. In : Blank u. a. (Hg.), Germany and the Second World War, S. 501 ff. Innerhalb dieses Prozesses scheint das Jahr 1935 einen wichtigen Wendepunkt darzustellen. Siehe Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS - Staat, S. 79–105.
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sozialistischen Deutschland aufgewachsen waren und häufig der Hitlerjugend angehört hatten und dem entsprechend die Notwendigkeit eines rassischen „Vernichtungskrieges“ für mehr oder weniger selbstverständlich hielten. Aus all diesen Gründen passte sich die Wehrmacht nach und nach im Endergebnis der NSPolitik an.11 Angesichts all dessen muss aber auch festgehalten werden, dass die „Anpassung“ der Wehrmacht an die rassistische nationalsozialistische Ethik der Kriegführung nie vollständig erreicht wurde.12 Die Vorstellung vom Soldaten als eines Repräsentanten des deutschen Volkes als Ganzes ( sozusagen der kämpfende Teil der Volksgemeinschaft ) war nicht ohne Vorläufer. Dergleichen war bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck gebracht worden.13 Das nationalsozialistische Ideal der Wiederbewaffnung des Militärs nicht nur im materiellen, sondern auch im „geistigen“ Sinne war daher nicht in und aus sich selbst etwas Außergewöhnliches. Der Unterscheid lag natürlich im Inhalt, insofern als der Krieg, nachdem die Nationalsozialistische Partei den Staatsapparat in der Hand hatte, weniger zur Erreichung rein militärischer Ziele geführt werden sollte, sondern eher zum Zecke von Rasse und Ideologie. Sicher, die Wehrmacht kämpfte weiterhin darum, die Kontrolle über die Ausbildung und Indoktrinierung ihrer Offiziere und einfachen Soldaten zu behalten, doch sie scheint diesbezüglich mehr und mehr gegenüber der NS - Führung ins Hintertreffen geraten zu sein. Dies scheint besonders auf die Zeit der Katastrophe von Stalingrad im Winter 1942–43 zuzutreffen. Es bestand die Sorge, dass eine eindeutige Niederlage nicht nur die militärischen Anstrengungen, die Sowjetunion endgültig zu besiegen, zum Erlahmen bringen könnte, sondern dass diese negative Auswirkungen auf die Moral der Truppe insgesamt haben könnte. Es könnte sich auch um eine Reaktion auf die allmählich abnehmende physische und seelische Kraft der Armee im Osten gehandelt haben, was sowohl an den verheerenden Verlusten der kämpfenden Einheiten lag als auch an den zunehmend primitiveren Bedingungen, denen sich die Soldaten der Wehrmacht ausgesetzt sahen.14 Um mit diesen Entwicklungen umzugehen, begann die NS - Führung zum einen mit einer noch rigoroseren ideologischen Ausbildung und führte zum anderen noch schärfere disziplinarische Maßnahmen ein. Die Einführung der Nationalsozialistischen Führungsoffiziere im Dezember 1942 und Januar 1943 stellte eine Reaktion der ersten Art dar, während Änderungen im Bereich der Militärjustiz den letzteren Ansatz wider-
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Siehe die Debatte in Wolfram Wette, The Wehrmacht : History, Myth Reality, Cambridge, MA 2006, S. 90–98 und 195 ff. 12 Siehe beispielsweise Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS - Staat, S. 355–356. 13 Siehe Echternkamp, „At War, Abroad and at Home“, S. 51. 14 Omer Bartov bezieht sich hier auf die Vernichtung der „Primärgruppe“, welche der Armee ihren grundlegenden Zusammenhalt gegeben habe, sowie auf die „Entmodernisierung“ der Front. Siehe Omer Bartov, Hitler’s Army : Soldiers, Nazis and Ware in the Third Reich, New York 1991, bes. S. 28.
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spiegeln.15 Bartov argumentiert in der Tat, dass etwa zum letzten Kriegsjahr der bemerkenswerte Widerstand der deutschen Soldaten angesichts der vorrückenden Roten Armee weniger ein Ergebnis des Gruppenzusammenhalts war, der durch den hohen Verschleiß an Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten stark beeinträchtigt war, und auch nicht durch die Furcht vor disziplinarischer Bestrafung bedingt war, obwohl dieser Faktor eine größere Rolle spielte, sondern ein Resultat der ideologischen Indoktrinierung. Angesichts von Panik, Desertion oder Meuterei, stellt Bartov fest, „schützte sich die Wehrmacht vor den meisten Ausbrüchen durch strikte Disziplin, impfte ihre Truppen aber gegen eine sich ausbreitende Panik durch großzügige Dosierungen des Gegengiftes furchtbarer Angst vor dem Feind“.16 Es war diese ideologische Impfung, fährt Bartov fort, die es den Wehrmachtssoldaten erlaubte, mit ihrer eigenen Brutalität umzugehen.17 Schließlich wurde ihnen von Fachleuten versichert, dass sie gegen eine Armee von Barbaren kämpften, die ihnen und ihren Familien das Selbe antun würden, falls sie die Gelegenheit dazu bekommen würden. Diese Indoktrinierung der Wehrmachtssoldaten brachte sie nahe an die Denkweise der Waffen SS und führte in letzter Konsequenz dazu, dass der „Militärkodex“ der SS der Wehrmacht eingeimpft wurde.18 Ein weiterer Faktor war natürlich die unklare Grenze zwischen der Verteidigung der deutschen Heimat und dem rassischen Vernichtungskrieg, welcher Bestandteil der Regierungspolitik war. In der Sicht des deutschen Soldaten verschmolz beides zu einem einzigen blutigen Ringen, insbesondere als die Situation an der Ostfront sich verschlechterte und die Rote Armee ihren Vormarsch nach Deutschland begann. Es war besonders im Osten, dass sich der Krieg in diejenige höllische moralische Wüste verwandelte, die Sherman ( sowie Walzers Interpretation von Sherman Worten ) meinte.19 Im restlichen Teil dieses Aufsatzes möchte ich einen Blick auf zwei Beispiele dafür werfen, wie dieser neue, radikalere „Militärkodex“ in der Wehrmacht etabliert wurde. Das erste Beispiel dafür, wie ein Militärkodex sogar zur Unterstützung eines Völkermordes führen kann, bietet der sogenannte „Kommissarbe-
15 Siehe Echternkamp, „At War, Abroad and at Home“, S. 52–56. Siehe auch Manfred Messerschmidt / Fritz Wuellner, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, 2. Auflage Paderborn 2005. 16 Bartov, Hitler’s Army, S. 104. 17 Siehe ebd., S. 106 ff. 18 Siehe George Stein, The Waffen SS : Hitler’s Elite Guard at War, Ithaca 1966, S. 119–136. Siehe auch Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS - Staat, S. 354–355. 19 Siehe beispielsweise Peter Steinbachs Diskussionsbeitrag in seinem Aufsatz „Krieg, Verbrechen Widerstand : Die Deutsche Wehrmacht im NS - Staat zwischen Kooperation und Konfrontation“. In : Karl Heinrich Pohl ( Hg.), Wehrmacht und Vernichtungspolitik, Göttingen 1999, bes. S. 11–19. In seinem Aufsatz in derselben Kompilation, „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“, stellt Karl Heinrich Pohl fest (S. 143): „Die Wehrmachtsführung war bei der Erstellung der Pläne zu diesem Vernichtungskrieg nicht nur passiv, sondern aktiv beteiligt : zustimmend, vorbereitend und ausführend.“
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fehl“, an dem die grundsätzliche Doktrin erkennbar wird, welche das Handeln der Wehrmacht im Osten bestimmte. Dieser Befehl beschreibt die Rolle des Militärs bei der Eliminierung der ideologischen Führungskader der Roten Armee (der „Kommissare“) während der Invasion bzw. der beabsichtigten Eroberung der Sowjetunion. In ihrer Fassung vom 23. Mai 1941, als die letzten Planungen für die Operation Barbarossa stattfanden, stellte diese Weisung fest: „Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine hasserfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten.“20 Von dieser Annahme ausgehend, besagt der Befehl weiterhin, dass es daher notwendig sei, sowjetische Kommissare, sowohl Militär - als auch Zivilpersonen, präventiv zu eliminieren, sobald man ihnen begegne, das heißt vor ihrer Ankunft in Kriegsgefangenenlagern. Im Endeffekt sind Kommissare, auch als Zivilisten, summarisch zu exekutieren.21 Der Grund dafür ist, dass der deutsche Soldat dasselbe von ihnen zu erwarten habe, eine Feststellung, mit der ich mich sogleich beschäftigen werde. Die Rhetorik und Sprache dieses Befehls sind entscheidend für das Verständnis seiner Ethik. Er beginnt mit der Feststellung, dass „der Feind“ sich nicht „nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts“ verhalten werde. Dies betrifft zwei Punkte. Zunächst wird sich der Feind nicht entsprechend dem Völkerrecht verhalten. Die Implikation ist, dass er die Anwendung des Völkerrechts im Kampf gegen die Deutschen bereits zurück gewiesen habe und dass daher theoretisch deutsche Soldaten ihrerseits das Gefühl haben dürften, in diesem Fall ebenso wenig an das Völkerrecht gebunden zu sein. Hier wird eine wichtige Grundlage gelegt. Der deutsche Soldat darf sich an etwas beteiligen, was innerhalb eines anderen Bezugsrahmens als die summarische Exekution ziviler Kommissare erscheint. Hier aber hat die Zielgruppe die Anwendung des üblichen moralischen und rechtlichen Bezugsrahmens bereits ausgesetzt und hat sich dadurch tatsächlich bereits selbst dazu verurteilt, nach den Gesetzen des Dschungels zu leben und zu sterben. Der Kommissar verdient daher seine Hinrichtung, und der Soldat, der diese ausführt, macht sich daher nicht moralisch schuldig. Das zweite Element in den Eröffnungsworten des Befehls ist, dass der Feind sich in keinem Fall menschlich verhalten wird. Nun kann man dies einerseits als eine simple Ausweitung der NS - Rassenideologie verstehen. Als „jüdische, asiatische Bolschewiken“ waren die Russen im Vergleich zu Ariern Untermenschen. Doch diese Behauptung stellt ebenso eine tiefgehende Rechtfertigung des unmenschlichen, ja „nicht - menschlichen“, Verhaltens dar, das in Kürze vom 20 Christian Streit, Keine Kameraden : Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–194, Stuttgart 1980, S. 48. 21 Siehe ebd., S. 44 f.
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nationalsozialistischen Soldaten erwartet und sogar verlangt werden würde. Wieder handelt es sich bei dem, was als Hinrichtung eines Zivilisten erscheint, tatsächlich um etwas völlig anderes, nämlich das Töten nicht nur einer Person, die sich selbst bereits zum Verbrecher erklärt hat, sondern eines Verbrechers, der noch nicht einmal ein wirklicher Mensch ist. Hier sehen wir, dass sich das Militär bereits in Richtung auf eine bestimmte Art von „Militärkodex“ drängen ließ. Doch ich möchte mit meinem zweiten Beispiel fortfahren. Diese allgemeine Weisung wurde anschließend vom OKW ( Oberkommando der Wehrmacht ) in eine Dienstanweisung umgesetzt. Es existiert ein bezeichnender Brief von General Hermann Reinecke, zu jener Zeit Generalleutnant und Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamts beim OKW. Unter seiner Ägide stand in jener Zeit auch das Büro, das mit Kriegsgefangenen zu tun hatte. Im September 1941, wenige Monate nach der Invasion der Sowjetunion, gab Reinecke Anweisungen bezüglich der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, die neu in das Lager BergenBelsen in Westdeutschland eingeliefert werden sollten. Sein Kommandeursbrief ist deshalb wichtig, weil er explizit in Dienstanweisungen umsetzt, was de facto bereits angewandte Politik im Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen war, wie wir am Beispiel des Kommissarbefehls gesehen haben. Reinecke beginnt mit der folgenden Feststellung : „Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen Deutschland. [...] Zum ersten male steht dem deutschen Soldaten ein nicht nur soldatisch, sondern auch politisch im Sinne des Völker zerstörenden Bolschewismus geschulter Gegner gegenüber. [...] Der Kampf gegen den Nationalsozialismus ist ihm in Fleisch und Blut übertragen. Er führt ihn mit jedem ihm zu Gebote stehenden Mittel : Sabotage, Zersetzungspropaganda, Brandstiftung, Mord. Dadurch hat der bolschewistische Soldat jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat und nach dem Genfer Abkommen verloren.“22 Man beachte, dass der feindliche Soldat noch nicht einmal als feindlicher Soldat bezeichnet, sondern als ein ideologischer Kämpfer gebrandmarkt wird. Daher wird er nicht als Waffenkamerad angesehen und entsprechend behandelt. Dies beruht auf einer Formulierung von General Alfred Jodl ( Chef des Wehrmachtsführungsstabs, OKW ) in deren erstem Teil er zunächst den Kommissarbefehl aufgreift : „Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit und des Völkerrechtes nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art eine hasserfuellte, grausame u. unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten. Die Vergeltung muss daher sofort u. in vollem Umfange gegen diejenigen Persönlichkeiten einsetzen, die als Träger u. Urheber jener bekannten asiatisch - barbarischen Methoden bekannt sind.“23 Reineckes eigener Brief ist weitergehend, insofern er die Implikationen dieser Sichtweise spezifiziert : 22 Ebd., S. 46. 23 Ebd., S. 46.
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„Der bolschewistische Soldat [ hat ] jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat und nach dem Genfer Abkommen verloren. Es entspricht daher dem Ansehen und der Würde der deutschen Wehrmacht, dass jeder deutsche Soldat dem sowjetischen Kriegsgefangenen gegenüber schärfsten Abstand hält. Behandlung muss kühl, doch korrekt, sein. Jede Nachsicht und sogar Anbiederung ist strengstens zu ahnden. [...] Rücksichtsloses und energisches Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit, insbesondere gegenüber bolschewistischen Hetzern, ist daher zu befehlen. Widersetzlichkeit, aktiver oder passive Widerstand muss sofort mit der Waffe ( Bajonett, Kolben und Schusswaffe ) restlos beseitigt werden.“24
In diesem Teil des Briefes findet sich eine Reihe von Elementen, die eine genauere Betrachtung verdienen. Das Auffallendste ist das Verlangen nach „rücksichtslosem und energischem Durchgreifen“ beim geringsten wahrnehmbaren Widerstand. Praktisch gesehen bedeutet dies, dass selbst etwas, das als passiver Widerstand erscheinen könnte, beispielsweise wenn ein kranker Soldat einem Befehl, der ihm in einer fremden Sprache zugebrüllt wird, nur langsam Folge leistet, mit unmittelbarer und maximaler Härte geahndet werden soll. Weiterhin sind Soldaten, die dies nicht tun, insbesondere nicht von der Waffe Gebrauch machen, zu bestrafen. Kurz gesagt, als Bestandteil ihres militärischen Kodex’ wird von deutschen Wachen und Soldaten erwartet – und es wird ihnen sogar befohlen – den Feind ohne jede menschliche Rücksichtnahme zu behandeln und ihn ohne Zögern bzw. ohne weitere Gedanken daran zu verschwenden einer Bestrafung zu unterziehen, die den Tod einschließen kann. Der Soldat, der dies tut, wird nicht nur als pflichtbewusst und entsprechend als guter Deutscher angesehen, er wird sogar lobend erwähnt oder belohnt. Entsprechend den Schildern, die zum Beispiel an der Gedenkstätte eines Lagers in den Niederlanden aufgestellt sind, hatten die Wachen Befehl, jeden Gefangenen zu erschießen (und hier handelte es sich um Zivilisten ), der sich dem äußeren Zaun näherte. Diejenigen, die sich bei der Erfüllung dieser Pflicht als eifrig erwiesen, konnten mit einem mehrtägigen Urlaub belohnt werden.25 Die Übereinstimmung mit diesem Militärkodex wurde also nicht nur erwartet, sondern belohnt. Wie bei jedem Militärkodex würde dies den Soldaten sicherlich dabei helfen, angesichts der eigentlich grässlichen Tätigkeiten, die sie ausübten, die seelische Balance zu bewahren. In seiner tatsächlich unbeschränkten Rechtfertigung der Anwendung maximaler Gewalt gegen besonders verwundbare Personen, nämlich unbewaffnete Kriegsgefangene oder sogar Zivilisten, ist dieser Befehl an sich bemerkenswert. Aus der Sicht des einfachen Soldaten besteht wenig Spielraum oder auch nur Notwendigkeit für moralische Zurückhaltung. Jede Handlung gegenüber einem sowjetischen Kriegsgefangenen ist vollumfänglich sanktioniert, da Letztere sich bereits selber außerhalb jeden geltenden Rechtes gestellt haben. Außerdem handelte es sich nicht um vollwertige Menschen. Andererseits konnte Nichthandeln, 24 Ebd., S. 181. 25 Dafür gibt es viele Beispiele. Siehe u. a. Michael Englishman, 163256 : A Memoir of Resistance, Waterloo, ON 2007, S. 29.
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egal mit welcher Entschuldigung, zu einer offiziellen Zurechtweisung sowie einem Gefühl persönlichen Versagens oder persönlicher Schwäche führen. In einer solchen Situation konnte man darauf zählen, dass jeder Soldat auf Nummer Sicher gehen würde, anstatt sich unentschlossen oder zurückhaltend zu verhalten und sich so in Schwierigkeiten zu bringen. Der in Reineckes Befehl implizit mitschwingende Militärkodex stellt sicher, dass die Soldaten in einer bestimmten Weise handeln werden und dabei mit sich im Reinen sein werden, sich sogar moralisch gerechtfertigt fühlen werden. Das Militär, der Staat und sogar das deutsche Volk werden sie in dieser Weise sehen.26 Was ich hier vorgelegt habe, sind selbstverständlich nur bestimmte Dokumente aus einem bestimmten Zusammenhang innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens, die sich gegen eine bestimmte Zielgruppe richten. Doch ich bin überzeugt, dass das, was in Bergen - Belsen geschah, für eine Grundhaltung repräsentativ ist, die auf höchster Kommandoebene vorgegeben wurde, und somit ebenfalls für den Gesamtprozess der Umsetzung des nationalsozialistischen „Militärkodex’“ innerhalb der Wehrmacht. Natürlich handelt es sich dabei um einen „Militärkodex“, der nicht nur für die Wehrmacht galt, sondern selbstverständlich für alle Institutionen im nationalsozialistischen Deutschland. Doch konzentriere ich mich hier auf seine Etablierung innerhalb des Militärs, denn dies bringt die Grundlage für einen Verhaltenskodex zum Ausdruck, der in den Rahmen umfassenderer Konzeptionen von Loyalität, Deutschtum sowie schließlich Gut und Böse gehört. Wie ich bereits an anderer Stelle argumentiert habe, konstituiert er daher einen bestimmten Typus von Ethik und stellt ein gutes Beispiel dafür dar, dass ein „Militärkodex“ unabhängig von seinem Inhalt geformt werden kann. Sicher, mit der Einrichtung der Bundeswehr im Jahre 1955 wurde die Natur des nationalsozialistischen „Militärkodex’“ sowie das Ausmaß, in dem sich die Wehrmacht diesem unter warf oder sich ihm widersetzte, zum Gegenstand gründlicher Reflektion. Wie sollte das Verhältnis der Bundeswehr zu ihrem Vorläufer aussehen ? Welche Elemente der militärischen Tradition der Wehrmacht ( sowie der Reichswehr vor ihr ) waren es wert, bewahrt und übernommen zu werden, und welche Bestandteile sollte man zurückweisen ? Zu einem großen Teil hing die Antwort darauf natürlich davon ab, welche Erinnerung an die Wehrmacht man fördern wollte. Diese Debatte blickt auf eine lange und komplexe Geschichte zurück und ist mit umfassenderen Aspekten verbunden, die das Verhältnis Nachkriegsdeutschlands zu seiner Vergangenheit sowie seine Wahrnehmung der Rolle und des Einsatzes seines Militärs sowohl im Inneren 26 Dieses Argument beruhte tatsächlich auf akademischen Arbeiten zum Konzept der militärischen Ethik aus den 1930ern. Siehe beispielsweise Max Simoneit, Wehr - Ethik : Ein Abriss ihrer Probleme und Grundsätze, Berlin 1936, S. 134 : „Zunächst ist die Ehre des einzelnen durch seine Gliedschaft in der nationalen Gemeinschaft auch von der Ehre der Gemeinschaft abhängig, – die Nation empfindet ja nicht, sondern der einzelne. Bei dieser Sachlage ist es auf keinen Fall möglich, der Nation andere Ehr - Normen geben zu wollen, als sie der einzelne besitzt.“
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als auch nach außen betreffen. Während sich dabei kein einfaches Bild ergibt, scheint dennoch klar zu sein, dass in gewissem Maße die Komplizenschaft der Wehrmacht mit dem Völkermordkrieg der Nationalsozialisten ein geringerer Stellenwert eingeräumt wurde und statt dessen die Aspekte der Reserviertheit und des Widerstandes betont oder in den Vordergrund gestellt wurden.27 In jedem Fall scheint es überaus klar zu sein, dass die Bundeswehr bei der Formulierung ihres eigenen „Militärkodex’“, einschließlich der Doktrin der „Inneren Führung“, die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und die Implikationen dessen, was geschah, gründlich bedacht hat. Nichtsdestotrotz stellt die Übertragung des nationalsozialistischen „Militärkodex’“ auf die Wehrmacht ein Beispiel für die Elastizität der Vorstellung von einem „Militärkodex“ dar, unabhängig von der Komplexität des Kontextes. Dies bringt mich zu meinem Ausgangspunkt zurück, zu General Sherman und der Vorstellung vom Krieg als Hölle. Wie bereits festgestellt, leitete Walzer daraus ab, dass im Krieg alles erlaubt ist, denn intrinsisch, aufgrund seiner Natur, kennt Krieg keine inneren und auch keine von außen kommenden objektiven moralischen Regeln. Der nationalsozialistische „Militärkodex“, so wie er sich durch Reinecke und andere innerhalb der Wehrmacht darstellt, scheint dieses Argument zu stützen, dass nämlich kein Regelwerk sich zu einem im Kriege anwendbaren Militärkodex entwickeln lässt, so dass daher der Krieg tatsächlich eine Art Hölle ist, insofern als er eine chaotische Situation darstellt, in der schließlich absolut alles erlaubt ist, selbst ein auf den Kopf gestellter Moralkodex. In diesem Sinne reflektiert die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, so wie sie im „Kommissarbefehl“ kodifiziert und von Reinecke und anderen umgesetzt wurde, nicht die Bösartigkeit des Krieges an sich, sondern im Gegenteil die letztendliche Kohärenz des Krieges als eines rationalen Systems, das außerhalb seines eigenen Rahmens über keinerlei eingebauten moralischen Inhalt verfügt. Die nationalsozialistische Sicht auf die Auseinandersetzung, in der sie sich befanden, stellte einen Krieg von existentiellem Ausmaß dar, einen Krieg von Ariern gegen asiatische Bolschewiken, von Menschen gegen Untermenschen, einen Krieg des Überlebens gegen die Vernichtung, der Vernunft gegen die vernunftlose Natur, vielleicht sogar in Teilen eine Art manichäisch - kosmischer Schlacht zwischen Gut und Böse.28 In einem solchen Szenario ergeben der Kommissarbefehl oder Reineckes Brief absoluten Sinn und konstituieren einen Militärkodex, der einer solchen Art von „Rassen“krieg angemessen ist. Sie bewahren die Ehre des Soldaten inmitten von Gewalt, Blut, Blutvergießen und Tod. Krieg mag die Hölle sein, doch der Soldat muss kein Teufel sein, er wirkt innerhalb einer bestimmten moralischen Ordnung, so wie sie in seinem „Militärkodex“ zum Ausdruck kommt. 27 Zu einer ausgiebigeren Diskussion dieses Punktes siehe Wette, The Wehrmacht, S. 251– 291. 28 „indem statt vom ‚Zweck‘ von der ‚Lebensfunktion‘ im Sinne der Lebensnotwendigkeit gesprochen werden müsste, die infolge ihres göttlichen Ursprungs auch heiligende Wirkung auszustrahlen vermag.“ Simoneit, Wehr - Ethik, S. 65 ( Hervorhebung getilgt ).
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Die hier vorliegende Logik ist dieselbe Logik, die einst von dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater zum Ausdruck gebracht wurde, der folgendermaßen zitiert wird : „Extremismus bei der Verteidigung der Freiheit ist kein Verbrechen. Und Zurückhaltung bei der Anwendung von Gerechtigkeit ist keine Tugend.“ Wenn man im Rahmen einer derart manichäischen Weltsicht das ultimativ Böse bekämpft, dann ist Zurückhaltung ein Verbrechen, sogar eine Sünde, und Extremismus ist tatsächlich die ultimative Tugend. In seiner eigenen Vorstellung rief Reinecke die deutschen Wachen nicht dazu auf, sich gewalttätig, grausam oder unmenschlich zu verhalten, er rief sie dazu auf, eine höhere Ebene der moralischen Tugend einzunehmen. Wie Sherman auf seinem Weg nach Savannah, so metzelten und brannten die Soldaten im Dienste dessen, was ihnen als ein höheres Gut, vielleicht das höchste überhaupt, dargestellt wurde.
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Die Rolle der Evolutionsethik in der NS - Propaganda und im weltanschaulichen NS - Unterricht Richard Weikart Wenn auch die NS - Propaganda niemals den Begriff „Evolutionsethik“ verwendete, um ihre Haltung zu Ethik und Moral darzustellen, so stellte doch das Konzept der Evolutionsethik ein zentrales Element der nationalsozialistischen Weltanschauung dar. Unter Evolutionsethik verstehe ich eine ethische Sicht, die zwei miteinander verbundene, allerdings getrennte Konzepte umfasst : (1) Die Vorstellung, dass Moral zu einem großen Teil auf biologischen Merkmalen beruht, die sich im Verlauf evolutionärer Prozesse herausgebildet haben, sowie (2) die Vorstellung, dass das moralisch Gute durch den Evolutionsprozess definiert wird, besonders durch das, was den evolutionären Fortschritt fördert. Viele führende Nationalsozialisten vertraten beide Vorstellungen, wenn auch der Letztere wichtiger war und die größeren Auswirkungen auf die NS - Politik hatte. Der evolutionäre Ursprung der Moral stellte kein herausragendes Thema der NS Propaganda dar, wenn auch Hitler und andere Nationalsozialisten ihn gelegentlich vertraten. Allerdings betonte die NS - Propaganda beständig die biologische Determiniertheit der Charakterzüge, die angeblich von Rasse zu Rasse verschieden waren. In meiner früheren Arbeit From Darwin to Hitler : Evolutionary Ethics , Eugenics, and Racism in Germany (2004) habe ich die Rolle untersucht, welche die Evolutionsethik für das Denken einer Anzahl deutscher Wissenschaftler, Ärzte, Philosophen und Gesellschaftswissenschaftler in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg spielte. Diese Befürworter der Evolutionsethik hatten einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung der nationalsozialistischen Weltanschauung. In Hitlers Ethic : The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress (2009) habe ich die Bedeutung der Evolutionsethik für Hitlers Weltsicht dargelegt. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich die Art und Weise untersuchen, in der das NS - Regime die Evolutionsethik für seine Propaganda nutzte, besonders in Veröffentlichungen und Schulungen, mit deren Hilfe die nationalsozialistische Weltanschauung vermittelt werden sollte. Eine der wichtigsten Veröffentlichungen zur Förderung der nationalsozialistischen Weltanschauung war natürlich Hitlers „Mein Kampf“, welches die Evolutionsethik bereits zu einem frühen Zeitpunkt verfocht. Ein weiteres Stück Propaganda, von Hitler persönlich unterstützt, war „Wofür kämpfen wir ?“ (1944), eine Broschüre, welche die entscheidenden Punkte der nationalsozialistischen Weltanschauung zur Darstellung brachte und mit einer gehörigen Dosis Evolutionsethik versetzt war. Zwei SS - Handbücher –
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„Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung der SS und Polizei“ sowie „Rassenpolitik“ – die auf die Förderung der NS - Weltanschauung abzielten, räumten ebenfalls der Evolutionsethik breiten Raum ein. Schließlich brachten etliche Schriften des Medizinprofessors Martin Staemmler, die den offiziellen Stempel des Nationalsozialismus trugen, die Evolutionsethik einem Populärpublikum nahe. Bevor ich damit fortfahre, die Wichtigkeit der Evolutionsethik für die NS - Propaganda darzulegen, muss ich noch auf den Irrtum eingehen, den einige wenige Wissenschaftler sowie etliche Websites verbreitet haben und noch immer verbreiten; nämlich die unzutreffende Behauptung, Hitler und die Nationalsozialisten hätten die biologische Evolution bestritten, insbesondere die Entwicklung der Menschheit aus anderen Tieren.1 Ich habe bereits in meinem Buch Hitler’s Ethic : The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress nachgewiesen, dass Hitler an die Entwicklung des Menschen aus den Primaten glaubte, doch gibt es noch eine Menge weiterer Beweise, mit deren Hilfe sich nachweisen lässt, dass die Nationalsozialisten von der biologischen Evolution überzeugt waren. Zunächst einmal enthielt das offizielle nationalsozialistische Biologie - Curriculum umfangreiche Abschnitte zur biologischen Evolution und lehrte insbesondere die Entwicklung des Menschen aus den Primaten sowie die Entwicklung der menschlichen Rassen aus primitiveren Vorläufern.2 Zum Zweiten ernannten die Nationalsozialisten deutsche Anthropologen, darunter die herausragendsten Evolutionsanthropologen Deutschlands, welche Anhänger der Evolutionstheorie waren, zu Professoren und erwiesen ihnen weitere Ehren. Darunter befanden sich auch SS - Offiziere. Die Rassenwissenschaftler der NS - Zeit, von denen etliche in die SS eintraten, waren sämtlich Anhänger der biologischen Evolution. Drittens veröffentlichten viele regelmäßig erscheinende nationalsozialistische Zeitschriften, wie zum Beispiel die „Nationalsozialistischen Monatshefte“, „Neues Volk“, „Volk und Rasse“ sowie „Der Biologe“ Artikel und empfahlen
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Einige Beispiele für Wissenschaftler, welche bestreiten, dass die Nationalsozialisten an die Evolution des Menschen glaubten : George L. Mosse, The Crisis of German Ideology: Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964, S. 103. Anne Harrington, Reenchanted Science : Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler, Princeton 1996, S. 262, FN 2. Robert J. Richards, „That Darwin and Haeckel Were Complicit in Nazi Biology“. In : Ronald Numbers ( Hg.), Galileo Goes to Trial and Other Myths about Science and Religion, Cambridge, MA 2009, S. 177. Peter Bowler, „Darwin’s Originality“. In : Science, 323 (2009) Nr. 5911, S. 226. Michael Ruse, Interview in : The Stanford Review ( www.stanfordreview.org / Archive / Volume_XL / Issue_7/ Features / features2. shtml; 7. 5. 2008). Siehe Reichs - und Preußisches Ministerium, Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule : Amtliche Ausgabe des Reichs - und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin 1938, S. 140–164. H. Linder / R. Lotze, „Lehrplanentwurf für den biologischen Unterricht an den höheren Knabenschulen. Bearbeitet im Auftrag des NSLB. Reichsfachgebiet Biologie“. In : Der Biologe, erschienen in Band 6 (1937) als getrennte Beilage ohne Paginierung ( in der mir vorliegenden Ausgabe unmittelbar nach Heft 1).
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Die Rolle der Evolutionsethik in der NS-Propaganda
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Bücher, welche die biologische Evolution lehrten.3 Sie veröffentlichten sogar Artikel, in denen der Kreationismus verurteilt wurde, wie beispielsweise jener berüchtigte Beitrag von Konrad Lorenz, in dem die Lehre von der Evolution als Gegenmittel gegen die Lehre von der Gleichheit der Rassen empfohlen wurde.4 Schließlich lehrten die Veröffentlichungen, die ich im Verlaufe des folgenden Beitrags analysieren möchte und von denen einige zu den offiziellsten Aussagen der NS - Ideologie gehören, die je veröffentlicht wurden, eindeutig die biologische Evolution, einschließlich der Entwicklung des Menschen und der Rassen. Diejenige Art von Evolutionstheorie, welche die Grundlage für die Evolutionsethik der Nationalsozialisten bildete, war eine rassistische Version des NeoDar winismus. Die grundlegende Vorstellung war diejenige, dass der Bevölkerungsdruck Organismen dazu zwänge, in einen Überlebenswettbewerb einzutreten. Der daraus entstehende Existenzkampf zwischen den Organismen würde dann zum Überleben und zur weiteren Fortpflanzung derjenigen führen, welche die günstigsten Varianten entwickelten ( die Stärksten ), während andere ( die Lebensunfähigen ) vergehen würden, ohne Nachkommenschaft zu hinterlassen. Darwin nannte diesen Prozess die natürliche Auslese, obwohl viele deutsche Biologen und Eugeniker ihn oft einfach als „Auslese“ abkürzten. Dieser Wettbewerb trat unter den Individuen einer Gesellschaft auf, allerdings legten die Nationalsozialisten noch mehr Gewicht auf den Wettbewerb der unterschiedlichen Rassen. Die nationalsozialistischen Rassentheoretiker wiesen die Lamarcksche Evolutionstheorie zurück und vertraten statt dessen August Weismanns Keimzellentheorie, wie dies die meisten deutschen Biologen in den 1930ern taten. Die Nationalsozialisten betonten häufig die Unmöglichkeit, biologische Merkmale durch die Veränderung der Umwelt zu beeinflussen. Sie glaubten an einen minimalen Einfluss der Umwelt auf das menschliche Verhalten und verfochten stattdessen einen biologischen Determinismus. Sie argumentierten, dass die intellektuellen und moralischen Merkmale des Menschen in erster Linie durch die Vererbung bestimmt seien. Der nationalsozialistische Glaube, dass Vererbung im Wesentlichen festgelegt sei und keinerlei Umwelteinflüssen unterliege, war allerdings nicht anti - evolutionär. Im Gegenteil reflektierte er Weismanns Evolutionstheorie und entsprach vollständig den Ansichten führender deutscher Bio3
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Um nur einige wenige Beispiele zu nennen : Heinz Brücher, „Ernst Haeckel, ein Wegbereiter biologischen Staatsdenkens“. In : Nationalsozialistische Monatshefte, 6 (1935) Nr. 69, S. 1088–96. Heinz Brücher, „Rassen - und Artbildung durch Erbänderung, Auslese und Züchtung“. In : Nationalsozialistische Monatshefte, 12 (1941), S. 667–76. Gerhard Heberer, „Abstammungslehre und moderne Biologie“. In : Nationalsozialistische Monatshefte, 7 (1936) Nr. 79, S. 874–90. Gerhard Heberer, „Die genetischen Grundlagen der Artbildung“. In : Volk und Rasse, 15 (1940), S. 136–37. Eugen Fischer, „Die Entstehung der Menschenrassen“. In : Volk und Rasse, 13 (1938), S. 229–36. Christian von Krogh, „Schausammlung für Abstammungs - und Rassenkunde des Menschen in München“. In: Volk und Rasse, 13 (1938), S. 193–94, etc. Siehe Konrad Lorenz, „Nochmals : Systematik und Entwicklungsgedanke im Unterricht“. In : Der Biologe, 9 (1940), S. 24–36.
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logen und Eugeniker, die von Dar wins Theorie überzeugt waren. Manchmal betonten nationalsozialistische Theoretiker die Konstanz der Vererbung über tausende Jahre hinweg und somit die Vergeblichkeit eines jeden Versuchs, Änderungen durch Veränderung der Umwelt herbeizuführen. Allerdings hätte, soweit ich weiß, keiner von ihnen darauf bestanden, dass Vererbung über Millionen von Jahren hinweg konstant bleibt. Bei der Bewertung des Verhältnisses von Evolutionsethik und nationalsozialistischer Weltanschauung müssen wir zwei Punkte bedenken. Zunächst, so wichtig die Evolutionsethik für die nationalsozialistische Weltanschauung auch war, so speisten sich doch viele Elemente der NS - Ideologie aus anderen Quellen – dem preußischen Militarismus, dem Nationalismus, dem christlichen Antisemitismus etc. Zweitens war die Evolutionsethik unter Biologen und anderen Wissenschaftlern umstritten. Viele darwinistische Biologen, Anthropologen und Ärzte unterstützten und verbreiteten sie aus vollem Herzen, während andere – besonders Philosophen und Soziologen, aber auch viele Naturwissenschaftler – vor jedem Versuch warnten, den Darwinismus auf die Ethik anzuwenden. Die nationalsozialistische Vorstellung von der Evolutionstheorie entsprach meistenteils der besten Wissenschaft der Zeit. Man wies den Lamarckismus zurück und vertrat die natürliche Auslese durch den Kampf um das Überleben. Allerdings übernahmen die Nationalsozialisten auch die vom Rassismus geprägte Spielart der Evolutionsethik, die – wenn auch weit verbreitet unter Wissenschaftlern, besonders in Deutschland – noch umstrittener war.5 Hitler äußerte sich beinahe niemals über die Einflüsse, die sein Denken geprägt hatten, weswegen es schwierig – und häufig unmöglich – ist, die Quellen im Einzelnen zu benennen, die seine Weltsicht formten. Wahrscheinlich stammten seine Vorstellungen von der Evolutionstheorie und der Evolutionsethik aus einer Vielzahl von Quellen.6 Hitler behauptete, er habe über Darwin in der Schule gelernt, was durchaus wahrscheinlich ist, da der Darwinismus in deutschen wissenschaftlichen Kreisen des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts weithin akzeptiert war. Der Genetiker Fritz Lenz berichtete, Hitler habe das Buch über Humangenetik und Eugenik, dessen Koautor er war, gelesen, als er in Landsberg in Haft war, in der Zeit, in der er Mein Kampf verfasste. Dies ist durchaus wahrscheinlich, da Lenz’ Verleger, Julius F. Lehmann, ein Freund Hitlers war und diesem Exemplare jener Bücher übersandte, die er zu Rassismus und Eugenik veröffentlichte. Wenn Lenz’ Buch nicht eine von Hitlers Quellen war, könnte er ähnliche Vorstellungen aus anderen der zahlreichen Veröffentlichungen Lehmanns bezogen haben. Einer der wahrscheinlicheren Kandidaten war Lehmanns Monatsschrift „Deutschlands Erneuerung“, die Hitler beinahe mit Sicherheit gelesen hatte. Sie enthielt eine Anzahl von Artikeln, 5 6
Als Beispiel für einen britischen Naturwissenschaftler, der sich gegen die nationalsozialistische Sicht der Evolutionsethik wandte, siehe Sir Arthur Keith, Evolution and Ethics, New York 1946. Zu den vielen möglichen Quellen siehe Richard Weikart, From Darwin to Hitler : Evolutionary Ethics, Eugenics, and Racism in Germany, New York 2004.
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Die Rolle der Evolutionsethik in der NS-Propaganda
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welche die Eugenik, den rassischen Überlebenskampf sowie die Evolutionsethik vertraten.7 Die Evolutionsethik spielte in etlichen Passagen von „Mein Kampf“ eine Rolle, besonders im Kapitel über „Volk und Rasse“. Dieses Kapitel war der einzige Teil von „Mein Kampf“, der als eigenständige Schrift veröffentlicht wurde und daher im Dritten Reich weite Verbreitung fand, um die nationalsozialistische Rassenideologie zu unterstützen.8 Auf den ersten Seiten dieses Kapitels legte Hitler dar, warum er der Meinung war, dass die Vermischung der Rassen gegen Grundsätze der Evolution verstoße: „Jede Kreuzung zweier nicht ganz gleich hoher Wesen gibt als Produkt ein Mittelding zwischen der Höhe der beiden Eltern. Das heißt also : das Junge wird höher stehen als die rassisch niedrigere Hälfte des Elternpaares, allein nicht so hoch wie die höhere. Folglich wird es im Kampf gegen diese höhere später unterliegen. Solche Paarung widerspricht aber dem Willen der Natur zur Höherzüchtung des Lebens überhaupt. Die Voraussetzung hierzu liegt nicht im Verbinden von Höher - und Minderwertigem, sondern im restlosen Siege des ersteren. Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern. Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden, dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dieses Gesetz nicht herrschen, wäre ja jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen undenkbar.“9
Diese Feststellung macht deutlich, dass Hitler der Auffassung war, dass er, indem er den Sieg des Stärkeren auf Kosten des Schwächeren unterstützte, sich entsprechend dem „Willen der Natur“ verhalte und dadurch die „höhere Entwicklung der organischen Lebewesen“ fördere. Seine Eugenik und Rassenpolitik beruhte also auf seiner Vorstellung, dadurch den Fortschritt des Menschen im Evolutionsprozess zu fördern. Einige Zeilen später fährt Hitler in „Mein Kampf“ fort : „Der Kampf um das tägliche Brot lässt alles Schwache und Kränkliche, weniger Entschlossene unterliegen, während der Kampf der Männchen um das Weibchen nur dem Gesündesten das Zeugungsrecht oder doch die Möglichkeit hierzu gewährt. Immer aber ist der Kampf ein Mittel zur Förderung der Gesundheit und Widerstandskraft der Art und mithin eine Ursache zur Höherentwicklung derselben.“10 Hitler war also ein Gegner der Rassenvermischung, weil er der Ansicht war, dass sie den evolutionären Fortschritt behindere, der für ihn das höchste Gut darstellte. Da es bei dieser Passage ausschließlich darum geht, diese Grundsätze auf die Beziehungen der menschlichen Rassen zueinander anzuwenden, wird offenkundig, dass Hitler der Meinung war, dass die Menschheit sich entwickelt 7 Ich bespreche diese Einflüsse ausführlicher in Richard Weikart, Hitler’s Ethic : The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress, New York 2009. 8 Siehe Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches : Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922– 1945, München 2006, S. 12, 414. 9 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, 504.–508. Auflage München 1940, S. 312. 10 Ebd., S. 312 f.
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habe und sich noch immer entwickele. Hitlers Rassenpolitik zielte darauf ab, die Entwicklung der Menschheit voran zu treiben. Auf den ersten Seiten von „Volk und Rasse“ verwendete Hitler mehrmals den Ausdruck „Höherentwicklung“, wenn er Veränderungen biologischer Organismen beschreibt. Wenn er auch nicht den Ausdruck „Dar winismus“ benutzte, war doch seine Darstellung im Grundsatz dar winistisch, da er die natürliche Auslese durch den Existenzkampf als den wichtigsten Mechanismus der biologischen Evolution betonte. Dass er ein Anhänger der Evolutionsethik war, wird ebenfalls bereits auf den ersten Seiten dieses Kapitels offenkundig, da er nicht nur die evolutionäre Weiterentwicklung als sein hauptsächliches Ziel nannte, sondern auch alles, was den Evolutionsprozess behindert, als „Sünde“ bezeichnete. Hitler behauptete , dass jeder, der die Rassengesetze der Natur missachte, „den Siegeszug der besten Rasse und damit aber auch die Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt [ verhindert ]“.11 Für Hitler stellten also rassistische Philosophie und Politik ein Mittel zur biologischen Verbesserung der menschlichen Spezies dar. An anderer Stelle in „Mein Kampf“ erklärte Hitler, in welcher Weise die Evolution seine Vorstellungen von Bevölkerungspolitik und Eugenik konkret beeinflusst habe. Er sprach sich gegen Geburtenkontrolle aus : „Denn sowie erst einmal die Zeugung als solche eingeschränkt und die Zahl der Geburten vermindert wird, tritt an Stelle des natürlichen Kampfes um das Dasein, der nur den Allerstärksten und Gesündesten am Leben lässt, die selbstverständliche Sucht, auch das Schwächlichste, ja Krankhafteste um jeden Preis zu ‚retten‘, womit der Keim zu einer Nachkommenschaft gelegt wird, die immer jämmerlicher werden muss, je länger diese Verhöhnung der Natur und ihres Willens anhält.“12 Hitler bestand also darauf, dass die Naturgesetze, besonders die Evolutionsgesetze, vorteilhaft seien und beachtet werden müssten, damit es nicht zu biologischer Degeneration käme. Denn er sah den Existenzkampf als eine progressive Kraft der Evolution und hielt viele Formen der Humanität für fehlgeleitet. Er kritisierte daher diejenigen, die an seinen Vorstellungen als unmenschlich Anstoß nahmen, indem er ihnen entgegen hielt : „Nein,es gibt nur ein heiligstes Menschenrecht, und dieses Recht ist zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich : dafür zu sorgen, dass das Blut rein erhalten bleibt, um durch die Bewahrung des besten Menschentums die Möglichkeit einer edleren Entwicklung dieser Wesen zu geben.“13 Unmittelbar nach dieser Feststellung legte Hitler dar, dass für die Deutschen die Notwendigkeit bestehe, eine rassistische Form der Eugenik zu betreiben, um diese „edlere Entwicklung“ herbeizuführen. Während des Zweiten Weltkrieges wollten Hitler und andere nationalsozialistische Würdenträger sichergehen, dass die deutschen Soldaten die national11 Ebd., S. 317. 12 Ebd., S. 145. 13 Ebd., S. 444 ( Hervorhebung getilgt ).
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sozialistische Weltanschauung auch richtig verständen, besonders bezüglich der Kriegsanstrengungen. Daher produzierten sie im Jahre 1944 die anonyme Schrift „Wofür kämpfen wir ?“. Die ersten Seiten dieser Schrift enthielten die faksimilierte Kopie eines Briefes, der von Hitler unterschrieben war und deutsche Offiziere anwies, diese Schrift als Mittel zur regelmäßigen Schulung ihrer Truppen in den Kernpunkten der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verwenden.14 Neben „Mein Kampf“ war dies eine der offiziellsten Aussagen zur nationalsozialistischen Weltanschauung, die jemals veröffentlicht wurden. Eine Passage dieser Broschüre beschäftigt sich in direkter Weise mit Ethik, indem sie die Nordische Ethik gegen die Jüdische Ethik stellt. Es wurde behauptet, Nordische Ethik sei durch Idealismus gekennzeichnet und sei eine „Gemeinschaftsethik“, die auf sozialistischen Grundsätzen beruhe. Jüdische Ethik andererseits sei individualistisch und materialistisch. Während die Nordische Ethik selbstlos und an Gehorsam orientiert sei, seien Juden maßlos und enthemmt. Nach dieser Abhandlung kannten Juden keinerlei Gefühle der Treue oder Ehre, welche die höchsten Tugenden der Deutschen seien.15 Obwohl diese Schrift nicht erklärte, wie es zu diesem radikalen Gegensatz zwischen Nordischer und Jüdischer Ethik kam, hatte Hitler dies zu einem frühen Zeitpunkt seiner Karriere in einer Rede mit dem Titel „Warum wir Antisemiten sind“ dargelegt. Dort argumentierte er, die Nordische Rasse habe aufgrund der harten Lebensbedingungen, der sie sich während der Eiszeit ausgesetzt gesehen habe, eine Pflicht entwickelt, für die Gemeinschaft tätig zu sein. Die Juden andererseits wurden stereotypisch als arbeitsscheu gekennzeichnet, da sie sich angeblich besseren Lebensbedingungen gegenüber gesehen hätten, die kein derartiges Ausmaß an Kooperation erfordert hätten. Dieser Unterschied formte ihre anderen Konzeptionen der Moral. Er stellte fest : „Ariertum bedeutet sittliche Auffassung der Arbeit und dadurch das, was wir heute so oft im Munde führen : Sozialismus, Gemeinsinn, Gemeinnutz vor Eigennutz – Judentum bedeutet egoistische Auffassung der Arbeit und dadurch Mammonismus und Materialismus das konkrete Gegenteil von Sozialismus.“16 Hitler erklärte dann, dass diese ethischen Merkmale biologisch bestimmt und ererbt seien. Wenn „Wofür kämpfen wir ?“ auch die evolutionären Ursprünge der Moral nicht erklärte, so unterstütze diese Schrift doch eindeutig den evolutionären Fortschritt als das höchste Gut. Diejenige Passage, welche die offenherzigste Antwort auf die im Titel gestellte Frage bot, machte dies überaus klar: „Wir glauben also an die Aufgabe der Steigerung des Menschen. Ihr dient letzten Endes unser Kampf – und unerbittlich muss er sein gegen alles, was dieser Aufgabe entgegensteht, denn die sinnvolle Erfüllung gerade dieser Aufgabe ist davon abhängig, dass die höchstentwickelte, schöpferischste und befähigste 14
Siehe Wofür kämpfen wir ?, veröffentlicht vom Personal - Amt des Heeres, Berlin 1944, S. IV–VI. 15 Siehe ebd., S. 56–58. 16 Adolf Hitler, „Warum sind wir Antisemiten ?“ (13 August 1920). In : Eberhard Jäckel (Hg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen, 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 190.
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Rasse den entscheidenden Einfluss auf die Lebensordnungen der Völker der Erde behält.“17 Da die Nationalsozialisten glaubten, die Nordische Rasse sei höher wertig, glaubten sie, ihre Förderung auf Kosten anderer Völker werde zu evolutionärem Fortschritt führen und eine Verbesserung der menschlichen Spezies bringen. Dem oben stehenden Zitat folgte ein langer Abschnitt, in dem der zentrale Stellenwert der Rasse in der nationalsozialistischen Weltanschauung dargelegt wurde. Diese Passage betonte die Wichtigkeit des evolutionären Fortschritts für das Rassendenken und die Rassenpolitik der Nationalsozialisten. Dort wurde der Genetiker Stengel von Rutkowski zitiert, der festgestellt hatte, dass „die Naturgesetze, nach denen das All des Stirb und Werde sich verwandelt und entwickelt, göttliche Gesetze sind.“ („Stirb und Werde“ war der Titel eines Buches über die Evolution von Wilhelm Bölsche, der zu den wichtigsten Autoren gehörte, die im frühen 20. Jahrhundert den Darwinismus populär gemacht hatten.) Diese biologischen Gesetze beinhalten die Ungleichheit der Rassen, den nordischen Charakter des deutschen Volkes sowie den Kampf der unterschiedlichen Rassen um Lebensraum. Dann stellte der Autor fest : „Wir werten den Kampf als unumstößliches Lebensgesetz, denn nur im ewigen Kampf, der Voraussetzung aller Auslese, wachsen Persönlichkeiten und harte Völker. Nur im Kampf wird Großes geboren.“18 In diesem Zusammenhang sind Kampf und Auslese eindeutig Kürzel für den Existenzkampf und die natürliche Auslese, eine Wortver wendung, die unter deutschen Biologen und Eugenikern der 1920er und 1930er durchaus üblich war. Da die Nationalsozialisten die Deutschen sowie die mit ihnen ver wandten Völker ( d. h. die Nordische Rasse ) für die biologisch fortgeschrittensten auf der Evolutionsskala hielten, glaubten sie, dass es ihrer Weltanschauung darum gehen müsse, das Wohl des deutschen Volkes zu fördern. Diese Schrift benannte eindeutig das wichtigste Ziel der nationalsozialistischen Weltanschauung : „An erster Stelle steht die Erhaltung und Förderung unseres Volkes und seines Volkstums. Dieser Aufgabe gilt unser Leben und Kämpfen.“19 Wie aus der weiteren Betrachtung her vorgeht, ging es bei diesem Aufstieg nicht nur darum, Deutschland zu einer großen Nation zu machen, sondern dies würde damit einhergehen, dass andere Völker von den Deutschen verdrängt würden ( durch territoriale Expansion ), was dann zu evolutionärer Weiterentwicklung führen würde. Insgesamt stellt die gesamte Schrift eine Rechtfertigung von Hitlers Eroberungskriegen zur Gewinnung von Lebensraum dar. Allerdings war dies nicht der einzige Weg zu evolutionärer Weiterentwicklung. Die Schrift betonte beständig die Pflicht der Deutschen, ihre biologischen Merkmale nicht nur zu bewahren, sondern zu verbessern. Sie stellte fest : „Natio17 Wofür kämpfen wir, S. 67 ( Hervorhebung im Original ). 18 Ebd., S. 68, 71 ( Hervorhebung im Original ). 19 Ebd., S. 69 ( Hervorhebung getilgt ).
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nalsozialismus ist die Lehre von der blutsverbundenen Volksgemeinschaft und dem Dienst für das Volk als oberstem sittlichem Gesetz für jeden deutschen Menschen. Er ist die Lehre von Blut und Ehre.“20 Unter Blut verstanden die Nationalsozialisten ererbte biologische Merkmale, und sie stellten sich diese nicht als statisch vor. Die Broschüre drängte die Deutschen, nicht nur danach zu streben, ihr Blut rein zu erhalten, sondern auch dessen Verbesserung bzw. „Höherentwicklung“ zu fördern.21 Nachdem sie Leitprinzipien dargelegt hatte, die hinter der nationalsozialistischen Weltanschauung standen, erklärte die Schrift die konkreten Schritte, durch die das „ewige Leben unseres Volkes“ gesichert würde. Zu diesen gehörte der Kampf gegen die drei Hauptursachen für den Niedergang eines jeden Volkes : sinkende Geburtenrate, Gegenauslese und Rassenvermischung. Sie unterstützte dann eine reiche Fortpflanzung sowie eugenische Maßnahmen, um die biologische Verbesserung zu erzielen. Ebenso rief sie die deutschen Offiziere dazu auf, ihre Ehepartnerinnen klug zu wählen und dabei die biologische Verbesserung des deutschen Volkes im Blick zu haben.22 In einem späteren Abschnitt zu der Frage „Was hat der Nationalsozialismus dem deutschen Volke gebracht ?“ erklärte sie, dass sich das NS - Regime auf die Verbesserung des deutschen Volkes konzentriere : „Die Rassenfrage wurde zu einer Lebensfrage für das deutsche Volk. Daher ist die Hauptforderung des Nationalsozialismus, das rassische Erbgut des deutschen Volkes nicht nur zu erhalten, sondern aufzuwerten.“23 Die Schrift erklärte, dass die Rassengesetze, die Eugenikgesetzgebung sowie die Gesetze gegen den Rückgang der Bevölkerungszahl Maßnahmen gewesen seien, welche das NS - Regime bereits umgesetzt habe, um dieses Ziel zu erreichen. Die Wichtigkeit der biologischen Verbesserung wurde einige Seiten später erneut unterstrichen : „Unser Rassengedanke ist nur ‚Ausdruck einer Weltanschauung‘, die in der Höherentwicklung des Menschen ein göttliches Gebot erkennt.“24 Diese letztere Feststellung bringt die Evolutionsethik, von der etliche Passagen dieser Schrift durchdrungen sind, eindeutig zum Ausdruck. Die SS war ebenso darum bemüht, die Evolutionsethik als Bestandteil der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verbreiten. Dem entsprechend veröffentlichte sie einige Zeit nach dem Mai 1942 den Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei, der in vierunddreißig Lehrgänge unterteilt war. Die ersten vier beschäftigten sich mit der Geschichte und Organisation der SS, die nächsten zwölf lehrten die Geschichte Europas und Deutschlands, und die folgenden zehn konzentrierten sich auf Hitlers Leben und Bedeutung. Die abschließende Sektion, die aus acht Lehrgängen bestand, handelte von den „Biologischen Grundlagen unserer Weltanschauung“, welche, wie der Titel besagt, 20 21 22 23 24
Ebd., S. 76 ( Hervorhebung getilgt ). Siehe ebd., S. 70, 72. Siehe ebd., S. 84–87. Ebd., S. 105 ( Hervorhebung getilgt ). Ebd., S. 110.
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die Kernpunkte der nationalsozialistischen Weltanschauung enthielten. Die zentrale Botschaft dieser abschließenden Sektion war, dass die Menschen denselben biologischen Gesetzen unterlägen, welche für die restliche Natur gälten. Dann konzentrierte sie sich auf diejenigen biologischen Gesetze, die für die NSIdeologie die wichtigsten waren : Rasse, Evolution, Vererbung, Fortpflanzung und Eugenik. Ein ganzer Lehrgang war der Aufgabe gewidmet, wissenschaftliche Beweise für die biologische Evolution und für evolutionäre Konzeptionen zu liefern, wie zum Beispiel den Existenzkampf und die natürliche Auslese, und war mit weiteren Abschnitten über Vererbung und Fortpflanzung verwoben.25 Die biologische Verbesserung bzw. der Prozess der Evolution spielten eine Schlüsselrolle für die Definition moralischer Pflicht in diesem SS - Handbuch. Tatsächlich bestimmte die Evolution die Rolle eines jeden Menschen im Leben: „Die Entwicklungslehre, d. h. die Erkenntnis des Zusammenhanges alles Lebendigen, stellt darüber hinaus den Menschen in das Gesamtgeschehen der Natur und bestimmt unsererseits wiederum die Einstellung und das Verhalten zur lebenden Welt.“26 Zu diesen Einstellungen und Verhaltensweisen gehörten die Vermeidung der Rassenvermischung, die Verhinderung der Fortpflanzung von Menschen mit Erbproblemen sowie die sorgfältige Auswahl des Ehepartners. Die Befolgung dieser und weiterer moralischer Imperative würde nach den Aussagen dieser Broschüre zur biologischen Verbesserung der Menschheit beitragen. Entsprechend dieser Schrift besteht ein weiterer wichtiger Beitrag der Evolutionstheorie zum Verständnis der eigenen Rolle im Leben darin, die Wichtigkeit des Existenzkampfes für die Herbeiführung des evolutionären Fortschritts zu enthüllen. Dieses Curriculum behauptete, die höheren menschlichen Rassen seien durch harten, rücksichtslosen Kampf aufgestiegen, der aus den harten Bedingungen der Eiszeit in Europa entstanden sei. „Das Grundgesetz des ewigen Kampfes, dem alles Schwache und Minderwertige unterliegen muss, findet dadurch seine hohe Wertung.“27 Damit nicht genug, müsse man ebenso immer bedenken, „dass die Natur den Kampf um das Wertvolle fordert“.28 Unglücklicherweise hat sich die moderne Kultur vom natürlichen Kampf um die Existenz mit seinen wohltuenden Auswirkungen abgewandt. Der / die Autor( en ) versicherte( n ) : „Jedes Natur volk merzt in richtiger Erkenntnis das Minder wertige aus. Bei den sogenannten ‚Kultur völkern‘ hat eine falsche Nächstenliebe, vor allem von kirchlichen Kreisen in die breite Masse getragen, eine Gegenauslese geradezu gefördert.“29
25 Siehe SS - Hauptamt, Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei, Berlin o. J. 26 Ebd., S. 78. 27 Ebd., S. 84. 28 Ebd., S. 88. 29 Ebd., S. 85.
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Die Schrift sprach sich dafür aus, das kirchliche Gebot der Nächstenliebe durch den Imperativ zu ersetzen, Kinder höchstmöglicher Qualität und in größtmöglicher Quantität zu produzieren, damit Rasse und Spezies sich biologisch weiterentwickeln könnten.30 Die anonym verfasste SS - Broschüre „Rassenpolitk“ ( veröffentlicht nach dem August 1942) vermittelte etliche derselben Punkte. Sie war als Ausbildungshandbuch für SS - Männer und Polizisten gedacht, weshalb eine Tabelle am Ende des Buches das Material in elf Lehrgänge unterteilt. Es lehrte, dass die drei wichtigsten Rassengruppen – Europäer, Mongolide und Neger – sich vor etwa 100 000 Jahren getrennt hätten. Die Schrift betonte die Rolle des „Existenzkampfes“ und der „natürlichen Auslese“ für die Evolution der Rassen, wobei „Auslese und Eliminierung“ zu rassischen Ungleichheiten führten. Der Kampf um die Existenz wurde als eine positive Kraft dargestellt, die zu biologischer Verbesserung führe, denn : „Im Kampf ums Dasein siegt das Starke und Tüchtige.“ Sie erwähnte ebenfalls, dass jede Rasse in ihrem Kampf um die Existenz mit drei Hauptgefahren konfrontiert sei : Geburtenrückgang, Gegenauslese und Rassenvermischung.31 Drei der elf Lehrgänge ( der fünfte, sechste und siebente) beschäftigen sich mit diesen drei Gefahren für die Rasse. Die abschließenden zwei Lehrgänge beschäftigen sich mit einem Kapitel unter dem Titel „Die rassenpolitische Aufgabe der SS“. Wenn auch frühere Teile der Schrift die Evolution der Rassen eindeutig im Sinne der natürlichen Auslese besprachen, implizierten sie doch häufig, dass der Evolutionsprozess das hauptsächliche Ziel der Rassenpolitik darstelle. Dieses abschließende Kapitel wiederum befür wortet in starker und offener Weise den Evolutionsprozess als das wichtigste moralische Ziel der SS. Die Eingangssektion dieses Kapitels enthält den Abdruck von fünf SS - Statuten, von denen vier Maßnahmen zur biologischen Verbesserung des deutschen Volkes darstellten. Sie ermutigten die SS Männer dazu, sich so weit wie nur möglich fortzupflanzen, doch nur mit Frauen, die sie für erblich geeignet hielten. Der nächste Abschnitt des Kapitels handelte vom „Sinn des Lebens“ und begann mit der Ermahnung : „ Sich zu erhalten und zu mehren ist der tiefste Sinn des Lebens. [...] Die Erhaltung und Mehrung des Lebens aber schließt mit ein den Drang nach Steigerung, Höherentwicklung und Vollkommenheit, der allem Lebendigen innewohnt.“32 Wie diese Feststellung sowie die anschließende Darlegung klarmachen, handelt es sich bei diesem Trieb zur Erreichung einer höheren Stufe der Evolution um einen moralischen Imperativ, dem man gehorchen sollte. Der Autor implizierte, dass dieser Trieb in lebenden Organismen möglicher weise göttlichen Ursprungs sei, bestand aber weiterhin darauf, dass sich der Evolutionsprozess
30 Siehe ebd., S. 84–85. 31 Siehe SS - Hauptamt, Rassenpolitik, Berlin o. J., S. 15–16, 25, 27–28, 40. 32 Ebd., S. 61.
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über Millionen von Jahren erstrecke und durch Kampf und Auslese voranschreite : „Die Erhaltung und Mehrung, die Entwicklung und Steigerung des Lebens vollzieht sich im Kampfe ums Dasein, dem jede Pflanze jedes Tier, jede Art und jede Gattung unterworfen ist. In diesem Kampfe werden sie gewogen, ausgelesen oder ausgemerzt. Auch die Menschen und die Menschenrassen sind diesem Kampf unterworfen, er entscheidet über ihren Wert und ihre Daseinsberechtigung.“33 Der Rassenpolitik der SS ging es nicht nur um die Förderung der Interessen der Nordischen Völker, so wichtig diese auch für ihre Vorstellungen waren. Die abschließende Sektion der Broschüre betonte die Notwendigkeit einer bewussten Auslese innerhalb der Nordischen Rasse zur Förderung der biologischen Verbesserung. Dies würde die Nordischen Völker mit dem Evolutionsprozess der Natur in Übereinstimmung bringen. „Denn die Höherentwicklung einer Rasse und eines Volkes kann, wie in der ganzen Natur, immer nur von einzelnen ausgehen, die als die Besten und Leistungsfähigsten sich erhalten und im Laufe der Generationen sich anteilmäßig vermehren und immer wieder eine Auslese der Besten aus sich heraus stellen.“34 Dann schlug sie einige Maßnahmen vor, mit deren Hilfe der Evolutionsprozess voranzubringen sei : „Auslese nordisch - bestimmter Männer, Gattenwahl nach rassischen Gesichtspunkten, Heiratspflicht und Kinderreichtum sind die biologischen Grundlagen, auf denen der Orden der SS aufbaut und wodurch er die Höherentwicklung unseres Volkes einleitet und für die Zukunft sichert.“35 Eine der wichtigsten Stimmen der Verbreitung von Rassen - und Eugenik - Propaganda im Dritten Reich war das NSDAP - Mitglied Martin Staemmler, den das Erziehungsministerium im Jahre 1935 zum Professor für Pathologie an der Universität Kiel sowie später im selben Jahr an der Universität Breslau ernannte. Staemmler ist heutzutage nicht mehr allzu bekannt, doch zog er aufgrund seiner Unterstützung des Nordischen Rassismus und der entsprechenden Eugenik recht schnell die Aufmerksamkeit nationalsozialistischer Würdenträger auf sich. Im Jahre 1933 wurde er herangezogen, um in dreitägigen Ausbildungskursen in Dresden Genetik und Eugenik zu lehren. Im ersten Jahr besuchten mehr als 5 000 Ärzte diese Kurse.36 Staemmler veröffentlichte in Deutschland während des Dritten Reiches auch etliche offiziell gutgeheißene Bücher und Schriften zur Eugenik und zum Rassendenken. Staemmler beendete die Arbeit am Manuskript seiner Arbeit „Rassenpflege im völkischen Staat“ einige Monate vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Es verkaufte sich gut im Dritten Reich; eine Auf lage aus dem Jahre 1937 gab an, dass in den ersten vier bis fünf Jahren 59 000 Exem-
33 34 35 36
Ebd. Ebd., S. 63. Ebd., S. 68. Siehe Ernst Wegner, Rassenhygiene für Jedermann, Dresden 1934 ( mit drei Vorträgen von Staemmler ).
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plare verkauft worden seien, und einige Zeit später waren 81 000 Exemplare im Druck. Dieses Werk trug in vielerlei Hinsicht den Stempel des offiziellen Nationalsozialismus. Auf der ersten Seite nach dem Titelblatt enthielt es die offizielle Feststellung, dass die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums keine Einwände gehabt habe. Darüber hinaus wurde das Buch im Jahre 1935 in leicht veränderter Fassung vom Rassenpolitischen Amt der Nazi - Partei neu veröffentlicht, wodurch seine offizielle Sanktionierung noch erhöht wurde.37 Auch nahm das Erziehungsministerium es im Jahre 1937 in die Liste derjenigen Bücher auf, die zur Ver wendung an Schulen zugelassen waren.38 Im Jahre 1941 schließlich veröffentlichte das deutsche Militär das Buch ein weiteres Mal unter dem geänderten Titel „Deutsche Rassenpflege“, zur Instruktion der deutschen Truppen bezüglich Rasse und Eugenik.39 Staemmlers Buch aus dem Jahre 1939, „Erbstrom des Volkes“, wurde im Rahmen der „Nationalsozialistische[ n ] Schulungsschriften“ vom offiziellen Verlag der Nationalsozialisten herausgegeben. Staemmler veröffentlichte noch weitere Werke über Rassismus und Eugenik, die sich an ein nationalsozialistisches Publikum wandten. Eines davon wurde von der Hitlerjugend ein weiteres Mal herausgegeben. Staemmler illustriert in perfekter Weise die Begeisterung der Nationalsozialisten für die Evolutionsethik. In mehreren seiner Werke, darunter „Rassenpflege im völkischen Staat“, „Die Auslese im Erbstrom des Volkes“ sowie „Rassenpflege und Schule“, verwandte er viel Mühe auf die Darlegung der biologischen Evolution und ihrer Bedeutung für die Rassen - und Eugenikideologie. Ein ganzes Kapitel in „Rassenpflege im völkischen Staat“ widmete er dem „Evolutionsgesetz der lebenden Organismen“, wo er Lamarcks Theorie zu Gunsten der von Darwin zurückwies. Er stellte sogar die Behauptung auf, Darwin sei eventuell der größte Wissenschaftler aller Zeiten gewesen. Weiterhin machte er deutlich, dass auch der Mensch in den Evolutionsprozess eingebunden sei.40 Das erste Kapitel, „Volk in Not !“, gibt den Tonfall des restlichen Buches vor. Dort erklärte er, dass die Gefahren, die Deutschland drohten, aus der „Nichtbeachtung der Naturgesetze“ resultierten. Dann listete er die wichtigsten Naturgesetze auf, welche die Deutschen nicht ausreichend beachteten : „Das Gesetz des Kampfes ums Dasein, der Fruchtbarkeit, der Auslese, der Vererbung und andere. Diese heiligsten aller Gesetze, heiliger als die der Religionen, der Völker und Völkerbünde, heiliger als alle Gesetze der Wissenschaft, heiliger als Gesetze der Technik und Wirtschaft, diese heiligsten Gesetze, die glaubt man, 37 Siehe Martin Staemmler, Rassenpflege im völkischen Staat, München 1937. 38 Siehe „Verzeichnis der Lehrmittel über Erbkunde, Erbpflege, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik“. In : Deutsche Wissenschaft Erziehung und Volksbildung : Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder, Band 3 (1937), S. 247. 39 Siehe Martin Staemmler, Deutsche Rassenpflege, Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht Abteilung Inland, o. O. 1941, S. 3. 40 Siehe Staemmler, Rassenpflege im völkischen Staat, S. 17–22.
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übersehen, beiseiteschieben zu können, weil man nur nach einem Gesetz lebt, dem des ödesten Materialismus.“41 Die vier Gesetze, welche Staemmler als die heiligsten aller Gesetze bezeichnete, stehen in direkter Verbindung mit der Evolutionsbiologie. Entsprechend erklärte er Prinzipien der Evolution zu den höchsten Werten, die das menschliche Verhalten leiten sollten. Dies wird nicht nur in der soeben zitierten Passage deutlich, sondern zieht sich durch das gesamte Buch. Indem sie diese Prinzipien der Evolution ignoriert hätten, hätten die Deutschen ihre Existenz aufs Spiel gesetzt, denn die Natur stelle sich „mitleidslos und unerbittlich“ gegen den, „der sich gegen sie versündigt“.42 Die ver wendete religiöse Sprache – heilig, Sünde etc. – macht deutlich, dass Staemmler die Evolutionsgesetze als Richtschnur für jede Moral ansieht, und sie impliziert, dass er die religiös bestimmte Ethik durch eine aus den Evolutionsgesetzen abgeleitete Ethik ersetzen möchte. Staemmler behauptete ebenso, dass die Gesetze der Evolution die nationalsozialistische Redensart „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ unterstützten. Dies sei, argumentierte er, weil „das grundlegende Gesetz der Natur der Kampf“ sei und nur die „Besten“ diesen Wettbewerb überleben würden. Er fuhr fort : „Dieses Beste [ welches im Kampf ums Dasein ausgelesen wird ] dient der Erhaltung der Art, der Rasse. Die Erhaltung, die Kräftigung, die Weiterentwicklung der Rasse und Art, das ist das eigentliche Ziel der Natur. Das ist das, was auch wir von der Natur lernen müssen : nicht auf den einzelnen kommt es an; der ist der Natur vollständig gleichgültig. Das Ziel, dem rücksichtslos, ohne Mitleid, ohne Scheu vor Opfern zugeschritten wird, ist die Erhaltung der Art, der Rasse, des Volkes. Da sehen wir in der Natur den alten germanischen Grundsatz, den der Nationalsozialismus wieder erneut aufgenommen hat: Gemeinnutz vor Eigennutz. Der einzelne ist nichts; das Volk, die Rasse ist alles.“43
Da eine große Zahl an Individuen im Existenzkampf auf der Strecke bleibt und daher von geringer Wichtigkeit für die Natur zu sein scheint, war Staemmler der Ansicht, dass wir als Menschen das Individuum nicht allzu hoch einschätzen sollten. Weiterhin rechtfertigte Staemmler die antidemokratische und anti - humanitäre Haltung des NS - Regimes, indem er sich auf die Evolutionsgesetze der Natur berief. Er argumentierte, dass die moderne Moral sich im Irrtum befinde, wenn sie den Schwachen schütze. Die Natur lehre uns etwas anderes, glaubte er : „Die Aufgaben der Rassenpflege sind Erhöhung der Fruchtbarkeit und Auslese. Auslese heißt Förderung der Hochwertigen und Zurückhaltung der Minderwertigen. Will man das treiben, so muss man vor allem eins bedenken : Es gibt kein gleiches Recht für alle. Der Hochwertige hat das Recht, gefördert zu werden, der Minderwertige hat es nicht. Die Natur ist nicht demokratisch, sondern aristokratisch, sie erzeugt Masse, aber züchtet dann auf Güte. Wer Rassenpflege treiben will, muss sich nach den Gesetzen der Natur richten. Er muss also auch hart sein wie sie.“44
41 42 43 44
Ebd., S. 5 ( Hervorhebung im Original ). Siehe ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 42 f.
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Dies ist eine der eindeutigsten Aussagen, aus denen hervorgeht, wie in der Ideologie des Nationalsozialismus die Evolutionsethik demokratische Normen, humanitäre Erwägungen und Gleichberechtigung übertrumpfte. Die Natur ist hart gegenüber dem Minder wertigen; wir sollten es ebenso sein. Die Natur erwählt die Besten und entledigt sich der Minderwertigen; wir sollten die Gleichberechtigung ebenso wenig übernehmen. So Staemmlers Schlussfolgerung, die in der Rassen - und Eugenikideologie der Nationalsozialisten Allgemeingut war. Zusätzlich zu seiner Unterstützung der Anwendung der Eugenik auf die Deutschen – zur Weiterentwicklung der Nordischen Rasse – argumentierte Staemmler, dass die Deutschen ihren Lebensraum erweitern müssten. Staemmler schrieb dies lange bevor Hitler seinen Expansionskrieg zum Zwecke der Gewinnung von Lebensraum begann, zu einer Zeit, als Hitler noch öffentlich verkündete, er sei ein Mann des Friedens ( um seine Gegner in falsche Sicherheit zu wiegen ). Wie Hitler, so glaubte auch er, dass der Kampf um Lebensraum einen wichtigen Bestandteil des Existenzkampfes darstelle. Tatsächlich glaubte er, dass „alle Weltgeschichte ein Kampf der Völker um Lebensraum“ sei. An anderer Stelle bezeichnete er das Recht auf mehr Land als ein heiliges Recht. Er hielt einen Krieg dann für vollauf gerechtfertigt, wenn dieser zur Gewinnung eines erweiterten Lebensraums für eine ethnische oder Rassengruppe geführt werde.45 Dem entsprechend unterstütze Staemmler in vollständiger Übereinstimmung mit den Ideologen des Nationalsozialismus die offensive Kriegführung; seine Moral diente nicht nur der Verteidigung gegen die Feinde Deutschlands. Die Vorstellung, dass die Beurteilung sämtlicher Handlungen als moralisch oder unmoralisch davon abhänge, ob sie dazu beitrugen, den Evolutionsprozess voranzutreiben oder nicht, war ein beständiges Thema der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda. Wie ich gezeigt habe, wurde sie häufig explizit geäußert. Doch auch wenn sie nicht explizit zum Ausdruck gebracht wurde, war sie doch häufig implizit in der NS - Propaganda zur Förderung der Eugenik und der Rassenpolitik enthalten. Wenn sie auch eine zentrales Konzept darstellte, erklärt die Evolutionsethik selbstverständlich nicht die gesamte NS - Ideologie. Sie erklärt nicht, warum man bestimmte Rassen wie die Juden als minderwertig oder sogar als Bedrohung empfand. Sie liefert allerdings eine Erklärung für die harte Behandlung und sogar den Mord an denjenigen die – aus welchen Gründen auch immer – als minderwertig bezeichnet wurden. Die Nationalsozialisten glaubten, dass die Naturgesetze, besonders die natürliche Auslese im Existenzkampf, eine moralische Rechtfertigung für ihre Politik der Sterilisierung, Ermordung von Behinderten, des aggressiven Expansionismus und selbst des Völkermordes lieferten.
45 Siehe ebd., S. 32.
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IV. Nationalsozialistische Ethik: Der medizinische Diskurs
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Den „Volkskörper“ im Blick. Medizin und Moral im Nationalsozialismus Florian Bruns
I.
Einleitung
„Medizin ohne Menschlichkeit“ – mit diesem Titel überschrieben Alexander Mitscherlich und Fred Mielke ihre 1960 im Buchhandel erschienene Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses. Die Herausgeber brachten damit die unsagbaren Verbrechen, die deutsche Ärzte in der Zeit des Nationalsozialismus begangen hatten und die im Laufe der Verhandlung ans Licht kamen, auf eine prägnante Formel, welche bis heute für das dunkelste Kapitel der Medizin in Deutschland steht. Nachdem eine frühere Ausgabe der Dokumentation auf wenig Resonanz gestoßen und zudem von den westdeutschen Ärztekammern in ihrer Verbreitung behindert worden war, entfaltete die 1960 im Frankfurter Fischer Verlag erschienene Neuauf lage eine breite Wirkung und zählt bis heute zu den einschlägigen Büchern über die Medizin im Nationalsozialismus.1 Die in Nürnberg verhandelten Taten, darunter in erster Linie die tödlichen Menschenversuche in Konzentrationslagern sowie die als „Euthanasie“ bezeichnete Mordaktion an psychisch Kranken und Behinderten, fordern bis heute zu der Frage heraus, wie es zu diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommen konnte. Warum verstießen Ärzte – berufsmäßig gegenüber ihren Mitmenschen der besonderen Zuwendung und Fürsorge verpflichtet – derart eklatant gegen elementare Gebote der Humanität und ärztlichen Ethik ? Weshalb fühlten sich die meisten Täter nach dem Krieg nicht nur frei von Schuld, sondern sogar moralisch im Recht ? Waren sie allesamt sadistisch veranlagt und verfügten über anormale Persönlichkeitsstrukturen, die sie zu den Verbrechen prädisponiert hatten ?
1
Vgl. Alexander Mitscherlich / Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a. M. 1960. Das Buch liegt mittlerweile in der 17. Auf lage vor. Alexander Mitscherlich und Fred Mielke verfolgten die Verhandlungen als Prozessbeobachter; ihre erste Dokumentation der medizinischen Verbrechen erschien, kaum beachtet, 1947 unter dem Titel „Das Diktat der Menschenverachtung“. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Jürgen Peter, Der Nürnberger Ärzteprozeß im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Münster 1994.
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Auch wenn es diese Kategorie der Täter gegeben haben mag, eine hinreichende Erklärung für das Geschehene bietet dieser psychopathologisch argumentierende Ansatz nicht – weder für Ärzte noch für andere Tätergruppen.2 Der seitens der standespolitischen Eliten in der Nachkriegszeit dennoch häufig unternommene Versuch, die Untaten der nationalsozialistischen Medizin lediglich als Werk einiger abnorm veranlagter Ärzte erscheinen zu lassen, diente dem Schutz des professionellen Selbstbildes der Ärzteschaft. Lange Zeit unterbanden Standesvertreter die Suche nach den tiefer liegenden Motiven des ärztlichen Handelns im „Dritten Reich“; solche Nachforschungen hätten verstörende Ergebnisse zutage fördern, Kollegen schwer belasten und das Ansehen des ärztlichen Standes insgesamt beschädigen können. Das Konstrukt einer in ihrem ethischen Kern unversehrt gebliebenen Medizin verkannte jedoch – bewusst oder unbewusst – die wirkmächtigen Moralkonzepte, auf deren Grundlage die inhumane Medizin des Nationalsozialismus überhaupt erst möglich war.3 Die Formulierung und Verbreitung dieser nationalsozialistisch geprägten Wertvorstellungen in der Medizin steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. In Ergänzung und Differenzierung bestehender Erklärungsmuster für das ärztliche Handeln im Nationalsozialismus wird im Folgenden die These vertreten, dass die damaligen ärztlichen Täter auf dem Boden rassenbiologisch und völkisch begründeter Überzeugungen handelten, deren konsequente Befolgung als moralisch richtig galt. Die Tatsache, dass Mediziner in jener Zeit sehr häufig und relativ ungezwungen Dinge taten, die wir heute fraglos als unmoralisch 2
3
Bereits frühe Untersuchungen der in den Nürnberger Prozessen Angeklagten, wie die des Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert, wiesen eher auf die „Normalität“ der Mehrzahl der Angeklagten hin. Vgl. Gustave M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch. Gespräche mit den Angeklagten, Frankfurt a. M. 1962. Spätere Studien haben diesen Befund bestätigt. Vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964; Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve - Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993, sowie in jüngster Zeit Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005, S. 7–12, dort auch weitere Literatur. Zu Moral und Medizin im Nationalsozialismus vgl. Florian Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Protagonisten in Berlin, Stuttgart 2009; Robert N. Proctor, Nazi Science and Medical Ethics : Some Myths and Misconceptions. In : Perspectives in Biology and Medicine, 43 (2000) 3, S. 335–346; Ulf Schmidt, Medical Ethics and Nazism. In : Robert B. Baker / Laurence B. McCullough ( Hg.), The Cambridge World History of Medical Ethics, Cambridge 2009, S. 595–608, sowie die – in ihrer Aktualität allerdings heterogenen – Beiträge in Sheldon Rubenfeld ( Hg.), Medicine after the Holocaust. From the Master Race to the Human Genome and beyond, New York 2010. Die wiederkehrende Berichterstattung über die „unerträgliche Schuld der Ärzte“ ( Nina von Hardenberg, Die unerträgliche Schuld der Ärzte. In : Süddeutsche Zeitung vom 24. 3. 2011, S. 5) ist Indiz für die Bedeutung des Themas in aktuellen historischen und medizinethischen Diskursen. Den gegenwärtigen Forschungsstand zur Medizin im Nationalsozialismus umreißt Robert Jütte, Medizin im Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. Zu allgemeinen Aspekten der Aufarbeitung dieser Epoche siehe Peter Reichel / Harald Schmid / Peter Steinbach, Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009.
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bezeichnen würden, darf nicht dazu verleiten, den Begriff der nationalsozialistischen Ethik als contradictio in adiecto beiseite zu schieben. Dies würde den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die Ideologie des Nationalsozialismus sehr wohl wertsetzend war. Aus ihr ging deutlich hervor, was etwa Ärzte tun sollten, wenn sie ideologiekonform und zugleich moralisch richtig handeln wollten. Die nationalsozialistische Ethik orientierte sich an Werten, die in unserer heutigen Gesellschaft nicht konsensfähig, aber auch nicht völlig unbekannt sind und die potenziell gefährlich bleiben.4 Zunächst soll die zeitgenössische Diskussion über moralische Fragen in der Medizin in den Jahren zwischen der Machtübertragung an Hitler und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges beleuchtet werden. In dieser Periode fanden mit dem Gesetz zur Zwangssterilisierung und dem Beginn der Mordaktion an psychisch Kranken und Behinderten Zäsuren statt, die eine Grundlage für die Radikalisierung der staatlichen Moralpraxis in den Kriegsjahren darstellten. Der darauf folgende Abschnitt beschäftigt sich mit zwei akademischen Disziplinen, die maßgeblich an der Formulierung und Vermittlung nationalsozialistischer Medizinethik5 beteiligt waren : das Fach Medizingeschichte unternahm den Versuch einer historischen Legitimierung der neuen ärztlichen Moral, die „Ärztliche Rechts - und Standeskunde“ diente der Vermittlung dieser Werte an Ärzte und Studierende. Für beide Disziplinen stellt sich die Frage, ob und wie sie die diesbezüglichen Erwartungen des Regimes erfüllten. Abschließend werden übergreifende Aspekte von Medizin, Moral und Krieg diskutiert.
4
5
Allgemein zu Ethik und Moral im Nationalsozialismus vgl. früh Peter J. Haas, Morality after Auschwitz. The Radical Challenge of the Nazi Ethic, Philadelphia 1988. Jüngeren Datums sind Raphael Gross / Werner Konitzer, Geschichte und Ethik. Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral. In : Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 4 (1999) 4, S. 44–67; Richard Weikart, From Dar win to Hitler. Evolutionary Ethics, Eugenics, and Racism in Germany, New York 2004; ders., Hitler’s Ethic. The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress, New York 2009; Welzer, Täter; Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2005; ders., Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung, Reinbek bei Hamburg 2008; Werner Konitzer / Raphael Gross, Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, sowie zuletzt Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a. M. 2010. Medizinethik ( in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Begriff „ärztliche Ethik“ gebräuchlich ) wird in diesem Zusammenhang nicht allein als philosophische Disziplin im Sinne einer Theorie der Moral verstanden, sondern auch als übergeordneter Begriff für die Wertvorstellungen und das moralisch begründete Handeln innerhalb der Medizin, des Ärztestandes und des Arzt - Patient - Verhältnisses. Zur heutigen Definition von Medizinethik als Bereichsethik der angewandten Ethik vgl. Bettina Schöne - Seifert, Medizinethik. In : Julian Nida - Rümelin ( Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, 2. Auflage Stuttgart 2005, S. 690– 802, sowie Urban Wiesing / Georg Markmann, Medizinethik. In : Marcus Düwell / Christoph Hübenthal / Micha H. Werner ( Hg.), Handbuch Ethik, 2. Auflage Stuttgart 2006, S. 274–279.
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II.
Florian Bruns
Der moralische Umbruch in der Medizin vor und nach 1933
Bei der historischen Einordnung der 1933 erfolgten Machtübertragung an Hitler lässt sich nicht nur im Hinblick auf die Medizingeschichte zweierlei erkennen : auf der einen Seite die Existenz und Fortführung unübersehbarer Kontinuitäten in Denkhaltungen und moralischen Überzeugungen, auf der anderen Seite deutliche Brüche und Neuanfänge, insbesondere was die praktische Umsetzung des zuvor nur Gedachten betrifft. Die historische Forschung zur Medizin im Nationalsozialismus hat beiden Phänomenen nachzugehen. Im Rückblick gehören eugenische und sozialhygienische Konzepte ebenso wie die Diskussion über sogenanntes „lebensunwertes Leben“ zweifellos zu den Kontinuitätslinien, die sich von der Jahrhundertwende bis in die Zeit nach 1933 erstrecken.6 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg betrieben völkisch - nationale Ärzte und Rassenhygieniker verstärkt die Biologisierung von Medizin und Gesellschaft im Sinne des – später so bezeichneten – Sozialdarwinismus. Diese Entwicklung ging einher mit der Schwächung der humanistischen, am Individuum orientierten Ethik.7 Von Degenerationsangst getriebene Wissenschaftler propagierten stattdessen eine völkische Ethik, die sich über medizinische und rassische Ein - und Ausschlusskriterien definierte. Da sie auf eine angeblich natürliche Selektion innerhalb der Gesellschaft abzielte und auf das vermeintliche, übergeordnete Wohl des Volkes sowie künftiger Generationen ausgerichtet war, ist sie als eine generative Ethik bezeichnet worden.8 Der verlorene Erste Weltkrieg, welcher angesichts der hohen Verluste an jungen Männern aus biologistischer Perspektive als schädliche „Gegenauslese“ wahrgenommen wurde, schürte die in völkischen Kreisen latent vorhandene Untergangsangst. Das von manchen Biologen, Ärzten und Genetikern vertretene Weltbild, wonach das Überleben des Volkes durch die kostspielige Sorge für die Schwächeren und Kranken bedroht sei, gewann immer mehr Anhänger. Fritz Lenz, später Inhaber der ersten Professur für Rassenhygiene in Deutschland und Mitautor eines einflussreichen Standardwerks zur Vererbungslehre, konstatierte in diesem 6
7
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Vgl. aus der Fülle an Literatur Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, sowie jüngst Lynn K. Nyhart, Modern Nature. The Rise of the Biological Perspective in Germany, Chicago 2009. Vgl. Jürgen Sandmann, Der Bruch mit der humanitären Tradition. Die Biologisierung der Ethik bei Ernst Haeckel und anderen Darwinisten seiner Zeit, Stuttgart 1990. CayRüdiger Prüll, Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Medizin im Nationalsozialismus. In : Gerd Krumeich ( Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 363–378. Zur erhöhten ärztlichen Gewaltbereitschaft gegenüber Patienten im Umfeld des Ersten Weltkriegs vgl. Heinz - Peter Schmiedebach, Medizinethik und „Rationalisierung“ im Umfeld des Ersten Weltkriegs. In : Andreas Frewer / Josef N. Neumann ( Hg.), Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1900–1950, Frankfurt a. M. 2001, S. 57–84. Zeitgenössisch hierzu Wilhelm Schallmayer, Generative Ethik. In : Archiv für Rassen und Gesellschaftsbiologie, 6 (1909), S. 199–231. Vgl. auch Weikart, From Darwin to Hitler.
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Zusammenhang bereits 1917 : „Die Persönlichkeit aber kann nicht das letzte Ziel der Ethik sein. [...] Das Volk als Organismus ist unser ethisches Ziel.“9 In den Krisenjahren der Weimarer Republik forderten namhafte Psychiater wie Alfred Hoche oder Ernst Rüdin zusammen mit ähnlich denkenden Ärzten und Juristen unverblümt, den einzelnen Menschen nach Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu beurteilen und ihm abhängig davon ein abgestuftes Lebensrecht zuzuweisen. Die Diskussion über den Wert des menschlichen Lebens aus medizinischer und ökonomischer Sicht war eröffnet. Sie gipfelte bereits Anfang der 1920er Jahre in Vorschlägen, „Selektionsärzte“ tätig werden zu lassen und unheilbar Geisteskranke zu töten.10 Zu dieser Zeit waren solche Bestrebungen allerdings weder in der Ärzteschaft noch innerhalb der politischen Ordnung der Weimarer Republik mehrheitsfähig.11 An diesen kurzen Schlaglichtern wird deutlich, dass die allmähliche Verschiebung der Normen und Werte in der Gesundheits - und Sozialpolitik bereits lange vor 1933 begonnen hatte. Auf der anderen Seite darf nicht unterschätzt werden, welch tiefen Einschnitt der Beginn der nationalsozialistischen Diktatur für die Medizinethik bedeutete. Erst jetzt, nach der Machtübertragung an Hitler, war der Bedingungsrahmen vorhanden, in dem das nationalsozialistische Moralverständnis Eingang in Politik und Gesetzgebung finden konnte. Umso nachdrücklicher verfolgten die neuen Machthaber den Bruch mit der verhassten „Weimarer Mitleidsmoral“ jüdisch - christlichen Ursprungs. Der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund ( NSDÄB ), ein ideologischer Kampfverband der in der NSDAP organisierten Ärzte, setzte sich mit seiner programmatischen Forderung nach einer neuen ärztlichen Ethik an die Spitze dieser Bewegung : „Wir haben vom ersten Tage an darauf hingewiesen, dass die große weltanschauliche Umstellung unserer Tage, die zu einem wesentlichen Teil die Überwindung des Individuums durch das Erlebnis ‚Volk‘ ist, auch Moral und Ethik des ärztlichen Berufes entscheidend beeinflussen muss.“12
9 Fritz Lenz, Zur Erneuerung der Ethik. In : Deutschlands Erneuerung, 1 (1917), S. 35– 56, hier 37. 1933 publizierte Lenz den Aufsatz unter dem Titel „Die Rasse als Wertprinzip“ erneut. Wesentliche Änderungen brauchte er nicht vorzunehmen, alle Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung seien in dem Text bereits enthalten, so Lenz im Vorwort. 10 Ernst Mann, Die Erlösung der Menschheit vom Elend, Weimar 1922, S. 96. Vgl. auch Karl Binding / Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Übergreifend Michael Schwartz, „Euthanasie“ Debatten in Deutschland (1895–1945). In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998) 4, S. 617–665. 11 Beispielhaft hierfür die breite Ablehnung des Antrags zur gesetzlichen Freigabe der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durch den Deutschen Ärztetag 1921 in Karlsruhe, vgl. Hans - Walther Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945, Göttingen 1987, S. 122. 12 Anonymus, Zur Berufsethik des Arztes. In : Ziel und Weg. Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, 3 (1933), S. 157–159, hier 157.
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Unmissverständlich erfolgte in der Verbandszeitschrift „Ziel und Weg“ die Abgrenzung gegenüber herkömmlichen Moralvorstellungen : „Gerade die christliche Caritas hat [...] aus ihrer allein auf das Individuum gerichteten Blickrichtung heraus zur Außerachtlassung der großen völkischen Gesetze im Leben der Nation ihr gerüttelt Maß beigetragen. Gerade aus ihrem Geiste heraus sind jene Übertreibungen menschlicher und mitleidsvoller Regungen entstanden, die sich schließlich bis zur systematischen Züchtung kranken und minder wertigen Lebens steigerten und, im Ganzen gesehen, der modernen Zeit jedes Gefühl für den Wert der Kraft, der Gesundheit, der Schönheit und der Jugend, kurz für die Kräfte des aufsteigenden Lebens mehr und mehr gestohlen haben.“13 In den geforderten Konsequenzen deutete sich an, dass als „minderwertig“ klassifizierte Menschen in der Ratio der Nationalsozialisten weder besonderen Schutz noch Förderung verdienten : „Wenn es uns ernst ist mit der Forderung der Gesunderhaltung des Volkes und der Rasse, wenn wir die Forderungen der Erbgesundheitslehre in die Tat umsetzen wollen – und das müssen wir, wenn wir überhaupt noch für unser Volk eine Zukunft erstreben – dann müssen wir diese Haltung der Caritas überwinden, die nicht nur unterschiedslos Wertvollem und Minderwertigem zugute kommt, sondern sogar ausgesprochene Förderung alles Minderwertigen auf Kosten des Gesunden bedeutet hat.“14 Unverkennbar tritt aus solchen Ausführungen die Absicht zutage, im Hinblick auf ärztliche Zuwendung und staatliche Fürsorge Gesunde und Kranke gegeneinander auszuspielen. Verantwortlich für den redaktionellen Aufsatz, aus dem die hier zitierten Passagen stammen, war vermutlich der Vorsitzende des NSDÄB, Gerhard Wagner. Wagner wurde 1934 zum „Reichsärzteführer“ ernannt und erhielt damit Gelegenheit, den angekündigten Bruch mit der tradierten ärztlichen Moral auf breiter Front voranzutreiben und in den medizinischen Alltag zu übertragen. So beteiligte sich Wagner unter anderem an der Umsetzung des Sterilisationsgesetzes, der Nürnberger Gesetze sowie an der Vorbereitung der „Euthanasie“ - Aktion. Zu den ersten Opfern der neuen Ethik gehörten jedoch nicht Patienten, sondern Ärzte. Jüdischen oder politisch andersdenkenden Medizinern wurde in perfider Verkehrung der realen Vorgänge eine Art Gegenmoral unterstellt, mit der sie dem ärztlichen Stand geschadet hätten. Nachdem sie jahrelang die „arteigene Ethik und Moral“ unterdrückt sowie den „ärztlichen Ehrbegriff“ verfälscht hätten, müsse nun rücksichtslos ihre Entfernung aus dem Berufsstand erfolgen, so die Forderung nationalsozialistisch gesonnener „Kollegen“.15 Dabei übernahm wiederum der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund die Vorreiterrolle. In einem von Gerhard Wagner verfassten Aufruf an die „gesamte deutsche Ärzteschaft“ war im „Völkischen Beobachter“ zu lesen : „Säubert die Füh-
13 Ebd., S. 158. 14 Ebd. 15 Vgl. Gerhard Wagner, Aufruf des nationalsozialistischen deutschen Aerztebundes. In : Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe vom 25. 3. 1933, 2. Beiblatt, S. 3.
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rung unserer Organisationen, fegt alle hinweg, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen wollen, macht unseren Stand in Geltung und Geist wieder deutsch, so wie es Reich und Volk in diesen Wochen geworden sind.“16 Konsequent wurde auch innerhalb der Ärzteschaft ein partikulares Moralkonzept eingeführt und durchgesetzt. Kollegialität, in den vorangegangen Jahrzehnten unter Ärzten ein hochgeschätzter und vielbeschworener Wert, galt fortan nur noch innerhalb eines bestimmten Referenzrahmens, aus dem rassisch und politisch Unerwünschte ausgeschlossen waren. Dieses Vorgehen gegen Teile des eigenen Berufsstandes korrespondierte auf gesamtgesellschaftlicher Ebene mit der partikularen Moral der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, nach der ausgewählte Bevölkerungsgruppen – etwa sogenannte „Ballastexistenzen“ – nicht mehr der schützenswerten Gemeinschaft angehören sollten.17 In der medizinischen Alltagspraxis besaß von nun an weniger der Grundsatz „salus aegroti suprema lex“, als das Gebot „salus populi suprema lex“ Gültigkeit. Eine das Primat des „Volkskörpers“18 hervorhebende Formulierung fand auch Eingang in die neue Reichsärzteordnung von 1935 : „Die deutsche Ärzteschaft ist berufen, zum Wohle von Volk und Reich für die Erhaltung und Hebung der Gesundheit, des Erbguts und der Rasse des deutschen Volkes zu wirken.“19 Daneben wies die nationalsozialistische Gesundheitspolitik der Vorbeugung einen im Vergleich zur Krankheitsbehandlung mindestens gleichrangigen, wenn nicht übergeordneten Stellenwert zu. Aus dem Vorsorgegedanken wurde zudem eine moralische Pflicht zur Gesundheit abgeleitet, die besonders Jugendliche zu erfüllen hätten.20
1.
Das Gesetz zur Zwangssterilisation
Im Juli 1933 verabschiedete das Kabinett Hitler das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, welches zum 1. Januar 1934 in Kraft trat. Die neuen Bestimmungen hielten Ärzte dazu an, alle Patienten, bei denen der Verdacht auf eine erbliche Erkrankung oder schweren Alkoholismus bestand, den eigens ein16 Ebd. 17 Die philosophischen Begriffe „partikulare“ und „universelle Moral“ werden u. a. von Gross herangezogen. Vgl. ders., Anständig geblieben, S. 11–15. 18 Zum Bild des „Volkskörpers“ im Nationalsozialismus vgl. Paula Diehl, Körperbilder und Körperpraxen im Nationalsozialismus. In : dies. ( Hg.), Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen, München 2006, S. 9–30. 19 § 19 der Reichsärzteordnung vom 13. 12. 1935, abgedruckt bei Rudolf Ramm, Ärztliche Rechts - und Standeskunde. Der Arzt als Gesundheitserzieher, Berlin 1942, S. 212. 20 Vgl. Thomas Beddies, „Du hast die Pflicht, gesund zu sein !“ Der Gesundheitsdienst der Hitler - Jugend 1933–1945, Berlin 2010. In konsequenter Weiterentwicklung dieses Gedankens wurde während des Krieges auch die Einführung eines Behandlungszwanges erwogen. Der 3. Zivilsenat des Reichsgerichts bejahte 1942 diesen Behandlungszwang etwa bei Wehrmachtssoldaten. Vgl. Thorsten Noack, Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Juristische Entscheidungen, Politik und ärztliche Positionen 1890–1960, Frankfurt a. M. 2004, S. 179.
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gerichteten Erbgesundheitsgerichten zur Sterilisation zu melden. Die ärztliche Schweigepflicht, ein Eckpfeiler tradierter ärztlicher Ethik, entfiel bei den betroffenen Patienten und wich einer ärztlichen Anzeigepflicht. Auch das Gebot, Patienten niemals zu schaden, als „primum nil nocere“ ebenfalls ein seit der Antike zentraler Bestandteil der Medizinethik, wurde durch das Gesetz und die dementsprechend handelnden Ärzte verletzt. Dass diese tiefen Einschnitte in das ethische Gefüge der zwischenmenschlichen Beziehungen durchaus nicht überall auf Zustimmung stießen, sondern der Rechtfertigung bedurften, wird im Folgenden deutlich : „Dieses Gesetz bedeutet einen großartigen Fortschritt in der Aufartung unseres Volkes. Es will die Erzeugung minderwertiger Menschen verhüten und damit Elend mindern. Man sollte meinen, dieser Zweck müsste von allen Seiten anerkannt werden. Dem ist jedoch nicht so. Gewisse Kreise wittern antike Grausamkeit, man spricht von Wiederbelebung spartanischer Sitten.“21 Die verantwortlichen Initiatoren der neuen Gesetzesregelung waren sich ebenfalls der Zäsur bewusst und argumentierten mit der prospektiven „Volksgesundheit“, einem Aspekt der erwähnten generativen Ethik : „[ Das Gesetz ] ist der Anfang der Vorsorge für das kommende Geschlecht, um unsern Kindern und Kindeskindern eine bessere und gesündere Zukunft zu gestalten. Das Gesetz ist demnach als eine Bresche in das Geröll und die Kleinmütigkeit einer überholten Weltanschauung und einer übertriebenen selbstmörderischen Nächstenliebe der vergangenen Jahrhunderte aufzufassen.“22 Ein solcher Vorentwurf eines künftigen Zustands ist nicht nur charakteristisch für die generative Ethik des frühen 20. Jahrhunderts, er ist auch ein wiederkehrendes Kennzeichen nationalsozialistischer Medizinethik, die sich dem Ziel verschrieben hatte, die Utopie des gesunden „Volkskörpers“ zu verwirklichen. Infolge dieses Bestrebens wurden bis 1945 in Deutschland über 400 000 Menschen zwangssterilisiert, etwa 6 000 starben an den Folgen des Eingriffs.23 Jenseits dieser Zahlen ist auch die übergreifende Bedeutung des Sterilisationsgesetzes für die Medizinethik nicht zu übersehen : mit der Schweigepflicht und dem Nichtschadensgebot wurden zwei konstitutive Prinzipien ärztlicher Moral offiziell außer Kraft gesetzt.
21 Albert von Rohden, Verstößt das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gegen das Gebot der Nächstenliebe ? In : Neues Volk, 2 (1934), S. 8. 22 Arthur Gütt / Ernst Rüdin / Falk Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, München 1934, Vorwort. 23 Zahlen nach Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, zit. nach Astrid Ley, Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945, Frankfurt a. M. 2004, S. 17. Die mit der Zwangssterilisation verbundene gesellschaftliche Herabsetzung und Ausgrenzung, die die Betroffenen oft lebenslang verfolgt hat, kontrastiert scharf mit dem zeitgenössischen Argument, zukünftiges Elend mindern zu wollen. Vgl. in diesem Zusammenhang Stefanie Westermann, Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS - Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2010.
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Wie sehr sich das Verständnis von Moral auf Seiten der Ärzte veränderte, zeigt exemplarisch die Meinung des an der Abfassung des Gesetzes beteiligten Psychiaters Ernst Rüdin, der betonte, es sei „hohe Ethik, das Krankhafte zu hemmen, um dem Gesunden das Feld der Fortpflanzung zu überlassen“.24 „Unmoralisch“, wäre es demgegenüber, so Rüdin, „wenn ein Arzt aus Rücksicht auf seine Privatpraxis z. B. Erbkranke zur Unfruchtbarmachung nicht anmelden würde“.25 Offenkundig sollte hier Gewissenhaftigkeit das Gewissen selbst ersetzen. Als Bezugspunkt der Moral wurde nicht die körperliche Unversehrtheit des Kranken oder die ärztliche Schweigepflicht genannt, sondern die aufopferungsvolle Bereitschaft des niedergelassenen Arztes, durch die Denunziation seiner Patienten her vorgerufene wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Dass den Arzt auch andere als nur ökonomische Gründe von einer solchen Vorgehensweise hätten abhalten können, wird von Rüdin gar nicht in Betracht gezogen.26 Auch an der Auffassung des Hallenser Physiologen und Medizinethikers Emil Abderhalden wird erkennbar, dass sich der normative Standard in der Medizinethik verschoben hatte. Abderhalden bezeichnete eugenische Maßnahmen als „Ethik im höchsten Sinn des Wortes“27 und propagierte die Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“.28 In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Ethik“ fand bis 1938 ein lebhafter, allerdings zunehmend gleichgeschalteter Diskurs über ethische Fragen in der Medizin statt.29
2.
Die „Euthanasie“ als Krieg nach innen
Die aus heutiger Perspektive zu konstatierende sukzessive Erosion des moralischen Gewissens gewann mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine zusätzliche Dynamik. Die 1939 in Gang gesetzte staatliche Mordaktion an psychisch Kranken und Behinderten enthüllte auf besondere Weise das destruktive Poten-
24 Ernst Rüdin, Bedeutung der Forschung und Mitarbeit von Neurologen und Psychiatern im nationalsozialistischen Staat. In : Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 165 (1939), S. 7–17, hier 11. 25 Ebd. 26 In der Tat deuten Untersuchungen daraufhin, dass die Bereitwilligkeit, Erbkranke den Behörden zu melden, bei niedergelassenen Ärzten, die um ihren Ruf und ihren Umsatz fürchten mussten, sehr viel niedriger war als bei ihren im öffentlichen Gesundheitsdienst angestellten Kollegen, etwa den Amtsärzten. Vgl. dazu Ley, Zwangssterilisation und Ärzteschaft, S. 159, 175. 27 Emil Abderhalden, Zum Abschied. In : Ethik, 14 (1937/38) 6, S. 241–269, hier 263. Siehe auch Andreas Frewer, Medizin und Moral in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Ethik“ unter Emil Abderhalden, Frankfurt a. M. 2000, S. 237. 28 Emil Abderhalden, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. In : Ethik, 12 (1935/36) 1, S. 1– 12. 29 1938 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Zu den Hintergründen vgl. Frewer, Medizin und Moral in Weimarer Republik und Nationalsozialismus, S. 108–111.
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zial der nationalsozialistisch deformierten Medizinethik.30 Mit Blick auf kranke oder in anderer Weise „untüchtige“ Menschen hatte Reichsärzteführer Gerhard Wagner schon Jahre zuvor, in Anlehnung an ein Diktum Hitlers gedroht : „Wenn die Kraft zum Kampfe um die eigene Gesundheit nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben in dieser Welt des Kampfes.“31 Trotz solcher frühen Hinweise wirft die tatsächliche Genese der Krankenmord - Aktion bis heute Fragen auf. Die von der historischen Forschung bislang entwickelten Erklärungsmodelle sollen an dieser Stelle nicht im Einzelnen referiert werden.32 Vieles spricht dafür, dass die Tötung „unbrauchbarer“ Patienten Teil einer schiefen Ebene war, die hinsichtlich bestimmter Denkweisen bereits vor und in Bezug auf die staatliche Sanktionierung erst nach 1933 ihren Anfang nahm.33 Anhand des Göttinger Pathologen und Medizinethikers Georg Benno Gruber lässt sich die allmähliche Hinwendung zum „Euthanasie - Gedanken“ exemplarisch verfolgen. Noch 1937 hatte Gruber die Tötung von Patienten kategorisch mit den Worten abgelehnt : „Kein Mensch, auch nicht der Arzt, ist befugt, Lebensflammen auszulöschen.“34 1941 relativierte er diese Einschätzung : „Dass andererseits das Problem der Auslöschung eines ganz zweifellos unheilbaren, jeden Persönlichkeitswertes entbehrenden, in aller Hinsicht unfruchtbaren, nur die Gemeinschaft schwer belastenden kranken Lebens ernsthafter Betrachtung wert ist, scheint mir keine neue Frage zu sein.“35 In der breiteren Öffentlichkeit fand derweil eine sukzessive Vorbereitung der „Euthanasie“ auf publizistischem Gebiet statt, wobei dieser Prozess allerdings in der Regel euphemistisch - verschleiernd unter Verwendung des Begriffes „Gnadentod“ ablief.36 30 Aus der umfangreichen Literatur zur „Euthanasie“ vgl. zuletzt Maike Rotzoll u. a. ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010. Zu ethischen Implikationen vgl. Andreas Frewer / Clemens Eickhoff ( Hg.), „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe - Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt a. M. 2000. 31 Gerhard Wagner, zit. nach Leonardo Conti, Reden und Aufrufe – Gerhard Wagner. 1888–1939, Berlin 1943, S. 31. 32 Aktuell und ausführlich dazu Hans - Walter Schmuhl, Die Genesis der „Euthanasie“. Interpretationsansätze. In : Rotzoll u. a. ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ Aktion „T4“ und ihre Opfer, S. 66–73. 33 Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, skizziert in diesem Zusammenhang einen von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ reichenden Prozess. 34 Georg Benno Gruber, Von ärztlicher Ethik. Eine Vorlesung, Stuttgart 1937, S. 28. 35 Ders., Vom ungeschriebenen Gesetz des Arztes. In : Die Gesundheitsführung : Ziel und Weg, o. Band (1941), S. 197–202, hier 200. Siehe zu beiden Passagen auch Martin Mattulat, Medizinethik in historischer Perspektive. Zum Wandel ärztlicher Moralkonzepte im Werk von Georg Benno Gruber (1884–1977), Stuttgart 2007, S. 125. 36 Als Beispiel kann der 1936 erschienene Roman „Sendung und Gewissen“ des Ärzteschriftstellers Hellmuth Unger dienen, in dem die Tötung unheilbar kranker Menschen im Sinne des „Gnadentods“ implizit gefordert wird. Vgl. Hellmuth Unger, Sendung und Gewissen, Berlin 1936. Die SS - Zeitung „Das Schwarze Korps“ nannte 1937 die Tötung
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Ungeachtet der „Inkubationszeit“ ( Schmuhl ) der Krankenmordaktion sollte jedoch auch das aktionistische Element berücksichtigt werden, das den Patiententötungen innewohnte. Aus dieser Perspektive ließe sich die Tötungsaktion als eine eher spontane, kurzfristig auf die ökonomischen Bedingungen und Notwendigkeiten des Krieges reagierende Maßnahme interpretieren, die schließlich eine ungezügelte, letztlich aber gewollte Eigendynamik entwickelte.37 Zweifellos haben die Bedingungen des zunehmend „totaler“ werdenden Krieges die Durchführung der Krankenmorde befördert.38 Die „Euthanasie“ - Aktion ließ jedoch gleichzeitig erstmals die Grenzen der innerhalb der Bevölkerung vorhandenen Bereitschaft zur Entsolidarisierung und Ausgrenzung aufscheinen. Im Gegensatz zur Zwangssterilisation vollzog das Regime die massenhafte Tötung von Patienten ohne gesetzliche Grundlage und versuchte, die Vorgänge geheim zu halten. Auch eine öffentliche oder zumindest fachwissenschaftliche Debatte über das Thema „Euthanasie“ wurde, anders als in der Vorkriegszeit, während des Krieges nicht mehr zugelassen. Der Krankenmord geschah nicht nur konspirativ, sondern musste, sobald er ruchbar wurde, in der Art seiner Durchführung an die zumeist skeptische oder ablehnende Befindlichkeit der Bevölkerung angepasst werden. Auf der Seite der ärztlichen Protagonisten zeigte sich diesbezüglich ein etwas anderes Bild. Hier gab es zwar ebenfalls bis in die Kriegszeit hinein kritische Stimmen, doch hatten die Lenker der nach ihrem Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 auch als Aktion „T4“ bekannt gewordenen Organisation zu keinem Zeitpunkt Schwierigkeiten, ärztliches Personal für die Durchführung der Tötungen zu gewinnen. Im Gegenteil : als man ab 1941 aufgrund wachsenden Unmuts in der Bevölkerung dazu überging, die Ermordung der Patienten dezentral stattfinden zu lassen, entwickelten viele ärztliche Anstaltsleiter auf regionaler Ebene diesbezüglich eine eifrige Aktivität. Sie ermordeten ihre Patienten durch tödliche Injektionen oder gezielten Nahrungsentzug noch bis in die letzten Kriegstage hinein, zum Teil auch darüber hinaus.39 Hier von Überzeugungstätern zu sprechen, dürfte nicht übertrieben sein. Diese Täter handelten ohne Druck einer Befehlskette oder sonstige militärische Zwänge, sondern setzten
Geisteskranker demgegenüber offen beim Namen. Siehe dazu Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 179. 37 Vgl. etwa Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003, der detailliert auf die Verteilungsproblematik medizinischer Ressourcen ( Personal, Bettenkapazität, finanzielle Mittel ) während des Krieges eingeht. 38 Die vermeintliche und vielzitierte Äußerung Hitlers während des Reichsparteitags 1935, wonach eine „Euthanasie“ - Aktion auf einen kommenden Krieg zu verschieben sei, da sie sich dann leichter durchführen lasse, beruht jedoch trotz ihrer inhaltlichen Plausibilität auf einer sehr unsicheren Quelle. Vgl. Ulf Schmidt, Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich, Berlin 2009, S. 129, hier Fußnote 102. 39 Vgl. Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, vollständig überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a. M. 2010, S. 478–486.
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die partikulare Moral, die Teil der nationalsozialistischen Medizinethik war, in ihren Anstalten direkt in die Praxis um – mit tödlichen Folgen für diejenigen, die im Rahmen dieser Moral als nicht schutz - , sondern vernichtungswürdig galten.40 In Anlehnung an die oben genannten Zitate von Rüdin und Abderhalden ist davon auszugehen, dass die ärztlichen Täter davon überzeugt waren, das moralisch Richtige zu tun. Die Annahme, dass einige von ihnen vielleicht doch Skrupel empfanden, muss dem nicht entgegenstehen. Das Bewusstsein, eine unangenehme und belastende Aufgabe übernommen zu haben, ließ sich durchaus in die ärztliche Tötungsmoral integrieren.41 Entscheidender war die innere Gewissheit, dass es gut und sinnvoll war, zur Gesundung des „Volkskörpers“ beigetragen zu haben.
III.
Legitimierung und Vermittlung der neuen ärztlichen Moral
Eine neue moralische Ordnung kann umso erfolgreicher und nachhaltiger etabliert werden, je mehr sie sich durch die Herstellung historischer Bezüge absichern und legitimieren lässt. Weiterhin ist sicherzustellen, dass die neuen Moralvorstellungen ihre Adressaten auch erreichen und von diesen rezipiert werden. Anhand der Medizinethik im Nationalsozialismus lässt sich beides nachvollziehen : der Versuch, die überlieferte Ethik nationalsozialistisch zu deuten und umzuformen, sowie die Vermittlung der daraus entstandenen Moralkonzepte an Ärzteschaft und Medizinstudierende. Es ist kein Zufall, dass die hierfür verantwortlichen Fachdisziplinen, die Medizingeschichte und die Ärztliche Rechtsund Standeskunde, während des Nationalsozialismus stark gefördert wurden und im Jahr des Kriegsbeginns gar zu Pflichtfächern im Medizinstudium avancierten. Beide Fächer dienten zwischen 1939 und 1945 der theoretischen Untermauerung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik sowie der ideologischen Schulung des ärztlichen Nachwuchses. Im Hinblick auf die Medizingeschichte wäre zu fragen, welche Rolle die historische Überlieferung ärztlicher Ethik in der Zeit des Nationalsozialismus spielte. In der Rückschau auf die Medizinverbrechen des „Dritten Reiches“ und sei-
40 Die neuere Forschung hat gezeigt, dass in erster Linie Kriterien wie Arbeitsfähigkeit, Sozialverhalten oder Pflegeaufwand und weniger die medizinische Prognose über die Zugehörigkeit zur Gruppe der schützenswerten oder der zu vernichtenden Patienten entschieden. Vgl. Gerrit Hohendorf, Die Selektion der Opfer zwischen rassenhygienischer „Ausmerze“, ökonomischer Brauchbarkeit und medizinischem Erlösungsideal. In: Rotzoll u. a. ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T4“ und ihre Opfer, S. 310–324, hier 317–324. 41 Vgl. Welzer, Täter, S. 37. Im Töten selbst „anständig“ zu bleiben, sich beispielsweise am Hab und Gut der Opfer nicht zu bereichern, war auch zentraler Inhalt der berüchtigten Rede Heinrich Himmlers vor den höheren SS - Führern am 4. Oktober 1943 in Posen, die von vielen als ein Schlüsseldokument der nationalsozialistischen Moral angesehen wird.
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ner Ärzte wird oft nach der Bedeutung des tradierten, zum Teil aus der Antike stammenden Ärzteideals in Form des hippokratischen Eides gefragt. Haben Ärzte in jener Zeit ihre Ideale verraten und ihren Ärzte - Eid gebrochen ? Die nähere Betrachtung der nationalsozialistischen Medizinhistoriografie und ihrer Fachvertreter kann einiges zur Klärung dieser Fragen beitragen. Mit der Ärztlichen Rechts - und Standeskunde konzipierte die Reichsärzteführung 1939 ein neues Unterrichtsfach, für das es bis dato kein Vorbild gab. Dabei kam es zu der aus heutiger Sicht vordergründig paradox erscheinenden Konstellation, dass ausgerechnet die Nationalsozialisten erstmals einen obligaten Ethikunterricht für Medizinstudierende einführten. Daher wird hier in besonderem Maße nach den Beweggründen dieser Entwicklung zu fragen sein. Wer lehrte das Fach an den Medizinischen Fakultäten und welche Inhalte wurden dabei transportiert ?
1.
Medizingeschichtsschreibung als ideologische Auftragsforschung
Die institutionellen Wurzeln der akademischen Medizingeschichtsschreibung liegen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Neben genuin historiografischen Aufgaben beanspruchte das Fach bereits in dieser frühen Phase seiner Entwicklung Teile der Deutungshoheit über die ärztliche Ethik für sich. Namhafte Vertreter der noch relativ jungen Disziplin machten auf die vielfältigen Schnittmengen von Medizingeschichte und ärztlicher Deontologie aufmerksam, aus denen die Medizinhistoriker nicht zuletzt einen Teil ihrer Legitimation innerhalb der medizinischen Fakultäten bezogen.42 In der Tat spielte das Fach in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts nur eine geringe Rolle im naturwissenschaftlich und klinisch geprägten Fächerkanon des Medizinstudiums. Viele Ärzte betrieben die Medizingeschichte im Nebenberuf und – von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen – ohne allzu großen wissenschaftlichen Anspruch. Erst allmählich kam es zur Gründung verschiedener Seminare und Institute; die Ordinariate in Leipzig und Berlin stellten Anfang der 1930er Jahre die in Deutschland bedeutendsten Schulen des Faches dar. Die Nationalsozialisten erkannten recht früh die Möglichkeiten, die ihnen dieses theoretisch - geisteswissenschaftlich orientierte Feld bot, um ihre Ideologie innerhalb der Medizin noch stärker wirksam werden zu lassen. In den Jahren nach 1933 leiteten nationalsozialistische Ärzte - und Hochschulfunktionäre erste Schritte ein, die dazu dienten, das Fach für ihre politischen Zwecke zu nutzen. Die Medizinhistoriker wiederum, insbesondere der Direktor des Berliner Instituts für Geschichte der Medizin und der Natur wissenschaften, Paul
42 Vgl. grundlegend dazu Andreas Frewer / Volker Roelcke ( Hg.), Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, sowie Frewer / Neumann, Medizingeschichte und Medizinethik.
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Diepgen, entdeckten schnell die Vorteile, die ihnen die erhöhte Aufmerksamkeit seitens der neuen Machthaber einbrachte. Entsprechend viele Ergebenheitsadressen richtete Diepgen, ebenso wie seine Fachkollegen etwa in Leipzig oder Göttingen, an das Regime. Die gegenseitige Annäherung wurde zusätzlich dadurch erleichtert, dass wichtige Vertreter des Faches recht früh Sympathien für den Nationalsozialismus entwickelt hatten – aus zum Teil sehr unterschiedlichen Motiven.43 In der Folge erlebte die Medizingeschichtsschreibung in Deutschland tatsächlich einen Aufschwung, der sich unter anderem darin manifestierte, dass das Fach 1939 im Zuge einer neuen Studienordnung als Pflichtfach in das Curriculum des Medizinstudiums aufgenommen wurde. Gleichzeitig wurden weitere ideologisch bedeutsame Fächer wie etwa Rassenkunde, Vererbungslehre und Wehrmedizin in das Studium eingeführt.44 Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, da die neu gestaltete Studienordnung bereits auf die Erfordernisse eines Krieges hin ausgerichtet war und die Medizingeschichte somit den Status einen kriegswichtigen Faches erhielt. Im Zentrum des Bündnisses zwischen Nationalsozialismus und Medizingeschichte stand das Berliner Institut unter Paul Diepgen. Hier gab es die engsten personellen Verflechtungen zwischen Partei, SS und Medizinhistorikern. Diepgens Verhältnis zum Nationalsozialismus war vielschichtig. Noch in der Bürgerlichkeit des Kaiserreichs sozialisiert und deutschnational geprägt, hielt er es 1933 als arrivierter Ordinarius nicht für nötig, der NSDAP beizutreten. Deshalb und aufgrund seines katholischen Glaubens galt er bei führenden Parteigrößen als politisch unzuverlässig und wurde von Jubiläen oder repräsentativen Anlässen ferngehalten.45 Umso mehr war er bemüht, sich auf publizistischem Gebiet dem Regime anzudienen. Seine während des Nationalsozialismus erschienenen Veröffentlichungen sind durchweg affirmativ und entbehren jeder kritischen Distanz oder Reflexion. Im Gegenteil, Diepgen befürwortete früh das Sterilisationsgesetz und begrüßte ausdrücklich, dass der Nationalsozialismus „ein neues nationales ärztliches Ethos“46 geschaffen habe. Mit Ausführungen über den
43 Zu Hintergründen vgl. Werner Friedrich Kümmel, Geschichte, Staat und Ethik : Deutsche Medizinhistoriker 1933–1945 im Dienste „nationalpolitischer Erziehung“. In : Andreas Frewer / Josef N. Neumann ( Hg.), Medizingeschichte und Medizinethik, S. 167–203. Florian Bruns / Andreas Frewer, Fachgeschichte als Politikum. Medizinhistoriker in Berlin und Graz in Diensten des NS - Staates. In : Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch - Stiftung, 24 (2005), S. 151–180. 44 Auf ein weiteres Fach, die Ärztliche Rechts - und Standeskunde, wird weiter unten eingegangen. 45 So wurde Diepgen beispielsweise 1941 als Redner von der zentralen Feier anlässlich des 400. Todesjahres des Arztes und Naturphilosophen Paracelsus von Hohenheim ausgeladen – ein Affront, den er nur schwer verwinden konnte. Vgl. auch Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus, S. 58. 46 Paul Diepgen, Die Geschichte der Medizin in Deutschland. In : Forschungen und Fortschritte, 16 (1940), S. 365–370, hier 365.
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„völkisch bedingten Charakter der Medizin“47 untermauerte er die auf eben diesem rassistischen Konzept basierende Medizinethik des Nationalsozialismus mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Daneben unterhielt Diepgen Kontakte zu höchsten Vertretern der SS und des Gesundheitswesens. Sowohl mit „Reichsarzt - SS“ Ernst Robert Grawitz, Chef aller SS - Ärzte und enger Mitarbeiter Himmlers, als auch mit Karl Brandt, Begleitarzt Hitlers und ab 1943 „Generalkommissar für das Sanitäts - und Gesundheitswesen“, stand Diepgen in engem Austausch. Diepgen stellte seine medizinhistorische Expertise bedenkenlos in den Dienst des Regimes und arbeitete Brandt, der federführend an der „Euthanasie“ - Aktion beteiligt war, direkt zu, indem er ihn auf Wunsch mit Literatur über ärztliche Ethik versorgte und die Werke jeweils kommentierte.48 Welche genauen Schlüsse Brandt aus diesem ethischen „Briefing“ gezogen hat, ist nicht überliefert, seine Verantwortung für den zehntausendfachen Mord an Patienten steht dagegen außer Frage. Der mit Kriegsbeginn zunehmende Einfluss der SS auf die Medizinhistoriografie lässt sich auch an der personellen Besetzung des Berliner medizinhistorischen Instituts ablesen. Grawitz hatte zwei SS - Ärzte als Habilitanden an Diepgens Institut entsandt; beide waren für den Aufbau eines SS - eigenen Instituts für Geschichte der Heilkunde vorgesehen. Diepgen hatte sich anfänglich gegen die Nachwuchswissenschaftler der SS gesträubt, arrangierte sich jedoch im Verlauf mit beiden und führte sie zur Habilitation. Insbesondere der 1910 geborene Bernward Josef Gottlieb erfüllte die seitens der SS in ihn gesetzten Erwartungen und wurde 1941 erster Leiter des „Instituts für Geschichte der Heilkunde beim Reichsarzt SS und Polizei“. Die Protektion höherer SS - Führer bewirkte 1943 die Ernennung Gottliebs zum Dozenten an der SS - ärztlichen Akademie in Graz, so dass die Medizingeschichte fortan auch in den dortigen Ausbildungsgang der SS - Ärzte integriert war. Viele der Publikationen Gottliebs entsprangen nicht einem historischen, sondern einem politischen Interesse, welches darin bestand, die nationalsozialistische Medizinethik historisch legitimiert erscheinen zu lassen. Dass es sich in solchen Fällen um Auftragsarbeiten handelte, die von höchster Stelle gewünscht und angeordnet wurden, war durchaus kein Geheimnis, wie aus einem Brief Gottliebs an Diepgen hervorgeht : „Zugleich berichte ich Ihnen noch, dass ich im Rahmen meines politischen Auftrages Material aus der Bibliothek des Reichs-
47 Manuskript „Wesen und Leistung der deutschen Medizin“, 1937 ( UAHU, Nachlass Diepgen, Nr. 49, Bl. 2). 48 Diepgen versäumte dabei nicht, die Autoren nach den Kategorien der Nationalsozialisten einzuteilen : „Es ist merkwürdig, wie viel Juden unter den Verfassern sind.“ Diepgen an Brandt, 29. 1. 1942 ( UAHU, IGM, Nr. 27, Bl. 145). 1943 wurde Diepgen offiziell Mitarbeiter im Stabe Brandts. Vgl. Brandt an Diepgen, 25. 9. 1943. Diepgen an Brandt, 5. 10. 1943 ( UAHU, IfG, Nr. 31, Bl. 263 f.). 1947 verfasste Diepgen für den im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilten Brandt ein Gnadengesuch sowie ein „Gutachten“ über die „Euthanasie“ aus medizinhistorischer Sicht, wobei Letzteres bislang noch nicht aufgefunden werden konnte.
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führers und Reichsarztes zur Entstehung der Freimaurerei in England sowie zur Judenfrage zur Zeit des Paracelsus bearbeite [...]. Wie mir der Reichsarzt - SS mitteilte, soll sich der Reichsführer - SS Himmler über die bisher geleistete Arbeit lobend ausgesprochen haben.“49 In den Schriften, die aus diesem pseudowissenschaftlichen Ansatz entstanden, konstruierte Gottlieb historische Kontinuitätslinien und Parallelitäten, mit denen etwa der rassische Antisemitismus innerhalb der Ärzteschaft oder die vermeintliche Vorherrschaft nordisch - germanischer Ärzte eine historische Begründung erfahren sollten.50 Ein Ziel dieser rassenideologischen Auslegung der Geschichte war die moralische Rechtfertigung der Gegenwart; Adressat war kein historisches interessiertes Fachpublikum, sondern die breite Ärzteschaft.51 Medizingeschichte sollte dem einzelnen Arzt, der die neue ärztliche Moral womöglich noch nicht völlig internalisiert hatte und bestimmte Praktiken in Frage stellte, helfen, sich immer wieder neu zu vergewissern, noch auf dem moralisch richtigen Weg zu sein. Anders ausgedrückt : Die Medizingeschichte hatte den Auftrag, eventuelle ethische Legitimationsdefizite durch neue Geschichtsdeutungen zu kompensieren. Nicht wenige Medizinhistoriker kamen dieser Aufgabe bereitwillig nach.
2.
Ideal und Wirklichkeit : der hippokratische Eid
Die Indienstnahme historischer Quellen für die Etablierung einer neuen, nationalsozialistisch geprägten ärztlichen Ethik lässt sich in besonderer Weise am Umgang mit dem hippokratischen Eid nachvollziehen. Dieser antike Ärzteeid wird oft, ungeachtet seiner historisch nicht geklärten Herkunft und Ver wendung, als das wichtigste Dokument ärztlicher Standesethik angesehen.52 Diese Ansicht war auch in der Zeit des Nationalsozialismus unter Ärzten und Laien verbreitet. Das hippokratische Ethos ist immer wieder Gegenstand medizinhistorischer Forschung und Debatten gewesen, auch wenn es im 20. Jahrhundert nicht üblich war, von angehenden Ärzten die Ablegung eines Eides zu fordern.53
49 Gottlieb an Diepgen, 14. 8. 1941 ( UAHU, IfG, Nr. 28, Bl. 62). 50 Vgl. etwa Sepp [ sic ] Gottlieb, Paracelsus als Kämpfer gegen das Judentum. In : Deutsches Ärzteblatt, 71 (1941), S. 326–328. Bernward Josef Gottlieb / Alexander Berg, Das Antlitz des germanischen Arztes in vier Jahrhunderten, Berlin 1942. 51 Bevorzugter Erscheinungsort solcher Propagandaaufsätze war dann auch das Deutsche Ärzteblatt. 52 Vgl. übergreifend zur Geschichte der ärztlichen Ethik Klaus Bergdolt, Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München 2004. Prägnant zum Eid des Hippokrates ebd., S. 48–51. Der Eid wird, historisch nicht belegbar, dem griechischen Arzt Hippokrates von Kos ( um 400 v. Chr.) zugeschrieben, der oft als „Vater der abendländischen Heilkunde“ bezeichnet wird. 53 Der Berliner Medizinhistoriker Paul Diepgen ging 1934 davon aus, „dass in Deutschland weder bei der Promotion zum Dr. med. noch bei irgend einer sonstigen akademischen Graduierung oder beim Staatsexamen und der ärztlichen Approbation irgend ein
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Die Kernaussagen der Eidesformel, Patienten keinen Schaden zuzufügen, niemals, auch nicht auf Verlangen, ihren Tod herbeizuführen sowie gegenüber Dritten stets die Schweigepflicht zu wahren, deckten sich über wiegend mit der christlichen Ethik und besaßen daher innerhalb des ärztlichen Standes als ethische Maximen eine gewisse Verbindlichkeit.54 Diese moralische und teils juristisch abgesicherte Bindungswirkung konnten auch die Nationalsozialisten nicht völlig ignorieren, wollten sie nicht Gefahr laufen, ihren Rückhalt in Ärzteschaft und Bevölkerung zu gefährden. Hat Hitler nun, pointiert gefragt, „mit – oder ohne – Hippokrates gewirkt ?“55 Die Rezeption des hippokratischen Ethos’ im Dritten Reich zeigt, dass in dieser Hinsicht unterschiedliche Strömungen existierten. Zwar vermieden es die nationalsozialistischen Medizinethiker, dem hippokratischen Eid offiziell seine Gültigkeit abzusprechen, aber es gab genügend Ärzte, die dem Eid von vornherein keine besondere Bedeutung zuschrieben. So äußerten einige der nach dem Krieg befragten KZ - Ärzte, dass ihnen der Treueeid auf Hitler, den sie als SS - Ärzte zu leisten hatten, sehr viel realer und beachtenswerter erschienen wäre, als irgendwelche Rituale oder Zeremonien bei Abschluss ihres Medizinstudiums.56 Daneben zweifelten viele an der Aussagekraft der antiken Überlieferung für die Medizin der Neuzeit und plädierten dafür, sich der hippokratischen Tradition zu entledigen. Das ärztliche Ethos sei stets zeitgebunden, man könne es nicht „aus alten Schriften vergangener großer Ärzte konservieren oder gar als Gedankengut eines Paracelsus, Hippokrates usw. modernisieren, in Form neckischer Histörchen dem heutigen Zeitgeist anpassen oder durch hübsch erzählte Anekdoten illustrieren. Jede Zeit hat ihr eigenes Ethos, die unsere das nationalsozialistische.“57 Andere stellten die hippokratische Ethik nicht grundsätzlich in Frage, bestritten aber deren Anwendbarkeit auf bestimmte, durch den Krieg determinierte Situationen. Der SS - Hygieniker Joachim Mrugowsky etwa, verantwortlich für tödliche Experimente an KZ - Häftlingen, führte hierzu während des Nürnberger Ärzteprozesses aus, dass die Versuche nicht an Kranken, sondern an aus seiner Sicht gesunden Häftlingen vorgenommen worden seien. Diese „waren also nicht Patienten des Arztes im Sinn der ärztlichen Ethik und der Auffassung, des Ver-
54
55 56 57
Eid verlangt wird; jede Eidesformel aus solchem Anlasse ist seit etwa 60–70 Jahren in Deutschland abgeschafft.“ Diepgen an Chambers ( Brisbane ), 5. 12. 1934 ( UAHU, IfG, Nr. 34, Bl. 3). Als eine von mehreren Ausnahmen sei hier die Nichtbeachtung des im Eid verlangten absoluten Abtreibungsverbots genannt. Weitere Passagen, etwa das Verbot, sich als Arzt auch chirurgisch zu betätigen, waren durch die neuzeitliche Entwicklung der Medizin obsolet geworden. Vgl. Thomas Rütten, Hitler with – or without – Hippocrates ? The Hippocratic Oath during the Third Reich. In : Koroth. The Israel Journal of the History of Medicine and Science, 12 (1996), S. 91–106. Vgl. Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988, S. 243. Ehrhardt Hamann, Gedanken zum Thema : Ärztliches Ethos. In : Ärzteblatt für Mitteldeutschland, 3 (1940), S. 153–154 sowie 161–162, hier 162.
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hältnisses zwischen Arzt und Patienten. Deshalb ist auch das, was wir unter ärztlicher Ethik verstehen, auf diesen Fall nur sehr bedingt anwendbar.“58 Mrugowsky fügte an, dass er den hippokratischen Eid während seines Studiums niemals zu Gesicht bekommen und ihn auch niemals habe schwören müssen. Sein Mitangeklagter, der bereits erwähnte Karl Brandt, stellte die Gültigkeit eines 2000 Jahre alten Textes für die zeitgenössische Medizin generell in Frage : Er sei überzeugt, so Brandt, dass Hippokrates den Eid heute anders formulieren würde. Auch Mrugowsky hatte – bereits vor dem Krieg – auf die grundsätzliche Wandelbarkeit moralischer Wertvorstellungen hingewiesen und betont, dass sich der Zeitgeist üblicher weise den jeweils herrschenden gesellschaftlichen und zeitlichen Umständen angepasst habe.59 Ungeachtet der individuellen Auslegung des antiken Ärzteideals durch einzelne Mediziner versuchte die SS während des Krieges, moralische Standards für die der SS angehörigen Ärzte aufzustellen. Himmler und der ihm direkt unterstellte „Reichsarzt - SS“ Grawitz entwarfen, unterstützt durch den SS - Medizinhistoriker Gottlieb, eine Broschüre mit Auszügen aus antiken Schriften zur ärztlichen Ethik, die sie mit dem Titel „Ewiges Arzttum“ versahen und die Himmler an alle SS - Ärzte verteilen ließ.60 Offenbar war den Herausgebern jedoch bewusst, dass es nicht in ihrem Sinne sein konnte, auch den Eid selbst als „ewig gültige“ Grundlage ärztlicher Moral darzustellen. Die Diskrepanz zwischen antikem Ideal und dem täglichen Erleben und Handeln der Mehrzahl der SS - Ärzte wäre zu offensichtlich gewesen, als dass die im Eid getroffenen Aussagen zum Nichtschadensgebot Aufnahme in die Edition „Ewiges Arzttum“ hätten finden können.61 Allerdings wurde im Nürnberger Ärzteprozess auch deutlich, dass der hippokratische Eid nicht als „Zeuge der Anklage“ taugte. Die von Karl Brandt aufgestellte Behauptung, wonach die „Euthanasie“ - Aktion nichts anderes als eine zeitgemäße Umsetzung des Eides gewesen sei, sofern man nur den „Volkskörper“ als ethische Richtschnur betrachtete, war zwar in mancher Hinsicht zynisch, allerdings ließ sich diese Auslegung anhand der im Eid enthaltenen vieldeutigen und teilweise antiquierten Formulierungen nicht überzeugend widerlegen.62 Zur Irritation über die nahezu beliebig interpretierbaren Inhalte der 58 Aussage Mrugowskys im Ärzteprozess, zit. nach Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus, S. 163. 59 Joachim Mrugowsky, Das ärztliche Ethos. Christoph Wilhelm Hufelands Vermächtnis einer fünfzigjährigen Erfahrung, München 1939, S. 7. 60 Vgl. Ernst Robert Grawitz ( Hg.), Hippokrates. Gedanken ärztlicher Ethik aus dem Corpus Hippocraticum. Ewiges Arzttum Band 1, Prag 1942. 61 Vgl. schriftliche Mitteilung Gottliebs an den Verfasser vom 23. 6. und 29. 7. 2002. Zu weiteren Hintergründen siehe Andreas Frewer / Florian Bruns, „Ewiges Arzttum“ oder „neue Medizinethik“ 1939–1945 ? Hippokrates und Historiker im Dienst des Krieges. In : Medizinhistorisches Journal, 38 (2004) 3–4, S. 313–336, sowie Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus, S. 79–83. 62 Vgl. dazu Karl - Heinz Leven, Der Hippokratische Eid im 20. Jahrhundert. In : Richard Toellner / Urban Wiesing, Geschichte und Ethik in der Medizin. Von den Schwierigkeiten einer Kooperation, Stuttgart 1997, S. 111–129, hier 118.
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Eidesformel gesellte sich auf Seiten des Gerichts die durch die Argumentation der Angeklagten nachhaltig beförderte Erkenntnis, dass der Eid in der Tat nicht als zeitlos gültiges Dokument gelesen werden konnte. Im Nürnberger Ärzteprozess verlor der hippokratische Eid endgültig seinen überzeitlichen Anspruch und schrumpfte auf ein bloßes historisches Dokument. Neue Versuche, ärztliche Ethik zu kodifizieren, etwa im Genfer Ärztegelöbnis von 1948, müssen vor diesem Hintergrund skeptisch gesehen werden. Zweifel an der präventiven Wirksamkeit solcher Rituale erscheinen angesichts der historischen Erfahrungen mehr als angebracht.
3.
Zugriff auf den Nachwuchs : die Ärztliche Rechts - und Standeskunde
Die Akzeptanz und Umsetzung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik innerhalb der Ärzteschaft sicherzustellen, bedeutete für die verantwortlichen Ärztefunktionäre in den Jahren 1933 bis 1945 eine ständige Herausforderung. Gerade die im Bereich der flächenhaften Krankenversorgung tätigen Hausärzte stellten sich nicht in der erhofften Zahl und mit dem geforderten Engagement in den Dienst des Regimes. Sie beharrten nicht nur auf ihrer ökonomischen Selbständigkeit, sondern bestanden auch auf ihrer Therapiefreiheit und gestalteten die individuellen Beziehungen zu ihren Patienten keineswegs immer nach den offiziellen Vorgaben. Auch ist davon auszugehen, dass in vielen Kliniken ein Geist herrschte, der nicht immer im Sinne der Machthaber war.63 Im Zuge der Fokussierung auf den ethisch in besonderer Weise zugespitzten ärztlichen Umgang mit Bevölkerungsgruppen, die nicht auf vorbehaltlose medizinische Zuwendung zählen konnten, darf nicht übersehen werden, dass sich eine gewisse Anzahl von Ärzten den Indoktrinierungsversuchen von Partei und Staat widersetzte. Auch wenn diese Bemühungen um Abgrenzung sicher keine Widerstandshandlungen im eigentlichen Sinne darstellten, so bestand doch in den Führungsgremien der Ärzteschaft kein Zweifel an der Notwendigkeit fortgesetzter politischer Schulung vieler ärztlicher Kollegen. Abgesehen von der dauerhaften publizistischen Beeinflussung durch die gleichgeschaltete Standespresse setzte man zu diesem Zweck auf eine neu eingeführte Pflichtfortbildung für Ärzte, die neben der fachlichen auch die ideologische „Bildung“ voranbringen sollte. Mit der Eröffnung der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ im mecklenburgischen Alt - Rehse stand seit 1935 zudem ein reichsweiter Schulungsort zur Verfügung, der die Einbindung der Ärzte in die nationalsozialistische Gesundheitspolitik weiter verbessern sollte.64 63 Vgl. die Beispiele bei Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg, S. 373–378. Carly Seyfarth, Der „Ärzte - Knigge“. Über den Umgang mit Kranken und über Pflichten, Kunst und Dienst der Krankenhausärzte, 2. Auf lage Leipzig 1935, vermittelt eine frühe Form der „klinischen“ Ethik, die sich deutlich erkennbar von der herrschenden Moral der Jahre 1933–1945 abzugrenzen versucht. 64 Ausführlich dazu Rainer Stommer ( Hg.), Medizin im Dienste der Rassenideologie. Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse, Berlin 2008.
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Eine besonders wichtige Zielgruppe für die Indoktrinierung mit nationalsozialistischem Gedankengut stellte der ärztliche Nachwuchs dar. Die Medizinstudierenden galten als prädestiniert für die zukünftige Umsetzung der rassenideologischen Gesundheitspolitik, zumal sie im Gegensatz zu älteren Ärzten bereits im System des Nationalsozialismus aufgewachsen und sozialisiert worden waren. Bis dato hatte jedoch im Medizinstudium ein Fach gefehlt, das genügend Raum für „weltanschauliche“ Inhalte bot. Laut der im April 1939 in Kraft getretenen Studienordnung, die auch andere neue Fächer, wie etwa die Medizingeschichte, in das Studium integrierte, war ab dem Winter 1939/40 im letzten Semester des Studiums die Ärztliche Rechts - und Standeskunde obligatorisch zu belegen. Im Laufe der folgenden Kriegsjahre wurden dafür an allen medizinischen Fakultäten des „Großdeutschen Reiches“ Lehraufträge entweder an Gerichtsmediziner oder an externe Lehrbeauftragte vergeben. Eine Analyse der bis 1944 erteilten Lehraufträge für Ärztliche Rechts - und Standeskunde ergibt, dass diese in über 80 Prozent der Fälle an regionale Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP vergeben wurden.65 Die Gauamtsleiter, in ihrem Bereich die „medizinische Funktionselite der NSDAP“,66 waren in 75 Prozent der Fälle sogenannte „Alte Kämpfer der Bewegung“, das heißt, sie waren deutlich vor 1933 der NSDAP beigetreten. Für die Lehraufträge suchte die Reichsärzteführung gezielt Kandidaten aus, die sich um die Partei verdient gemacht hatten und deren Ideologie in der Praxis glaubwürdig vertraten. So war etwa der Tübinger Lehrbeauftragte Eugen Stähle ( NSDAP - Eintritt 1927) gleichzeitig Koordinator der „Euthanasie“ - Aktion in Württemberg. Viele ähnliche Beispiele ließen sich nennen. An 19 Fakultäten ohne eigenen Lehrbeauftragten für das Fach übernahmen vorwiegend Professoren der Gerichtsmedizin die Vorlesung. Ihr Fach beschäftigte sich traditionell nebenher mit Rechts - und Standesfragen. Auch von den Gerichtsmedizinern, im Gegensatz zu den Lehrbeauftragten allesamt Ordinarien, gehörten knapp 70 Prozent der NSDAP an. Allerdings traten sie fast ausschließlich erst nach der Machtübernahme Hitlers in die Partei ein. Die Mehrzahl von ihnen war vor 1900 geboren, viele waren zusätzlich Mitglied der SS. Mindestens fünf der 19 Gerichtsmediziner stellten ihre aktive Mitwirkung an der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik durch ihre Mitarbeit an den Erbgesundheitsgerichten unter Beweis, wo über die Durchführung der Zwangssterilisationen entschieden wurde. Die genauere Analyse der einzelnen Lebensläufe zeigt, dass es sich bei den Dozenten der Ärztlichen Rechts - und Standeskunde durchweg um überzeugte nationalsozialistische Ärzte handelte. Bei ausgewählten Vertretern des Faches trat das überdurchschnittliche politische Engagement besonders hervor. So verfügte etwa der Berliner Lehrbeauftragte, Rudolf Ramm, nicht nur über eine ein65 Diese und folgende Zahlen nach Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus, S. 103– 112. 66 Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg, S. 114.
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schlägige Parteikarriere, sondern übte zeitgleich diverse weitere Ämter aus. Als Beauftragtem für das ärztliche Fortbildungswesen oblag ihm die Organisation der oben erwähnten Fortbildungskurse; in Alt - Rehse trat er auch selbst als Dozent hervor. Während des Krieges steuerte er außerdem die wichtigsten Zeitschriften der ärztlichen Standespresse, darunter das Deutsche Ärzteblatt. Auch auf diesem Feld trat er mit eigenen Beiträgen in Erscheinung, so etwa 1941 mit einem Aufsatz zur „Lösung der Judenfrage in Europa“.67 1942 verfasste Ramm schließlich das Standardlehrbuch für die Ärztliche Rechts - und Standeskunde, aus dem sich auf die Inhalte dieses Faches schließen lässt.68 In seinem Buch legt Ramm ausführlich das nationalsozialistische Welt - und Geschichtsbild dar, bevor er auf die Aufgaben des Arztes im nationalsozialistischen Staat zu sprechen kommt. Ramm zeigt sich überzeugt, dass der Nationalsozialismus die „Wiederaufrichtung eines hohen Berufsethos“69 mit sich gebracht habe. Er begrüßt die bei Erscheinen des Buches weitgehend abgeschlossene „Säuberung des Standes von politisch unzuverlässigen und rassefremden Elementen“ sowie die „gewaltsame Ausscheidung des Juden aus den lebenswichtigen Ständen und den Ämtern des Staates“.70 Ramm bekennt sich zur autoritären Rolle des Arztes als „Gesundheitsführer“ und zur moralischen Gesundheitspflicht des Einzelnen : „Es ist das bleibende Verdienst der Partei, dass sie das aus krassem Individualismus hergeleitete ‚Recht auf den eigenen Körper‘ in die sittliche ‚Pflicht zur Gesundheit‘ umprägte und diese als Forderung der nationalsozialistischen Weltanschauung herausstellte.“71 Neben der Zwangssterilisation – 1942 offenkundig längst eine Selbstverständlichkeit im ärztlichen Alltag geworden, wie sich aus der entsprechenden Passage herauslesen lässt – geht Ramm auch auf das „Problem der Euthanasie“ ein und fordert die Ärzteschaft offen auf, als „Wegbereiter“ für die Tötung unheilbar Kranker oder Behinderter zu wirken : „Diese lediglich vegetierenden Geschöpfe stellen eine schwere Belastung der Volksgemeinschaft dar, insofern sie nicht allein durch die verursachten Kosten den Lebensstandard ihrer übrigen Familienmitglieder herabdrücken und außerdem einen gesunden Menschen während der Dauer ihres Lebens zu ihrer Pflege benötigen.“72 Solch unmissverständliche Worte und insbesondere die unverhüllt ökonomische Begründung des Krankenmordes waren ungewöhnlich in jener Zeit. Umso bemerkenswerter, dass sie in ein Lehrbuch über ärztliche Ethik aufgenommen 67 Ausführlich zu Ramm siehe Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus, S. 101. 68 Vgl. Rudolf Ramm, Ärztliche Rechts - und Standeskunde. Der Arzt als Gesundheitserzieher, Berlin 1942. Nach Ansicht Robert N. Proctors war Ramm der „führende Nazi Medizinethiker“, Robert N. Proctor, Naziärzte, Rassenmedizin und „lebensunwertes Leben“ – Von der Ideologie zur „Euthanasie“. In : Andreas Frewer / Clemens Eickhoff ( Hg.), „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe - Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt a. M. 2000, S. 65–89, hier 65. 69 Ramm, Ärztliche Rechts - und Standeskunde, S. 46. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 148. 72 Ebd., S. 103 f.
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wurden. Kein Autor hat die Grundsätze ärztlicher Ethik im Sinne des Nationalsozialismus so umfassend und offen dargelegt wie Ramm. Die in seinem Buch propagierte Moral ordnete das einzelne Patientenschicksal kollektiven Interessen unter und schloss bestimmte Gruppen von Menschen, etwa Juden, Erbkranke oder Behinderte, von vornherein aus dem Kreis der moralischen Subjekte aus. Ob die Inhalte des Buches ein Grund für seine große Resonanz waren, lässt sich nicht belegen, sondern nur vermuten. Rezensenten und Leserschaft begrüßten das Werk jedenfalls einhellig; bereits 1943 wurde eine zweite Auf lage nötig, die ein Jahr später ebenfalls vergriffen war.73 Das Buch bildete überdies die Grundlage für den Unterricht in Ärztlicher Rechts - und Standeskunde und erreichte somit auch auf diesem Wege eine erhebliche Breitenwirkung. Die oben dargestellte politische Ausrichtung der Dozenten ergibt zusammen mit den Inhalten des Lehrbuches ein ungefähres Abbild von dem, was Medizinstudierende im Fach Ärztliche Rechts - und Standeskunde hörten bzw. lernten.
IV.
Medizin, Moral und Krieg – Schlussbetrachtung
1939 veröffentlichte der Arzt und Biologe Joachim Mrugowsky, zu dieser Zeit Dozent für Hygiene an der Berliner Universität, ein Buch über ärztliche Ethik. Er verband darin seine Auffassung nationalsozialistischer Medizinethik mit dem Werk Christoph Wilhelm Hufelands, einem bedeutenden Arzt des frühen 19. Jahrhunderts.74 Mrugowsky vollzog in diesem Werk nach, was in Deutschland seit 1933 in immer stärkerem Maße medizinische Praxis war : die Abkehr von einer universal gültigen, von christlicher Nächstenliebe geprägten Ethik hin zu einer partikularen Moralvorstellung, die bestimmten gesellschaftlichen Gruppen elementare Rechte verweigerte. Christliche Werte wurden in diesem Moralkonzept durch den verabsolutierten Wert des „Volkskörpers“ ersetzt.75 Die partikulare Moral ruhte auf der nationalsozialistischen Überzeugung von der natürlichen Ungleichheit der Menschen, welche auch eine unterschiedliche Bewertung und „Behandlung“ rechtfertigte.76 Die Kriterien für den Ausschluss aus dem schützenden Referenzrahmen dieser Moral waren prinzipiell fließend. Dieser Umbruch der in der Medizin geltenden Normen und Werte schuf neue Voraussetzungen für ärztliches Handeln. Ärzte waren berufen, den als Subjekt gedachten „Volkskörper“ nicht nur vor imaginierten Gefahren zu schützen, son73 Vgl. Papiergenehmigung und Planung 1944/45 ( Verlagsarchiv de Gruyter, Staatsbibliothek zu Berlin, Depositum 42, 213/2). 74 Vgl. Mrugowsky, Das ärztliche Ethos. 75 „Nicht mehr das Christentum, das viele Völker umspannt, enthält die oberste Maxime unseres Handelns. [ … ] Der Glaube an unser ewiges Volk ist unsere Weltanschauung, und ihm zuliebe haben wir den Glauben an eine zweitausendjährige Lehre verlassen.“, ebd., S. 8 f. 76 „Wir kennen heute Unterschiede in Bezug auf das menschliche Leben selbst. Es ist nicht durch sein Dasein selbst für unser Volk so wertvoll, dass sich sein Erhaltenbleiben lohnt, sondern nur, wenn es gesund und leistungsfähig ist.“, ebd., S. 10.
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dern ihn auch qualitativ, d. h. genetisch, permanent zu verbessern. Den praktischen Rahmen hierfür bildete eine Gesundheitspolitik, die rücksichtslos das individuelle Wohl dem kollektiven Interesse unterordnete. Wer nicht aus eigener Kraft zum Wohl der Nation beitragen konnte oder dies aufgrund rassenideologischer Kriterien nicht durfte, wurde zu teilweise schwersten gesundheitlichen Opfern gezwungen. Dazu konnte die Zwangssterilisation aus eugenischen Gründen oder die Ermordung aus kriegswirtschaftlichem Kalkül ebenso zählen wie die unfreiwillige Teilnahme an Menschenversuchen aufgrund eines übergeordneten Erkenntnisinteresses der Militärmedizin. Ärzte beteiligten sich mit erschreckender Bereitwilligkeit an diesen Verbrechen. Bei Zwangssterilisationen, der massenhaften Ermordung Kranker und Behinderter oder bei tödlichen Humanexperimenten in Konzentrationslagern waren sie jedoch keineswegs nur Ausführende, sondern handelten oftmals aus Eigeninitiative. Zu dieser Entwicklung haben weitere Aspekte beigetragen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs verschoben sich die ethischen Maßstäbe nochmals signifikant und die moralische Enthemmung schritt weiter voran. Der von Hans Mommsen eingeführte Begriff der kumulativen Radikalisierung lässt sich für die Kriegsjahre auch auf den Bereich der Medizin übertragen. Sowohl die Krankenmordaktionen als auch die Menschenversuche in Konzentrationslagern trugen in ihren Abläufen zunehmend anarchische und immer brutalere Züge. Dies korrespondierte anfangs noch mit einer ebensolchen Radikalisierung der medizinischen Ethik, welche die moralisch gedeckten Handlungsspielräume, zuletzt unter Berufung auf einen kruden Utilitarismus, immer größer werden ließ. Tödliche Humanexperimente und „wilde Euthanasie“ lassen sich jedoch nicht allein durch Moralkonzepte erklären. Die Praxis war hier der pervertierten ethischen Theorie vorausgeeilt. Andere, situative Faktoren traten hinzu. So nutzten beispielsweise aggressiv forschende Wissenschaftler schlicht den spezifischen Handlungsraum des Konzentrationslagers aus, um die moralisch extrem deregulierte Situation für ihre Zwecke zu nutzen. Auch eine Ethik der Pflichtübererfüllung, die auf der von Hans Frank formulierten, nationalsozialistischen Version des kategorischen Imperativs beruhte, konnte Eigeninitiativen her vorbringen oder befördern : „Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“77 Das Bemühen, sich den mutmaßlichen Willen Hitlers zu eigen zu machen, könnte einen möglichen Erklärungsansatz für das Verhalten der oben erwähnten Anstaltsleiter bieten, die ohne situative Zwänge und ohne Druck einer Befehlskette die Ermordung ihrer Patienten betrieben. Festzuhalten bleibt, dass sich die nationalsozialistische Medizin nicht durch die Abwesenheit von Moral definieren lässt. Es existierten vielmehr ethische
77 Hans Frank, Die Technik des Staates, Berlin 1942, S. 15 f. Vgl. auch Kershaws Modell des „Working towards the Führer“. Ian Kershaw, „Working towards the Führer.“ Reflections on the Nature of the Hitler Dictatorship. In : Contemporary European History, 2 (1993) 2, S. 103–118.
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Konzepte, die auf Werten basierten, die der nationalsozialistischen Ideologie entsprangen und bislang gültige moralische Maximen verdrängten. Dass sich einmal neue moralische Abgründe auftun könnten, erscheint nicht für alle Zeiten ausgeschlossen. Um mit Mitscherlich und Mielke zu sprechen : „Die sittlichen Normen sind ein Gebäude, das weiterhin auf vulkanischem Boden ruht.“78
78 Mitscherlich / Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, S. 7.
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„Gnadentod“ und Ökonomismus. Zu ethischen Rechtfertigungsmustern der NS - „Euthanasie“ Uwe Kaminsky Wie rechtfertigten die Nationalsozialisten ihre Massenmordaktionen ? Die Meinung, sie hätten wegen der Geheimhaltung der „Euthanasie“ und der Judenvernichtung keine Ethik besessen, sie seien nur gewissenlose Verbrecher gewesen, ist nicht haltbar. Insbesondere wenn die breite gesellschaftliche Mitwisserschaft und zum Teil auch Mittäterschaft auf Seiten der Ärzte, Juristen, des Pflegepersonals und der Verwaltungsbeamten in Rechnung gestellt wird, erscheint eine Reduktion auf das Erklärungsmuster krimineller Energie wenig erhellend zu sein. Auch die Unterstellung einer noch zu entdeckenden genuin nationalsozialistischen Gegen - Ethik, die sich unabhängig von vorhandenen Wertmustern in ideologischer Überhöhung ausgebildet hätte, erscheint als anderes Extrem wenig Erklärungskraft zu besitzen. Der vermittelnden These, dass für die Bereitschaft zum Mord nicht erst vorhandene Moralvorstellungen und Skrupel hatten überwunden werden müssen, folgen verschiedene Annäherungen an die nationalsozialistischen Massenverbrechen. So geht Harald Welzer unter Berufung auf Norbert Elias davon aus, dass „wir mit einer Gesellschaftsentwicklung konfrontiert sind, in der die Wertschätzung des menschlichen Lebens keineswegs von christlichen oder aufklärerischen Menschenbildern abhängt, sondern davon, ob dieses Leben als funktional oder dysfunktional für das Gesellschaftsmodell der machtüberlegenen Wir - Gruppe definiert wird“.1 Norbert Elias hat in seinen „Studien über die Deutschen“ vor allem auf den sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnden „Ehrenkanon“ abgehoben, der im deutschen Bürgertum weit vor einem „Moralkanon“ mit seinen humanitären Idealen Gültigkeit besaß.2 Zudem herrschte im Nationalsozialismus eine auf einer rassistischen Weltsicht aufgebaute Vorstellung von Über - und Unterordnung, der Relativität von Werten. Allerdings war die von verschiedenen nationalsozialistischen Protagonisten subjektiv als richtig anerkannte Vorstellung hinsichtlich einer Rechtferti1 2
Harald Welzer, Ver weilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, Tübingen 1997, S. 10. Vgl. Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990, S. 130 f.
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Uwe Kaminsky
gung zur Tötung Andersartiger keineswegs mehrheitsfähig, ja mehr noch, schädlich für eine auf einer charismatischen Legitimationsgrundlage ruhenden Führerherrschaft. Die angeführten Rechtfertigungen waren nicht originär nationalsozialistisch, sondern lehnten sich vielmehr an bereits existierende Debatten über z. B. Rassenhygiene und „Euthanasie“ an. Nachfolgend soll deshalb die Euthanasiedebatte in ihren Grundzügen und der Entwicklung ihrer Argumente seit der Jahrhundertwende skizziert werden. Die grundsätzliche Multifaktoralität, die für die verschiedenen NS - Euthanasieaktionen kennzeichnend ist, gilt auch für ihre ethischen Begründungen. Dennoch kristallisieren sich mit der Anknüpfung an die Metapher vom „Gnadentod“ und der im Krieg in den Vordergrund rückenden ökonomischen Motive zwei entscheidende Begründungen heraus, welche die eugenischen bzw. rassenhygienischen Begründungen und damit ideologische Alleinbegründungen in den Hintergrund treten ließen. Nachfolgend soll im Hinblick auf die dahinterstehenden ethischen Konzepte zunächst die Entwicklung der Debatten über die „Euthanasie“ seit der Jahrhundertwende skizziert werden. Das besondere Augenmerk liegt auf der Verschränkung mit der Eugenik - Debatte und deren Intensivierung in der Zeit des Nationalsozialismus. Vorhandene Widerstände bei den Kirchen als ethische Gegenposition gegen die Erlaubtheit einer Lebensvernichtung verdienen dabei Beachtung. Die Spontaneität der Durchsetzung der „Euthanasie“ im Krieg mit dem Argument eines vermeintlichen Notstandes soll zum Abschluss umschrieben sein. Vor allem die Betonung des Notstandsarguments bindet das Verhalten zurück an ethische Wertsetzungen, die auch vor wie nach dem Nationalsozialismus Geltung hatten.
I.
Die Entwicklung der „Euthanasie“ - Debatte in Deutschland (1895–1933)
„Euthanasie“ - Debatten wurden in Deutschland verstärkt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geführt. Die Schrift von Adolf Jost „Das Recht auf den Tod“ von 1895 und die Programmschrift von Karl Binding und Alfred E. Hoche „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aus dem Jahre 1920 markieren dabei erste Eskalationsstufen.3 3
Vgl. als Quellensammlungen : Gerd Grübler ( Hg.), Quellen zur deutschen Euthanasie Diskussion 1895–1941, Berlin 2007; Jochen - Christoph Kaiser / Kurt Nowak / Michael Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895–1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992. Als Darstellungen : Udo Benzenhöfer, Der gute Tod ? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, überarb. und aktualisierte Auf lage Göttingen 2009; Christian Merkel, „Tod den Idioten“ – Eugenik und Euthanasie in juristischer Rezeption vom Kaiserreich zur Hitlerzeit, Berlin 2006; Michael Schwartz, „Euthanasie“ - Debatten in Deutschland (1895–1945). In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998) 4, S. 617–665; ders., Eugenik und „Euthanasie“ : Die internationale Debatte und Praxis bis 1933/45. In : Klaus - Dietmar Henke
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„Gnadentod“ und Ökonomismus
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Angefangen mit einer Debatte über Sterbehilfe weitete sich diese in der Folge zur Frage der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aus. Wenngleich die Sterbehilfedebatte eher von Nutzenerwägungen gegenüber dem eigenen Leben unter dem Autonomieideal als von rassenhygienischen Begründungen getragen war, so war sie doch nicht ohne den gleichzeitig das Menschenbild verkürzenden selektionistischen Sozialdar winismus denkbar. Die im Hintergrund stehende Preisgabe der Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen bahnte einem verkürzten Menschenbild den Weg. Menschenleben wurden dabei unter Ablösung naturrechtlicher Begründungen zu Rechtsgütern, die mit anderen Rechtsgütern abgewogen werden konnten. Die utilitaristische Variante der Euthanasieidee formte sich eng verknüpft mit der Mitleidsidee aus.4 Die Ablehnung alles Transzendenten ließ jedes Leiden ohne Aussicht auf Genesung sinnlos erscheinen. Die Säkularisierung vorheriger christlich dominierter Werthorizonte stellte historisch eine wichtige Randbedingung für die Frage nach der „Euthanasie“ dar. Zunächst lag der Schwerpunkt dieser Debatte auf dem Recht des Individuums zur Selbstverfügung über das eigene Leben, dem der Staat per Gesetz Geltung verschaffen sollte. Angebunden war die Sterbehilfedebatte an die seit der Jahrhundertwende geführte juristische Diskussion über die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen. Diese galt als „privilegiertes Tötungsdelikt“, dessen Strafrahmen bis auf drei Jahre Gefängnis herunterreichte. Die Verfechter einer Sterbehilfe forderten eine Herabsetzung des Strafmaßes bzw. sogar die Straffreiheit der Tötung auf Verlangen. Es bleibt allerdings festzuhalten : Sterbehilfe, nicht die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, stand im Vordergrund. Trotzdem bedeutete das rechnerische Abwägen von Lebensglück und Lebensunglück die Einführung eines Rechnens in Lebenswerten. In dieser Entwicklung stellte die Entwertung von Menschenleben durch das Massentöten an den Fronten des Ersten Weltkrieges einen wichtigen Eskalationsschritt dar. Der Hinweis auf das Sterben im Kriege war auch zuvor bereits als Hintergrundargument immer wieder aufgetaucht, doch erfuhr diese Relativierung des Lebens nun eine enorme Aktualisierung. Nicht nur der Tod an der Front, das Erlebnis von Grenzsituationen zwischen Leben und Tod, sondern auch das Massensterben in den Heil - und Pflegeanstalten Deutschlands sowie die Überforderung und Ohnmacht der Ärzte in einem „Krieg, in dem man sich nicht mit dem Sterbenden aufhalten konnte, sondern sich denjenigen widmen
4
(Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008, S. 65–83. Vgl. Kurt Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und der „Euthanasie“ - Aktion, 2. Auf lage Göttingen 1980, S. 45–48, und ihm folgend Hans - Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945, Göttingen 1987, S. 106–114.
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Uwe Kaminsky
musste, die bei schwerer Verwundung noch Aussicht hatten zu leben“,5 wirkten auf die Debatte über Sterbehilfe und Euthanasie als Katalysator. Das Grauen des Krieges, wie es sich in der katastrophenmedizinischen Triage abbildete, verschob die Debatte im Schwerpunkt von der Sterbehilfe in selbstbestimmten Einzelfällen zu der umfassenden „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. „Der Weltkrieg, der Hekatomben der besten, eugenetisch tüchtigsten Menschen hinweggerafft hat, lässt uns weniger ängstlich als früher über die Vernichtung lebensunwerten Lebens denken“,6 schrieb 1923 der Berliner Jurist Alexander Elster. Die erstmals 1920 veröffentlichte Programmschrift des Strafrechtslehrers Karl Binding und des Psychiaters Alfred E. Hoche „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ stellte dann die Frage : „Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat ?“7 Die Antwort wurde zustimmend für drei Gruppen von Menschen gegeben. Erstens für „die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen“ mit einem „dringenden Wunsch nach Erlösung“, zweitens für die „unheilbar Blödsinnigen“ und drittens für Bewusstlose, die „wenn sie aus ihrer Bewusstlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden“.8 Für diese Gruppen wurde die rechtliche „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ gefordert. Seit dieser Schrift, die nachfolgend zu einer intensiven Debatte unter Juristen und Ärzten führte, galt der Euthanasiebegriff zunehmend als ein Oberbegriff, der die so unterschiedlichen Sachverhalte der Sterbehilfe wie der Lebensvernichtung umfasste.9 Bis Ende der 1920er Jahre bedeutete „Euthanasie“ schmerzlose Tötung und meinte auch die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In der Diskussion stellte die angestrebte rechtliche Regelung der Sterbehilfe ein Vehikel für die Ausweitung auf die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ dar. Die Liberalisierung der Sterbehilfe diente so dem antiliberalen Umschlag in ein Sterbegebot für als „lebensunwert“ erachtete Menschen.10 5 Ewald Meltzer, Das Problem der Abkürzung „lebensunwerten“ Lebens, Halle ( Saale ) 1925, S. 70. Allgemein Merkel, „Tod den Idioten“, S. 305–328. 6 Alexander Elster, Eugenetische Lebensbeseitigung. In : Archiv für Frauenkunde und Eugenetik, Sexualbiologie und Vererbungslehre, 9 (1923), S. 39–47, hier 39. 7 Karl Binding / Alfred E. Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920, S. 27. 8 Ebd., S. 29, 31, 33. 9 Siehe Michael Opielka, Psychiatrie in Deutschland auf dem Weg zur Vernichtung. In : Volk und Gesundheit. Heilen und vernichten im Nationalsozialismus. Hg. von der Projektgruppe „Volk und Gesundheit“, Tübingen 1982, S. 127–146, bes. 137–143. Vgl. auch Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 25–28. 10 Die praktische Relevanz der hier bezeichneten passiven Sterbehilfe wurde allerdings wohl übertrieben. Meltzer wies darauf hin, dass ihm in dreizehn Jahren Anstaltsleitung bei ca. 220 Todesfällen nur zwei Fälle bewusst seien, „in denen ich narkotische Mittel angewendet habe, um die beim Sterben bestehenden Beschwerden und Schmerzen zu lindern“ ( Meltzer, Das Problem der Abkürzung „lebensunwerten“ Lebens, S. 20).
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„Gnadentod“ und Ökonomismus
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Die Sterbehilfe war angesichts der Werterschütterungen des Ersten Weltkrieges für viele Ärzte wie Sozialpolitiker diskurswürdig geworden. Die ökonomischen Probleme des Weimarer Sozialstaates machten die Sterbehilfe für einige Diskutanten auch erweiterungsbedürftig und zwar in Richtung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Die Kosten der Pflege unheilbarer Geisteskranker erschienen vielen Verantwortlichen im Fürsorgewesen angesichts des wirtschaftlichen Elends der Gesunden als zu hoch. Ein Beispiel : Der Leiter der Bergischen Diakonie in Aprath, Paul Erfurth, gab in seinem Bericht über die Tagung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge am 7. und 8. März 1925 in Frankfurt die Stimmung der Teilnehmer wieder, die von der Vertreterin „einer ganz großen, jetzt verarmten Kommune“ ihm gegenüber formuliert wurde : „Ich war bei Bodelschwingh in Bethel. Dort sah ich einen 30 - jährigen Idioten in einem schönen Bett, gut gepflegt. Bei mir zu Haus liegen je 3 Waisenkinder, die normal sind, in einem Bett. Ich kann da nicht mehr mitkommen. Ich bin für Beseitigung solcher Elenden, dann können meine Waisenkinder besser liegen.“11 Erfurth, ein früher und überzeugter evangelischer Vertreter der Rassenhygiene, aber ein vehementer Gegner der „Euthanasie“,12 klagte über das Klima, das nach der Veröffentlichung des Buches von Binding und Hoche herrschte. „Die Leute die in Frankfurt redeten, waren zum Teil nicht Anhänger von Binding - Hoche, aber sie unterlagen unbewusst in der Tendenz zu sparen der Unterströmung jener Richtung.“13 Auf der Frankfurter Sitzung soll laut Erfurths Bericht gar der sächsische Ministerialrat Maier mitgeteilt haben, dass sein Ministerium Vorschläge zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ dem Reichsinnenministerium einreichen wolle. Die Betonung des ökonomischen Begründungsmusters im Rahmen der Krisenerfahrungen mit dem Wohlfahrtsstaat gilt es hierbei festzuhalten. Überhaupt intensivierten sich die Debatten über „Euthanasie“ immer dann, wenn die Kosten für die Fürsorge der vermeintlich „nutzlosen Esser“ in Krisenzeiten als zu hoch wahrgenommen wurden.14 11
Paul Erfurth, Zur Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. Februar 1924 und zur Verordnung über die Durchführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes vom 14. Februar 1924. In : Das Evangelische Rheinland, II /7 ( Juli 1925) 7, S. 87–89 ( teilweise abgedruckt in Günther van Norden, Das 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1990, S. 118–120), hier 88. Vgl. auch eine in ähnlichem Sinne argumentierende Weihnachtsbitte Erfurths 1931 ( Uwe Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil - und Pflegeanstalten 1933–1945, Köln 1995, S. 683 f.). 12 Zu Paul Erfurth (1873–1944) : Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland, S. 142–144, 299–301. 13 Ebd., S. 300. 14 Hier ist nicht nur auf die breite Rezeption der Schrift von Binding / Hoche in den Jahren 1921–1925 im Gefolge der Umwälzungen des Ersten Weltkriegs und der Hyperinflation hinzuweisen, sondern auch auf die vermehrten Publikationen seit der Weltwirtschaftskrise und der Herrschaft des Nationalsozialismus in den Jahren 1933–1936. Siehe eine chronologisch aufzählende Liste der vornehmlich juristischen Debattenteilnehmer bei Merkel, „Tod den Idioten“, S. 1–10.
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Uwe Kaminsky
Die Debatten über „Euthanasie“ und alle Argumente darin hatten weit vor der Zeit des Nationalsozialismus ihre Ausformung erhalten. „Euthanasie“ wurde kumulativ oder alternativ als Mittel zur Entlastung der Volkswirtschaft, als Akt der Barmherzigkeit („Gnadentod“) oder als eugenisches Instrument diskutiert.15 Ethisch handelte es sich dabei um die Mischung einer Individualethik und einer Kollektivethik. Der Schwerpunkt verlagerte sich bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung hin zu einer Kollektivethik, der sich das Individuum unterzuordnen hatte. Das „tödliche Mitleid“, das den „Akt der Barmherzigkeit“ dabei von der Selbstbestimmtheit zur Fremdbestimmtheit verschob, barg den Rest der Erinnerung an eine Individualethik, wie sie nachfolgend besonders in der Metapher des „Opfers für die Volksgemeinschaft“ ihren Ausdruck fand. Wer sich allerdings diesem ethischen Opfer - Imperativ nicht fügte, auf den galt es im Sinne einer höher stehenden Gemeinschaftsethik Zwang auszuüben, wie er dann auch 1933 im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ rechtlich kodifiziert wurde.16
II.
„Euthanasie“ - Debatten in der NS - Zeit (1933–1941)
Der Herrschaftsantritt des Nationalsozialismus war ein wichtiger Radikalisierungsschritt, der eine Durchsetzung der zu rechtfertigenden „Euthanasie“ praktisch beförderte. Hans - Walter Schmuhl hat in seiner systematisierenden Darstellung über „Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie“ die Zweigleisigkeit der Debatten über Rassenhygiene und über „Euthanasie“ beschrieben.17 Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich zum einen das rassenhygienische Paradigma mit einem Programm negativer Eugenik heraus. Auf diese Weise sollte Gesellschaftsgeschehen auf Naturgesetzlichkeiten zurückgeführt werden können, wobei eine Auslese ( Selektion ) des besten Erbgutes gewährleistet werden sollte. Als Methode zur Erreichung dieses Ziels galt neben der Förderung der Menschen mit für „hochwertig“ gehaltenem Erbgut die Fortpflanzungshinderung jener Menschen, die für „minderwertig“ erachtetes Erbgut besaßen. Die Herausbildung einer „eugenischen Ethik“, sei es als „Entwicklungsethik“ ( so der Philologe und Sozialdar winist Alexander Tille ) oder als „generative 15 So Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 115–125. 16 So auch ähnlich Andreas Frewer im Hinblick auf Emil Abderhalden : Andreas Frewer, Medizin und Moral in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Ethik“ unter Emil Abderhalden, Frankfurt a. M. 2000, S. 237 ff. 17 Siehe hierzu Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 29–126, und ähnliche Überblicksdarstellungen bei Gerhard Fichtner, Die Euthanasiediskussion in der Zeit der Weimarer Republik. In : Albin Eser ( Hg.), Suizid und Euthanasie als humanund sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart 1976, S. 24–40, und bei Jochen Fischer, Von der Utopie bis zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In : Hans Christoph von Hase ( Hg.), Evangelische Dokumente zur Ermordung der „unheilbar Kranken“ unter der nationalsozialistischen Herrschaft in den Jahren 1939 bis 1945, Stuttgart 1964, S. 35–65. Bei den letzteren fehlt allerdings die bei Schmuhl herausgearbeitete Zweigleisigkeit der Entwicklung von Rassenhygiene und Sterbehilfedebatte.
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Ethik“ ( so der Rassenhygieniker Wilhelm Schallmayer ), die „Pflichten zugunsten der Rasse“ und das Interesse gegenwärtiger Individuen zugunsten künftiger Generationen zurückstellten, fand ihren Fluchtpunkt in der Vorordnung der „Rasse als Erhaltungs - und Entwicklungseinheit des dauernden Lebens“ ( so Alfred Ploetz ) vor allen Werten.18 Zum Zweiten setzte in den 1890er Jahren eine Debatte um Tötung auf Verlangen und Sterbehilfe ein. Diese war allerdings eher von utilitaristischen Erwägungen als von rassenhygienischen Gesichtspunkten getragen. Der Wert des Lebens eines Individuums sowohl für sich als auch für die Gesellschaft wurde als Indikation für eine Tötung her vorgehoben. Adolf Jost, der in einer Streitschrift 1895 das „Recht auf den Tod“ einklagte, ging von Situationen eines Menschen aus, „in welcher das, worin er seinen Mitmenschen noch nützen kann, ein Minimum, das aber, was er unter seinem Leben noch zu leiden hat, ein Maximum“ sei. „Der Wert des menschlichen Lebens kann aber nicht bloß Null, sondern auch negativ werden.“19 Das Verbindende dieser beiden Entwicklungen kann in der Einschränkung des bis dahin für gültig befundenen Menschenbildes gesehen werden. Der im Hintergrund des rassenhygienischen Paradigmas stehende selektionistische Sozialdar winismus gab die christliche Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf, indem er nur bestimmte Menschentypen zulassen wollte. Ebenso beschränkten die Nutzenbetrachtungen des Menschen, die von „Würde“ und Menschenrechten absahen, das menschliche Dasein auf dessen Beitrag für die Gesellschaft. Dennoch stand weder die „Euthanasie“ - Idee im Zentru m der rassenhygienischen Programmatik – hier galten Konzepte der Zeugungshinderung durch Eheverbote, Asylierung und später Sterilisierung als vielversprechender – noch spielten in der Debatte um Tötung auf Verlangen oder Sterbehilfe rassenhygienische Überlegungen eine durchschlagende Rolle. Dennoch existiert ein diskursgeschichtlicher Zusammenhang der Debatten über „Eugenik“ und „Euthanasie“, die eben nicht „zwei unterschiedliche Paar Schuhe“ gewesen sind.20 Die seit 1933 verwirklichte Zwangssterilisation war ein Unrecht
18 Vgl. Peter Weingart, Eugenische Utopien. Entwürfe für die Rationalisierung der menschlichen Entwicklung. In : Harald Welzer ( Hg.), Nationalsozialismus und Moderne, Tübingen 1993, S. 166–183, bes. 175–178. Dennoch erlangten laut Weingart die evolutionären Utopien und Ethiken nicht den Status einer Quasi - Religion. 19 Adolf Jost, Das Recht auf den Tod. Sociale Studie, Göttingen 1895, S. 6 und 26. Zur Nachzeichnung der juristischen Debatte über die Euthanasie Vera Große - Vehne, Tötung auf Verlangen ( § 216 StGB ), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, Berlin 2005. Christian Merkel, „Tod den Idioten“. 20 Siehe die Kritik an der allzu engen Verschränkung von Eugenik und „Euthanasie“ von Michael Schwartz, ‚Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie‘ ? Kritische Anfragen an eine These Hans - Walter Schmuhls. In : Westfälische Forschungen, 46 (1996), S. 604–622, und die Antwort von Hans - Walter Schmuhl, Eugenik und ‚Euthanasie‘ – Zwei Paar Schuhe ? Eine Antwort auf Michael Schwartz. In : Westfälische Forschungen, 47 (1997), S. 757–762. Zuletzt noch Hans - Walter Schmuhl, Die Genesis der „Euthanasie“. Interpretationsansätze. In : Maike Rotzoll u.a. ( Hg.), Die nationalsozialistische
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ganz eigener Art und kann nicht nur als Vorstufe zur „Euthanasie“ wahrgenommen werden.21 In der Forschung sind sich die meisten Autoren einig, dass besonders die negativ eugenische Gesetzgebung des NS - Staates den Übergang von der Verhütung durch Zwangssterilisation zur Vernichtung durch „Euthanasie“ erleichterte. Die jedoch auch heute noch vielerorts anzutreffenden Vorstellungen eines programmatischen Voranschreitens von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ erweisen sich angesichts empirischer Forschungen als zu undifferenziert.22 Die wichtigste Verbindungslinie zwischen Eugenik und „Euthanasie“ war die unter sozialdarwinistischen Prämissen stehende „Biologisierung des Sozialen“. Dies führte zur Entwertung des Grundsatzes, wonach alle Menschen gleiche Rechte besitzen und seiner Ersetzung durch utilitaristisches Nutzenkalkül.23 Die Akzeptanz der These von der Erblichkeit psychischer Erkrankungen förderte sicher die Übernahme rassenhygienischer Zwangsmaßnahmen, doch die Ermordung psychisch Kranker beruhte nicht auf der vermeintlichen Erblichkeit ihrer Leiden. Dennoch besaß die Erbgesundheitspolitik des NS - Staates einen „starken Drang zur Überkompensation“,24 eine „gleichsam überschießende Radikalität“,25 was an ihren Rändern die Grenzen zwischen Verhütung und Vernichtung aufweichte. Dies betraf einmal den in der Zwangssterilisation sichtbaren Übergang von einer traditionellen Form der Diskriminierung in den öffentlichen Feldern von Wirtschaft, Politik und Kultur zu einer modernen Form des Eingriffs in den Privatbereich sowie in Leib und Leben. Kennzeichnend hierfür war die Einführung der eugenischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch 1935, die den Übergang von der Verhütung „erbkranken“ Lebens über die Vernichtung ungeborenen Lebens zur Vernichtung geborenen und erwachsenen
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„Euthanasie“ - Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010, S. 66–73. Dies hat Gisela Bock in einer großen Studie über die ideologischen Hintergründe, das politische Vorgehen und die sozialen Betroffenheiten der Zwangssterilisation herausgearbeitet : Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Untersuchungen zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, bes. S. 348–351, 380–383. Ferner Christian Gansmüller, Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchführung und Durchsetzung, Köln 1987, bes. S. 34 ff. Siehe gerade mit Blick auf internationale Entwicklungen der Eugenik Michael Schwartz, Medizinische Tyrannei : Eugenisches Denken und Handeln in international vergleichender Perspektive (1900–1945). In : Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 7 (2005/ 2006), S. 37–54; ders., Medizinische Tyrannei und die Kirchen. Christliche Haltungen zu Eugenik und „Euthanasie“ in international vergleichender Perspektive (1890–1945). In : Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte, 74 (2005), S. 28–53. Ferner die Beiträge in : Regina Wecker u. a ( Hg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik ? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Wien 2009. Siehe dazu Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 527 ff. Kurt Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“, S. 38. Schmuhl, Eugenik und ‚Euthanasie‘ – Zwei Paar Schuhe ?, S. 761.
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Lebens erleichterte.26 Die Akzeptanz der Wissenschaft von der Eugenik und der ausgrenzenden Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus senkte zweifellos die Hemmschwelle zur Tötung, vor allem innerhalb der psychiatrischen Anstalten.27 Hier kam es gerade bei den Versuchen der Verschmelzung von Biowissenschaften mit Biopolitik zu charakteristischen „Grenzüberschreitungen“, was Hans - Walter Schmuhl anhand der Geschichte des „Kaiser - Wilhelm - Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ detailliert nachgewiesen hat.28 Die staatliche Institutionalisierung der Rassenhygiene war nur unter den Bedingungen des Nationalsozialismus möglich.29 Die polykratische Struktur, also das Vorhandensein verschiedener konkurrierender Herrschaftsträger, förderte Radikalisierungen auf allen Ebenen. Das Neben - und Gegeneinander konkurrierender Machtblöcke auf staatlichem und parteilichem Gebiet kurbelte den Kampf um Sonderbevollmächtigungen und die „Gesundheitsführung“ des NS Staates an.30 So führte der Konflikt zwischen staatlicher und parteilicher Gesundheitsbürokratie 1936/37 zu Beratungen über eine Änderung des Zwangssterilisationsgesetzes, was die Bildung eines „Reichsausschusses für Erbgesundheitsfragen“ zur Folge hatte. Dieses Expertengremium zur Entscheidung strittiger Fälle stellte die Vorform einer Organisation für die spätere „Kindereuthanasie“ und die „Euthanasie“ an Anstaltspatienten dar. Hier sammelten sich radikale Vertreter der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik und zugleich eindeutige Befür worter der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Konkrete Pläne zu einer Kindermordaktion, die von langer Hand vorbereitet gewesen wäre, lassen sich allerdings bis heute nicht nachweisen, hier fehlen empirische Belege. So war also das eugenische Argument, das im Nationalsozialismus soviel Aufwind erhielt, dennoch keines, das einen Automatismus zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in sich getragen hätte. Gerade Michael Schwartz hat in ver26 Vgl. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, S. 348–349; dies., Krankenmord, Judenmord und nationalsozialistische Rassenpolitik : Überlegungen zu einigen neueren Forschungshypothesen. In : Frank Bajohr / Werner Johe / Uwe Lohalm ( Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, S. 285–306, hier 302. 27 Vgl. Peter Weingart, Eugenik – Eine angewandte Wissenschaft. Utopien der Menschenzüchtung zwischen Wissenschaftsentwicklung und Politik. In : Peter Lundgreen ( Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1985, S. 314–349, bes. 331. 28 Vgl. Hans - Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser - Wilhelm - Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005. 29 So Bock, Krankenmord, Judenmord und nationalsozialistische Rassenpolitik, S. 292. 30 Vgl. Hans - Walter Schmuhl, Sterilisation, „Euthanasie“, „Endlösung“. Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft. In : Norbert Frei ( Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS - Zeit, München 1991, S. 295–308. Zur „Gesundheitsführung“ siehe Michael H. Kater, Die „Gesundheitsführung“ des Deutschen Volkes. In : Medizinhistorisches Journal, 18 (1983), S. 349–375; Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003.
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schiedenen Studien darauf hingewiesen, dass die Utopie einer vermeintlich humanen eugenischen Umgestaltung der Gesellschaft durch Sterilisation der „Erbkranken“ gerade auch gegen die „Euthanasie“ gewendet werden konnte.31 Stefan Kühl hat als Erklärung für die Mitwirkung verschiedener ausgewiesener Eugeniker an der NS - “Euthanasie“ die Enttäuschung über den Krieg mit seinen kontraselektorischen Wirkungen benannt, was dann ein entsprechendes Gegenwirken in deren moralischen Kosmos als eine Art „Friedenspolitik“ gerechtfertigt hätte.32 Ganz im Gegenteil war die Konnotation oder gar Gleichsetzung der Eugenik mit der „Euthanasie“, auf welche viele gerade konservative Kritiker immer hinwiesen,33 so schädlich für die Propagierung der Erbgesundheitspolitik und die Durchsetzung der Zwangssterilisation, dass von NS - Vertretern vehement das Ziel der Schaffung einer Euthanasieregelung in den Anfangsjahren der NS - Herrschaft abgeleugnet wurde.34 Dies hatte seinen Grund nicht nur in taktischen Rücksichtnahmen, sondern in der anfänglich noch unklaren Position des NS - Regimes zum Krankenmord. Die auch auf nationalsozialistischer Seite uneinigen Positionen verschiedener NS - Vertreter glichen sich auch in der Folge nicht an. Der Leiter des Referats Gesundheitsfürsorge im Centralausschuss für Innere Mission, Hans Harmsen, wies im Juni 1934 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Gesundheitsfürsorge“ darauf hin, dass im Rahmen der Erörterung des Zwangssterilisationsgesetzes häufig „offenbar aus Unkenntnis – die Frage der Sterilisierung mit der Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens in Zusammenhang gebracht“ werde. Dagegen betonte er unter Hinweis auf eine Rede von Reichsärzteführer Gerhard Wagner : „Ebenso wie die Kirche und die I . M. den zeitweilig erhobenen Forderungen zur Vernichtung lebensunwerten Lebens ablehnend gegenüberstehen, gilt das gleiche für die staatlichen Stellen und die Partei.“35 Noch Ende 1936 legte die Filmabteilung des Reichspropagan31 Vgl. Schwartz, „Euthanasie“ - Debatten in Deutschland, S. 660–664. 32 Vgl. Stefan Kühl, The Relationship between Eugenics and the So - Called ‚Euthanasia Action‘ in Nazi Germany. A Eugenically Motivated Peace Policy and the killing of the Mentally Handicapped during the Second World War. In : Margit Szölliösi - Janze ( Hg.), Science and the Third Reich, Oxford 2001, S. 185–210. 33 So z. B. Paul - Gerhard Braune 1933. Vgl. Uwe Kaminsky, „Wer ist gemeinschaftsunfähig?“ Paul Gerhard Braune, die Rassenhygiene und die NS - Euthanasie. In : Jan Cantow / Jochen - Christoph Kaiser ( Hg.), Paul Gerhard Braune (1887–1954). Ein Mann der Kirche und Diakonie in schwieriger Zeit, Stuttgart 2005, S. 114–139, bes. 115–122. 34 So sah sich der NSDAP - Landtagsabgeordnete Leonardo Conti, späterer „Reichsgesundheitsführer“, noch Anfang 1933 in einer Gegendarstellung in der Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ verpflichtet, die Pflege unheilbar Kranker und erblich belasteter Kinder als „ein Gebot der Volkszusammengehörigkeit und der Menschenliebe“ zu versprechen, um den Vor wurf der Befür wortung der „Euthanasie“ zu begegnen. Vgl. Schwartz, „Euthanasie“ - Debatten in Deutschland, S. 630 f.; Hans - Walter Schmuhl, Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus und der „Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti. In : Klaus - Dietmar Henke ( Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008, S. 101–117, bes. 109 f. 35 Hans Harmsen, Sterilisierung – Vernichtung lebensunwerten Lebens. In : Gesundheitsfürsorge, 8 (1934), S. 125.
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daministeriums ihr Veto gegen einen geplanten Sterbehilfe - Spielfilm mit dem Titel „Verpfuschtes Leben“ ein, weil die „Euthanasie“ rechtswidrig sei.36 Der vermeintliche Wille Hitlers, der im polykratischen NS - Herrschaftssystem immer als letztentscheidend galt, war in dieser Hinsicht bis 1939 nicht explizit. In seiner Schrift „Mein Kampf“ sprach er eher von einer Beschränkung der Fortpflanzung der in seinen Augen „Minder wertigen“ als von der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.37 Dennoch delegitimierten seine Ausführungen über die Ausmerze alles Kranken das Lebensrecht kranker und behinderter Menschen. Dies wurde in entsprechenden Propagandafilmen des „Rassenpolitischen Amtes“ wie „Die Sünden der Väter“ (1935), „Abseits vom Wege“ (1935), „Erbkrank“ (1936), „Was Du ererbet ...“ (1936) oder „Opfer der Vergangenheit“ (1937) auch umgesetzt, allerdings zunächst z. T. nur als parteiinternes Schulungsmaterial und mit begrenzter öffentlicher Wirkung.38 In diesen Filmen, wie auch in einem von der Euthanasiezentrale seit Ende 1939 geplanten „Kultur und Dokumentarfilm“ verbanden sich Abscheu durch die Präsentation von „Ballastexistenzen“ und das Kostenargument, um die „Euthanasie“ moralisch zu legitimieren und propagieren. Dennoch hatten die Filme wohl keinen Einfluss auf die Entscheidung für die seit dem Frühjahr 1939 anlaufende NS - „Euthanasie“. Erst der 1941 gestartete Spielfilm „Ich klage an“, basierend auf der Briefromanvorlage von Hellmuth Unger, thematisierte öffentlichkeitswirksam die Frage der Sterbehilfe und auch der „Euthanasie“. Der Film war erst seit dem Herbst 1940, als die Proteste und Widerstände gegen die Meldebogenerfassung und die „Euthanasie“ sich bemerkbar machten, geplant und umgesetzt worden.39 Auch in juristischen Schriften zum Themenkomplex „Euthanasie“ wurde der Wandel des Klimas seit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus deutlich.40 Die zuvor bereits vorhandenen Stimmen für eine Freigabe „der Ver36 Vgl. Karl - Heinz Roth, Filmpropaganda für die Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im ‚Dritten Reich‘. In : Götz Aly ( Hg.), Reform und Gewissen. ‚Euthanasie‘ im Dienst des Fortschritts, Berlin ( West ) 1985, S. 125–193, hier 129. Ähnlich zurückhaltend waren die Presseanweisungen für die Besprechung von Ungers Roman „Sendung und Gewissen“ ( vgl. Claudia Sybille Kiessling, Dr. med. Hellmuth Unger [1891–1953]. Dichterarzt und ärztlicher Pressepolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Husum 1999, bes. S. 75). 37 Vgl. die in der Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt a. M. gegen Dr. Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 zusammengestellten Passagen in : Thomas Vormbaum ( Hg.), „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt / M. gegen Dr. Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962, Berlin 2005, S. 14–16. Ähnlich auch in Hitler Abschlussrede vor dem Nürnberger Parteitag 1929 : „Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700 000 bis 800 000 der Schwächsten beseitigt, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein“ ( Völkischer Beobachter vom 7. 8. 1929, zit. nach Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, S. 24). 38 Vgl. Roth, Filmpropaganda für die Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im ‚Dritten Reich‘, S. 129–132. 39 Vgl. ebd., S. 132–147. 40 Vgl. Schwartz, „Euthanasie“ - Debatten in Deutschland, S. 644 ff.; Merkel, „Tod den Idioten“, S. 277–281.
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nichtung lebensunwerten Lebens“ traten nun offener zu Tage. Ein frühes Beispiel kann in der Denkschrift des preußischen Justizministers Hanns Kerrl vom Oktober 1933 gesehen werden, der die Frage der „Euthanasie“ dem Staat rechtspolitisch zur Regelung überlassen wollte. Zwar wurde dieser Vorschlag von den konservativen Juristen um Reichsjustizminister Gürtner in der amtlichen Strafrechtskommission in den Jahren 1934/35 abgewiesen, doch verkehrte sich die Mehrheitsposition in der Kommission bis August 1939 bereits in eine gegenteilige Empfehlung für einen Gesetzentwurf : „Das Leben eines Menschen, welcher infolge unheilbarer Geisteskrankheit dauernder Ver wahrung bedarf, und der im Leben nicht zu bestehen vermag, kann durch ärztliche Maßnahmen unmerklich schmerzlos für ihn vorzeitig beendet werden.“41 Gesetzesvorschläge, wie die hier angedeuteten, wurden auch noch in den Jahren diskutiert, als der Massenmord an psychisch Kranken und Behinderten längst angefangen hatte. Die Versuche, eine gesetzliche Regelung zur „Euthanasie“ zu schaffen, auf die insbesondere die beteiligten Mediziner aus Gründen der eigenen Absicherung drängten, liefen noch bis zum Herbst 1940, als Hitler diesen Bestrebungen eine Absage erteilte.42 Während der gesamten Herrschaftsdauer des Nationalsozialismus blieb die „Euthanasie“ formal strafbar. Nur durch die geheimzuhaltende Führerermächtigung war sie vermeintlich legalisiert.43 Sie war damit in jenen Bereich des nationalsozialistischen Maßnahmenstaates abgedrängt, der sich gerade unter den Kriegsbedingungen immer mehr auf Kosten des Normenstaates ausweitete.
III.
Die Ablehnung der „Euthanasie“ durch die Kirchen
Die Verletzung des biblischen Tötungsverbotes war auch in der Zeit des Nationalsozialismus nicht umstandslos möglich. Folgt man einer Deutung der NS Herrschaft, die im Sinne Max Webers eine charismatische Legitimationsbasis
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Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 291–297; Schwartz, „Euthanasie“ - Debatten in Deutschland, S. 656 f. 42 Bereits im Sommer 1940 teilte Reichsjustizminister Gürtner in einem Schreiben an Reichskanzleichef Lammers mit, dass Hitler ihm gegenüber eine gesetzliche Regelung ausgeschlossen habe ( Alexander Mitscherlich / Fred Mielke ( Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, 2. Auf lage Frankfurt a. M. 1960, S. 201). Siehe Karl - Heinz Roth / Götz Aly, Die Diskussion über die Legalisierung der nationalsozialistischen Anstaltsmorde in den Jahren 1938–1941. In : Karl - Heinz Roth (Hg.), Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“, Berlin ( West ) 1984, S. 101–179. 43 Diese Scheinlegalität wurde in verschiedenen Verfahren in der Nachkriegszeit festgestellt. Neuerdings plädiert der Jurist Friedrich Dencker dafür, Hitlers Geheimerlass als zeitgenössisch geltendes Recht zu betrachten und die Verurteilungen der Nachkriegszeit als verschleierte Rückwirkung eines neuen ( politisch notwendigen ) Rechts zu begreifen. Vgl. Friedrich Dencker, Strafverfolgung der Euthanasie - Täter nach 1945. In: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 7 (2005/2006), S. 113–124.
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benötigte,44 so waren offene Normbrüche nur mit guten Gründen moralisch zu rechtfertigen. Insbesondere die christlichen Kirchen waren entschiedene Gegner jeder Form der „Euthanasie“. Auf protestantischer Seite gab es durch den seit 1931 bestehenden eugenischen Ausschuss der Inneren Mission ( seit 1934 „Ständiger Ausschuss für Rassenpflege und Rassenhygiene“) den Versuch, die Erbgesundheitspolitik mitzugestalten und insbesondere Weiterungen hinsichtlich einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zu verhindern.45 Die Einführung der eugenischen Indikation für den Schwangerschaftsabbruch 1935, die man als Dammbruch hin zur Lebensvernichtung wahrnahm, wurde bereits im Vorfeld in Form einer öffentlichen Erklärung kritisiert, ohne die Umsetzung allerdings verhindern zu können. Auf katholischer Seite galt ohnehin eine Gleichsetzung von Schwangerschaftsunterbrechung und Lebensvernichtung, die beide aus naturrechtlichen Gründen abgelehnt wurden.46 Die 1936/37 wieder anhebende Debatte über die „Euthanasie“ wurde in dem protestantischen Eugenikforum aufmerksam wahrgenommen. Auf einer Sitzung im Sommer 1937 führte der Medizinalrat Ewald Meltzer, der 1925 mit einer vehementen Kritik an dem seit 1920 die Debatte über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ bestimmenden Buches von Binding und Hoche hervorgetreten war, noch einmal seine Position gegen eine „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aus. Dabei äußerte er ebenso wie schon 1925 in seiner euthanasiekritischen Schrift, „wenn 1916 angeordnet worden wäre, dass die Idioten auf sanftem Wege aus dem Leben kommen müssten, so würde man schon damals den Notstandsparagraphen habe anwenden können. Das ist wohl von dem neuen Strafrecht beabsichtigt. Es steht da, die Vernichtung interessiert uns hier nicht, sie wird einer besonderen Verordnung vorbehalten. Da würde ich in schweren Fällen von Lebensmittelknappheit oder wo dringend Räume gebraucht werden 44 So Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. 45 Vgl. zeitgenössisch : Hans Harmsen, Die Ver wirklichung eugenetischer Forderungen innerhalb der evangelischen Liebestätigkeit. In : Hans Roemer ( Hg.), Bericht über die Zweite Deutsche Tagung für psychische Hygiene in Bonn am 21. Mai 1932 mit dem Hauptthema : Die eugenischen Aufgaben der psychischen Hygiene, Berlin 1932, S. 83– 86, hier 86 : „Die betonte, rein wirtschaftlich zweckvolle Einstellung der Eugenik übersieht die tiefen Werte und die Bedeutung, die das Leiden in dieser Welt als Schule der Barmherzigkeit und zur Weckung der menschlichen Liebeskräfte hat. Es erscheint bedenklich, wenn die eugenetischen Maßnahmen nicht tiefer begründet werden, als in dem bloßen Ziel, die Wohlfahrtslasten zu vermindern, d. h. mit reinen Nützlichkeitserwägungen.“ Vgl. auch die Einschätzungen bei Jochen - Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945, München 1989, S. 358–359, 365–366. Ähnlich mit Blick auf die Treysaer Erklärung auch Kurt Nowak, Sterilisation, Krankenmord und Innere Mission im „Dritten Reich“. In : Achim Thom / Gennadij I. Caregorodcev ( Hg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin 1989, S. 167–177, hier 171. 46 Vgl. Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Pointiert Ingrid Richter, Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn 2001, S. 140–176 und 493– 510; Hans - Walter Schmuhl, Die Katholische Kirche und die „Euthanasie“. In : Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 7 (2005/2006), S. 55–63.
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für Verwundete, solchen Schritt begreifen. Der Gesunde und Kräftigste muss hinaus, da sollte auch der Kranke seinen Zoll dem Vaterland zahlen. In solchem Fall würde ich es für erlaubt [ halten ]. Gott gebe, dass wir niemals in solche schwere Lage kommen.“47 Meltzer, der sich dabei auf den Strafrechtsausschuss bezog, machte eine Wertgliederung deutlich, die in Notstandssituationen durchaus Zustimmung zu einer Vernichtung der „Kranken“ signalisierte. Damit wies Meltzer, der diese Meinung auch in publizierter Form vertrat,48 auf eine konsensfähige Bedingung für konservativ - christliche Eliten hin. Die SS versuchte im Vorfeld oder angesichts der laufenden „Aktion“ – hier ist die Datierung nicht sicher – ein Gutachten des katholischen Moraltheologen Josef Mayer über die Euthanasie zu erhalten.49 Mayer galt offenbar aufgrund seiner Dissertation im Jahre 1927 über die „Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker“ als vermeintlicher Befürworter der „Euthanasie“, wurde ihm doch in der zeitgenössischen Diskussion vorgeworfen, dass sein Argument eines Notstandsrechts der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen, das Eugenik rechtfertigte, auch ein Tötungsrecht umfassen könnte.50 Überliefert ist ein Gutachten unter dem Namen Erich Warmund mit dem Titel „Euthanasie im Lichte der katholischen Moral und Praxis“, das Mayer zugeschrieben wird.51 Es war wohl erst Mitte 1940 erstmalig in einer Kurzform fertig und konnte so den Beginn der Mordaktion nicht mehr rechtfertigen. Dennoch markiert es das auf Seiten der nationalsozialistischen Befürworter der „Euthanasie“ gesehene Einfallstor für eine ethische Rechtfertigung der „Euthanasie“ : den Notstand. Ähnlich war eine offene Befür wortung der „Euthanasie“ auf evangelischer Seite nur bei Außenseitern feststellbar. Einmal ist dabei an die durch Vortragsmanuskripte belegte Haltung des Chefarztes der Neuendettelsauer Anstalten, Rudolph Boeckh, aus dem Frühjahr 1939, zu denken, der dem Staat das Recht
47 Wortprotokoll vom 14. 4. 1937 ( ADW CA / G 1601/1, Bl. 91–96, hier 92–93). Vgl. auch Schwartz, „Euthanasie“ - Debatten in Deutschland, S. 650–654. Auch zit. bei Ernst Klee, „Die SA Jesu Christi“. Die Kirche im Banne Hitlers, Frankfurt a. M. 1989, S. 97. 48 Vgl. Ewald Meltzer, Die Euthanasie, die Heiligkeit des Lebens und das kommende Strafrecht. In : Christliche Volkswacht, (1936), S. 135–143. 49 Laut Aussage des SD - Mitarbeiters Albert Hartl 1967 vor dem Frankfurter Schwurgericht sollte der Auftrag dazu von Hitler ausgegangen sein, der aufgrund der in dem Gutachten nicht konsequenten Ablehnung die „Euthanasie“ praktisch eingeleitet habe. Zur Problematik des Stellenwerts dieser Aussage siehe Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002, S. 114–116; Richter, Katholizismus und Eugenik, S. 502–507. 50 Vgl. Josef Mayer, Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker. Studien zur katholischen Sozial - und Wirtschaftsethik, Freiburg i. Brsg. 1927. Zur Debatte Richter, Katholizismus und Eugenik, S. 497–502. 51 Vgl. Udo Benzenhöfer / Karin Finsterbusch, Moraltheologie pro „NS - Euthanasie“. Studien zu einem „Gutachten“ (1940) von Prof. Josef Mayer mit Edition des Textes, Hannover 1998. Zur fraglichen Autorenschaft und gleichwohl großen „Nähe Mayers zur proeuthanatischen Grundaussage des ‚Gutachtens‘“ siehe Richter, Katholizismus und Eugenik, S. 507–509.
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zur Tötung zugestehen wollte.52 Sehr viel unbequemer war das Buch des Theologen Wolfgang Stroothenke über „Erbpflege und Christentum“, das allerdings erst 1940 veröffentlicht wurde, galt es doch als die Äußerung eines evangelischen Theologen.53 Der Theologe befürwortete „Euthanasie“ in einem staatlich geregelten Verfahren in Fällen schwerer unheilbarer Krankheit. Die Begründung Stroothenkes für „Euthanasie“ – der Mensch habe das Recht sich sinnlosem Leid zu entziehen – wurde von dem ebenfalls sich mit der Materie auskennenden Bremer Anstaltsleiter Bodo Heyne in einer etwas abgelegenen Rezension mit dem vieldeutigen Satz kommentiert : „Welch bedenkliche Konsequenzen dieser im Grunde individualistische Grundsatz haben kann, dessen ist sich der Vf. anscheinend nicht bewusst.“54 Zu jenem Zeitpunkt liefen bereits verschiedene Widerstandsversuche gegen die im Frühjahr / Sommer 1940 bekannt werdenden Krankenmordaktionen.55 Auch in den Versammlungen der Bekennenden Kirche und in extra hierfür erstellten Gutachten von Hermann Diem, Ernst Wilm oder Heinrich Vogel aus den Jahren 1940 bis 1943 wurde die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in jeder Hinsicht abgelehnt.56 Dass man dennoch 52 Die Vorträge ( sofern sie gehalten worden sind ) hatten allerdings eher eine geringe Reichweite. Siehe die Beiträge von Hans Rößler, Die „Euthanasie“ - Diskussion in Neuendettelsau 1937–1939. In : Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte, 55 (1988), S. 199–208, und ders., Ein neues Dokument zur „Euthanasie“ - Diskussion in Neuendettelsau 1939. In : Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte, 57 (1988), S. 87–91, sowie Christine - Ruth Müller, Die Neuendettelsauer Anstalten und die Verlegung der Pfleglinge. In: Christine - Ruth Müller / Hans - Ludwig Siemen ( Hg.), Warum sie sterben mußten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im „Dritten Reich“, Neustadt a. d. Aisch 1991, S. 54–58. In einem auf den 23. Februar 1939 datierten Entwurf „Zur Euthanasie - Frage“ sprach er sich in Anlehnung an die Schwangerschaftsunterbrechung für die Berechtigung der „Euthanasie“ in Einzelfällen aus. „Euthanasie ist die letzte Konsequenz der Eugenik“ ( Rößler, Ein neues Dokument zur „Euthanasie“ - Diskussion in Neuendettelsau 1939, S. 89). Entgegen der Einordnung des Vortrages „Über die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in das Jahr 1937 durch Rößler könnte aufgrund des Vortragstermins vor dem Ärzteausschuss dieser Text in den März 1939 datiert werden. 53 Vgl. Wolfgang Stroothenke, Erbpflege und Christentum. Fragen der Sterilisation, Aufnordung, Euthanasie, Ehe, Leipzig 1940. Zur Einschätzung Stroothenkes in der Inneren Mission siehe Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland, S. 313. 54 Bodo Heyne, Bücherschau. In : Wächterruf. Evangelische Zeitschrift für die Volkssittlichkeit und Volkskraft, 56 (1941) 1, S. 13–14 ( Umschlagdeckel ). 55 Siehe Uwe Kaminsky, Die Evangelische Kirche und der Widerstand gegen die „Euthanasie“. In : Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 7 (2005/2006), S. 64–88; Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“, S. 131–158. 56 Vgl. Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“, S. 152–158. Siehe Ernst Wilm, Referat über die Stellungnahme der Kirche zur Tötung der „unheilbar Kranken“. In : Hans Christoph von Hase ( Hg.), Evangelische Dokumente zur Ermordung der „unheilbar Kranken“ unter der nationalsozialistischen Herrschaft in den Jahren 1939–1945, Stuttgart 1964, S. 23–27 ( siehe auch Landeskirchliches Archiv Bielefeld, Bielefelder Archiv zum Kirchenkampf, Sammlung Wilhelm Niemöller, Nr. 5.1/374 F. 1 Bl. 37–41). Hermann Diem, Das Problem des „lebensunwerten Lebens“ in der katholischen und in der evangelischen Ethik [1940]. In : ders., Sine vi – sed verbo. Aufsätze, Vorträge, Voten. Aus Anlaß der Vollendung seines 65. Lebensjahres am 2. Febru-
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auf der Ebene der direkt damit konfrontierten Anstalten auf z. B. evangelischer Seite auch nach dem Wissen um die Vorgänge seit dem Sommer 1940 nur eine „gebrochene Ver weigerungshandlung“ gegen die Ausfüllung der Meldebögen feststellen konnte, hatte mit der Staatsloyalität und der Hoffnung auf ein Ende dieser gegen Sitte und Moral verstoßenden Maßnahme zu tun.57 Dennoch bleibt zu konstatieren, dass die hauptsächlichen Widersacher der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in der ethischen Bewertung auf Seiten der Kirchen standen.
IV.
Die Spontaneität der „Euthanasie“ als „Maßnahme“ und „Aktion“
Der vermeintliche Wille behinderter und psychisch kranker Menschen, denen „Sterbehilfe“ bzw. der „Gnadentod“ zu leisten sei, bezog sich auf die Idee der Autonomie des Individuums, die auszuüben es nicht fähig sei. Zugleich war die individuelle Sterbehilfe in der Debatte der 1920er und 1930er Jahre kombiniert mit der Frage, inwieweit die „Euthanasie“ zur Verbesserung des Genpools des Volkes und zur Entlastung der Volkswirtschaft beitragen würde. So verweist die historische Genese der „Euthanasie“ - Diskussion auf die Gefahren von Grenzüberschreitungen zwischen einer am Autonomiepostulat orientierten und diskutierten Sterbehilfe und der Durchführung eines Massenmords.58 In der Forschung sind sich die meisten Autoren einig, dass besonders die negativ eugenische Gesetzgebung des NS - Staates den Übergang von der Verhütung durch Zwangssterilisation zur Vernichtung durch „Euthanasie“ erleichterte. Die jedoch auch heute noch vielerorts anzutreffenden Vorstellungen eines programmatischen Voranschreitens von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ erweisen sich angesichts empirischer Forschungen als zu undifferen-
ar 1965. Hg. von Uvo Andreas Wolf, München 1965, S. 102 f. Die evangelischen Stimmen zusammengefasst und bewertet in einem Gutachten zum Limburger Euthanasieprozess bei : Ernst Wolf, Das Problem der Euthanasie im Spiegel evangelischer Ethik. In : Erich Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag im Auftrag der alten Marburger und in Zusammenarbeit mit Hartmut Thyen, Tübingen 1964, S. 685–702 ( auch in : Zeitschrift für evangelische Ethik, 11 (1966), S. 345–361). 57 Vgl. ausführlich Kaminsky, Die Evangelische Kirche und der Widerstand gegen die „Euthanasie“, S. 76–80. 58 Eine auf Moralverlust und Verbrechen verkürzende Sicht auf die NS - „Euthanasie“, die diese Geschichte für irrelevant für eine philosophisch oder theologisch - systematische Diskussion erklärt, enthebt sich der geschichtlichen Kontextualisierung der eigenen Position ( so z. B. Michael Frieß, „Komm süßer Tod“ – Europa auf dem Weg zur Euthanasie ? Zur theologischen Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe, Stuttgart 2008, bes. S. 20–32). Die vereinfachte Sicht, wonach die NS - „Euthanasie“ ein Verbrechen gewesen sei, das in der heutigen Diskussion nur als „Conversation - Stopper“ fungiere, trifft den Sachverhalt nicht.
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ziert.59 Die „Euthanasie“ - Idee befand sich nicht im Zentrum der rassenhygienischen Programmatik – hier galten Konzepte der Zeugungshinderung durch Eheverbote, Asylierung und später Sterilisierung als vielversprechender – noch spielten in der Debatte um Tötung auf Verlangen oder Sterbehilfe rassenhygienische Überlegungen eine durchschlagende Rolle. Dennoch existiert ein diskursgeschichtlicher Zusammenhang der Debatten über „Eugenik“ und „Euthanasie“, die eben nicht „zwei unterschiedliche Paar Schuhe“ gewesen sind.60 Sich den Motiven der Planer und Täter anzunähern ist nicht einfach, sind doch fast alle Äußerungen über die „Euthanasie“ in Rechtfertigungszusammenhängen im Rahmen von Gerichtsverfahren der Nachkriegszeit getroffen worden. Quellen über die zeitgenössischen Motive sind eher rar. Gründe und Rechtfertigungsmuster sind zum Teil nur indirekt aus den Protestschreiben der Kirchen, den Mitschriften aus Versammlungen der Juristen oder Psychiater, bei denen sich die Verantwortlichen der T4–Zentrale geäußert haben, zu entnehmen. Ähnlich schwierig, weil auch sehr vielfältig, ist die Lage bei den Motiven der Mitwirkenden, Ärzten, Pflegepersonal, Verwaltungsverantwortlichen. Eine Annäherung über die vorhandenen Quellen soll nachfolgend skizziert werden. Zunächst zu den möglichen „Planern“, wobei ein längerer Planungsvorlauf bis heute nicht nachweisbar ist. Bereits in den 1930er Jahren konnten insbesondere radikale Kreise in der NSDAP und der SS als Verfechter einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ identifiziert werden. Hierzu gehörten neben Hitler sicher die „Reichsärzteführer“ Gerhard Wagner und Leonardo Conti.61 Hier muss nicht nur auf die nachträglichen und damit unsicheren Aussagen Karl Brandts, Viktor Bracks und anderer im Nürnberger Ärzteprozess und späteren Gerichtsverfahren zurückgegriffen werden. Demnach hätte Reichsärzteführer Gerhard Wagner bei Hitler im Gefolge der Festlegung der eugenischen Indikation für die Abtreibung auf dem Parteitag in Nürnberg 1935 eine Regelung der „Euthanasie“ angeregt.62 Hitler habe dann auf den Krieg verwiesen, in dem eine 59 Siehe gerade mit Blick auf internationale Entwicklungen der Eugenik Schwartz, Medizinische Tyrannei; ders., Medizinische Tyrannei und die Kirchen. Ferner die Beiträge in Wecker u. a. ( Hg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik ? 60 Siehe die Kritik an der allzu engen Verschränkung von Eugenik und „Euthanasie“ von Schwartz, ‚Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie‘ ? und die Antwort von Schmuhl, Eugenik und ‚Euthanasie‘ – Zwei Paar Schuhe ? Zuletzt noch Schmuhl, Die Genesis der „Euthanasie“. 61 Zu Conti siehe Schmuhl, Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus und der „Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti, bes. S. 106 f. und 109 f. 62 Die Aussage Brandts bei : Mitscherlich / Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, S. 184. Alle Aussagen zusammengestellt bei Vormbaum ( Hg.), „Euthanasie“ vor Gericht, S. 21 f. Burleigh ( Michael Burleigh, Death and Deliverance : ‚Euthanasia‘ in Germany, c. 1900–1945, Cambridge 1995, S. 97 f.) und andere interpretieren die Aussage Brandts als Hinweis auf eine lange vorbereitete „Euthanasie“ - Planung. Diese Deutung kann richtig sein, doch stehen die Aussagen in einem Rechtfertigungszusammenhang, da in den gleichen Aussagen die Ablehnung Hitlers und dessen Verweis auf die Kriegszeit, in der eine solche Maßnahme angesichts erwarteter Widerstände der Kirchen besser durchführbar sei, betont wurden. Dies verwies die Verantwortlichkeit auf die zu jenem Zeit-
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solche Durchführung leichter sei. Ob Hitler allerdings bereits 1935 eine „Euthanasie“ während einer Kriegszeit voraussah bzw. anstrebte, ist zumindest zweifelhaft. Eine breite Debatte bei Juristen und Ärzten über das Thema ist zwar nachweisbar, doch sind keine konkreten Schritte in der NS - Politik zu belegen. Die Einführung der eugenischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch ist nur vom Standpunkt eines radikalen Lebensschutzes als erste Stufe einer möglichen Euthanasieregelung deutbar. Auch Todesfälle im Rahmen der NS Zwangssterilisation können nur im Nachhinein als erste lebensverachtende Schritte im Vorfeld einer angestrebten Euthanasieregelung interpretiert werden.63 Sie spiegeln vielmehr die Missachtung der Individualrechte der Betroffenen, was ähnlich wie bei politischen Opfern des NS - Regimes auch in zahlreichen Fällen zum Tode führte. Eine systematische Massenmordaktion ist hier allerdings nicht absehbar. Einer der Bezugspunkte für zeitgenössische Überlegungen zu einer „Euthanasie“ - Regelung auf der Seite von Vertretern des NS - Regimes, die über akademische Debatten, wie sie im Gefolge der Schrift von Binding und Hoche geführt worden waren, hinausgingen, war einmal der 1936 erstmals erschienene Roman „Sendung und Gewissen“ des Schriftstellers und Augenarztes Hellmuth Unger (1891–1953). Unger war Mitarbeiter in der Presseabteilung des „Reichsärzteführers“ Gerhard Wagner. In seinem Briefroman hielt sich ein Arzt in verschiedenen Einzelfällen für berechtigt und verpflichtet, „Euthanasie“ im Sinne der Sterbehilfe zu üben.64 Zum anderen entbrannte im Frühjahr 1937 eine Diskussion in der SS - Zeitschrift „Schwarzes Korps“. Anlass war das Urteil des Weimarer Schwurgerichts gegen einen Bauern, der seinen geisteskranken Sohn erschossen hatte. Der Oberstaatsanwalt hatte anlässlich des Falles geäußert, dass nach dem kommenden Strafrecht dies keinen Mord mehr darstellen würde. Im „Schwarzen Korps“, dem Organ der SS, wurde in Leserzuschriften sogar offen ein Gesetz für den „Gnadentod“ gefordert.65 In der Bevölkerung existierten ansonsten immer virulente Einzelstimmen für eine Lockerung des Tötungsverbotes. Zu denken ist dabei an verschiedene Eingaben, die im Sinne der alten Debatte nach Binding / Hoche eine Regelung über
punkt nicht mehr lebenden Wagner und Hitler. Siehe zur Biographie von Karl Brandt Ulf Schmidt, Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich, Berlin 2008. 63 So gerade im Hinblick auf den Raub der Gebärfähigkeit unter dem Primat des Staates gesehen von Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, S. 372–389. 64 Vgl. Hellmuth Unger, Sendung und Gewissen, Berlin 1936 (2. veränd. Auf lage Oldenburg 1941). Vgl. hierzu auch Emil Abderhalden, Grenzfälle der Ethik : Euthanasie – Sterbehilfe – Gnadentod. In : Ethik, 13 (1937), S. 104–109. Zur Einordnung Kiessling, Dr. med. Hellmuth Unger, bes. S. 72–78. 65 Siehe Das Schwarze Korps vom 11. 3. 1937, und „Zum Thema Gnadentod“ in Das Schwarze Korps vom 18. 3. 1937, S. 9 ( auszugsweise abgedruckt bei Kaiser / Nowak / Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“, S. 224 f.). Vgl. Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS - Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1983, S. 62; Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 179 f.
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Kommissionen vorschlugen66 und bei Parteistellen oder der Kanzlei des Führers eingingen.67 So meldete z. B. der Forstmeister A. von Hippel aus Hildesheim Mitte Februar 1939 an die Dienststelle Rosenberg, dass er dessen Anregung gefolgt sei und als „Anhänger der Euthanasiebewegung“ seinen Entwurf für ein „Gesetz über die Erweiterung der Befugnisse der Ärzte“ an die Reichsärztekammer gesandt habe.68 In seinem Entwurf bezog er sich sowohl auf das Buch von Binding und Hoche wie auf den Roman „Sendung und Gewissen“ von Hellmuth Unger. Die offenen Forderungen nach einer „Euthanasie“ knüpften am Mitleidsmotiv für eine Sterbehilfe an, das in der Friedenszeit als am ehesten konsensfähige ethische Rechtfertigung für die Überschreitung des Tötungsverbotes galt. Sichere Hinweise für eine systematische Zusammenstellung von Argumentationen gibt es erst aus dem Jahr 1939. Hitlers Leibarzt Theo Morell wurde mit einem „Gutachten“ beauftragt, das auch eine Formulierung für ein „Gesetz über die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ und Durchführungsvarianten vorschlug.69 Morell bediente sich dabei mehrerer Akten, die er vom „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb - und anlagebedingten schweren Leidens“ zur Verfügung gestellt erhielt. In den drei noch erhaltenen von ursprünglich insgesamt fünf Aktenbänden fand sich zum einen eine Sammlung von Beiträgen zur „Euthanasie“ - Debatte aus den Jahren 1901 bis 1939 und eine Zusammenstellung von Buchbesprechungen, die im Verlag Meiner zu der dort veröffentlichten Schrift von Binding / Hoche gesammelt worden waren. Diese waren mit Tendenzzeichen (+ = pro, – = contra, 0 = neutral ) gekennzeichnet.70 Morells Gutachten lag wahrscheinlich zum August 1939 vor. Seine Überlegungen gingen in die Formulierung des sogenannten „Euthanasie“ - Erlasses von Hitler ein, der von Oktober 1939 stammte und auf den Tag des Kriegsausbruches am 1. September 1939 rückdatiert wurde. Der Euthanasieerlass Hitlers betonte die Idee des „Gnadentodes“ als Ergebnis eines medizinischen Bewertungsprozesses. Die Verantwortung hierfür wurde nicht etwa einer Regierungsstelle, sondern vielmehr zwei Personen, einem Arzt und einem Parteifunktionär gegeben. Die ersten Euthanasieaktionen, der Mord an behinderten Kindern wie die „Erwachseneneuthanasie“ an Anstaltspatienten, hatten ein eigentümlich impro66 So schlug Binding z. B. einen „Freigebungsausschuss“ besetzt durch einen Arzt, einen psychiatrisch vorgebildeten Arzt bzw. Psychiater und einen Juristen vor, der von einem neutralen Vorsitzenden ohne Stimmrecht geleitet werden sollte ( vgl. Binding / Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, S. 36). 67 Aus den Aussagen in Nachkriegsprozessen ist immer wieder hierauf hingewiesen worden, ohne dass konkrete Eingaben bislang bezeichnet werden konnten. 68 Vgl. von Hippel an Reichsleiter Prof. Bäumler ( Dienststelle Rosenberg ) o. D. [ Eingang 21. 2. 1939] ( Bundesarchiv Berlin [ im Folgenden : BA ], NS 15/211 [ alt : 62 Di 1 FC NSDAP Dienststelle Rosenberg 720P, Bl. 359506–359511]). 69 Siehe Abdruck in Kaiser / Nowak / Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“, S. 208–209. 70 Vgl. Vera Große - Vehne, „NARA, T - 253, roll 44, file 81“ – „Euthanasie“ - Quellen bei T. Morell. In : Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 7 (2005/2006), S. 135–147. Die gleichen Tendenzzeichen wurden später von den Gutachtern im Rahmen der „Aktion T4“ bei der Beurteilung der Meldebogen der zu selektierenden Patienten benutzt !
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visiertes Gepräge, das auch intern in der Bezeichnung „Aktion“, „Aktion ‚Columbushaus‘“ oder „Reichsausschussaktion“ seinen Ausdruck fand.71 Dieser Sprachgebrauch betonte nicht nur die gebotene Geheimhaltung, sondern auch den fast spontanen, maßnahmestaatlichen Charakter der Durchführung der „Euthanasie“. Dies zu unterstreichen erscheint wichtig angesichts der ansonsten gerade in der älteren Literatur herausgestellten ideologisch - programmatischen Vorgeschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“, die sich vermeintlich folgerichtig aus der Rassenhygiene ableiten lasse. Diese These unterschlägt aber sowohl die nationalsozialistische Polykratie wie auch die Dynamik des Geschehens, die sich aus herrschaftsimmanenten Konkurrenzen speiste. Die Frage nach der Ethik Adolf Hitlers ist dabei zwar ein interessanter Teilaspekt,72 zielt allerdings an der hierfür relevant erachteten Frage vorbei. Denn es geht nicht um die Verengung der Geschichte des Nationalsozialismus auf die Person Hitlers. Hitler spielte als Letztentscheider eine wichtige Rolle und eine Durchführung der „Euthanasie“ gegen seinen Willen erscheint abwegig. Dennoch sind vielmehr folgende Fragen relevant : Wie wurden die nationalsozialistischen Mordaktionen an psychisch Kranken und Behinderten in Gang gesetzt und durchgeführt ? Was motivierte die teilnehmenden Ärzte, Ver waltungsverantwortlichen, Pflegepersonal in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zur Überschreitung des Tötungsverbotes ? Die sogenannte „Kindereuthanasie“, zeitgenössisch auch als „Reichsausschussaktion“ bezeichnet, besaß als Gelenkstelle zwischen der Zwangssterilisation und dem massenhaften Gasmord an den Anstaltspatienten in der „Aktion T4“ eine wichtige Verbindungsfunktion. Der Gedanke des „Gnadentodes“ für schwerbehinderte Kinder erleichterte die Überschreitung der Grenze von der Verhütung zur Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens“. Hier war die Tötung im Vergleich zu allen anderen Krankenmordaktionen am stärksten individualisiert und medizinisiert. Die Geschichte des Kindes „Knauer“ oder „Fall Leipzig“, dessen Vater angeblich bei Hitler um die Tötung des Kindes gebeten habe, schien zwischenzeitlich aufgeklärt, doch hat einer der Aufklärer mittlerweile die Befunde wieder revidiert.73 Dennoch scheint sich hierin vielmehr 71
Vgl. Nachweise für diese Bezeichnungen bei Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland, S. 333. 72 Vgl. Richard Weikart, Hitler’s Ethic. The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress, New York 2009, bes. S. 179–187. 73 Vgl. jüngst Udo Benzenhöfer, Der Fall Leipzig ( alias Fall „Kind Knauer“) und die Planung der NS - „Kindereuthanasie“, Münster 2008, und ders., Der gute Tod ? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2009, S. 97–105. Zuvor noch ders., „Kindereuthanasie“ im Dritten Reich. Der Fall „Kind Knauer“. In : Deutsches Ärzteblatt, 95 (1998) 19, S. A - 1187–A - 1189; ders., Bemerkungen zur Planung der NS - „Euthanasie“. In : Der Sächsische Sonder weg bei der NS - „Euthanasie“. Hg. vom Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Berichte des Arbeitskreises 1, Ulm 2001, S. 21–53; ders., „Kinderfachabteilungen“ und „NS - Kindereuthanasie“, Wetzlar 2000; ders., Der gute Tod ? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, S. 114–123. Ferner Ulf Schmidt, Reassessing the Beginning of the „Euthanasia“ Programme. In : German His-
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ein ad - hoc - Handeln zu zeigen als eine von langer Hand vorbereitete Mordaktion. Karl Brandt kam aus Berlin, um 1938 oder 1939 – hier sind die Angaben nach wie vor unklar – über die Tötung eines geistig und körperlich behinderten Kindes, dessen Eltern angeblich um „Euthanasie“ gebeten hätten, zu urteilen. Nachfolgend wurde laut den Nachkriegsaussagen beteiligter Täter über die Durchführung einer „Euthanasie“ an Kindern im eigens im Frühjahr 1939 geschaffenen „Reichsausschuss zur Erfassung erb - und anlagebedingter schwerer Leiden“ diskutiert. Ergebnis der Diskussionen war dann ein Meldeerlass vom August 1939, der den Beginn der Sammlung von Kindern in „Kinderfachabteilungen“ einläutete. Allerdings ließen sich bereitwillige Ärzte und anderes Personal schnell rekrutieren, was nicht nur auf die gesellschaftliche Verbreitung des „Euthanasie“ - Gedankens, sondern auch auf eine Netzwerkstruktur der beteiligten Ärzte rückschließen lässt. Organisationskerne für solche Netzwerke waren wissenschaftliche Forschungsinstitute wie z. B. das seit 1927 bestehende „Kaiser - Wilhelm - Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ oder dasjenige für „Hirnforschung“, durch die eine Vielzahl von Ärzten wissenschaftlich sozialisiert wurden.74 Ein solches Netzwerk kam ohne eine zentrale Leitung aus; es genügte, Anregungen hinein zu geben, die weitergetragen wurden. Eine lange Planungsphase zur „Kindereuthanasie“ ist zumindest nicht nachweisbar, Akten hierzu fehlen. Nicht zuletzt die hirnpathologischen Forschungen an den getöteten Kindern weisen auf deren Auswahl für diese spezielle Form der „Euthanasie“ hin. Die „Euthanasie“ stellte insofern auch die Grundlage zu Forschungen bereit, was bereits im Nürnberger Ärzteprozess in vieler Hinsicht belegt wurde.75 Hans tory, 17 (1999), S. 543–550; ders., Kriegsausbruch und Euthanasie : Neue Forschungsergebnisse zum „Knauer Kind“ im Jahre 1939. In : Andreas Frewer / Clemens Eickhoff ( Hg.), „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe - Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt a. M. 2000, S. 120–141. 74 Vgl. hierzu Schmuhl, Grenzüberschreitungen. 75 Siehe allgemein Ernst Klee, Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken - und Judenmord, Frankfurt a. M. 1986, bes. S. 174–187. Gerrit Hohendorf / Volker Roelcke / Maike Rotzoll, Von der Ethik des wissenschaftlichen Zugriffs auf den Menschen. Die Verknüpfung von psychiatrischer Forschung und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus und einige Implikationen für die heutige Diskussion in der medizinischen Ethik. In : Matthias Hamann / Hans Asbeck ( Hg.), Halbierte Vernunft und totale Medizin – Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirkungen der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 81–106; Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 278–284; Jürgen Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht. Beispiele verführbarer Wissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Julius Hallervorden, J. - J. Scherer, Berthold Ostertag, Husum 1997; ders., Die wissenschaftliche Auswertung der Gehirne von Opfern der Krankentötungen 1940–1944 im Raum Berlin- Brandenburg sowie in Bayern. In : Martin Kalusche ( Hg.), Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“. Frühjahrstagung 1997 (25.–27. April 1997, Diakonie Stetten, Kernen i. R.). Tagungsdokumentation, Ebeleben 1997, S. 85–97. In Kaufbeuren und Stadtroda wurden Tuberkulose Impfversuche an behinderten Kindern durchgeführt. Vgl. Gernot Römer, Die grauen Busse in Schwaben. Wie das Dritte Reich mit Geisteskranken und Schwangeren umging: Berichte, Dokumente, Zahlen und Bilder, Augsburg 1986, S. 133–135; Martin
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Walter Schmuhl betont am Berliner Beispiel ( hier handelt es sich um rund 700 Opfer, deren Gehirne entnommen wurden ) die „enge Symbiose von Hirnforschung und Krankenmord“.76 So hat das Forschungsinteresse von Wissenschaftlern den Verlauf der „Euthanasie“ an Kindern nach dem sogenannten „Reichsausschussverfahren“ mitbestimmt. Ethisch war von den Beteiligten – sieht hat man einmal von der durchsichtigen Mitleidsmetapher, die in zahlreichen Nachkriegsprozessen präsentiert wurde, ab – ein utilitaristisches Kalkül in den Vordergrund geschoben worden, das eine „Sonderbehandlung“ der durch zwei Erlasse zu meldenden Kinder versprach. Die Forschung an den zu tötenden Kindern hatte keinen heilenden oder therapeutischen Nutzen, sondern sollte künftige Defekte verhindern. Das Ziel war, die vermeintliche Erblichkeit von Behinderungen besser aufzuklären. Der direkte Nutzen kam allerdings den Forschenden zugute, die hierüber Freistellungen vom Militärdienst und Forschungsprojekte für Universitätsinstitute etc. erhielten. Mit den mordenden „Grenzüberschreitungen“ eröffneten sie sich einen wissenschaftlichen Binnenraum, der sich im Sinne eines höheren Zweckes auch gegen politische Einflussnahmen verteidigen ließ. Dies begünstigte nach dem Ende der NS - Herrschaft Strategien der Apologetik, die davon sprachen, noch Schlimmeres verhindert zu haben.77 Konkrete Schritte zur Durchführung der „Aktion T4“, also der „Erwachseneneuthanasie“ lassen sich erst seit dem Sommer 1939 nachweisen.78 Regimeintern entbrannte hinter den Kulissen offenbar ein regelrechter Streit um die Zuständigkeit für die Durchführung der „Euthanasie“. Sicher ist nach einem Schreiben von Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti an Bormann vom Juni 1943, dass er Hitler einen Vortrag zu diesem Thema halten durfte.79 Dennoch
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Schmidt / Robert Kuhlmann / Michael von Cranach, Die Psychiatrie in der Heil - und Pflegeanstalt Kaufbeuren 1933–1945. In : Michael von Cranach / Hans Ludwig Siemen (Hg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus, Die Bayerischen Heil - und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999, bes. S. 39–41. Vgl. Hans - Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser - Wilhelm Institut für Hirnforschung 1937–1945, Berlin 2000 ( auch in : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 50 (2002) 4, S. 559–609). Beispiele hierfür in : Sigrid Oehler - Klein / Volker Roelcke ( Hg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2007. Siehe den Rekonstruktionsversuch bei Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS - Regime, Paderborn 1996, bes. S. 651–666. Schmuhls These, wonach die Konkurrenz der einzelnen Machtblöcke um Hitler entscheidend für die Vergabe und Art der Durchführung des Mordauftrags war, erscheint plausibel. Vgl. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 190 f.; Jeremy Noakes, Philipp Bouhler und die Kanzlei des Führers der NSDAP. Beispiel einer Sonderverwaltung im Dritten Reich. In: Dieter Rebentisch / Karl Teppe ( Hg.), Ver waltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch - administrativen System, Göttingen 1986, S. 208–236, bes. 227 ff. Vgl. Conti an Bormann 23. 6. 1943 ( BA, R 18/3810), zit. bei Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland, S. 433.
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wurde ihm der Auftrag zur Durchführung der Maßnahme letztlich nicht erteilt, sondern dieser vielmehr an Hitlers Begleitarzt Karl Brandt und den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, gegeben. Der Aufbau einer Verwaltungszentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin ( daher der Name „T4“) dauerte bis zum Frühjahr 1940. Innerhalb der Institutionalisierungsphase von knapp einem halben Jahr musste Personal gewonnen und die Mitarbeit verschiedener Gesundheitsdezernenten bzw. Referenten in den preußischen Provinzen und deutschen Ländern sichergestellt werden. Alle Umstände einschließlich der regionalen Ungleichgewichte in der Durchführung deuten eher auf ein ad - hoc Handeln hin als auf eine lange Planung. Der dann in Gang gesetzte Massenmord forderte bis zum August 1941 rund 70 000 Opfer. Bei den zur Selektion dienenden Meldebogen traten gerade im Verlauf des Krieges die medizinischen Selektionskriterien hinter die ökonomisch - utilitaristischen der Arbeitsfähigkeit zurück. Dies begünstigte dann auch bei den real gezählten Opfern die Dominanz der ökonomischen Brauchbarkeit und der anstaltsspezifischen Selektionskriterien ( hoher Pflegeaufwand etc.).80 Demnach waren ein Drittel der getöteten Patienten arbeitsunfähig und pflegeaufwendig, nur fünf Prozent waren produktiv beschäftigt und 74,6 Prozent hatten negative Verhaltensbewertungen in ihren Akten.81 Es handelte sich bei den Betroffenen der „Euthanasie“ gerade nicht um die gleiche Opfergruppe wie bei der Zwangssterilisation. Betrafen Zwangssterilisationen vor wiegend Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung oder Geisteskrankheit ohne oder mit einer geringen erwartbaren Anstaltsaufenthaltsdauer, so wurden durch die Krankenmorde über wiegend Menschen mit schweren Behinderungen oder Erkrankungen betroffen, deren voraussichtliche Anstaltsaufenthaltsdauer sehr groß war.82 80 So auch Philipp Rauh, Medizinische Selektionskriterien versus ökonomisch - utilitaristische Verwaltungsinteressen. Ergebnis der Meldebogenauswertung, und Gerrit Hohendorf, Die Selektion der Opfer zwischen rassenhygienischer „Ausmerze“, ökonomischer Brauchbarkeit und medizinischem Erlösungsideal. In : Rotzoll u. a. ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T4“ und ihre Opfer, S. 297–309, 310–324. 81 Vgl. Gerrit Hohendorf / Maike Rotzoll / Paul Richter / Christoph Mundt / Wolfgang U. Eckart, Die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie - Aktion T4“. Erste Ergebnisse eines Projektes zur Erschließung von Krankenakten getöteter Patienten im Bundesarchiv Berlin. In : Der Ner venarzt, 73 (2002) 11, S. 1065–1074, hier 1072 f. Ferner Petra Fuchs / Gerrit Hohendorf / Philipp Rauh / Annette Hinz - Wessels / Paul Richter / Maike Rotzoll, Die NS - „Euthanasie“ - Aktion - T4 im Spiegel der Krankenakten. Neue Ergebnisse historischer Forschung und ihre Bedeutung für die heute Diskussion medizinethischer Fragen. In : Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 7 (2005/2006), S. 16–36. Zuletzt die Beiträge in : Rotzoll u. a. ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T4“ und ihre Opfer. 82 Hierauf haben Regionalforschungen seit längerer Zeit hingewiesen. Siehe z. B. bereits Bernd Walter, Anstaltsleben als Schicksal. Die nationalsozialistische Erb - und Rassenpflege an Psychiatriepatienten. In : Norbert Frei ( Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS - Zeit, München 1991, S. 217–233, bes. 230–232; Petra Fuchs / Maike Rotzoll / Paul Richter / Annette Hinz - Wessels / Gerrit Hohendorf, Die Opfer der „Aktion T4“ : Versuch einer kollektiven Biographie auf der Grundlage von Krankengeschichten. In : Christfried Tögel / Volkmar Lischka ( Hg.), „Euthanasie“ und Psychiatrie, Uchtspringe
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Die Wehrmacht, die SS oder die Volksdeutsche Mittelstelle forcierten zudem die Verlegungen von Anstaltsbewohnern, wobei sie versuchten, ihre Interessen an einer anderen Nutzung der Gebäude zur Geltung zu bringen. Zum Teil hatten diese Sonderinteressen bereits frühe Krankenmorde 1939 durch Erschießen und Einsatz von Gaswagen in den Provinzen Pommern und Ostpreußen sowie in den besetzten polnischen Gebieten, wo die Anstalten fast ausschließlich für die SS, sei es vorübergehend als Umsiedlerlager oder später als Kaserne, genutzt wurden,83 mitbestimmt und die Morde der „Aktion T4“ in bestimmten Regionen wie Bayern, Württemberg, Baden und dem Rheinland forciert.84
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Krieg und Notstand
Neben dem Mitleidsmotiv spielte auch dessen Kehrseite, die Abscheu und Angst vor psychisch Kranken und geistig wie körperlich Behinderten, eine nicht zu unterschätzende Rolle bei den Argumentationen, welche die Verantwortlichen
2005, S. 37–78; Petra Fuchs / Maike Rotzoll / Ulrich Müller / Paul Richter / Gerrit Hohendorf (Hg.), „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Göttingen 2007; Rotzoll / Hohendorf / Fuchs / Richter / Mundt / Eckart ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T 4“ und ihre Opfer, S. 191–219. Siehe auch : Boris Böhm / Ricarda Schulze ( Hg.), „... ist uns noch allen lebendig in Erinnerung“. Biographische Porträts von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Anstalt Pirna - Sonnenstein, Dresden 2003. 83 Vgl. Volker Rieß, Die Anfänge der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ in den Reichsgauen Danzig - Westpreußen und Wartheland 1939/40, Frankfurt a. M. 1995, sowie Heike Bernhardt, Anstaltspsychiatrie und „Euthanasie“ in Pommern 1933 bis 1945. Die Krankenmorde an Kindern und Erwachsenen am Beispiel der Landesheilanstalt Ueckermünde, Frankfurt a. M. 1994, S. 87–90. 84 In bayerischen Anstalten ( z. B. den evangelischen Neuendettelsauer Pflegeanstalten oder auch verschiedenen katholischen Einrichtungen ) sowie in württembergischen und badischen Anstalten wurden Patienten zur Freimachung der Gebäude für die Unterbringung von Umsiedlern, die Einrichtung von Wehrmachtslazaretten und eine nationalpolitische Erziehungsanstalt verlegt. Ähnlich verhielt es sich auch bei der Räumung der rheinischen Provinzial - Heil - und Pflegeanstalt Bedburg - Hau zugunsten eines Reservelazaretts im März 1940. Die „Euthanasie“ - Zentrale schaltete sich in die vorgesehenen Verlegungen mit ihrem Selektions - , Transport - und Tötungsapparat erst nachträglich ein. Vgl. Müller / Siemen, Warum sie sterben mußten, bes. S. 96–108, 148–157, sowie Dokumente auf S. 204–224. Ferner die Angaben in : Ein Jahrhundert der Sorge um geistig behinderte Menschen, Band 2 : Hans - Josef Wollasch, Ausbau und Bedrängnis : Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hg. vom Verband katholischer Einrichtungen für Lern - und Geistigbehinderte, Freiburg i. Brsg. 1980, S. 99 ( Attl ), 105 ( Burgkunstadt ), 109 ( Ecksberg ), 115 (St. Josefshaus / Gemünden ), 116 f. ( Gremsdorf ), 124 ( Lautrach ), 128 ( Reichenbach), 129 ( Schönnbrunn ), 130 f. ( Schweinspoint ), 131 ( Straubing ), 132 ( Ursberg ); Heinz Faulstich, Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg i. Brsg. 1993, S. 223 ff., 269, sowie die Hinweise bei Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995, S. 190 f.; Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland, S. 337 f.
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der Euthanasiezentrale bei verschiedenen Vorträgen immer wieder in die Waagschale warfen. Dieses verknüpften die „Euthanasie“ - Verantwortlichen mit dem ökonomischen Kalkül, das angesichts des laufenden Krieges gegenüber den Vertretern der Kirchen und auch in verschiedenen Versammlungen von Vertretern der Gemeinden, der Justiz oder der Ärzte als entscheidend genannt wurde.85 Auf einer Sitzung des Deutschen Gemeindetages in Berlin am 3. April 1940 wurde den Versammelten insbesondere von den „Kosten der Verpflegung“ erzählt, welche „asoziale, lebensunwerte Menschen“ verursachen. „Sie vegetieren hin, wie die Tiere.“ Sie nähmen „nur anderen gesunden Menschen Nahrung weg“. „Wenn man aber heute schon Vorkehrungen für die Erhaltung gesunder Menschen treffen müsse, dann sei es umso notwendiger, dass man diese Wesen zuerst beseitigt und wenn das vorerst nur zur besseren Erhaltung der in den Heil - und Pflegeanstalten untergebrachten heilbaren Kranken wäre.“86 Gegenüber den Vertretern der Evangelischen Kirche, den Einrichtungsleitern Friedrich von Bodelschwingh und Paul Gerhard Braune, die am 10. Juli 1940 gegen die Krankenmorde in einer Besprechung im Reichsinnenministerium protestierten, sagten Viktor Brack und Herbert Linden, dass „die Kriegsnotwendigkeit es erfordere, Lebensmittel, Menschenkräfte und Raum zu sparen und darum solche Kranken zu opfern“.87 Auch Karl Brandt rechtfertigte die NS Euthanasie in einem Gespräch im Februar 1943 im Schloss Bellevue gegenüber dem Betheler Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh mit dem Verweis auf „das große Sterben in Stalingrad“. „Demgegenüber sei alles andere Sterben klein.“88 Laut dem Stichwortprotokoll des Kölner Oberlandesgerichtspräsidenten über die Referate von Viktor Brack und Werner Heyde auf der Tagung der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte am 23. April 1941 betonte Heyde, dass es sich einmal nur um „unheilbare Kranke“ und um solche, die „unbrauchbar, auch innerhalb der Anstalt für gemeinschaftliches und produktives Leben“ seien, handeln würde.89 In der Betonung der Nützlichkeit und des angeblichen Notstandes in der Kriegssituation finden die hier gegebenen Begründungen für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ihren Fluchtpunkt. Auch die Bezeichnung der „plan-
85 Siehe zur Kriegsmetapher : Merkel, „Tod den Idioten“, S. 305–328. 86 Zitate nach dem Bericht des Vertreters der Stadt Plauen über die „geheime Besprechung beim Deutschen Gemeindetag“ am 3. April 1940. In : Götz Aly ( Hg.), Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“ - Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 50– 52. 87 Zit. nach Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland, S. 691–693. 88 So nach von Bodelschwinghs stenographischen Notizen, zit. bei Anneliese Hochmuth, Spurensuche. Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die Von - Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929–1945. Hg. von Matthias Benad, Bielefeld 1997, S. 154–156, hier 155. 89 Zit. nach dem Faksimile der Besprechungsnotiz in : Götz Aly ( Hg.), Aktion T4 1939– 1945. Vgl. Vormbaum ( Hg.), „Euthanasie“ vor Gericht, S. 303–316; Ernst Klee ( Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt a. M. 1985, S. 216–220; Merkel, „Tod den Idioten“, S. 288–293.
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wirtschaftlichen Erfassung“, wie sie im Begleitschreiben der Zusendung der zur „Aktion T4“ selektierenden Meldebogen als Begründung angegeben war, unterstreicht trotz aller verschleiernden Metaphorik den Nützlichkeitsaspekt der damit verfolgten Ziele.90 Die Argumentation eines vermeintlichen „Volksnotstandes“ verfing allerdings zunächst nur zum Teil auch bei den konservativen Kritikern der „Euthanasie“, auf die sie gemünzt war. So gab der in der Nachkriegszeit als Beispiel für einen kompromisslosen Widerstand geltende Göttinger Psychiatrieprofessor Gottfried Ewald in seinem Bericht über seine Verweigerung auf einer Ärzteversammlung an, dass er ja das Notstandsargument gelten lassen hätte, wenn denn die Lage wirklich in der beschriebenen Weise gewesen wäre.91 Dass die Lage in Deutschland aber von Ewald wie auch den der Notstandsargumentation gegenüber mit einem gewissen Verständnis stehenden Kirchenvertreter gerade nicht so gewertet wurde und man andere Gegenargumente ( z. B. Eingriff in das Majestätsrecht Gottes, in das Persönlichkeitsrecht, Zerstörung des Sittlichkeitsempfindens im Volk, Verlust des Status einer „Kulturnation“, Förderung des Misstrauens gegenüber Ärzten ) höher gewichtete, macht deutlich, wo die Grenzen einer Mitwirkungsbereitschaft für christlich - konservativ Gesonnene lagen.92 Der evangelische Theologe Hermann Diem machte in seinem 1940 verfassten Gutachten zum „Problem des ‚lebensunwerten Lebens‘“ deutlich, dass es zwar eine durch ihn analog zur medizinischen Indikation beim Schwangerschaftsabbruch mögliche Notstandsindikation zur „Euthanasie“ hypothetisch geben könne, doch dass erstens eine solche wohl kaum in den gegenwärtigen Kriegszeiten gegeben sei und man zweitens dann die Kriegsziele selbst in Zweifel ziehen müsse.93 Von Reichsgesundheitsführer Conti – er hatte unter anderem als Student bei Gottfried Ewald seinerzeit noch in Erlangen Vorlesungen gehört – ist eine Antwort auf Ewalds Ablehnungsgründe überliefert. Conti wollte seine andere 90 Vgl. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 197 f. 91 Siehe seinen Bericht als Faksimile zit. bei Götz Aly ( Hg.), Aktion T4 1939–1945, S. 58–63. Vgl. auch die folgenden Schreiben von Ewald an Heyde, Conti etc. bei Vormbaum (Hg.), „Euthanasie“ vor Gericht, S. 290–299. 92 Die erwähnten Gegenargumente finden sich z. B. in der Denkschrift Braunes vom 9. 7. 1940, den Briefen Wurms an Reichsinnenminister Frick vom 19. 7. 1940 und 5. 9. 1940, dem Schreiben des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Erzbischof Bertram an Reichskanzleichef Lammers und Reichsjustizminister Gürtner vom 11. 8. 1940 und 16. 8. 1940, und dem Erzbischof von München - Freising, Faulhaber, an den Reichsjustizminister vom 6. 11. 1940, alle abgedruckt in Vormberg ( Hg.), „Euthanasie“ vor Gericht, S. 262–284. Auch in den Predigten der katholischen Bischöfe Galen und Machens ( vgl. Gabriele Vogt, Bischof Dr. Joseph Godehard Machens [1934–1956] und die Caritas im „Dritten Reich“. In : Hans Otte / Thomas Scharf - Wrede [ Hg.], Caritas und Diakonie in der NS - Zeit. Beispiele aus Niedersachsen, Hildesheim 2001, S. 129–157, bes. 155 f.). 93 Diem, Das Problem des „lebensunwerten Lebens“ in der katholischen und in der evangelischen Ethik, bes. S. 104 ff. Diem meinte, am konstruierten Beispiel eines Notstandes der Lebensmittelknappheit während der Belagerung von La Rochelle in den Hugenottenkriegen zeigen zu können, dass es nicht Gottes Wille sein könne, die
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Ansicht nicht „schriftlich niederlegen“ : „Ich möchte nur soviel sagen, ich bin fest überzeugt, dass die Anschauungen des ganzen deutschen Volkes in diesen Dingen in einer Wandlung begriffen sind und kann mir sehr wohl vorstellen, dass Dinge, die in einer Zeitspanne als verwerf lich galten, in der nächsten als das einzig Richtige erklärt werden. Das haben wir im Laufe der Geschichte ja unzählige Male erlebt. Als letztes Beispiel kann ich ganz ruhig auf das Sterilisierungsgesetz verweisen; hier ist der Prozess der Umformung des Denkens heute doch schon recht weit vorgeschritten.“94 Einerseits ver weist die erhoffte „Wandlung“ der Ansicht über die „Euthanasie“ im deutschen Volk auf die eigene empfundene Minderheitsmeinung, die aber gerade ihre Richtigkeit durch „Umformung des Denkens“ in der Zukunft unter Beweis stellen werde. Diese sich selbstimmunisierende und selbstgerecht gestaltende Ethik einer vermeintlichen Avantgarde war nur vor dem Hintergrund der „biopolitischen Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus“95 denkbar. In der Euthanasiezentrale selbst spielten die in verschiedenen Gesprächen und Ansprachen nach außen getragenen Argumente der Ersparnis und der Abwendung eines Volksnotstandes im Krieg wohl durchaus eine entscheidende Rolle zur Legitimierung des eigenen Tuns und waren nicht nur der Versuch, konser vative Gegner mit einer an ihre Werthorizonte anknüpfungsfähige Begründung einzubinden. Nicht nur die nachträgliche Berechnung der eingesparten Kosten durch den Kranken - und Behindertenmord in der sogenannten „Hartheimstatistik“, die auf den Sommer 1942 datiert wird, spricht dafür.96 In einem Gespräch von Karl Brandt mit dem Referenten der Euthanasiezentrale Runckel Mitte 1944 hatte Brandt um eine vergleichende Aufstellung zwischen den Todesfällen in den deutschen Heilanstalten 1914 bis 1918 und in den ersten vier Kriegsjahren gebeten.97 Neben dem rein statistischen Zweck hätte der Hinweis auf das Massensterben der Patienten im Ersten Weltkrieg auch zur Rechtfertigung gegenüber anderen anfragenden Stellen dienen können.
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„Lebensuntüchtigen“ zu opfern, vielmehr habe man dann das Kriegsziel zu überprüfen. Conti an Ewald 11. 9. 1940, zit. nach Vormbaum ( Hg.), „Euthanasie“ vor Gericht, S. 299. Vgl. hierzu Schmuhl, Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus und der „Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti; ders., Das Dritte Reich als biopolitische Entwicklungsdiktatur. Zur inneren Logik der nationalsozialistischen Genozidpolitik. In : Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus. Hg. vom Jüdischen Museum Berlin, Berlin 2009, S. 8–21. Siehe den Abdruck der Zahlen bei Klee, Dokumente zur „Euthanasie“, S. 232–233, sowie Andrea Kugler, Die „Hartheimer Statistik“. „Bis zum 1. September 1941 wurden desinfiziert : Personen : 70 273“. In : Wert des Lebens. Gedenken – Lernen – Begreifen. Begleitpublikation zur Ausstellung des Landes OÖ in Schloss Hartheim. Hg. vom Institut für Gesellschafts - und Sozialpolitik an der Johannes Kepler Universität Linz, Linz 2003, S. 124–131. Schreiben Runckels an Nitsche vom 24. 7. 1944 mit der Anlage von Runckels Vermerk über sein Gespräch mit Brandt am 18. 7. 1944 ( BA, R 96 I /7, p. 127916–127923).
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Auch die Existenz der sogenannten „Planungsabteilung“ der Euthanasiezentrale seit dem Frühjahr 1941, aus der eine Reihe von Berichten über Planungsfahrten in unterschiedliche Landesteile überliefert sind, spricht für eine Ökonomisierung des Anstaltswesens durch eine angestrebte zentrale Planung der Psychiatrie auf Reichsebene, in der die „Euthanasie“ selbstverständlich ihren Platz hatte.98 Zwar beschränkte sich deren Tätigkeit nach dem Stopp der Gasmordaktion „T4“ auf eine Art Trockenlauf, da aufgrund des andauernden Krieges keine grundsätzlichen Veränderungen durchsetzbar waren, aber die Pläne wurden gemacht. Die Begründungen für die seit 1941 erfolgenden Räumungen von Anstalten, deren marginalisierte Patienten Opfer einer dezentralen „Euthanasie“ wurden, sprachen von „Luftschutzmaßnahmen“, „Freimachungsmaßnahmen“, „Evakuierung“. Die Verlegungen wurden regionalisiert durch die Gauleiter, die fast alle auch „Reichsverteidigungskommissare“ waren, angeordnet.99 Es ging darum, arbeitsfähigen und rekonvaleszierbaren „Volksgenossen“ Raum und Versorgung zu ermöglichen. Der Krieg, insbesondere in seiner Ausformung als Luftkrieg gegen die deutschen Städte, bildete die Hintergrundfolie für eine Rationalisierung und Ökonomisierung in der Gesellschaft, aus der die dauerhaft psychisch Kranken und geistig Behinderten längst „entgesellschaftet“ waren. Angesichts der Wucht der Ereignisse an der „Heimatfront“ wurden auch die kritischen Stimmen, die sich 1941 vehement gemeldet und zu einem Abbruch der „Aktion T4“ beigetragen hatten, immer weniger. Der 1940 noch angezweifelte Notstand trat im subjektiven Verständnis von immer mehr Deutschen an der sogenannten „Heimatfront“ ein. Das Argument der „Kulturnation“, die es aufrecht zu erhalten gelte, oder der Volkssittlichkeit waren zunehmend unterhöhlt. Die Verstrickung immer größerer Teile der Wehrmacht, der SS aber auch „ganz normaler Deutscher“ in die europaweite Vernichtungspolitik des NS Regimes machte sich darin bemerkbar. Der Tod von letztlich mehr Bewohnern der Heil - und Pflegeanstalten nach dem vermeintlichen Stopp der „Aktion T4“ im August 1941 als zuvor deutet auf diesen Prozess der Marginalisierung von Anstaltspatienten und der Lockerung moralischer Prinzipien in Notstandssituationen hin. Damit sind die opferreichsten Euthanasie - Aktionen benannt. Es hat aber noch weitere Mord - Aktionen gegeben, die auch als Teil der NS - “Euthanasie“ gesehen werden und sehr viel stärker den Charakter rassischer Extermination besaßen. Einmal ist dabei an die aufgrund ihres normbrechenden Verhaltens in 98 Vgl. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 265–278. Bereits der Versand der von den Anstalten auszufüllenden Meldebogen im Verlauf des Jahres 1940 umfasste nicht nur den berüchtigten „Meldebogen 1“ für die einzelnen Patienten, sondern auch einen statistische Angaben über die jeweiligen Anstalten abfragenden „Meldebogen 2“. 99 Siehe Winfried Süß, Zur Rolle der Gaue in der regionalisierten „Euthanasie“ (1942– 1945). In : Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmidt ( Hg.), Die NS - Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 123– 135.
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Heil - und Pflegeanstalten nach dem § 42 b des Reichsstrafgesetzbuches untergebrachten Menschen in Heil - und Pflegeanstalten zu denken, die z. T. in Sonderaktionen im Frühjahr 1940 aus Anstalten im Rahmen der „Aktion T4“ über Zwischenstationen in die Gasmordanstalten deportiert worden sind.100 Zudem wurden bereits 1939/40 im heutigen Polen ( den damaligen Reichsgauen Danzig - Westpreußen und Wartheland ), in Ostpreußen und Pommern und zu Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion 1941 deutsche wie polnische bzw. sowjetische Anstaltsbewohner ermordet. Dies geschah durch Erschießungskommandos von SS - Einsatzgruppen und Wehrmacht, fahrbare Gaskammern sowie durch Vergiftungen. Diese Morde hatten keinen organisatorischen Zusammenhang mit der „Euthanasie“ - Zentrale in der „Kanzlei des Führers“, sondern beruhten auf Absprachen der regional verantwortlichen Gauleiter mit der SS. Die Anstalten wurden geräumt, um Platz für umgesiedelte Baltendeutsche und für SS - Einheiten zu schaffen.101 Mehrere tausend Anstaltsbewohner stellten dabei eine Art Verfügungsmasse dar, die einfach umgebracht wurde, um ihre Plätze anderweitig zu nutzen. Diese Tatsache verdeutlicht den Verlust jeglicher Hemmschwellen, der sich zu Kriegsbeginn außer gegenüber Angehörigen von Feindstaaten – hier wäre an Erschießungen von polnischen Geistlichen, Juden und Prostituierten zu erinnern – auch und besonders gegenüber Psychiatriepatienten ( polnischer wie deutscher Nationalität ) auswirkte. Eine Fortsetzung fanden diese Morde durch SS - Einsatzgruppen bei der Räumung von Heil - und Pflegeanstalten im Raum der Sowjetunion seit dem Sommer 1941.102 100 Vgl. Sonja Schröter, Psychiatrie in Waldheim / Sachsen (1716–1946). Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt a. M. 1994; Martin Roebel, Forensische Patient / innen als Opfer der „Aktion T4“. In : Rotzoll u. a ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T4“ und ihre Opfer, S. 137–142. 101 Siehe zu den frühen Morden zu Kriegsbeginn Volker Rieß, Die Anfänge der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ in den Reichsgauen Danzig - Westpreussen und Wartheland 1939/40, Frankfurt a. M. 1995. Rieß betont als Motiv „die reine Vernichtung“ ( so im Wartheland angesichts offenbar fehlender durchdachter Nutzungspläne; ebd., S. 359) und die Interessen der SS als Nachnutzer der Anstaltsgebäude, wohingegen die Nutzung der Gebäude zur Unterbringung von Baltendeutschen als Motiv gering bewertet wird. Siehe ebd., S. 29–53 ( am Beispiel der Anstalt Conradstein ), bes. S. 104 ( zu Pommern), S. 355–62 ( zusammenfassend ). Dagegen argumentiert Aly eindeutig im Sinne eines Zusammenhangs der Räumung der Anstalten zwecks Unterbringung von volksdeutschen Umsiedlern, wenngleich die Frage einer vorausgehenden Planung oder aber erst nachträglichen Nutzung der „freigemordeten“ Anstalten mangels vorhandener Dokumente nicht eindeutig beantwortbar ist. Vgl. Götz Aly, Hinweise für die weitere Erforschung der NS - Gesundheitspolitik und der „Euthanasie“ - Verbrechen. In : Eberhard Jungfer / Christoph Dieckmann ( Hg.), Arbeitsmigration und Flucht. Vertreibung und Arbeitskräfteregulierung im Zwischenkriegseuropa, Berlin 1993, S. 195–204, bes. 203, sowie ders., „Endlösung“, S. 114–126. Siehe abwägend dazu Heike Bernhardt, „Euthanasie“ und Kriegsbeginn. Die frühen Morde an Patienten aus Pommern. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 44 (1996) 9, S. 773–788. 102 Siehe am Beispiel der weißrussischen Anstalt Mogilew : Ulrike Winkler / Gerrit Hohendorf, „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“. Die Ermordung der Psychiatriepatienten in Mogilew 1941/42. In : Babette Quinkert / Philipp Rauh / Ulrike Winkler ( Hg.), Krieg und Psychiatrie 1914–1950, Berlin 2010, S. 75–103.
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In etwas anderer Nuancierung ist die Ermordnung jüdischer Patienten aus Heil - und Pflegeanstalten 1940/41 im Vorgriff auf den späteren Holocaust und unabhängig von ihren psychiatrischen Diagnosen als rassenpolitische Aktion zu sehen.103 Eine ähnliche Ermordung aus rassistischen Gründen widerfuhr seit 1943 Polen und sogenannten „Ostarbeitern“, sowjetischen Staatsangehörigen, die Zwangsarbeit in Deutschland geleistet hatten. Sie wurden, sofern sie sich als geisteskrank bzw. behindert und arbeitsunfähig herausstellten, in speziellen Transporten aus den Heil - und Pflegeanstalten verlegt und getötet.104 Die Unbrauchbarkeit wegen Arbeitsunfähigkeit war ebenso das Hauptmotiv für die Ermordung der jüdischen und vermeintlich „asozialen“ KZ - Häftlinge seit dem Frühjahr 1941 in der Aktion „14f13“ – so lautete ihr Aktenzeichen.
VI.
Fazit
Die Frage, welche Ethik auf Seiten der Nationalsozialisten für die Durchführung und Durchsetzung der „Euthanasie“ - Aktionen entscheidend war, ob hier nicht womöglich eine neue eigenständige Ethik entwickelt wurde, verweist bei näherer Betrachtung auf eine gleitende Entwertung menschlichen Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus, die sich insbesondere mit dem Kriegsbeginn radikalisierte. Alle Begründungsmuster waren bereits in den Jahren seit der Jahrhundertwende geformt worden und bedurften einer Aktualisierung im neuen politischen Rahmen des Nationalsozialismus. Von der Eugenik und der Zwangssterilisation führte kein gerader Weg zur „Euthanasie“. In Anlehnung an den verschlungenen Weg zum Holocaust lässt sich eine „twisted road“ auch für die „Euthanasie“ beschreiben. Trotz der schleichenden Entwertung der Anstaltspatienten in den 1920er und 1930er Jahren, die durch die Krisen der Fürsorge in der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Rassenideologie forciert wurde, war die „Euthanasie“ keine automatische Folge der rassenhygienischen Ideologie. Die Debatte über die „Ver-
103 Vgl. Henry Friedlander, Der Weg zum NS - Genozid. Von der Euthanasie bis zur Endlösung, Berlin 1997, S. 418–448; ders., Jüdische Anstaltspatienten im NS - Deutschland. In: Götz Aly ( Hg.), Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“ - Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 34–44; Lutz Raphael, Euthanasie und Judenvernichtung. In: Euthanasie in Hadamar. Die national - sozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Begleitband zu einer Ausstellung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Hg. vom Landeswohlfahrtsverband Hessen, Kassel 1991, S. 79–90; Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 215–216. 104 Vgl. Matthias Hamann, Die Ermordung psychisch kranker polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiter. In : Aly ( Hg.), Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“ - Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 161–167; ders., Die Morde an polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern in deutschen Anstalten. In : Götz Aly / Angelika Ebbinghaus / Matthias Hamann ( Hg.), Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, 2. Auf lage Berlin (West) 1987, S. 121–187, sowie Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S. 237–239.
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„Gnadentod“ und Ökonomismus
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nichtung lebensunwerten Lebens“ lief in medizinischen und juristischen Kreisen bereits in der Zwischenkriegszeit und fand in den christlichen Werthorizonten der Kirchen ihre vehementeste Gegnerschaft. Der Machtantritt der Nationalsozialisten bewirkte eine politische Durchsetzung der rechtlich kodifizierten Zwangssterilisation. Die eugenische Orientierung der nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik führte zwar zu einer Delegitimierung des Lebensrechtes behinderter und psychisch kranker Menschen, doch sind langfristige Planungen für die Lebensvernichtung bis heute nicht nachweisbar. Dennoch fand eine Stärkung von pro- euthanatischen Stimmen in der Medizin, der Justiz und der Bevölkerung in den 1930er Jahren statt. Innerhalb der NSDAP fühlten sich insbesondere radikale Vertreter zur Aktion ermutigt. Bis zum Kriegsbeginn kam es weder zu einer juristischen Regelung der Lebensvernichtung noch zu einem offenen Bekenntnis der Nationalsozialisten dazu. So fand die Organisierung der „Euthanasie“ seit 1939 in geheimen Kommissionen statt, die innerparteilich gegeneinander konkurrierten, und dessen vorübergehende Fixierung der geheime Führererlass vom 1. September 1939 darstellte. Bei der Durchführung der Kranken - und Behindertenmordaktionen ab 1939 rückten wissenschaftliche und ökonomische Argumente und Begründungen in den Vordergrund. Die Überschreitung des Tötungsverbotes wurde von den Tätern mit der Notstandsindikation im Krieg ethisch zu begründen versucht. Auch wenn diese Begründung auf die christlich - konservativ geprägten Eliten im NS - Staat gemünzt war, so verfing sie bei vielen, insbesondere in den Kirchen, nicht. Zwar lässt sich auf deren Seite in der Praxis nur eine „gebrochene Verweigerungshaltung“ feststellen, doch eine Ablehnung der „Euthanasie“ blieb während der gesamten Kriegszeit die Position beider Kirchen. Allerdings entfaltete die Verachtung des Lebens der Behinderten und Psychiatriepatienten ihre größte mörderische Wirkung in der zweiten Kriegshälfte, als die nach Brauchbarkeit wertende Kriegsgesellschaft den Tod Zehntausender von Anstaltspatienten abgestumpft hinnahm. Damit ordnet sich die NS - “Euthanasie“ in den Rahmen der enthemmenden Kriegsereignisse und der Radikalisierungen im NS - Herrschaftsapparat ein. Allgemeiner verweist sie jedoch auf die Gefahren in der Moderne, den Wert des Menschen vorwiegend ökonomisch zu bestimmen und das Tötungsverbot in gesellschaftlichen Notstandslagen zu lockern. Die Vorordnung moralischer Imperative einer Gemeinschaftsethik vor individualrechtliche Festlegungen, sei es im Krieg oder in einer „zivilen“ Katastrophe, verweisen auf den moralischen Zustand einer Gesellschaft.
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Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument. Zur aktuellen Debatte über die Sterbehilfe Gerrit Hohendorf
I.
Einleitung : „Im Namen einer höheren Sittlichkeit“ und die „nationalsozialistische Moral“
Am Ende ihres Werkes über „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ordnen die Autoren, der renommierte Strafrechtler Karl Binding und der namhafte Psychiater Alfred Hoche, ihre Forderung nach der Erlösung unheilbar kranker und lebensuntüchtiger Menschen in einen größeren historischen Zusammenhang ein : „Es gab eine Zeit, die wir jetzt als barbarisch betrachten, in der die Beseitigung der lebensunfähig Geborenen oder Gewordenen selbstverständlich war; dann kam die jetzt noch laufende Phase, in welcher schließlich die Erhaltung jeder noch so wertlosen Existenz als höchste sittliche Forderung galt; eine neue Zeit wird kommen, die von dem Standpunkte einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderungen eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen.“1 In dieser Zeit höherer Sittlichkeit – so die Prophezeiung Hoches – werden wir „zu der Auffassung heranreifen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt“.2 So spannen Binding und Hoche den Bogen von den spartanischen Kindstötungen und dem antiken Gedanken, den ( ärztlich ) herbeigeführten Tod als Erlösung anzusehen,3 hin zu einer Neubewertung des menschlichen Lebens nach seiner gesellschaftlichen
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Karl Binding / Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920, S. 62, Hervorhebung im Original. Zu historischen Einordnung und zu den Fortwirkungen der Schrift vgl. Ortrun Riha ( Hg.), „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Beiträge des Symposiums über Karl Binding und Alfred Hoche am 2. Dezember 2004 in Leipzig, Aachen 2005. Ebd., S. 57, Hervorhebung im Original. Zum Begriff der Euthanasie in der Antike vgl. Udo Benzenhöfer, Der gute Tod ? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, S. 42.
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Gerrit Hohendorf
Nützlichkeit. Mit der Stringenz juristischer Argumentation und der Beweiskraft ärztlicher Erfahrung versuchen sie, bestimmte Formen menschlichen Lebens aus dem Schutzbereich des Staates herauszudefinieren, und sie sehen sich dabei – gegen zeitgenössische Vorurteile „überspannter Humanität“ – als Avantgarde einer „höheren Sittlichkeit“, die ein Dutzend Jahre später in der Zeit des Nationalsozialismus immer wieder bemüht wurde. Wie treffgenau diese 1920 – ohne jeden Bezug zu einer parteipolitischen Orientierung, aber doch mit völkisch nationaler Ausrichtung – formulierte Umwertung des menschlichen Lebens in Programm und Propaganda des nationalsozialistischen Staates passte, zeigte Joseph Goebbels 1938 in einer Rede vor Parteigenossen, indem er das Ideal christlicher Caritas – wie es in den sechs körperlichen Werken der Barmherzigkeit nach Mt 24,35 f formuliert ist – parodierte : „Wir gehen nicht von dem einen Menschen aus, wir vertreten nicht die Anschauung, man muss die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken und die Nackten bekleiden [...]. Unsere Motive sind ganz anderer Art. Sie lassen sich am lapidarsten in dem Satz zusammenfassen : Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in der Welt durchsetzen zu können.“4 Damit sind wesentliche Normen „nationalsozialistischer Moral“ benannt, die Gesundheit und Stärke des eigenen Volkes über die Interessen des einzelnen Individuums und über die Interessen von Menschen anderer Volks - und Rassenzugehörigkeit stellen. Nächstenliebe und Fürsorge für schwache, kranke und arme Menschen werden damit – ganz im Sinne sozialdarwinistischen Denkens – als unbiologisch bzw. unnatürlich abgewertet. Nun kann man argumentieren, dass Joseph Goebbbels sich damit grundsätzlich außerhalb jeglichen moralischen Diskurses stellt. Denn kann es ein ethisches Handeln geben, das die Rechte des Stärkeren und die Rechte des eigenen Volkes kategorisch über die berechtigten Interessen von Individuen stellt ? – Insofern Ethik ein Verfahren zur moralischen Bewertung von Handlungen und Handlungsregeln ist, das notwendiger weise die Interessen einzelner Menschen bzw. einzelner Gruppen von Menschen relativiert und einen Anspruch auf universelle Gültigkeit erhebt, kann eine partikulare oder „völkische“ Moral, die kategorisch die Interessen eines erbgesunden, starken und „rassereinen“ deutschen Volkes vertritt, keine ethische Theorie im engeren Sinne sein.5 Diese Form der „völkischen“ Moral kann auch keinen universellen Geltungsanspruch erheben, auch wenn sie der Form und der Sprache nach einen moralischen Anspruch erhebt und mit der Ver-
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Joseph Goebbels, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Rede vom 12. September 1938 in Nürnberg. Zit. nach Hellmuth Störmer, Das rechtliche Verhältnis der NS-Volkswohlfahrt und des Winterhilfswerks zu den Betreuten im Vergleiche zur öffentlichen Wohlfahrtspflege, Berlin 1940, S. 36. Vgl. den Beitrag von Wulf Keller wessel in diesem Band. Siehe auch die Begründung einer egalitären, universalistischen Moral aus der Perspektive des Kontraktualismus durch Ernst Tugendhat, Der moralische Universalismus in der Konfrontation mit der Nazi - Ideologie. In : Werner Konitzer / Raphael Gross ( Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, S. 61–75.
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pflichtung auf Tugenden wie Treue und Ehre daherkommt.6 Insofern sich diese Moral auf eine höhere Sittlichkeit beruft, verliert sie den Anspruch des Humanen. Aber den Nationalsozialisten ging es ja gerade nicht um Menschlichkeit, sondern um die Wiedereinsetzung der Gesetze der Natur („Kampf ums Dasein“). Insofern verwundert es nicht, wenn eine solche „höhere Sittlichkeit“ mit den Methoden von Terror und Gewalt durchgesetzt wurde und das Ergebnis Vernichtung und Tod gewesen sind. Damit könnte die Auseinandersetzung mit einer „nationalsozialitischen Moral“ sein Bewenden haben, und es bleibt die Antwort, die in Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland 1949 gegeben worden ist, nämlich der Anspruch einer universellen Gültigkeit der Würde des Menschen und der damit verbundenen Grundrechte.7
II.
Die ethische Frage nach dem „lebensunwerten Leben“
Nun gibt es aber durchaus subtilere moralische Einfallstore, mit denen sich der Gedanke der „Vernichtung lebensunwerten Leben“ seinen Weg gebahnt hat bis hin zur Rechtfertigung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Aktionen. Diese sind : 1. die Forderung nach einem „Recht auf den Tod“, das dem autonomen Individuum zustehe und das die Verfügungsgewalt über das eigene Leben und den eigenen Körper beinhalte,8 2. der Gedanke, dass Menschen und insbesondere Ärzte, in Situationen unheilbarer Krankheit und unerträglichen Leidens den Tod aus Mitleid herbeiführen sollten,9
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Vgl. Wolfgang Bialas, Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus. Zum Zusammenhang von Philosophie, Ideologie und Moral. In : ebd., S. 30–60. Nach traditioneller Rechtsprechung des Bundesverfassungsverfassungsgerichts kommt dem Menschen bzw. menschlichem Leben Würde allein kraft seines Menschseins zu, unabhängig davon, ob spezifisch menschliche Eigenschaften – wie sittliche Autonomie und Freiheit – auch aktuell realisiert werden. In dieser transzendentalen Begründung des Kerngehalts der Menschenwürde folgt das Bundesverfassungsgericht dem Würdebegriff bei Immanuel Kant. Eine Verletzung der Menschenwürde liegt insbesondere dann vor, wenn der Menschen zum reinen Objekt ( staatlichen ) Handelns degradiert wird und nicht mehr als Subjekt, d. h. als Zweck an sich selbst anerkannt wird. Vgl. Tatjana Geddert - Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, Berlin 1990, S. 31–38. Vgl. Adolf Jost, Das Recht auf den Tod. Sociale Studie, Göttingen 1895, S. 37 : „Derjenige also, der in der Lage ist, in einer unheilbaren schmerzhaften Krankheit sich dem Leben zu entziehen, ist nicht zu entschuldigen, sondern vielmehr zu rechtfertigen, wenn er sich tödtet; er handelt einfach in Ausübung eines ihm zustehenden Rechtes“ ( Hervorhebung im Original ). Vgl. ebd., S. 6.
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3. die Idee, dass sich der Wert eines menschlichen Lebens nicht nur subjektiv von dem Betroffenen selbst, sondern auch von außen betrachtet nach dem Grad seiner Nützlichkeit für die Gesellschaft und nach dem Herausfallen aus gesellschaftlichen Bezügen bestimmt werden kann.10 Diese – in ethischer Hinsicht – diskussionswürdigen Voraussetzungen bilden das gedankliche Fundament der oben erwähnten Schrift von Binding und Hoche. Die zentrale Frage dieser Schrift lautet : „Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat ?“11 Aus dieser rhetorischen Frage heraus leitet Binding nicht nur die Straf losigkeit des Suizids unter der Bedingung des Lebensunwerts ab, sondern auch die Freigabe der Tötung auf Verlangen bei unheilbarer Erkrankung, die Tötung der Bewusstlosen, die zu einem namenlosen Elend erwachen würden, und die Erlösung der als „geistig tot“ apostrophierten „Ballastexistenzen“ in den Heil - und Pflegeanstalten. Letztere haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben, und so sei ihre Tötung kein Unrecht.12 Der aus ethischer Sicht entscheidende Punkt ist, dass die Bewertung von bestimmten Leidenszuständen oder Formen menschlichen Lebens als „lebensunwert“ sowohl die „Erlösung“ auf Wunsch der Betroffenen als auch die Vernichtung derjenigen zu rechtfertigen scheint, die sich ( scheinbar ) nicht mehr äußern können. Dabei ist die Bestimmung des „Lebensunwertes“ aus einer Außenperspektive heraus abhängig von gesellschaftlichen Wertsetzungen. So induziert auch der autonom geäußerte Wunsch nach medizinischer Lebensbeendigung eine schiefe Ebene, nämlich dann, wenn es gesellschaftlich bestimmbare Kriterien geben soll, die medizinische Lebensbeendigung zulassen. Diese Bedingungen ( Unheilbarkeit der Erkrankung, unerträgliches Leiden, Nutzlosigkeit des Weiterlebens ) legen dann nämlich auch die nichtfreiwillige Lebensbeendigung z. B. bei den Zuständen des „geistigen Todes“ nahe.
III.
Die Folgen der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ – Ökonomie der Erlösung
Bindings und Hoches Schrift wurde in der Weimarer Republik sowohl unter Juristen als auch unter Medizinern kontrovers diskutiert.13 Das Deutungs10 Vgl. ebd., S. 13 : „Der Werth eines Menschenlebens kann, einer rein natürlichen Betrachtungsweise nach, sich nur aus zwei Faktoren zusammensetzen. Der erste Faktor ist der Werth des Lebens für den betreffenden Menschen selbst, also die Summe von Freude und Schmerz, die er zu erleben hat. Der zweite Faktor ist die Summe von Nutzen oder Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstellt.“ 11 Binding / Hoche, Freigabe der Vernichtung, S. 27 und 51, Hervorhebung im Original. 12 Vgl. ebd., S. 13–34 und 53–58. 13 Zur Debatte um die Euthanasie in der Weimarer Republik vgl. Michael Schwartz, „Euthanasie“ - Debatten in Deutschland (1895–1945). In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998), S. 617–665, hier 625–640, und Gerrit Hohendorf, Von der medi-
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schema des „lebensunwerten Lebens“ jedoch wurde zum Referenzpunkt der Debatte um die Sterbehilfe bis in die 1960er Jahre hinein.14 Es diente auch der ideologischen und juristischen Rechtfertigung der Krankentötungen im Nationalsozialismus.15 Die von Binding und Hoche geprägten Begriffe finden sich in den 1930er Jahren auch in einzelnen psychiatrischen Krankenakten, was zwar keine Repräsentativität für die deutsche Psychiatrie in Anspruch nehmen kann, aber doch ein bedenkliches Licht auf die Einstellung einzelner Anstaltspsychiater wirft und erklären kann, warum die Deportation der anvertrauten Patientinnen und Patienten in die Tötungsanstalten der „Euthanasie“ - Aktion nicht insgesamt stärkeren Widerstand unter den deutschen Psychiatern hervorrief. So heißt es über die 32 - jährige Adelheid B., die an einer geistigen Entwicklungsstörung litt und sich seit ihrer Kindheit in Heil - und Pflegeanstalten befand : „Weiterhin entsetzlich schwierig u. störend. Lebensunwertes Leben !“ Ein weiterer Eintrag lautet : „Nichts Neues. Hat alle paar Wochen irgendeine Verletzung oder Eiterung. Übersteht aber jedes Malheur. – Tierischer als ein Tier.“16 Über die an einer Schizophrenie erkrankte Helene N. lautet einer der letzten Verlaufseinzinischen Sterbebegleitung zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Euthanasiedebatten in Deutschland und Österreich 1895–1945. In : Brigitte Kepplinger / Florian Schwanninger / Irene Zauner-Leitner (Hg.), Geschichte und Verantwortung. Der Lernund Gedenkort Schloss Hartheim, Linz (im Druck), mit weiterer Literatur. 14 Vgl. z. B. die Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofes vom 6. 12. 1960 (1 StR 404/60), die zur Aufhebung des Urteils gegen den Leiter der Gesundheitsabteilung des Bayerischen Innenministeriums Walter Schultze führte, der für die Verlegung von Bayerischen Anstaltspatienten in die Tötungsanstalten der nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Aktion T4 verantwortlich gewesen ist. Es erscheine nicht „ausgeschlossen, dass der Angeklagte nach der Ansicht des Schwurgerichts unwiderlegbar der Meinung gewesen ist, die Tötungsaktion Hitlers beziehe sich nur auf unheilbar Geisteskranke, denen jeder natürliche Lebenswille fehle, und durch gewissenhafte Prüfung namhafter Ärzte werde Sorge getragen, dass man nur solche Kranke mit der Aktion erfasse. Dann aber hätte sich, worauf die Revision zutreffend hinweist, der Angeklagte mit seinem angeblichen Verbotsirrtum im Einklang mit den Auffassungen von Wissenschaftlern befunden, denen man schwerlich den Vorwurf verbrecherischer Absichten machen kann und die sich in den gekennzeichneten engen Grenzen bereits vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus für die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘ ausgesprochen hatten.“ Zit. nach Ermittlungsverfahren gegen Walter Schultze Staatsanwaltschaft München 1 Js 1793/47 ( Staatsarchiv München StA 19501, Band 3, S. 370–377, hier 374 recte ). 15 Einer der Sachbearbeiter der für die Krankentötungen im Nationalsozialismus zuständigen Kanzlei des Führers sagte nach dem Krieg aus, dass man auf Erkenntnissen von Wissenschaftlern aufgebaut habe, die mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt hätten, wie Karl Binding und Alfred Hoche. Vgl. Udo Benzenhöfer, Bemerkungen zur Binding - Hoche - Rezeption in der NS - Zeit. In : Riha ( Hg.), „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, S. 114–133, hier 131. 16 Krankenakte der Heil - und Pflegeanstalt Wiesloch ( Bundesarchiv Berlin, R 179/24496), zur Lebensgeschichte von Adelheid B. vgl. Gerrit Hohendorf, Adelheid B. „... wiederholt fast beständig eine eigentümliche Reihe von Tönen“. In : Jüdisches Museum Berlin ( Hg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen 2009, S. 24– 29, zum Kontext siehe auch Juliane C. Wilmanns / Gerrit Hohendorf, Der Verlust des Mitgefühles in der Psychiatrie im Nationalsozialismus. In : Hans Förstl ( Hg.), Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sittlichen Verhaltens, 2. Auflage Heidelberg 2012, S. 227–251, hier 245–246.
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träge in der Krankengeschichte : „Weiter so. Geistig tot. Das Krankenblatt sollte abgeschlossen werden, da sich auch in Zukunft nichts ändern wird. Der einzige Eintrag, der sich noch lohnt, ist die Notiz des Sterbedatums.“17 Beide Patientinnen wurden 1940 in die Gasmordanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb verlegt und ermordet. Im Deutschen Reich organisierte ab dem Frühjahr 1939 ein Expertenkreis in der Kanzlei des Führers18 sowohl die Selektion von geistig und körperlich behinderten Kindern in den Kinderfachabteilungen als auch die Erfassung und Selektion der Patienten und Patientinnen in den Heil - und Pflegeanstalten („Aktion T4“ 1939–1941), scheinbar legitimiert durch ein auf den Kriegsbeginn am 1. September 1939 rückdatiertes Schreiben von Adolf Hitler. Insgesamt sind allein auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches etwa 300 000 Menschen den verschiedenen Formen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ zum Opfer gefallen. Hierin eingeschlossen sind die Opfer von gezieltem Verhungernlassen und Medikamentenüberdosierungen, Tötungsformen einer mit den Kriegsjahren immer undifferenzierter werdenden Praxis der dezentralen „Euthanasie“, wie sie bis zum Kriegsende 1945, also auch nach dem taktischen Stopp der „Aktion T4“ im Sommer 1941, fortgesetzt wurde. Im Rahmen der „Aktion T4“ erhielten die Heil - und Pflegeanstalten im damaligen Reichsgebiet ab Herbst 1939 einseitige Meldebögen mit mehr oder weniger differenzierten Fragen zu Person, Angehörigen, Krankheitsbild, Länge des Anstaltsaufenthaltes, Art der Einweisung sowie zu Verhalten und Arbeitsleistung in der Anstalt. Allein aufgrund dieser Meldebögen wurde die Entscheidung über Leben und Tod getroffen, von 4 Gutachtern eines psychiatrischen Expertenkreises. Aufgrund der Gutachterentscheidungen wurden in der T4- Zentrale Transportlisten zusammengestellt, anhand derer die selektierten Patienten schließlich direkt oder über Zwischenanstalten in die Gasmordanstalten der „Aktion T4“ deportiert wurden.19 Zur Durchführung der „Aktion T4“ konnten in den letzten Jahren durch die unerwartete Entdeckung von 30 000 Krankenakten der insgesamt 70 000 Opfer 17 Krankenakte der Heil - und Pflegeanstalt Wiesloch ( Bundesarchiv Berlin, R 179/24884). 18 Die den Krankenmord organisierende Abteilung der Kanzlei des Führers hatte ab Frühjahr 1940 ihren Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4, daher auch das Kürzel „T4“. 19 Zur Geschichte der NS - „Euthanasie“ vgl. die grundlegenden Werke von Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, überarbeitete Neuauf lage Frankfurt a. M. 2010; Michael Burleigh, Death and Deliverance. ‚Euthanasia‘ in Germany c. 1900–1945, Cambridge 1994, dt. Übers. Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich 2002; Henry Friedlander, The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill 1995, dt. Übers. Der Weg zum NS - Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, und Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS - Psychiatrie, Freiburg i. Brsg. 1998. Zusammenfassend siehe Gerrit Hohendorf, Ideengeschichte und Realgeschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“ im Überblick. In : Petra Fuchs u. a. ( Hg.), „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Göttingen 2007, S. 36–52.
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in einem Archiv des Ministeriums für die Staatssicherheit der DDR wesentliche neue Erkenntnisse gewonnen werden.20 Im Rahmen eines Forschungsprojektes wurde eine Stichprobe der 30 000 erhaltenen Krankenakten der Opfer der „Aktion T4“ untersucht. Dabei ließen sich – mithilfe einer Vergleichsstichprobe überlebender Patienten – die Kriterien der Selektion der Opfer rekonstruieren. Als entscheidendes Selektionskriterium erwies sich die Bewertung der Arbeitsleistung in der Anstalt : Während 46,3 Prozent der T4- Opfer nicht gearbeitet haben und 26,9 Prozent als wenig brauchbar eingestuft wurden, galten 43,5 Prozent der Überlebenden als „produktive Arbeiter“ und 26,5 Prozent wurden in ihrer Arbeitsleistung als mittelmäßig bewertet.21 Eine Überlebenschance hatte nur, wer „produktive“ Arbeit leistete. Diese Ökonomie der Erlösung wird auch in der sogenannten „Hartheim - Statistik“ deutlich, in welcher die durch die „Desinfektion“ von 70 273 Menschen eingesparten Mittel auf 885 439 800 Reichsmark beziffert werden.22 Während die „Aktion T4“ aufgrund der Unmöglichkeit der Geheimhaltung, zunehmender Unruhe in der Bevölkerung und des öffentlichen Protests des Bischofs von Münster, Clemens August Kardinal von Galen, im August 1941 unterbrochen wurde,23 ging die Ermordung der Kinder und Jugendlichen in sogenannten Kinderfachabteilungen bis Kriegsende und mancherorts bis Anfang Juli 1945 weiter.24 Gegenüber dem summarischen und die Individualität
20 Zur Überlieferungsgeschichte der Krankenakten der Opfer der „Aktion T4“ vgl. Peter Sandner, Die „Euthanasie“ - Akten im Bundesarchiv. Zur Geschichte eines lange verschollenen Bestandes. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 47 (1999) 3, S. 385–400, und ders., Schlüsseldokumente zur Überlieferungsgeschichte der NS - „Euthanasie“ Akten gefunden. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 51 (2003) 2, S. 285–290. 21 Vgl. Maike Rotzoll / Petra Fuchs / Paul Richter / Gerrit Hohendorf, Die nationalsozialistische „Euthanasieaktion T4“. Historische Forschung, individuelle Lebensgeschichten und Erinnerungskultur. In : Der Nervenarzt, 81 (2010), S. 1326–1332, hier 1330. Vgl. auch Gerrit Hohendorf, Empirische Untersuchungen zur nationalsozialistischen „Euthanasie“ bei psychisch Kranken – mit Anmerkungen zu aktuellen ethischen Fragestellungen, München 2008, S. 79–116, und Gerrit Hohendorf, Die Selektion der Opfer zwischen rassenhygienischer „Ausmerze“, ökonomischer Brauchbarkeit und medizinischem Erlösungsideal. In : Maike Rotzoll u. a. ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T4“. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010, S. 310–328. Siehe jetzt auch Gerrit Hohendorf, Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 2013, im Druck. 22 Sogenannte Hartheim - Statistik, ein von Major Charles H. Dameron am 21. Juni 1945 in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz / Oö gefundenes Heft, das die durch die „Desinfektion“ von 70 273 Anstaltspatienten eingesparten Pflegekosten und Lebensmittel auf listet bis zum Jahr 1951 ( National Archives an Records Administration, College Park/ MD, US - Army Europe, Record Group 549, Box 491), S. 4. 23 Vgl. Faulstich, Hungersterben, S. 273–288, und Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003, S. 127–151. 24 Vgl. Sascha Topp, Der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb - und anlagebedingter schwerer Leiden“. Zur Organisation der Ermordung minderjähriger Kranker im Nationalsozialismus 1939–1945. In : Thomas Beddies / Kristina Hübener ( Hg.),
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der Betroffenen nivellierenden Selektionsverfahren der „Aktion T4“ wurden die geistig bzw. körperlich behinderten Kinder in den Kinderfachabteilungen in der Regel über einen mehr oder weniger längeren Zeitraum beobachtet, bevor vom „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb - und anlagebedingter schwerer Leiden“ eine „Ermächtigung“ zur Behandlung, d. h. zur Tötung ausgesprochen wurde. Gegenüber den Eltern versicherte man, dass alle zur Verfügung stehenden modernen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden würden, was nicht den Tatsachen entsprach, und versuchte einen natürlichen Tod durch eine Lungenentzündung zu suggerieren. In Wirklichkeit wurden die Kinder durch überdosierte Medikamente um ihr Leben gebracht. In den erhaltenen Briefen oder auch in Gesprächsnotizen von Ärzten lässt sich auf Seiten der Eltern nicht nur die Hoffnung auf Besserung des Zustandes des Kindes oder ein Protest gegen die angenommene Tötung feststellen. In einer Reihe von Fällen findet sich vielmehr eine ausgesprochen ambivalente Haltung. Diese Gruppe von Eltern sah den Tod ihrer Kinder als „Erlösung“ an, wollte jedoch an der Entscheidung über die Tötung ihrer Kinder nicht direkt beteiligt sein, ja möglichst nichts davon wissen.25 Der folgende Brief einer Mutter aus dem Jahr 1943 an Johann Duken,26 den Direktor der Heidelberger Kinderklinik, der die Einweisung der dreijährigen Christel in die Kinderfachabteilung Eichberg veranlasst hatte, verdeutlicht die Bedeutung des Gedankens der „Erlösung“ für die Eltern der ermordeten Kinder. „Sehr verehrter Herr Professor ! [...] Unsere liebe kleine Christel ist nach 5tägigem Aufenthalt in der Heilanstalt Eichberg am 30. Juni gestorben. Ich war sehr erschrocken über diesen schnellen Tod in Eichberg und glaubte zuerst das Kind sei dort doch nicht gut versorgt worden, da ich es noch so munter von Heidelberg dorthin brachte. Wenn ich geahnt hätte, das[ s ] das kl. Leben sowieso bald erlöschen würde, hätte ich diese beschwerliche Reise nicht mehr unternommen und hätte das Kind noch in Heidelberg gelassen. Hatten Sie es damals schon für möglich gehalten, dass das Kind so schnell sterben würde ? Kinder in der NS - Psychiatrie, Berlin 2004, S. 17–54. Zur Fortsetzung der Krankentötungen in der Heil - und Pflegeanstalt Kaufbeuren bis Anfang Juli 1945 siehe Michael von Cranach, Die Auseinandersetzung mit den Krankenmorden in Kaufbeuren-Irsee – 1945 bis heute. Ein persönlicher Bericht. In: Den Opfern ihre Namen geben. NS-„Euthanasie“-Verbrechen, historisch-politische Verantwortung und Erinnerungskultur. Hg. vom Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Ulm 2011, S. 33–44, hier 34 f. 25 Vgl. Petra Lutz, NS - Gesellschaft und „Euthanasie“ : die Reaktionen der Eltern ermordeter Kinder. In : Christoph Mundt / Gerrit Hohendorf / Maike Rotzoll ( Hg.), Psychiatrische Forschung und NS - „Euthanasie“. Beiträge zu einer Gedenkveranstaltung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Heidelberg 2001, S. 97–113. 26 Zu Johann Duken und zur Heidelberger Kinderklinik in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. Gerrit Hohendorf / Maike Rotzoll / Sigrid Oehler - Klein, Der Pädiater Johann Duken im Dienst nationalsozialistischer Gesundheitspolitik. In : Sigrid Oehler - Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit : Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 323–357.
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Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument 275 Ich denke an Ihre Worte, dass das Kind wohl doch nicht alt geworden wäre, und auch nimmer gesund geworden wäre, und tröste mich mit dem Gedanken, dass es erlöst ist, von seinem schweren Leiden. Uns Eltern ist damit eine grosse Sorge für die Zukunft genommen. Ich danke Ihnen sehr herzlich und grüsse Sie bestens Ihre Mathilde N.“27
In einem anderen Brief wird der Wunsch nach Erlösung deutlicher formuliert. Nachdem der Direktor der Heil - und Pflegeanstalt Eichberg, Dr. Walter Schmidt, dem Vater des zweijährigen Heinz mitgeteilt hatte, dass „wenig Hoffnung auf Besserung besteht“, schrieb der Vater an den Arzt : „Es ist fürwahr für uns eine schwere Aufgabe, ein Kind noch lebend zu wissen, u. keine Rettung mehr in Aussicht. Was Ihm noch bleibt vom Leben, das ist sein Leiden, ein Leiden womöglich ohne Ende. Nach ihrem letzten Schreiben zu urteilen, ist nach den bisherigen ärztlichen Erfahrungen an eine Besserung nicht mehr zu denken. So haben wir nur noch eine Bitte an Sie, wenn schon keine Rettung u. Besserung, oder mit der Zeit Heilung vorhanden ist; So lasst den kleinen, lieben Jungen nicht mehr allzulange sein schweres Leiden ertragen. Ein Gehirn zu operieren, wird wohl so wenig gehen, als das Herz. Wir sind gefaßst [ sic !] auf Alles, auf sein Sterben, als auch auf seinen Tod.“28
Dabei ist der Wunsch der Eltern nach Erlösung ihrer geistig behinderten Kinder kein bloßes Produkt nationalsozialistischer Propaganda. Diesen Wunsch findet man auch bereits sehr eindrucksvoll dokumentiert in der Umfrage, die der Leiter des Katharinenhofes, einer evangelischen Erziehungs - und Pflegeeinrichtung für geistig behinderte Kinder in Sachsen, Ewald Meltzer, Anfang der 1920er Jahre unter den Eltern seiner Pfleglinge durchgeführt hatte. Eigentlich wollte Meltzer die Forderungen von Binding und Hoche empirisch widerlegen. Doch das Ergebnis erstaunte ihn : Der Großteil der Eltern hatte gegen die Erlösung ihrer Kinder nichts einzuwenden : Auf die Frage, ob sie in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens ihres Kindes einwilligen würden, wenn durch Sachverständige festgestellt sei, dass es unheilbar blöd sei, antworteten 119 von 162 Eltern mit „ja“ und nur 43 mit „nein“. Unter den „Nein“ - Sagern waren nur 20 Stimmen, die eine schmerzlose Tötung ihres Kindes unter allen Umständen
27 Brief der Mutter von Christel N. an Prof. Duken vom 6. 7. 1943 ( Universitätsarchiv Heidelberg, Bestand Kinderklinik Acc. 15/01 L - II, Krankenblatt Christel N. Prot. - Nr. 1648/1943). 28 Schreiben des Vaters von Heinz F. an Dr. Schmidt vom 25. 10. 1941 ( Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 430 / Nr. 11074 Krankenakte Heinz F.). Die Worte „nicht mehr zu denken“ und „sein schweres Leiden ertragen“ sind von der Anstalt Eichberg unterstrichen worden, ein Hinweis darauf, dass die Legitimation der Tötung durch den Wunsch der Eltern für die Täter von Bedeutung war. Zur Kinderfachabteilung der Landesheilanstalt Eichberg vgl. Gerrit Hohendorf / Stephan Weibel - Shah / Volker Roelcke / Maike Rotzoll, Die „Kinderfachabteilung“ der Landesheilanstalt Eichberg 1941 bis 1945 und ihre Beziehung zur Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg unter Carl Schneider. In : Christina Vanja u. a. ( Hg.), Wissen und irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg, Kassel 1999, S. 221–243.
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ablehnten.29 Auffallend ist, dass bei den zustimmenden Antworten ökonomische Gründe für die „Erlösung“ der Kinder eine große Rolle spielten. Der Brief eines Bergarbeiters bringt dies unverhohlen zum Ausdruck : „Sind diese geistig Toten nicht eine Last für Staat und Gesellschaft sowohl als auch für ihre Angehörigen?“30 Neben diesen oder ähnlich formulierten Nützlichkeitserwägungen wird der Gedanke angeführt, dass die „Erlösung“ der Kinder eine Tat der Barmherzigkeit sei. Gerade am Beispiel der Tötung behinderter Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus lässt sich zeigen, dass die nationalsozialistischen Funktionseliten, Ärzte, Juristen und Verwaltungsfachleute, es geschickt verstanden haben, eine in der Gesellschaft virulente Frage, nämlich die Frage nach der ärztlichen „Erlösung“ der unheilbar Kranken, auf eine radikale Weise zu lösen und dabei auf ein implizites Einverständnis in Teilen der Bevölkerung hofften. Das Ergebnis ist gleichwohl erschreckend und unmenschlich. Die Ergebnisse der historischen Forschung zur Genese und Praxis der nationalsozialistischen Krankenmorde lassen sich wie folgt zusammenfassen : 1. In der historischen Debatte um die Euthanasie bildete die Selbstbestimmung des Einzelnen über sein Leben und Sterben zwar den Ausgangspunkt der Argumentation, jedoch keine stabile Grenze. Vielmehr zeigt sich eine dem Euthanasiediskurs inhärente Tendenz, von der Tötung auf ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen zur „Erlösung“ auch derjenigen Menschen fortzuschreiten, die ihren Willen nicht mehr äußern können oder die als willensunfähig angesehen werden.31 2. Zentrale Klammer der im Euthanasiediskurs angelegten Verknüpfung von „Erlösung“ auf ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen und Tötung der Äußerungsunfähigen war das Mitleid, das sich auch auf die äußerungsunfähigen Menschen erstreckte, und die Deutung ihres Lebens als „lebensunwert“. Mit dem Begriff des „lebensunwerten Lebens“ wurde eine bestimmte Gruppe von Menschen aus dem staatlichen Schutz des Lebens herausdefiniert. Dabei bestimmte sich der „Lebensunwert“ nicht nur durch das subjektive Gefühl, in seinem Leben bzw. in seinem Leiden keinen Sinn mehr zu sehen, sondern vor allem durch den fehlenden Nutzen für die Umgebung und
29 Vgl. Ewald Meltzer, Das Problem der Abkürzung „lebensunwerten“ Lebens, Halle (Saale) 1925, S. 85–101. 30 Ebd., S. 93. 31 Vgl. auch Michael Wunder, Des Lebens Wert. Zur alten und zur neuen Debatte um Autonomie und Euthanasie. In : Maike Rotzoll u. a. ( Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Aktion „T4“, S. 391–401, hier 391. Vgl. auch Michael Wunder, Medizin und Gewissen. Die neue Euthanasie - Debatte in Deutschland vor dem historischen und internationalen Hintergrund. In : Andreas Frewer / Clemens Eickhoff (Hg.), „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe - Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt a. M. 2000, S. 250–275.
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die Gesellschaft. Dadurch erhielt der Begriff des „lebensunwerten Lebens“ einen quasi objektiven, durch gesellschaftliche Wertmaßstäbe bestimmten Charakter. Pflegebedürftige, psychisch kranke und geistig behinderte Menschen wurden zu „Ballastexistenzen“. Am Beispiel der „Kindereuthanasie“ lässt sich zeigen, dass das verschleierte Angebot einer „Erlösung“ der Kinder bei einem Teil der Bevölkerung in der besonderen Situation des Krieges auf Akzeptanz gestoßen ist. 3. Eine Untersuchung der Selektionskriterien der „Aktion T4“ zeigt – unabhängig von den Rechtfertigungsstrategien der ärztlichen Täter – das kalte ökonomische Kalkül der nationalsozialistischen Euthanasie. Dem hochgespannten Erlösungsanspruch des Euthanasiegedankens liegt historisch gesehen eine Bestimmung des Wertes menschlichen Lebens in erster Linie nach ökonomischer Nützlichkeit zugrunde.
IV.
Die aktuelle Debatte um die Sterbehilfe : die autonome Entscheidung der Betroffenen bildet keine stabile Grenze
Die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe in Deutschland ist sehr stark durch den Gedanken der Autonomie und des Verfügungsrechtes über das eigene Leben und den eigenen Tod geprägt.32 In diesem Sinne ist auch das deutsche Patientenverfügungsgesetz aus dem Jahr 2009 zu verstehen.33 Allerdings zeigt die aktuelle internationale und deutsche Debatte um die Euthanasie, dass das Postulat der Autonomie auch gegenwärtig keine stabile Grenze bildet.34 In den Niederlanden, dem ersten Land weltweit mit einem Euthanasiegesetz,35 gibt es
32 Die aktuelle Debatte über die Sterbehilfe in Deutschland ist von der Zahl der Publikationen her kaum mehr zu überschauen. Zwei Sammelbände seien herausgegriffen : Adrian Holderegger ( Hg.), Das medizinisch assistierte Sterben. Zur Sterbehilfe aus medizinischer, ethischer und juristischer und theologischer Sicht, 2., erw. Auf lage Freiburg i. Ue. 2000. Mit Berücksichtigung der internationalen Debatte und aktuell mit Betonung des Autonomiekonzepts Felix Thiele ( Hg.), Aktive und passive Sterbehilfe. Medizinische, rechtswissenschaftliche und philosophische Aspekte, 2. Auf lage München 2010. Als Monografie in der Auseinandersetzung mit wesentlichen Argumentationsfiguren der Sterbehilfedebatte weiterhin lesenswert ist Markus Zimmermann, Euthanasie. Eine theologisch - ethische Untersuchung, 2., erw. und überarb. Auf lage Freiburg i. Ue. 2002. 33 Vgl. Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts, Bundestagsdrucksache 593/09 vom Deutschen Bundestag beschlossen am 19. 6. 2009, vgl. die Übersichtsdarstellung Thorsten Verrel / Alfred Simon, Patientenverfügungen. Rechtliche und ethische Aspekte, Freiburg i. Brsg. 2010. 34 Vgl. auch Wunder, Des Lebens Wert, S. 394. 35 Vgl. Elena Fischer, Recht auf Sterben ? ! Ein Beitrag zur Reformdiskussion der Sterbehilfe in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach der Übertragbarkeit des Holländischen Modells der Sterbehilfe in das deutsche Recht, Frankfurt a. M. 2004, S. XIX - XXVI. Die Sorgfaltskriterien für die Zulässigkeit von Tötung auf Verlangen und ärztlich assistiertem Suizid in den Niederlanden lauten : 1. Freiwilligkeit
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neben den unter Einhaltung bestimmter Sorgfaltskriterien erlaubten Formen medizinischen Tötens ( Tötung auf ausdrückliches Verlangen des Betroffenen und ärztlich assistierter Suizid ) weiterhin eine Praxis nichtfreiwilliger Euthanasie. Folgt man empirischen Erhebungen, gab es im Jahr 2005 etwa 550 Fälle (entsprechend 0,4 Prozent) pro Jahr, in denen das Leben von schwer kranken Menschen ärztlich beendet wurde, ohne dass ein ausdrückliches Verlangen der Betroffenen vorgelegen hätte, dabei erfolgte die Lebensbeendigung überwiegend auf Wunsch der Angehörigen.36 Die Fälle nichtfreiwilliger Euthanasie sind im Vergleich zu den vorangegangenen Erhebungen in den Jahren 1990, 1995 und 2001 leicht gesunken. Bedenklich ist allerdings, dass ein Teil der Patienten, die sich zumeist im Endstadium einer unheilbaren Erkrankung befunden haben, vor der Tötung hätten gefragt werden können, ob sie von ihrem Leiden durch ein tödliches Medikament erlöst werden wollen, so jedenfalls die Studien aus den Jahren 1990 und 1995.37 Die aktuelle Erhebung macht zur Frage der Einwilligungsfähigkeit der getöteten Patienten keine vollständigen Angaben. Die befragten Ärzte gaben in 60 Prozent der Fälle an, im Einklang mit einem zuvor geäußerten Wunsch des Patienten gehandelt zu haben.38 In quantitativer Hinsicht wird man also nicht von einer zunehmenden Ausweitung auf Euthanasie ohne ausdrückliches Verlangen des Betroffenen sprechen können, aber doch von einem in den letzten 20 Jahren nicht wirklich kontrollierbaren Missbrauch der gesetzlichen Regelung. Darüber hinaus gibt es in den Niederlanden aber Ausweitungen des Anwendungsbereichs der medizinischen Lebensbeendigung, die die ursprünglich eng gefassten Sorgfaltskriterien der Euthanasie aufweichen. So debattiert man darüber, ob aktive ärztliche Lebensbeendigung auch für Men-
des Verlangens nach reif licher Überlegung 2. Aussichtslosigkeit des Zustands und Unerträglichkeit des Leidens 3. Informiertheit über die medizinische Situation 4. Fehlen einer anderen akzeptablen Lösung 5. Unabhängige Meinung eines zweiten Arztes. 6. Medizinische Sorgfalt bei der Durchführung. 36 Vgl. Agnes van der Heide / Bregie D. Onwuteaka - Philipsen / Mette L. Rurup / Hilde M. Buiting / Johannes J. M. van der Delden / Johanna E. Hanssen - de Wolf / Anke G. J. M. Janssen / H. Roeline W. Pasman / Judith A. C. Rietjens / Cornelius J. M. Prins / Ingeborg M. Deerenberg / Joseph K. M. Gevers / Paul J. van der Maas / Gerrit van der Wal G, Endof–Life Practices in the Netherlands under the Euthanasia Act. In : The New England Journal of Medicine, 356 (2007) 19, S. 1957–65. 37 In der Studie von 1990 wurden 36 % der ohne ausdrückliches Verlangen getöteten Patienten als urteilsfähig ( „competent“ ) angesehen. Vgl. Loes Pijnenborg / Paul J. van der Maas / Johannes J. M. van Delden / Caspar W. N. Looman, Life - terminating acts without explicit request of patient. In : The Lancet, 341 (1993), S. 1196–1199, hier 1198, Table II. Laut der Studie aus dem Jahr 1995 waren 21 % der ohne ausdrückliches Verlangen getöteten Patienten urteilsfähig, vgl. Paul J. van der Maas / Gerrit van der Waal/ Ilinka Haverkate / Carmen L. M. de Graaff / John G. C. Kester / Bregje D. Onwuteaka Philipsen / Agnes van der Heide / Jacqueline M. Bosma / Dick L. Willems, Euthanasia, Physician - Assisted Suicide and other Medical Practices involving the End of Life in the Netherlands. In : The New England Journal of Medicine, 335 (1996) 22, S. 1699–1705, hier 1704, Tabelle 4. 38 Vgl. van der Heide u. a., End - of - Life Practices in the Netherlands under the Euthanasia Act, S. 1960.
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schen mit einer Demenzerkrankung möglich sein soll, sei es im Hinblick auf das zu erwartende Leiden im Frühstadium der Erkrankung, sei es vorausverfügt für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit.39 Weiterhin wird in den Niederlanden zurzeit eine Praxis der Euthanasie für schwerbehinderte Neugeborene auf Wunsch der Eltern etabliert,40 obwohl dies der ursprünglichen Definition von Euthanasie nicht entspricht. Die Debatte in Deutschland erstreckt sich ebenfalls auf aktuell einwilligungsunfähige Menschen : so auf die Frage der Beendigung der künstlichen Ernährung bei Wachkomapatienten entsprechend ihrem mutmaßlichen Willen und die Frage der sogenannten Früheuthanasie bei schwerbehinderten Neugeborenen. Dabei haben sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und die ethische Bewertung von Patienten im sogenannten Wachkoma in den letzten zehn Jahren in Deutschland deutlich verändert. War in den 1990er Jahren noch die Einsicht unstrittig, dass Menschen im Wachkoma aufgrund der Tatsache, dass sie ihren Willen nicht eindeutig kommunizieren können, besonders verletzlich sind und besonderer Zuwendung und Pflege bedürfen,41 so hat die Debatte um die rechtliche Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu einer Situation geführt, in der die Einstellung der künstlichen Ernährung und damit das Sterbenlassen von ( Wach )Komapatienten eine Handlungsoption ist, die dann gerechtfertigt sei, wenn sie dem mutmaßlichen oder dem schriftlichen vorausverfügten Willen des Betroffenen entspreche. Anschaulich beschreibt der Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Putz, der mit dem Freispruch vom Vorwurf des versuchten Totschlags durch den Bundesgerichtshof am 25. Juni 2011 ein wegweisendes Urteil zur rechtlichen Bewertung des Behandlungsabbruchs erstritten hat,42 dass es durchaus um einen Wertewandel innerhalb der Gesellschaft geht : „Die zunehmende Verbreitung von Patientenverfügungen wird dazu beitragen, die allgemeinen Wertvorstellungen zu beeinflussen. Je mehr Menschen sich einer medizinisch möglichen Lebensverlängerung widersetzen, desto mehr wird sich auch der gesellschaftliche Grundkonsens verschieben. Auch Menschen, die diese Vorsorge nicht explizit für sich selbst in perfekter Form wahrgenommen haben, werden dann in den Genuss dieser veränderten Wertewelt kommen. Die Verhältnisse werden sich umkehren : Wer in
39 Vgl. Tony Sheldon, Dutch approve euthanasia for a patient with Alzheimer’s disease. In: British Medical Journal, 330 (2005), S. 1041. 40 Vgl. Eduard Verhagen / Pieter J. J. Sauer, The Groningen Protocol – Euthanasia in Severly Ill Newborns. In : The New England Journal of Medicine, 352 (2005) 10, S. 959–962. 41 Vgl. Dirk Lanzerath, Selbstbestimmung und Fürsorge. Zur ethischen Diskussion um die Behandlung von Patienten mit komplettem appallischen Syndrom. In : Zeitschrift für medizinische Ethik, 42 (1996), S. 287–305. 42 Vgl. Urteil des Bundesgerichtshofes vom 25. Juni 2010, BGH 2 StR 454/09. Rechtsanwalt Putz hatte einer Mandantin geraten, den Schlauch zur künstlichen Ernährung ihrer Mutter zu durchtrennen, nachdem das Pflegeheim die künstliche Ernährung der seit fünf Jahren nach einer Hirnblutung im Koma liegenden Mutter entgegen einem zuvor ausgehandelten Kompromiss wieder aufgenommen hatte. Der Bundesgerichtshof sah hierin einen durch den „wirklichen“ ( von der Mutter gegenüber der Tochter in einem Gespräch geäußerten ) Willen gerechtfertigten Behandlungsabbruch und somit kein strafbares Tötungsdelikt.
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Zukunft ‚Lebensverlängerung um jeden Preis‘ wünscht, wird dies in einer entsprechenden Patientenverfügung niederlegen müssen. Das jahrelange Dahinvegetieren an der Magensonde wird es im Normalfall nicht mehr geben.“43
In diesen Sätzen kommt zum Ausdruck, dass die Ermittlung des Patientenwillens im Zustand der Nichteinwilligungsfähigkeit, der sogenannte mutmaßliche Wille, nicht so unabhängig von allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen ist, wie es das ursprünglich in Anspruch genommene Konzept der Autonomie erfordern würde. Wolfgang Putz prognostiziert einen Wertewandel in der Gesellschaft in dem Sinne, dass ein Leben in einem eingeschränkten Bewusstseinszustand mit künstlicher Ernährung im „Normalfall“ als würdelos angesehen wird. Wenn aber in einer Gesellschaft das Leben in eingeschränkten Bewusstseinszuständen, abhängig von künstlicher Ernährung und intensiver Pflege, allgemein akzeptierten Wertvorstellungen folgend, als unüblich bzw. unnormal bewertet wird, wird der Spielraum von Entscheidungen für eine Fortsetzung dieser Form des Lebens geringer und die Autonomie als Einzelnen letztlich eingeschränkt. In Bezug auf die aktive Sterbehilfe bei schwerbehinderten Neugeborenen haben die Juristen Norbert Hoerster und Reinhard Merkel aus unterschiedlichen Perspektiven für eine rechtliche Zulässigkeit dieser Form der nichtfreiwilligen, weil nicht auf einer autonomen Entscheidung des Individuums beruhenden Form der Sterbehilfe plädiert, wenn schwer wiegende, nicht anders behandelbare Leidenszustände vorliegen. Reinhard Merkel hält die aktive Tötung von schwerbehinderten Neugeborenen bei nicht behandelbaren Leidenszuständen bereits nach geltendem Recht im Sinne eines rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB für gerechtfertigt, wenn das „Sterbensinteresse“ des Neugeborenen eindeutig sein „Lebensinteresse“ über wiege.44 Dabei gesteht Merkel zu, dass diese Abwägungsentscheidung von außen, von den Ärzten und den Betroffenen Eltern getroffen werden muss. Demgegenüber hält Hoerster die aktive Sterbehilfe bei schwerbehinderten Neugeborenen auf Wunsch der Eltern dann für gerechtfertigt, wenn die ärztliche Sterbehilfe dem mutmaßlichen Wunsch des Neugeborenen entspricht : „Der Leidenszustand des Kindes muss so gravierend sein, dass das Kind, wenn es urteilsfähig und über seinen Zustand aufgeklärt wäre, aufgrund reif licher Überlegung die Sterbehilfe selbst wünschen
43 Wolfgang Putz / Beate Steldinger, Patientenrechte am Ende des Lebens. Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung. Selbstbestimmtes Sterben, 3. Auf lage München 2007, S. 27. 44 Vgl. Reinhard Merkel, Früheuthanasie. Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, Baden - Baden 2001, S. 528–534. § 34 StGB lautet : „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“
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würde.“45 Die Rechtfertigung dieser Form der nichtfreiwilligen Sterbehilfe folgt bei Hoerster aus der grundsätzlichen Rechtfertigung „humaner“ ( aktiver ) Sterbehilfe auf ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen. Denn warum sollen, so Hoerster, Menschen in vergleichbaren Leidenszuständen nur deshalb benachteiligt werden, weil sie nicht ausdrücklich um Sterbehilfe bitten können ?46 Analog rechtfertigt Hoerster auch die nichtfreiwillige Sterbehilfe bei erwachsenen Menschen, die nie urteilsfähig waren. In seinem Buch „Sterbehilfe im säkularen Staat“ konstruiert Hoerster das folgende Beispiel, um zumindest theoretisch die ethische Zulässigkeit nichtfreiwilliger aktiver Sterbehilfe zu rechtfertigen : „Angenommen, A war sein ganzes Leben schwer und unheilbar geisteskrank. Jetzt ist er außerdem unheilbar an einer Form von Krebs erkrankt, die ihm bis zu seinem natürlichen Ende unerträgliche Schmerzen bereitet, die durch keine positiven, ihm noch möglichen Erfahrungen annähernd kompensiert werden. Muss man in diesem Fall nicht, da A mit Sicherheit einer aktiven Sterbehilfe niemals ablehnend gegenüberstand, mit Rücksicht auf seinen Leidenszustand von seinem mutmaßlichen Wunsch nach einem möglichst baldigen Tod, also nach aktiver Sterbehilfe, ausgehen ?“47 In diesem Beispiel ist wie bei den schwer behinderten Neugeborenen – streng genommen – für Mutmaßungen über den Willen des Patienten kein Raum, da es keine Äußerungen im Zustand der Einwilligungsfähigkeit gibt, die es erlauben würden herauszufinden, wie gerade dieser individuelle Patient sich in dieser Situation schweren Leidens entscheiden würde, wenn er sich entscheiden könnte. Die von Hoerster eingenommene Perspektive ist also einzig und allein abhängig von den allgemeinen Wertentscheidungen und Haltungen, dies wird schon in dem suggestiven Charakter der von ihm gestellten Frage deutlich : Als mutmaßlicher Wille des Patienten wird eine Werthaltung unterstellt, die urteilsfähige Menschen in dieser Situation vernünftigerweise einnehmen würden : würde nicht jeder in dieser Situation unabwendbaren und unerträglichen Leidens seinen baldigen Tod wollen und konsequenterweise aktive Sterbehilfe für sich in Anspruch nehmen ? Dabei übersieht Hoerster allerdings einen entscheidenden Punkt : der Wunsch nach einem baldigen Tod, der Wunsch zu sterben muss nicht quasi automatisch zu dem Verlangen führen, getötet zu werden. Man kann durchaus seinen Tod herbeisehnen, ohne dass man durch einen anderen Menschen getötet werden will. Demgegenüber aber gibt es für Hoerster Leidenszustände, die so unerträglich sind, dass jeder vernünftige Mensch sich in dieser Situation dafür entscheiden würde, von einem Arzt getötet zu werden. Diese Leidenszustände sind dann in einem quasi objektiven Sinne, also unabhängig von der individuell unterschiedlichen, subjektiven Perspektive des Betroffenen, als nicht mehr „lebenswert“ anzusehen und führen zu der Annahme, dass der 45 Norbert Hoerster, Neugeborene und das Recht auf Leben, Frankfurt a. M. 1995, S. 106 f., Hervorhebungen im Original. 46 Vgl. ebd., S. 104–106. 47 Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M. 1998, S. 97.
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Betroffene, wenn er es könnte, aktive Sterbehilfe einfordern würde. Dabei setzt die Fremdsicht auf schwere Leidenszustände eine Wertentscheidung voraus, die im subjektiven Empfinden des äußerungsfähigen Menschen nicht begründet werden kann. Auch wenn das von Hoerster angeführte Beispiel konstruiert ist und er betont, dass man bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens zur Rechtfertigung aktiver Sterbehilfe besonders vorsichtig sein sollte, so zeigt sich an diesem Punkt auch ein grundsätzliches Problem der Rechtfertigung aktiver Sterbehilfe auf ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen : Es stellt sich mit logischer Konsequenz die Frage, ob nicht auch Menschen, die ihren Willen nicht mehr äußern können, in vergleichbaren Situationen schweren Leidens ein Recht auf aktive Sterbehilfe haben, würde man sie doch benachteiligen, wenn man ihnen die aktive Sterbehilfe vorenthalten würde. Aus diesem Grunde zeigen sowohl der historische Diskurs um die Euthanasie als auch die gegenwärtigen deutschen und internationalen Debatten um die Sterbehilfe eine Tendenz zur Ausweitung von der freiwilligen zur nichtfreiwilligen Euthanasie. So heißt 1895 es in der bereits erwähnten Schrift von Adolf Jost mit dem Titel „Das Recht auf den Tod“: „Wenn wir einen unheilbar Kranken auf seinem Lager unter unsäglichen Schmerzen sich winden sehen, mit der trostlosen Aussicht auf vielleicht noch monatelanges Siechthum, ohne Hoffnung auf Genesung, wenn wir durch die Räume eines Irrenhauses gehen, und es erfüllt uns der Anblick des Tobsüchtigen oder des Paralytikers mit all dem Mitleid, dessen der Mensch fähig ist, dann muss doch trotz allen eingesogenen Vorurtheilen der Gedanke in uns rege werden : ‚haben diese Menschen nicht ein Recht auf den Tod, hat nicht die menschliche Gesellschaft die Pflicht, ihnen diesen Tod möglichst schmerzlos zu geben ?‘“48 Die entscheidende Klammer für beide Fälle, die des ( einwilligungsfähigen ) unheilbar körperlich Kranken und die des ( nicht einwilligungsfähigen ) unheilbar Geisteskranken, ist das mitleiderregende Leiden, das als so unerträglich angesehen wird, dass es nur durch das „Recht auf den Tod“ beseitigt werden kann. Allerdings stellt Jost das Recht des einwilligungsfähigen körperlich Kranken auf seinen Tod an die erste Stelle seiner Forderungen. Die Erlösung der (nichteinwilligungsfähigen ) Geisteskranken ist erst der zweite Schritt in einem grundlegenden Reformprozess des Umgangs mit dem Leben und mit dem Tod.49 Betrachtet man die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe in ihrem geschichtlichen Kontext, aus dem sie nicht vollständig herausgelöst werden kann, so wird deutlich, dass es einen in der Logik des Diskurses begründeten Übergang von der freiwilligen zur nichtfreiwilligen Euthanasie gibt. Die Debatte um die Sterbehilfe lässt sich deshalb, und dies kann durchaus in der Auseinan-
48 Jost, Recht auf den Tod, S. 6. 49 „So wird die Anerkennung des Todesrechtes bei Geisteskranken praktisch jedenfalls erst in zweiter Linie in Betracht kommen, da hier naturgemäß die Zustimmung des Patienten zur Tödtung fehlen müsste, und dieser Umstand wenigstens zu Beginn der Reform, dieser leicht hinderlich sein könnte.“ Ebd., S. 47.
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dersetzung mit der Geschichte des modernen Euthanasiegedankens gelernt werden, nicht auf die autonome Entscheidung des einzelnen Menschen begrenzen, weil als zweite Bedingung zulässiger aktiver Sterbehilfe das unerträgliche Leiden des Betroffenen hinzukommt, das mit einiger Evidenz auch und gerade bei aktuell nicht äußerungs - bzw. nichteinwilligungsfähige Menschen zuzutreffen scheint.
V.
Epochenübergreifende Strukturmomente : „lebensunwertes“ Leben
Für den australischen Bioethiker Peter Singer und seine Mitautorin Helga Kuhse ist eine Debatte um „lebensunwertes Leben“ auch in Deutschland unvermeidlich, so Helga Kuhse im Deutschen Ärzteblatt 1990.50 Mit ihrer Rechtfertigung der Euthanasie für behinderte Neugeborene sorgten Singer und Kuhse in Deutschland damals für großes Aufsehen.51 Doch geht die grundsätzliche philosophische Argumentation Singers zum Recht auf Leben und seine Kritik am Prinzip der Heiligkeit des menschlichen Lebens sehr viel weiter. Für ihn haben Menschen nur dann ein unantastbares Recht auf Leben, wenn sie die Kriterien einer Person erfüllen und über die Eigenschaften Selbstbewusstsein, Rationalität und Autonomie, d. h. die Fähigkeit, Präferenzen für die eigene Zukunft zu entwickeln, verfügen.52 Nichtpersonale menschliche Wesen – wie Neugeborene, die sich noch nicht in die Zukunft entwerfen können, oder Menschen in eingeschränkten Bewusstseinszuständen unterliegen einer einfachen utilitaristischen Bilanz zu erwartender Glücks - bzw. Schmerzempfindungen. Fällt diese Bilanz negativ aus, sollte das Leben nichtpersonaler menschlicher Wesen beendet werden, da ihr Leben mehr Leiden als Lust bedeutet.53 Bei unterschiedlichen philosophischen bzw. weltanschaulichen Prämissen erstaunt die Analogie in der 50 Vgl. Helga Kuhse, Warum Fragen der Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich sind. In : Deutsches Ärzteblatt, 87 (1990) 16, S. 1243–1249. 51 So schreibt Peter Singer in seinem 1979 erschienen Buch Practical Ethics : „Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird.“ In Singers Interpretation des klassischen Utilitarismus sind neugeborene Kinder grundsätzlich ersetzbar ( Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984, S. 183. Vgl. Peter Singer, Praktische Ethik, 2., überarb. Auf lage 1994, S. 238). Seine Schlussfolgerung zum Problem der Euthanasie behinderter Neugeborener lautet : „Der Kern der Sache ist freilich klar : die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht“ ( ebd. 1984, S. 188 ebd. 1994, S. 244). Vgl. auch Helga Kuhse / Peter Singer, Should the Baby Live ? The Problem of Handicapped Infants, Oxford 1985. 52 Zur Definition der Person bei Singer vgl. Singer, Ethik 1984, S. 106–117, und Singer, Ethik 1994, S. 120–136, dazu kritisch Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 1996, S. 252–264. 53 Vgl. Singer, Ethik 1984, S. 117–125 und 178–190; Singer, Ethik 1994, S. 136–146 und 232–246.
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Argumentation, mit der Peter Singer 1979 und Alfred Hoche 1920 bestimmte Gruppen von Menschen von einem staatlich garantierten und unantastbaren Recht auf Leben ausschließen. Hier wie dort findet sich der Vergleich mit dem Tierreich. So heißt es bei Singer provokativ : „Tötet man eine Schnecke oder ein einen Tag altes Kind, so durchkreuzt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche [ hinsichtlich ihrer Zukunft ] zu haben.“54 Hier wie dort findet sich das Argument, dass das Fehlen des Selbstbewusstseins ein persönliches Interesse am Weiterleben ausschließe. So heißt es zu den „geistig Toten“ bei Hoche : „Das Wesentlichste aber ist das Fehlen der Möglichkeit, sich der eigenen Persönlichkeit bewusst zu werden, das Fehlen des Selbstbewusstseins. Die geistig Toten stehen auf einem intellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der Tierreihe wiederfinden, und auch die Gefühlsregungen erheben sich nicht über die Linie elementarster, an das animalische Leben gebundener Vorgänge. Ein geistig Toter ist somit auch nicht imstande, innerlich einen subjektiven Anspruch auf Leben erheben zu können, ebensowenig wie er irgendwelcher anderer geistiger Prozesse fähig wäre.“55 Und Singer definiert den Zusammenhang zwischen Selbstbewusstsein und Recht auf Leben wie folgt : Es erscheint „plausibel, dass die Fähigkeit, die eigene Zukunft ins Auge zu fassen, die notwendige Bedingung für den Besitz eines ernstzunehmenden Rechts auf Leben ist“.56 Und folgerichtig heißt es an anderer Stelle : „Das Leben derer, [...] die zwar Bewusstsein haben, aber kein Bewusstsein von sich selbst, hat einen Wert, wenn sie mehr Lust als Schmerz erleben; aber es ist schwer einzusehen, warum man solche Wesen am Leben erhalten sollte, wenn ihr Leben insgesamt elend ist.“57 Auch wenn Bindings und Hoches Schrift aus dem Geist des Sozialdarwinismus heraus zu verstehen ist, während Singer in der Tradition des Utilitarismus der englischen Aufklärung steht und sich um eine rationale Argumentation bemüht, so kommen beide in der Frage der Euthanasie doch zu dem Schluss, dass das Recht auf Leben abhängig zu machen ist von bestimmten Kriterien wie Selbstbewusstsein, Autonomie und Rationalität. Diese Kriterien werden von nichtpersonalen menschlichen Wesen nicht erfüllt. Ihr Leben steht – bei einem
54 Singer, Ethik 1984, S. 109, fast identisch Singer, Ethik 1994, S. 123. Sicherlich ist Singers Kritik an einer allein auf den Menschen bezogenen Begründung des Rechts auf Leben, ohne Berücksichtigung der Lebensrechte von Tieren, berechtigt und bedarf einer differenzierten Antwort. Doch der Umkehrschluss, aus mangelndem Respekt vor dem Leben von höher entwickelten Tieren auf eine Abwertung des Rechts auf Leben von Menschen zu schließen, die nach Meinung von Singer nicht Personen sind, ist sehr fragwürdig. 55 Binding / Hoche, Freigabe der Vernichtung, S. 57 f., Hervorbebungen im Original. 56 Singer, Ethik 1984, S. 115, Hervorhebung vom Verfasser. Vgl. etwas differenzierter Singer, Ethik 1994, S. 133 : „Um ein Recht auf Leben zu haben, muss man – wenigstens irgendwann – eine Vorstellung einer fortdauernden Existenz ( gehabt ) haben.“ Singer setzt sich hier mit der Position des amerikanischen Philosophen Michael Tooley auseinander. 57 Singer, Ethik 1984, S. 189; Singer, Ethik 1994, S. 245.
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Überwiegen des Leidens – zur Disposition. Ihr Leben ist aber vor allem dann gefährdet, aufgegeben zu werden, wenn sich unter verschärften ökonomischen Bedingungen gesellschaftliche Solidarität und mitmenschliche Zuwendung nicht mehr zu lohnen scheinen. Das hätte Peter Singer in der Auseinandersetzung mit der Genese der nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Verbrechen lernen können.58
VI.
Der Wert des Lebens und die schiefe Ebene
Vor dem Hintergrund bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts praktizierter Euthanasie59 muss die stark formulierte Position des königlich - preußischen Leibarztes und Direktors der Charité in Berlin, Christoph Wilhelm Hufeland, verstanden werden, der bereits 1806 vor absichtlicher ärztlicher Lebensverkürzung warnte : „Wenn ein Kranker von unheilbaren Uebeln gepeinigt wird, wenn er sich selbst den Tod wünscht [...] wie leicht kann da, selbst in der Seele des Bessern, der Gedanke aufsteigen: Sollte es nicht erlaubt, ja sogar Pflicht sein, jenen Elenden etwas früher von seiner Bürde zu befreien [...] ? So viel Scheinbares ein solches Raisonnement für sich hat, so sehr es selbst durch die Stimme des Herzens unterstützt werden kann, so ist es doch falsch, und eine darauf gegründete Handlungsweise würde im höchsten Grade unrecht und strafbar sein. Sie hebt geradezu das Wesen des Arztes auf. Er soll und darf nichts Anderes thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Werth habe oder nicht, dieß geht ihn nicht an, und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht mit in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate; denn ist einmal die Linie überschritten, glaubt sich der Arzt einmal berechtigt, über die Nothwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, so braucht
58 Demgegenüber ist die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen „Euthanasie“- Verbrechen bei Singer nicht sehr differenziert. So heißt es in der ersten Auf lage der „Praktischen Ethik“ : „Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, dass alles, was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebensowenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grunde verdammen können“ (Singer, Ethik 1984, S. 210 in der zweiten Auf lage fehlt dieser missverständliche Satz, Hervorhebung im Original). Sicherlich ist mit Singer zu betonen, dass die Motive der nationalsozialistischen Führung bei der Durchführung der Krankenmorde nicht vergleichbar sind mit denen, die die Euthanasiebefürworter in der Gegenwart anführen. Um einen solchen Vergleich geht es auch gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Praxis der nationalsozialistischen Krankenmorde nicht verstanden werden kann, ohne die Rechtfertigungsmuster des „Rechts auf den Tod“, des „lebensunwerten Lebens“ und des dem Mitleid entspringenden Gedanken des „Gnadentodes“. Insofern ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten und Diskontinuitäten der historischen und gegenwärtigen Debatte um die Sterbehilfe sinnvoll. 59 Vgl. Michael Stolberg, Active Euthanasia in Pre - Modern Society, 1500–1800 : Learned Debates and Popular Practices. In : Social History of Medicine, 20 (2007) 2, S. 205–221, und ders., Pioneers of Euthanasia : Two German Physicians Made the Break around 1800. In : The Hastings Center Report, 38 (2008) 3, S. 19–22.
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es nur stufenweise Progressionen, um den Unwerth und folglich die Unnöthigkeit eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden.“60
Sicherlich sich lässt retrospektiv, von der Geschichte der Euthanasie im 20. Jahrhundert und der Medizin im Nationalsozialismus her, die faktische Richtigkeit dieser Prophezeiung feststellen. Was Hufeland hier formuliert, aber ist ein klassisches Argument der schiefen Ebene, das im Englischen als „slippery slope“ bezeichnet wird : Eine in ethischer Hinsicht nachvollziehbare Handlung wird deshalb als moralisch falsch angesehen, weil ihre gesellschaftliche oder gesetzliche Zulassung zu einer Reihe von Nebenfolgen führt, die der ursprünglichen Intention widersprechen und in ein unerwünschtes Endergebnis münden. Das Argument der schiefen Ebene bezieht auch also nicht auf prinzipielle oder kategorische ethische Bewertungen, sondern argumentiert von der Praxis der Anwendung moralischer Normen her.61 Dass hierbei auch historische Erfahrungen eine Rolle spielen können, liegt in der Natur der Sache. Auf Hufeland bezogen, lässt sich das Argument der schiefen Ebene wie folgt rekonstruieren : Für die Zulassung aktiver ärztlicher Sterbehilfe scheinen sowohl Herzens - als auch Vernunftgründe zu sprechen, doch würde die Aufnahme von Tötungshandlungen in das Repertoire ärztlicher Handlungen das Berufsbild und die Aufgaben des Arztes in einer Weise verändern, die in hohem Maße unerwünscht ist : der Arzt würde zum gefährlichsten Mann im Staate, was sich in der Zeit des Nationalsozialismus in erschreckender Weise bestätigte, hier gehörten Ärzte, neben dem Justizapparat, der Polizei und der Wehrmacht tatsächlich zu den exponierten Exekutoren nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Der Grund für die von Hufeland angemahnte Beschränkung des Arztes auf seine eigentliche Aufgabe, Leben zu erhalten ( hinzuzusetzen wäre im Sinne der Palliativmedizin Leiden zu lindern und Sterbenden beizustehen ),62 liegt darin begründet, dass der 60 Christoph Wilhelm Hufeland, Die Verhältnisse des Arztes. In : Hufelands Journal, 23 (1806), S. 15 f., zit. nach Christoph Wilhelm Hufeland, Enchiridion medicum oder Anleitung zur medicinischen Praxis. Vermächtniß einer fünfzigjährigen Erfahrung, 3. Auf lage Herisau 1837, S. 502. 61 Zur Struktur und Klassifikation von Argumenten der schiefen Ebene vgl. Barbara Guckes, Das Argument der schiefen Ebene. Schwangerschaftsabbruch, die Tötung Neugeborener und Sterbehilfe in der medizinethischen Diskussion, Stuttgart 1997, S. 15– 78. Vgl. auch die differenzierte Bewertung von Argumenten der Schiefen Ebene in der Sterbehilfe - Debatte durch Roland Kipke, Schiefe - Bahn - Argumente in der Sterbehilfe Debatte. In : Zeitschrift für medizinische Ethik, 54 (2008) 2, S. 135–146. Die Stärke von differenziert vorgebrachten Argumenten der schiefen Ebene liegt in der Konfrontation der begriff lich normativen Ebene der Rechtfertigung aktiver Sterbehilfe durch das Selbstbestimmungsrecht mit der empirischen Ebene der Praxis der Anwendung moralischer Normen. Ach und Gaidt weisen Argumenten der Schiefen Ebene einen diskursiven Sinn zu : Sie führen zu einer Beweislastumkehr. Die Befürworter der Zulassung aktiver Sterbehilfe müssten nachweisen, dass die plausibel begründeten Befürchtungen der Gegner nicht eintreten. Vgl. Johann S. Ach / Andreas Gaidt, Am Rande des Abgrunds. Anmerkungen zu einem Argument gegen die moderne Euthanasie - Debatte. In : Ethik in der Medizin, 6 (1994), S. 172–188. 62 Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt, 108 (2011) 7, S. A 346–348, hier 348 : „Aufgabe des
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Arzt letztlich kein Urteil über den Wert eines menschlichen Lebens fällen kann und soll. Denn dieses Urteil über den Wert eines menschlichen Lebens, das einer ärztlichen Tötungshandlung notwendigerweise zugrunde liegt, auch wenn diese auf ausdrücklichen und ernsthaften Wunsch des Betroffenen durchgeführt wird, kann eben auch auf Menschen übertragen werden, die man als nicht einwilligungsfähig ansieht. Hier liegen also die von Hufeland gefürchteten Progressionen, die in der Logik der Debatte um die ärztliche aktive Sterbehilfe ( historisch und aktuell betrachtet ) begründet sind. Nun kann man den Wert eines menschlichen Lebens sicherlich auf unterschiedliche Weise bestimmen, beispielsweise im Sinne des gesellschaftlichen Nutzens, wie Binding und Hoche dies getan haben, oder aber als eine hypothetische Summe von positiven und negativen Erfahrungen und Empfindungen, die ein Mensch in der Zukunft machen kann, wie sie sich aus einer utilitaristischen Position heraus ergeben.63 Letztlich jedoch entzieht sich das Urteil über den Wert eines Lebens einer Fremdbeurteilung, subjektiv kann jemand sein Leben unter den gegebenen Umständen schweren Leidens durchaus als „lebensunwert“ ansehen und seinen Tod und ärztliche Beihilfe dazu wünschen. Die Frage ist nur, ob die ( schmerzlose ) Tötung durch den Arzt oder die ärztliche Beihilfe zum Suizid die angemessene Antwort auf diese Wünsche darstellen.64 Dabei ist insbesondere die in den Todeswünschen von Patienten zum Ausdruck kommende Ambivalenz zu berücksichtigen, geht es doch vielfach gar nicht so sehr um das Tot - sein - Wollen an sich, sondern um ein unter den gegebenen Umständen des Leidens Nicht mehr - Leben - Wollen. Der wohlerwogenen, direkten Tötung eines Menschen liegt demgegenüber notwendigerweise die Einschätzung zugrunde, dass ein bestimmtes Leben unter den gegebenen Umständen des Leidens nicht mehr sein soll, es sei denn der Arzt versteht sich als blinden Erfüllungsgehilfen des Patienten. Aber auch bei der ärztlichen Beihilfe zum Suizid wird die Botschaft eines Einverständnisses mit dem Todeswunsch des Patienten vermittelt. Somit wird zumindest die negative Bewertung des Lebens durch den Suizidwilligen nachvollzogen und bestätigt. Die angemessene Antwort auf Wünsche nach ärztlicher Sterbehilfe im Sinne der Palliativmedizin scheint mir jedoch darin zu liegen, alles zu tun, um das Leiden des Patienten in körperlicher, seelischer, sozialer und spiritueller Arztes ist es, unter Achtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen.“ 63 Vgl. auch schon Adolf Jost, Recht auf den Tod, S. 13 : „Der Werth eines Menschenlebens kann, einer rein natürlichen Betrachtungsweise nach, sich nur aus zwei Factoren zusammensetzen. Der erste Factor ist der Werth des Lebens für den betreffenden Menschen selbst, also die Summe von Freude und Schmerz, die er zu erleben hat. Der zweite Factor ist die Summe von Nutzen und Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstellt.“ Zu Bewertung von nicht selbstbewussten Formen menschlichen Lebens im Sinne des klassischen Utilitarismus bei Peter Singer siehe oben. 64 Vgl. Gerrit Hohendorf / Fuat S. Oduncu, Der ärztlich assistierte Suizid. Freiheit zum Tode oder Unfreiheit zum Leben ? In : Zeitschrift für medizinische Ethik, 57 (2011) 3, S. 230–242, hier 231 f.
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Hinsicht zu lindern und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass sein Leben, sei es auch noch so sehr durch den bevorstehenden Tod oder eine schwere Behinderung gezeichnet, doch in der Beziehung zum Arzt, zu den Pflegenden und zu den Angehörigen angenommen wird. Dazu verpflichtet, jenseits von der Indoktrinierung einer bestimmten Weltanschauung oder einer bestimmten religiösen oder metaphysischen Orientierung, die Solidarität einer Gesellschaft im Angesicht von Leiden, Tod und schwerer Behinderung. Dabei zeigt der Umgang mit Todeswünschen und Menschen nach Suizidversuchen ebenso wie die Erfahrung der Palliativmedizin, dass Todeswünsche und der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe vorübergehender Natur sind und aufgefangen werden können, wenn die dahinter liegende seelische Not und Verzweif lung erkannt und mit beantwortet wird.65 Dass es im Einzelfall Grenzsituation und Beziehungen geben mag, in denen der Einzelne sich zu einer Beihilfe zum Suizid verpflichtet fühlt, weil er für diesen einen Menschen keinen anderen Ausweg, keine Lebensmöglichkeit sieht, ist sicherlich nicht zu bestreiten. Nur sollten solche Handlungen in Ausnahmesituation weder zu einer berufsrechtlichen,66 noch zu einer ethischen Normierung der Zulässigkeit von Tötung auf Verlangen oder ärztlich assistiertem Suizid führen. Insofern mag es Einzelfälle geben, in denen eine mit guten Gründen bestehende Norm überschritten wird, nur muss diese Normüberschreitung im Einzelfall als alternativlos begründet werden. Es sind Situationen eines ethischen Dilemmas, die sich einer verallgemeinernden Normierung entziehen. Von Ausnahmesituationen und Einzelfällen ausgehend, eine Norm der ethischen Zulässigkeit von ärztlich assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe zu begründen, hieße diese Ausnahmesituation zu einer häufig und regelhaft auftretenden Situation zu erheben. Damit jedoch ist die Ausweitung einer ursprünglich sehr eng gefassten Regelung in der Praxis der Anwendung vorherzusehen. Zudem erweist sich eine Regelung, die mit letztlich nur subjektiv, aus der Sicht des Betroffenen zu bestimmenden Begriffen, wie unerträgliches Leiden, arbeitet, aufgrund der fehlenden Objektivierbarkeit der Begriffe als nicht begrenzbar. Und wenn man sie zu objektivieren versucht, d. h. letztlich die Ärzte über die Zulässigkeit von aktiver Sterbehilfe entscheiden lässt, so wird das für die Zuläs65 Vgl. ebd., S. 235–239. 66 Die auf dem 114. Deutschen Ärztetag in Kiel 2011 beschlossene Änderung der Musterberufsordnung für Ärzte verbietet die ärztliche Suizidbeihilfe in § 16 ausdrücklich : „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ ( http ://www.bundesaerztekammer.de / downloads / MBO_08_2011.pdf; 24. 10. 2011). Zur rechtlich - ethischen Zulässigkeit eines berufsrechtlichen Verbotes des ärztlich assistierten Suizids vgl. Gunnar Duttge, Der assistierte Suizid aus rechtlicher Sicht. „Menschenwürdiges Sterben“ zwischen Patientenautonomie, ärztlichem Selbstverständnis und Kommerzialisierung. In : Zeitschrift für Medizinische Ethik, 55 (2009) 3, S. 257–270, hier 263–265. Kritisch zu einem berufsrechtlichen Verbot aktiver Sterbehilfe und ärztlich assistierten Suizids vgl. Bettina Schöne - Seifert, Ist Assistenz zum Sterben unärztlich ? In : Adrian Holderegger ( Hg.), Das medizinisch assistierte Sterben, S. 98–118, und Urban Wiesing, Ist aktive Sterbehilfe „unärztlich“ ? In : ebd., S. 229–241.
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sigkeit aktiver Sterbehilfe entscheidende Prinzip der Autonomie des Patienten eingeschränkt. Dies kann man als ein moralisches Paradox bezeichnen.67 Ärzte und Ärztinnen tun gut daran, auf die Bewertung eines menschlichen Lebens als in einem objektiven, d. h. durch medizinische Sachverhalte begründeten Sinne „lebensunwert“ zu verzichten. Eine solche Entscheidung über den Wert eines menschlichen Lebens wird jedoch implizit oder explizit getroffen, wenn der Arzt oder die Ärztin ein Leben aktiv beendet oder an der Selbsttötung eines Patienten teilnimmt : Die Tötungshandlung, wenn sie ethisch begründet sein soll, lässt sich nämlich nicht von der Feststellung ablösen, dass ein bestimmtes Leben in einer bestimmten Situation des Leidens nicht mehr sein soll. Das gilt auch dann, wenn diese Feststellung der persönlichen Wertung des Patienten entspricht. Das heißt keineswegs, dass jedes menschliche Leben um jeden Preis zu verlängern ist. Für die Frage der Einleitung und des Abbruchs lebensverlängernder Maßnahmen entscheidend ist, ob diese Maßnahmen vom Patienten gewollt werden und ob das Behandlungsziel durch diese Maßnahmen überhaupt erreicht werden kann. Beim Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen ( sogenannte passive Sterbehilfe ) handelt es sich um ein Sterbenlassen, ein Zurücknehmen des Instrumentariums medizinischer Lebensverlängerung, ein Akzeptieren eines früher oder später unausweichlich eintretenden Todes. Dieses Zulassen des Sterbens muss selbstverständlich im Einklang mit dem Willen des Patienten geschehen. Bei der Tötung eines Menschen mit Mitteln der ärztlichen Kunst hingegen ist es der Arzt, der die Todesursache kausal setzt, der diesen Tod auf Wunsch des Patienten als eigenes Handlungsziel wollen muss, um diese Handlung durchzuführen. Insofern besteht – konsequentialistischen Argumenten zum Trotz68 – im Hinblick auf die Wertung menschlichen Lebens als nicht lebenswert ein fundamentaler Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, zwischen Töten und Sterbenlassen. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung der nationalsozialistischen Krankenmorde und ihrer Entstehungsgeschichte aus der Debatte um den „Gnadentod“69 lässt sich ein Argument der schiefen Ebene in zweifacher Hinsicht formulieren : 1. Da das aktive Töten von unheilbar kranken Menschen auf deren Wunsch (und prinzipiell auch die ärztliche Suizidbeihilfe ) ein Werturteil über bestimmte Leidenszustände voraussetzt, besteht die Gefahr, diese Einschätzung auch auf Menschen zu übertragen, die zu einer autonomen Entschei67 Vgl. Henk ten Have, Euthanasia : moral paradoxes. In : Palliative Medicine, 15 (2001) 6, S. 501–511, und Fuat S. Oduncu, In Würde sterben. Medizinische, ethische und rechtliche Aspekte der Sterbehilfe, Sterbebegleitung und Patientenverfügung, Göttingen 2007, S. 145 f. 68 Vgl. James Rachels, Aktive und passive Sterbehilfe. In : Hans - Martin Sass ( Hg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 254–264. 69 Vgl. auch Hans - Walter Schmuhl, Die Geschichte der Lebens( un )wertdiskussion. Bruch oder Kontinuität. In : Ute Daub / Michael Wunder ( Hg.), Des Lebens Wert. Zur Diskussion über Euthanasie und Menschenwürde, Freiburg i. Brsg. 1994, S. 51–60.
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dung nicht mehr in der Lage ist. Sowohl die historische wie die gegenwärtige Debatte um die Euthanasie zeigen, dass das Prinzip der Selbstbestimmung keine stabile Grenze bildet. 2. Durch eine strafrechtliche bzw. berufsrechtliche Legalisierung der Tötung auf Verlangen bzw. der ärztlichen Suizidbeihilfe könnten sich Menschen mit schweren Behinderungen und Leidenszuständen gedrängt fühlen, einen solchen Wunsch zu äußern, da sie sich selbst, den anderen und der Gesellschaft nicht zur Last fallen wollen. Hinter der von der Idee der Autonomie geprägten Debatte um die Euthanasie lässt sich zwischen den Zeilen die Botschaft nicht vollkommen verbergen, dass es in bestimmten Situationen angemessen oder üblich sein könnte, das Ende seines Lebens einzufordern.70 Demnach müssten die Befürworter der aktiven Sterbehilfe klar stellen, ob und wie sie die Ausweitung der aktiven Sterbehilfe auf aktuell äußerungsfähige Menschen vermeiden wollen. Die Befürworter einer berufsrechtlichen Zulassung des ärztlich assistierten Suizids müssten darlegen, ob und wie sie den Übergang zur Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe vermeiden wollen ( denn der assistierte Suizid steht nur handlungsfähigen Menschen offen ). Und schließlich müsste klargestellt werden, inwieweit in beiden Formen der Sterbehilfe explizite und implizite Urteile über den Wert eines bestimmten menschlichen Lebens aus einer Außenperspektive heraus vermieden werden können. Schließlich müsste geklärt werden, welchen Raum und welche Wertschätzung eine solidarische Gesellschaft kranken, behinderten und alten Menschen zuzusprechen bereit ist. Der historische Befund der Rezeption des Euthanasiegedankens in der deutschen Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus ist ambivalent, wir finden Hinnahme, Zustimmung, aber auch mutigen Widerstand,71 nicht zuletzt konnte die „Gasmordaktion T4“ 1941 durch ein mutiges Wort des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, beendet werden. Dies fiel – aus Perspektive der „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ – umso leichter, umso klarer das Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen zum Ausdruck gebracht werden konnte.72 Ernüchternd hingegen ist der Blick auf die Ärzte, hier gab es 70 Vgl. Gerrit Hohendorf, Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument. Was lässt sich aus der Geschichte der NS - Euthanasie für die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe lernen ? In : Stefanie Westermann / Richard Kühl / Tim Ohnhäuser ( Hg.), NS - „Euthanasie“ und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven, Münster 2011, S. 211–229, und Hohendorf, Empirische Untersuchungen, S. 174–182. 71 Vgl. Kurt Nowak, Widerstand, Zustimmung, Hinnahme. Das Verhalten der Bevölkerung zur „Euthanasie“. In : Norbert Frei ( Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS - Zeit, München 1991, S. 235–251. 72 Die Predigt von Clemens August Graf von Galen vom 3. August 1941 ist abgedruckt in Klaus Dörner / Christiane Haerlin / Veronika Rau / Renate Schernus / Arnd Schwendy (Hg.), Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Nach „Holocaust“ : Erkennen – Trauern – Begegnen. Gewidmet den im „Ditten Reich“ getöteten psychisch, geistig und körperlich behinderten Bürgern und ihren Familien, 2. Auf lage Frankfurt a. M. 1989, S. 112–124.
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zwar Resignation und Rückzug, jedoch keinen offenen Widerstand. Die weitaus große Mehrzahl der Anstaltsärzte wirkte bei den verschiedenen Formen der Krankenmorde aktiv mit, aus Überzeugung oder aus Opportunismus und Obrigkeitsgläubigkeit.
VII. Das „Euthanasie“ - Tabu : Die nationalsozialistische „Euthanasie“ als Totschlagsargument ? Befürworter der aktiven Sterbehilfe und des ärztlich assistierten Suizids sehen in der bloßen Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“ häufig eine Art „Totschlagsargument“, das mit der Absicht vorgebracht wird, eine offene Debatte zu verhindern.73 Ich denke, das Gegenteil ist der Fall.74 Die Geschichte der Euthanasie im 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa ( die Krankenmorde betrafen einen Großteil der unter deutschen Einfluss stehenden Gebiete ) lässt sich nicht so einfach aus dem kulturellen und moralischen Gedächtnis einer Gesellschaft ausgliedern und einer fernen Epoche zuschreiben, die mit unserer heutigen Situation und unseren heutigen Fragen nichts mehr zu tun hat. Zu tief ist der Vertrauensverlust insbesondere im Bereich der Psychiatrie, der durch die medizinische Lebensvernichtung entstanden ist, zu wirksam sind die verborgenen Kontinuitätslinien des Gedankens der „Euthanasie“ und der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ bis in die Nachkriegsjahrzehnte hinein, die in einer Entschuldung der „Euthanasie“ - Ärzte, in einer fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung der „Euthanasie“ - Opfer und in der fehlenden Entschädigung ihrer Angehörigen ihren Ausdruck fan-
73 So z. B. Frank Czerner, Das Euthanasie - Tabu. Vom Sterbehilfe - Diskurs zur Novellierung des § 216 StGB, Dortmund 2004, S. 87 f. : „Die bisweilen vordergründig - apodiktische Instrumentalisierung der [ nationalsozialistischen ] ‚Euthanasie‘ ( als sprichwörtliches ‚Totschlagsargument‘) führt damit nicht nur zum Ende einer gesellschafts - und kriminalpolitischen Diskussion, sondern im Ergebnis auch zu einer ‚legislativen Totalverweigerung‘. Deutsche Vergangenheit fungiert hierbei als Quasi - Legitimation für die normative Abstinenz des Gesetzgebers.“ 74 Im Hinblick auf eine angemessene Rezeption des Stands der historischen Forschung in der Auseinandersetzung mit dem Geschichtsargument vgl. kritisch Hans - Walter Schmuhl, Nationalsozialismus als Argument im aktuellen Medizinethik - Diskurs. Eine Zwischenbilanz. In : Frewer / Eickhoff ( Hg.), „Euthanasie“ und die aktuelle SterbehilfeDebatte, S. 385–407. Zur Berechtigung eines historischen Arguments in der Debatte um die Sterbehilfe siehe u. a. Karl Heinz Leven, Die NS - „Euthanasie“ und die gegenwärtige Debatte um aktive Sterbehilfe. In : Franz - Josef Illhardt / Wolfgang Heiss / Matthias Dornberg ( Hg.), Sterbehilfe. Handeln oder Unterlassen. Referate einer medizinethischen Fortbildungsveranstaltung vom Zentrum für Ethik in der Medizin und dem Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Freiburg am 19. und 20. Januar 1996, Stuttgart, S. 9–23.
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den.75 Das „Euthanasie“ - Tabu lässt sich nur dadurch aufheben, dass wir die Entstehungsgeschichte der nationalsozialistischen Krankenmorde als Teil unserer Geschichte, als Teil auch der Geschichte der Ärzteschaft anerkennen und so die historische Erfahrung der NS - „Euthanasie“ auch in unseren gegenwärtigen Debatten ergebnisoffen und kritisch zur Sprache bringen.
75 Vgl. z. B. für den Bereich der Psychiatrie Franz - Werner Kersting / Karl Teppe / Bernd Walter ( Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993, und Gerrit Hohendorf, The Representation of Nazi Euthanasia in German Psychiatry 1945 to 1998. A Preliminary Survey. In : Korot – The Israeli Journal of the History of Medicine, 19 (2007/2008), S. 29–48.
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V. Die SS als „moralischer Orden“
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SS - Ethik im Rahmen der Moralphilosophie André Mineau Angesichts der Ursprünge und Aufgaben des Schwarzen Ordens mag es einigermaßen merkwürdig klingen, wenn man von einer SS - Ethik oder einer Moralbesessenheit der SS spricht.1 Die SS entstand aus der Idee des Sturmtrupps, aus den Erfahrungen der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Eine frühe Version war der Stoßtrupp Hitler im Jahre 1923. Als diese Eliteleibgarde im Jahre 1925 unter der Bezeichnung Schutzstaffel wieder belebt wurde, spezialisierte sie sich auf den Schutz Hitlers und anderer wichtiger Parteisprecher. Es handelte sich um eine Polizeitruppe innerhalb der Partei, bevor es ihr in den Jahren 1933 bis 1935 gelang, in den deutschen Polizeiapparat einzudringen. Während der gesamten Dauer des NS - Regimes bestand die Hauptaufgabe der SS darin, innere Feinde zu bekämpfen und zu eliminieren, und das, was man unter dem „Inneren“ verstand, vergrößerte sich zusammen mit den Grenzen des Reiches, solange diese Erweiterung in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkriegs andauerte. Um genauer zu sein, als sich das Land im Jahre 1939 erneut im Krieg befand, war es die Aufgabe der SS, dafür zu sorgen, dass der „Dolchstoß“ von 1918 sich nicht wiederholen und der Krieg dieses Mal ein gutes Ende finden würde. Angesichts der Handlungsweise der SS und der Polizeikräfte erscheint die Ver wendung des Begriffes „Ethik“ sicherlich als unangemessen. Die SS hat Böses im großen Maßstab getan, indem sie Krieg gegen die Zivilbevölkerung im besetzten Europa führte sowie den Holocaust organisierte und beaufsichtigte. Im Wissen, dass die SS das absolut Böse tat, darf man sich fragen, ob eine Ethik des Bösen überhaupt vorstellbar ist, da es der Ethik doch schließlich um das Gute geht. Die SS war eines der wichtigsten Machtinstrumente des NS - Totalitarismus : Entsprechend ergab ihr Handeln einen Sinn in Verbindung mit einer Ideologie, welche eine starke moralische Komponente enthielt. In diesem Zusammenhang müssen wir die Natur totalitärer Regime bedenken. Totalitarismus lässt sich als ein politischer Versuch definieren, das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit zu durchdringen, zum Zwecke einer regenerativen Weltanschauung, die das Wesen von Gut und Böse umfasst. Mit anderen Worten, Totalitarismus bemüht 1
In den Fußnoten werden die wichtigsten Quellen wie folgt bezeichnet : „BA“ für Bundesarchiv in Berlin - Lichterfelde ( Deutschland ), und „IMT“ für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg ( Deutschland ). Der Autor dankt dem Social Sciences and Humanities Research Council of Canada für seine finanzielle Unterstützung.
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sich darum, jedem und allem eine Vision des höchsten Interesses der Gemeinschaft aufzuzwingen, sowie ein Moralsystem, welches das Gute vom Bösen unterscheidet. Und die NS - Ideologie war offensichtlich totalitär, da sie darauf aus war, eine „wissenschaftliche“ Vision der auf rassischen Merkmalen beruhenden Volkszugehörigkeit als des höchsten Wertes bzw. die Verkörperung des Guten in die Tat umzusetzen. In diesem Zusammenhang schrieb sie eine allumfassende Moral vor, in deren Namen jede politische Handlung gerechtfertig sein würde. Es ist an dieser Stelle übrigens der Erwähnung wert, dass es den Nationalsozialisten niemals gelang, das Leben in Deutschland in vollem Umfang zu kontrollieren, da sich dies als unmöglich erwies. Tatsächlich stellt Totalitarismus immer eine Intention dar, ein politisches Projekt, eine Anzahl aufeinander folgender Schritte hin zu etwas Absolutem, das nie zu erreichen ist. Daher geht es den wichtigsten Machthabern in einem totalitären System immer auch um Ideologie sowie um die damit verbundene Ethik, da außerhalb von Ideologie und Ethik das weltumspannende politische Unternehmen, mit dem sie beschäftigt sind, keine Bedeutung, keine raison d’être hätte. In diesem Sinne ist es nicht nur möglich, sondern notwendig, unter dem Mantel der NS Ideologie ein System von Vorstellungen und Normen zu errichten, dass man als SS - Ethik bezeichnen kann, da sich Letzteres notwendiger weise aus Ersterem ergab. Allgemein gesehen glaubten die SS - Führer an die NS - Vorstellung des Guten, das heißt an die Größe der Nation, an den Militarismus sowie an den Anspruch auf Lebensraum und die Rassereinheit, und sie stimmten einer Moral zu, welche der SS dabei helfen würde, dem NS - Gemeinwohl zu dienen, unabhängig von der Tatsache, dass es ihnen häufig selber nicht gelang, sich entsprechend ihrer eigenen moralischen Normen zu verhalten. Doch beschränkte sich die SS nicht auf eine passive Rolle innerhalb der Welt der NS - Ideologie und - Ethik. Sie war nicht daran interessiert, lediglich ein Regime zu verteidigen, dessen Ideologie und Ethik von anderen Akteuren der Partei und des Staates formuliert wurde. Im Gegenteil, durch eine Vielzahl von Reden, Vorträgen und Publikationen, die sich an ein unterschiedliches Publikum richteten, spielte sie eine wichtige Rolle bei der Konzeptualisierung und Lehre dieser Ethik. Mit anderen Worten, die SS spielte eine Schlüsselrolle für das ethische Denken im nationalsozialistischen Deutschland, und dies lag zu einem großen Teil an den Idiosynkrasien des Reichsführers SS, Heinrich Himmler. Letzterer, der innerhalb eines von ihm selbst konstruierten hierarchischen Systems die Spitzenposition innehatte, legte großen Wert auf Ethik. Er hielt sich selber für einen klugen und fähigen Moralisten2 und verstand die NS - Ideologie sowie die Praxis der SS als eine Notwendigkeit zur Errichtung eines Moralsystems.3 Er ver wendete viel Zeit und Energie darauf, Vorträge über Moral im Allgemeinen sowie über die SS als ein von Ethik geleiteter NS - Apparat zu hal2 3
Siehe Richard Breitman 1991, The Architect of Genocide : Himmler and the Final Solution, New York 1991. Siehe André Mineau, Operation Barbarossa : Ideology and Ethics Against Human Dignity, Amsterdam 2004.
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ten. Selbstverständlich lässt sich das ethische Denken der SS nicht auf Himmler reduzieren, da auch viele SS - Führer unterschiedlichen Ranges daran beteiligt waren, ethische Gedanken zu entwickeln und zu lehren. Wenn er sich auch große Mühe gab, so konnte Himmler doch nicht alles kontrollieren, was von SSAutoren und - Sprechern gesagt oder geschrieben wurde. Doch war er innerhalb des Systems sehr präsent, und selbstverständlich genoss er es, die Kommunikation innerhalb seines Apparates zu kontrollieren. Sein Einfluss war daher enorm, wie es auch die Wichtigkeit des ethischen Denkens innerhalb des SS - Systems war.
I.
Der Rahmen der Moralphilosophie
Eine Ethik stellt ein System von Vorstellungen, Werten, Normen sowie praktischer Beurteilungen dar, das darauf abzielt, das alter gegen das ego abzuwägen, das heißt darauf, ein Konzept des Guten zu verwirklichen, welches Individualität transzendiert. Angesichts der großen Vielfalt an möglichen Bedeutungen von Konzepten wie Wert, Norm, das Gute, das Böse, Pflicht, alter und ego bietet der Bereich der Ethik selbstverständlich die Möglichkeit zu diversen Arten sinnvoller Konstruktionen. Die theoretischen Grenzen der Ethik werden allerdings durch Nihilismus und Egoismus bestimmt. Einerseits kann reiner Nihilismus, insofern er die Negierung eines jeden Anspruchs auf Wahrhaftigkeit oder Tugend beinhaltet, keinerlei Ethik haben, da er eine solche qua definitionem negiert. Andererseits kann auch aus reinem Egoismus keine Ethik erwachsen, da die vollständige Identifizierung des Guten mit der Verfolgung des Eigeninteresses Ethik als äußerst redundant und daher bedeutungslos disqualifiziert, da sich dann notwendigerweise jeder überall und zu jeder Zeit ethisch verhalten würde. In der Praxis gelangen Menschen nur selten zu extremen Formen des Egoismus oder Nihilismus. Wir dürfen allerdings feststellen, dass eine deutliche Tendenz in Richtung auf einen dieser Pole die Sache eines jeden Diskurses schwächt, der Gültigkeit als Ethik beansprucht. Auf dieser Basis war eine SS - Ethik prima facie durchaus möglich. Sie berief sich auf gewisse Formen des alter als Beschränkungen des Individualismus, und sie gab vor, in gewisser Weise dem Allgemeinwohl zu dienen, welches Vorrang gegenüber dem Eigeninteresse haben sollte. Sie war nicht nihilistisch an sich, da sie darauf abzielte, eine Wirklichkeit herzustellen, die sich an Konzepten von Wahrhaftigkeit und Tugend orientierte, welche als gültig und nicht hinterfragbar dargestellt wurden. Selbstverständlich war sie nicht egoistisch, da sie doch so sehr auf der Selbstaufopferung für die Sache des Anderen bestand. Wenn wir auf die Geschichte der Moralphilosophie zurück blicken und diejenigen kritischen Standpunkte beiseite lassen, welche einige oder alle ethischen Konzepte als ungültig ansehen, dann stellen wir fest, dass es immer drei Hauptansätze der Ethik gegeben hat : den deontologischen, den konsequentialistischen und den perfektionistischen. Der deontologische Ansatz stellt fest, dass mensch-
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liches Handeln insofern moralisch ist, als es aus einer a priori Erkenntnis der Pflicht erwächst, was beinhaltet, dass die Pflichterfüllung eine notwendige und hinreichende Bedingung für moralisches Handeln ist. Die konsequentialistische Perspektive, besonders in ihrer modernen Ausprägung, bezieht sich auf ein a posteriori Wissen des praktischen Guten, indem sie feststellt, dass die Moral auf Handlungen beruht, welche gute Folgen haben, so dass ihre Nützlichkeit für das große Ganze verstärkt wird. Und der Perfektionismus versteht Ethik als eine Reflektion des Sinnes der menschlichen Existenz in Begriffen des Glückes, das aus persönlichem Wachstum und der fortschreitenden Verbesserung des Selbst erwächst. Hier erkennen wir, dass diese drei Ansätze das alter berücksichtigen, indem sie ihn bzw. sie zum Bezugspunkt der Moral machen. In der deontologischen Perspektive etabliert die Vorstellung der Pflicht ein Verhältnis, das als Anerkennung des Status und Wertes des Anderen einen Sinn ergibt. Der Konsequentialismus in seiner modernen Form besteht darauf, das Gute für die Vielen zu erreichen, da die Gleichwertigkeit der Menschen es verbietet, das ego gegenüber dem alter in irgendeiner Weise zu bevorzugen. Und der Perfektionismus schätzt eine Form der persönlichen Vorzüglichkeit, von der schließlich alle anderen profitieren werden, da man moralische Tugend als Gerechtigkeit bezeichnet, sobald sie sich der Gemeinschaft und den Mitbürgern zuwendet. Diese drei wichtigsten Ansätze waren in der SS - Ethik sämtlich präsent. Letztere war der Ansicht, dass sich menschliches Handeln an bestimmten, a priori bekannten Prinzipien orientieren müsse, dass diese für die Vielen, das heißt für das deutsche Volk, zu Gutem führen müssten, und dass sie persönliche Haltungen spiegeln müssten, welche den Nachweis der persönlichen Reifeentwicklung darstellten. Mit anderen Worten, die SS - Ethik beruhte auf einer Struktur von Vorstellungen und Bewertungen, welche alle drei Aspekte gemeinsam zum Ausdruck brachte. Sie kreiste um Pflicht, Gemeinwohl und Tugend.
II.
SS - Ethik als deontologisches System
Die Vorstellung der Pflicht spielte eine wichtige Rolle für die SS - Ethik, da sie in Übereinstimmung mit von kompetenten Autoritäten formulierten Befehlen allen Handlungen im Rahmen des Dienstes einen moralischen Charakter verlieh. Inhalt einer Pflicht ist per definitionem eine moralisch angemessene Handlung, die darauf abzielt, eine Art des Guten zu schaffen, die so wichtig ist, dass Wirklichkeit und Praxis sie nicht ignorieren können. Aus dieser Perspektive unterstellte man selbstverständlich innerhalb der SS, dass die NS - Ideologie das Wahre und Gute umfasste. Daher wurde jede Anweisung von Seiten dazu befugter SSStellen oder Hitlers selbst so angesehen, als ob sie das Gute enthalte, wodurch die befohlene Handlung zu einer Pflicht und somit moralisch wurde. Und der moralische Charakter und Wert der befohlenen Handlung wurde noch dadurch verstärkt, dass der SS - Mann seine Entscheidung selber treffen und seine Pflicht auch entgegen seinen persönlichen Gefühlen und Empfindungen tun würde.
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Als ein Moralist, der gleichzeitig auch Reichsführer SS war, stellte Himmler die höchste Autorität bezüglich der Definition von Pflicht im Rahmen der SS Ethik dar. Seiner Ansicht nach war diejenige Handlung moralisch angemessen, die nicht nur in Übereinstimmung mit der Pflicht geschah, sondern auch und hauptsächlich aufgrund einer Pflicht, die dazu dienen sollte, ein höherwertiges Gutes zu erreichen, das oberhalb des Individuums anzusiedeln war und persönliche Gefühle und Empfindungen von der Bewertung der Handlung ausschloss. So verstanden, stellte Himmlers Kategorischer Imperativ natürlich eine Verzerrung von Kant dar. Doch Himmler verstand die Dinge so, wie sich an einer Vielzahl seiner Reden erkennen lässt. Seiner Meinung nach sollte jeder, der im Rahmen der SS tätig war, immer in einer von der Pflicht bestimmten Weise handeln: Die Moral erforderte den psychologisch schwierigen Ausschluss einer jeden eigentlich üblichen menschlichen Regung, welche der Pflicht entgegen stehen könnte. Für Himmler stellte der Holocaust die letztgültige Prüfung dar, welcher sein moralisches Konzept der Pflichterfüllung überhaupt unterzogen werden konnte. Einerseits erregte der Massenmord an Zivilisten im Allgemeinen sowie an hilf losen Frauen und Kindern im Besonderen starke, beinahe über wältigende Gefühle des Widerwillens, was für „anständige“ Menschen wie SS - Offiziere nur natürlich war. Andererseits allerdings war die Pflicht zur Durchführung dieser Massenmorde absolut unumgänglich, nicht nur weil während eines Krieges, in dem eine Wiederholung von 1918 mit allen Mitteln ausgeschlossen werden sollte, die Juden eine tödliche Gefahr für das deutsche Volk darstellten, sondern auch und vor allem, weil ein höherer Befehl dieses Völkermordgeschehen verlangte. Himmler bestand darauf, einen Befehl zur Eliminierung der Juden erhalten zu haben, und dass ein solcher Befehl eine schwere Last auf seinen Schultern darstellte. In mehreren Reden bezog sich Himmler auf diese extremen Herausforderungen für sein Konzept der Pflicht. Beispielsweise in Posen, am 4. Oktober 1943, pries er seine höheren Offiziere, die den Völkermord durchgestanden hätten und dabei anständig geblieben seien. „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk“, das feindliche jüdische Volk niederzuringen.4 Am 14. in Bad Schachen machte Himmler klar, dass er Härte erwarte, wo immer sie notwendig sei, um selbst „kleinere Brände“ zu löschen.5 In Reden vor höheren Wehrmachtoffizieren im Jahre 1944 wurde Himmler noch deutlicher bezüglich des psychologischen Konflikts, der aus dem Widerstreit der Gefühle und der moralischen Pflicht erwuchs. Wie er seinem Publikum mitteilte, war die Judenfrage gelöst, und zwar ohne jeden Kompromiss. Da er sich selbst ebenso als Soldat sah, hatte er einen Soldatenbefehl erhalten, der sich als äußerst schwierig ausführbar erwies. Nichtsdestotrotz tat er, was er zu 4 5
Rede Himmlers bei der SS - Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943, S. 145– 146 ( IMT, 1919–PS ). Rede Himmlers auf einer Befehlshabertagung in Bad Schachen vom 14. Oktober 1943 ( IMT, 070–L ).
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tun hatte, aufgrund von Gehorsam und Überzeugung. Und er reagierte auf mögliche Einwände, welche sich darauf bezogen, dass dies auch für Kinder galt : Er sagte, dass es sich hier um einen Konflikt mit Asien handele ( wofür europäische Moralprinzipien keine Geltung hätten ), und dass die Deutschen kein Recht hätten, solche hasserfüllten Rächer aufwachsen zu lassen, so dass deutsche Kinder und Enkel ihnen einst gegenüberstehen würden, nur weil die jetzige Generation schwach und feige gewesen sei.6 Hier vertrat Himmler eine Logik der Pflichterfüllung, die den normalen menschlichen Gefühlen widersprach, abgesehen davon, dass die Pflicht verlangte, dass eben diese Gefühle beiseite gelassen würden. Und er verknüpfte den Mord an Kindern mit der Moral : Es handelte sich dabei um etwas Moralisches, während die Alternative offensichtlich unmoralisch war, angesichts der Folgen, die aus moralischen Verbrechen wie Feigheit und Schwäche entstehen würden. Und Himmler wiederholte, was er zuvor anderen Zuhörern gesagt hatte : Sie waren fähig, diese „Erfahrung“ durchzumachen, ohne Schaden an ihren Seelen und ihrer Moral zu nehmen, und das war das Allerschwierigste an der Angelegenheit. Moral und Seele waren dem entsprechend durch die Normalität der menschlichen Gefühle gefährdet, während die Inflexibilität der Pflicht in sich moralisch war. Dieselbe Argumentationslinie bezüglich der Pflicht wurde in einer weiteren Rede vor einem vergleichbaren Publikum dargelegt. Bezüglich der Judenfrage erklärte Himmler : „Es war gut, dass wir die Härte besaßen, die Juden in unserem Machtbereich auszurotten.“ Erneut erwähnte er, wie schwierig es sei, einen solchen Befehl auszuführen. Doch es sei notwendig gewesen. Und er kam auf die Frage zurück, ob dies auch für Kinder habe gelten sollen. Wie er sagte, würden diese Kinder schließlich groß werden. „Wollen wir so unanständig sein“, Schwäche zu zeigen und es den deutschen Kindern überlassen, in der Zukunft mit jüdischen Rächern fertig zu werden ? Das wäre unverantwortlich. Da man nicht feige sein dürfe, werde eine eindeutige Lösung angewandt, egal wie schwierig sie sei.7 Einen Monat später erklärte er, dass es die erste Pflicht des deutschen Soldaten sei, kein Mitleid zu zeigen und alles Unwerte auszutreiben.8 Wie er anderenorts erwähnte, könne man mit unangebrachter Sentimentalität keine Kriege gewinnen. Manchmal müssen „wir“ die Härte besitzen, selbst unser eigenes Blut zu töten, selbst wenn sich dies als schwierig erweist. Die Pflicht stellt etwas Ernsthaftes und Heiliges dar.9 Himmler blieb sich treu. Jahre zuvor, in der „Lebensregel für den SS - Mann“, hatte er die Pflicht zur Leistung erläutert. Tatsächlich war die gesamte Darstel6 7 8 9
Vgl. Rede des Reichsführers SS auf der Ordensburg Sonthofen am 5. Mai 1944 ( BA NS 19/4013, fols. 70–72). Rede des Reichsführers SS in Sonthofen am 21. 6. 1944 vor Generälen der Wehrmacht ( BA NS 19/4014, fols. 173–176). Vgl. Rede des Herrn Reichsführers SS und Befehlshaber des Heimat - Heeres vor Offizieren am 21. 7. 1944 ( BA NS 19/4015, fols. 17–27). Vgl. Rede des Reichsführers SS in Salzburg am 14. 5. 1944 ( BA NS 19/4013, fols. 172, 189).
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lung in eine Sprache der Pflicht eingebettet, wobei das Volk als letzte Bezugsgröße diente. In der Substanz stellte er fest : „wir haben die Pflicht, jede Kraft anzuwenden, die sich in jedem Deutschen findet, um Leistung zu erbringen und darüber der Größe unseres Volkes zu dienen.“10 Aus dieser Perspektive ließ sich der Holocaust verstehen und ergab einen Sinn, wenn man ihn durch die Brille der Pflichterfüllung betrachtete. Er erscheint als das Resultat einer Reihe moralischer Handlungen, die über die Pflichterfüllung möglich wurden, um des Gemeinwohls des Volkes willen.
III.
SS - Ethik aus konsequentialistischer Perspektive
Im Rahmen der SS - Ethik orientierte sich die Pflicht daran, die nationalsozialistische Vorstellung des Allgemeinwohls in die Tat umzusetzen. Auf dieser Grundlage wurden Handlungen entsprechend ihrer potentiellen Folgen für das Allgemeinwohl beurteilt. Um es genauer zu sagen, moralisch angemessene Handlungen waren Handlungen, deren Ergebnis der größtmögliche Nutzen für das Volk als Ganzes war, bis hin zur Unterdrückung einer jeden Legitimität, die mit Eigeninteresse als solchem verbunden war. Entsprechend der rassischen Definition aber repräsentierte das Volk den endgültigen ontologischen Ort der Werthaltigkeit sowie die Grenze des Bereichs der Moral. In einem Dokument, das sich an potentielle Rekruten der deutschen Polizei richtete, wurden die Werte der SS in ihrer Funktion für das Volk als letztgültigem Bezugspunkt dargestellt, entsprechend den allgemeinen Richtlinien, die in einer Rede Hitlers niedergelegt worden waren. „Als Repräsentant des Staates muss ein Polizeioffizier der beste Freund des Volkes sein, während er gegenüber allen kriminellen Elementen die Volksgemeinschaft repräsentiert. [...] Es ist möglich, zur selben Zeit der wahre Freund eines jeden anständigen Deutschen und der entschlossene Gegner eines jeden Volksfeindes zu sein.“ Die Aufgabe der Polizei bestehe immer darin : „den Volkskörper im Inneren zu stärken, dabei zu helfen, diesen Volkskörper von den vergiftenden Elementen zu reinigen, die nicht zu ihm gehören, und dazu beizutragen, diesen Volkskörper gegenüber der Außenwelt würdig zu vertreten“. Der Polizeidienst ist ein Ehrendienst am Volk. Der Polizist ist wie ein Soldat : Als Angehöriger der Polizeikräfte kann er seinem Verlangen, Soldat zu sein, treu bleiben, und er garantiert den Schutz der Nation nach innen.11 Und bei der Erfüllung der polizeilichen Pflichten, stellte Himmler fest, müssen „wir“ immer hart bleiben. Dies mag manchmal grausam sein, „doch solches Verhalten dient dem Wohle des Ganzen“.12
10 Lebensregel für den SS - Mann, S. 1 ( BA NS 19/1457). 11 Willst Du zur Polizei ?, 3. Auflage, S. 5, 12, 14 ( BA RD 18/25). 12 Ansprache des Reichsführers - SS und Chefs der Deutschen Polizei Heinrich Himmler anlässlich der Besprechung der Kommandeure der Gendarmerie am 17. 1. 1941 ( BA NS 19/4008, fol. 5).
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Für die SS waren moralisch angemessene Handlungen solche Handlungen der Pflicht, die darauf abzielten, dem Allgemeinwohl zu dienen, worunter man die Bewahrung der rassischen Substanz des Volkes zu verstehen hatte. Und diese wertvolle rassische Substanz war vor allem durch drei Gefahren bedroht: Rückgang der Geburtenrate, Gegenauslese und Vermischung der Rassen. Konsequenterweise erforderte das allgemeine Wohl des Volkes die Vervielfachung der Erbgesundheit sowie den Schutz des reinen Blutes : Moralisch gute Handlungen waren solche, die zu diesen Folgen führten, und sie waren umso verpflichtender, als es um das Überleben des Volkes ging. Ein Volk, welches sein Blut rein erhielt, würde ewig leben.13 Der ontologische Wert des Volkes war mit der Vorstellung der Unsterblichkeit verbunden. In einem kurzen Text mit dem Titel „Ewig ist das Blut“ brachte ein SS - Autor die Ansicht zum Ausdruck, dass Blut unsterblich sei. Seiner Ansicht nach lebt ein Volk in einer Gemeinschaft, deren Grenzen vom Blut bestimmt sind. Und es ist diese Gemeinschaft, in der unsere Seelen überleben, in unseren Kindern und unseren Werken. Über die Zeiten hinweg existieren wir heute so, wie wir gestern existiert haben und morgen existieren werden. Was in uns fließt, ist das Blut freier germanischer Bauern, die aufgrund der herausragenden Schöpferkraft dieses Blutes immer schon die Säulen jeder höheren Kultur waren. Und er schloss mit dieser Empfehlung : „Kämpfe für die Zukunft dieses Blutes ! Dadurch warst du, bist du und wirst du sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Du bist unsterblich in deinem Volk.“14 Auch Himmler erging sich gern in diesem Thema. Er glaubte, dass dem Volk das ewige Leben offen stünde, wenn es sein Blut bewahren könne, dass einen Jungbrunnen der Jugend darstelle. Dies war die Erkenntnis, welche hinter dem Heiratsgesetz von 1931 stand : „Ein Volk kann ewiges Leben erreichen, wenn sein reines Blut als die heiligste Erbschaft von Generation zu Generation weiter gereicht wird. [...] Wir, die SS, der militärische Orden der nationalsozialistischen Menschen, wir glauben, das wir die Vorfahren zukünftiger Generationen sind, für das ewige Leben des germanischen Volkes.“15 Nach Meinung des Autors der SS Handblätter für den weltanschaulichen Unterricht besteht das Allgemeinwohl darin, eine Lebensordnung zu schaffen, die das ewige Leben des Volkes sicherstellt. Eine solche Ordnung erfordert, dass gutes und wertvolles Blut erhalten und gefördert wird, und dass alles Minderwertige und Fremde eliminiert wird. Und das ist exakt das, worum es bei Moral geht : „Sittlich ist, was der Arterhaltung des deutschen Volkes förderlich ist. Unsittlich ist, was der Arterhaltung des deutschen Volkes entgegensteht.“16 Das Volk lebt in der Natur, in welcher der Kampf ums Überleben das Grundgesetz darstellt. Alles ( Nahrung, Boden etc.) muss im Kampf gewonnen werden. 13 Rassenpolitik, S. 27–28, 51 ( BA NSD 41/122). 14 SS - Leithefte, L. 2/25. März 1936 ( BA NSD 41/77). 15 „Magyarsag“ vom 20. Dezember 1942. Die Deutsche Schutzstaffel : Die SS by Himmler ( BA NS 19/1454, fol. 4). 16 SS Handblätter für den weltanschaulichen Unterricht, S. 3 ( BA NSD 41/75).
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Die tiefste Bedeutung dieses ewigen Vernichtungskampfes besteht darin, dass alles Minderwertige ausgerottet werden wird. Daher ist die Erhaltung Behinderter und unheilbar Kranker irrational und kostspielig. Die Politik des Staates darf nur der Erhaltung und Förderung des wertvollen Volkskörpers und seiner besten Rasse dienen. Und jeder, der von eigenen Erbfehlern weiß und dennoch nutzlose Kinder hat, verletzt die Gesetze des Lebens : Er sündigt gegen sein Volk und seine Rasse. Wann immer und wo immer es an diesem Verantwortungsgefühl mangelt, ist es die Pflicht des Staates, in die so genannten Rechte des Einzelnen einzugreifen. Es ist eine Pflicht, die Geburt belasteten Lebens zu verhindern.17 In der Natur als dem Ort eines immerwährenden Kriegszustandes geht das Allgemeinwohl vor den privaten Interessen. Der Einzelne ist nichts, doch Volk und Rasse sind alles. Daher bestimmt das Volk und nicht der Einzelne alle moralischen Maßstäbe. Im Großen und Ganzen schloss in der SS - Ethik die Konzeption des Guten jenen Teil der Menschheit aus, deren ontologischer Wert zu gering war, als dass man ihm Zugang zum Bereich der moralischen Verpflichtungen gewährt hätte. Auf der Grundlage dieses Ausschlusses, der angeblich den Gesetzen der Natur sowie den Erkenntnissen der Rassewissenschaft entsprach, handelte es sich beim Holocaust um eine Reihe moralisch angemessener Handlungen, die als solche den Vielen, aus denen sich das Volk zusammensetzte und zusammensetzen würde, nur Gutes bringen würden.
IV.
SS - Ethik als eine Form des Perfektionismus
In der griechischen Moralphilosophie bestimmte die Vorstellung der Tugend das Leistungsniveau des Einzelnen bezüglich der Kunst des Lebens, das heißt der Verwirklichung der Forderungen nach dem Guten in allen Umständen des täglichen Lebens. Die SS - Ethik bereitete diese Vorstellung wieder auf und wandte sie in diesem spezifischen Sinn an, besonders im Rahmen von Himmlers moralischer Sprache. Aus dieser Perspektive war die Sonderstellung der SS beim Streben nach dem Wohl des Volkes durch die Tugend der Pflichterfüllung bestimmt. Die SS - Erziehung zielte darauf ab, beim SS - Mann einen Prozess der Selbstperfektionierung zu fördern, der zu moralischer Perfektion in der Kunst führen sollte, sich selbst um des Volkes willen zu vergessen. In Himmlers Vorstellung ließ sich moralische Perfektion in einer Weise erreichen, welche die unvermeidlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Völkern berücksichtigte. Doch es gab ein minimales Niveau, das für jeden innerhalb der SS verpflichtend war : Korrektheit bzw. Anständigkeit. Dies bezog sich auf die Fähigkeit, Tugend im Allgemeinen zu praktizieren, seine Pflichten zu erfüllen, und sein Leben als ein erfolgreich moralisch Handelnder zu leben. In 17
Vgl. SS - Mann und Blutsfrage, S. 5, 6, 34 ( BA RD 18/19).
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den meisten seiner Reden legte Himmler viel Wert auf die umfassende Tugend der Anständigkeit. Gegenüber einem Publikum aus Gendarmeriekommandeuren erklärte er, er wünsche eine deutsche Polizei, die unkorrumpierbar sei, pflichtgetreu, anständig, kämpferisch und mutig, eine Polizei, die da hart sei, wo es notwendig sei. „Wir sind dazu fähig, alle uns übertragenen Aufgaben zu lösen, wenn wir uns des Geistes der nationalsozialistischen Weltanschauung bewusst bleiben, der Erkenntnis des Wertes unseres Volkes und Blutes.“18 Die Vorstellung der Anständigkeit bestimmte die allgemeine Tugend als des erreichten bzw. ver wirklichten Wohls. Sie hatte Gültigkeit für die moralische Charakterisierung der SS sowie des von der SS repräsentierten rassischen Volkes, doch sie zog eine Demarkationslinie zwischen Gut und Böse, eine Linie, ab der Moral aufhörte, Gültigkeit zu haben. Am 13. Juli 1941 sagte Himmler in Stettin, dass sich Deutschland nun in einem Kampf zwischen Weltanschauungen befinde, in einem Kampf der Rassen. „In diesem Kampf gibt es den Nationalsozialismus, eine Weltanschauung, die auf dem Wert unseres germanisch nordischen Blutes beruht, und es gibt eine Welt [...] die schön ist, anständig und sozial gerecht [...] Auf der anderen Seite gibt es ein 180 Millionen Volk, eine Mischung von Rassen und Völkern [...] deren Gestalt so ist, dass man sie ohne Gnade und Mitleid zusammenschießen kann [...] Eure heilige Pflicht besteht dort, an jedem Platz, an dem ihr steht, darin, getreu eurem Eide zu kämpfen.“19 Himmler pflegte sich lang und breit über die Tugenden auszulassen, die er im Kontext des moralischen Perfektionismus der SS für wesentlich hielt. Er klassifizierte sie in verschiedener Weise, je nach Publikum, Umständen etc., doch meist wiederholte er die selben zentralen Prinzipien und Tugenden, wenn auch mit unterschiedlichen Worten. Zum Beispiel schrieb er in einem Artikel von Ende 1942, dass sich das moralische Denken der SS in vier wesentlichen Prinzipien zusammenfassen lasse. Das erste Prinzip war das Blut, welches als Ausleseprinzip anerkannt wurde, das alle die bevorzuge, welche das Ideal der nordischen Menschheit verkörperten : Im Laufe der Zeit würden die Charakterlosen, die Willensschwachen und diejenigen, die nicht mit Leib und Seele dabei seien, ausgeschlossen werden. Das zweite Prinzip betraf die Freiheitsliebe und den Kampfgeist. Das dritte Prinzip berief sich auf Treue und Ehre. Für Himmler war beides nicht voneinander zu trennen. Hitler hatte dies so zum Ausdruck gebracht : Meine Ehre heißt Treue. Das hieß, dass manches im Leben vergeben werden konnte, Untreue aber niemals, da es sich dabei um eine Sache des Herzens und nicht des Verstandes handelte. Der Verstand mag fehlgehen, doch Fehler ließen sich korrigieren, während das Herz immer demselben Pulsschlag folgte. „Treue bedeutete Treue zu Hitler und durch ihn zum germanisch - deut18 Ansprache des Reichsführers - SS und Chefs der Deutschen Polizei Heinrich Himmler anlässlich der Besprechung der Kommandeure der Gendarmerie am 17. Januar 1941 (BA NS 19/4008, fols. 11–12). 19 Der Reichsführer - SS zu den Ersatzmannschaften für die Kampfgruppe Nord am Sonntag, den 13. 7. 1941, in Stettin ( BA NS 19/4008, fols. 34–35).
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schen Volk, zu dessen Werten und dessen Natur, zu seinem Blut, zu seinen Großvätern und Enkeln, zu seiner Zukunft und Vergangenheit, zu seinen Volksgenossen, zu seiner Ehre“. Was das vierte Prinzip, den Gehorsam, betraf, so bezog es sich auf unbedingten Gehorsam gegenüber allen Befehlen Hitlers oder anderer Autoritäten.20 Im „Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei“ begegnen wir einer ähnlichen Klassifizierung. Der allgemeine Befehl, formuliert vom Reichsführer SS, legt in der Substanz fest, dass „langfristig nur edles Blut, nur echte Rasse echte Leistung garantieren kann“. Daher die Notwendigkeit der Auslese, der Rekrutierung der Besten im Sinne von Blut und Charakter. Die Auslese muss sich nach vier Prinzipien und Tugenden richten : 1) Die Verwirklichung der Rasseidee, damit diejenigen ausgewählt werden, die in Größe und allgemeinem Aussehen der nordischen Menschheit so weit wie möglich entsprechen; 2) Kampfgeist bzw. Kampfbegeisterung; 3) Treue und Ehre gegenüber dem Führer, dem germanisch - deutschen Volk, dem Blut, den Vorfahren, der eigenen Herkunft und den Gesetzen des Anstandes; 4) Gehorsam.21 Himmlers viel zitierte Rede vor SS Gruppenführern in Posen enthält einen vollständigen Traktat über Tugenden. Was die Ethik betrifft, stellt Himmler fest, dass ein grundlegendes Prinzip der SS absolut gelte : SS - Männer müssen „ehrlich, anständig, treu sein, sowie kameradschaftlich eingestellt gegenüber Menschen unseres eigenen Blutes und sonst niemandem gegenüber“. „Unsere Pflicht ist unser Volk.“ Dann werden folgende SS - Tugenden dargelegt : Treue ist die wichtigste Tugend, sie besteht gegenüber Volk, Reich und Führer : Mangelnde Treue ist unverzeihlich. Gehorsam betrifft sowohl hochrangige Offiziere als auch niedrigere Ränge. Er wird als bedingungslos dargestellt und ist mit Verantwortung verbunden. Mut muss durch Glauben und Optimismus bestärkt werden. Wahrhaftigkeit gilt vor allem für das gegebene Wort. Man muss seine Versprechen halten und seine Verpflichtungen ehren. Doch ist dies nur innerhalb des deutschen Volkes moralisch bindend : gegenüber Untermenschen stellen Nützlichkeit oder praktischer Wert das einzige Kriterium dar. Es ist wichtig, festzuhalten, dass der Status des Untermenschen ausreicht, um die Moral mitsamt jedweder moralischen Verpflichtung oder Pflicht außer Kraft zu setzen. Ehrlichkeit bezieht sich vor allem auf den Respekt gegenüber dem Besitz und den Kampf gegen Korruption. Kameradschaft bedeutet die Vermeidung von Konflikten, freundliches Verhalten, die Vermeidung von Ausdrücken des Ärgers. Freude an der Verantwortung stellt eine merkwürdige Formulierung dar, und Himmlers Beschreibung ist nicht sehr genau. Doch darunter versteht er, dass 20 „Magyarsag“ vom 20. Dezember 1942. Die Deutsche Schutzstaffel : Die SS by Himmler ( BA NS 19/1454). 21 Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei, S. 9–12 ( BA NSD 41/61).
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der einzelne Offizier Verantwortung willig akzeptiert oder aus sich selbst heraus verantwortlich handelt. Beherztheit stellt eine alltägliche Notwendigkeit dar, besonders im Krieg, und jede Art von Tätigkeit, die Deutschland nützt, ist wertvoll. Vermeidung von Alkohol ist ebenfalls eine wichtige Tugend, und Himmler besteht sehr auf Selbstkontrolle.22 Wie in vielen anderen Reden, so legt Himmler auch gegenüber hohen Wehrmachtsoffizieren großen Wert auf die Notwendigkeit einer kompromisslosen ideologischen Erziehung, die auf die Förderung der zentralen SS - Tugenden abzielt : Treue, Gehorsam, Wahrhaftigkeit, Härte, Stärke und Gerechtigkeit.23 Einige Wochen später stellt er erneut die ideologische Erziehung als direkt mit den SS - Tugenden verbunden dar : Mut, Standfestigkeit, Gehorsam in Verbindung mit Verzicht auf Kritik, Umsicht, Wahrhaftigkeit sowie echte Kameradschaft, die allerdings der Treue zu Volk und Führer untergeordnet bleibt.24 Aus nahe liegenden Gründen stellt Selbstbeherrschung im Rahmen eines selbstperfektionistischen Moralansatzes eine Schlüsseltugend dar. Bei etlichen Gelegenheiten wärmt Himmler das Thema Mäßigung wieder auf, und er preist die Tugend der Zurückhaltung gegenüber exzessivem Alkohol - und Nikotinkonsum. Von Himmler inspiriert greifen auch andere Autoren und Redner diese Themen auf. Beispielsweise liest man in einem SS - Rundbrief, dass man SS - Mitglieder vor Alkoholexzessen warnen müsse, da diese gesunde Hemmungen unterdrückten, sowie vor dem Verlangen nach Nikotin, welches den Willen und die Nerven betäube. Für die Erziehung der Truppen solle man in den Kasernen Plakate aufhängen mit Sprüchen wie diesen : „Bewahre deine Gesundheit für dein Volk“ – „Der Nationalsozialismus bedeutet den Kampf gegen das Verlangen des Einzelnen sowie gegen ungehemmte Triebe“ – „Rede nicht nur über den Nationalsozialismus : Lebe ihn“.25 Da der moralische Perfektionismus der SS für den Handelnden im Sinne der SS - Moral als Ganzes gilt, betrifft er ebenso sämtliche private Bereiche in Bezug auf das persönliche und das Familienleben. In einem Text mit dem Titel „Unser Ziel : Die rassisch wertvolle, erbgesunde, kinderreiche SS - Sippe“ liest man, dass die Neuorganisation der deutschen Familie ein wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Aufbaupläne der Zukunft sei. Insbesondere besteht das Ziel der NS - Familienpolitik in der Schaffung und Förderung von Familien, welche die folgenden Merkmale aufweisen : Hohen rassischen Wert, Erbgesundheit sowie viele Kinder. In der Zukunft müssen sich Menschen mit wertvollem Erbe 22 Vgl. Rede Himmlers bei der SS - Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943, S. 122–123, 149–165 ( IMT, 1919–PS ). 23 Vgl. Rede des Reichsführers SS auf der Ordensburg Sonthofen am 5. 5. 1944 ( BA NS 19/4013, fols. 79– 92). 24 Vgl. Rede des Reichsführers SS in Sonthofen am 21. 6. 1944 vor Generälen der Wehrmacht ( BA NS 19/4014, fols. 188–192). 25 Ausbildungsbrief Nr. 5 des SS - Sanitätsamtes, datiert vom 15. November 1938 ( BA NS 33/87, fols. 22–25).
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in höherem Maße fortpflanzen als diejenigen mit weniger wertvollem Erbe. In diesem Zusammenhang tragen die SS - Sippen, die sich aus einer Auswahl der Träger des besten deutschen Erbes zusammensetzen, eine besondere Verantwortung. Jeder SS - Mann muss sich persönlich in ein solches Projekt einbringen, indem er die richtige Wahl bezüglich seiner Ehepartnerin trifft und indem er viele Kinder zeugt : Dies gehört zum moralischen Pfad der Tugend und Selbstperfektionierung. Unter dieser Perspektive stellt der Autor eine Liste mit 10 Geboten für die Partnerwahl auf : „1. Bedenke, dass du Deutscher bist : Du bist wer du bist, nicht aufgrund deiner eigenen Verdienste, sondern durch dein Volk. Du gehörst deinem Volk, ob es dir gefällt oder nicht. Das Allgemeinwohl steht über dem Eigeninteresse. 2. Wenn du gesund bist, solltest du nicht allein bleiben. Die Eigenschaften deines Körpers und Geistes stellen einen Teil deines Erbes dar, ein Geschenk deiner Vorfahren, und sie leben als Teil einer ununterbrochenen Kette in dir. Wer auch immer allein bleibt, zerbricht diese Kette. Dein Leben ist nichts als eine vorübergehende Erscheinung : Die Sippe und das Volk haben Vorrang. 3. Halte deinen Körper rein ( damit du deinem Volk dienen kannst ). 4. Du musst deinen Geist und deine Seele rein erhalten. Halte sie von allem fern, dass dir fremd ist, das deiner Natur entgegen steht und das deinem Gewissen widerstrebt. 5. Als Deutscher, wähle nur eine Ehepartnerin desselben nordischen Blutes. Die Vermischung der Rassen führt nur zu Degeneration und Untergang, doch nordisches Blut hält das ganze Volk zusammen. 6. Frage deine zukünftige Ehepartnerin nach ihren Vorfahren. Bedenke, dass du nicht nur deine Partnerin heiratest, sondern auch ihre Vorfahren. Und wertvolle Kinder hängen von wertvollen Vorfahren ab. 7. Gesundheit ist die Vorbedingung auch für äußerliche Schönheit. 8. Heirate nur aus Liebe. 9. Die Ehe ist kein Spiel, sondern ein beständiges Band, dessen Bedeutung im Kind liegt. 10. Du musst so viele Kinder haben wollen wie möglich. Drei oder vier Kinder sind notwendig, um die Zukunft des Volkes zu sichern. Du wirst vergehen, doch das, was du deinen Nachkommen mitgibst, wird bleiben. Dein Volk ist ewig.“26
Die SS - Autoren verstanden moralisches Handeln als einen Weg der persönlichen Entwicklung, und zwar durch Erziehung und die Ver wirklichung der Tugendhaftigkeit. In Reinhard Heydrichs Worten müssen „wir, die SS, [...] an uns selbst arbeiten. Wir müssen die ewigen Grundlagen unserer Weltanschauung, die uns der Führer gegeben hat, erhalten und in uns verankern [...]. Um unser Volk zu schützen, müssen wir hart gegenüber dem Gegner sein. Wir müssen die guten Elemente unseres deutschen Erbes vertiefen. Bei aller Härte müssen wir gerecht sein, wir müssen die Treuesten sein, und unsere Kameradschaft muss die beste sein [...] Wir müssen in allen Bereichen die Besten werden [...] wir müssen daran arbeiten, unser Wissen über unsere Vorfahren zu vergrößern. Das ist das Wissen über alle die Werte, die Gott unserem Volk gegeben hat : Unser Blut, unsere Natur, unsere wahre geschichtliche Vergangenheit. Wir müssen beispielhaft sein und in Übereinstimmung mit den ewigen Grundsätzen 26 SS - Leithefte, L. 2/25. März 1936, S. 14–17 ( BA NSD 41/77).
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leben, die uns der Führer gegeben hat [...]. Und wir, die SS, wollen der ideologische Stoßtrupp und die Schutzstaffel der Idee des Führers sein, sowie ein inneres Verteidigungskorps des nationalsozialistischen Staates, indem wir unsere Aufgaben als Staatspolizei erfüllen.“27 Selbstverständlich folgte auf Selbstentwicklung und Anständigkeit der Völkermord. Tatsächlich, als Ergebnis der Tugendhaftigkeit, war es die besondere Moral des einzelnen SS - Mannes, was den Holocaust möglich machte.
V.
Schlussbetrachtung
Im Großen und Ganzen gelang es der SS - Ethik nicht, den moralischen Grundsätzen zu entsprechen, von denen sie ihre Konzepte direkt oder indirekt übernommen hatte. Sie organisierte sich um moralische Konzepte wie Pflicht, das Gute sowie die Tugend. Doch ausgehend von der NS - Logik beraubte sie die Konzepte ihrer typischen Universalität. Was das Konzept der Pflicht betrifft, so schloss Kant sämtliche Gefühle von der moralischen Bestimmung des Handelns aus, da sie keinen Anspruch auf Universalität erheben konnten, abgesehen von Respekt gegenüber dem Gesetz und Respekt gegenüber der Menschheit, deren Ratio das Gesetz versteht. Wenn sich allerdings SS - Autoren dafür aussprachen, das Gefühl zu Gunsten der Pflichterfüllung auszuschließen, dann meinten sie bestimmte menschliche ( und daher eher universale ) Gefühle, aber tatsächlich verlangten sie den Vorrang eines anderen Gefühls, nämlich der Liebe zum deutschen bzw. germanischen Volk. Noch wichtiger, sie entschieden sich, Kants zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs zu ignorieren, welche fordert, in einer Weise zu handeln, die immer die Menschheit als Ziel und nicht als Mittel sieht. Doch die Menschheit als solche stellte für die SS - Ethik keinen Wert dar. Ganz ähnlich konzentrierte sich die SS - Ethik auf eine Vorstellung des Allgemeinwohls, der es an Universalität mangelte. Das endgültige Wohl, nach dem zu streben war, war das Wohl des Volkes, das entsprechend den Gesetzen der Natur über das Wohl des Einzelnen ging. Doch diese Gesetze legitimierten jede Form von Gewalt sowie jede Form eines biologischen Egoismus. Das höchste Wohl war also rassisch begrenzt. Logischerweise erreichte es keine Universalität, da es der Menschheit als solcher jeden Wert absprach. Nun bezeichnete man herausragende Leistungen in der Kunst der Pflichterfüllung für das Wohl des Volkes als Tugendhaftigkeit. Und die SS - Ethik feierte verschiedene Arten von Tugend. Indem man allerdings die Tugend der Härte heraushob, wurde die Tugendethik der SS zu etwas Mörderischem. Und es war einigermaßen bizarr, herausragende Leistungen und Selbstperfektionierung auf geistige Eigenschaften zu übertragen, welche der Vernichtung der Menschlichkeit einen moralischen Charakter verliehen. 27 Reinhard Heydrich, Wandlungen unseres Kampfes, München 1936, S. 18–20.
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Aufgrund ihrer Verleugnung der Universalität versagte die SS - Ethik letztlich aus dem doppelten Grund eines exzessiven Egoismus und Nihilismus. Indem es nur einem rassisch bestimmten Teil der Menschheit einen Wert beimaß, forderte das SS - Denken nichts weiter als eine „natürliche“ Form des Egoismus, der jedes echte Andere ausschloss. Und indem sie anderen Teilen der Menschheit jeden besonderen Wert absprach, wies die SS - Ethik eine starke nihilistische Komponente auf. Um derjenigen rassischen Untergruppe willen, welche den höchsten ontologischen Wert verkörperte, war es auf dem Boden der SS - Ethik möglich, jede Art von Gewalt gegen die Menschheit zu legitimieren – und das tat sie auch. Sie repräsentierte einen zum Nihilismus ver wandelten biologischen Egoismus im Namen der Naturgesetze. Die SS - Ethik war von einer SS - Ontologie abhängig, innerhalb derer sie schließlich implodierte.
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„Das Schwarze Korps“ und die Bestätigung der SS - Sippengemeinschaft Amy Carney Am 8. August 1939 veröffentlichte Das Schwarze Korps, die Zeitschrift der SS, einen Artikel unter der Überschrift „Ist das unmännlich ?“1 Das Thema, um das es ging, war die Vaterschaft; war es unmännlich, ein Vater zu sein und seine Kinder zu versorgen ? Den ganzen Text des Artikels hindurch versicherte der Autor, dass die Antwort auf diese Frage „nein“ lautete. Er beteuerte, dass ein Vater zwar nicht die Verantwortung einer Mutter übernehmen solle, es aber zulässig für einen Mann sei, seine Frau bei ihren häuslichen Pflichten zu unterstützen. Durch diese Hilfe würde er seine Stellung als „ein echter Kerl und ein richtiger Mann“2 erweisen. Die Bilder, welche diesen Artikel begleiteten, verstärkten diese Botschaft und demonstrierten die Form akzeptabler Fürsorge, die ein Vater bzw. ein jeder SS - Mann seinen Kindern angedeihen lassen sollte. Die Bildunterschriften vermittelten weitere Ermutigung : „Warum soll nicht auch mal der Vater sein Kind versorgen [...] ? Er verliert dadurch nichts von seiner Männlichkeit, wohl aber zeigt sich in solchen Fällen, dass seine Liebe zu Frau und Kind nicht nur Lippenbekenntnis ist.“3 Dieser Artikel war einer von vielen regelmäßig in Das Schwarze Korps veröffentlichen Texten, die sich mit Vaterschaft, Kindern und der SS - Familie beschäftigten. Derartige Darstellungen lieferten überzeugende Argumente bezüglich der Wichtigkeit der Teilnahme eines Vaters am täglichen Leben und der Aufzucht seiner Kinder : Sie demonstrierten, dass, während die Mütter nach wie vor diejenigen blieben, die innerhalb einer Familie hauptsächlich für die Pflege zuständig blieben, die Vaterschaft mehr umfasste als eine rein biologische Verantwortung. Diese Artikel vermittelten die Vorstellung eines aktiven Vaters, der sich um seine Familie kümmerte, und sie konstatierten öffentlich, dass väterliche Bewunderung und Fürsorge akzeptable und bewundernswerte Wesenszüge seien. An väterlicher Zuneigung war nichts Unmännliches. Indem sie derartiges Material in ihre Veröffentlichungen aufnahm, eröffnete die Zeitschrift einen öffentlichen Diskurs über Vaterschaft und Familie. Sie artikulierte für ihre Leser jene Familienwerte, welche diese besondere Nazi - Organisation verfocht.
1 2 3
„Ist das unmännlich ?“ In : Das Schwarze Korps vom 10. August 1939, S. 14. Ebd. Ebd.
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Tatsächlich stellten Vaterschaft und die Gründung einer Familie grundlegende Ideale innerhalb der SS dar, Ideale, die dabei halfen, ihren gegenwärtigen und zukünftigen Zweck zu definieren. Die SS hatte im Jahre 1925 als eine kleine und elitäre Leibwache begonnen, die Adolf Hitler unerschütterlich ergeben war. Im Laufe der dann folgenden zwei Jahrzehnte veränderten sich allerdings ihre Funktion und ihr Ruf als einer Eliteorganisation. Die Person, die vor allem anderen für die Formung der SS und die Definition ihres Status als eines elitären Ordens verantwortlich war, war ihr Führer, der Reichsführer - SS, Heinrich Himmler. Dieser hatte kein Interesse daran, eine Organisation zu erschaffen, die einfach nur den Zwecken der Nationalsozialistischen Partei und des nationalsozialistischen Staates der Gegenwart diente; er wollte eine Gemeinschaft etablieren, die zur Vorhut und neuen Aristokratie von Hitlers Tausendjährigem Reich werden würde. Ganz besonders fasste Himmler die Schaffung einer „Sippengemeinschaft“ ins Auge, zu der potentiell nicht nur seine SS - Männer, sondern ebenso ihre Ehefrauen, Kinder sowie alle zukünftigen Nachfahren gehören sollten. Im Unterschied zu Gemeinschaften der Vergangenheit allerdings, die auf Gemeinsamkeiten wie Klasse, Ethnie, Geschichte, Sprache und / oder Religion aufbauten, beruhte die Gemeinschaft, die Himmler anstrebte, auf einer weitaus weniger veränderlichen Basis : Der biologischen Abstammung einer Person. Das biologische Erbe legte fest, ob er ( oder sie ) dieser Gemeinschaft angehören konnte. Obwohl bestimmte Merkmale wie blondes Haar und blaue Augen hoch geschätzt wurden, bestand der entscheidende Aspekt des biologischen Erbes einer Person darin, dass sie nachweisen konnte, zur nordischen Rasse zu gehören.4 Sowohl die populäre als auch die wissenschaftliche Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte proklamiert, dass die nordische Rasse den Höhepunkt der Zivilisation und Kultur darstellte.5 Als ein Verfechter dieser Sichtweise nutzte Himmler die Rassenideologie zur Förderung seiner SS - Sippengemeinschaft. Zu den Ressourcen, die er selektiv nutzte, zählte die Wissenschaft der Eugenik; auf Eugenik beruhende Maßnahmen bildeten die Grundlage der Sippengemeinschaft und verliehen seinem Ziel der Etablierung einer auf Rasse und Blut beruhenden Aristokratie wissenschaftliche Legitimität. Indem er nur Menschen nordischer Abkunft gestattete, der SS entweder als Mitglied oder Ehepartner beizutreten, begrenzte Himmler die Zahl derer, die das Recht auf Zugehörigkeit hatten. Seine Sippengemeinschaft wurde dem ent4
5
Fritz Lenz, ein prominenter Eugeniker, auf dessen Werk sich Himmler auszugsweise bezog und der gelegentlich mit der SS in Rassenfragen zusammen arbeitete, hatte insbesondere argumentiert, dass „blondes Haar keine edle Rasse garantiert und dunkles [Haar ] sie nicht ausschließt.“ Fritz Lenz, „Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene“. In : Archiv für Rassen - und Gesellschaftsbiologie, 25 (1931), S. 303. Zu den wenigen Autoren, welche die Wichtigkeit der nordischen Rasse für die westliche und deutsche Zivilisation darstellen, gehören Madison Grant, Der Untergang der großen Rasse. Die Rassen als Grundlage der Geschichte Europas, München 1925; Hans F. K. Günther, Rassenkunde Europas, München 1926, sowie Richard Walther Darré, Neuadel aus Blut und Boden, München 1934.
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sprechend in direkter Weise dadurch definiert, wer ihr als Mitglied angehören durfte, und indirekt dadurch, dass jeder andere ausgeschlossen war. Allerdings ging es bei Himmlers Ziel der Schaffung einer Gemeinschaft um mehr als nur den Ausschluss der Mehrheit und die Zulassung einer Minderheit. Die Verwendung der Biologie zur Bestimmung der SS - Sippengemeinschaft war der Grundstein für ein weitaus umfassenderes Ideal, ein Ideal, dem es darum ging, den Zweck und Wert der Familie neu zu konzipieren. Durch dieses größere Ziel war die SS - Sippengemeinschaft genauso gut ein kulturelles Konstrukt wie eine biologische Entität. Als eine solche kann die SS, wenn sie auch keine eigene Nation darstellte, sondern eine Organisation innerhalb der Nationalsozialistischen Partei war, als eine Gemeinschaft innerhalb des Reiches gesehen werden, wenn man die Gemeinschaftsdefinition zugrunde legt, wie sie von Benedict Anderson in Imagined Communities umrissen wurde.6 Die SS definierte sich nicht nur über ihre politischen, sondern ebenso über ihre sozialen, kulturellen und ökonomischen Dimensionen. Mit einer Gesamtzahl von beinahe 800 000 auf ihrem Höhepunkt verband die Angehörigen dieser Gemeinschaft ihr gemeinsames nordisches Erbe, obwohl sie sich zu keinem Zeitpunkt alle persönlich kannten.7 Es handelte sich ebenso um eine begrenzte Gemeinschaft, die ausschließlich Menschen akzeptierte, deren rassisches Erbe als einwandfrei galt. Diese Gemeinschaft war beinahe souverän; nachdem die SS erst einmal ihre Treue erwiesen hatte, kannten ihr Führer und ihre Organisation nur noch eine einzige Grenze, den Willen des Führers. So lange die Organisation und ihr Führer aber innerhalb der durch Hitler festgelegten Grenzen operierte und loyal zu ihm blieb, hatte sie weitgehende Handlungsfreiheit bezüglich jeder Operation und Funktion, die sie für notwendig hielt, um ihre Existenz aufrecht zu erhalten und ihre Macht zu erweitern. Letztlich strebte sie danach, eine Gemeinschaft darzustellen. In Übereinstimmung mit ihrem Ideal der Sippengemeinschaft war die SS darauf aus, eine ewige Kameraderie ihrer Mitglieder und deren Familien aufzubauen.8 Alle Merkmale, die sie hätten unterscheiden können, einschließlich Religion, regionaler Identität oder sozioökonomischer Status, sollten durch die Einheit über wunden werden, die auf dem gemeinsamen Besitz des nordischen Blutes beruhte. 6
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8
Siehe Benedict Anderson, Imagined Communities : Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983, S. 6–7. Obwohl er zu einer leicht abweichenden Definition der Nation und des Nationalismus kam, schlug auch Hobsbawm die Nation als ein kulturelles Konstrukt vor, siehe Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism Since 1870 : Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990, S. 9–11. „Stärke der SS am 30. 6. 1944“ ( Bundesarchiv Berlin - Lichterfelde [ im Folgenden BA ] NS19/1471, S. 5) sowie Brief Richard Korherrs an Heinrich Himmler vom 19. September 1944 ( United States National Archives and Records Administration [ im Folgenden NA ] T175/103/ frames 2625511–2625512). Koehl gibt höhere Zahlen, indem er die Kriegsverluste mit einbezieht : Siehe Robert Lewis Koehl, The SS : A History 1919–1945, Tempus Publishing Limited, Stroud / Gloucestershire 1989, S. 237, und ders., „The Character of the Nazi SS“. In : The Journal of Modern History, 34 (1962) 3, S. 275. Zu weiteren Verwendungen von „Gemeinschaft“ gehörten Volksgemeinschaft, Blutsgemeinschaft, und Lebensgemeinschaft.
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Um diese rassebasierte Gemeinschaft herzustellen, musste Himmler seine SSMänner – einschließlich ihrer Ehefrauen und Familien – vom Zweck und Wert dieser Gemeinschaft überzeugen. Er und seine Beamten in den entsprechenden Abteilungen der SS, insbesondere dem Rasse - und Siedlungshauptamt (RuSHA), mussten den Rahmen herstellen, innerhalb dessen die SS - Männer und ihre Familien dazu erzogen werden konnten, eine rassebewusste Haltung einzunehmen. Sie mussten ein System entwickeln, dass unter den SS - Männern und ihren Familien eine positive Haltung sowie positive Empfindungen gegenüber Rassenbiologie und eugenischem Denken förderte. Um diese Ziele zu erreichen und dementsprechend die Sippengemeinschaft aufzubauen, mussten Himmler und andere SS - Beamte einen Diskurs pflegen, der sich mit den relevanten Themen beschäftigte und den Wert und die Ziele der Sippengemeinschaft als einer biologischen und kulturellen Einheit förderte. Der daraus entstehende Diskurs umfasste eine große Bandbreite von Maßnahmen. Manche dieser Maßnahmen waren ausschließlich für ein SS - Publikum gedacht, wie Befehle, Reden, Briefe, Broschüren und Zeremonien. Andere waren dazu gedacht, dem ganzen deutschen Volk zu zeigen, wie sich die SS darum bemühte, mit Hilfe ihrer Bevölkerungspolitik und der damit verbundenen Ziele zur Vorhut des nationalsozialistischen Rassenstaates zu werden. Eine der wichtigsten Ressourcen, welche die Organisation dazu befähigte, ihre Ansichten öffentlich zu artikulieren, war ihre bereits erwähnte Zeitschrift Das Schwarze Korps. Diese Zeitschrift war nicht nur die wichtigste SS - Publikation, sie war die führende Wochenzeitschrift des Dritten Reiches und stand in ihrer Verbreitung nur hinter Das Reich zurück.9 Aufgrund dieser herausragenden Stellung stellte Das Schwarze Korps einen Kanal dar, über den die SS ihre Ambitionen dem deutschen Volk mitteilen konnte. Wie SS - Gruppenführer August Heißmeyer, der Leiter des SS - Hauptamtes, nur zwei Monate nach Beginn des Blattes im Mai 1935 feststellte, wird in keinem anderen Presseerzeugnis „der Geist der SS in so klarer Weise herausgestellt wie im ‚Schwarzen Korps‘“.10 Für SS - Leser verstärkten die Artikel, die ihnen in ihrer Zeitschrift präsentiert wurden, jene privaten Initiativen, die sie dazu aufforderten, im Falle einer Heirat das biologische Erbe ihrer Familien zu beachten und eine erbgesunde Familie zu schaffen, welche die SS - Sippengemeinschaft stärken würde. 9 Das Reich wurde von Joseph Goebbels im Jahre 1940 gestartet; bis 1943 umfasste jede der wöchentlichen Ausgaben ca. 1,5 Millionen Exemplare. Das Schwarze Korps verkaufte bis 1939 über eine Million Exemplare, und die nächstgrößte Wochenzeitschrift war Der Stürmer, Julius Streichers antisemitisches Blatt, dass bis März 1944 in einer Auflage von beinahe 400 000 Exemplaren erschien. Richard Grunberger, 12 Year Reich: A Social History of the Third Reich, London 1971, S. 400. Norbert Frei / Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 1989, S. 102. William L Combs, The Voice of the SS : A History of the SS Journal ‚Das Schwarze Korps‘, New York 1986, S. 20. Fritz Schmidt, Presse in Fesseln, eine Schilderung des NS - Pressetrusts, Berlin 1947, S. 218, und Befragung von Herrn Günter d’Alquen am 13. / 14. Januar 1968 in Mönchen - Gladbach (Institut für Zeitgeschichte, ZS /2, S. 29–31). 10 „SS - Zeitung ‚Das schwarze Korps‘“, vom 27. Mai 1935 ( BA NS31/354, S. 47).
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Bezüglich des erweiterten deutschen Publikums bot Das Schwarze Korps der SS ein Organ, mit dessen Hilfe sie demonstrieren konnte, wie sehr ihre Männer Führer und Reich ergeben waren und in welcher Weise sie in für das ganze Volk beispielhafter Weise den Prinzipien der Eugenik anhingen. Indem sie die Ziele der Organisation der Öffentlichkeit vorstellte, legte die Zeitschrift dar, wie sehr die treuesten Angehörigen der Partei und des Regimes darauf aus waren, das deutsche Volk zu führen, wenn es um Familienleben und Fortpflanzung im Namen der Erschaffung eines Rassestaates sowie einer größeren Volksgemeinschaft ging. Die Zeitschrift deckte ein weites Themenfeld ab, allerdings blieb die SS inhaltlich an vorderster Front im Schwarzen Korps und wurde ständig in einem positiven Licht dargestellt, was dazu verhalf, eine öffentliche Wahrnehmung der SS zu erzeugen. In diesem Sinne erschuf der Herausgeber dieser Zeitschrift, Günther d’Alquen, eine Zeitschrift ganz im Sinne der SS, wenn sie auch auf ein breiteres Publikum abzielte. Mit seiner breiten Leserschaft stellte Das Schwarze Korps einen idealen Kanal dar, über den die SS sich über die biologischen und kulturellen Aspekte ihrer Sippengemeinschaft verbreiten und deren Berechtigung darlegen konnte. Unter Bezug auf diese Rechtfertigung dienten die meisten der Artikel über Heirat, Kinder und Familie der Förderung rassisch gesunder Verbindungen und legitimen Nachwuchses. Allerdings beschränkte sich die Zeitschrift nicht auf konventionelle Vorstellungen von Familie. Tatsächlich förderten viele Artikel außereheliche Beziehungen zwischen rassisch Gleichwertigen zum Zweck der Fortpflanzung; daraus erwachsene Kinder stellten einen willkommenen Zuwachs zur Sippengemeinschaft und zum Rassestaat dar.11 Dennoch wurden SS - Männern nur wenige uneheliche Kinder geboren. Während die Zeitschrift die eher liberale Sexualmoral des Führers der SS begrüßte, konzentrierten sich die meisten Artikel, einschließlich der hier diskutierten, hauptsächlich auf die Förderung der rassischen Werte derjenigen Kinder, die SS - Männern von ihren Ehefrauen geboren wurden und die sie gemeinsam mit diesen aufzogen.12 Eines der sowohl für die SS als auch für das nationalsozialistische Deutschland wichtigen biologischen Themen war Erbhygiene und rassische Fürsorge. Dementsprechend enthielt Das Schwarze Korps Artikel, welche die Bedeutung der „Bevölkerungspolitik“ im Reich sowie den Wert der Erhaltung und Weiter-
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Zu einer Auswahl von Texten, welche die Illegitimät diskutierten, gehörten „An ihren Früchten“ (9. Juli 1936, S. 11). „Kind = Kind“ (18. März 1937, S. 9). „Darauf können wird stolz sein“ (16. November 1939, S. 1). „Ich fand wieder zu mir selbst zurück“ (9. Mai 1940, S. 6), und „Gute Gelegenheit“ (4. Juli 1940, S. 2). 12 Bezgl. weiterer Informationen über die Regulierung außerehelichen Verkehrs siehe Annette M. Timm, „Sex with a Purpose : Prostitution, Venereal Disease, and Militarized Masculinity in the Third Reich“. In : Journal of the History of Sexuality, 11 (2002) 1–2, S. 223–255, sowie zu unehelichen Kindern im Zusammenhang mit dem Lebensbornprogramm siehe Georg Lilienthal, Der Lebensborn e. V. : Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, Stuttgart 1985.
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gabe gesunden nordischen Blutes betonten.13 Artikel über Blut und Rasse erwähnten auch deren Wichtigkeit für die Ziele der SS, indem sie betonten, dass es sich hierbei um eine Organisation rassisch wertvoller Soldaten handele, welche die Rassenauswahl respektierten.14 Eine Reihe von Texten erklärte den Prozess, den ein Bewerber durchlaufen musste, um dem Orden beitreten zu dürfen.15 Ein Artikel, der gegen Ende des Jahres 1935 erschien – „Die innere Sicherheit des Reiches“ – fasste den Gesamtzweck der SS zusammen, indem er ihren Prozess der Sicherheitsüberprüfung mit ihren zentralen Idealen von Ehre und Treue verglich.16 Zweimal erklärte der Artikel, dass die SS sich diese Auswahlgesetze auferlegt habe und sie so ernst nehme, dass nicht alle Kinder von SS - Männern das Privileg hätten, automatisch in die Organisation aufgenommen zu werden, auch sie hätten sich einer Bewertung zu unterziehen, damit nur das allerbeste deutsche Blut zur SS gehören würde. Angesichts des Gruppenführer - Eides, den Himmler von allen SS - Gruppenführern und Obergruppenführern verlangte, erscheint diese Einbeziehung im Rückblick als axiomatisch.17 Himmler hatte diesen Eid formuliert, weil er es als eine der „größten Gefahren für die Zukunft der SS“18 ansah, wenn die Söhne und Töchter von SS - Männern ohne weitere Überprüfung automatisch als Mitglieder der Organisation bzw. Ehefrauen zugelassen würden. Zukünftige Generationen, argumentierte er, könnten nicht ausschließlich aufgrund der Verdienste ihrer Vorfahren zugelassen werden. Die simple Tatsache, dass ihre Väter der SS angehört hätten, sei kein ausreichender Grund, ihnen die Zugehörigkeit zu gestatten, da jeder Generation striktere Bedingungen auferlegt werden müssten. Im Ergebnis verpflichtete der Gruppenführer - Eid diese höchstrangigen Offiziere, als „Hüter der Blut - und Lebensgesetze der Schutzstaffel“ zu dienen. Sie waren dafür verantwortlich, jeden Kandidaten bzw. dessen Ehepartnerin zu überprüfen und zu akzeptieren, dass die damit verbundene Sorgfalt zur Zurückweisung der Kinder ihrer Kameraden oder sogar ihrer eigenen Kinder führen könnte. Allerdings schuf Himmler diesen Eid im November 1936 – ein Jahr, nachdem die Zeitschrift den oben erwähnten Artikel veröffentlicht hatte. So hatte also diesbezüglich ein Teil der SS – der junge Herausgeberstab des Schwarzen Korps – ein Element der Bevölkerungspolitik des Reichsführers und ihrer Ziele vorweg genommen.19 13 Zum Beispiel „Erbgesund – Erbkrank“ (3. März 1935, S. 11). „Ewiges Blut“ (26. Juni 1935, S. 14). „Der neue Weg“ (10. März 1938, S. 3–4), und „Erst hinterher weiß man es“ (1. Juni 1944, S. 4). 14 „Lebensgestaltung“ (27. März 1935, S. 10). 15 „Was bin ich für ein Rassentyp ?“ (12. Dezember 1935, S. 14), und „Wer will unter die Soldaten“ (17. Dezember 1936, S. 3). 16 „Die innere Sicherung des Reichs“ (21. November 1935, S. 1–2). 17 Vgl. „Grundgesetz über die Vereidigung der SS - Obergruppen - und Gruppenführer als Hüter des Blutes - und Lebensgesetzes der Schutzstaffel“ ( BA NS19/3902, S. 125). 18 Ebd., S. 126. 19 Zur Zeit des Beginns der Zeitschrift war Günter d’Alqeuen 25 Jahre alt. Als Mitherausgeber fungierten sein Bruder Rolf d’Alquen, 23, und Rudolf aus den Ruthen, 22. Mario
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Abgesehen von dieser eventuellen Voraussicht formulierte der Artikel „Die innere Sicherheit des Reiches“ noch ein weiteres Thema : Der Verlobungs - und Heiratsbefehl. Himmler hatte den ursprünglichen Befehl am 31. Dezember 1931 gegeben.20 Es war der erste und bedeutendste seiner auf der Eugenik beruhenden Befehle. Er legte die rassische und biologische Grundlage der SS - Sippengemeinschaft fest und legitimierte so den Zweck und Wert der gesamten dann folgenden Rassenpolitik. Der Artikel in Das Schwarze Korps stellte fest, dass dieser Befehl von 1931 das erste SS - Auswahlgesetz sei, obwohl es sich weder um den ersten noch den letzten Artikel handelte, welcher sich mit diesem Befehl beschäftigte. Andere erklärten den Zweck des Befehls, indem sie sich mit dessen unterschiedlichen Aspekten beschäftigten, indem sie erläuterten, warum das RuSHA verlangte, dass sowohl ein SS - Mann als auch seine Verlobte einen Stammbaum vorlegten, mit dessen Hilfe die jeweilige Abkunft bis zum Jahre 1800 zurück verfolgt werden konnte. Des Weiteren wurde dargelegt, warum die Ehefrau eines SS - Mannes rassisch und erblich wertvoll zu sein habe.21 Darauffolgende Artikel verteidigten ebenfalls den ursprünglichen Verlobungs - und Heiratsbefehl, indem sie proklamierten, dass der Reichsführer in das Privatleben seiner Männer eingegriffen habe, um das deutsche Volk zu schützen. Die Förderung gesunder Heiraten bedeute die Förderung gesunder Kinder, wodurch wiederum ein gesundes Volk gefördert werde.22 Diese Artikel legten die Eheideale, den Rassenglauben sowie die zukünftigen Ziele der SS dar. Andere formulierten die grundsätzliche Wichtigkeit gesunder Heirat für das gesamte Volk und boten so einen umfassenderen Kontext für Leser außerhalb des unmittelbaren SS - Publikums. Für einen Teil dieses umfassenderen Kontextes sorgte ein Beamter des Reichsgesundheitsministeriums, Dr. Arthur Gütt.23 In einem Artikel vom späten Oktober 1935 umriss er kurz die diversen Gesetze zur Erbgesundheit, welche die nationalsozialistische Regierung erlassen hatte.24 Unter anderem besprach er das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“, das der Staat eine Woche zuvor verkündet hatte. Gütt definierte dieses Gesetz dahin gehend, dass es der Förderung der Geburt wertvoller Kinder dienen solle, indem es aus rassischen und erblichen Gründen gesunde Vereinigungen fördere und unerwünschte verhindere. Dieses Gesetz zeige, dass Rasse und Erbgesundheit nicht voneinander zu trennen waren, ein Punkt, den die SS bereits akzeptiert habe, wie Gütt anerkannte. Die
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Zeck, Das Schwarze Korps : Geschichte und Gestalt des Organs der Reichsführung SS, Tübingen 2002, S. 68, 71 und 73. „SS - Befehl – A – Nr. 65“ vom 31. Dezember 1931 ( BA NS19/1934, S. 147). „Wie ich meine Ahnen suche“ (3. Oktober 1935, S. 4). „Seine Braut war zwei Zentimeter zu klein“ (26. Dezember 1935, S. 5). „Eine Mahnung an Saboteure“ (13. Februar 1936, S. 6), und „Die arische Großmutter“ (3. Dezember 1936, S. 4). „Warum Heiratsgenehmigung ?“ (3. April 1935, S. 10), und „Das sogenannte Privatleben“ (16. März 1939, S. 1–2). Gütt war ebenso der Leiter des SS - Amtes für Bevölkerungspolitik und Erbgesundheitspflege im Stabe des Reichsführers - SS. Arthur Gütt, „Ehegesundheitsgesetz und SS“ (24. November 1935, S. 1–2).
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Organisation habe eine führende Rolle dabei übernommen, das Blut und die Erbgesundheit des deutschen Volkes zu schützen. Weiterhin proklamierte Gütt, dass die Regierung zwar Gesetze erlassen könne, dass aber letztendlich der Einzelne dafür verantwortlich sei, dass die in ihnen festgelegten Ziele erreicht würden, etwas dass die SS - Männer und ihre Ehefrauen über ihre Heiraten und ihre Familien erkannt und akzeptiert hätten. Weitere Artikel lobten die biologischen Verdienste gesunder Ehebande, indem sie die Ehe als die „Keimzelle“ des Volkes einstuften. Sie bekräftigten die Vorstellung, dass die Ehe den Anfang der Familie repräsentiere, deren Aufgabe es sei, ihr Erbe für die Zukunft zu bewahren. Ihre Bedeutung läge in der Produktion von Kindern; daher könne eine kinderlose Ehe nichts zum Volk beitragen.25 Wie ein Text direkt feststellte, ist „der Sinn der Ehe das Kind und seine Erziehung in gesunder harmonischer Umgebung“.26 Die Zeitschrift warb durchgängig für die Verbindung von Ehe und Familie, indem sie Artikel veröffentlichte, welche die Wirkungskraft einer frühen Ehe betonten. Die grundsätzliche Botschaft war in jedem Artikel dieselbe : Je jünger das Alter, in dem zwei Menschen heirateten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass daraus eine kinderreiche Familie mit vier oder mehr Kindern entstehen würde.27 Insgesamt verbanden die Artikel Rasse und Erbe mit Ehe und Familie, indem sie die biologische Weltsicht der SS und des nationalsozialistischen Staates förderten und deren Bestrebungen zur Förderung der Idee einer zweckgebundenen Sexualität betonten – Sex sollte eher der Reproduktion als der Freude dienen.28 Zusätzlich warb der rassebasierte Diskurs auf den Seiten von Das Schwarze Korps für die SS - Sippengemeinschaft als einer legitimen biologischen Entität, die im Rahmen der Zukunft des Dritten Reiches einen bestimmten Zweck erfülle. Diese Artikel brachten deutlich zum Ausdruck, dass die SS - Sippengemeinschaft durch Rasse und Erbe definiert sei. Während allerdings Rasse und Erbe den Kern sämtlicher SS - Bevölkerungspolitik und deren Ziele darstellten, handelte es sich bei der SS - Sippengemeinschaft um mehr als nur eine rein biologische Entität. Das Schwarze Korps druckte ebenfalls Artikel, welche andere Ideale zum Ausdruck brachten, die für die Begründung und den Erfolg der SS - Sippengemeinschaft von Relevanz waren. Diese anderen Ideale betrafen den Wert der Sippengemeinschaft als einer kulturellen Entität. Gemeinsam mit der biologischen Basis rechtfertigten sie die Ziele und die Wichtigkeit der SS Sippengemeinschaft innerhalb des Dritten Reiches. 25 „Ein Rechtswahrer zur Ehescheidungsreform“ (24. Dezember 1936, S. 6). „Ahnenehrung einst und heute“ (18. Februar 1937, S. 6). „Das Kind heiligt die Ehe“ (21. Oktober 1937, S. 6). 26 „Im Mittelpunkt : das Kind“ (21. Oktober 1937, S. 6). 27 „Wann sollen wir heiraten ?“ (10. September 1936, S. 2). „Ein Problem, das noch nicht geklärt ist“ (31. Dezember 1936, S. 2). „Eine unerläßliche Voraussetzung“ (21. Januar 1937, S. 2). „Weitere Vorschläge erwünscht“ (18. Februar 1937, S. 2). „Unsere Leser schlagen vor“ (4. März 1937, S. 6), und „Jung gefreit“ (8. Juni 1939, S. 10–11). 28 Der Ausdruck „zweckgebundene Sexualität“ stammt von Timm, Sex with a Purpose, S. 225.
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Eines der durchgängigen Themen der Zeitschrift stellte die Familie dar, und es gab zwei Rubriken, die sich mit Angelegenheiten der Familie beschäftigten, von denen eine oder auch beide in fast jeder Ausgabe der Zeitschrift erschienen. Die erste nannte sich „Aus Sippe und Familie“. Die Initiative für diese Rubrik ging von Himmler aus, der wollte, dass sämtliche die Familie betreffenden Nachrichten unter diesem Titel erschienen. Er verlangte, dass man den Männern klarmache, dass sie Neuigkeiten aus ihren Familien dem RuSHA zu übermitteln hätten, welches dieses Material dann an Das Schwarze Korps weiterleiten würde.29 Diese Rubrik bestand periodisch zwischen dem 8. Mai 1935 bis zur letzten Ausgabe der Zeitschrift vom 29. März 1945. Als eine der halb regulären Rubriken der Zeitschrift, in welcher SS Männer ihre Hochzeiten sowie die Geburt ihrer Kinder bekannt geben konnten, kommunizierte „Aus Sippe und Familie“ die Alltagsrealität von SS Familien. Der Stil dieser Rubrik und ihre Position innerhalb des Blattes variierte während des gesamten Bestehens der Zeitschrift, doch die Informationen, die sie bot, blieben relativ konsistent. Frühe Ausgaben brachten zuerst Listen von Verlobungen und Heiraten und dann von Geburten in einer Spalte, die meist auf Seite vier einer Zeitschrift von mehr als zwanzig Seiten erschien. Die Rubrik umfasste etwa eine Viertelseite und unterteilte die Verlobungen, Heiraten und Geburten nach den Einheiten, in denen der Verlobte, Ehemann oder Vater diente; häufig wurden auch Geburtsdatum und Geschlecht des Kindes angegeben. Im August 1936 entschied Himmler, dass Verlobungen nicht länger Bestandteil der Rubrik sein sollten.30 Abgesehen davon blieb die Rubrik während des größten Teils der Vorkriegszeit unverändert. Die einzige Veränderung geschah in den ersten fünf Ausgaben des Jahres 1939. Der Titel wurde langatmig in „Wir haben den Willen zum Sieg des Kindes und wir werden diesen Sieg erfechten“ geändert, und die Rubrik umfasste nur noch die Geburt von Kindern. In diesem Fall listete die Zeitschrift nicht mehr die Männer nach ihren Einheiten oder die Kinder nach Geburtsdatum auf. Nach dieser Veränderung kehrte man wieder zu dem Titel „Aus Sippe und Familie“ zurück. Während der restlichen Monate des Jahres 1939, in denen die Zeitschrift diese Rubrik enthielt, erschien sie nun auf Seite fünf einer Zeitschrift von nach wie vor mehr als zwanzig Seiten pro Ausgabe und umfasste die gesamte Seite anstatt nur einer Spalte. Die dramatischste Veränderung dieser Rubrik bestand darin, dass sie nun Bilder von Neugeborenen, Kleinkindern und Säuglingen enthielt. Beginnend mit der Ausgabe vom 18. Mai kam es zu einem letzten Zusatz; die Beiträge ordneten nun die Geburtsanzeigen nach der Kinderzahl pro SS - Familie. Obwohl die Anzahl der Kinder bis zu 10 erreichte, handelte es sich bei der Mehrzahl der Neugebore-
29 „Familiennachrichten für ‚Das Schwarze Korps‘“ vom 30. März 1935 ( BA NS31/354, S. 46), und „Familien - Nachrichten für ‚Das Schwarze Korps‘“ vom 15. Juni 1937 ( BA NS2/155, S. 4). 30 Brief von Rolf d’Alquen an Heinrich Himmler und das RuSHA vom 1. August 1936 (NA T580/329/ Ordnung 50/ keine Nummerierung ).
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nen um SS - Familien, welche die Geburt ihres ersten, zweiten oder dritten Kindes feierten. Nach einer Unterbrechung von zwanzig Monaten von August 1939 bis Mitte Mai 1941 kehrte „Aus Sippe und Familie“ zurück, nun allerdings wieder in einem reinem Text - Format, in Stil und Umfang ähnlich den frühen Ausgaben.31 Nach wie vor wurden Heiratsbekanntmachungen zusammen mit gelegentlichen Verlobungsanzeigen oberhalb der Geburtsanzeigen platziert. Letztere waren allerdings nun anders organisiert. Alle SS - Männern geborene Söhne kamen zuerst, erst dann die Töchter, und innerhalb dieser Unterteilung nach Geschlecht wurden die Kinder in der Reihenfolge ihrer Geburt genannt. Diese Verkündigungen nannten auch den Vornamen des Kindes. Spätere Ausgaben von 1942–1945 behielten dieses Format bei, obwohl sie bei Berichten über Kinder häufig die Zahl der Kinder angaben, die ein SS - Mann insgesamt hatte. Die meisten Artikel fanden sich auf Seite sechs, obwohl sie gelegentlich auch auf Seite sieben, acht oder neun erschienen, was sie näher ans Ende der Ausgabe brachten; die Gesamtlänge von Das Schwarze Korps verringerte sich im Laufe des Krieges auf acht bis zehn Seiten pro Ausgabe. „Aus Sippe und Familie“ rückte durchgängig weiter an das Ende einer immer kürzer werdenden Zeitschrift. Tatsächlich war „Aus Sippe und Familie“ in der letzten Ausgabe von Das Schwarze Korps vom 29. März 1945 der letzte Artikel auf der letzten Seite. Mit ihrem etwa dreihundertmaligen Erscheinen im Verlauf der zehnjährigen Existenz der Zeitschrift hatte die Rubrik „Aus Sippe und Familie“ durchaus Bedeutung für das Thema Heirat und Familie innerhalb der SS. Zu allererst demonstrierte diese Rubrik öffentlich die Etablierung von Deutschlands neuer rassischer Elite; sie katalogisierte wortwörtlich die Geburt der nationalsozialistischen Nobilität, womit sie Himmlers Bevölkerungspolitik konkrete Glaubwürdigkeit verlieh. Die Veröffentlichung der Geburt von Kindern demonstrierte besonders den Erfolg der Eugenik – zumindest oberflächlich – denn sie illustrierte den eindeutigen Zuwachs der Kinderzahl. In der Außensicht hatte die Zahl der rassisch wertvollsten Mitglieder des deutschen Volkes zugenommen. Zusätzlich nutzte diese Rubrik die Geburtsanzeigen, um für das Ideal einer fruchtbaren Elternschaft zu werben. Sie betonte den Verdienst, der in einer großen Familie liege, besonders im Jahre 1939, als die jeweiligen Artikel die Kinder danach auf listeten, wie viele es pro Familie gab. Diese Art von Werbung für die Familie stellte eine Ermutigung dar, denn die Veröffentlichung der Geburt des eigenen Kindes machte öffentlich deutlich, dass ein SS - Mann und seine Frau ihre biologische Pflicht gegenüber Reichsführer, Führer und Reich erfüllt hatten. Gleicherweise stellte es den Sieg, den die Geburt eines Kindes an der Hei31
Die Zeitschrift unterbrach die Veröffentlichung dieser Rubrik vom 17. August 1939 bis zum 15. Mai 1941 ohne einen Grund anzugeben. Da diese Daten grob mit den Wochen korrespondierten, welche dem Beginn des Zweiten Weltkrieges bzw. der Operation Barbarossa gegen die Sowjetunion vorausgingen, hielt das Blatt es eventuell für notwendig, sich auf die erfolgreichen Kriegsanstrengungen der deutschen Streitkräfte einschließlich der Waffen SS zu konzentrieren, die ihre eigene Rubrik in der Zeitschrift hatte.
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matfront darstellte, als ein Gegenstück zu den militärischen Triumphen auf dem Schlachtfeld in den ersten Jahren des Krieges heraus. Diese Kinder repräsentierten diejenigen Deutschen, welche in der Zukunft die Gewinne sichern würden, die ihre Väter erzielt hatten. Schließlich hielt „Aus Sippe und Familie“ das Ideal der Elternschaft ein Jahrzehnt lang am Leben. Seine beständige Präsenz in der Zeitschrift verband Kinder mit der Erhaltung Deutschlands. Eindeutig genoss diese Rubrik am Beginn ihres Bestehens einen höheren Stellenwert, als sie eine Position auf den ersten Seiten der Zeitschrift innehatte. Sie stellte zu keinem Zeitpunkt etwas für die Titelseite dar, doch ihre Positionierung auf den ersten Seiten garantierte beachtliche Aufmerksamkeit. Ihre Bedeutung wuchs im Laufe des Jahres 1939, als die Artikel die Vorstellung von der Familie dadurch unterstützten, dass in jeder Ausgabe der Vorkriegsmonate die Bilder der Kinder veröffentlicht wurden. Während der mittleren und späteren Kriegsjahre ging der Stellenwert dieser Rubrik zurück, als sie mehr und mehr an das Ende einer immer dünner werdenden Zeitschrift rückte. Nichtsdestotrotz, nachdem Das Schwarze Korps im Jahre 1941 seine Veröffentlichung wieder aufnahm, blieb „Aus Sippe und Familie“ bis zum Ende bestehen, und seine Präsenz erhielt die Vorstellung aufrecht, dass die Kinder der SS ein Schlüsselelement für die Zukunft des Dritten Reiches darstellten. Die zweite Rubrik in Das Schwarze Korps, die sich mit Familienthemen beschäftigte, nannte sich „Familienanzeigen“. Zuerst erschienen im Juni 1935 und dann relativ beständig bis zur letzten Ausgabe im März 1945, hatte diese Rubrik eine ähnliche Funktion wie „Aus Sippe und Familie“.32 Mit über 450 Ausgaben in der Zeitschrift berichtete auch sie über Verlobungen, Hochzeiten und die Geburt von Kindern. Allerdings gab es eine Reihe von Unterschieden zu „Aus Sippe und Familie“. Zunächst einmal ging die Initiative für diese Rubrik nicht von Himmler aus, und die Zeitschrift bezog ihre diesbezüglichen Informationen nicht vom RuSHA. Im Gegenteil, „Familienanzeigen“ war eine Art bezahlter Anzeigenteil.33 Routinemäßig veröffentlichte die Zeitschrift eine kleine Spalte auf der selben Seite, in der angegeben wurde, bis wann und wohin die jeweilige Information eingesandt werden musste und wie viel eine Anzeige kostete. Die Herausgeber baten darum, das entsprechende Material bis zum Ende der jeweiligen Woche an die Anzeigenabteilung zu schicken, die beim Hauptbüro der Zeitschrift angesiedelt war.34 Wie bei Anzeigen üblich, fanden sich „Familienanzeigen“ gegen Ende des Blattes, und je nach dem, wie viele Anzeigenaufträge vorlagen, nahm die Rubrik zwischen einem Fünftel und zwei vollen Seiten ein. 32 Es gab nur zwei Unterbrechungen in der Veröffentlichung dieser Rubrik, im April und Mai 1937 sowie von Mitte Mai bis Ende Juli 1941. 33 Durch das Wort „Anzeigen“ wird der Zweck besonders deutlich. 34 Anfangs mussten Anzeigen bis Samstagvormittag vorliegen. Dann, ab Juli 1936, bat die Zeitschrift um Vorlage bis zum Freitagvormittag. Von da an bis zum Ende der Zeitschrift änderte sich der Tag periodisch, meist vor und zurück zwischen Donnerstag und Freitag.
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Die meisten dieser Anzeigen wurden von SS - Familien in Auftrag gegeben. Während auch Eltern von Paaren Anzeigen platzierten, gaben die meisten SS Paare ihre Verlobungen und Hochzeiten selber bekannt. In jedem einzelnen Fall gab das Paar seine Namen sowie das Datum der Verlobung bzw. Hochzeit an, der Mann zusätzlich seinen SS - Dienstgrad sowie seine Einheit. Beispielsweise gab SS Standartenführer Kuno von Eltz - Rübenach, später Brigadeführer beim RuSHA, sowohl seine Verlobung als auch seine Hochzeit bekannt, ebenso SS Standartenführer Günter d’Alquen und SS - Untersturmführer Rolf d’Alquen. Letzterer war wie auch sein Bruder ein Mitarbeiter der Zeitschrift.35 Auch bezüglich der Geburt von Kindern wurden die Anzeigen in der Hauptsache von SS Männern und ihren Ehefrauen in Auftrag gegeben, obwohl es in einigen Fällen nur der SS Mann war, der die Bekanntgabe machte. Auch ganze SS - Einheiten platzierten Kollektivanzeigen im Namen ihrer Männer.36 Typischer weise gaben die Eltern den Namen, das Alter und das Geburtsdatum ihrer Neugeborenen an. Gelegentlich teilten sie auch mit, ob es sich um ihr erstes, zweites oder drittes etc. Kind handelte. Manchmal wurden die Bekanntmachungen ein wenig süßlich formuliert, indem man z. B. bekannt gab, dass ihr Sohn ein großer Bruder sein werde oder dass drei Brüder nun eine kleine Schwester in der Familie willkommen hießen. Unter den SS - Offizieren, welche die Geburt ihrer Kinder in den „Familienanzeigen“ bekannt gaben, befanden sich auch die SS - Obergruppenführer Richard Walter Darré, Friedrich Krüger und Udo von Woyrsch, die SS - Gruppenführer Erich von dem Bach - Zelewski, August Heißmeyer, Reinhard Heydrich, Günther Pancke und Karl Wolff, sowie die SS - Brigadeführer Werner Best und Richard Hildebrandt.37 Diese Anzeigen dienten zwei Zwecken, ähnlich wie auch in „Aus Sippe und Familie“. Innerhalb der SS förderte die routinemäßige Veröffentlichung solcher Informationen der Zelebrierung des neuen Lebens sowie der SS - Sippengemeinschaft. Sie gaben außerdem ein gutes Beispiel, dem andere SS Männer folgen sollten, besonders wenn höherrangige Offiziere Anzeigen schalteten; die Veröffentlichung ihrer Informationen sandte ein stärkeres Signal als die Auf listungen in „Aus Sippe und Familie“, weil die SS Männer in diesem
35 Diese Bekanntmachungen erfolgten an folgenden Tagen : Kuno von Eltz - Rübenach (7. Oktober 1937, S. 22 und 19. Mai 1938, S. 18), Günter d’Alquen (21. Oktober 1937, S. 18 und 11. November 1937, S. 18), und Rolf d’Alquen (30. Dezember 1937, S. 18 und 14. April 1938, S. 17). 36 Als Beispiel für Letzteres siehe 20. März 1941, S. 12. 37 Die angegebenen Dienstgrade waren nicht unbedingt die höchsten, die der jeweilige SS Mann erreicht hatte, sondern stellten den Rang zum Zeitpunkt des Erscheinens der Anzeige dar : Richard Walther Darré (8. September 1938, S. 18), Friedrich Krüger (19. März 1936, S. 14), Udo von Woyrsch (16. Juli 1936, S. 18), Erich von dem Bach Zelewski (27. August 1936, S. 19), August Heißmeyer (19. März 1936, S. 14, 7. Oktober 1937, S. 22 und 12. Dezember 1940, S. 14), Reinhard Heydrich (20. April 1939, S. 32), Günther Pancke (19. November 1936, S. 18 und 24. August 1939, S. 18), Karl Wolff (23. Januar 1936, S. 12 und 30. März 1938, S. 18), Werner Best (3. August 1939, S. 17), und Richard Hildebrandt (16. Juli 1936, S. 18).
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Fall freiwillig Neuigkeiten aus ihren Familien mitteilten und die relevanten Details nicht vom RuSHA stammten. Die „Familienanzeigen“ wiesen ein weiteres erwähnenswertes Element auf. Verlobungen, Hochzeiten und Geburten stellten nur einen Teil der Rubrik dar; viel Platz nahmen auch Todesanzeigen ein.38 Die über wiegende Mehrheit stammte von SS - Männern, obwohl gelegentlich SS Männer und ihre Familien Anzeigen aufgaben, um des Verlustes eines Elternteils zu gedenken.39 Die meisten dieser Anzeigen wurden von SS - Männern in Auftrag gegeben, die einen gefallenen Kameraden aus ihrer Einheit ehren wollten, doch zahlte gelegentlich auch eine Witwe. Von den anderen drei Anzeigenarten durch eine dicke schwarze Umrandung abgehoben, gab eine Todesanzeige den Namen des Verstorbenen an, seinen Dienstgrad, sein Alter, seine Einheit sowie das Datum seines Todes; häufig enthielt sie auch lobende Wort über den Toten, indem seine Tapferkeit und Treue gepriesen wurden. Vor dem Krieg nahmen die Todesanzeigen nicht mehr als die Hälfte des Platzes ein, der für die „Familienanzeigen“ vorgesehen war. Sie beanspruchten durchgängig weniger Platz oder fehlten ganz. Mit dem Krieg wurde dies vollkommen anders, und der Tod begann, mehr Platz einzunehmen als das Leben, bis hin zu dem Punkt, dass häufig eine ganze Seite oder mehr der Trauer um diejenigen gewidmet war, die ihr Leben im Kampf für Deutschland gelassen hatten. Innerhalb nur weniger Ausgaben nach dem Beginn des Krieges enthielten die Todesanzeigen auch ein Kreuz mit einem kleinen Hakenkreuz in der Mitte, was grundsätzlich der Gestaltung der verschiedenen Ehrenzeichen entsprach, die ein Soldat erwerben konnte, so lange er noch lebte. Während also die anderen Anzeigen die Vergrößerung der SS - Sippengemeinschaft bekannt gaben, lenkten letztere die Aufmerksamkeit auf ihren potentiellen Niedergang, als die Soldaten ihr Leben im Kampf für das Vaterland verloren. Darüber hinaus gab es ab dem späten Juni 1941 eine Arbeitsteilung zwischen den „Familienanzeigen“ und „Aus Sippe und Familie“. Erstere gaben nur noch Todesfälle bekannt, und letztere nur noch Hochzeiten und Geburten. Es gab einige wenige Ausgaben, in denen eine der beiden Rubriken erschien und die andere nicht ( üblicherweise erschien „Familienanzeigen“, und „Aus Sippe und Familie“ erschien nicht), doch bei vielen Gelegenheiten, in denen beide erschienen, standen sie auf der selben Seite, eine über der anderen. In den späteren Kriegsjahren arbeiteten beide im Tandem, um vom Stand der SS - Sippengemeinschaft Zeugnis abzulegen. Zusammen genommen stellten „Aus Sippe und Familie“ sowie „Familienanzeigen“ die wichtigsten Rubriken des Das Schwarze Korps dar, die sich mit der 38 „Aus Sippe und Familie“ gab Todesfälle bekannt, doch waren solche Bekanntmachungen selten und erfolgten nur zu Beginn. 39 Die Familien von Darré, Himmler, Heydrich und Ernst Kaltenbrunner veröffentlichten sämtlich Anzeigen anlässlich des Verlustes eines Elternteils. Darrés Mutter (30. Juli 1936, S. 17), Himmlers Vater (5. November 1936, S. 18), Heydrichs Vater (1. September 1938, S. 18), und Kaltenbrunners Vater (15. September 1938, S. 18).
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SS - Familie beschäftigten. Sie illustrierten sowohl den SS - Lesern als auch einem breiteren Publikum, welchen Raum Heirat, Kinder und Familie innerhalb der Bevölkerungspolitik der Organisation einnahmen. Diese beiden Rubriken waren ein herausragendes Mittel des öffentlichen Diskurses, der die Bedeutung der SSSippengemeinschaft als einer kulturellen Gemeinschaft förderte. Allerdings unterstützten einzelne in der Zeitschrift veröffentlichte Artikel die Idee, die SSFamilie als Modell für die Volksgemeinschaft zu präsentieren, indem sie demonstrierten, dass diese Familien ihr Ideal darin sahen, sowohl als rassisches Ideal als auch als Rollenmodell für die deutsche Gesellschaft zu dienen. Eine Methode, mit der Das Schwarze Korps die Bedeutung der SS - Familie unterstrich, bestand darin, familienbezogene Ereignisse innerhalb der SS zu veröffentlichen. Das bedeutendste Ereignis dieser Art war der „Sippenabend“. Diese Abende wurden vom RuSHA gefördert, das diese Zusammenkünfte zu Gelegenheiten machen wollte, bei denen die Familie und die Freunde von SS - Männern einen tieferen Einblick in die Ziele der SS gewinnen konnten.40 Besonders wichtig war die Teilnahme der Ehefrauen und Verlobten von SS - Männern, denn sie sollten ein Verständnis für die Gemeinschaft gewinnen, der sie und ihre Ehemänner angehörten, und gewillt werden, aktiv an ihr teilzuhaben. Bei einem Dutzend Gelegenheiten enthielt Das Schwarze Korps kurze Spalten, in denen über Sippenabende berichtet wurde, die von verschiedenen SS - Einheiten überall im Reich veranstaltet worden waren.41 Die meisten dieser Artikel teilten mit, dass diese Abende dazu gedacht seien, die SS Sippengemeinschaft zu stärken. Eingeladene Redner – im Allgemeinen hochrangige SS - Offiziere – sprachen über relevante Themen wie Entwicklung und Aufgaben der SS, die Verantwortung dafür, eine gesunde Familie zu haben sowie den Kampf gegen die sinkende Geburtenrate. Abgesehen von den Reden gab es Musik, Gesang, Tanz, künstlerische Vorführungen und Essen. Die Einbeziehung der SS - Sippenabende demonstrierte, wie die Zeitschrift ihre SS - Leser über Aktivitäten innerhalb der Organisation auf dem Laufenden hielt sowie ihr nicht zur SS gehörendes Publikum darüber informierte, in welcher Weise die SS ihren Beitrag zum Volk leistete. Dies war ein weiterer Weg, in dem Das Schwarze Korps spezifizierte, in welcher Weise die SS - Familie ein integraler und führender Bestandteil des Volkes war. Allerdings gab sich die Zeitschrift nicht damit zufrieden, nur in allgemeiner Weise über die Familie zu spre40 Die Erwartungen des RuSHA bezgl. des Sippenabends finden sich in „Wie gestalten wir einen Sippenabend ?“ ( BA NS2/82, S. 185) und in „Der Sippengedanke der SS im Kriege“ ( BA NS2/42, S. 1–2). 41 „Sippenabend der Sanitäter“ (25. März 1937, S. 3). „Sippenabend der Sanitäter“ (1. Juli 1937, S. 4). „Erster Sippenabend in Linz“ (17. Juli 1938, S. 4). „Sommerfest mit unserem FM“ (18. August 1938, S. 3). „Sippenabend“ (16. März 1939, S. 4). „Sanitätsabteilung“ (13. April 1939, S. 4). „Sippenabend“ (4. Mai 1939, S. 4). „Sippenabend“ (18. Mai 1939, S. 4). „Sippenabend“ (25. Mai 1939, S. 4). „Sippenabend“ (8. Juni 1939, S. 4) und „Sippenabend“ (24. [ hier fehlt der Monat, M. W.] 1939, S. 4). Obwohl alle diese Zitate aus der Vorkriegszeit stammen, deuten die oben zitierten Dokumente des RuSHA an, dass Familienabende auch während des Krieges abgehalten wurden.
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chen. Aktive Elternschaft stellte eine weitere Komponente dar, und viele Artikel warben für die Teilnahme der Eltern an der Erziehung ihrer Kinder. Schon seit langem war die Mutter als diejenige gesehen worden, die innerhalb der Familie hauptsächlich für die Versorgung der Kinder verantwortlich war, und die Zeitschrift erhielt diese Perspektive aufrecht.42 Sicherlich sprach sie sich niemals für eine gleichberechtigte Aufgabenteilung der Eltern aus oder schlug vor, dass ein Ehemann die Verantwortung für die Versorgung eines Kindes übernehmen sollte. Allerdings veröffentlichte sie Artikel, in denen betont wurde, dass ein Vater eine entscheidende Rolle im Leben seiner Kinder spiele. Während die Bedeutung von Rasse und Erbe im Zusammenhang mit der Fortpflanzung nie vernachlässigt wurde, förderte die Zeitschrift die Sichtweise, dass sich Vaterschaft nicht auf den biologischen Beitrag beschränken sollte. Wie bereits bei dem erwähnten Beitrag „Ist das unmännlich ?“ gezeigt, wurde von Vätern erwartet, sich an der Aufzucht und Erziehung ihrer Nachwuchses zu beteiligen, als Ergänzung, nicht aber als Ersatz für die von der Mutter geleistete Sorge. Ein Artikel, welcher die aktive Rolle des Vaters betonte, trug den Titel „Beste Freunde“. Er konzentrierte sich auf die Zeit, die ein Vater mit seinen Kindern verbringen sollte, besonders mit seinen Söhnen.43 Die Autoren betonten die schönen Erinnerungen, die sie selbst an ihre Väter hatten.44 Diese Interaktionen beinhalteten Jungenspiele sowie das Zuhören, wenn die Väter von der Zeit erzählten, in der sie selbst jung gewesen waren. Die Autoren verkündeten, dass während dieser gemeinsam verbrachten Zeit die Väter weniger Autoritäten als eher Kameraden gewesen seien, die ihren Söhnen den Wert von Liebe, Respekt und Vertrauen gelehrt hätten. „Wir glauben heute“, stellten die Autoren fest, „dass sich in diesen Stunden so etwas wie Kameradschaft zwischen uns und unseren Vätern herausgebildet“ hat.45 Sie argumentierten, dass jeder Vater Zeit für sein Kind habe; kein Vater könne das Gegenteil behaupten, denn selbst wenn nichts anderes möglich sei, könne er zumindest während des Urlaubs Zeit mit ihnen verbringen. Auch verspotteten die Autoren Väter, die man nie draußen mit ihren Kindern herumtollen sah, als feige, indem sie ihnen mitteilten : „Vati, 42 Die folgenden Artikel priesen Frauen für ihre Arbeit als Mütter : „Wie man die deutsche Mutter nicht ehren sollte“ (22. Mai 1935, S. 5). „Aussicht auf Mutterschaft“ (22. Mai 1935, S. 16). „Die Mutter“ (19. Juni 1935, S. 10). „Frauen sind keine Männer !“ (12. März 1935, S. 1–2). „Junge Mutter“ (28. Mai 1936, S. 11). „Noch einmal das Generationsproblem“ (11. Juni 1936, S. 6). „Frau soll Frau sein“ (3. Dezember 1936, S. 12). „Mutter“ (7. Oktober 1937, S. 8). „Heilig ist uns“ (30. Dezember 1937, S. 3 und 9). „Die ganze Aufgabe der Frau“ (22. Juni 1939, S. 6), und „Das Wunder nach einmal erleben“ (22. Februar 1940, S. 4). Viele Historiker haben die Rolle der Frau als Mutter untersucht. Siehe etwa Jill Stephenson, Women in Nazi Society, New York 1975; Claudia Koonz, Mothers in the Fatherland. Woman, the Family and Nazi Politics, New York 1987, sowie Lisa Pine, Nazi Family Policy 1933–1945, Oxford 1997. 43 „Die besten Freunde“ (17. August 1939, S. 8–9). 44 Dieser Artikel wurde anonym in der 3. Person Plural verfasst. Er wurde allerdings höchstwahrscheinlich von Günther d’Alquen, Rudolf aus den Ruthen und / oder Rolf d’Alquen geschrieben, die sämtlich Väter mindestens eines Kindes waren, als dieser Artikel veröffentlicht wurde. 45 Ebd., S. 8.
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bist du aber dumm !“46 Nichts könne die Zeit ersetzen, die ein Vater mit seinen Kindern verbringe, und während sie einräumten, dass solche Aktivitäten durchaus ermüdend sein könnten, stellten die Autoren dennoch fest, dass sie die Mühe lohnten. Wie auch der Artikel „Ist das unmännlich ?“, wurde auch „Beste Freunde“ in dem Monat verfasst, der dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs voranging. Mit dem Ausbruch des Krieges gab es für die Zeitschrift viele neue Themen und Probleme anzusprechen. Nichtsdestotrotz blieb die Familie ein relevantes Thema, wie wir bereits an der fortlaufenden Veröffentlichung von „Aus Sippe und Familie“ sowie „Familienanzeigen“ feststellen konnten. Dasselbe lässt sich für das Thema der Vaterschaft sagen; die Zeitschrift veröffentlichte viele Artikel, in denen die Vaterschaft als eine Verantwortung dargestellt wurde, die nicht geringer sei als jeder andere Beitrag zu den Kriegsanstrengungen. Artikel auf Artikel appellierte an die SS Männer, Kinder zu haben, denn der „Sieg der Waffen“ müsse „auch zum Sieg des Bekenntnisses zum Kinde werden“.47 Während allerdings die Grundlage dieser Verantwortung ihrer Natur nach biologisch war, erhielten viele Artikel weiterhin das Argument aufrecht, dass es bei der Vaterschaft um mehr als nur die Biologie gehe. Väter könnten weiterhin, trotz des Krieges, am Leben ihrer Kinder teilhaben. Ein Mittel zur Aufrechterhaltung einer aktiven Vaterrolle war die Korrespondenz. Das Schwarze Korps druckte Briefe von Vätern an der Front und zeigte damit, wie stolz diese aus der Ferne auf ihre Kinder waren. Zum Beispiel berichtete die Zeitschrift über die große Freude, welche SS - Obersturmführer Jürgen V. empfand, als er innerhalb von zwei Jahren nach seiner Heirat im Februar 1940 Vater sowohl eines Sohnes als auch einer Tochter geworden war. „Durch meine prächtigen Kinder“, schrieb er, „die ich auch nur wenige Tage in meinen Armen halten konnte, bin ich unendlich reich geworden.“48 Jürgen V. fand in seinen Kindern einen Grund, zu kämpfen, so wie auch andere Väter, die bekundeten, dass sie nun, trotz der Beschwernis, den die Trennung von ihrem Nachwuchs bedeutete, und obwohl sie es vermissten, sie aufwachsen zu sehen, dafür kämpften, dass ihren Söhnen eine Zukunft beschieden sei.49 Abgesehen davon, dass sie in ihren Kindern einen Grund zum Kämpfen fanden, demonstrierten diese Artikel auch, wie Väter während des Krieges mit dem Leben ihrer Kinder verbunden blieben. Das Schwarze Korps brachte etliche Briefe von Vätern an der Front an ihre Kinder, um zu demonstrieren, wie Männer nach wie vor Einfluss auf die Erziehung ihres Nachwuchses nehmen konnten. In einem Brief vom Februar 1941 nutzte ein Vater seine eigenen Fronterlebnisse dazu, seinen Sohn über den Wert der Wachsamkeit zu belehren. Als Soldat der Waffen - SS sah er alles unter dem Aspekt der militärischen Vorberei46 47 48 49
Ebd., S. 9. „Neues Leben für vergossenes Blut“ (15. Mai 1941, S. 8). „Stärker als alle Einwände : Ein glücklicher Vater“ (1. Oktober 1942, S. 4). „Für meine drei Jungen“ (25. Januar 1940, S. 7), und „Übertriebene Lebenssicherung“ (7. September 1944, S. 2).
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tung. Er riet einem heranwachsenden Sohn, seinen Pflichten mit Gründlichkeit nachzukommen, und er warnte ihn, niemals zu zögern, sondern entschlossen zu handeln, wenn er einem Gegner gegenüberstehe.50 Während die Kommunikation zwischen einem Vater und seinen Kindern meist über Briefe stattfand, hatte er hin und wieder die Gelegenheit, sie zu sehen, wenn er auf Urlaub war.51 Diese Zeit zu Hause, so die Zeitschrift, erlaubte es dem Vater, Einfluss auf seinen Sohn zu nehmen, wie es in dem Artikel „Vater auf Urlaub“ gezeigt wurde.52 Dieser verfolgte die tägliche Interaktion eines Vaters, dem eine Unterbrechung seines Militärdienstes vergönnt war, mit seiner Familie. Weder der Vater noch seine Kinder konnten ihre freudigen Gefühle verbergen, als sie sich sahen. Die Jungen rissen sich um die Aufmerksamkeit ihres Vaters und bombardierten ihn mit Fragen nach der Front, die der Vater geduldig beantwortete. Der Artikel berichtete, wie die Familie Trost durch die Anwesenheit des jeweils anderen fand. Selbst nachdem der Vater an die Front zurück gekehrt war, klammerten sich die Söhne an die Erinnerung. Sie durchlebten die Begegnung wieder und wieder und riefen sich in Erinnerung, was ihr Vater gesagt und getan hatte, während er zu Hause gewesen war. Wie in früheren Artikeln, welche die Interaktion zwischen Vätern und Kindern betont hatten, zeigte auch dieser Bilder vom Vater, wie er mit seinen Kindern spielte, sie zu Bett brachte, und ihnen vorführte, was er an der Front getan hatte. Diese Fotos bewiesen, dass ein Mann selbst während des Krieges in der Lage war, sowohl als ein Soldat des Reiches als auch als Vater seiner Kinder zu dienen. Insgesamt, wie diese wenigen Beispiele illustrieren, betonte Das Schwarze Korps sowohl die biologischen als auch die kulturellen Aspekte der SS - Sippengemeinschaft. Sie rechtfertigten den Wert der Familie als einer legitimen biologischen Entität, die innerhalb der SS sowie im Dritten Reich einen speziellen Zweck erfüllte, und sie bemühten sich, zu zeigen, wie die SS versuchte, zur rassisch überlegenen Vorhut des nationalsozialistischen Staates zu werden. Das in dieser Zeitschrift veröffentlichte Material war für die SS von absoluter Relevanz, da die Männer dieser Organisation ihr Zielpublikum blieben. Dennoch zielte die Zeitschrift darauf ab, ein breiteres Publikum zu erreichen, und als zweitgrößte Wochenzeitschrift des Dritten Reiches war Das Schwarze Korps die „Stimme“ der SS.53 Es gibt keinen Zweifel, dass niemand, der diese Zeitschrift las, keine eindeutige Vorstellung davon haben konnte, wofür die SS stand und in welcher Weise ihre Sippengemeinschaft ein wichtiger Teil ihrer Identität war. Gegen Ende des Dritten Reiches hatte die SS - Sippengemeinschaft nicht die Bevölkerungsziele erreicht, die Himmler zu erreichen gehofft hatte. Nichtsdestotrotz führt die Erforschung ihrer Umrisse und einiger der öffentlichen Maßnah50 „Frontsoldat schreibt seinem Sohn“ (27. Februar 1941, S. 7). 51 Weitere Beispiele für Briefe von Vätern an ihre Söhne in „Der Soldat an seinen Sohn“ (15. Mai 1941, S. 7), und „Brücke der Gedanken“ (18. Dezember 1941, S. 5). 52 „Vater auf Urlaub“ (4. Januar 1940, S. 11–12). 53 Combs beschreibt die Zeitschrift mit diesem Ausdruck.
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men, die angewandt wurden, um innerhalb der größeren nationalsozialistischen Volksgemeinschaft eine SS - Gemeinschaft zu begründen, wie zum Beispiel die Artikel, die sich in Das Schwarze Korps fanden, zu einem besseren Verständnis der Organisation und der Art und Weise, in der sie sich darum bemühte, ihre Bestrebungen zu begründen, zu einer rassischen Aristokratie innerhalb eines Rassenstaates zu werden.
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Der moralische Rigorismus der Unmoral. Die SS - Sonderstrafgerichtsbarkeit Christopher Theel
I.
Die SS - und Polizeigerichtsbarkeit
Anlässlich seiner Vernehmung als Zeuge der SS im Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg am 6. August 1946 beschrieb der frühere SS - Oberführer Dr. Günther Reinecke Wesen und Wirksamkeit der SS - und Polizeigerichtsbarkeit unfreiwillig zutreffend und wahrhaftig : „Wenn eine Organisation verbrecherische Ziele hat und eine verbrecherische Tätigkeit entwickelt, so muss folgerichtig die Gerichtsbarkeit einer solchen Organisation durch ihren Aufbau, ihren Inhalt und ihre Tätigkeit erkennen lassen, dass sie solche verbrecherischen Zwecke und Tätigkeiten abdeckt.“1 Anschließend behauptete er zwar : „Genau das Gegenteil ist der Fall. In der SS herrschte seit ihrem Bestehen der Grundsatz der Verbrechensbekämpfung um jeden Preis und eine durchaus geordnete Rechtspflege.“2 Es ist aber anzunehmen, dass Reinecke es besser wusste, denn er wusste, wovon er sprach. Seit August 1936 hatte er als Hauptabteilungsleiter im „SS - Gericht“, der dem Reichsführer - SS Heinrich Himmler direkt unterstellten obersten Disziplinarstelle der SS,3 die Vorbereitungen zur Einführung der späteren SS - und Polizeigerichtsbarkeit geleitet und ihren Auf - und Ausbau seit ihrer Einführung im Oktober 1939 wesentlich vorangetrieben. Im Juni 1939 war er Chef des zentralen SS - Rechtsamtes im gerade zum eigenständigen Hauptamt erhobenen SS Gericht geworden, der „Zentralstelle und Ministerialinstanz für die Sonderstrafgerichtsbarkeit der SS und Polizei“.4 Als solcher hatte er „im Auftrag des Reichs1
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Aussage von Dr. Günther Reinecke am 6. August 1946. In : Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, 42 Bände, Nürnberg 1947–1949, Band XX, S. 453– 472, hier 467. Ebd. Vgl. Die SS. Geschichte, Aufgabe und Organisation der Schutzstaffeln der NSDAP. Bearbeitet im Auftrage des Reichsführers SS von SS - Standartenführer Gunter d’Alquen, Berlin 1939, S. 15 f., 21, 30 ( Organigramm ), sowie Organisationsbuch der NSDAP. Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München 1936, S. 419 und 422. Organisationsbuch der NSDAP. Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, 7. Auf lage München 1943, S. 420. Vgl. Befehl des Reichsführers - SS und Chefs der Deutschen
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führers- SS [...] die Umgestaltung des gesamten Rechts zu bearbeiten, das von der SS aus den Weg in das Volk nehmen soll“.5 Ziel und Zweck der neuen SS Gerichtsbarkeit sollte es sein, nicht nur die „SS - Angehörigen Gerichten zu unterwerfen, die in ihrer Besetzung mit weltanschaulich und soldatisch bewährten SS - Angehörigen am besten geeignet sind, das Recht in der SS zu finden“,6 sondern auch, „eine wahrhaft nationalsozialistische Rechtsprechung herauszubilden, um später einmal auch die allgemeine Strafrechtspflege mitzureißen“.7 Seit 1942 war Reinecke zugleich ständiger Vorsitzender des Obersten SS - und Polizeigerichts beim Hauptamt SS - Gericht in München. Die Leitung des SS Rechtsamtes und der Vorsitz im Obersten SS - und Polizeigericht waren miteinander verbunden worden, „um die Einheitlichkeit der Rechtsanschauungen und der Rechtsprechung in SS und Polizei sicherzustellen“.8 Zu diesem Zweck wurden auch alle Urteile der SS - und Polizeigerichte von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe in einer eigenen Abteilung („Laufende Strafsachen“) im Hauptamt SS - Gericht begutachtet. Die Gesamtleitung des Rechts - und Gerichtswesens von SS und Polizei lag also in Reineckes Hand, lange bevor er im Juli 1944 schließlich auch nominell stellvertretender Chef des Hauptamtes SS - Gericht wurde, gemäß der „Grundsätzlichen Richtlinie Nr. 1“ des Reichsführers - SS Heinrich Himmler, „dass niemals ein Jurist Chef des SS - Gerichtes sein darf“.9
II.
Der Täubner - Prozess 1943
Drei Jahre bevor Reinecke in Nürnberg als Zeuge vernommen wurde, hatte das Oberste SS - und Polizeigericht in München am 24. Mai 1943 unter seinem Vorsitz eine zehnjährige Zuchthausstrafe über den SS - Untersturmführer Max Täubner verhängt. Täubner hatte als Führer eines Werkstattzuges beim „Kommando-
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Polizei vom 1. Juni 1939 über die Erhebung des SS - Gerichts zum eigenständigen Hauptamt SS - Gericht ( BArch Berlin, NS 19/3901 : SS - Befehle, Band 2 [1934–1944], Bl. 77). Beurteilung im Beförderungsvorschlag zum SS - Standartenführer vom 23. Februar 1943 ( BArch Berlin, ehem. BDC, Filmrolle SSO 019 B : SS - Führer - Personalakte Dr. Günther Reinecke *18. 4. 1908). Dr. Günther Reinecke, Referat über den Entwurf einer SS - Strafgerichtsordnung, gehalten am 31. Mai 1938 in Dresden. In : Werner Schubert ( Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Band VIII : Ausschüsse für Strafrecht, Strafvollstreckungsrecht, Wehrstrafrecht, Strafgerichtsbarkeit der SS und des Reichsarbeitsdienstes, Polizeirecht sowie für Wohlfahrts - und Fürsorgerecht ( Bewahrungsrecht), Frankfurt a. M. 1999, S. 475–480, hier 475. Bericht über die Dienstbesprechung der dienstältesten SS - Richter in Danzig und Zoppot vom 30. April bis 2. Mai 1942 ( BArch Berlin, NS 7/4 : Erlass - Sammlung des Hauptamtes SS - Gericht Band 3 [ Januar – Juni 1942], Bl. 110–117, hier 110). Schreiben des SS - Obersturmbannführers Dr. Günther Reinecke an den SS - Richter beim Reichsführer - SS, SS - Obersturmbannführer Horst Bender, vom 4. August 1942 ( BArch Berlin, NS 7/8 : Organisation des Hauptamtes SS - Gericht [1940–1944], Bl. 9 f.). „Grundsätzliche Richtlinie Nr. 1 des Reichsführers - SS“ vom 16. August 1942 ( BArch Berlin, NS 19/1913 : SS - und Polizeigerichtsbarkeit. – Verschiedene Angelegenheiten [1942], Bl. 9).
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stab Reichsführer - SS“ in der Ukraine seine Untergebenen zwischen September und November 1941 zu massenhaften Erschießungen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern angestiftet. Dabei war es vor ihrer Ermordung vielfach zu brutalen Misshandlungen der Opfer gekommen, an denen sich auch Täubner selbst beteiligte. Insgesamt ermordeten Täubner und seine Männer in nur zwei Monaten annähernd 1 000 Menschen. Die von ihm und seinen Männern begangenen Gräueltaten ließ Täubner fotografieren. „Es handelt[ e ] sich dabei“, wie das Oberste SS - und Polizeigericht in seinem Urteil feststellte, „größtenteils um Bilder, die übelste Ausschreitungen festhalten, viele sind schamlos und ekelerregend“.10 Als er sich bald darauf mit seinen Taten brüstete und die Fotos zu diesem Zweck herumzeigte, wurde die SS - und Polizeigerichtsbarkeit auf ihn aufmerksam und ließ ihn Ende April 1942 verhaften.11 Das Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts in München in der Strafsache Täubner beginnt mit den Worten : „Der Angeklagte ist ein fanatischer Judenfeind.“12 In den Urteilsgründen heißt es : „Wegen der Judenaktionen als solcher soll der Angeklagte nicht bestraft werden. Die Juden müssen vernichtet werden, es ist um keinen der getöteten Juden schade. Wenn sich auch der Angeklagte hätte sagen müssen, dass die Vernichtung der Juden Aufgabe besonders hierfür eingerichteter Kommandos ist, soll ihm zugute gehalten werden, dass er sich [für ] befugt gehalten haben mag, auch seinerseits an der Vernichtung des Judentums teilzunehmen. Wirklicher Judenhass ist der treibende Beweggrund für den Angeklagten gewesen. Er hat sich dabei allerdings [...] zu Grausamkeiten hinreißen lassen, die eines deutschen Mannes und SS - Führers unwürdig sind. [...] Es ist nicht deutsche Art, bei der notwendigen Vernichtung des schlimmsten Feindes unseres Volkes bolschewistische Methoden anzuwenden. An solche grenzt die Handlungsweise des Angeklagten bedenklich.“13
10 Der Wortlaut des Urteils des Obersten SS - und Polizeigerichts in München vom 24. Mai 1943 ist fast vollständig abgedruckt in Ernst Klee / Willi Dressen / Volker Rieß, „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, 5. Auf lage Frankfurt a. M. 1988, S. 183–192, hier 185. 11 Die eingehendste Sachverhaltsdarstellung bietet Yehoshua Robert Büchler, „Unworthy Behavior“ : The Case of SS Officer Max Täubner. In : Holocaust and Genocide Studies, 17 (2003) 3, S. 409–429, hier 412–416. 12 Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts vom 24. Mai 1943, zit. nach Klee / Dressen / Rieß, „Schöne Zeiten“, S. 184. Vgl. auch Dick de Mildt, Getting Away with Murder : The Täubner Case. In : Nathan Stoltzfus / Henry Friedlander ( Hg.), Nazi Crimes and the Law, Cambridge, MA 2008, S. 101–112. 13 Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts vom 24. Mai 1943, zit. nach Klee / Dressen / Rieß, „Schöne Zeiten“, S. 187 f. ( Vgl. auch BArch Berlin, NS 7/1017 : Strafsache Max Täubner [ Kopien aus seiner SS - Führer - Personalakte, BArch Berlin, ehem. BDC, Filmrolle SSO 171 B : Max Täubner *22. 5. 1910]).
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III.
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Die Militärgerichtsbarkeit der Waffen - SS
Als Kriegsgerichtsbarkeit der Waffen - SS und Polizei verfolgte und verhandelte die SS - und Polizeigerichtsbarkeit wahrscheinlich überwiegend die „gewöhnlichen“ Straftaten von SS - und Polizeiangehörigen. Insgesamt ist nur eine verschwindende Minderheit von Urteilen der SS - und Polizeigerichte überliefert, denn die SS - Richter, so könnte man in Abwandlung des bekannten Satzes von Rolf Hochhuth in der Causa Filbinger sagen, waren schlauer als die von Heer, Marine und Luftwaffe, sie vernichteten bei Kriegsende die Akten.14 Seinem Inhalt und seiner Wortwahl nach zu urteilen, könnte das Täubner - Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts daher als ein extremes Ausnahmebeispiel erscheinen, das eben aufgrund seiner exzeptionellen Bedeutung eine größere Chance hatte, den Verheerungen des Krieges zu entgehen und der Nachwelt überliefert zu werden. In Wahrheit aber kommen in den Urteilsgründen des Täubner - Urteils wesentliche Rechtsüberzeugungen der SS zum Ausdruck, die sich aus ihrem elitären und exklusiven Rechtsverständnis ergaben und die Rechtsanwendung der SS - und Polizeigerichtsbarkeit insgesamt entscheidend prägten.15 Nicht zufällig hieß es nach ihrer Einführung triumphierend : „Die Zeiten, in denen der SS - Mann der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit unterstand, die sich oft nicht in die Anschauungen der SS hineinversetzen und darum ihren Belangen nicht gerecht werden konnte, sind vorbei.“16 In der Waffen - SS galten während des Krieges im Grunde dieselben Gesetze wie in der Wehrmacht. Ebenso wie die Wehrmachtgerichtsbarkeit war aber auch die SS - und Polizeigerichtsbarkeit keine unabhängige, rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit, sondern ein militärisches Führungsinstrument.17 Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die „Mannszucht“ ( Disziplin ) der Soldaten und damit die „Schlagkraft der Truppe“ aufrechtzuerhalten. Wie sehr den Sonderstrafgerichts-
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Vgl. Rolf Hochhuth, Schwierigkeiten, die wahre Geschichte zu erzählen. In : Die Zeit vom 17. 2. 1978, S. 41, und allgemein Heinz Hürten / Wolfgang Jäger / Hugo Ott, Hans Filbinger – Der „Fall“ und die Fakten. Eine historische und politologische Analyse, Mainz 1980, sowie Wolfram Wette ( Hg.), Filbinger – eine deutsche Karriere, Springe 2006. 15 Vgl. Bernd Wegner, Die Sondergerichtsbarkeit von SS und Polizei. Militärjustiz oder Grundlegung einer SS - gemäßen Rechtsordnung ? In : Ursula Büttner ( Hg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Band 1, Hamburg 1986, S. 243–259. Als „Exkurs“ dann seit der 3. Auf lage (1988) ebenfalls abgedruckt in Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten : Die Waffen - SS 1933–1945. Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite, 5., erweiterte Auf lage Paderborn 1997, S. 319–332; Bianca Vieregge, Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS - und Polizei - Gerichtsbarkeit, Baden - Baden 2002. 16 „Disziplinare und gerichtliche Bestrafung“ ( BArch Berlin, NSD 41/3 – 1940/41 : Mitteilungen über die SS - und Polizeigerichtsbarkeit. Hg. vom Reichsführer - SS und Chef der Deutschen Polizei, Hauptamt SS - Gericht. Band I [1940/41], Heft 2 [ Oktober 1940], S. 25–30, hier 27 f.), ebenfalls zit. bei Vieregge, Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“, S. 17. 17 Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005.
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barkeiten von Wehrmacht und Waffen - SS die Aufgabe eines militärischen Führungsinstruments zukam, wird auch daran deutlich, dass der „Gerichtsherr“, d. h. der jeweilige militärische Befehlshaber, alleiniger Herr des militärischen Strafverfahrens im Kriege war.18 Er ordnete das Ermittlungsverfahren an, verfügte dann entweder die Einstellung des Verfahrens oder die Anklageerhebung, berief und besetzte das erkennende Gericht und bestimmte die Anklagevertretung. Hatte das Gericht sein Urteil gefällt, entschied anschließend der Gerichtsherr über die Bestätigung des Urteils. Erst die Bestätigung des Gerichtsherrn machte das richterliche Urteil rechtskräftig und vollstreckbar, ohne sie hatte das Urteil nur den Wert eines Gutachtens.19 Im Unterschied zur Wehrmacht dienten die militärischen Gesetze innerhalb der SS aber nicht nur der Aufrechterhaltung der „Manneszucht“, sondern darüber hinaus auch dem besonderen Zweck der Sicherung der ideologischen Grundlagen der Ordensgemeinschaft und der weltanschaulichen Haltung des SS - Mannes.20 „Mannszucht bedeutet deshalb für uns neben dem soldatischen auch den weltanschaulichen Gehorsam, also die Erfüllung weitergehender Pflichten, als sie anderen Volksgenossen obliegen.“21 In der Überzeugung, „dass es kein Recht an sich mehr gibt, das ein zum Leben des Volkes beziehungsloses Eigendasein in Paragraphen führt“,22 gingen die SS - Richter eher zwanglos mit den gesetzlichen Tatbeständen um, denen im nationalsozialistischen Strafrecht aber ohnehin keine entscheidende Bedeutung mehr beigemessen wurde.23 Die Strafgesetze sowohl des allgemeinen Strafrechts als auch des Militärstrafrechts sollten „sinngemäß“ und „in einer den Grundanschauungen der Schutzstaffel entsprechenden Form“24 ausgelegt und angewendet werden. Wo es „die besonderen Belange der Schutzstaffel“ erforderten, sollten die SS - Richter sich bei ihren Entscheidungen durchaus vom geltenden Gesetz entfernen dürfen, ohne dabei aber den Grundgedanken eines Gesetzes zu missachten. In so einem Fall sollten sie sich, „schon um nicht den Vorwurf der Rechtsunkenntnis auf sich zu 18 Vgl. ders., Der Gerichtsherr. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ( ZfG ), 52 (2004) 6, S. 493–504. 19 Vgl. Erläuterungen zur Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz ( KStVO ) vom 17. August 1938. In : Rudolf Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlung der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1958, S. 179–189. 20 „Fehlurteile“ ( BArch Berlin, NSD 41/3 – 1940/41 : Mitteilungen über die SS - und Polizeigerichtsbarkeit, Band I [1940/41], Heft 6 [ Dezember 1941], S. 147–150, hier 150). 21 Ebd. ( Hervorhebung im Original ). 22 Ebd., S. 149 ( Hervorhebung im Original ). 23 Vgl. vor allem Wolfgang Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935. In : NS - Recht in historischer Perspektive. Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München 1981, S. 71–108, unverändert wiederabgedruckt in : Wolfgang Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte, Baden - Baden 2000, S. 301–335. 24 Auf dem Wege zu einem selbständigen SS - und Polizeistrafrecht ( BArch Berlin, NSD 41/19 : Hinweise für den SS - Richter. Hg. vom Reichsführer - SS, Hauptamt SS - Gericht, Heft 3 vom 15. Dezember 1944, S. 37–43, hier 37, so auch im Folgenden ).
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ziehen, eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen“.25 Im Zweifelsfalle durften die SS - Richter sich aber auch von einem entgegenstehenden Gesetz nicht daran hindern lassen, „nach bestem Wissen und Gewissen das Recht zu finden, das der Gemeinschaft der SS am besten dient“.26 Getreu dem Grundsatz der „Gemeinschaftsbezogenheit“ allen Rechts – „alles Recht wurzelt in der Gemeinschaft, wächst und entwickelt sich mit ihr“27 – hatte der SS - Richter „strafwürdige pflichtwidrige Handlungen“ vor allem daraufhin zu bewerten, „ob und wieweit sie unserer Gemeinschaft geschadet haben, und um des Schutzes und der Ehre dieser Gemeinschaft willen Sühne heischen“.28 Nicht allein der gesetzliche Tatbestand entschied also über die Strafbarkeit einer Tat, sondern vor allem „das Schutzbedürfnis und das Sühneverlangen der Gemeinschaft“.29 In diesem Sinne beschrieb auch der Chef des Wehrmachtrechtswesens im Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ) und spätere Generaloberstabsrichter, Dr. Rudolf Lehmann, „die Aufgaben des Rechtswahrers der Wehrmacht“ : „Es ist nicht die Aufgabe eines Gerichts, eine Wahrheit an sich zu suchen, die es nicht gibt. Es ist die Aufgabe des Gerichts, im Rahmen der Gemeinschaft, in die es gestellt ist, mit den Mitteln des Rechts eben diese Gemeinschaft zu erhalten. In diesem Sinne gilt auch für uns das bekannte Wort des Reichsrechtsführers über das, was Recht ist“,30 nämlich : Recht ist, was der Wehrmacht nützt, Unrecht, was ihr schadet.31 Diese „Elastizität“32 in der Handhabung der Strafgesetze musste sich nach Auffassung des Hauptamtes SS - Gericht „aber auch zu Gunsten des Täters auswirken und zur Folge haben, dass Vorgänge, die an sich einen strafbaren Tatbestand verwirklichen, aber auf eine anständige Gesinnung und SS - mäßige Haltung zurückzuführen sind, leichter bestraft, insbesondere disziplinarisch erledigt werden oder völlig ungeahndet bleiben ( Einstellung wegen Geringfügigkeit ), wenn dies dem Rechtsempfinden unserer Gemeinschaft ent25 Bericht über die Dienstbesprechung der dienstältesten SS - Richter in Danzig und Zoppot 1942 ( BArch Berlin, NS 7/4, Bl. 112). 26 Ebd. Vgl. dazu auch Dr. Günther Reinecke, Vom Richtertum ( BArch Berlin, NSD 41/19: Hinweise für den SS - Richter, Heft 1 vom 1. Januar 1944, S. 2–3, hier 2). 27 Auf dem Wege zu einem selbständigen SS - und Polizeistrafrecht ( BArch Berlin, NSD 41/19 : Hinweise für den SS - Richter, S. 37). Vgl. in diesem Sinne auch Georg Dahm, Verbrechen und Tatbestand. In : Karl Larenz ( Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935 [ ND 1995], S. 62–107, hier 85 : „Alles Handeln und Sein hat Sinn nur aus der Gemeinschaft. [...] Die Gemeinschaft wird nicht von außen geordnet, sondern trägt ihr Recht in sich.“ 28 „Fehlurteile“, S. 149 ( Hervorhebung im Original ). 29 Reinecke, Vom Richtertum ( BArch Berlin, NSD 41/19 : Hinweise für den SS - Richter, Heft 1, S. 2). 30 Rudolf Lehmann, Die Aufgaben des Rechtswahrers der Wehrmacht. In : Deutsches Recht, 9 (1939) 25, Ausgabe A, S. 1265–1269, hier 1267. 31 Vgl. so auch schon in meinem Beitrag, Von Metz nach Wiesbaden. Die Geschichte des SS - und Polizeigerichts XIV. In : Nassauische Annalen, 122 (2011), S. 325–336, hier 328. 32 Vgl. Manfred Messerschmidt, „Elastische“ Gesetzesanwendung durch Wehrmachtgerichte. In : Wolfram Wette ( Hg.), Filbinger – eine deutsche Karriere, Springe 2006, S. 65–80.
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spricht und eine abweichende Entscheidung als Fehlurteil erscheinen würde“.33 In diesem Kontext müssen SS - und polizeigerichtliche Urteile wie das gegen Max Täubner und andere gelesen und verstanden werden. Die ideologischen Rechtsanschauungen und das zweckgebundene Rechtsverständnis der SS lassen sich mit Hermann Lübbe als Ausdruck ihrer „totalitären Rechtgläubigkeit“34 und mit Wolfgang Naucke zugleich als Ausdruck einer bestimmten Sozialmoral mit entsprechenden Bestrafungsbedürfnissen beschreiben. Zusammen bildeten sie während des Krieges einen generellen Beurteilungsmaßstab für bestimmte Taten, wie sich am Beispiel der Behandlung von „Judenerschießungen ohne Befehl und Befugnis“, so wurden Täubners Taten offiziell bezeichnet, verdeutlichen lässt.
IV.
„Judenerschießungen ohne Befehl und Befugnis“
Die strafrechtliche Beurteilung von „Judenerschießungen ohne Befehl und Befugnis“ dürfte auch Reineckes richterlichem Beisitzer im Obersten SS - und Polizeigericht in der Strafsache Täubner, dem SS - Obersturmbannführer und SSRichter Dr. Hans - Bernhard Brauße, vertraut gewesen sein. In einem Anschreiben an den SS - Richter beim Reichsführer - SS, Horst Bender, hatte Brauße 1942 um eine Entscheidung Himmlers in dieser grundsätzlichen Angelegenheit gebeten und dabei zugleich die Auffassung des Hauptamtes SS - Gericht deutlich gemacht. Anlass war ein Strafverfahren gegen den Revierleutnant der Schutzpolizei Wölfer vor dem SS - und Polizeigericht XV in Breslau. Wölfer hatte im Februar 1942 in Radom zusammen mit seinen Kollegen den Juden Mandelmann erschossen. Dieser hatte der Sicherheitspolizei angeblich Zuträgerdienste geleistet und dabei auch Wölfer und seine Kollegen belastet. Brauße schrieb zu dem Vorgang : „Es geht nicht an, dass jeder von sich aus ohne Befehl und Befugnis Juden erschießt. Für die Beurteilung solcher unbefugter Erschießungen müssen die Beweggründe ausschlaggebend sein. Ist die Tötung aus abscheulichen oder eigensüchtigen Motiven insbesondere zur Verdeckung von eigenen Straftaten oder von Verfehlungen dritter Personen erfolgt, so müssen u. U. auch die Bestimmungen über Mord und Totschlag in Anwendung gebracht werden. Handelt es sich um Erschießungen aus rein politischen Motiven, so dürfte von einer Strafverfolgung abgesehen werden können, es sei denn, dass die Aufrechterhaltung der Ordnung eine Bestrafung erfordert.“35 33 „Fehlurteile“, S. 150 ( Hervorhebung im Original ). 34 Vgl. Hermann Lübbe, Totalitäre Rechtgläubigkeit. Das Heil und der Terror. In : Hans Maier ( Hg.), Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt a. M. 2000, S. 37–35. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Über die Selbstermächtigung zur Gewalt. In : Maria - Sibylla Lotter ( Hg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, Baden - Baden 1999, S. 87–95. 35 Schreiben des SS - Sturmbannführers und SS - Richters Dr. Hans - Bernhard Brauße an den SS - Richter beim Reichsführer - SS, SS - Obersturmbannführer Horst Bender, vom 26. September 1942 ( BArch Berlin, NS 7/1168 : Strafsache gegen den Revierleutnant der Schutzpolizei Wölfer u. a. wegen Judenerschießungen ohne Befehl und Befugnis vor dem SS - und Polizeigericht XV, Breslau [1942], unpaginiert ).
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Die Ermordung des Juden Mandelmann hielt Brauße aber offenbar für annehmbar. Jedenfalls bemerkte er, „dass die Verwendung eines Juden als V - Mann lediglich zur Beobachtung eigener Rassegenossen oder Angehöriger fremden Volkstums vertretbar erscheint, niemals aber zu einer Bespitzelung deutscher Volksgenossen führen darf. Wenn ein Jude für Beschuldigungen gegen Polizeibeamte, gleichgültig auf welche Veranlassung hin diese erfolgt sind, zur Rechenschaft gezogen wird, so wird dagegen nichts einzuwenden sein.“36 Himmler schloss sich der Auffassung des Hauptamtes SS - Gericht in dieser grundsätzlichen Angelegenheit bis in die Formulierungen hinein an und ließ den SS - Richter beim Reichsführer - SS mitteilen : „Bei rein politischen Motiven erfolgt keine Bestrafung, es sei denn, dass die Aufrechterhaltung der Ordnung eine solche erfordert. [...] Bei eigensüchtigen oder sadistischen bezw. sexuellen Motiven erfolgt gerichtliche Ahndung, und zwar gegebenenfalls auch wegen Mordes bezw. Totschlages.“37 Diesen Vorgaben folgten die SS - Richter auch im Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts gegen Max Täubner. Wiederholt hoben sie hervor, dass der Angeklagte Täubner „ein fanatischer Judenfeind“ gewesen sei und „wirklicher Judenhass [...] der treibende Beweggrund für den Angeklagten“, der also „nicht von vornherein aus Sadismus, sondern aus wirklichem Judenhass gehandelt“38 habe. Auf diese Weise rechtfertigten sie, weshalb der Angeklagte „wegen der Judenaktionen als solcher [...] nicht bestraft werden“39 sollte. Dadurch, dass die SS - Richter Täubners mörderischen Antisemitismus als politisches Motiv für seine Taten bewerteten, stellten sie ihn für diese Taten straf los und befanden sich so in völliger Übereinstimmung mit den Vorgaben des Reichsführers - SS und des Hauptamtes SS - Gericht hinsichtlich der Bestrafung von „Judenerschießungen ohne Befehl und Befugnis“. Bestraft wurde Täubner am Ende trotzdem, weil die „Aufrechterhaltung der Ordnung“, d. h. der „Manneszucht“, eine Bestrafung erforderte. In den Augen der SS - Richter hatte Täubner „es zu einer so üblen Verrohung seiner Männer kommen lassen, dass sie sich unter seinem Vorantritt wie eine wüste Horde aufführten. Die Manneszucht ist vom Angeklagten in einer Weise aufs Spiel gesetzt worden, wie es schlimmer kaum denkbar ist.“40 Er hatte auf diese Weise „seine Dienstaufsichtspflicht gröblichst verabsäumt, wozu nach SS - mäßiger Auffassung auch gehört, dass er seine Männer nicht seelisch verkommen lässt“.41 Aber auch
36 Ebd. 37 Vgl. Schreiben des SS - Richters beim Reichsführer - SS, SS - Obersturmbannführer Horst Bender, an das Hauptamt SS - Gericht vom 26. Oktober 1942 ( BArch Berlin, NS 7/247: Bestrafung von Judenerschießungen ohne Befehl und Befugnis [1942], Bl. 2 = IMT Nuremberg Document NO - 1744), abgedruckt bei Vieregge, Gerichtsbarkeit einer „Elite“, S. 263. 38 Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts vom 24. Mai 1943, zit. nach Klee / Dressen / Rieß, „Schöne Zeiten“, S. 184 und 188 f. 39 Ebd., S. 187. 40 Ebd., S. 188. 41 Ebd., S. 189.
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in der Persönlichkeit Täubners erkannten die SS - Richter, da er sich bei der „notwendigen Vernichtung“ der Juden zu Grausamkeiten und Misshandlungen hatte hinreißen lassen, „schwere Charaktermängel“ und „eine weitgehende innere Verrohung“.42 Besorgt zeigten sich die Richter des Obersten SS - und Polizeigerichts außerdem hinsichtlich der von Täubner aufgenommenen und herumgezeigten Fotographien : „Solche Bilder können die größten Gefahren für die Sicherheit des Reiches heraufbeschwören, wenn sie in falsche Hände geraten. Wie leicht [ hätten ] sie aus Süddeutschland“, wo Täubner die Aufnahmen während eines Heimaturlaubs entwickeln ließ und zunächst seiner Frau und Bekannten zeigte, „über die Schweiz der feindlichen Propaganda zugespielt werden [können ]“.43 Darin sahen die SS - Richter „einen besonders schweren Fall von Ungehorsam. Zum Glück sind die Bilder nur einem kleinen Personenkreis bekannt geworden.“44 Wegen „Führerpflichtverletzung“, worunter die Verabsäumung der Dienstaufsicht ebenso fiel wie sein militärischer Ungehorsam, und wegen verschiedener anderer Straftaten wurde Täubner „zur Aufrechterhaltung der Manneszucht“ und teilweise unter den strafschärfenden Voraussetzungen des § 5 a der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ), d. h. unter Überschreitung des gesetzlichen Strafrahmens, zu einer Gesamtstrafe von zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, aus der SS ausgestoßen und für „wehrunwürdig“ erklärt. Von seiner zehnjährigen Zuchthausstrafe musste er allerdings nur anderthalb Jahre im SSStraf lager Dachau verbüßen. Mitte Januar 1945 wurde Täubner vom Reichsführer - SS zur Bewährung an der Front begnadigt, wobei Himmler die Erwartung zum Ausdruck brachte, „dass T. sich dieses Gnadenerweises in jeder Hinsicht würdig zeigt und sich an der Front ebenso gut hält wie im Straf lager“.45 Obwohl „es sich schon bei der Truppe herumgesprochen habe, dass man auch bei schweren Delikten und hoher Strafe ja doch bald an die Front käme“,46 wie das Hauptamt SS - Gericht dem SS - Richter beim Reichsführer - SS 1944 mitteilte, stellte sich Himmler auch im Falle Täubner auf den Standpunkt, dass „man bei der jetzigen Kriegslage keinen Verurteilten länger als nötig in der Strafvollstreckung sitzen lassen“47 könne. Die Diskrepanz zwischen hoher Strafe und geringer Vollzugszeit müsse daher während des Krieges in Kauf genommen werden.
42 43 44 45
Ebd., S. 189. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189. Schreiben des SS - Sturmbannführers und SS - Richters d. R. Helmut Gießelmann, Dienststelle SS - Richter beim Reichsführer - SS, an das Hauptamt SS - Gericht vom 16. Januar 1945, zit. nach Klee / Dressen / Rieß, „Schöne Zeiten“, S. 192. 46 Vortragsnotiz des SS - Richters beim Reichsführer - SS, SS - Standartenführer Bender, vom 20. Juni 1944 ( BArch Berlin, NS 7/319 : Divergenz zwischen hoher Strafe und geringer Vollzugszeit bei Urteilen der SS - und Polizeigerichte [1944], Bl. 1). 47 Schreiben des SS - Richters beim Reichsführer - SS, SS - Standartenführer Bender, an den Chef des Amtes I im Hauptamt SS - Gericht, SS - Standartenführer Dr. Reinecke, vom 17. Juli 1944 ( BArch Berlin, NS 7/319, Bl. 2).
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V.
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„Vorkommnisse“ im Durchgangslager Soldau
Was für eine innere Einstellung die SS - Führung von den Vollstreckern des Massenmordes erwartete, wird am Beispiel der sogenannten „Vorkommnisse im Durchgangslager Soldau“48 in Ostpreußen deutlich, bei denen die SS - und Polizeigerichtsbarkeit nur eine Nebenrolle spielte. Jahre nach den Ereignissen wurde sie mit Ermittlungen beauftragt, um dem Verdacht willkürlicher Erschießungen und schwerster Misshandlungen von Häftlingen nachzugehen. Die Ergebnisse ihrer Ermittlungen hatten aber am Ende keine Folgen. Das Durchgangslager Soldau war im Winter 1939/40 als Zivilgefangenenlager eigens zu dem Zweck errichtet worden, Angehörige der polnischen Eliten, die als „politische Aktivisten“ und „Staatsfeinde“ angesehen wurden, im Rahmen ethnischer und politischer „Säuberungen“ unauffällig umbringen zu können.49 Seit Anfang Februar 1940 diente Soldau der ostpreußischen Gestapo als zentrale Hinrichtungsstätte, in der auch der Krankenmord an Patienten aus Pflegeheimen ganz Ostpreußens und des Warthelandes verübt wurde.50 Außerdem nutzte die Gestapo das Lager Soldau seit Mai 1940 als „Arbeitserziehungslager“ für „arbeitsunwillige“ polnische Zwangsarbeiter.51 Durch Massenhinrichtungen und infolge brutaler Misshandlungen, krimineller Vernachlässigung, Krankheiten und Hunger fanden schon in den ersten Jahren mehrere tausend Menschen in Soldau den Tod. Die Verhältnisse im Lager führten aber erst 1943 zu SS - internen Ermittlungen gegen den Lagerkommandanten und seine Vorgesetzten.52 Kommandant des Durchgangslagers Soldau war von Anfang Februar 1940 bis Ende September 1941 der SS - Hauptsturmführer Hans Krause, der zuvor Angehöriger des von der SS organisierten „Volksdeutschen Selbstschutzes“ gewesen war und sich mit den Aufgaben eines Lagerkommandanten überfordert zeigte. Krause befehligte die von seinen Vorgesetzten befohlenen Erschießungen nicht nur, sondern beteiligte sich auch eigenhändig mit seiner Dienstpistole daran. 1943 befragte das Reichssicherheitshauptamt ( RSHA ) den ehemaligen persönlichen Referenten des Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS ( SD ) und zeitweiligen stellvertretenden Stapostellenleiter von 48 Vgl. BArch Berlin, NS 7/1187 : Ermittlungsverfahren wegen Erschießungen und weiteren kriminellen Vorkommnissen im Durchgangslager Soldau (1943–1944). 49 Vgl. Vernehmungsniederschrift des SS - Brigadeführers Dr. Dr. Otto Rasch vom 16. Juni 1943 ( BArch Berlin, NS 7/1187, unpaginiert = IMT Nuremberg Document NO - 1073). 50 Vgl. Gabriele Lotfi, SS - Sonderlager im nationalsozialistischen Terrorsystem : Die Entstehung von Hinzert, Stutthof und Soldau. In : Norbert Frei / Sybille Steinbacher / Bernd C. Wagner ( Hg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, München 2000, S. 209–230, bes. S. 216–223, hier 222. 51 Vgl. ebd., sowie ausführlich dazu Uwe Neumärker, Soldau. In : Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9, München 2009, S. 612–621. 52 Vgl. Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, SS - Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Dr. Ernst Kaltenbrunner, an den SS - Richter beim Reichsführer SS vom Februar 1943 ( BArch Berlin, NS 7/1187, unpaginiert = IMT Nuremberg Document NO - 1076).
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Königsberg, SS - Hauptsturmführer Dr. Friedrich Horst Schlegel, zu den Vorkommnissen in Soldau. Schlegel, der in Vertretung des zuständigen Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des SD die Dienstaufsicht über das Lager Soldau ausübte, gab dabei zu Protokoll, er wisse, dass Krause „wiederholt zum Ausdruck brachte, dass ihm die Liquidierung der Polen keine angenehme Angelegenheit sei, dass er aber im Dienste der Sache seine Pflicht ausführe“.53 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Königsberg war von November 1939 bis Mai 1941 der SS - Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Dr. Dr. Otto Rasch, der anschließend von Juni bis Anfang Oktober 1941 die Einsatzgruppe C in der Ukraine leitete und den Massenmord an den ukrainischen Juden durchführte, dem bis Ende Oktober 1941 annähernd 80 000 Menschen zum Opfer fielen. Auch Rasch, der die Einrichtung des Lagers Soldau 1939 angeordnet hatte, wurde 1943 zu den Vorgängen im Lager befragt und äußerte sich dabei auch zur Person des Lagerkommandanten : „Ich machte mit Krause von vornherein die besten Erfahrungen. Er war ein außerordentlich pflichtbewusster Mensch von hohem sittlichen Ernst, der sich seiner schweren Aufgabe mit einer Hingabe unterzog, die nur durch letzte nationalsozialistische innere Haltung genährt werden konnte. Er hielt auch unter seinen Männern straffe Disziplin und verlangte nichts, was er nicht selbst tat oder zu tun bereit war. [...] Ich habe mich mit Krause sehr oft über die Notwendigkeit unserer harten Maßnahmen ausgetauscht und fand bei ihm volles Verständnis für diese Politik. Dabei konnte ich auch feststellen, dass er über die nötigen moralischen Hemmungen verfügte, um dabei nicht in Ausschreitungen zu verfallen.“54
Aufgrund dieser Aussagen wurde Krause aus der Haft im Hausgefängnis der Gestapo in der Berliner Prinz - Albrecht - Straße entlassen und die Ermittlungen der SS - und Polizeigerichtsbarkeit fanden ihr Ende. Auch wenn Krause hernach angeblich den Eindruck eines völlig gebrochenen Mannes machte und in ständiger Angst vor erneuter Verhaftung lebte, war ihm bei seiner Entlassung aus der Haft gesagt worden, „dass gegen ihn nichts mehr vorliege und alles in Ordnung sei“.55 In den Äußerungen von Rasch und Schlegel über Krause wird das Bild des „anständigen“ Täters gezeichnet,56 der „im Dienste der Sache“ und von ihrer Notwendigkeit überzeugt sachlich, kühl und rational „seine schwere Pflicht“ tat, und „über die nötigen moralischen Hemmungen verfügte, um dabei nicht in Ausschreitungen zu verfallen.“ Dadurch handelte er auch seinen Untergebenen 53 Vernehmungsniederschrift des SS - Hauptsturmführers Dr. Friedrich Horst Schlegel vom 3. Juni 1943 ( BArch Berlin, NS 7/1187, unpaginiert = IMT Nuremberg Document NO1074). 54 Vernehmungsniederschrift des SS - Brigadeführers Dr. Dr. Otto Rasch vom 16. Juni 1943 ( BArch Berlin, NS 7/1187, unpaginiert = IMT Nuremberg Document NO - 1073). 55 Schreiben des Höheren SS - und Polizeiführers beim Oberpräsidenten von Ostpreußen an den SS - Richter beim Reichsführer - SS vom 17. August 1943 ( BArch Berlin, NS 7/1187, unpaginiert ). 56 Vgl. Karin Orth, Die „Anständigkeit“ der Täter. Texte und Bemerkungen. In : Sozialwissenschaftliche Informationen, 25 (1996) 2, S. 112–115.
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gegenüber vorbildlich und verantwortungsbewusst, und stellte sicher, was auch Himmler selbst 1943 in Ansprachen wiederholt zum Ausdruck brachte, dass die „schwere Aufgabe“ des Massenmordes an den europäischen Juden durchgeführt werden konnte, „ohne dass – wie ich glaube sagen zu können – unsere Männer und unsere Führer einen Schaden an Geist und Seele erlitten hätten“.57 Krause, so wie Rasch und Schlegel ihn beschrieben, war ein Vollstrecker des Massenmordes, wie ihn die SS sich wünschte, und das Gegenbild zu dem unberechenbaren Exzesstäter wie ihn Max Täubner verkörperte, der „ohne jedes Maß ist und keine innere Zucht besitzt“.58
VI.
Nationalsozialistisches Rechtsdenken
Wer vom moralischen Rigorismus einer Sonderstrafgerichtsbarkeit spricht, der kann von den juristischen Gegebenheiten nicht schweigen, die das Wesen dieser Gerichtsbarkeit bestimmen, umso weniger, wenn sie dazu beitrugen, ein Klima zu schaffen, das die Untaten ermöglichte, zumindest aber nicht verhinderte, die unter anderen Umständen von der Gerichtsbarkeit hätten strafrechtlich verfolgt werden müssen. „Darüber kann kein Zweifel bestehen, dass in der Rechtsprechung die alten Methoden verlassen werden müssen, und dass die SS - und Polizeigerichte hier Pionierarbeit zu leisten haben. Die überkommenen Gesetze sind unzulänglich. Aber auch mit neuen, besseren Gesetzen allein ist es nicht getan. Nicht die Anwendung eines Gesetzes ist die Hauptsache, sondern die Findung des Rechts. Und das ist Sache starker Richterpersönlichkeiten, die“ – wie oben schon ausgeführt – „davon ausgehen, dass es kein Recht an sich mehr gibt, das ein zum Leben des Volkes beziehungsloses Eigendasein in Paragraphen führt“.59 Als eine solche Richterpersönlichkeit betrachtete sich auch der Chef des SS - und Polizeigerichts VI in Krakau, der damals gerade einunddreißigjährige SS - Sturmbannführer und SS - Richter Dr. Norbert Pohl. Wie viele Juristen seiner Zeit träumte auch Pohl den Traum einer Neubelebung der Rechtswissenschaft, die ihre Aufgabe darin sah, „dem deutschen Volk wieder ein Rechtssystem und Rechtsformulierungen zu geben, die nicht aus der Logik, sondern aus dem völkischen Rechtsempfinden erwachsen [...]. Es ist die uralte Aufgabe des germanischen und altdeutschen Richters und Rechtswahrers“, so meinten diese Juristen, „nicht 57 Rede vor den Reichs - und Gauleitern in Posen am 6. Oktober 1943, abgedruckt in Bradley F. Smith / Agnes F. Peterson ( Hg.), Heinrich Himmler Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt a. M. 1974, S. 162–183, hier 169 f. So auch schon in seiner Posener Rede vor den SS - Gruppenführern am 4. Oktober 1943, abgedruckt in : Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, Band XXIX, S. 110–173, hier 146 (= IMT Nuremberg Document 1919–PS ). 58 Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts vom 24. Mai 1943, zit. nach Klee / Dressen / Rieß, „Schöne Zeiten“, S. 190. 59 „Fehlurteile“, S. 148 f. ( Hervorhebungen im Original ).
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das Recht zu schaffen, sondern das in der deutschen Art bereits existente Recht in die Sichtbarkeit zu heben, es zu finden“.60 Für Pohl wie für andere NS - Juristen stand dabei die Erneuerung des Strafrechts im Vordergrund, „weil es am unmittelbarsten mit den politischen Grundlagen eines Staatswesens verknüpft ist“.61 Hier sollte die Neuordnung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten von Anfang an „eine ausgesprochen politische sein, die von der weltanschaulichen Bedingtheit eines Gesetzes ausgeht und sich zu einer dynamischen Rechtsauffassung bekennt“.62 Für die SS und ihre Gerichtsbarkeit war das die Vorbedingung, um, wie es beispielsweise 1941 anlässlich der kirchlichen Proteste gegen den Krankenmord in den „Euthanasie - Anstalten“ im Rahmen der „Aktion T 4“ in einem offiziellen Mitteilungsheft der SS - und Polizeigerichtsbarkeit hieß, „die richtige Lösung von Fragen [ zu finden ], die zur Zeit im Gesetze noch nicht befriedigend gelöst sind, z. B. die Frage der Tötung lebensunwerten Lebens. Sie kann für uns nicht zweifelhaft sein. Allerdings wollen wir uns darüber nichts vormachen, dass auch unser Volk noch weitgehend zu rechtlichem Fühlen und Denken erzogen werden muss.“63 Vor diesem Hintergrund schrieb Pohl Anfang 1942 an den Chef des Hauptamtes SS - Gericht in München über einen weiteren Aspekt der Strafrechtserneuerung, der auch für den Fall des SS - Untersturmführers Max Täubner bedeutsam war : „Ein Umbruch von gewaltigen Ausmaßen vollzieht sich unter unseren Augen im Strafrecht in dem Sinne, dass die Person des Täters heute und in aller Zukunft nicht nur den Angelpunkt des Prozesses, sondern nun auch der Rechtsfindung bildet. Das aber gerade ist das Neue, an dem wir zu arbeiten nicht müde werden wollen und auf dem letzten Endes das Schicksal der SS - Gerichtsbarkeit, so wie der Führer sie zu sehen wünscht, beruht. Nicht also nur der formelle Prozess ist es, für den wir die Person des Angeklagten brauchen, sondern die Persönlichkeit des Angeklagten befiehlt mir die Rechtsfindung, nicht aber in erster Linie das Gesetz.“64
Das Gesetz blieb zwar auch für Pohl „eine sehr wesentliche Erkenntnisquelle des Rechts, sie muss aber blutleer bleiben und den Richter zu einem mechanischen Werkzeug herabwürdigen, wenn nicht auch die Persönlichkeit des Angeklagten und seine Gemeinschaftsbezogenheit, also die Erfordernisse der Trup-
60 Ernst Anrich, Die deutschen Universitäten und der Geist unserer Zeit. In : Volk und Reich, 17 (1941), S. 752–769, hier 757 f. Zuerst zit. bei Lothar Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973, S. 188. 61 Gottfried Boldt, Rechtspolitische Wandlungen unter der Herrschaft des Reichsstrafgesetzbuches. In : Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft ( ZgesStW ), 96 (1936), S. 475–509, hier 475. 62 Ebd. 63 „Fehlurteile“, S. 149 ( Hervorhebung im Original ). 64 Bericht des Chefrichters des SS - und Polizeigerichts VI, Krakau, SS - Sturmbannführer und SS - Richter Dr. Norbert Pohl, an den Chef des Hauptamtes SS - Gericht, SS - Gruppenführer Paul Scharfe, vom 22. Januar 1942 ( BArch Berlin, NS 7/318 : Bericht des SSSturmbannführers Dr. Pohl über die Probleme mit der gutachterlichen Tätigkeit des Hauptamtes SS - Gericht [1942], Bl. 1–31, hier 4 [ Hervorhebung im Original ]).
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pe, als Erkenntnisquellen vor dem Gesetz herangezogen werden“.65 An den Chef des Hauptamtes SS - Gericht appellierte Pohl also eindringlich, wobei er die damals aktuellen Entwicklungen im nationalsozialistischen Strafrecht aufgriff : „Wenn sich nicht bei uns die Erkenntnis zuerst durchsetzt, welche Bedeutung dieser normative Tätertyp, wie ihn [ Georg ] Dahm genannt hat, bei der Tatbestandsbildung und im Bereich der Tat - und Schuldfrage hat, so werden wir Bahnbrechendes nicht leisten können. Allenthalben ist festzustellen, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit den sogenannten ‚kriminologischen‘ Tätertyp für die Strafzumessung bereits verwertet.“66 Das Ziel, sowohl für die ordentliche Strafgerichtsbarkeit als auch für die Sonderstrafgerichtsbarkeiten von Wehrmacht und Waffen - SS, bestand darin, „aus der Persönlichkeit des Täters – und allein aus ihr als Teil einer sie verpflichtenden Gemeinschaft – das materielle Recht zu finden. Diesen Weg aber müssen wir zuerst beschreiten, und ich bemühe mich darum mit heiligem Ernst, solange ich in der SS - Gerichtsbarkeit tätig sein darf.“67 Diese Vorstellungen von einem „völkischen“ oder „arteigenen“ Gemeinschaftsrecht waren zwar kein Spezifikum der SS - und Polizeigerichtsbarkeit, in ihrer Rechtsprechung während des Krieges aber möglicherweise schon weitgehend ver wirklicht. Sie entsprangen einem Denken in konkreten Ordnungen oder auch „konkreten Ordnungsdenken“ ( Carl Schmitt ),68 das die Interessen der Gemeinschaft über die des Individuums stellte, und daher der Verfassung von „Führerstaat“ und „Volksgemeinschaft“ sehr angemessen war. Das Recht umfasste auch im „Dritten Reich“, zwar nicht ausschließlich, aber doch zumindest auch, die in Gesetzesform gegossenen moralischen Forderungen der Gemeinschaft und hatte dem „Schutzbedürfnis“ und „Sühneverlangen“ der Gemeinschaft zu dienen. Das Rechtsdenken war zugleich ein Denken in moralischen Kategorien von den Interessen und von den Zwecken der Gemeinschaft her. Auch der Unrechtsgehalt und somit die Strafbarkeit einer Tat richteten sich in erster Linie nach dem der Gemeinschaft dadurch entstandenen Schaden. Anhand der Persönlichkeit des Täters, seiner Stellung in der Gemeinschaft und seinen damit verbundenen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft wurde dann das Strafmaß bestimmt, also entschieden, welche Strafe der Täter für seine Tat „verdiente“. Als Entscheidungshilfe, mithin auch als Beurteilungsmaßstab, wur65 Bericht des Chefs des SS - und Polizeigerichts VI, Krakau ( BArch Berlin, NS 7/318, Bl. 6). 66 Bericht des Chefs des SS - und Polizeigerichts VI, Krakau ( BArch Berlin, NS 7/318, Bl. 4 [ Hervorhebung im Original ]). 67 Bericht des Chefs des SS - und Polizeigerichts VI, Krakau ( BArch Berlin, NS 7/318, Bl. 4 f. [ Hervorhebung im Original ]). 68 Vgl. Carl Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, sowie ders., Nationalsozialistisches Rechtsdenken. In : Deutsches Recht, 4 (1934) 10, S. 225–229. Vgl. auch die zustimmende Besprechung von Georg Dahm, Die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens. In : ZgesStW, 95 (1935), S. 181–188, oder auch den Literaturbericht Dahms, Gegenstand und Methoden des völkischen Rechtsdenkens. In : ZgesStW, 98 (1938), S. 735–744.
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den dabei ( im Sinne eines „substantiellen Dezisionismus“) Substanzwerte der nationalsozialistischen Weltanschauung herangezogen.69 Während der SS - Richter Dr. Norbert Pohl hoffte, dass das zukünftige Strafrecht mehr und mehr Täterrecht und nicht länger Tatrecht sein werde, hatte Georg Dahm, ein Vertreter der „Kieler Schule“,70 auf dessen wissenschaftliche Ideen sich Pohl bezog, schon verhältnismäßig früh begriffen, dass der Traum des völkischen Strafrechts Ungeheuer gebären würde. Schon 1940 hatte er darauf hingewiesen, „dass auch heute noch das Strafrecht zunächst einmal ein Tatstrafrecht ist, und dass es auch in Zukunft ein Tatstrafrecht bleiben wird. Es ist jedenfalls in dem Sinne kein Täterstrafrecht, dass die Strafe an ein kriminologisches Tätersein anknüpft. Sondern das richterliche Urteil findet auch heute noch seine Grundlage in mehr oder weniger bestimmten Taten, in konkreten Gesinnungen und in der Einzeltatschuld, nicht in der Gesamtpersönlichkeit des Verbrechers.“71 Und 1944, während rings um ihn alles in Schutt und Asche versank und in Trümmer fiel, meinte er schließlich resignierend : „Denn ein rein kriminologisches Täterstrafrecht ist eben doch nur ein Traum, und zwar ein hässlicher Traum.“72
VII. Die SS - und Polizeigerichtsbarkeit als Führungsinstrument : Resümee und Ausblick Bekanntlich hat Max Täubner den Krieg überlebt.73 1949 kehrte er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurück. Die Versuche der Strafverfolgungsbehörden, ihn wegen seiner Untaten zur Verantwortung zu ziehen, scheiterten daran, dass die Gerichte, zuletzt auch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, nicht bereit waren, das rechtsstaatliche Prinzip „ne bis in idem“ in Frage zu stellen, nur um das Bestrafungsbedürfnis in seinem Fall befriedigen zu
69 Vgl. Hubert Rottleuthner, Substantieller Dezisionismus. Zur Funktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus. In : ders., ( Hg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus. Vorträge aus der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts - und Sozialphilosophie ( IVR ) in der Bundesrepublik Deutschland vom 11. und 12. Oktober 1982 in Berlin ( West ), Wiesbaden 1983, S. 20–35. 70 Vgl. u. a. Jörn Eckert, Die Kieler rechtswissenschaftliche Fakultät – „Stoßtruppfakultät“. In : Heribert Ostendorf / Uwe Danker ( Hg.), Die NS - Justiz und ihre Nachwirkungen, Baden - Baden 2003, S. 21–55. 71 Georg Dahm, Der Tätertyp im Strafrecht. In : Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Heinrich Siber zum 10. April 1940, Band I, Leipzig 1941, S. 183–246, hier 189 f. ( Hervorhebungen im Original ). 72 Georg Dahm, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit im Strafrecht der Gegenwart. In : Probleme der Strafrechtserneuerung. Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstage dargebracht, Berlin 1944, S. 1–23, hier 18. 73 Vgl. Büchler, „Unworthy Behavior“, S. 424 f.; de Mildt, Getting away with Murder, S. 110 ff.
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können.74 Durch die Bemühungen der Staatsanwaltschaft Memmingen, Täubner erneut vor Gericht zu stellen, wurde die bayerische Justiz 1959 immerhin auf das Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts im Fall Täubner aus dem Jahr 1943 und den für dieses Urteil verantwortlichen ehemaligen SS - Oberführer und Vorsitzenden des Obersten SS - und Polizeigerichts, Dr. Günther Reinecke, aufmerksam, der sich 1950 als Rechtsanwalt in München niedergelassen hatte. Durch eine Verfügung des bayerischen Staatsministeriums der Justiz wurde ihm 1961 die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft entzogen, mit der Begründung, Reinecke habe sich durch seine Mitwirkung an einem derart menschenverachtenden Urteil eines Verhaltens schuldig gemacht, das ihn unwürdig erscheinen lasse, den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben.75 In dem anschließenden Ehrengerichtsverfahren der bayerischen Rechtsanwaltskammer fanden sich Ende 1961 und Anfang 1962 noch einmal alle am Täubner - Verfahren von 1943 beteiligten Personen in München zusammen.76 Dabei brachten die ehemaligen SS - Richter zu ihrer Verteidigung vor, dass es sich bei den inkriminierenden Formulierungen des Urteils, „die Juden müssen vernichtet werden, es ist um keinen der getöteten Juden schade“, um Himmlers eigene Worte gehandelt habe. Diese judenfeindlichen Wendungen seien in den Urteilstenor übernommen worden, um die Bestätigung des Urteils durch den zuständigen Gerichtsherrn, den Reichsführer - SS Heinrich Himmler, zu erreichen. Dieser hatte schließlich nur vier Monate nach dem Täubner - Urteil in seiner Rede vor den SSGruppenführern im Posener Schloss bekräftigt : „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen.“77 Es ist nicht auszuschließen, dass diese Überlegungen der damaligen Auffassung der SS - Richter tatsächlich entsprochen haben, den Tatsachen entsprachen sie mit Sicherheit nicht. „Wegen der Judenaktionen als solcher“ sollte Täubner ohnehin nicht bestraft werden. Die SS - Richter schenkten den Aussagen des Angeklagten Glauben, wonach politische Beweggründe ausschlaggebend für seine Taten gewesen seien, nämlich sein extremer Judenhass. Himmlers Direktive über die strafrechtliche Beurteilung von „Judenerschießungen ohne Befehl und 74
Vgl. hierzu sehr differenziert Edith Raim, [ Rezension von ] Nathan Stoltzfus / Henry Friedlander ( Hg.), Nazi Crimes and the Law, Cambridge, MA 2008. In : Sehepunkte, 9 (2009) 6 ( http ://www.sehepunkte.de /2009/06/15904.html; 1. 7. 2011). 75 Vgl. Verfügung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 13. März 1961 (Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 317 III Bü 968, Bl. 3–11, hier 10). Diese Verfügung wurde durch Beschluss des Bayerischen Ehrengerichtshofs für Rechtsanwälte am 20. Februar 1962 wieder aufgehoben. 76 Vgl. Unterlagen des Bayerischen Ehrengerichtshofs für Rechtsanwälte betr. Dr. Günther Reinecke, Bay. EGH I 4/1961, enthalten in den Akten des Ermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Horst Bender wegen Judenerschießungen und Beteiligung an der Verfolgung von Beteiligten am Hitlerattentat aus dem Jahr 1973 ( Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 317 III Bü 965–974, hier 968). 77 Himmlers Posener Rede vor den SS - Gruppenführern am 4. Oktober 1943, abgedruckt in : Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, Band XXIX, S. 110–173, hier 146.
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Befugnis“ vom 26. Oktober 1942 sah bei rein politischen Motiven keine Bestrafung vor, „es sei denn, dass die Aufrechterhaltung der Ordnung eine solche erfordert.“ Da Täubner lediglich wegen der Begleitumstände, nämlich der „Disziplinlosigkeit“ bei der Begehung seiner Taten verurteilt und bestraft werden sollte, was ganz sicher auch in Himmlers Sinne war, konnte an der Bestätigung des Urteils kein Zweifel bestehen. Darauf kommt es bei der Beurteilung der SS - und Polizeigerichtsbarkeit aber gar nicht an. Entscheidender ist, dass den SS - Richtern die Möglichkeit eingeräumt wurde, einen Täter wegen seiner „im Dienste der Sache“ verübten Verbrechen nicht bestrafen zu müssen, und dass sie, wie im Falle Täubner, davon auch Gebrauch machten und ihn nur wegen der Begleitumstände seiner Taten verurteilten, während sie seine Verbrechen wahrheitswidrig „als gerechte Vergeltung für das Leid“ gelten ließen, „das die Juden dem deutschen Volke angetan haben“.78 Es ist durchaus anzunehmen, dass die SS - Richter die Verbrechen als solche erkannten; indem sie sich jedoch den moralischen Regeln ihres Ordens unterwarfen und sie zu einem Element ihrer Rechtsprechung machten, begaben sie sich, was auch immer ihre eigenen moralischen Überzeugungen gewesen sein mögen, in eine Komplizenschaft sowohl mit den Auftraggebern als auch mit den Ausführenden der Verbrechen.79 In extremer Konsequenz kommt darin der Charakter einer entmündigten und sich selbst entmündigenden Gerichtsbarkeit zum Ausdruck, die als politisches und militärisches Führungsinstrument Verbrechen nur dann verfolgte, wenn ein Interesse der politischen und militärischen Führung daran bestand. Aus dem damit verbundenen Geist des Gehorsams entwickelte der spätere SS - Standartenführer und Chef des Amtes IV im Hauptamt SS - Gericht, Dr. Hans - Bernhard Brauße, richterlicher Beisitzer Reineckes im Täubner - Verfahren, schon früh eine Art „Ethos“ und beschrieb zugleich auch die Mentalität der Militärrichter. Die SS - und Polizeigerichtsbarkeit sollte ein Instrument der politischen und militärischen Führung sein,80 der SS - Richter aber „kein passives willenloses Werkzeug, sondern ein bewusst sich einordnender und sein Bestes gebender Gefolgsmann“, der „sich von dem bloßen Untergebenen durch sein aktives Mitgehen, durch freudigen und willigen Gehorsam, durch eine Mannszucht eines Mitkämpfers“81 unterschied. Der SS - Richter sollte überhaupt in seiner Eigenschaft als „Erzieher im Rahmen unseres Ordens [...], Wächter seiner heiligsten Werte, der 78 Urteil des Obersten SS - und Polizeigerichts vom 24. Mai 1943, zit. nach Klee / Dressen / Rieß, „Schöne Zeiten“, S. 188. 79 Vgl. allgemein Hubert Rottleuthner, Krähenjustiz. In : Dick de Mildt ( Hg.), Staatsverbrechen vor Gericht. Festschrift für Christiaan Frederik Rüter zum 65. Geburtstag, Amsterdam 2003, S. 158–172. 80 Vgl. Rundschreiben des Chefs des Amtes I im Hauptamt SS - Gericht, SS - Obersturmbannführer Dr. Günther Reinecke, an die Chefs der SS - und Polizeigerichte vom 5. November 1942 ( BArch Berlin, NS 7/5 : Erlass - Sammlung des Hauptamtes SS - Gericht Band 4 [ Juli – Dezember 1942], Bl. 209–211, hier 210). 81 Hans - Bernhard Brauße, Führer und Richter in soldatischen Verbänden. In : Zeitschrift für Wehrrecht ( ZWR ), 3 (1938/39), S. 81–96, hier 84 ( Hervorhebung im Original ).
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Hüter der Pflichtenordnung unserer Gemeinschaft“ zugleich immer auch „bewusster politischer Kämpfer und in seiner Grundhaltung kämpferischer Soldat“ sein.82 Es war „für den führungsmäßig denkenden Richter“ daher auch „keine Frage, dass er der besseren Einsicht der höheren Führung, die aus gleichem Willen und Wollen um das Ganze kommt, Folge leistet. [...] Er arbeitet also ausnahmslos als Gehilfe der politischen Führung und muss dankbar sein, wenn ihm diese klar und eindeutig sagt, was sie für notwendig hält. Solchen Notwendigkeiten zu entsprechen, wird er als seine selbstverständliche Pflicht ansehen.“83 Die SS - und Polizeigerichtsbarkeit war vor allem die Eigengerichtsbarkeit der Waffen - SS, der militärischen Gliederung einer ideologisch eingeschworenen Ordensgemeinschaft, deren politisches Programm die Vernichtung anderer Menschen einschloss. Die SS - Richter sollten Hüter der „heiligsten Werte“ der „Pflichtenordnung“ dieser Gemeinschaft sein, die sie darum auch zu einem Bestandteil ihrer Rechtsprechung machen mussten. Diese hatte den Zwecken der Gemeinschaft zu dienen. Rigoros verfolgt wurden alle Verbrechen, die der Gemeinschaft schadeten, alle anderen Verbrechen, die den Zwecken der Gemeinschaft möglicherweise entsprachen, nur dann, wenn ein Interesse der politischen und militärischen Führung daran bestand. Solche Handlungen „im Dienste der Sache“ sollten von den SS - und Polizeigerichten nicht selten gedeckt, im Rahmen der gerichtlichen Möglichkeiten sogar gefördert werden, wobei eine Belastung des Ansehens der SS - und Polizeigerichtsbarkeit nach außen in jedem Falle zu vermeiden war.84 Auch wenn der Einfluss der SS - und Polizeigerichtsbarkeit auf die „Verhaltenskonditionierung“ der SS - Männer nicht überschätzt werden sollte, hatte sie durch ihre einer „Unmoral“ dienende Rechtsprechung im Sinne einer „Umwertung der Werte“85 und vielleicht noch mehr durch ihre Untätigkeit von Fall zu Fall einen Anteil an der Ermöglichung von Verbrechen.
82 „Fehlurteile“, S. 149. 83 Vom Fingerspitzengefühl ( BArch Berlin, NSD 41/19 : Hinweise für den SS - Richter, Heft 2 vom 1. April 1944, S. 18–20, hier 19). 84 Vgl. zum Beispiel den Vermerk des SS - Hauptsturmführers und SS - Richters d. R. Helmut Gießelmann vom 4. Juni 1944 über seinen Vortrag beim Reichsführer - SS am 2. Juni 1944 ( BArch Berlin, NS 7/264–2 : Politische Aktionen in Belgien – Terroristische Handlungen von germanischen und freiwilligen Angehörigen der Waffen - SS, der Devlag und der Rex - Bewegung : Allgemeines und Einzelfälle [1944/45] Bl. 65), sowie den Aktenvermerk des SS - Hauptsturmführers und SS - Richters d. R. Friedrich Killing über „Weisungen des Reichsführers - SS über die Behandlung von Gegenterror in Belgien“ vom 2. August 1944 ( BArch Berlin, NS 7/405 : „Gegenterrormaßnahmen“ im besetzten Belgien [1944/45], unpaginiert ). 85 So Roland Freisler auf einer Besprechung im Reichsjustizministerium in Berlin am 24. Oktober 1939 ( BArch R 3001 [ alt R 22] /4158), zit. nach Ralph Angermund, „Recht ist, was dem Volke nutzt“. Zum Niedergang von Recht und Justiz im Dritten Reich. In: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans - Adolf Jacobsen ( Hg.), Deutschland 1933– 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2., ergänzte Auf lage Düsseldorf 1993, S. 57–75, hier 68.
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VI. Debatten nach dem Holocaust und Erinnerungspolitik
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Universalismus und moralischer Relativismus. Zu einigen Aspekten der modernen Ethikdebatte und dem Nationalsozialismus Wulf Kellerwessel
I.
Einführung
Ziel dieses Aufsatzes ist es, auf eine gravierende Schwierigkeit einiger zeitgenössischer Moralkonzeptionen aufmerksam zu machen, die sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit einer rationalen Kritik an nationalsozialistischen Handlungsnormen ergibt. Beabsichtigt ist, aufzuzeigen, dass einige moderne relativistische und einige nur scheinbar universalistische Moralkonzeptionen nicht in der Lage sind, die ihrerseits relativistischen nationalsozialistischen Moralvorstellungen überzeugend zu kritisieren. Wegen dieser Kritikunfähigkeit soll nachfolgend der Relativismus von Gilbert Harman und Bernard Williams ebenso kritisiert werden wie der normativ inadäquate Universalismus von Michael Walzer, der „reiterative Universalismus“, und der „historische Universalismus“ von Rolf Zimmermann. Die genannten Moralphilosophen sind zwar völlig unverdächtig, mit einer menschenverachtenden Ideologie wie der des Nationalsozialismus zu sympathisieren, aber dies schließt nicht aus, dass ihre Moralkonzeptionen ungeeignet sind, die Moralvorstellungen des Nationalsozialismus überzeugend zu kritisieren. Ein tatsächlicher normativer Universalismus wie der abschließend skizzierte diskursanalytische Universalismus verfügt hingegen über ein entsprechendes Kritikpotential. Zu klären sind zunächst die Begriffe „Relativismus“ und „Universalismus“; dann soll deutlich gemacht werden, in welchem Sinne die NS - Moralvorstellungen als „relativistisch“ einzustufen sind. Vor diesem Hintergrund kann schließlich verdeutlicht werden, weshalb die genannten Positionen nicht in der Lage sind, die NS - Moralvorstellungen überzeugend zu kritisieren – anders als ein tatsächlich normativer Universalismus.
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II.
Wulf Kellerwessel
„Relativismus“ und „Universalismus“
Mit „Relativismus“ werden in der Ethik und Rechtsphilosophie Positionen bezeichnet, nach denen Moralsysteme und Rechtssysteme nur eine eingeschränkte Geltung bzw. Gültigkeit beanspruchen. Dem Relativismus erscheint eine jede Moral oder ein jedes Rechtssystem als kontext- , zeit- , kultur- oder allgemein als gruppenabhängig. Nach relativistischer Auffassung ist die Gültigkeit von Prinzipien, Regeln, Normen, Werten und Bewertungskriterien der Moral oder die Verbindlichkeit von Tugenden oder auch Gesetzen bzw. Rechten auf kulturelle, ethnische, sprachgemeinschaftliche, weltanschauliche oder soziale Gruppen begrenzt, so dass ihnen keine Verbindlichkeit über die Gruppengrenze hinaus zukommt. Geltungen erscheinen als grundsätzlich „relativ“ zu den genannten Gruppen. Die Gegenposition vertritt der Universalismus, nach dem für alle Personen gleichermaßen geltende moralische Vorschriften, Prinzipien, Regeln, Normen, Werte, Tugenden oder Rechte vorhanden und begründbar sind. Ihm zufolge gibt es keine Abhängigkeit von ethnischer oder anderer Gruppenzugehörigkeit. Zu unterscheiden ist ein deskriptiver Relativismus, der besagt, es gebe in der Welt faktisch verschiedene Moralsysteme, der metaethische Relativismus, demzufolge es unterschiedliche moralische, nicht ineinander übersetzbare moralische Terminologien gibt, und der normative Relativismus, der behauptet, dass es divergierende und einander widersprechende moralische Gehalte ( Normen, Werte, Tugenden usw.) gebe, zwischen denen sich hinsichtlich ihrer Gültigkeit keine rein rationale Entscheidung treffen lasse. Im Folgenden geht es um diesen normativen Relativismus. Im Weiteren soll aufgezeigt werden, dass die NS - Vorstellungen von Moral den Kriterien eines normativen Relativismus entsprechen ( Kap. 4). Dazu sind zunächst einige zentrale Elemente dieser Vorstellungen anzuführen ( Kap. 3), ehe dann ein gravierendes, bislang wohl nicht ausreichend beachtetes bzw. reflektiertes Problem moderner normativ relativistischer Ethikkonzeptionen in den Blick genommen wird : Ihr mangelndes Kritikpotential gegenüber normativ relativistischen Moralkonzeptionen wie der des Nationalsozialismus.
III.
Elemente des nationalsozialistischen Moralverständnisses
Zentrale Elemente der NS - Moralkonzeption sind relativistisch.1 Zu nennen sind die Feindschaft zur universalistischen ( liberalen, individualistischen ) Aufklärung und zum universalistischen Naturrecht ( sowohl zum liberal - aufklärerischen als 1
Als Quellen neben Hitlers „Mein Kampf“ und Rosenbergs „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ seien genannt : Otto Dietrich, Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Ein Ruf zu den Waffen deutschen Geistes, Breslau 1935; Heinrich Himmler, Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten vom 15. 4. 1940 ( www.nationalsozialismus.de / dokumente / texte / heinrich - himmler - einige -
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auch zum katholischen )2. Anzuführen ist die Betonung von „Volk“ und „Rasse“ ( oder „Art“) als einzige, „organische“ Quelle der Moral und des Rechts, also der Rassismus. Aus den ( nicht völlig einheitlichen ) Rassentheorien, die als wissenschaftliche Grundlagen akzeptiert wurden, stammt die Vorstellung, „Völker“ würden sich nicht nur genetisch, sondern dadurch auch moralisch relevant unterscheiden. Die Hierarchisierung der „Völker“ und ihrer unterstellten divergierenden Werte führt vermittels Sein - Sollen - Fehlschlüssen auf einen Relativismus: Einzelne „Völker“ bekommen verschiedene Tugenden und Werte zugeschrieben, aber auch verschiedene „Aufgaben“ ( innerhalb der unterstellten allgemeine Aufgabe der „Erhaltung“ des je eigenen „Volkes“) und damit divergierende moralische Regeln bzw. Normen. Eingebettet ist dies in einen Sozialdarwinismus, der den Kampf eines „Volkes“ um sein „Überleben“ in der Geschichte rechtfertigen soll. Für Dietrich ruht das Deutsche Reich „auf den unvergänglichen Werten der nordischen Rasse“,3 und deutsch sei, so Himmler, wie man exemplarisch an den SS - Angehörigen sehen könne, „ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich [...] zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemand“.4 Angefügt werden Gehorsam, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Fleiß und Verantwortungsfreudigkeit als deutsche Eigenschaften, die relativistisch umgedeutet werden, denn ihr Anwendungsbereich wird aufgrund der rassistischen Grundannahmen eingeschränkt.5 Der Schutz derer, die als zum eigenen Volk gehörig betrachtet werden, wird als „heiliges Gesetz“ betrachtet. Anderen Nationen Angehörige dürfen Himmler zufolge nach Belieben für „deutsche Zwecke“ eingesetzt werden – ob „bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich [ Himmler ] nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird“.6 Sich um sie Sorgen zu machen sei hingegen ein Verbrechen an den Deutschen. Aus gleichem Grund seien Erschießungen von Polen ebenso moralisch legitimiert wie die Ausrottung der Juden, meint Himmler – sie wird ausdrücklich zur „Pflicht“ gegenüber dem eigenen Volk deklariert. Nach Heydrich sind die Juden
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gedanken - ueber - die - behandlung - der - fremdvoelkischen - im - osten - vom - 15 - 04 - 1940. html); ders., Posener Rede vom 4. 10. 1943 ( http ://www.nationalsozialismus.de / dokumente / texte / heinrich - himmler - posener - rede - vom - 04 - 10 - 1943 - volltext.html ). Vgl. zur modernen Aufarbeitung nationalsozialistischer Moralvorstellungen auch David E. Cooper, Ideology, Moral Complicity and the Holocaust. In : Eve Garrard / Goeffrey Scarre (Hg.), Moral Philosophy and the Holocaust, Aldershot 2003, S. 9–24; Richard Weikart, Hitler’s Ethic. The Nazi Pursuit of Evolutionary Progress, New York 2009. Vgl. hierzu Fabian Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht. Affinität und Aversion, Tübingen 2008. Dietrich, Die Philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus, S. 35. Himmler, Posener Rede vom 4. 10. 1943. Vgl. Gesine Schwan, Wussten sie nicht, was sie tun ? Die Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus. In : Werner Konitzer / Raphael Groß ( Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, S. 140–167, hier 145. Himmler, Posener Rede vom 4. 10. 1943.
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ohnehin „der Todfeind aller nordisch geführten und rassisch gesunden Völker“.7 Und Himmler führt weiter aus : „Den fremden [ nichtgermanischen, slawischen] Völkern gegenüber wollen wir asiatische Gesetze zur Anwendung bringen“ – „gutrassigen“ Nor wegern oder Niederländern gegenüber solle hingegen, so Himmler, nach „gesamtgermanischen Gesetzen“ freundlich verfahren werden.8 Die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens solle dagegen lernen, „dass es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein“.9 Insgesamt kann man mit Bialas festhalten, dass sich die Moralvorstellungen der Nationalsozialisten unter anderem auf folgende Gegensatzpaare fokussieren : Sie nahmen eine „höhere“ Moral für sich in Opposition zur Commen Sense- Moral an, eine „deutsche Moral“ im Gegensatz zu einer „undeutschen“, eine „rassebewusste“ an Stelle einer „artfremden“ und eine völkisch - nationale im Unterschied zu einer internationalen – oder eben einer universalistischen.10 So sind an die Stelle universeller Werte und Regeln relativistische Differenzierungen hinsichtlich des Wertes einzelner und der Regelbefolgungen getreten. Die unterschiedlichen Normierungen und die mit ihnen verknüpften Motive für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und der Relativismus der NS - Ideologie dürften deutlich sein, und auch, dass wegen des Rassismus Gruppeneinteilungen für ihre Mitglieder nicht zu überwinden sind, rassistische Einteilungen also das Überschreiten von Gruppengrenzen verhindern. Auch die Philosophen des Nationalsozialismus haben nationalistische, rassistische und relativistische Positionen vertreten.11 Folgt man Lehmanns Schrift „Die deutsche Philosophie der Gegenwart“ ( von 1943), so sind „Politik und Philosophie ideell auf engste miteinander verbunden“.12 Und ferner heißt es : „Die politische Philosophie der Gegenwart ist in dieser Hinsicht [ mit Bezug auf die völkische Gemeinschaft ] selbstverständlich der Ausdruck jener durch den Nationalsozialismus als völkisch - politische Bewegung allererst bewirkten Neuordnung unseres sozialen und staatlichen Gefüges.“13 Entsprechend durchzieht etwa die Vorstellung von Volkseigenschaften, die entsprechend gewertet werden, Haerings Studie „Die deutsche und die europäische Philosophie“ ( von 1943); 7 Reinhard Heydrich, Wandlungen unseres Kampfes ( www.nationalsozialismus.de / dokumente / texte / reinhard - heydrich - wandlungen - unseres - kampfes.html ). 8 Himmler, Posener Rede vom 4. 10. 1943. 9 Himmler, Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten vom 15. 4. 1940. 10 Vgl. Wolfgang Bialas, Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus. Zum Zusammenhang von Philosophie, Ideologie und Moral. In : Werner Konitzer / Raphael Groß (Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, S. 30–60, hier 39. 11 Vgl. zum Thema „Philosophie im Nationalsozialismus“ Bialas, Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus; Gereon Wolters, Der „Führer“ und seine Denker. Zur Philosophie des „Dritten Reichs“. In : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47 (1999) 2, S. 223–251; ferner die Beiträge in Werner Konitzer / Raphael Groß ( Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009. 12 Gerhard Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 493. 13 Ebd., S. 494.
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Universalismus und moralischer Relativismus
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sie erklärt die Kultur und das „Wesen“ als mitbestimmt durch die rassischen Grundlagen. Von Günther stammt entsprechend ein Imperativ, dessen Formulierung sich offenbar an den kategorischen Imperativ von I. Kant anlehnen soll. Doch im Gegensatz zum universalistischen Imperativ von Kant ist der Imperativ von Günther rassistisch und relativistisch : „Handle so, dass Du die Richtung Deines Willens jederzeit als Grundrichtung einer nordrassischen Gesetzgebung denken könntest.“14
IV.
Nationalsozialistisches Moralverständnis als Form des normativen Relativismus
Die Moralvorstellungen des Nationalsozialismus lassen sich auf Grund des Gesagten als eine Form des normativen Relativismus charakterisieren. Denn sie legen für verschiedene Akteure verschiedene Maßstäbe für das richtige Handeln zugrunde, fordern entsprechende Motivationen und legen für die von den Handlungen Betroffenen ebenso verschiedene Maßstäbe an. Selbst wenn die oder wenigstens einige Nationalsozialisten aufgrund ihrer für natur wissenschaftlich gehaltenen Rassevorstellungen glaubten, Objektivisten und Universalisten zu sein, so waren sie jedenfalls keine moralphilosophischen Universalisten.15 Die Moralkonzeption des Nationalsozialismus unterscheidet inhaltlich bezüglich moralisch relevanten Handlungen und moralischen Regeln ( ebenso wie bei Werten und Tugenden, die damit zusammenhängen ) sowohl bei Akteuren als auch bei Betroffenen nach ethnischer Herkunft („Rasse“ oder „Art“ in der Nazi - Terminologie ), und führt damit ein normativ relativistisches Element an zentraler Stelle ein. Aufgrund des Rassismus wird vor allem die Gleichheit der Menschen abgestritten und die Behauptung der Gleich14
Zit. nach Dietrich Böhler, Die deutsche Zerstörung des politisch - ethischen Universalismus. Über die Gefahr des – heute ( post - )modernen – Relativismus und Dezisionismus. In : Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins : Chance oder Gefährdung ? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus. Hg. vom Forum für Philosophie ( Bad Homburg ), Frankfurt a. M. 1988, S. 166–216, hier 193. 15 Den Anspruch der Nationalsozialisten auf Wissenschaftlichkeit und Universalität, den sie für ihre Weltanschauung erhoben, akzentuiert Böhnigk, der auch den von nationalsozialistischer Seite erhobenen Anspruch herausstellt, demzufolge die Rassentheorien universal gültig seien. Vgl. Volker Böhnigk, Kant und der Nationalsozialismus. Einige programmatische Bemerkungen über nationalsozialistische Philosophie, Bonn 2000, S. 6 und passim. Auch die Berufungen auf Kant durch einzelne Vertreter des Nationalsozialismus sprechen nicht für einen moralischen Universalismus der Nationalsozialisten : Wenn sie Kant nicht einfach „überwinden“ wollten oder ablehnten ( wie Krieck ), stützten sie sich auf Kants Vorstellung der Aktivität des Denkens und die Akzentuierung des Wollens in der praktischen Philosophie. Insgesamt deuten die Kant gegenüber wohlwollend eingestellten Nazi - Philosophen Kants Ethik nationalistisch oder rassistisch um ( wie Dietrich ). – Allerdings finden sich nationalistische Images bei Kant in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ und Ausführungen zu „Menschenrassen“ in „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ (1775) und „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace“ (1785) außerhalb der moralphilosophischen Hauptschriften.
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heit gar als „absurd und unannehmbar“16 bezeichnet. Demgegenüber geht der Rassegedanke „von der grundsätzlichen Ungleichheit der Menschen und Menschengruppen aus“.17 Dabei liege den Werturteilen über die Rassen notwendig eine „eigene rassengebundene Subjektivität zugrunde“.18 Daher sei es selbstverständlich, dass „nordische Menschen“ die Leistungen der nordischen „Rasse“ und ihr Wesen besonders schätzten.19 „Absolute“, also nicht „rassegebundene“, objektive Urteile gebe es nicht.20 An die Stelle gleicher Rechte und Pflichten solle folglich eine „gerechte“ Verteilung gemäß dem Satz „Jedem das seine“ treten – nach einem ( an dieser Stelle nicht näher bestimmten ) „Leistungsprinzip“, also inegalitär.21 Daher ist die NS - Moralvorstellung aufgrund ihrer rassistischen Grundlage geeignet für relativistische Konsequenzen,22 und ihre Gehalte sind als normativ relativistisch zu charakterisieren.23 In den Worten Tugendhats : „Die Nazis haben den Universalismus verworfen.“24 Böhler spricht von einer Zerstörung des Universalismus,25 und Konitzer konstatiert : „Moral wird im NS gewissermaßen als Eigenschaft von Gruppen angesehen.“26 Damit liegen nicht akzeptable Positionen vor, die auf unzureichenden Argumenten und Vorannahmen beruhen : Einem unbegründeten Rassismus ( Einteilung in „Rassen“), einem nicht begründeten biologischen Determinismus ( Festlegung der Eigenschaften von Einzelnen aufgrund ihrer „Rasse“), einem Sein Sollen- Fehlschluss, sofern versucht wird, aus ( scheinbar ) Faktischem Werte und Normen zu erzeugen bzw. ein genetisch- naturalistischer Fehlschluss in Verbindung mit einem rassischen Voluntarismus bzw. Dezisionismus ( Wertungen der „Rasseneigenschaften“ nach Geschichte, Neigung und Vorurteil ).27 Zu verzeich16 Walther Groß, Der Rassegedanke der Gegenwart. In : Nationalsozialistische Monatshefte, 14 (1943), S. 508–525, hier 513. 17 Ebd., S. 514. 18 Ebd., S. 517. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd., S. 518 f. 22 Vgl. auch Böhler, Die deutsche Zerstörung des politisch - ethischen Universalismus, S. 196 f. 23 In Teilen ist sie sogar in höchstem Maße subjektivistisch, sofern moralische Entscheidungen als gerechtfertigt angesehen werden, nur weil eine bestimmte Person sie getroffen hat. Dies kommt in dem Imperativ von Hans Frank zum Ausdruck : „Handle so, dass der Führer, wenn er von deiner Handlung Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde“ ( zit. nach Werner, Konitzer, Moral oder „Moral“ ? Einige Überlegungen zum Thema „Moral und Nationalsozialismus“. In : Werner Konitzer / Raphael Groß [ Hg.], Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, S. 97–115, hier 112). – Der immense inhaltliche Unterschied zu Kants Kategorischem Imperativ, der hier formal nachgeahmt zu werden scheint, ist wohl überdeutlich, da hier die Suspendierung der eigenen praktischen Vernunft gefordert wird. 24 Ernst Tugendhat, Der moralische Universalismus in der Konfrontation mit der Nazi Ideologie. In : Werner Konitzer / Raphael Groß ( Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, S. 61–75, hier 61. 25 Vgl. Böhler, Die deutsche Zerstörung des politisch - ethischen Universalismus, S. 171. 26 Konitzer, Moral oder „Moral“ ?, S. 108. 27 Vgl. Böhler, Die deutsche Zerstörung des politisch - ethischen Universalismus, S. 178 f.
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nen ist überdies eine mangelhafte Einsicht in die Bedeutung des moralischen Vokabulars bzw. in die Moralsprache und das Sprachspiel des Begründens. – Gleichwohl gibt es in der Moralphilosophie der Gegenwart Positionen, die sich als kritikunfähig gegenüber der NS - Vorstellung von Moral erweisen.
V.
Moralsysteme und ihre Beurteilung auf der Basis eines anderen Moralverständnisses – ein Problem des Relativismus und einiger inadäquater Universalismen
Harman und Williams befür worten einen normativen Relativismus explizit. Ungewollte implizite Nähe zu diesem weisen die Moralkonzeptionen von Walzer und Zimmermann auf – auch wenn sie beide ihre Konzeptionen als „universalistisch“ bezeichnen. Alle genannten Ansätze sind gleichermaßen ungeeignet, die NS - Moralkonzeption begründet zu kritisieren. Grundlegend für Harmans normativen Relativismus ist sein metaethischer Relativismus bzw. seine Unterscheidung von zwei Formen moralischer Urteile, den „evaluative judgments“ und den „inner judgments“, die auf einen normativen Relativismus führen.28 „Inner judgments“ besagen „NN sollte die Handlung H ( nicht ) ausführen“, wobei NN als ein „normales“ Mitglied der moralischen Gemeinschaft betrachtet wird, also sich etwa den gleichen moralischen Grundsätzen verpflichtet fühlt wie derjenige, der jenes Urteil äußert. Bei „inner judgments“ müsste die Moral NNs berücksichtigt werden, und auch, dass NN einen Handlungsgrund wie andere Mitglieder seiner moralischen Gemeinschaft hat.29 Anders sei es bei moralischen Urteilen über Außenstehende, über die man mit „evaluative judgments“ z. B. urteilen kann, sie seien böse : Diese Urteile unterstellen nicht, die jeweils beurteilte Person selbst hätte Gründe gehabt, anders zu handeln. Relativ auf Handlungsgründe sind nach Harmans Auffassung „inner judgments“. Bezüglich politischer Schwerstkrimineller wie Hitler bedeutet das : Über Hitler lasse sich kein „inner judgment“ sinnvoll formulieren, da er jenseits „unserer“ Grenzen der Moral stehe.30 Deshalb sei er nicht zum Gegenstand von „inner judgments“ wie in „Hitler hätte die Massenermordung der Juden nicht befehlen sollen“ zu machen – schließlich teile er „unsere“ Moral und Handlungsgründe nicht.31 Hitler könnte zwar evaluativ als böse bewerten werden, doch sei von einem relativistischen Standpunkt aus nicht mittels eines „inner judgment“ von Hitler zu sagen, er habe mit der Ermordung der Juden moralisch 28 Vgl. Gilbert Harman, Moral Relativism Defended. In : Philosophical Review, 84 (1975) 1, S. 3–22, hier 4. Vgl. zur Darstellung und Diskussion der Auffassungen Harmans auch: Wulf Kellerwessel, Normenbegründung in der Analytischen Ethik, Würzburg 2003, Kap. 1.6. 29 Vgl. ebd., S. 8. 30 Vgl. ebd., S. 7; ders., Das Wesen der Moral, Frankfurt a. M. 1981, S. 127. 31 Vgl. ebd., S. 127.
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falsch gehandelt, da er nicht über objektive Gründe für eine Unterlassung verfügte.32 Eine wichtige Klasse moralischer Äußerungen, die Klasse normativer Sollens - Äußerungen, ist demnach laut Harman relativ. Moralisches Sollen wird von Harman als vierstellige Relation betrachtet. Es betrifft den Handelnden, einen Handlungstyp, Umstände der Handlung und motivationale Haltungen des Handelnden, wozu dessen Gründe gehören, die von seiner Moral abhängen. Dabei binde eine Norm nur diejenigen, die sie auch akzeptieren, also diejenigen, die durch dieses Prinzip motiviert sind.33 Demnach bestehen laut Harman divergierende konsistente Systeme von Normen, die ganz verschiedene Handlungen zulassen. Welche Handlungen moralisch richtig oder falsch seien, hängt von dem jeweils gewählten bzw. akzeptierten Rahmen ab.34 Moral sei interessenabhängig, und ohne Bezug auf Interessen, die als Handlungsgründe wirksam werden, seien moralische Sollensaussagen nicht zu akzeptieren. Die Forderung, NN solle etwas tun, obschon er keinen Grund für die eingeforderte Handlung habe, sei konfus. Da ein Akteur einen an ihn gestellten Sollensanspruch akzeptieren muss, gebe es keine universellen, d. h. nicht auf einen Akteur und seine Gruppe hin relativen moralischen Ansprüche.35 Grundlegend für Harmans Argumentation ist also die Verzahnung von Motiv und Sollensaussage bzw. sein „Internalismus“. Und der schließt wegen entsprechender Motivationslagen eine Kritik an NS - Handlungsweisen mittels „inner judgments“ aus. Auch Williams vertritt einen normativen Relativismus, begründet ihn aber anders als Harman nicht durch einen Internalismus. Williams geht von einem deskriptiven Relativismus aus, also davon, dass es in verschiedenartigen Gesellschaften verschiedene Moralsysteme mit widerstreitenden Handlungsoptionen gibt.36 Diese sind für Handelnde entweder ernsthaft wählbar oder nicht. Beispielsweise sei für uns die Übernahme der Lebensform mitsamt des Normensystems eines mittelalterlichen japanischen Samurai oder eines Häuptlings der Bronzezeit nicht wirklich in Betracht zu ziehen. Zudem stellten sich bei solchen Konfrontationen fremder Lebensformen keine Fragen der ethischen Bewertung ein. Derart fremdartige Handlungskontexte entzögen sich – zumindest partiell – der Bewertung ( weil es an Beziehungen zu unseren Belangen fehle ) und Handlungen wären – partiell – als relativ zu den jeweiligen Lebensformen anzusehen. 32 Vgl. Gilbert Harman / Judith J. Thompson, Moral Relativism and Moral Objectivity, Oxford 1996, S. 60, 62. Die Hinweise auf dieses Buch beziehen sich allesamt auf Textteile von Harman. 33 Vgl. Harman, Das Wesen der Moral, S. 82. 34 Vgl. Harman / Thompson, Moral Relativism and Moral Objectivity, S. 3, 13, 41 f. 35 Vgl. Gilbert Harman, What is Moral Relativism ? In : Alvin I. Goldman / Jaegwon Kim (Hg.), Values and Morals. Essays in Honor of William Frankena, Charles Stevenson and Richard Brandt, London 1978, S. 143–161, hier 152. 36 Vgl. hierzu und zum Folgenden Bernard Williams, Die Wahrheit im Relativismus. In : ders. ( Hg.), Moralischer Zufall, Königstein i. T. 1984, S. 143–154, hier 151 ff. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf ein zentrales Argument von Williams normativem Relativismus und erfassen nicht seinen metaethischen Relativismus. Vgl.
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Der Internalismus, die Verknüpfung von tatsächlichem Motiv und Gesolltem, der zentral für Harmans Relativismus und dessen begrenztes Kritikpotential ist, ist jedoch durchaus strittig. Insbesondere folgende Überlegungen sprechen gegen Harmans Internalismus : 1) Es kann ein guter Grund für oder gegen eine Handlung vorliegen, auch wenn er nicht motiviert. Wenn jemand einem bestimmten Grund nicht folgt, kann dies aufgrund von Motiven wie dominierenden Neigungen, Ängsten, Trieben, Egoismus etc. geschehen. Damit wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Handelnde von dem Grund hätte motiviert sein können oder sollen. 2) Handlungsmotive können nicht allein entscheidend sein für Handlungsbewertungen, sofern erklärt werden können soll, dass man etwas moralisch Gutes auf Basis schlechter Motive tun kann ( und umgekehrt ). Und 3) gibt es Fälle, in denen einem Akteur Handlungsgründe fehlen, über die er verfügen könnte, die er aber mangels ( Bereitschaft zur ) Informationsbeschaffung nicht kennt, und in denen dem Akteur die moralische Verantwortlichkeit nicht abgesprochen wird. Hier ist die Verantwortlichkeit nicht an das tatsächliche Verfügen über motivierende Handlungsgründe gebunden, sondern an die Fähigkeit und Gelegenheit, Handlungsgründe zu erwerben. Das heißt : Handlungsmotive und Handlungsgründe sind zweierlei und voneinander logisch unabhängig. Zudem sind Motive nicht allein entscheidend für Handlungsbewertungen; Gründe, die angeführt werden, sind relevant. Und schließlich kann der Erwerb von Gründen bzw. der Verzicht darauf moralischen Wertungen unterliegen. Damit wird auf eine wichtige Differenzierung verwiesen : Zwischen faktisch vorhandenen Motiven und Gründen, die man haben sollte, ist zu unterscheiden – und letztere sind bezüglich Fragen der Moral bedeutsam. Etwas als Grund anzusehen, heißt, einen neigungsunabhängigen Standard zu akzeptieren. Diese Differenzierung gestattet es, Gründe und irrationale handlungsmotivierende Wünsche etc. auseinanderzuhalten – und lässt eine rationale Kritik an den NS - Moralvorstellungen zu. Damit wird das Hauptargument für Harmans Relativismus mit seinem mangelnden Kritikpotential hinfällig. Williams meint, wenn zwei Lebensformen so stark voneinander abweichen, dass keine Übergangsmöglichkeit von einer zur anderen besteht, sei von Kritik abzusehen. Dies beschränkt Möglichkeiten der Kritik an NS - Moralvorstellungen. Williams’ relativistisches Kriterium und seine Folgen sind inakzeptabel, wie ein Beispiel Putnams vor Augen führt : Liegt eine Konfrontation zwischen einem Juden und dem Nationalsozialismus vor, ist für den Juden ein Übergang zu der anderen Lebensform ausgeschlossen. Trotzdem wird ein Jude deshalb wohl nicht auf Bewertungen der nationalsozialistischen Handlungsweisen zu verzichten haben.37 Aufgrund des involvierten Rassismus scheint sich dieses Beispiel beträchtlich auf andere Menschengruppen übertragen zu lassen, die gleichfalls keine „Übergangsoption“ haben. Auch sie scheinen damit von Kritikoptionen zu einer ausführlicheren Darstellung und Diskussion der Positionen von Williams auch Kellerwessel, Normenbegründung in der Analytischen Ethik, Kap. 1.7. 37 Vgl. Hilary Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997, S. 136.
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ausgeschlossen : Williams’ Ethikkonzeption verfügt auch in solchen Fällen nicht über ein angemessenes Kritikpotential.38 Williams hat zudem nicht bewiesen, dass bei Handlungsevaluierungen Abstraktionen von Kontexten generell unzulässig oder unmöglich sind, so dass Handlungen aus fremden Kontexten unbewertbar wären. Dass entsprechende Bewertungen möglich sind, lässt sich exemplarisch verdeutlichen : In meiner Gesellschaft könnte eine besondere Norm gelten, die ich – nach Williams – als Teil meiner Lebenswelt kritisieren könnte. Eine gleichlautende und daher gleiche Handlungen oder Unterlassungen einfordernde Norm könnte allerdings in einer für mich hinreichend fremdartigen Gesellschaft ebenso Geltung haben. Sie wäre Williams zufolge aber meiner Wertung entzogen. In gleicher Weise könnte ein Angehöriger dieser Gesellschaft die in seiner Lebenswelt geltende Norm kritisieren, nicht aber die gleiche Handlungen gleichermaßen normierende Norm meiner Lebenswelt ! Dies ist inakzeptabel, da die Zugehörigkeit einer Norm zu einer bestimmten Gesellschaft wohl kaum ein notwendiges Kriterium ihrer Kritisierbarkeit darstellt. Die Geltung von Kritiken oder Bewertungen von Normen hängt nicht vom jeweiligen Sprecher und seiner Relation zur Gesellschaft, deren Norm gerade kritisiert oder bewertet wird, ab, sondern von den Gründen, die sich anführen lassen – und die können gesellschaftsübergreifend durchaus dieselben sein. Insofern ist es abzulehnen, in dem Faktum, dass eine spezifische Lebensform für einen selbst nicht realisierbar oder wählbar ist, einen Grund zu sehen, Bewertungen über diese Lebensform für nicht möglich zu halten. Allgemein vorausgesetzt für eine kritische Stellungnahme ist offenbar nur das Verstehen der Normierung ( sowie ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen ). Folglich gehen die Möglichkeiten ( gegenseitiger ) rationaler Kritik weiter, als Williams einräumt. Lediglich Unverständlichkeit kann also als Begrenzung ( berechtigter ) rationaler Kritik ausgemacht werden. Damit ist letztlich auch Williams’ Variante des Relativismus die Basis entzogen. – Explizit normativ - relativistische Moralkonzeptionen, die unfähig sind, die NS - Moralvorstellungen zu kritisieren, sind also ihrerseits schweren Bedenken ausgesetzt. Deren Kritikbeschränkungen nur wegen faktischer Motive oder faktischer Gesellschaftszugehörigkeit sind nicht zu akzeptieren. Einen solchen normativen Relativismus zu vermeiden trachtet Walzer mit seinem „reiterativen Universalismus“39 – ein Universalismus, der sich aus der Inter38 Darüber hinaus besteht für die Konzeption von Williams ein weiteres schwerwiegendes Problem : Bezüglich theoretischer Gehalte geht Williams davon aus, dass es objektives Wissen geben kann. Demnach könnte sich z. B. herausstellen, dass der religiöse Glauben der Azteken auf faktisch falschen Prämissen etwa über die Existenz ihrer Götter beruht. Wenn die Praxis der Azteken auf unwahren Überzeugen beruht, die kritisierbar sein sollen, und Theorie und Praxis miteinander verwoben sind, dann ist wohl auch die Praxis kaum der Kritik entzogen ( vgl. ebd., 138 f.). Dies würde auch für den Rassismus des Nationalsozialismus gelten, sofern der moralisch relevant als Handlungsgrundlage fungiert. 39 Vgl. Michael Walzer, Zwei Arten des Universalismus. In : ders. ( Hg.), Lokale Kritik – globale Standards, Hamburg 1996, S. 139–168.
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pretation von geteilten, wiederholten Grunderfahrungen verschiedener Gesellschaften ergeben soll. Die Moral soll sich von innen heraus entwickeln und innergesellschaftliche Motivationen berücksichtigen. Universalistisch sind dabei die resultierenden Menschenrechte, die sich in bzw. aus den diversen Gesellschaften entwickelt hätten und den NS - Moralvorstellungen entgegengesetzt seien. Weitere gesellschaftsübergreifende oder gemeinschaftstranszendierende moralische Gemeinsamkeiten, Kriterien oder Begründungen sind hingegen nicht eingeschlossen. Zimmermanns moralischer Universalismus ist ausdrücklich gegen den Nationalsozialismus gerichtet und soll als historischer Universalismus40 einen „motivationalen Begründungssinn“ aufweisen.41 Er führt aber letztlich auch auf einen normativen Relativismus, denn er setzt wie Harman auf Motive und wie Walzers Konzeption auf innergesellschaftliche Entwicklungen, die zu einem Universalismus führen sollen – ohne ihn argumentativ gewährleisten oder einsichtig machen zu können. Zimmermann meint mit Blick auf den Nationalsozialismus wohl zu Recht, dass etliche Nationalsozialisten von vielen ihrer Handlungen glaubten, sie seien moralisch „richtig“. Sie verfügten über eine „Alternativmoral“ und hatten ihre je eigenen Erfahrungen, Wert- und Moralvorstellungen sowie Motive, die zu ihren oft mörderischen Handlungsweisen führten. Diese sollten durch die jeweiligen NS - Moralvorstellungen gerechtfertigt sein, die einen Teil der Menschheit nicht als gleichwertige moralische Subjekte anerkennt und demgemäß nicht als solche im Handeln berücksichtigt. Als Reaktion auf diese Unrechtserfahrungen der NS - Zeit empfiehlt sich nach Zimmermann ein menschenrechtlicher Universalismus. Walzers reiterativer Universalismus ist wie Zimmermanns Version eines Universalismus begründungstheoretisch defizitär. Denn auch wenn gleiche Erfahrungen vieler Nationen zu einer allgemeinen Akzeptanz von Menschenrechten beitragen, wie Walzer meint, sind diese damit nicht schon überzeugend begründet. Walzer beschränkt sich auf Ausführungen zur Genese. Aber aus faktischen Erfahrungen allein folgt nichts Normatives bzw. Gesolltes – und erst recht nicht etwas universal Gesolltes, solange keine verbindlichen übergreifenden Kriterien der Interpretation bzw. der Auswahl moralischer Gehalte vorliegen. Bleibt es bei Interpretationen im Ausgang von faktisch vorhandenen Systemen der Moral, können diese Regeln enthalten, die in einem anderen System der Moral „unmo40 Zur Kritik an Zimmermann vgl. Wulf Kellerwessel, [ Rezension zu ] Rolf Zimmermann: Philosophie nach Auschwitz. In : Totalitarismus und Demokratie, 4 (2007) 1, S. 194– 198; Wulf Kellerwessel, Geltungstheoretischer, begründungsorientierter Universalismus versus motivationalem, historischem Universalismus. In : Erwägen – Wissen – Ethik, 20 (2009) 3, S. 444–446; Tugendhat, Der moralische Universalismus in der Konfrontation mit der Nazi - Ideologie. 41 Vgl. Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2005; ders, Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung. Reinbek bei Hamburg 2008; ders, Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt. In : Erwägen – Wissen – Ethik, 20 (2009) 3, S. 415–428.
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ralisch“ sind. Schließlich haben auch Vertreter der NS - Moralvorstellungen gemeint, sie reagierten auf aktuelle gesellschaftliche Fehlentwicklungen und auf – in ihren Augen – wissenschaftliche Entwicklungen moralisch angemessen. Intendiert man eine Bewertung dieser Systeme, bedarf es eines von der Genese unabhängigen Standpunktes und Maßstabes, wenn man nicht auf Kritik verzichten will. Und daran ändert es nichts, dass – wie Walzer konstatiert – oft ähnliche Erfahrungen zu faktisch etablierten, einander ähnelnden Moralsystemen führen, denn wie die NS - Ideologie und die faschistische Ideologie zeigt, gibt es auch andere interpretative Reaktionen. Die Moralsysteme sollen, meint Walzer, zu den Erfahrungen und den damit einhergehenden Erfordernissen passen,42 und wenn diesen auch „unangemessen oder unaufrichtig begegnet werden“ könne, sei doch kaum denkbar, „sie ganz und gar zu verfehlen“.43 Um dies zu entscheiden, scheint ein von der jeweiligen Genese unabhängiger Maßstab vonnöten zu sein – und nimmt man einen solchen an, kann man die gravierenden Verfehlungen des Nationalsozialismus kritisieren.44 Intendiert man wie Zimmermann, die NS - Partikularmoral zurückzuweisen, ist ein moralischer Universalismus als moralisch überlegene Alternative darzutun, und nicht nur als eine Alternative unter anderen zu präsentieren, zu der man motiviert sein kann, aber nicht muss. Dies aber impliziert, dass es nicht nur wie bei Zimmermann um geschichtliche Erfahrungen und erfahrungsbasierte Motivation gehen kann. Denn darauf konnten sich auch die Nationalsozialisten berufen, die aus geschichtlichen Erfahrungen und den historisch sich entwickelnden Vorstellungen des Rassismus ihre Folgerungen zogen. So heißt es z. B. bei Groß : „Der Rassegedanke ist aus dem Blick auf die Natur des Menschen und den Gang der Geschichte entsprungen.“45 Entsprechend konstatiert Strub : „Die einzig gültige Begründungstrategie sind dann [ im Rahmen der Betonung des Deutschen in der NS - Ideologie ] genealogische Erzählungen aus dem, was als ‚deutsche Geschichte‘ ausgegeben wird;“46 inhaltlich sind die resultierenden moralischen Normen jedoch vollständig beliebig.47 Die sich hiermit ergebende Grundschwierigkeit von Zimmermanns und Walzers Position besteht demnach darin, dass die Vertreter des Nationalsozialismus ihre Erfahrungen im Lichte ihrer ideologischen Vorannahmen machen und im Sinne ihrer Ideologien verstehen, und daher zu anderen Wertungen oder Interpretationen kommen, die ihrerseits zu anderen Motiven oder Regelungen füh-
42 Vgl. Walzer, Zwei Arten des Universalismus, S. 162. 43 Ebd., S. 162. 44 Eine umfassende Kritik an Walzers Moralkonzeption findet sich in Wulf Kellerwessel, Michael Walzers kommunitaristische Moralphilosophie, Münster 2005. 45 Groß, Der Rassengedanke der Gegenwart, S. 524. 46 Christian Strub, Gesinnungsrassismus. Zur NS - ‚Ethik‘ der Absonderung am Beispiel von Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“. In : Werner Konitzer / Raphael Groß (Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, S. 171–197, hier 182. 47 Vgl. ebd., S. 183.
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ren. Wie Zimmermann ausführt, glaubten die Nationalsozialisten eben, „richtig“ zu handeln, glaubten also, berechtigten Motiven gemäß zu agieren, und zogen ihre Motive aus ihren jeweiligen Geschichtsverständnissen. Deren „psycho - moralische Einstellung“ und ihre Neigungen können wegen anderer ideologischer Grundlagen eben deutlich anders sein als die anderer Menschen – und daher reicht es philosophisch – contra Harman und Zimmermann – nicht aus, bei den Einstellungen und Motiven anzusetzen, ohne überzeugende Gründe zu mobilisieren. Den Universalismus als vorzugswürdig zu erweisen ist nur möglich, wenn er eine Alternative darstellt, die nicht bloß gleichwertig neben anderen historisch herausgebildeten Moralsystemen steht, die auf ihren je eigenen Gruppenbildungen, Erfahrungen, Interpretationen und Wertungen beruhen – seien diese geltungstheoretisch explizit als relativistische konzipiert wie im Nationalsozialismus, bei Harman oder Williams, oder seien sie geltungstheoretisch nur implizit relativistisch wie bei Walzer und Zimmermann. Deutlich zu machen ist vielmehr, dass es sich bei dem Universalismus um eine normative Position handelt, die zu Recht bzw. überzeugend begründet Geltung beanspruchen kann. Die diskutierten Positionen scheinen einen gemeinsamen Fehler in verschiedenen Varianten zu präsentieren. Sie alle gewichten Fragen der Entstehung moralischer Aspekte bzw. der Moralgenese zu hoch. Harman misst der Bedeutung der Entstehung von Motiven einen besonderen Stellenwert bei, und vernachlässigt darüber Geltungsaspekte. Williams knüpft moralische Bewertungen an ihren jeweiligen gesellschaftlichen Ursprung, beschneidet somit ihre kritische Reichweite und begrenzt ihre Geltung. Walzer setzt auf die Entstehung von moralischen Regeln in Gemeinschaften und übersieht, dass in der Entstehung keine Berechtigung per se inkorporiert ist, und dies gilt auch für die Entwicklung universaler Moralvorstellungen in einzelnen Gesellschaften, wie sie Zimmermann anvisiert. Sie alle nutzen eine Methode, die auch im Nationalsozialismus Ver wendung gefunden hat : Man kreiert eine Moral oder wichtige Teile einer Moral als eigenen Motiven und Erfahrungen gemäße Reaktion auf die gesellschaftlichen Umstände, und glaubt, damit zugleich eine tragfähige Begründung der Moralkonzeption zu haben. Doch aus der Genese folgt nicht die Geltung – sonst würde alles Entstandene zugleich auch Geltung haben, und dies verhinderte jegliche Kritik. Und die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände geben auch keinen normativen Maßstab für eine Entwicklung vor : Die nationalsozialistischen Moralvorstellungen sind nämlich ebenfalls als Reflex auf die Zeitumstände entstanden, auch wenn sie inhaltlich ganz anders gefüllt sind als die anderen genannten Positionen.
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VI.
Wulf Kellerwessel
Diskursanalytischer Universalismus48
Eine begründete Universalmoral lehnt jeglichen normativen Relativismus ab und unterscheidet sich vom reiterativen und historischen Universalismus vor allem dadurch, dass sie nicht nur genetisch hergeleitet ist und auf Motive bzw. gemachte Erfahrungen abzielt; sie zielt auf rationale Rechtfertigung. Denn den Universalismus aus der Universalisierungsdynamik der Geschichte resp. aus seiner Genese zu verstehen, ist etwas grundlegend anderes, als den Universalismus zu begründen. Letzteres ist eine Frage der Rationalität von Argumenten, ersteres eine Frage der kontingenten Geschichtsentwicklung ( die mit der Vernunft harmonieren kann, aber nicht muss ). Das heißt : Das bloße Vorhandensein verschiedener Moralsysteme, ein deskriptiver Relativismus, und die Genese dieser Moralen kann die Geltungsfrage nicht entscheiden. Wichtig sind deshalb die Bemühungen um eine argumentativ verbesserte Moralbegründung bzw. diskursive Absicherung grundlegender Normen, die für jeden sprachkompetenten Menschen einsichtig sind. Einschlägig sind diskursive Fähigkeiten, nicht mehr. Bei einem solchen Zurückgreifen auf Diskurse und Begründungssprachspiele handelt es sich um einen Sprachapriorismus, der sich auf die Kulturgrenzen und ethnische Zugehörigkeiten überschreitende Fähigkeit zum rationalen Diskurs stützt – und nicht auf mehr. Die Einsicht in das korrekte Verfahren des Begründens ist allen sprachfähigen Menschen möglich, und die Aufgabe der Moralphilosophie scheint darin zu bestehen, möglichst gute Gründe aufzudecken. Gerade weil es beim Begründen um Sprache und sprachliche Regeln geht, die auch über das Ge- oder Misslingen von Begründungen entscheiden, bietet es sich an, mit Hilfe solcher Überlegungen nach Begründungen für wichtige Normen und Menschenrechte zu suchen, die alle Sprachfähigen einsehen können und schützen. Dies schließt einen Rassismus und Antisemitismus wie jede andere politisch motivierte Gruppenselektion von vornherein begründet aus. Auch Nationalsozialisten, die versuchen, ihre Positionen zu begründen, verwenden die normale Sprache und sind ihren intersubjektiv geltenden Regeln unterworfen. Das gilt ebenso für die Regeln des Argumentierens : Nach denen liegt eine überzeugende Begründung nur dann vor, wenn jeder Sprachkompetente sie nachvollziehen kann und sie jeden Sprachfähigen gegenüber einsichtig gemacht werden kann, der den Regeln des Sprachspiels des Begründens folgt. Dazu zählen selbstverständlich alle sprachfähigen Personen derjenigen Gruppen, gegen die die Nationalsozialisten vorgegangen sind bzw. die sie verfolgt haben. Und dies impliziert, dass alle Diskursteilnehmer fortwährend unversehrte Diskursteilnehmer bleiben und damit als Diskursteilnehmer zu schützen sind. 48 Vgl. zum Folgenden ausführlich Wulf Kellerwessel, Normenbegründung in der Analytischen Ethik, Würzburg 2003, Kap. 3, und ders., Michael Walzers kommunitaristische Moralphilosophie, Kap. 3.3.
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Eine diese Grundidee ausbuchstabierende diskursanalytische Normenbegründung lässt sich wie folgt skizzieren : Versteht man unter einem „Diskurs“ das sprachliche Medium des Argumentierens, Bestreitens und Begründens, dann gelten in Diskursen verschiedene sprachliche Regeln. Dazu gehört die Sprachregel : Beim Behaupten, Argumentieren und Bestreiten werden – implizit – von den Sprechern Begründungspflichten übernommen. Denn die entsprechenden Äußerungen wären nicht nur unbegründet, sondern auch witzlos, wenn nicht einmal der Sprecher sie für verteidigenswert erachtete. Diese Begründungspflichten bestehen gegenüber beliebigen Diskursteilnehmern, denn ein Argument kann nur dann als überzeugend klassifiziert werden, wenn es ( theoretisch) jeden Diskursfähigen überzeugen kann – jeden, der in der Lage ist, der Argumentation zu folgen. Daraus ergibt sich, dass Geltungsansprüche ( wiederum theoretisch betrachtet ) gegenüber allen Diskursfähigen erhoben werden und einzulösen sind, wenn Argumente überzeugend sein sollen. Tatsächlich überzeugend können sie nur dann sein, wenn sie gegen kritische Nachfragen oder gegen alternative Thesen verteidigt werden können. Dies schließt ein, dass solche Fragen von den Teilnehmern des Diskurses auch gestellt bzw. derartige Thesen aufgestellt werden können. Da aber alle Teilnehmer zu überzeugen sind, müssen auch alle Fragen stellen oder Thesen vorbringen dürfen. Insoweit herrscht eine formale Gleichheit im Diskurs, die die Wahl von Sprechakten des Behauptens, Bestreitens etc. betrifft. Dabei spielt die ethnische Herkunft der Sprecher im Gegensatz zu ihrer Sprachkompetenz bzw. ihrer Befähigung, sprachlichen Regeln gemäß zu agieren, keine Rolle. In jedem Diskurs gelten bestimmte Regeln, die den Bereich von Äußerungen ( von beliebigen Sprechern formulierten Aussagen ), die überzeugend begründet werden können, einschränken. Neben semantischen ( logischen ) Widersprüchen, also ( formal- )logischen Fehlern, gibt es auch pragmatische Widersprüche, die nicht hinzunehmen sind. Pragmatische Widersprüche zeichnen sich allgemein dadurch aus, dass mit ihrem Äußern etwas getan wird, was gemäß dem Gehalt der Äußerung ( ihrer Information für den Adressaten ) ausgeschlossen ist. Dergleichen liegt beispielsweise vor, wenn jemand etwas sagt bzw. ausspricht wie „Ich spreche jetzt nicht“ oder „Ich bin tot“. Äußerungsakt und Äußerungsinhalt stehen also in einem nicht - semantischen Widerspruchsverhältnis zueinander. Die Tatsache des Äußerns ist unvereinbar mit dem Gesagten. Diese pragmatischen Widersprüche spielen eine zentrale Rolle in der diskursanalytischen Ethik, denn auch diejenigen pragmatischen Widersprüche sind inakzeptabel, die beim Erheben von Geltungsansprüchen auf normative Richtigkeit in Erscheinung treten. Dies kann folgendes Beispiel verdeutlichen : Äußert ein Sprecher „‚Norm N1 soll eingehalten werden‘, aber diese Aussage beansprucht nicht, richtig zu sein“, ist seine Äußerung als pragmatisch widersprüchlich zu klassifizieren : Ihr zweiter Teil fordert implizit, N1 nicht für tatsächlich gesollt zu halten. Analog ist es für einen Sprecher nicht möglich, überzeugend dafür zu argumentieren, dass er keine Begründungspflichten habe, wenn er für normative Forderungen argumentiert : Fragte jemand nach einer Begründung
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für eine normative These, bleibt sie entweder unbegründet, so dass für einen Nachfragenden kein argumentativ einsichtiger Grund dafür besteht, sie zu übernehmen, oder der Sprecher begründet seine These versuchsweise, so dass er damit doch den Versuch unternimmt, seiner Begründungspflicht nachzukommen. Dies zeigt an, dass er doch eine Begründungspflicht anerkannt hat. Der in dem Bestreiten implizierte pragmatische Widerspruch ist damit aufgedeckt. Auch dies lässt sich mit Hilfe eines Beispiels illustrieren : „Niemand soll ( auf Nachfrage hin ) irgendeine Norm begründen“ stellt selbst eine Norm dar. Bliebe sie auf eine Nachfrage hin unbegründet, wäre ein Opponent frei, sie nach wie vor abzulehnen ( ohne damit einen Argumentationsfehler zu begehen ); versuchte ein Vertreter der These, sie zu begründen, erzeugte er einen pragmatischen Widerspruch, sähe er sich doch verpflichtet, auf die Nachfrage hin eine Norm zu begründen, womit er einen normativen Anspruch anerkennt bzw. ihm Folge leistet, der auf Begründung abzielt. Der Vollzug sprachlicher Handlungen wie „Behaupten“, „Bestreiten“, „Bezweifeln“ usw. stellt immer auch ein Eintreten in ein diskursives Verfahren dar, in dem verschiedene sprachliche bzw. Argumentationen betreffende Regeln gelten. Folglich gibt es keine Rechtfertigung, Begründung usf. gegenüber jemandem, die nicht den Regeln des Diskurses unterliegen. Diese noch zu explizierenden Regeln der Diskurse gelten für alle Diskursteilnehmer als sprachliche Regeln gleichermaßen, was aber faktische Regelverletzungen nicht ausschließt. Diskurse haben demnach Voraussetzungen, die einzuhalten sind, wenn man fehlerfrei zu argumentieren intendiert. Das bedeutet : Bestimmte Regeln sind präsupponiert und von den Diskursteilnehmern anzuerkennen ( was allerdings implizit bleiben kann ). Dies gilt auch für Diskurse, in denen über normative Gehalte gesprochen wird. Aufzuzeigen ist nun, dass ein solcher Diskurs auch die Geltung einiger moralischer Grundnormen präsupponiert, dass also jemand, der an Diskursen teilnimmt, diese grundlegenden Normen schon akzeptiert bzw. zu akzeptieren hat. Die entsprechende Grundthese der diskusanalytischen Nomenbegründung besagt demgemäß : Jeder Diskursteilnehmer, und damit auch jeder, der nach der Geltung von Normen fragt, hat schon bestimmte moralische ( und nicht nur den korrekten Sprachgebrauch als solchen betreffende ) Normen ( explizit oder implizit ) anerkannt. Diese können von ihm nicht bestritten werden, ohne pragmatische Widersprüche zu begehen. Solche Normen, die jeder Disputant also immer schon zumindest implizit anerkennt, kann er sinnvoll nicht mehr in Frage stellen, und gerade damit sind sie vor jedem geäußerten Zweifel sicher und argumentativ überzeugend abgesichert. Denn alle Teilnehmer des Diskurses haben die Erlaubnis, ihrerseits Sprechakte des Behauptens ( Thesenaufstellens ), Bestreitens usf. zu wählen und zu vollziehen. Und Begründungspflichten bestehen, wie gezeigt wurde, ( zumindest theoretisch ) gegenüber allen Diskursteilnehmern. Der entscheidende Punkt ist nun, dass Ansprüche auf Richtigkeit gegenüber beliebigen Diskursteilnehmern erhoben werden, die gegen bzw. für diese einzulösen sind. Dies ist nur möglich, wenn diese Teilnehmer am Diskurs ihrerseits
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in ihrer Kommunikation nicht derart gehindert werden, dass von einem Überzeugen von der beanspruchten Richtigkeit letztlich nicht mehr die Rede sein kann. Demgemäß sind die Diskursteilnehmer verpflichtet, die intendierten Redebeiträge von den anderen Teilnehmern am Diskurs nicht zu unterbinden. Der Diskurs muss demzufolge zwanglos sein, und nur der „zwanglose Zwang“ des besseren Arguments ( um Habermas’ berühmte Formulierung aufzugreifen) darf in ihm herrschen. Dies bedeutet aber, dass mit dem Annehmen der Diskursnormen das Annehmen einzelner moralischer Grundnormen schon vollzogen ist. Das bedingt, dass letztere ebenso wenig wie die zuvor genannten im Diskurs zu Recht bezüglich ihrer Geltung bestritten werden können. Schließlich besteht die immer schon als geltend akzeptierte Diskursregel, nach der jeder Sprechakte frei wählen darf. Folglich hat jeder diejenigen Grundnormen als geltend zu unterstellen, die für die Diskursteilnahme und Sprechaktwahl präsupponiert sind. Auch dies lässt sich nachweisen, indem exemplarisch pragmatische Widersprüche aufgedeckt werden, wenn Versuche unternommen werden, dies abzustreiten : Die Äußerung „Ich akzeptiere, dass du im Diskurs Sprechakte frei wählen und ausführen darfst und bestreite zugleich, dass ich die notwendige Bedingung der Möglichkeit dessen, zu der zumindest gehört, dich nicht zu ermorden, hinzunehmen habe“ lässt sich als pragmatisch selbstwidersprüchlich klassifizieren. Denn beim Vollzug dieser Äußerung entwertet der Nachsatz den vorderen Teil des Äußerung : Sich selbst sowohl die Erlaubnis zu geben, die frei wählbaren Sprechaktvollzüge einer Person ( durch Ermordung ) generell zu verhindern als auch die Freiheit der Person, diese Vollzüge frei zu wählen, zuzugestehen, entwertet die Äußerung insgesamt. Es bestehen also zwischen den Diskursregeln und dem Einhalten von einigen Grundnormen durchaus nicht - kontingente Beziehungen. Einige dieser Normen bzw. ihre Einhaltungen sind notwendige Bedingungen für das Achten der Diskursregeln. Verletzt jemand jene grundlegenden Normen, verletzt er per se die zu akzeptierenden Regeln des Diskurses. Ist erwiesen, dass letzteres nicht zulässig ist, so gilt das auch für die Übertretung von denjenigen Normen, bei denen es sich um diskurssichernde oder diskurserhaltende Normen handelt. Ausgeschlossen werden somit bestimmte nichtsprachliche Eingriffe in das sprachliche Handeln im Diskurs, und dazu bedarf es der Einhaltungen von bestimmten Normen und der Verhinderung entsprechender Normenverletzungen. Soll die freie Wahl von Sprechakten gewährleistet werden, ist Folgendes augenscheinlich unmöglich zulässig : 1) Die Ermordung eines Diskursteilnehmers, weil dies diesem jegliche Chance nimmt, überhaupt Sprechakte zu wählen und auszuführen ( und zwar dauerhaft ). Entsprechend gilt die Grundnorm : Man darf niemanden ermorden. 2) Die Vereitelung der freien Wahl von Sprechakten seitens jeweils anderer Diskursteilnehmer durch Eingriffe in deren Autonomie. Dazu zählen gesundheitliche Beeinträchtigungen und Eingriffe in die Handlungs- und Willensfreihei-
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ten. Dies führt auf ein Verbot von Verstümmelung, Verletzung und (physischer wie psychischer ) Vergewaltigung sowie auf ein Verbot der Freiheitsberaubung, der Erpressung und der zwangsweisen Verabreichung von Drogen. Derartige Handlungen sind zu keinem Zeitpunkt erlaubt ( zumindest, sofern kein Normenkonflikt vorliegt ), weil sie alle die Diskursfähigkeit einzelner Diskursteilnehmer ( auf Zeit ) beeinträchtigen. Gleichfalls verboten sind die Androhungen solcher Handlungsweisen, sofern sie zur Vereitelung der freien Wahl oder Verwendung von Sprechakten führen. 3) Zudem ergibt sich aus dem Verbot, freie Sprechakte anderer zu unterbinden, das moralische Recht auf Meinungs- und Redefreiheit. Hinzuzufügen sind ferner die Verbote von denjenigen Lügen oder Täuschungen, die die Diskursfähigkeit des Belogenen oder Getäuschten eliminieren oder untergraben. Das Leben, die Psyche und der Leib inklusive seiner Bewegungsfreiheit sind, soll eine freie Beteiligung am Diskurs als möglich gewahrt bleiben, normativ zu schützen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, dass ein Infragestellen dieser Normen im Diskurs sich deutlich vom Bezweifeln der Gültigkeit anderer Normen, die nicht diskurssichernd sind und die Diskursteilnehmer in ihrer geistigen Integrität und leiblichen Autonomie schützen, unterscheidet. Der Unterschied wird dadurch deutlich, dass die genannten diskurssichernden Normen nicht mehr Gegenstand von Verhandlungen sein können, weil ein Bezweifeln dieser mit den Diskursregeln konfligiert und zu pragmatischen Widersprüchen führt. Das heißt, man kann nicht jemandem aufrichtig die freie Wahl und Ausführung von Sprechakten gleichberechtigt zubilligen und zugleich diesem Diskursteilnehmer die Möglichkeit dessen durch Ermordung, Verstümmelung, Verletzung oder Freiheitsberaubung ( respektive durch entsprechende Drohung mit solchen Handlungsvollzügen ) entziehen. Werden demzufolge diese Grundnormen im Diskurs thematisch, dann werden sie als schon eingehaltene resp. im Diskurs einzuhaltende erkannt.49 Diese allgemeinen Diskursbedingungen gelten für alle diskursfähigen Wesen – und damit auch für Vertreter nationalsozialistischer Auffassungen. Soweit diese mit den Erfordernissen der diskursanalytischen Ethik unvereinbar sind, sind die aufzugeben; sie lassen sich nicht überzeugend in einem Diskurs verteidigen bzw. begründen. Den genannten Argumenten kann man sich auch nicht auf einen begründete Art und Weise durch Verzicht auf eine Teilnahme am Diskurs entziehen. Denn wer sich dem Diskurs ver weigert, kann seine Position gar nicht begründen – und dies gilt auch für nationalsozialistische Diskursverweigerer. Begründet ausschließen aus dem Diskurs kann man niemanden, der sprachfähig ist ( derglei49 Allerdings können Diskursteilnehmer rationaler Weise die Einhaltung dieser Grundnormen ihnen selbst gegenüber freiwillig suspendieren, z. B. um wegen der künftigen Diskursfähigkeit einem Arzt die Erlaubnis zu geben, Narkosemittel zu verabreichen, Schmerzen durch Operationen zuzufügen usw.
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chen Versuche sind pragmatisch selbstwidersprüchlich ). Eine willkürliche Entscheidung, wer teilnimmt resp. teilnehmen darf oder nicht, lässt sich ebenfalls nicht begründen – was unterbindet, dass Personen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit oder rassistischer Positionen wie der des Nationalsozialismus ausgeschlossen werden. Diese universalistische diskursanalytische Ethik führt, dies sollte durch diese Begründungsskizze deutlich geworden sein, auch zu einer universalistischen Kritik an der nationalsozialistischen Moralvorstellung. Daher ist diese Position nicht wie der normative Relativismus wegen seines mangelnden Vermögens der Kritik an der nationalsozialistischen Moralkonzeption zu kritisieren. Da die diskursanalytische Ethik aber eine begründete Kritik an der nationalsozialistischen Moralvorstellung impliziert, ist sie in dieser Hinsicht nicht nur den bloß scheinbar universalistischen Positionen von Walzer und Zimmermann, sondern auch den relativistischen Vorstellung von Harman und Williams deutlich überlegen.
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Nationalsozialismus – Bolschewismus – Universalismus. Moralische Transformationen in der Geschichte als Problem der Ethik Rolf Zimmermann Die totalitären Formationen des Nationalsozialismus ( NS ) und Bolschewismus haben im 20. Jahrhundert zu epochalen Katastrophen geführt, die nicht nur wegen der damit verbundenen menschlichen Tragödien immer wieder Gegenstand von historischer Forschung und erinnernder Rückbesinnung sind, sondern auch wegen ihrer moralischen Relevanz der näheren Analyse bedürfen. Herkömmliche Vorverständnisse über Moral scheinen ins Wanken zu geraten, wenn man sich den Motiven der Protagonisten der Massenverbrechen des Holocaust oder des Holodomor zuwendet. Nicht weil es keine Maßstäbe gäbe, um diese Verbrechen zu verurteilen, sondern weil diese auf eine scheinbar paradoxe Diagnose verweisen. Je mehr nämlich das Selbstverständnis der leitenden oder beteiligten Akteure oder der Anhänger totalitärer Bewegungen in den Blick kommt, umso mehr wird die Einsicht bestärkt, dass die Vernichtung der Juden oder Kulaken unter normativen Vorzeichen geschieht, die sich zum Bild einer je anders gearteten Moral verdichten. Daher halte ich es für angebracht, von Rassenmord oder Klassenmord aus Moral zu sprechen.1 Ein solcher Ansatz ruft dann Widerspruch hervor, wenn man von einem feststehenden Begriff von Moral im Singular ausgeht und diesen wie selbstverständlich mit Konnotationen einer unveränderlichen, geradezu heiligen Instanz verbindet. Eine solche Sichtweise ist jedoch nicht länger haltbar, wenn historische Erfahrungen ernst genommen werden, die substantielle moralische Veränderungen von Menschen enthüllen und auf moralische Transformationen tiefreichender Art verweisen. Darüber hinaus sensibilisieren solche Entwicklungen für die Frage, wie denn der historische Status des modernen Universalismus selbst zu fassen sei und wie man sich zu dem Problem stellen sollte, dass sich divergierende Moralen in der Geschichte entfalten. Im Folgenden konzentriere ich mich auf einige Hauptpunkte meines komparativen Ansatzes zur moralischen Pluralität in der Geschichte im Kontext ein-
1
Vgl. Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2005; ders., Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung, Reinbek bei Hamburg 2008.
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schlägiger Diskussionen.2 Es kommt mir darauf an, Begriffe zu enwickeln, die der moralichen Diversität in der Geschichte Rechnung tragen. Dabei ist wichtig, die Rede von „Moral“ zu differenzieren und die komparative Untersuchung von Moralen angemessen in Stellung zu bringen (I.). Zweitens geht es darum, den Moralvergleich am Leitfaden des moralischen Universalismus sowohl in deskriptiver als auch normativer Hinsicht auszurichten. Auf diese Weise erreiche ich kontrastierende Charakterisierungen des NS (II.) wie des Bolschewismus (III.), die unter Einbeziehung der Selbstinterpretationen in diesen Formationen auf die jeweils passende moralphilosphische Kennzeichnung führt. Ein Resultat meiner Analyse besteht darin, dass nicht nur der NS, sondern auch der Bolschewismus eine Form partikularistischer Moral verkörpert. Im Zuge dieser Analyse wird das geschichtlich - moralische Bild des Menschen erneut zur Frage und motiviert eine historisch - systematische Konzeption des egalitären Universalismus (IV.).
I.
Einleitende Bemerkungen zu „Moral“ und Methode
Bei den moralischen Gegensätzen und Transformationen, die ich diskutiere, sind drei Ebenen der Untersuchung zu unterscheiden. Zunächst kann man in formaler Weise nach einem allgemeinen Begriff von Moral fragen, ohne bereits vorab zu entscheiden, was als „wahre“ oder einzig „akzeptable“ Moral zu gelten hat. Auf dieser Ebene geht es darum, Normen oder Imperative ins Auge zu fassen, die von einer Gemeinschaft zugrunde gelegt werden, um ihr soziales Leben zu regeln und entsprechende Sanktionen festzulegen, die wechselseitig anerkannt werden, falls relevantes abweichendes Verhalten zu ahnden ist. Dieser Untersuchungsebene, die damit stichwortartig umrissen sein mag, gilt meine Untersuchung nicht. Ich führe sie nur an, um einen möglichen formal - allgemeinen Begriff von Moral von unterschiedlichen moralisch - inhaltlichen Bestimmungen zu unterscheiden, die ihn ausfüllen können.3 Es ist wichtig, die Fragestellung eines formalen Begriffs von Moral zu betonen, weil damit eine unreflektierte Beschränkung auf eine bereits akzeptierte Moral vermieden werden kann und die Perspektive offengehalten wird, empirische Studien zur unterschiedlichen moralischen Selbstinterpretation von Menschen einzubeziehen, nicht zuletzt solche der Sozialanthropologie.4 2
3
4
Vgl. ders., „Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt. Hauptartikel mit kritischer Diskussion“. In : Erwägen Wissen Ethik ( EWE ), 20 (2009) 3, S. 415–485; ders., „Replik : Moralisch - geschichtliche Selbstauslegung als Problem der Ethik“. In : EWE, 20 (2009) 3, S. 485–496. Ein allgemeiner sozialer Begriff von Moral findet sich schon bei Peter F. Strawson, „Social Morality and Individual Ideal“. In : ders., Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 26–44. Als gegenwärtig produktivster Ansatz zu einem formalen Begriff von Moral kann gelten : Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, 2. Auflage München 2010, Kap. 5. Vgl. Monica Heintz, „Introduction : Why there shoud be an Anthropology of Moralities“. In : dies. ( Hg.), The Anthropology of Moralities, New York 2009, S. 1 ff.
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Damit kommen wir zur zweiten Untersuchungsebene, die zentrale Punkte meiner Analyse betrifft. Hierbei kommt es darauf an, verschiedene Konzeptionen von Moral zu bestimmen, wie sie sich im NS, im Bolschewismus und im universalistischen Paradigma des Westens manifestieren. Ziel ist ein qualitativer Vergleich der Moralen und ihre komparative Beurteilung angesichts der welthistorischen Bedeutung, die sie erlangt haben. Nach meiner Überzeugung sind haltbare Ergebnisse auf diesem Gebiet nur zu erreichen, wenn wir historische Forschungen zum NS und Bolschewismus mit philosophischer Sensibilität für moralische Fragen verbinden.5 Zweifellos bieten Hannah Arendts Schriften zum Totalitarismus bis heute wichtige Anhaltspunkte der Forschung. Jedoch bedarf die Analyse der moralischen Dimension beider Totalitarismen eines revidierten begriff lichen Rahmens, um moralische Selbstinterpretationen von Menschen in der Geschichte zu bestimmen. Dabei haben die letzten Jahre zur Betonung eines „moral turn“ in der Geschichtsschreibung geführt.6 Parallel dazu plädiere ich für einen „historical turn“ in der Ethik.7 Dabei ver wende ich „Ethik“ im Verständnis von „Moralphilosophie“, zu deren Gegenstandsbereich Moral oder Moralen in welcher inhaltlichen Bedeutung auch immer gehören. Schließlich wird die dritte Ebene meiner Untersuchung von der Frage geleitet, wie die Moral des egalitären Universalismus geschichtlich zu verstehen ist, wie sie sich zu Menschenrechten entfaltet hat und wie sie systematisch gerechtfertigt werden kann. Die Frage der Rechtfertigung bzw. Begründung kann hier nur in Grundzügen erörtert werden. Es genügt für meine gegenwärtigen Zwecke, wenn es mir zu zeigen gelingt, dass Hoffnungen in eine apriorische oder anthropologische Rechtfertigung des Universalismus vergeblich sind. Worauf 5
6
7
Dabei stimme ich überein mit Jonathan Glover, Humanity. A Moral History of the Twentieth Century, Pimlico, London 2001. Im Gegensatz zu Jean - François Lyotard ( Le Différend, Les Éditions de Minuit, Paris 1983, sect. 93) meine ich nicht, dass Auschwitz ohne die Kompetenz historischer Forschung analysiert werden kann. Für wenig hilfreich halte ich auch Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, um zu einer angemessenen Interpretation des NS zu gelangen. Als ebenso fragwürdig erscheint die Globalperspektive von Agamben, der die Konzentrationslager zum „Nomos“ der Moderne erklärt. Dabei erreicht seine Interpretation von Auschwitz kaum mehr als eine Wiederaufnahme von Arendts „Banalität des Bösen“ und Primo Levis Erfahrungsbericht zu Auschwitz. Es reicht nicht aus, mit Levis Charakterisierung des „Muselmanns“ das Gesamtphänomen zu fassen : Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003. Auch wenn Agamben zu Recht einen Bruch des ethischen Denkens sieht, greifen seine Überlegungen hinsichtlich einer moralphilosophischen Begrifflichkeit zu kurz. Vgl. George Cotkin, „History’s Moral Turn“. In : Journal of the History of Ideas, vol. 69 (2008), S. 807–831. Vgl. ebenso Charles S. Maier, „Consigning the Twentieth Century to History : Alternative Narratives for the Modern Era“. In : American Historical Review, vol. 105 (2000), S. 807–831. Für das 20. Jahrhundert entwickelt Maier die Perspektive „moralischer Narrative“. Vgl. Berel Lang, „Philosophy’s Contribution to Holocaust Studies“. In : Eve Garrard / Geoffrey Scarre ( Hg. ), Moral Philosophy and the Holocaust, Aldershot, Burlington 2003, S. 8 : „the Holocaust should teach philosophy to ‚speak history‘“.
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wir hoffen können, so scheint es, sind zwischenmenschliche Beziehungen, die zur Kultivierung von psycho - moralischen Einstellungen führen, die Toleranz gegenüber menschlicher Verschiedenheit aufbringen und den menschlichen Umgang von Diskriminierung freihalten.
II.
Gattungsbruch : Das Problem der moralischen Andersheit im Nazismus und die Analyse moralischer Divergenz
Die moralische Katastrophe des Holocaust wird zu Recht als die schlimmste Folge der NS - Herrschaft angesehen und regt immer neu zur Interpretation an. Die „Präzedenzlosigkeit“ des Holocaust ( Yehuda Bauer )8 ver weist nicht nur auf Herausforderungen für Historiker, sondern auch für Philosophen, um nach dem moralischen Bild des Menschen zu fragen. In den letzten zwanzig Jahren hat die Forschung sehr detaillierte Studien zum Holocaust hervorgebracht, die ihn als Gesamtgeschehen zu sehen erlauben. Man muss das ganze Spektrum der Judendiskriminierung und - verfolgung seit 1933, die terroristische Unterdrückung seit 1938/39, die Massenmorde im Gefolge der „Ostfeldzüge“ bis zur sogenannten „Endlösung“ in den Gaskammern von Auschwitz seit 1942 in den Blick nehmen, um zu einer differenzierten Durchdringung des Geschehens zu gelangen. Vor dem Hintergrund der historischen Forschung, für die ich stellvertretend Saul Friedländer und Peter Longerich nenne, erreiche ich die folgende Interpretation des Holocaust in moralischen Begriffen : Als zentrales Merkmal des NS hat seine Verurteilung des Judentums oder schlicht „der Juden“ und sein permanenter Kampf gegen den „jüdischen Feind“ zu gelten. Der Nazismus bestreitet den Juden das Existenzrecht und verlässt durch seine Vernichtungsstrategien und - praktiken den Pfad der moralischen Einheit der menschlichen Gattung. Unter der Menschheit wird nicht länger die Gesamtheit aller menschlichen Wesen verstanden, sondern diese wird aufgespalten in solche, die echte menschliche Wesen sind und solche, die es nicht sind. Der NS führt eine neue Werteordnung ein, die eng mit seiner „Weltanschauung“ einhergeht, die als einen Kernbestandteil das Dogma von der „jüdischen Weltverschwörung“ enthält, als deren Quelle die „Protokolle der Weisen von Zion“ herangezogen werden. Obwohl dieses „Dokument“ eine eklatante Fälschung darstellt, wurde es vom Nazismus für völlig echt gehalten. Die Juden wurden nicht nur als Feinde der arisch - deutschen Gemeinschaft angesehen, sondern der ganzen Menschheit. Der NS konstruiert eine Feindschaft gegenüber dem Judentum als eines homogenen Kollektivs, das bestimmte essentielle Qualitäten als Volk oder Rasse in sich trägt, die sich in striktem Gegensatz zu dem arisch - deutschen Kollektiv, der „Volksgemeinschaft“, befinden. Die Juden behindern die Mission der arisch - germanischen Rasse zur Entfaltung ihrer kreativen
8
Yehuda Bauer, Rethinking the Holocaust, New Haven 2001, S. 20.
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und idealistischen Potenziale und sie verneinen das Prinzip der Geschichte, das in einem „ewigen“ Kampf zwischen Rassen besteht.9 Die Konstruktion gegnerischer Qualitäten in kollektivistisch - rassistischen Begriffen führt dazu, die Juden als eine quasi geistige Rasse zu sehen, die für das universalistische Selbstbild des Menschen im Zuge der Französischen Revolution unter der Idee der menschlichen Gleichheit verantwortlich ist.10 Deshalb ist der nazistische Kampf gegen die Juden ein Kampf gegen das universalistische Selbstbild des Menschen. Der Radikalismus dieses Typus des Antisemitismus definiert das Leitmotiv für den Holocaust. Damit sind andere Motive nicht ausgeschlossen, so dass nicht jede Demütigung von Juden und nicht jede gegen sie begangene Scheußlichkeit im Zuge ihrer Verfolgung und Vernichtung unter das Leitmotiv eingeordnet zu werden braucht. Doch die existenzielle Feindschaft gegenüber der vermeintlich allumfassenden jüdischen Bedrohung bildet den Rahmen der anti - jüdischen Aktivitäten und Operationen auf unterschiedlichen Ebenen. Ich schlage den Terminus „Gattungbruch“ vor, um den NS - Radikalismus in moralischen Begriffen zu kennzeichnen. Dieser Vorschlag soll erfassen, dass traditionelle moralische Grenzen überschritten wurden, um die Transformation der Menschheit in eine neue Welt des moralischen Andersseins, der moralischen Andersheit zu ermöglichen.11 Auf längere Sicht jedoch waren es nicht nur die „jüdischen“ Ideen der menschlichen Gleichheit, die abgeschafft werden sollten, sondern auch christlich - humanistische Traditionen. So denunzierte Heinrich Himmler das Christentum als einen den Juden vergleichbaren Feind.12 Der Weg zum moralischen Anderssein war eingebunden in eine Utopie der Neugründung des Menschen („neues Menschentum“), die nicht zuletzt in der Vision eines „tausendjährigen Reichs“ Ausdruck fand. In dieser Weise lässt sich die Dynamik des moralischen Wandels, die der NS induzierte, als eine moralische Transformation der Menschheit sehen. 9 Vgl. die sehr erhellende Untersuchung : Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München 2000. 10 Darin stimme ich überein mit : Avishai Margalit / Gabriel Motzkin, „Die Einzigartigkeit des Holocaust“. In : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 45 (1997), S. 3–18. Die Autoren legen jedoch dem Tatbestand der Demütigung, der ohne Zweifel von großer Bedeutung ist, zu starkes Gewicht in ihrer Gesamtdeutung bei. 11 In der moralischen Bedeutung meines Terminus sehe ich mich nahe bei Emil L. Fackenheim, To Mend the World. Foundations of Future Jewish Thought, New York 1982, S. 250: „The continuity is broken, and thought, if it is not itself to be and remain broken, requires a new departure and a new category [...] because the Holocaust is not a relapse into ‚barbarism‘, a ‚phase in a historical dialectic‘, a radical-but-merely-‚parochial‘ catastrophe. It is a total rupture.“ Fackenheims theologische Reflexionen liegen außerhalb meiner Fragestellung. Wichtig ebenso : Gunnar Heinsohn, „What makes the Holocaust a uniquely unique genocide ?“ In : Journal of Genocide Research, vol. 2 (2000) no. 3, S. 411–430. Heinsohn betont die moralische Antithese zwischen Hitlers Denken und der jüdischen Moral, die auf die „Heiligkeit des Lebens“ in einem universellen Sinn abhebe. Ich stimme der moralischen Antithese zu, überlasse es jedoch Historikern zu beurteilen, ob die jüdische Moral von Beginn an universalistisch zu verstehen ist. 12 Vgl. Peter Longerich, Heinrich Himmler, München 2008, Kap. III.
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Der NS erreichte breite Zustimmung auf allen Ebenen der deutschen Gesellschaft, aber auch im Ausland. Es war deshalb keine Illusion, auf eine substantielle moralische Transformation und entsprechende Unterstützung zu setzen. Es war nicht einmal unrealistisch zu erwarten, dass eine weiter konsolidierte NS Gesellschaft bereit sei, zu einem späteren Zeitpunkt die Vernichtung der Juden zu akzeptieren. Hierfür spricht der geringe Widerstand, der von der deutschen Bevölkerung gegen die Deportation von Juden oder anderen Menschen ausging, und wie phasenweise offen von der Vernichtung der Juden bei der Nazi - Elite oder in der Presse die Rede war.13 Die Aufhebung von traditionellen moralischen Schranken im Sog eines dominanten Engagements für die NS - Bewegung zwingt dazu, diese historische Erfahrung ernst zu nehmen und die Zerbrechlichkeit bis dato sicher geglaubter moralischer Standards zu erkennen. Daher kann das Nazi - Projekt der moralischen Transformation auf der einen Seite hinsichtlich seiner aktiven Dynamik als Gattungsbruch bezeichnet werden. Auf der anderen Seite hingegen kann es im Hinblick auf seine alltägliche stillschweigende Unterstützung oder Tolerierung als Verblassen oder Verschwinden des traditionellen Gattungsbegriffs beschrieben werden. Terminologisch kann man das „Gattungsversagen“ nennen. Saul Friedländer hat die Radikalität des NS - Antisemitismus als „Erlösungsantisemitismus“ gefasst, der darin bestehe, die arisch - deutsche Gemeinschaft und die gesamte Menschheit von den Juden zu befreien.14 Die moralische Transformation, die ich beschrieben habe, legt nahe, in ähnlicher Weise von einer Erlösungsmoral zu sprechen. Der religiöse Sinn von Erlösung wird zu einem innerweltlichen Projekt, die außerweltliche Erlösung entfällt und das Jüngste Gericht findet in der realen Geschichte statt. Die schockierende historische Erfahrung, die der NS und der Holocaust zu verarbeiten zwingen, kann den Blick öffnen auf einen sehr allgemeinen Gegensatz zwischen einer nazistischen Erlösungsmoral und einer Moral der menschlichen Integration, kurz Integrationsmoral. Integration ist der leitende Begriff, weil vorausgesetzt wird, dass jedes menschliche Wesen Teil der menschlichen Gattung ist und der Menschheit einfach aufgrund seiner Existenz angehört. Eine Integrationsmoral kann selbst einer hierarchischen oder sonstwie traditionellen Gesellschaft zugeschrieben werden, die gleiche Rechte für alle Menschen ablehnt, aber mit Selbstevidenz davon ausgeht, dass jeder Mensch Teil der Menschheit ist. Der Klarheit halber sei hinzugefügt, dass auch die Weltreligionen unter den hier relevanten Begriff von Integrationsmoral fallen, nicht jedoch unter das obige Verständnis von Erlösungsmoral. Im Gegensatz zum Christentum, für das Erlösung „nicht von dieser Welt“ ist, sondern sich auf eine extramundane Dimension bezieht, ist die nazistische Erlösungsmoral rein innerweltlich. Damit wird auch klar, dass die spezifische Art von Integrationsmoral, mit der wir es seit dem 18. Jahrhundert im Sinne eines 13 Vgl. Peter Longerich, ‚Davon haben wir nichts gewusst !‘. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006. 14 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Band 1 : Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, 2. Auflage München 1998, Kap. 3.
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Universalismus der Gleichheit von Menschen und der gleichen Rechte für alle Menschen zu tun haben, in fundamentaler und unaufhebbarer Opposition zur Nazi - Moral steht. Bereits Hannah Arendt hat auf die Unvereinbarkeit des NS mit der westlichen moralischen Tradition hingewiesen und den NS als eigene normativ - moralische Ordnung verstanden.15 Ich setze diese Einsicht in systematischer Weise fort, indem ich auf den NS als eine Formation blicke, die zur Konstitution eines revolutionären moralischen Typus geführt hat, der zu einer Art moralischer Vergesellschaftung in der Lage war. Der Einfachheit halber kann man von verschiedenen moralischen Ordnungen sprechen und sie als Webersche Idealtypen festhalten, um sie vergleichend zu diskutieren : Erstens muss es ein elementares moralisches Selbstverständnis als ein moralisches Zentrum geben, das Verpflichtungen für die jeweiligen Ich - oder Wir Orientierungen definiert. Für den westlich - universalistischen Typus bedeutet dies, dass jede Frau und jeder Mann sich selbst denselben moralischen Status zuschreiben wie in Bezug auf jede andere Frau und jeden anderen Mann und dass die Frauen und Männer sich als Mitglieder einer Wir - Gemeinschaft sehen, in der jedes Mitglied eben diesem Selbstverständnis folgt. Das maßgebliche Selbstverständnis wird manifest in der wechselseitigen Anerkennung von gleichen Rechten für jedes Mitglied einer wie immer gearteten Gemeinschaft. Der Nazismus setzt ein eigenes Zentrum dem universalistischen Zentrum entgegen. Die Deutschen oder Arier beanspruchen einen höheren moralischen Status als Nicht - Deutsche oder Nicht - Arier und folgen dem Selbstverständnis einer Wir Gemeinschaft, die normative Ungleichheit nach rassischen Kriterien für selbstverständlich hält. Das so beschreibbare partikularistische Verständnis ist jeder universalistischen Überzeugung, die als „jüdisch“ empfunden wird, strikt entgegengesetzt. Zweitens gibt es ein Netzwerk von sozialen Normen und Institutionen, die mit dem moralischen Zentrum in Verbindung stehen. Elemente des universalistischen Typus sind ein gewaltfreies Zivilleben, sozialer und öffentlicher Schutz vor Dikriminierungen jeder Art und ein Rechtssystem, das auf Menschenrechten gründet und zugleich Bedingungen für die politische Sphäre der konstitutionellen Demokratie sowohl nach innen als auch nach außen festlegt. Im Kontrast dazu strebt der NS nach einer Stärkung der arisch - deutschen Gemeinschaft unter Leitung des „Führers“. Das „Führerprinzip“ entbindet von der Beschränkung der inneren und äußeren Politik durch das Recht, indem den Interessen der „Volksgemeinschaft“ oberste Priorität zugesprochen wird. Carl Schmitt, einer der prominenten Juristen des Dritten Reiches, entwickelte die Doktrin „Der Führer schützt das Recht“ und machte so Hitler zur Autorität in einer 15 Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, Berlin 1993 ( engl. 1950); dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrrschaft, 5. Auflage München 1996, Teil III. Im Folgenden lasse ich Hannah Arendts Begriffe des „radikal Bösen“ und der „Banalität des Bösen“ beiseite, die ich andernorts kritisch diskutiert habe. Meine Begriffe des Gattungsbruchs und des Gattungsversagens vermeiden die Komplikationen dieser Begriffe. Vgl. Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz, S. 25 ff.
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höheren Sphäre der Gesetzgebung, die gleichsam das wahre Recht der Gemeinschaft schafft und verbürgt.16 Drittens charakterisiert die Stellung zur Gewalt einen bestimmten Typus von moralischer Ordnung. Der universalistische Typus erfordert – wir sprechen von Idealtypen – die Lösung von Konflikten im Innern einer Gemeinschaft nicht gewaltförmig auszutragen und das staatliche Gewaltmonopol zu respektieren. Für den NS - Typus ist Gewalt ein legitimes Mittel zur Stärkung der Homogenität der Gemeinschaft gegen Feinde, die unter Rassekriterien oder nach Maßgabe der Aussonderung „ungesunder Elemente“ definiert werden. Dementsprechend ist für Hitler der gewaltförmige Kampf für die Dominanz der eigenen Rasse in einer weltweiten Auseinandersetzung das wahre „Menschenrecht“ einer Gemeinschaft. Selbst das Verfassungsrecht kann im Interesse der Sicherung des Deutschtums in der Geschichte übergangen werden.17 Zugleich werden Angriffskriege als Aktionen der Selbstverteidigung deklariert. Verglichen damit beschränkt der universalistische Idealtypus militärische Macht und Gewalt auf Situationen der Selbstverteidigung und verlangt die Respektierung des Völkerrechts. Die Existenz der auf diese Weise charakterisierten moralischen Ordnungen wirft für die Ethik ein systematisches Problem auf. Es scheint kaum mehr möglich, an einem singulären Begriff von Moral festzuhalten, da die historische Erfahrung auf eine Variationsbreite an moralischen Entwürfen und die Möglichkeit zur moralischen Transformation von Menschen ver weist. Je stärker die moralischen Gegensätze in Erscheinung treten, desto schwächer scheint der Glaube in geschichtsneutrale moralische Überzeugungen oder Prinzipien werden zu müssen. Um meine Argumentation weiter zu differenzieren, nehme ich Bezug auf den von Dan Diner geprägten Begriff des „Zivilisationsbruchs“18. Dieser Begriff sollte ursprünglich dazu dienen, um die Schwierigkeiten herauszuheben, mit denen jüdische Opfer konfrontiert waren, wenn sie die Motive und Taten der Nazis zu deuten suchten. Das NS - Projekt zur Vernichtung der Juden wurde verfolgt, obwohl es eigenen ökonomischen Interessen widersprach und obwohl es Prioritäten der Kriegsführung beeinträchtigte. Aus dieser Perspektive beschreibt Diner eine kognitive Inkohärenz der Nazis, weil sie die Orientierung an Zweckrationalität und das Interesse an Selbsterhaltung zurückgestellt hätten, beides Orientierungen, die in der Tradition der westlichen Zivilisation als selbstevident anzusehen seien. Die Nazis handelten deshalb nicht einfach irrational, sondern standen für eine Gegen - Rationalität, die Hoffnungen zunichte machte, als gäbe es für Juden durch effektive Arbeit für ihre Unterdrücker einen Weg der Rettung. 16 Vgl. Carl Schmitt, „Der Führer schützt das Recht“. In : Deutsche Juristen - Zeitung, 39 (1934) 15, S. 945–950. 17 Adolf Hitler, Mein Kampf, 248.–251. Auflage München 1937, S. 105. 18 Dan Diner, „Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus“. In : ders. ( Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte ?, Frankfurt a. M. 1987, S. 62–73.
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Bis zu einem gewissen Grad versprach dies Erfolg, aber insgesamt wurde der Ausweg, sich durch Rückgriff auf die Rationalität des homo oeconomicus zu retten, vereitelt. Mein Begriff des Gattungsbruchs zielt darauf ab, die moralische Dimension zu explizieren, die in Bezug auf Diners epistemischen Begriff ins Auge gefasst werden muss. Mein Begriff dient als Schlüssel, um die Gegen - Moral zu verdeutlichen, die ich oben im Kontrast zur westlichen Zivilisation in normativen Begriffen bestimmt habe. Wie immer restringiert in ihrer historischen Entfaltung, so steht der Idealtypus des egalitären Universalismus für die Tradition dieser Zivilisation. Wenn wir uns die Gegen - Moral des Nazismus klarmachen, dann enthüllt selbst die von Diner beschriebene Gegen - Rationalität des NS eine fatale innere Logik. In einer neueren Ergänzung hat Diner die epistemische Bedeutung seines Begriffs bekräftigt. Darüber hinaus hat er Tendenzen kritisiert, die dazu angetan sind, das Exzeptionelle des Holocaust zu verwässern, indem das spezifische Schicksal der Juden mit anthropologischen Betrachtungen über ein neues Phänomen des Bösen verbunden werde, was im Rahmen einer international moralisierenden Kultur dazu führe, den Holocaust nur noch als Ikone des Negativen wahrzunehmen.19 Eine solche Kritik an entdifferenzierenden Tendenzen ist nachvollziehbar, doch widerspricht sie nicht einer komparativen Interpretation zum Holocaust, die wichtige Unterschiede festhält. Mein moralischer Begriff des Gattungsbruchs ist dazu geeignet, eine Nivellierung der moralischen Problematik, mit der wir es zu tun haben, zu vermeiden. Dass ein solcher Begriff nötig ist, zeigt sich auch im Kontext jüdisch - deutscher Dialoge, die ohne ein moralisches Vokabular des „Bruchs“ nicht auskommen, wenn es um historische Verantwortung geht. In einer Rede vor der Knesset (2008) sprach die deutsche Kanzlerin Angela Merkel von „Zivilisationsbruch“ und bekannte sich zugleich zur deutschen Verantwortung für die „moralische Katastrophe“ der Shoah. Es ist offensichtlich, dass es eines moralischen Vokabulars bedarf, um die Relevanz des epochalen Ereignisses der Shoah adäquat zu artikulieren, daher „Gattungsbruch“. Ich füge drei ergänzende Punkte an : Die Frage der Kohärenz der NS - Moral, die Frage nach der „Normalität“ der Täter, das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus. Was die Kohärenz der NS - Moral angeht, so ist es nicht nötig, mit der Vorstellung eines Systems von innerer Geschlossenheit zu arbeiten. Ich halte es für ausreichend, die wesentlichen normativen Gehalte so gegenüberzustellen, wie ich das oben dargelegt habe und die Details und Konsequenzen im Rahmen der sozio - politischen NS - Formation weiterzuverfolgen. Spezielle Studien zur moralischen Ordnung des NS 20 bedürfen der Berücksich19 Ders., „Rupture in Civilization. On the Genesis and Meaning of a Concept in Understanding“. In : Moshe Zimmermann ( Hg.), On Germans and Jews under the Nazi Regime, Jersualem 2006, S. 47. 20 Vgl. Wolfgang Bialas, „Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus“. In : Werner Konitzer / Raphael Gross ( Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009, S. 30–60.
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tigung einer unabgeschlossenen Dynamik des NS auch in moralischer Hinsicht. Um ein Beispiel zum Verhältnis von Moral und Recht zu nennen, so wäre an Ausführungen von Roland Freisler zu erinnern, der Moral mit „völkischer Sittenlehre“ identifiziert und diese zur Basis für die Reform des Strafrechts erklärt.21 Die substantielle Transformation der Gesellschaft und des Menschen, die von Nazi - Ideologen propagiert wurde,22 war keine creatio ex nihilo, sondern musste sich permanent von früheren moralischen Normen oder politischen Institutionen absetzen.23 So wurde etwa die Weimarer Verfassung niemals offiziell außer Kraft gesetzt, sondern durch neue Gesetze überschrieben. Das bedeutet, dass sich Anhänger der früheren Republik mit ihrer verfassungsmäßigen Anerkennung persönlicher Rechte, wenn auch in der Minderheit, als Vertreter einer noch immer intakten oppositionellen Moral sehen konnten. Umgekehrt konnten Parteigänger des NS, die zunehmende moralische Skrupel befielen, auf noch bestehende Ressourcen westlicher Moraltraditionen oder auf das Christentum zurückgreifen. Insofern wird man der historischen Situation dadurch am besten gerecht, dass man sie als von Konflikten bestimmt sieht, die von gegensätzlichen Moralen geleitet wurden, wie immer dominant die NS - Moral zu bestimmten Zeiten gewesen sein mag. Der Prozess der moralischen Transformation lässt sich innerhalb der Wehrmacht ebenso verfolgen wie an Einsatzgruppen, die an Mordaktionen beteiligt waren und dabei ihre moralische Identität veränderten.24 Auch Führungsfiguren wie Himmler entwickelten ihre Pläne zur „Endlösung“ nur schrittweise. Wenngleich die Vernichtung der Juden eine ständige Option darstellte, veränderten sich die Vorstellungen zu ihrer Umsetzung im Lauf der Zeit. Im Jahr 1940 sprach sich Himmler für den „Madagaskar Plan“ aus, der noch von einer physischen Vernichtung als „ungermanisch“ absah. Dieser Plan zur Errichtung eines Ghettos auf Madagaskar muss jedoch auch im Kontext der Strategie gesehen werden, Druck auf Großbritannien und die USA auszuüben, insbesondere um den Kriegseintritt der letzteren zu verhindern.25 Trotz seiner völlig unrealistischen Konzeption zeigt dieser Plan, dass die Optionen zur „Endlösung“ Veränderungen durchliefen, bevor die ganze Radikalität des moralischen Bruchs in Auschwitz manifest wurde. Die SS und ihre Gliederungen waren exemplarische Gemeinschaften der moralischen Transformation. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die SS 21 Roland Freisler, „Gedanken zur Technik des werdenden Strafrechts und seiner Tatbestände“. In : Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 55 (1936) 1, S. 511. 22 Vgl. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 75.–78. Auflage München 1935. Im Vorwort fordert Rosenberg die Fortsetzung der politischen Revolution durch die „Umwandlung der Geister“. 23 Vgl. Claudia Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge, MA 2003. 24 Vgl. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005. 25 Vgl. Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, Kap. IV, E; Kap. VIII.
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nicht nur eine militante Elite - Gemeinschaft in Hinsicht auf die Kombination von Ideologie und Rassenkampf war. Zugleich verkörperte sie das Paradigma einer idealen Nazi - Sozialisation und moralischen Transformation, die als Erziehungsmodell der ganzen Gesellschaft dienen konnte. Die Tugenden von Treue, Gehorsam, Ehre und Kameradschaft wurden in direkte Beziehung zu Adolf Hitler gebracht, so dass im Eid eines jeden SS - Mannes Hitler Treue bis in den Tod gelobt wurde. An dieser Entwicklung kann man die Suspendierung des individuellen Gewissens ablesen, das in der christlichen Tradition für die je eigene moralische Selbstprüfung steht. Auf diese Weise wurde dem Überschreiten moralischer Grenzen stetig Vorschub geleistet.26 Die Bedeutung der moralischen Transformation, auf die es mir ankommt, findet ihr Echo in Hitlers Ausspruch, dass der Niedergang des Christentums eine der größten Revolutionen in der Geschichte sei.27 Christentum und egalitärer Universalismus stehen auf demselben Grund, wenn es um die fraglose Integration jedes Menschen in die Gattung geht. Der zweite Punkt meiner Ergänzung kann kurz gehalten werden. Die NS Bewegung war kein Resultat einer fernab liegenden Welt, sondern vollzog sich unter den sozialen, kulturellen und politischen Konstellationen Europas. Die vom Holocaust ausgehende moralische Verstörung ist eine Verstörung über Taten von Menschen, die uns ähnlich sind : „Die Tragödie der Shoah bestand nicht darin, dass sie unmenschlich war, sondern dass die Nazis Menschen waren, genauso wie wir.“28 Besonders in einer moralischen Fragestellung ist es wichtig, die Protagonisten, Unterstützer oder Täter des NS nicht aus dem Spektrum menschlicher Normalität in einem breiten Sinn auszusondern, wie scharf auch immer ihre Ideologie und ihre moralischen Überzeugungen kritisiert werden mögen. Wir müssen das Feld menschlicher Möglichkeiten offen halten, um ein realistisches Bild der Geschichte zeichnen zu können, die Menschen in sehr unterschiedlichen Ausprägungen hervorbringt.29 Moralische Diversität gehört dazu. Mein dritter Punkt betrifft die Lesart des NS als Partikularismus im Gegensatz zum egalitären Universalismus. Als Kritik an meinem Begriff des Gattungs26 Vgl. Bernd Wegener, Hitlers Politische Sodaten : Die Waffen - SS 1933–1945, 7. Auflage Paderborn 2006. 27 Vgl. Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 1987, S. 104 ff. Als Quelle verweist Zitelmann auf Hitlers „Monologe“. 28 Yehuda Bauer, „Einige Überlegungen zur Shoah“. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 54 (2006), S. 547. Vgl. entsprechend : Peter J. Haas, Morality after Auschwitz. The Radical Challenge of the Nazi Ethic, Philadelphia 1988, S. 232 : „Although the Holocaust is unique in its awfulness, it is a firm part of normal human history [...]. In studying the Holocaust, we study not only a particular society of the past but ourselves as well.“ 29 Vgl. Inga Clendinnen, Reading the Holocaust, Cambridge 1999, S. 111 f. : „I do not pretend that ‚understanding‘ men like Hitler, or Himmler, or Stangl is an easy matter. I would only insist that the problem is not qualitatively different from the problem inherent in understanding any other human beings – and that our understanding of our fellow human beings will not be and cannot be complete.“
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bruchs wurde das Argument vorgebracht, dass die Nazi - Bewegung den Status der Juden als Menschen nicht negiert hätte. Das ist in einem gewissen Sinn zutreffend, doch im entscheidenden Sinn ist es falsch.30 Wir müssen der Zweideutigkeit im Begriff der Menschheit Rechnung tragen. Auf der einen Seite wird „Menschheit“ als deskriptiver Terminus im üblichen Verständnis gebraucht und bezieht sich auf die Gesamtheit der weltweiten tatsächlichen Lebensumstände von Individuen, Gruppen, Völkern, Nationen oder religiösen Gemeinschaften. In diesem Sinn gehören Juden der Menschheit an. Auf der anderen Seite hingegen wird „Menschheit“ enger gefasst und steht für „wahre Menschheit“, „wahres Menschentum“ als normativer Begriff, mit dem keineswegs die Tatsächlichkeiten der weltweiten Menschheit anerkannt werden. In diesem Sinn werden Juden nicht in die Menschheit eingeschlossen, sondern ausgesondert, um eine „gesäuberte“ Menschheit zu erreichen. Der normativ begrenzte Begriff ist das Pendant zum „Gattungsbruch“. Hannah Arendt hat dies bereits klar gesehen, wenn sie in den letzten Sätzen ihres Eichmann - Buches die Nazi - Anmaßung anprangert, „zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht“.31 Die Erlösungsmoral, die ich oben charakterisiert habe, steht somit in Übereinstimmung mit dem normativ begrenzten Begriff der Menschheit. Ihr Anspruch, die Menschheit als ganze zu „retten“, ist pseudo - universalistisch, da sie auf die Dominanz einer bestimmten Lebensform ausgerichtet ist. In Wirklichkeit verfolgt sie einen radikalen Partikularismus, nicht zuletzt eben als Moral. Deshalb definiert ihr grundlegender Gegensatz zum egalitären Universalismus den Rahmen der weiteren Diskussion.
III.
Schaffung des Neuen Menschen : Bolschewistische Utopie und moralische Transformation
Analog zum NS kann man die moralischen Katastrophen des Stalinismus als Ausgangspunkt nehmen, um die Geschichte des Bolschewismus und seine moralischen Tranformationen zu erschließen. In Verfolgung dieser Perspektive sehe ich mich in Einklang mit der jüngeren historischen Forschung, die in differenzierter Weise die Fruchtbarkeit von Vergleichen zwischen Stalinismus und NS unterstreicht.32 Die Frage nach einer besonderen Moral des Bolschewismus geht jedoch weit über die Epoche des Stalinismus hinaus. Man muss die Familienähnlichkeit von Lenin, Trotzki und Stalin berücksichtigen, um die bolschewistische Moral zu analysieren. Natürlich ist Trotzki nicht für die Kulturrevolution unter Stalin verantwortlich, doch gibt seine Fassung der bolschewistischen Moral einen Idealtypus ab, um die Erlösungsmoral des Kommunismus zu 30 Vgl. Zimmermann, „Replik“, S. 488. 31 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, 7. Auflage München 1991, S. 329. 32 Vgl. Michael Geyer, „Introduction“. In : Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick ( Hg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge, MA 2009, S. 1–37. Darin eine Übersicht zur Geschichte der vergleichenden Forschung.
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bestimmen, die sich nicht prinzipiell von der stalinistischen Version des Bolschewismus unterscheidet. Im Folgenden vergegenwärtige ich in knapper Form die moralischen Desaster des Stalinismus im Kontext der bolschewistischen Utopie. Dann betrachte ich den sich vollziehenden moralischen Wandel während des Stalinismus anhand historischer Untersuchungen. Der Impetus der moralischen Transformation in Verbindung mit der kommunistischen Utopie kann auf allgemeiner Ebene in Trotzkis Schrift „Ihre Moral und unsere“ studiert werden. Daran schließt sich die Frage nach der adäquaten begriff lichen Interpretation der bolschewistischen Moral im Kontext des Problems des Neuen Menschen in der Moderne. Die Bezeichnung „Holodomor“ steht für den Tod von Millionen von Menschen in den Jahren 1932/33, die Opfer der rigiden Kollektivierung der Landwirtschaft wurden. Die ukrainischen Wörter „holod“ für „Hunger“ und „mor“ für „großes Desaster“ liegen der Wortbildung zugrunde. Die Gebiete der Ukraine, des Nordkaukasus und Kasachstans waren die am stärksten betroffenen Regionen, die von einer massiven Hungersnot verwüstet wurden, in deren Verlauf sechs Millionen oder mehr Menschen den Tod fanden. Mehr als die Hälfte der Opfer starb in der Ukraine, die inzwischen einen Gedenktag zum Holodomor in jedem November eingeführt hat. Diese Katastrophe enstand nicht aus irgendwelchen Naturereignissen, sondern war die Folge einer revolutionären Strategie zur „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ ( Stalin ).33 Kulaken wurden ganz generell als Ausbeuterklasse denunziert, ohne irgendeine genaue Definition dessen, wer als Kulak zu gelten habe und wer nicht. In Wirklichkeit gab es gar keine homogene Klasse der Kulaken, so dass die Bedeutung schwankte zwischen wohlhabenden Bauern, Bauern ( ob reich oder arm ) mit Abneigung oder Widerstand gegen die Kollektivierung oder einfach Menschen, deren Haltung sie dem Verdacht aussetzte, Kulaken zu sein. Einige bolschewistische Kader bestimmten per Losentscheid, wer Kulak war und wer nicht. Die groteske Szenerie des Klassenkampfs lässt sich am Beispiel eines Briefes illustrieren, den der Schriftsteller Scholochow an Stalin schrieb, nachdem er Augenzeuge von brutalen Zwangsmaßnahmen bis hin zu Folter geworden war, die bolschewistische Aktivisten im Nordkaukasus gegen Bauern praktizierten, die sich aus Furcht vor dem Verlust aller ihrer Vorräte oder Reserven ablehnend verhielten. Um den Exzessen ein Ende zu setzen, bat Scholochow um die Ent33 Ich gebe nur eine Skizze und stütze mich auf folgende Quellen : Robert Conquest, The Harvest of Sorrow : Soviet Collectivization and the Terror - Famine, 3. Auflage New York 1986; Nicholas Werth. „Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unerdrückung und Terror in der Sowjetunion“. In : Stéphane Courtois / Nicolas Werth / Jean - Louis Panné / Andrzej Paczkowski / Karel Bartošek / Jean - Louis Margolin / Rémi Kauffer / Pierre Rigoulot / Pascal Fontaine / Yves Santamaria / Sylvain Boulouque / Joachim Gauck / Ehrhart Neubert, Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998, S. 45–295. Cheryl A. Madden, The Holodomor, 1932–1933. In : Canadian American Slavic Studies, vol. 37 (2003) no. 3, S. 13–26. Orlando Figes, The Whisperers. Private Life in Stalin’s Russia, Lane, London 2007. Norman M. Naimark, Stalin’s Genocides, Princeton 2010.
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sendung von „wahren Kommunisten“, denn nur so seien die Kolchosen zu retten. Stalin antwortete, indem er die „Übergriffe“ bedauerte, doch bestand er darauf, dass es sich bei der Kollektivierung um einen Kampf auf Leben und Tod mit den Bauern handle, die gegen den sowjetischen Staat agierten. Zwar gab es im Umfeld von Stalins Politik führende Bolschewiki wie Bucharin und Rykow, die gegen den rigiden Kurs wegen der Gefahr einer Hungersnot opponierten, doch konnten sich diese nicht durchsetzen. Es kann hier nicht näher diskutiert werden, inwiefern der Hunger als gezielte Strategie diente, um zu einer durchgreifenden Säuberung der Landbevölkerung und der Umstrukturierung der Agrarwirtchaft zu gelangen, doch es fällt schwer, selbst das Verdikt eines Hungergenozids zurückzuweisen. Auf jeden Fall wurde die Hungerkatastrophe von Stalin und seinen Gefolgsleuten in Kauf genommen, um die Gesellschaft zu einer höheren Stufe des Kommunismus zu führen. Der Holodomor zeigte nicht nur die Brutalität bei der Einrichtung einer neuen Lebensform gegen ländliche soziale Bedingungen und Agrar wissenschaft, sondern brachte die Intensivierung von Deportationen und den breiten Ausbau des Gulag - Systems mit sich. Dieses Repressionssystem, das Menschen aller ihrer Rechte beraubte und das Zivilleben mit permanenten Willkürmaßnahmen, Denunziationen und Bestrafungen bedrohte, wurde ein weiterer fester Bestandteil des Stalinismus. Als letzter Höhepunkt der Repression kann die Phase des „Großen Terrors“ (1936–38) hinzugefügt werden, die schließlich auch vor der Liquidation früherer „Lieblinge der Partei“ wie Bucharin nicht Halt machte. Die Dimension der stalinistischen Verbrechen muss im Kontext der bolschewistischen Ideologie und der mit dieser einhergehenden Schaffung des Neuen Menschen mit neuen moralischen Standards gesehen werden. Ich nehme die Charakterisierung der „Kulturrevolution“ unter Stalin auf, die Jörg Baberowski gegeben hat und lege sie meinen weiteren Überlegungen zugrunde: „Was [...] in der Literatur über den Stalinismus Kulturrevolution genannt wird, war ein Kampf um die Seele der Untertanen, ein Feldzug um Deutungshoheit, der sich bis in die späte Stalin - Zeit fortsetzte. Die Kulturrevolution war keine Episode, sie war das Signum des Stalinismus. Für die Bolschewiki wurden in der Kulturrevolution nicht nur das Gedächtnis der Gesellschaft geleert und neu konfiguriert, sondern auch die Feinde aus ihr entfernt. Die kommunistischen ‚Ingenieure der Seele‘ ( Stalin ) konnten ihr Werk doch nur verrichten, wenn jene, die die Deutungshoheit bislang für sich beansprucht hatten, aus den Schaltstellen der Macht verschwanden. Der Aufenthalt des Feindes war das Kollektiv, die Parteiführung konnte sich Feinde nur als Agenten sozialer Großverbände vorstellen. So wie der Freund dem Proletariat gehörte, lebte der Feind in der Gesellschaft der ‚Ehemaligen‘, der Gutsbesitzer, Kapitalisten und Kulaken. Und weil es aus der Gemeinschaft der Stigmatisierten kein Entrinnen gab, triumphierte die Revolution am Ende als Feldzug der Vernichtung. So verband sich die Kulturrevolution, der Traum vom neuen Menschen, mit einer terroristischen Gewaltorgie. Diese Symbiose von Kulturrevolution und Gewalt heißt Stalinismus.“34 34 Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Auflage München 2004, S. 112. Die Revisionen, die der Autor inzwischen an seinem Stalin - Bild vorgenommen hat, indem er noch weit stärker Stalin als „Gewalttäter aus Leidenschaft“ charakterisiert, bleiben hier außer Betracht, da es mir primär um eine idealtypische Sicht
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Wenn wir diese erhellende Charakterisierung als repräsentativ für eine breite historische Forschung der letzten Jahre nehmen, so scheint klar, dass die Transformation der Gesellschaft die Veränderung psycho - moralischer Einstellungen und eine neue moralische Selbstinterpretation der Mitglieder der avancierten Gesellschaft erforderte. Dieser Transformationsprozess umfasste nicht nur bolschewistische Aktivisten auf verschiedenen Ebenen, sondern ebenso das von diesen beeinflusste kulturelle wie soziale Umfeld. Es spricht viel dafür, die stalinistische Epoche – bei aller Besonderheit – als Teil des bolschewistischen Gesamtprojekts zu sehen. Stalins „Ingenieure der Seele“ klingen wie die Fortsetzung von Lenins Satz, dass der Mensch nach einem bolschewistischen Ideal gemacht werden kann, und zeigen Verwandtschaft mit Trotzkis Konstruktion eines höheren sozial - biologischen Typus, dem ich mich unten zuwende. Es ist kein Zufall, dass bereits im Jahr 1919 ein Tscheka - Bulletin das alte System der „Ethik und Humanität“ für obsolet erklärte, um eine neue Ethik „absoluter Humanität“ zu proklamieren, durch die rigide Gewalt gerechtfertigt sei. Solche und andere Beispiele ver weisen auf Stalin als Erben Lenins35 und unterstreichen den Ansatz, moralische Transformationen in der gesamten bolschewistischen Ära zum Gegenstand zu machen. Aus eindrucksvollen Studien von Igal Halfin kann man viel zu einem bolschewistischen Diskurs über die Psyche in den 20er bis 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entnehmen, in denen es um die Konstruktion proletarischer Identitäten und eine adäquate moralische Selbstinterpretation ging.36 „Bolschewistische Moralisten“ war die Bezeichnung für eine Gruppe sehr unterschiedlicher Wissenschaftler, die sich mit „kommunistischer Ethik“ befassten. Es gab autobiographische Tests und Selbstreflexionen, um die innere Einstellung zu prüfen, die zu einem wahren Proletarier gehörte. Diskussionen unter bolschewistischen Studenten an Universitäten betonten Fragen der Moral, eingeschlossen solche des sexuellen Verhaltens. Bucharins Aufforderung zu einer „dramatischen Wandlung menschlicher Qualitäten, Gewohnheiten, Gefühle, Wünsche“ auch im Alltagsleben der Menschen fand Widerhall in „Geboten des Komsomol“, in denen der biblische Dekalog transformiert wurde. So wurde die klassische marxistische Konzeption der sozialen Klasse zu einer Konzeption von Klasse als „psychologischem Typus“. Die bolschewistische Arbeit am Selbst qua innerer Reinigung des Menschen wurde im Stalinismus dominant und bildete den normativen Rahmen für die „Große Säuberung“. Daher kommt Halfin zur Diagnose des Stalinismus als eines „ethischen Systems“,37 in meiner Terminologie eines der bolschewistischen Moral insgesamt geht. Vgl. Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, 3. Auflage München 2012, S. 30, 124. 35 Vgl. Robert Gellately, Lenin, Stalin and Hitler. The Age of Social Catastrophe, Cape, London 2007, Teil I. 36 Igal Halfin, Terror in my Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge, MA 2003, Kap. 3. Zum Folgenden insbes. S. 108 ff. Vgl. Jochen Hellbeck, Revolution on my mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, MA 2006. 37 Halfin, Terror in my Soul, S. 2.
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moralischen Systems, das die von mir vorgeschlagene Unterscheidung divergenter moralischer Ordnungen unterstreicht. Hieran schließe ich nun eine allgemeinere Einschätzung der bolschewistischen Moral an, indem ich mich einigen Hauptpunkten von Trotzkis Schrift „Ihre Moral und unsere“ zuwende, wobei ich die polemischen Partien und die Kritik am Stalinismus ausklammere. Für die moralische Phänomenologie ist zunächst wichtig, dass Trotzki seinerseits verschiedene Arten von Moral unterscheidet. „Unsere Moral“ bezieht sich auf die bolschewistische Moral, von der die „demokratische Moral“ der Epoche des liberalen Kapitalismus ebenso abgehoben wird wie die faschistische Moral und die „reaktionäre“ politische Moral des Stalinismus (125 ff.)38 Trotzki insistiert auf der bolschewistischen Moral im Geiste Lenins und bekräftigt die bekannte marxistische Deutung der Moral als eines vom Klassenkampf bestimmten normativen Gehalts, der es ausschließe, der Illusion einer über den Klassen stehenden Moral zu folgen. Über diese marxistische Standardlesart von Moral hinaus entwickelt Trotzki eine Argumentation, in der die bolschewistische Radikalisierung deutlich hervortritt. Zunächst erklärt Trotzki den Bürgerkrieg im Gefolge der Russischen Revolution zum „Kulminationspunkt des Klassenkampfs [...], der alle moralischen Bande zwischen den feindlichen Klassen in die Luft sprengt“ (123). Es ist von einer unaufhebbaren moralischen Klassendichotomie auszugehen, so dass die revolutionäre Partei des Proletariats nur in völliger Unabhängigkeit von der Bourgeoisie und ihrer Moral ihre Ziele verfolgen kann. Die revolutionäre Partei verkörpert ineins die Abkehr von der bürgerlichen Moral und das Potenzial zur Schaffung der neuen Moral, was für Trotzki heißt, „dass für einen Bolschewiken die Partei alles bedeutet“ (151), weil nur sie zu einer Gesellschaft ohne Widersprüche hinführen kann. Um diese Gesellschaft zu erreichen, müssen „revolutionäre, d. h. gewaltsame Mittel“, eingesetzt werden, denn es geht um einen „Kampf auf Leben und Tod“ (142, 150). Trotzki erklärt weiter, dass es zwischen der persönlichen Moral und den Interessen der Partei keinen Widerspruch geben kann, denn das Bewusstsein des Einzelnen weiß sich in Einklang damit, dass die Partei die höchsten Aufgaben und Ziele der Menschheit verkörpert, da sie im Zuge der proletarischen Revolution den „grundstein für eine klassenlose, erstmals wahrhaft menschliche kultur legt“.39 Um dem hohen Ziel zu dienen, sind die Bolschewiki die „eingefleischten Krieger“ (120) der sozialistischen Idee, die in Lenin den überragenden Führer gefunden haben, um der „dialektischen Auffassung der Moral“ zum Erfolg zu verhelfen, wobei eine „höhere Qualität des Intellekts“ als der gesunde Menschenverstand erforderlich wird, da letzterer nicht einsehen will, dass die
38 Leo Trotzki, „Ihre Moral und unsere“. In : Ulrich Kohlmann ( Hg.), Politik und Moral (Dewey, Kautsky, Trotzki ). Die Zweck - Mittel - Debatte in der neueren Philosophie und Politik, Lüneburg 2001, S. 113–159. Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Text. 39 Leo Trotzkij, literatur und revolution, Berlin ( West ) 1968, S. 13.
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von Lenin praktizierte Ver werfung herkömmlicher Moral in Wahrheit „Synonym für eine höhere menschliche Moral“ (127 ff., 152) ist. Mit dieser Eloge auf Lenin und der Wiedererweckung der wahren Bolschewiki - Moral ca. 20 Jahre nach der russischen Revolution und in Kontinuität mit seiner früheren Proklamation der moralischen Transformation (1923)40 kommt zugleich das systematische Problem zum Vorschein, das einer dialektischen Moral des Klassenkampfs inhärent ist. Die Konzeption verdrängt die moralische Individualität zugunsten des Parteibewusstseins, ohne irgendwelche Standards von Verbindlichkeit oder Verantwortung zu formulieren. Die Konsequenzen hieraus sind zweifach. Auf der einen Seite wird der führenden Gruppe der Partei oder ihrer Führungsfigur, wie auch immer personell besetzt, eine Blankovollmacht für Entscheidungen über den richtigen Weg zur klassenlosen Gesellschaft erteilt. Es gibt keine Überlegung, die im Hinblick auf die Parteiorganisation nach rationalen Regeln für den Umgang mit Alternativen auf dem Weg zum hohen Ziel fragt, die „Dialektik“ des Kampfs regelt das quasi von selbst. Entsprechend wird das Problem überspielt, wie eine institutionalisierte Prozedur der demokratischen Willensbildung in der Partei auszusehen hätte, um sich auf allseits anerkannte Regeln verlassen und auf der Einhaltung von Verantwortlichkeiten bestehen zu können. Die demokratischen Defizite reichen von Lenins Fraktionsverbot, das von Trotzki unterstützt wurde (1921), bis zu Stalins „demokratischem Zentralismus“. Natürlich waren Diskussionen innerhalb der Partei oder auf Parteitagen nicht ausgeschlossen, doch die Bolschewiki ließen das Erfordernis eines Regelwerks für moralische oder politische Verbindlichkeiten auf sich beruhen. Entsprechend fatale Folgen stellen sich insbesondere dann ein, wenn Gewalt zum Medium von revolutionärer Aktion und Fortschritt wird, ohne dass moralische Grenzen hinsichtlich Repression, physischer Bedrohung, Terror oder Folter definiert werden. Die Geschichte des Stalinismus zeigt diese Fatalität in aller Deutlichkeit. Trotzki war für Stalins Katastrophen nicht verantwortlich, doch das Credo der revolutionären Partei klingt bei Stalin sehr ähnlich. Auch für Stalin ist die Partei „alles“ und er preist sie als „eine Art Schwertritterorden innerhalb des Sowjetstaates, der die Organe des letzteren anführt und deren Tätigkeit beseelt“.41 Auf der anderen Seite führt die Blankovollmacht für die Parteiführung zur Gestaltung der Dialektik des revolutionären Prozesses dazu, dass der einzelne Mensch sich mit der harten Frage konfrontiert sieht, ob er sich angemessen mit dem Willen der Partei identifiziert und wie sein moralisches Selbst mit dem Parteibewusstsein des sozialen Fortschritts übereinstimmt. So wie Trotzki die Kongruenz der persönlichen Moral mit der moralischen Substanz der Partei postu-
40 Am Leichtesten zugänglich unter : http ://www.marxists.org / archive / trotsky /1923/10/ morals.htm. 41 Zit. bei Sergej Slutsch, „Macht und Terror in der Sowjetunion“. In : Volkhard Knigge / Norbert Frei ( Hg.), Verbrechen erinnern, München 2002, S. 113.
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liert, so war es für die Individuen eine permanente Frage, sich selbst zu prüfen und zu „säubern“, um wahre Proletarierinnen oder Proletarier zu werden, die es wert waren, am historischen Fortschritt teilzunehmen. Systematisch gesehen kann daher die Moralkonzeption von Trotzki nicht abgekoppelt werden von dem tragischen Syndrom vieler Menschen im Stalinismus, die mit der oft quälenden Frage zu kämpfen hatten, wie sie sich mit der Parteilinie in Übereinstimmung bringen sollten.42 Trotzkis Konzeption der bolschewistischen Moral könnte vor allem im Hinblick auf die „Dialektik“ von Mitteln und Zwecken weiter analysiert werden, um ihre gedanklichen Schwächen darzulegen.43 Stattdessen wende ich mich der Beziehung der bolschewistischen Moral zu der utopischen Zielvorstellung zu, an der sich die revolutionäre Partei im Sinne der „höchsten Ziele der Menschheit“ orientiert. Dabei stoßen wir in Trotzkis Worten auf ein megalomanes Projekt des Neuen Menschen, dem unter einer Ökonomie der sozialistischen Gesellschaft zur Wirklichkeit verholfen werden soll : „Das menschengeschlecht, der erstarrte homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet – und unter seinen eigenen händen – zum objekt kompliziertester methoden der künstlichen auslese und des psychophysischen trainings werden [...]. Der mensch wird sich zum ziel setzen, seiner eigenen gefühle herr zu werden, seine instinkte auf die höhe des bewusstseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem willen bis in die letzten tiefen seines unbewussten vorzudringen und sich so auf eine neue Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich - biologischen Typus, und wenn man will – den übermenschen zu schaffen [...]. Der mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner, sein körper wird harmonischer, seine bewegungen werden rhythmischer und eine stimme wird musikalischer werden. Die formen des alltagslebens werden dynamische theatralik annehmen. Der durchschnittliche menschentyp wird sich bis zum niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser gebirgskette werden neue gipfel aufragen.“44
In der utopischen Vision von Trotzki wird die moralische Transformation zum Teil einer umfassenden Transformation der Menschheit, die auch auf Inspirationen von Nietzsches „Übermensch“ zurückgreift. Bevor ich hierauf näher eingehe, ist es jedoch angebracht, die Besonderheit der bolschewistischen Moral zu charakterisieren und sie vergleichend der NS - Moral gegenüberzustellen. Zuallererst muss der Unterschied zwischen dem Pseudo - Universalismus des Bolschewismus und dem egalitären Universalismus gesehen werden. Es ist richtig, in deskriptiver Redeweise zu sagen, dass die Bolschewiki „an eine universelle Menschheit glaubten und sich selber als Erben und Vollender von Werten der Aufklärung sahen“,45 doch in der normativen Beurteilung der bolschewistischen Moral wäre es falsch, diesem Selbstbild zu folgen. Warum ? Aufgrund genau der 42 Vgl. Igal Halfin, Stalinist confessions : messianism and terror at the Leningrad Communist University, Pittsburgh 2009, S. 10. 43 Vgl. insbes. John Dewey, „Means and Ends“. In : ders., Later Works, vol. 13, Carbondale, Ill. 1988, S. 349–354. Deutsch in : Ulrich Kohlmann ( Hg.), Die Mittel - Zweck Debatte, S. 161–168. 44 Leo Trotzki, literatur und revolution, S. 214 f. 45 Halfin, Stalinist confessions, S. 2 ( Übersetzung von mir ).
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Diagnose, die Halfin zur stalinistischen Säuberung gibt, wenn er sie als „hyperrational, ein Resultat der eisernen Entschlossenheit alle Realität in die kommunistische Ordnung einzubinden“46 beschreibt. Damit ist die Qualifikation gegeben, durch die der Bolschewismus in seinem pseudo - universalistischen Charakter erfasst wird, die ihn zu einer Version des Partikularismus macht : dem Versuch, eine bestimmte Lebensform mit weltweitem Zuschnitt zu schaffen. Demgegenüber induziert der egalitäre Universalismus keine homogenisierte Lebensform, sondern sieht sich nur als Rahmenbedingung unterschiedlicher Lebensformen. Dieses Ergebnis ist wert, weiter ausgeführt zu werden, indem man sich eine Lesart des klassischen Marxismus vergegenwärtigt, die den Unterschied zum Bolschewismus noch transparenter macht. Dabei behaupte ich nicht, dass diese Lesart die einzig mögliche ist, um einen marxistischen Idealtypus zu bilden, doch mit Sicherheit ist es eine mögliche Interpretation von Marx oder seiner vorbolschewistischen Nachfolger. In dieser Lesart, die evolutionäre und revolutionäre Mittel zur sozialen Emanzipation verbindet, ist es möglich, dass die Abschaffung der Klassengesellschaft keineswegs ausschließt, die Vertreter oder Anhänger der alten Ordnung in die neue Gesellschaft zu integrieren und ihnen ihre soziale oder moralische Mitgliedschaft zu belassen. Sie verlieren Macht und Einfluss durch die Revolution, aber nicht elementare Rechte. Hier mag es zwar ein Problem in Hinsicht auf die marxistische Kritik der Menschenrechte als Ideologie der Bourgeoisie geben, doch könnte diese im Sinne einer selbstkritischen Modifikation korrigiert werden, die Ansprüche auf soziale Mitgliedschaft auf elementarer Ebene anerkennt. In dieser Lesart könnte der marxistischen Perspektive „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ ein kohärenter universalistischer Sinn zuerkannt werden, der keine Travestie von „befreiter Gesellschaft“ abgibt. Im Gegensatz zu einem marxistischen Idealtypus dieser Art verfolgen Bolschewismus und Stalinismus ein utopisches Projekt, das die soziale Revolution in eine partikularistische Bewegung der sozialen und moralischen Ausgrenzung verwandelt, die auf fortwährende Praktiken der physischen Vernichtung setzt. Der marxistische Idealtypus wird so allenfalls zum ideologischen Schein der Emanzipation, deren Weg bereits weit ab von Möglichkeiten sozialer Vermittlung oder moralischer Toleranz verläuft. Ähnlich zum NS favorisiert auch der Bolschewismus die Vernichtung der Feinde der neuen Gesellschaft – hier der Klassenfeinde – als die erfolgversprechendste Strategie, um dem Ziel der Schaffung des Neuen Menschen näher zu kommen. Wie im Fall des NS wird die Menschheit im Bolschewismus normativ restringiert und seine Hybris kann vergleichsweise in der Anmaßung gesehen werden, zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht. Auch der oben für den NS erläuterte Begriff der Erlösungsmoral findet seine Parallele im Bolschewismus. Auch dieser ist auf ein innerweltliches Projekt ausgelegt, das sein Jüngstes Gericht dadurch abhält, dass es eine purifizierte 46 Ebd., S. 8 ( Übersetzung von mir ).
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Menschheit etabliert. Doch auch die Unterschiede müssen näher analysiert werden. Der Begriff des Gattungsbruchs, den ich für den NS eingeführt habe, ist nicht geeignet, um die bolschewistischen Untaten abzudecken, denn der NS war auf einen aktiven Hauptfeind fokussiert, die Juden, die zu vernichten waren.47 Im Unterschied dazu war der Bolschewismus auf eine Vielzahl von Feinden ausgerichtet, die es zu vernichten galt : Adel, Bourgeoisie, Kulaken, Konterrevolutionäre. Aber es war möglich, die Mitgliedschaft in diesen feindlichen Klassen oder Gruppierungen aufzugeben und eine neue Identität in der proletarischen Bewegung zu erlangen. Im Gegensatz dazu war im NS die jüdische Identität ein für allemal fixiert. Insofern scheint es angemessener, die Vernichtungskonzeption des Bolschewismus als eine Abfolge von „Sozioziden“ zu beschreiben, um die Gesellschaft zu „säubern“. Dem korrespondiert der von Historikern vorgeschlagene Begriff des „kulturellen Rassismus“.48 Die Frage, inwieweit die Kulturrevolution des Stalinismus eine breite Unterstützung oder Akzeptanz auf Seiten der Bevölkerung fand, bleibt hier offen und kann nur von der historischen Forschung beantwortet werden. In meiner Terminologie wäre es die Frage, wieweit das „Gattungsversagen“ ( vgl. oben unter II.) auch in diesem Fall zu konstatieren ist. Sicherlich war die sowjetische Bevölkerung viel inhomogener als die deutsche, für die ein eher einheitlicher Stand der Zivilisation unterstellt werden kann und die mehrheitlich den NS unterstützte. Das Bild der sowjetischen Bevölkerung bietet sich vermutlich viel differenzierter dar. Insgesamt komme ich damit zur folgenden Zusammenfassung der bolschewistischen Moral in Analogie zu den oben dargelegten Gesichtspunkten der Klassifikation : Erstens gibt es ein elementares moralisches Selbstverständnis jedes Menschen, Teil zu haben an einer exklusiven Gemeinschaft proletarischer Gleicher, die allen bisherigen Formen der Vergemeinschaftung überlegen ist. Zweitens gibt es die revolutionäre Partei als führende Autorität für alle sozialen Normen und Institutionen, durch welche die Prioritäten des kommunistischen Entwicklungsgangs bestimmt werden und die Regeln des Rechts auf allen Ebenen setzt ( Strafrecht eingeschlossen ). Drittens gibt es das Gewaltmonopol der Partei, die berechtigt ist, im Namen des Staates und des revolutionären Fortschritts die Homogenität der proletarischen Vergemeinschaftung gegen alle zu sichern. Wenn wir diese Zusammenfassung zu dem oben dargelegten Vergleich zwischen der NS - Moral und dem egalitären Universalismus hinzunehmen, dann wird die Divergenz der drei moralischen Ordnungen offenkundig. Wie im Fall der NS - Moral bringt auch die bolschewistische Moral eine Konzeption von Ethik in Verlegenheit, die von historischen Kontexten abzusehen sucht, zumindest soweit es die Epoche betrifft, in der die aufgezeigte Divergenz verschiedener Moralen auftritt. Die These über verschiedene Moralen in der Geschichte 47 Hierin liegt keine Diskriminierung anderer Opfer, sondern gibt nur die Prioritäten des NS wieder. 48 Jörg Baberowski / Anselm Doering - Manteuffel, Ordnung durch Terror, Bonn 2006, S. 89.
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ist von Friedrich Nietzsche mit Emphase vertreten worden, der zugleich die Vision einer neuen Moral für einen Neuen Menschen entwarf, den „Übermenschen“. Nietzsche kann als Seismograph für soziale und kulturelle Tendenzen gesehen werden, die im 20. Jahrhundert zur Entfaltung kamen. Auch wenn Nietzsche für seine historische Sensibilität Anerkennung verdient, so war er doch ein strikter Anti - Universalist und Kritiker des Egalitarismus, so dass es auch schwerfällt, ihn umstandslos mit den partikularistischen Egalitarismen von NS oder Bolschewismus in Einklang zu bringen. Darüber hinaus wirft seine Kritik des Christentums und der Französischen Revolution die Frage auf, wie man den egalitären Universalismus im Zuge der modernen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert zu interpretieren hat. Im gegenwärtigen Kontext ist aufschlussreich, dass Trotzkis Utopie auf Nietzsches Übermensch ver weist, weil dadurch der Einfluss von geistigen Quellen auf den Bolschewismus deutlich wird, der über den traditionellen Marxismus hinausgeht.49 Hinzu kommt der wachsende Einfluss der Eugenik, die für das Bild des Neuen Menschen rezipiert wurde, eine Disziplin, die dem älteren Marxismus fremd ist.50 Wenn man so die Perspektive erweitert und die zusätzlichen Einflüsse benennt, die für die Utopie des Neuen Menschen relevant wurden, dann werden ähnlich wie im NS Vor verständnisse über die Kontinuität der „Moderne“ erschüttert. Insofern sehe ich meine vergleichende Moralbetrachtung in Übereinstimmung mit Untersuchungen, die Peter Fritzsche und Jochen Hellbeck zu Konzeptionen des Neuen Menschen im Stalinismus und NS vorgelegt haben, um einen simplifizierenden Narrativ des westlichen Fortschritts in Frage zu stellen : „Der Neue Mensch war eine Alternative, aber keine völlig unbekannte Figur, weil er mit Hilfe von Wissenschaft und Rationalität entworfen wurde und in Übereinstimmung mit grundlegenden Prämissen des westlichen ‚Fortschritts‘. Indem wir seinen Entwurf erforschen, stellen wir die immer noch dominante Annahme in Frage, dass der Liberalismus die Grundposition des Westens darstellt. Wir zeigen, dass der Liberalismus eine höchst kontingente Position ist, die massiven Angriffen über weite Strecken des 20. Jahrhunderts ausgesetzt ist.“51 Wenn wir den egalitären Unversalismus als das moraliche Zentrum des Liberalismus ansetzen und meiner Darlegung der moralischen Divergenz folgen, dann sind wir in der Lage, um zu analysieren, was „kontingent“ in der normativen Entwicklung des Westens ist, was über normativen Fortschritt gesagt werden kann und welch fundamentalen Gegensatz der egalitäre Universalismus gegenüber verschiedenen Typen einer von den Autoren benannten „illiberalen Moderne“ bedeutet. 49 Vgl. Bernice Glatzer Rosenthal, New Myth, New World. From Nietzsche to Stalinism, Pennsylvania 2002. 50 Vgl. Gerd Koenen, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus ?, Berlin 1998, Kap. 6; Hans Günther, Der sozialistische Übermensch. M. Gorkij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart 1993. 51 Peter Fritzsche / Jochen Hellbeck, „The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany“. In : Geyer / Fitzpatrick ( Hg.), Beyond Totalitarianism, S. 302.
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Egalitärer Universalismus und moralische Verschiedenheit in der Geschichte
Die unterschiedlichen Typen von moralischen Ordnungen, die sich vom egalitären Universalismus grundsätzlich abheben, werfen Licht auf eine historische Dynamik von Moralen, in der es den Universalismus selbst angemessen zu situieren gilt, sowohl was seine eigene Geschichte als auch was seine normative Besonderheit angeht. Von Richard Rorty stammt die bekannte These zur Kontingenz des Universalismus, die er im Zuge seiner Kritik an objektivistischen oder transzendentalistischen Versionen des Universalismus zum Diktum von der „Ethnozentrizität“ des Universalismus und der Menschenrechte zugespitzt hat.52 Ich teile mit Rorty die historische Zugangsweise, doch sehe ich keinen zwingenden Grund, auf die Rede von Universalismus zu verzichten, wenn man klarstellt, dass es um „historischen Universalismus“ in einer Welt divergierender moralischer Ordnungen geht.53 Wie zu zeigen war, sind diese Ordnungen unterscheidbar nach Maßgabe ihrer moralischen Inhalte, die den jeweiligen Angehörigen ihrer moralischen Gemeinschaft Orientierung geben. Der adäquate metaethische Begriff, um diesen Sachverhalten gerecht zu werden, ist daher „Pluralismus“, nicht aber „Relativismus“. Dieser oft pejorativ verwendete Begriff ist in Abhängigkeit von der These des moralischen „Monismus“ und einer ahistorischen Auffassung des Moralischen zu sehen. Die pluralistische Sicht der Moral, die ich vorschlage, stützt sich auf die Entfaltung divergenter moralischer Ordnungen in der realen Geschichte und nicht auf eine bloße Reflexion von möglichen Alternativen. Deshalb ist die Sprache des Universalismus in der Euro - Amerikanischen Hemisphäre in Verbindung mit der Entwicklung von moralischen Selbstverständnissen und Formen der sozialen Praxis seit dem 18. Jahrhundert zu sehen. Die Betrachtung des Universalismus als einer historischen Errungenschaft ist der erste Schritt, ebenso wie die historische Diagnose seiner Widersacher. Die ethische Reflexion, Kritik und Rechtfertigung nimmt ihren Ausgang von historisch situierten Formen der moralischen Sozialisation und den Ordnungen, die ich durch Idealtypen gefasst habe. Als Grundlage weiterer Reflexion gebe ich nun einen Grundriss wesentlicher Bestandteile des Universalismus. Es ist wichtig, die epochalen Ereignisse der Amerikanischen und Französischen Revolution nicht nur als politische Umbrüche zu sehen, sondern als innovatorische Aufbrüche zu einem neuen Selbstbild 52 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1989, Kap. 3; ders., Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt a. M. 2000, Kap. 2. In einer Antwort auf Kritik sagt Rorty, dass sein „ethnozentrischer Partikularismus“ der Verneinung eines objektivistischen Universalismus gleichkommt. Das ist kompatibel mit der historischen Lesart des Universalismus : ders., „Erwiderung auf Udo Tietz“. In : Thomas Schäfer / Udo Tietz / Rüdiger Zill ( Hg.), Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys, Frankfurt a. M. 2001, S. 108. 53 Vgl. Rolf Zimmermann, „Historischer Universalismus. Eine hermeneutische Transformation von Richard Rortys geschichtlich - existenziellem Paradigma“. In : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50 (2002), S. 505–518.
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des Menschen. Einerseits können die wohlbekannten Deklarationen der Menschenrechte auf konkrete Umstände sozialer und politischer Konflikte zurückbezogen werden. Andererseits brach sich mit ihnen eine neue moralische und politische Semantik Bahn, die sukzessive wichtige Teile der Gesellschaft durchdrang. Trotz ihren rassistischen und sexistischen Beschränkungen wurden die egalitären Botschaften der Revolutionen in reale Prozesse der Emanzipation überführt. Der Kampf gegen Sklaverei und die Dynamik des Kampfes um gleiche Rechte für Frauen stellen dominierende Entwicklungen dar, denen bei der Herausbildung von Gemeinschaften nach egalitären Prinzipien großes Gewicht zukommt. Verschiedene Stufen dieser Entwicklung können im Verfassungsrecht und den es bestimmenden Gesetzgebungsaktivitäten nachvollzogen werden. Daher kann man von einer Universalisierung des egalitären Universalismus im Lauf der Geschichte sprechen und diesen Prozess am Zusammenwirken von Universalisierung und dynamischer Verfassungsänderung studieren.54 Die Rede von der Universalisierung des Unversalismus ist nicht redundant, wenn man den Universalismus als moralischen Inhalt im Gegensatz zu anderen Moralen fasst. Dabei kann der Inhalt des Universalismus und seine Beziehung zu Menschenrechen wie folgt festgehalten werden : Jedem menschlichen Wesen wird derselbe moralische Status zugeschrieben, d. h. jedes menschliche Wesen wird als Mitglied einer Gemeinschaft betrachtet, die zu moralischen Einstellungen und zur wechselseitigen Respektierung ihrer Mitglieder fähig ist. Jedem Menschen, ob Frau oder Mann, wird eine eigene Würde zuerkannt und von jedem Menschen wird erwartet, dass er die Würde jedes anderen respektiert. Das Grundpostulat des egalitären Universalismus besteht so in einem Postulat des wechselseitigen Respekts von Menschen als Menschen. Wer immer diesem Postulat folgt, sieht davon ab, andere Menschen zu beleidigen, aus rassischen oder geschlechtlichen Gründen zu diskriminieren, zu bedrohen oder physisch anzugreifen. Aus der Perspektive jeden Individuums bedeutet das Praktizieren von wechselseitigem Respekt eine entsprechende Selbstverpflichtung und die Erwartung derselben Einstellung bei anderen. Der Selbstverpflichtung auf interhumanen Respekt korrespondiert so ein Anspruch darauf, selber respektiert zu werden. Insoweit lässt sich ein Begriff des egalitären Universalismus unabhängig von der Frage der Menschenrechte festhalten.55 Es ist jedoch begriff lich konsistent und historisch adäquat, das universalistische Postulat des wechselseitigen Repekts in Begriffen der Menschenrechte fortzuschreiben, wobei es um individuelle Rechte von Menschen geht. Die wechselseitige Verpflichtung auf interhumanen Respekt wird dann als wechselseitige Verpflichtung ausgedrückt, die moralischen Rechte zu achten, die jedem Individuum zukommen. Politische und juridische Rechte formulieren die Konzeption moralischer Rechte weiter aus. 54 Hier stütze ich mich auf : Bruce Ackerman, „Rooted Cosmopolitanism“. In : Ethics, vol. 104 (1994) no. 3, S. 517–535. 55 Vgl. die Diskussion in : Zimmermann, „Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt“, S. 483; ders., „Replik“, S. 486.
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„Taking rights seriously“ ( Dworkin ) besagt daher in meiner Lesart, dass wir die Dynamik des egalitären Universalismus ernstnehmen, aber zugleich auf die traditionelle Doktrin „natürlicher Rechte“ verzichten. Moralische Rechte im universalistischen Sinn sollten als vom Willen getragen gesehen werden und nicht als natürliche Ausstattung des Menschen. Dem entpricht eine volitive Norm der Gleichheit, die auf das 18. Jahrhundert zurückführt, als Menschen begannen, sich ein neues Selbstbild zu geben. Um eine stilisierte Fassung zu formulieren, in der die moralische Innovation zum Ausdruck kommt, könnte man festhalten: „Von nun an wollen wir uns als Menschen unter Menschen so verstehen, dass wir uns denselben moralischen Status und dieselben Rechte zuschreiben.“ Aus der gegenwärtigen Perspektive können wir dieses Postulat bekräftigen und inhaltlich der Explikation folgen, die Dworkin vorträgt, dass es nämlich um ein Recht geht „auf gleiche Rücksicht und Achtung [...], das alle Männer und Frauen besitzen, und zwar nicht kraft ihrer Herkunft oder bestimmter Merkmale oder Verdienste oder Vortrefflichkeit [...], sondern einfach deswegen, weil sie menschliche Wesen sind“.56 Es kann als typisch für volitive Gleichheit angesehen werden, dass sie sich stets im Gegensatz zu einem historischen Gegner befindet, den es zu überwinden gilt : traditionelle Autoritäten und hierarchische Strukturen im 18. und 19. Jahrhundert, Nazismus und Bolschewismus im 20. Jahrhundert, weltweite Verletzungen von Menschenrechten in der Gegenwart. In unserem Zusammenhang ist es besonders relevant, die Bedeutung des volitiven Gleichheitsbegriffs als eines Begriffs der Gleichheit von Individuen und ihrer individuellen Rechte zu betonen, wobei Raum gelassen wird für individuelle Besonderheiten und Unterschiede. Nietzsches pejorativer Begriff der Gleichheit als moderne Gleichmacherei ist ebenso zu kritisieren wie die Radikalisierung von Gleichheit zu proletarischer Gleichheit im Bolschewismus oder zu rassischer Homogenität in der „Volksgemeinschaft“ des NS. Mit diesen Klarstellungen sei noch einmal an den idealtypischen Zuschnitt meines Begriffs der volitiven Gleichheit als dem moralischen Zentrum der westlichen Form von Vergemeinschaftung erinnert. Wir alle wissen, dass es eine Vielfalt sozialer Ungleichheiten im Bereich westlicher Gesellschaften gibt und dass Gerechtigkeitsprobleme bestehen. Doch diese Fragen haben als ihren Diskussionsrahmen das im egalitären Sinn definierte moralische Zentrum. Dasselbe gilt im globalen Maßstab für die Orientierung an der UN - Erklärung der Menschenrechte. Wie deren Geschichte zeigt, wurden inzwischen die westlichen Ursprünge der Menschenrechte in einen Prozess autonomer Anerkennung überführt, der sie nicht länger kulturalistisch zu deuten erlaubt. Auch dieser Prozess fällt unter die Begriff lichkeit der Universalisierung des Universalismus.
56 Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a. M. 1984, S. 300 ( Übersetzung : Ursula Wolf ).
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Eine weitere Differenzierung sei hinzugefügt. Diese betrifft die Frage der Balance zwischen Universalismus und Partikularismus im Hinblick auf partikularistische Formen, die dem Universalismus nicht strikt entgegenstehen. Es gibt ein breites Spektrum partikularistischer Phänomene, die vom Lokalpatriotismus über Sportpatriotismus bis zu nationalen oder ökonomischen Egoismen reichen. Solche Phänomene stellen solange keine grundsätzliche Absage an den Universalismus dar, als sie sich einem Vermittlungprozess nach universalistischen Kriterien aussetzen lassen, in dem es darum geht, an einem Ausgleich von Interessen oder kontroversen Einstellungen zu arbeiten, bei dem nach Möglichkeit eine symmetrische Berücksichtigung der Beteiligten stattfindet. Der Deutlichkeit halber ergänze ich das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus um eine zusätzliche Überlegung. Wenn man meiner Darlegung folgt, die verschiedene moralische Ordnungen in der Geschichte charakterisiert und dabei den egalitären Universalismus seinerseits historisch situiert, so könnte man auf die Idee kommen, den Universalismus in einem sehr allgemeinen Sinn auch als eine Art von Partikularismus zu verstehen, vor allem dann, wenn man an vergleichende Perspektiven in der Sozialanthropologie denkt.57 Plausibel an dieser Idee mag sein, dass sie in gewissem Sinn den metaethischen Pluralismus unterstreicht, den ich auch vertrete, doch aus begriff lichen und historischen Gründen ist am Begriff des egalitären Universalismus festzuhalten, weil er die fraglichen moralischen Verhältnisse trennscharf artikuliert. Die besondere Qualität des Universalismus macht ihn noch nicht zu einer Form des Partikularismus. Was ihn an Besonderheit auszeichnet, ist in der Tat die Integration aller menschlichen Wesen in wechselseitige Beziehungen der Gleichheit. Alle Tendenzen zu einem Gattungsbruch oder Bestrebungen, andere Brüche der Gattungsintegration herbeizuführen, sind normativ ausgeschlossen, wie wir gesehen haben. Doch das könnte auch von traditionelleren Moralen gesagt werden, die gleichwohl auf hierarchischen Ungleichheiten bestehen. Hieraus folgt, dass wir Moralen nicht nur hinsichtlich der Gegenüberstellung in Erlösungsmoralen ( NS, Bolschewismus ) und Integrationsmoralen zu unterscheiden haben ( vgl. oben unter II.), sondern auch in Bezug auf den Begriff von Gleichheit, den sie als grundlegend ansehen. Moralen können nach Maßgabe ihres leitenden Begriffs von Gleichheit unterschieden werden : Gleichheit von Deutschen / Ariern in der „Volksgemeinschaft“, proletarische Gleichheit im Kommunismus, menschliche Gleichheit unter hierarchischen Bedingungen etc. Keiner dieser Begriffe stimmt mit der spezifischen Qualifikation überein, die den egalitären Universalismus auszeichnet : Gleichheit von Menschen einfach als Menschen und Gleichheit individueller Rechte. Der Erfolg dieser Art von Universalismus und seine Verbreitung in einer Kultur der Menschenrechte darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hoffnungen auf apriorische oder essentialistische Rechtfertigungen vergeblich sind. Abgese57 So das Argument von Thomas Widlok in der Diskussion : Zimmermann, „Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt“, S. 479; ders., „Replik“, S. 494.
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hen von den internen Schwierigkeiten solcher Bemühungen sprechen gegen sie die Erfahrungen anderer moralischer Ordnungsgebilde im welthistorischen Rahmen, deren Normen die Gattungsintegration negiert haben. Es scheint mir deshalb obsolet, weiter an einem kantischen Paradigma in der Ethik zu arbeiten, nicht einfach, weil historische Fakten das nicht zulassen würden, sondern weil eine systematische Reflexion auf solche Fakten und auf moralische Erfahrung eine postkantische Begriff lichkeit zur Bestimmung des Universalismus erfordern.58 Der einzig mögliche Weg, um für den egalitären Universalismus einen quasi überhistorischen Status zu gewinnen, liegt in der geschichtlichen Entwicklung selbst, d. h. in seiner Stärkung durch globale Prozesse, die ihm immer größere Akzeptanz zuführen und auf diese Weise in eine Enthistorisierung seines egalitär - universalistischen Gehalts münden. Die Geschichte der Menschenrechte vermag zu demonstrieren, wie sich dieser Gehalt nach und nach in psycho - moralischen Einstellungen des gegenseitigen Respekts verfestigt hat, Einstellungen, die motiviert wurden durch affektuellen wie rationalen Protest gegen Unterdrückung welcher Art auch immer, aber auch durch den Wunsch zu zwischenmenschlichen Umgangsformen mit freiem Austausch als gleiche Personen.59 Etwas systematischer gefasst bedeutet das den Schritt zu einer elementaren Einstellung der inter - personalen Anerkennung, des personalen Einschlusses in Ich - Du - Beziehungen oder Wir - Ihr - Beziehungen, die für die Teilnahme aller offen gehalten werden. Zu dieser elementaren Einstellung gehört jedoch weiter, dass sie auch in Situationen des Konflikts, der affektuellen Ablehnung oder der sozialen, politischen oder moralischen Kritik und Anklage erhalten bleibt, auch wenn es schwerfallen mag. In diesem Sinn handelt es sich bei der elementaren Einstellung zum wechselseitigen personalen Einschluss keineswegs um eine Selbstverständlichkeit, sondern um eine Einstellung, die auf motivationale Quellen verweist, die auf sozio - kulturelle Kontexte und historische Konstellationen bezogen sind. Motive können zwar nur Individuen zugeschrieben werden, doch ist es möglich, dass Menschen ihre Motive vergleichen und sie aufeinander abstimmen, um ihnen in gemeinsamen Einstellungen oder Aktionen Gewicht zu verleihen. Meine komparative Sicht auf den egalitären Universalismus, Bolschewismus und NS könnte somit fortgeschrieben werden in eine Analyse von Motiven und ihrer Bedeutung als Gründe für Einstellungen und Handlungen. Das bereits benannte psycho - moralische Einstellungsprofil der elementaren personalen Inklusion ist jedoch für den gegenwärtigen Kontext ausreichend, um den Gegensatz zu den Erlösungsmoralen zu markieren, die in militanter Weise ein solches Einstellungsprofil bekämpfen, um exklusive moraliche Ordnungen zu etablieren. Das Urteil, 58 Dieses Argument näher auszuführen wäre eine Diskussion für sich. Grundsätzlich stimme ich mit John Silbers Kritik an Kant überein, wie sie wiedergegeben wird bei : Richard J. Bernstein, „Radical Evil : Kant at war with himself“. In : Maria Pia Lara ( Hg.), Rethinking Evil, Berkely, Los Angeles 2001, S. 80; vgl. meine Kritik an Christine Korsgaard : Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz, S. 46 ff. 59 Vgl. Lynn Hunt, Inventing Human Rights, New York 2007.
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dass diese Ordnungen in einem tiefen Sinn inhuman sind, insbesondere in Anbetracht ihrer Vernichtungsaktionen, beruht nicht zuletzt auf der phänomenologisch nachvollziehbaren Evidenz zugunsten eines zwischenmenschlichen Einstellungsprofils der personalen Inklusion. Wenn man dieses Profil teilt, dann folgt daraus freilich auch eine bestimmte Einstellung gegenüber Gewalttätern und Verantwortlichen für Massenvernichtungen wie Hitler und Stalin mit ihren Gefolgsleuten. Sie gehören zur Menschheit in ihrer geschichtlichen Vielfältigkeit, auch wenn sie ihrerseits einen umfassenden Begriff der menschlichen Inklusion ablehnen. Damit ist die Asymmetrie bezeichnet, die zwischen den diskutierten moralischen Ordnungen besteht. Zum Abschluss füge ich einige Bemerkungen an, wie man begriff lich nicht operieren sollte, um die Moralen von NS und Bolschewismus zu interpretieren. Der Vorschlag, den Nazismus als „verdrehte Deontologie“ und den Bolschewismus als „verdrehten Konsequentionalismus“ zu fassen, sollte man eher als Artikulation einer Verlegenheit denn als analytisch hilfreich ansehen,60 weil sich damit die Spezifika dieser Moralen in vage Analogien verschieben. Dasselbe gilt für Kennzeichnungen des Bolschewismus als radikale Version des Utilitarismus.61 Das wird deutlich, wennn man den Partikularismus von NS und Bolschewismus im Gegensatz zum Universalismus festhält. Dann nämlich ist klar, dass im modernen Kontext, deontologische oder utilitaristische oder konsequentionalistische ethische Konzeptionen allesamt auf universalistischer Grundlage operieren, wie immer sie sich unterscheiden mögen. Es wirkt deshalb wenig überzeugend, für die Charakterisierung von NS oder Bolschewismus solche Leitbegriffe ins Spiel zu bringen, denn das würde implizieren, dass man deren Erlösungsmoralen in gewisser Weise im Begriffsfeld universalistischer Ethiken deutet – ein klarer Widerspruch zu den dargelegten Partikularismen. Eine interessante Variante der Idee, den NS im Rahmen eines konventionellen Rahmens von Moral zu deuten, stammt von Lothar Fritze.62 Er konzentriert sich auf „totalitäre Täter“ und entwickelt die These, dass Täter dieser Art mit elementaren moralischen Normen übereinstimmen könnten, die auch für Bürger einer konstitutionellen Demokratie gelten. Der Unterschied liegt nicht in den moralischen Grundnormen, sondern in der Reichweite der Normen und in zusätzlichen moralischen Regeln, die beide abhängig sind von unterschiedlichen „außermoralischen“ Überzeugungen. Außermoralische Überzeugungen sind solche, die sich auf Beschreibungen der Welt, Tatsachen des sozialen Lebens, des menschlichen Verhaltens oder Wertvorstellungen beziehen, nicht jedoch auf solche, die Urteile über „moralisch richtig oder falsch“ zum Gegenstand haben. 60 Jonathan Glover, Humanity, Pimlico, London 2001, S. 327. In vielen anderen Punkten stimme ich mit Glover überein, insbesondere mit der Charakterisierung moralischer Transformationen im NS und Bolschewismus. 61 Vgl. Micha Brumlik, Michael Hauskeller in der Diskussion : Zimmermann, „Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt“, S. 430 f., 435 f. 62 Lothar Fritze, „Moralische Rechtfertigung und außermoralische Überzeugungen. Sind ‚totalitäre Verbrecher‘ nur in einer säkularen Welt möglich ?“. In : Leviathan, 37 (2009), S. 5–33.
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Rolf Zimmermann
Lassen wir für einen Moment den Kontrast zwischen der moralichen Ordnung des NS und dem westlich - universalistischen Typus, den ich oben dargelegt habe, beiseite, um Fritze folgen zu können, so mag eine Gemeinsamkeit darin zu sehen sein, dass in beiden Ordnungen das Tötungsverbot von besonderem Gewicht ist, eine Grundnorm, die Fritze als Paradigma dient. Doch das besagt zunächst nur, dass jede Gesellschaft Regeln für den Umgang mit Problemen von Gewalt und Fragen von Leben und Tod benötigt. Welche Antworten im Einzelnen gegeben werden, etwa im Bereich des Strafrechts, hängt vom moralisch - normativen Zentrum der Gemeinschaft ab. Es ist nicht überraschend, dass der Nazismus eine Argumentation aufgebaut hat, derzufolge die Grundnorm des Tötungsverbots aufzuheben sei, wenn es um die Rechtfertigung zur Vernichtung der Juden oder anderer Feinde ging, nicht zuletzt wegen des Traditionsgewichts des Tötungsverbots und dem Streben nach Akzeptanz für entsprechende Aktionen. Wenn man Hitler und Himmler zugesteht, dass sie fähig waren, sich mit normativ - moralischen Fragen auseinanderzusetzen und ihre Motive in einer diesbezüglichen Reflexion zum Ausdruck zu bringen, dann scheint es klar, dass sie nicht auf der Basis universell geteilter Grundnormen deren Reichweite begrenzten, weil ihre außermoralischen Überzeugungen dafür sprachen, sondern dass sie umgekehrt versuchten, ihre Aktionen und Pläne mit ihren eigenen normativ - moralischen Überzeugungen in Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir den Gründen nachgehen, die Fritze für die nazistische Rechtfertigung der Judenvernichtung anführt, kann dieser Sachverhalt deutlich werden. Der Glaube an die „jüdische Gefahr“ und Weltverschwörung als Bedrohung der ganzen Menschheit war die „außermoralische“ Überzeugung, die der Rechtfertigung zur Verfolgung und Vernichtung der Juden zugrundelag und die dazu führte, moralische Grenzen hinter sich zu lassen, weil der „jüdische Feind“ keine andere Wahl ließ. Zweifellos wurde diese Art von Argumentation von der NS - Führung und anderen Tätern verwendet. Doch die entscheidende Frage ist, warum die außermoralische Überzeugung von der jüdischen Bedrohung derart überwältigende Dominanz gewinnen konnte, ohne dabei bislang als selbstverständlich erachtete moralische Standards hinter sich zu lassen. Um das zu erkennen, muss man sich der unbelehrbaren Verbohrtheit zuwenden, mit der die NS - Führung und andere der oben ( unter II.) bereits als Fälschung bezeichneten Quelle der „Protokolle der Weisen von Zion“ anhingen. Interessanter weise wurden diese Protokolle in der internationalen Presse der 1920er Jahre diskutiert und sogar vorübergehend für authentisch gehalten. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die London Times berichtete, dass diese Quelle aller Wahrscheinlichkeit nach eine Fälschung darstelle. Nachdem die Frankfurter Zeitung, eine jüdische Gründung, einen entsprechenden Bericht über die Fälschung gebracht hatte, kommentierte das Hitler so, dass allein die Tatsache, dass der Bericht in dieser Zeitung erschienen sei, den besten Beweis für ihre Echtheit liefere.63 Und für Himmler war klar, dass der Bericht über die Fälschung 63 Hitler, Mein Kampf, S. 337.
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entweder auf die Juden selber zurückging oder von jüdischem Geld finanziert war.64 Was ist die moralische Relevanz solcher Aussagen ? Sie besteht in der Weigerung, der empirischen Prüfung von Sachverhalten Relevanz beizumessen, obwohl diese von äußerster moralischer Bedeutung im Hinblick auf Konsequenzen für die Bekämpfung der Juden sind. Wenn man von herkömmlichen Standards ausgeht, dann scheint klar, dass möglicherweise tödliche Aktionen gegen Feinde, wenn überhaupt, nur dann zu rechtfertigen sind, nachdem so präzise wie irgend möglich die „außermoralischen“ Überzeugungen, die der Rechtfetigung der Aktionen dienen sollen, einer Prüfung unterzogen wurden.65 Wer immer sich weigert, solchen Prüfungen stattzugeben, kann entweder nur als moralisch verwerf lich oder als unter anderen moralischen Annahmen stehend beurteilt werden. Diese gegenläufige Art von Moral blockiert relevante Informationen im Sinne von Fritzes außermoralischen Überzeugungen. Es ist sehr richtig, wenn er die Wichtigkeit einer Analyse der NS - Überzeugungen betont, doch das betrifft die Dimension von assertorischen Sätzen. Die andere in Frage stehende Dimension besteht in der Analyse der Entwicklung von Einstellungen oder affektuellen Wertungen, durch die Überzeugungen geleitet werden, eine Dimension von Motiven und normativen Identifikationen. Der entscheidende Punkt kann deutlich werden, wenn wir für einen Augenblick unterstellen, dass die Überzeugung, es gebe eine jüdische Weltverschwörung, richtig sein mag. Was jedoch folgt daraus ? Offenbar gibt es praktische Optionen, die sich weitgehend von der NS - Vernichtungsstrategie unterscheiden. Es wäre möglich, etwa so zu reagieren, dass man nach Bündnissen zur Neutralisierung oder Eindämmung der Gefahr sucht, dass man auf internationaler Ebene die Gefahr brandmarkt etc., alles Möglichkeiten, die sich im Rahmen herkömmlicher moralischer Auffassungen hielten. Es ist daher evident, dass es keineswegs zwingend ist, die Konequenzen zu ziehen, die der Nazismus gezogen hat. Daher muss man den Prozess der moralischen Transformation – und nicht nur „außermoralische“ Überzeugungen – heranziehen, um die fatalen NS- Konsequenzen zu deuten. Der radikale Partikularismus, der diesen Konsequenzen zugrundeliegt, sollte von einem traditionellen ethischen Vokabular unterschieden werden. Wir müssen das Phänomen eines moralischen Andersseins konstatieren, für dessen moralphilosophische Deutung am Ehesten eine Terminologie adäquat erscheint, die sich an seinen wesentlichen Zügen orientiert. Dasselbe trifft auf die Deutung des Bolschewismus zu.
64 Vgl. Felix Kersten, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform, Hamburg 1952, S. 40. 65 Dieses Problem wird andernorts deutlich von Fritze benannt, wenn er von „kognitiven Sorgfaltspflichten“ spricht : Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen. Zur Analyse menschlichen Versagens im diktatorischen Sozialismus. In : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 46 (1998) 6, S. 955–969, insbes. 964.
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Ethik nach dem Holocaust. Jüdische Antworten Isaac Hershkowitz
I.
Einleitung
Eliezer Berkovits (1908–1992),1 ein amerikanischer Rabbi, der für sein tiefgründiges Denken bekannt und hoch angesehen war, schrieb in seinem Sammelband Faith after the Holocaust,2 da er selber kein Überlebender des Holocaust sei, habe er nicht das Recht, das Verhalten derer, welche diesen überlebt hatten, aus religiöser Perspektive zu beurteilen. Er erklärt, dass, während er volles Verständnis für diejenigen Holocaust - Überlebenden habe, die sich dazu entschieden hatten, sich nicht länger nach Gottes Geboten zu richten, da sie dessen Abwesenheit derart fühlbar und schmerzhaft erfahren hätten, dennoch die gegenteilige Reaktion nicht weniger Gültigkeit beanspruchen könne. So wie er nicht diejenigen kritisieren könne, die ihren Glauben verloren hatten, sei es aus dem gleichen Grund aus ethischer Sicht unangemessen, Ärger oder Erstaunen über diejenigen zum Ausdruck zu bringen, die inmitten des Abgrundes Gottes Anwe1
2
Berkovits, Verfasser vieler Bücher und Artikel zur Natur jüdischer Philosophie und jüdischen Rechts, ist in Ungarn geboren worden und dort aufgewachsen. Er war ein Schüler von Rabbi Yechiel Yaákov Weinberg. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg diente er als Rabbi in Berlin, floh aber beim Ausbruch der Feindseligkeiten nach England. Nach dem Krieg nahm er die Stellung eines Rabbiners in Sidney, Australien, sowie später in Boston an. Von 1958 bis 1976 leitete er das Institut für jüdische Philosophie an der Hebräischen Theologischen Hochschule in Skokie, Illinois, USA. Nach seiner Pensionierung ließ er sich in Israel nieder. Zu Berkovits’ komplexer, auf den Holocaust bezogenen Theologie und Moral siehe: David Hazony, „Eliezer Berkovits and the Revival of Jewish Moral Thought“. In : Azure, 11 (2001), S. 23–65, sowie Zachary Braiterman, „Anti / Theodic Faith in the Thought of Eliezer Berkovits“. In : Journal of Jewish Thought & Philosophy, 7 (1997) 1, S. 83–100. Mit Braitermans Sicht beschäftigt sich ausführlich Marc A. Krell, „Eliezer Berlovits’s Post - Holocaust Theology : A Dialectic Between Polemics and Reception“. In : Journal of Ecumenical Studies, 37 (2000) 1, S. 28–46. Siehe auch John J. Johnson, „Are We Asking the Wrong Questions about the Shoah ? Eliezer Berkovits as Post - Holocaust Jewish Apologist“. In : Conservative Judaism, 57 (2004) 1, S. 65–86. Eliezer Berkovits, Faith after the Holocaust, Jersey City / NJ 1973, S. 94–107. Die Vorstellung der Verantwortung des Menschen für die Welt wird in seinem wichtigen Sammelband Eliezer Berkovits, Not in Heaven : The Nature and Function of Halakha, Jersey City / NJ 1983, vollständig entwickelt.
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senheit erkannt hätten. Er stellte fest, dass jeder, der den Schrecken nicht aus erster Hand erlebt habe, von jedem Versuch abstehen müsse, aus den Ereignissen und Gräueltaten direkte theologische Implikationen abzuleiten. So jemand könne schlichtweg den überwältigenden geistigen Aufruhr nicht erfassen, dem Holocaust - Überlebende ausgesetzt gewesen sein müssen. Nichtsdestotrotz behauptet Berkovits, dass jeder Mensch, und besonders jeder Jude, bestimmte moralische Erkenntnisse aus dem Holocaust als eines metaphysischen Ereignisses von gewaltiger Bedeutung gewinnen müsse : „In gewissem Sinne kann Gott nicht gut oder böse sein. Aufgrund seiner eigenen Natur ist er unfähig zum Bösen. Da er aber aufgrund seiner ganzen Natur nichts Böses tun kann, kann er ebenso wenig etwas Gutes bewirken. Da er des Unethischen nicht fähig ist, ist er kein ethisches Wesen. Für ihn stellt das Gute weder ein Ideal noch einen Wert dar; es handelt sich um Existenz, es handelt sich um vollkommen verwirklichtes Sein. Gerechtigkeit, Liebe, Friede, Gnade sind nur für Menschen Ideale. Sie stellen Ideale dar, die nur vom Menschen verwirklicht werden können. Gott ist Perfektion. Doch gerade wegen seiner Perfektion fehlt ihm tatsächlich ein Wert, nämlich derjenige, der sich aus dem Streben nach Werten ergibt.“3
Dieser Text, der stark von Rabbi Avraham Yitzchak Hacohen Kook beeinflusst ist,4 enthält eine für einen Rabbiner bedeutsame theologische Konzession. In kühner Weise bringt Berkovits einen Gedanken zum Ausdruck, den viele für häretisch halten dürften : Gott sollte nicht an ethischen Maßstäben gemessen werden. Demnach muss Gott nach Berkovits von der Verantwortung für jegliche ethische Missetat freigesprochen werden, sowohl während der Jahre des Holocaust als auch, allgemeiner, im Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte. Gott lehrt die Menschheit ethisches Verhalten, er ist die Quelle unseres Wissens und unserer Eingebungen, doch er selbst unterliegt nicht den Maßstäben menschlicher ethischer Normen. In dieser Weise marginalisiert Berkovits die tief verwurzelte religiöse Vorstellung der imitatio dei und stellt daraus erwachsend Fragen nach dem Konzept an sich, da seine Formulierung uns zu der Schlussfolgerung führt, dass Gott nicht das Modell ist, nach dessen Nachahmung wir streben sollen, um zu moralischer Perfektion zu gelangen. Ich möchte betonen, dass dies nur eine der möglichen Schlussfolgerungen ist, die sich aus Berkovits Worten ziehen lassen, da ich der Meinung bin, dass er mit Sicherheit etwas anderes meinte. In diesem Kapitel folge ich Berkovits Fußstapfen, indem ich versuchen werde, eine jüdische ethische Antwort auf den Holocaust herauszuarbeiten bezie3 4
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 104–105. Rabbi Kook (1865–1935), ein litauischer Rabbiner und Denker, war der erste israelische Oberrabbiner vor der Gründung des Staates Israel und eine der einflussreichsten Figuren des Judaismus im 20. Jahrhundert. Sein Einfluss ist insbesondere in religiös zionistischen Kreisen der modernen Othodoxie im heutigen Israel festzustellen. Zu Rabbi Kook siehe Dov P. Elkins, Shepherd of Jerusalem : A Biography of Rabbi Abraham Isaac Kook, Northvale / NJ 1995. Zu einer gründlicheren Analyse von Kooks Einfluss auf ideologische Kreise der israelischen Gesellschaft siehe Dov Schwartz, Faith at the Crossroads : A Theological Profile of Religious Zionism, Leiden 2002.
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hungsweise, um genauer zu sein, eine meta - ethische Studie zu jüdischen Antworten auf den Holocaust.5 Bevor ich mich aber an dieses einigermaßen unmögliche Unterfangen begebe, will ich zunächst umreißen, was eine „jüdische“ Antwort bereits qua definitionem enthalten muss, und erklären, in welcher Weise solch eine grobe Verallgemeinerung sowohl bedeutsam als auch von besonderem Wert sein kann für unsere Versuche, ethische Konzeptionen in die Debatte um den Holocaust einzubringen.
II.
Was ist eine „jüdische Antwort“ ?
Einer der methodologischen Einwände, die gegen jedwede ethnische Definition einer ethischen Haltung erhoben wurde, stark beeinflusst von Lawrence Kohlberg und Jean Piaget, konzentriert sich auf den Anspruch, der mit jedem Versuch einhergeht, von „den Anderen“ oder im vorliegenden Fall von einer „jüdischen“ ethischen Antwort auf den Holocaust zu sprechen. Da Moral nach Kohlberg im Lichte der moralischen Entwicklung des Individuums gesehen werden muss, stellt eine Bandbreite moralischer Antworten auf egal welches Phänomen tatsächlich eine Abfolge moralischer Stationen dar. Nach diesem Modell bleibt wenig Raum für ethnische Einzigartigkeit. Die Entwicklung der Moral leitet sich aus einer objektiven Gerechtigkeit ab, einer prima facie absoluten Gerechtigkeit.6 Piaget war allerdings mit Durkheim einer Meinung, der eine Studie zur menschlichen Moral, motiviert von der „Zugehörigkeit zur Gesellschaft“ eines jeden Menschen, forderte.7 Durkheim behauptete, dass jede Moral Teil
5
6 7
Etwas Ähnliches unternahm Michael L. Morgan in seinem Aufsatz : „Jewish Ethics after the Holocaust“. In : The Journal of Religious Ethics, 12 (1984) 2, S. 256–277. Allerdings haben beide Texte wenig gemeinsam. Obwohl Morgan sich mit „jüdischen Elementen“ der Ethik befasst, leitet er seine Theorie aus der jüdischen Geschichte und traditionellen Moral ab, wie sie im Jüdischen Gesetz ( Halakhah ) zum Ausdruck kommt, und entwickelt seine Erkenntnisse zu jüdischen Antworten auf den Holocaust nicht zu einem eigenständigen Genre. Dies liegt daran, dass er ausschließlich auf Emil Fackenheims religiös - ethische Antworten vertraut, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen möchte. Fackenheim, ein Denker von Rang und Meister der jüdischen sowie der modernen Philosophie, kann nicht als der einzige Denker gesehen werden, der in ethischer Hinsicht mit dem Holocaust beschäftigt ist, und nicht einmal als der wichtigste. Im Gegensatz dazu besteht meine Intention darin, eine große Bandbreite jüdischer ethischer Antworten vorzulegen, mit der, wie ich glaube, die meisten Denker in Verbindung gebracht werden können, die sich mit jüdischer Ethik und dem Holocaust beschäftigen. Eine phänomenologische Übersicht über diese Bandbreite ethischer Antworten bringt uns wahrscheinlich zu einem „authentischeren“ Modell jüdischer Antworten, deren Kriterien Morgan in Fackenheims Werken aufzufinden versuchte ( siehe ebd., S. 258–259, sowie durchgehend im Text ). Siehe Lawrence Kohlberg, Essays on Moral Development, Band 1 : The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1981. Siehe Emile Durkheim, „Progressive Preponderance of Organic Solidarity“. In : ders., On Morality and Society, hg. von Robert N. Bellah, Chicago 1973, S. 63–85. Jean Piaget, Judgement and Reasoning in the Child, New York 1928.
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der Gesellschaft sei und nicht außerhalb des tatsächlichen gesellschaftlichen Lebens und der Kultur stehe.8 Indem er Immanuel Kant folgt, der eine rationale Grundlage für die menschliche Moral forderte, stellt Durkheim ebenfalls fest, dass für Individuen die Notwendigkeit bestehe, über ihr natürliches Selbst „hinauszugreifen“. Doch trennte Durkheim moralische Regeln und Entwicklungen nicht von der Gesellschaft, sondern identifizierte sie als emotional begründete Produkte der Gesellschaft.9 Da allerdings das Judentum in der Welt äußerst vielfältig ist und eine Vielzahl ideologischer, sozialer und religiöser Unterteilungen aufweist, wäre es anmaßend, vielleicht sogar kindisch, den Anspruch zu erheben, eine „jüdische Antwort“ zu definieren, selbst innerhalb eines Rahmens, der eine solche Definition grundsätzlich zuließe. Dennoch glaube ich, dass der Versuch nützlich sein kann, einen grundsätzlichen gemeinsamen Nenner aufzuzeigen, den zwei hauptsächliche Quellen jüdischer ethischer Sichtweisen teilen. Dies ist eine zutreffende Feststellung, auch wenn ich gerne bereit bin zuzugestehen, dass diese Quellen eher die Sichtweise hypothetischer Gemeinschaften darstellen und nicht notwendigerweise diejenigen tatsächlich bestehender Gruppierungen. Dementsprechend will ich nicht jüdische Antworten mit einer Kategorie jüdischer Ethik versehen, sondern gemeinsame Elemente innerhalb diverser jüdischer Antworten auf den Holocaust aufspüren, die sich intuitiv, aber nicht grundsätzlich von allgemeinen Antworten außerhalb der jüdischen Gesellschaft unterscheiden. Um die Suche nach einer „jüdischen Antwort“ zu beginnen, müssen wir zunächst klarstellen, was das Wort „jüdisch“ heutzutage bedeutet. Das Zwanzigste Jahrhundert fand das Judentum in einem sehr zerbrechlichen Zustand vor, eine Vielzahl innerer Zwiespalte drohte, das auseinander zu reißen, was zuvor als ein einheitliches Volk betrachtet worden war. Orthodoxie, Konservative, Rekonstruktionisten, Neologen und so weiter, all dies sind Bezeichnungen für unterschiedliche religiöse Fraktionen des Judentums. Mehr noch, die Orthodoxie selber umfasst Dutzende verschiedener Untergruppen, von denen manche nicht mit den anderen reden, da die ideologischen Differenzen zwischen ihnen zu tiefgehend sind. Doch wenn wir von „den Juden“ sprechen, meinen wir üblicherweise nicht nur die religiöse Komponente, sondern beziehen ebenso die Lager der Atheisten und der assimilierten Juden in die Debatte ein. Daher scheint es, dass wir, wenn wir von „den Juden“, „Weltjudentum“ und so weiter sprechen, zugeben müssen, dass wir in Wahrheit von einer nur theoretischen Gemeinschaft reden – nicht von einer wirklichen. Louis Newman fasste das Problem, sowohl den Judaismus zu definieren als auch diesem einen gemeinsamen ethischen Kodex zuzusprechen, folgendermaßen zusammen : „In der Geschichte des Judaismus hat man eine ganze Reihe von Positionen zu Fragen 8 9
Siehe auch Anthony Cortese, Ethnic Ethics : The Restructuring of Moral Theory, Albany 1990, S. 7–42. Vgl. Chris Shilling /Philip A. Mellor, „Durkheim, Morality and Modernity : Collective Effervescence, Homo Duplex and the Sources of Moral Action.“ In : The British Journal of Sociology, 49 (1998) 2, S. 193–209.
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sowohl angewandter als auch theoretischer Ethik eingenommen und in der jüdischen Literatur bewahrt. Wenn man auch die Tatsache anerkannt hat, dass diese Vielfalt existiert, hat man dennoch im Allgemeinen die daraus erwachsenden Implikationen nicht vollständig erkannt.“10 Mehr noch, es scheint, dass Vertreter und Denker des Antisemitismus dazu neigen, sich Verallgemeinerungen zunutze zu machen, nach denen alle Juden eine gemeinsame Gruppierung darstellen, die eine gemeinsame Vision sowie eine Vorstellung von den zu ihrer Verwirklichung nötigen Mittel teilt. Die Wahrheit ist natürlich weit entfernt von einer jeden derart billigen Vereinfachung. Dieses methodologische Definitionsproblem wird noch verzwickter, wenn wir versuchen, zum Beispiel „jüdische Elemente“ in jemandes Philosophie, Kommentaren oder Reden festzustellen. Was verstehen wir unter einem jüdischen Element ? Macht die Bezugnahme auf literarische Quellen im Alten Testament oder auf die umfangreiche Rabbinische Hinterlassenschaft der Mündlichen Torah, Halakha, sowie auf entsprechende Gedanken einen Text „jüdisch“? Vielleicht stellen bestimmte mentale oder kognitive Neigungen ein Kriterium dar – ein Kriterium, das sich entdecken lässt, indem man sich auf einen bestimmten Ansatz des Umgangs mit verschiedenen Themen bezieht ?11 Es gibt allerdings auch noch ein weiteres, allgemeineres und beunruhigenderes Problem, wie Joseph Sermoneta festgestellt hat : „Es ist unmöglich, von jüdischer Philosophie in dem Sinne zu sprechen, dass sie vom allgemeinen Denken getrennt sei. Philosophie ist per definitionem etwas universales. Sie stellt Fragen, die sich Menschen zu jeder Zeit stellen [...] man kann diesen Fragen kein bestimmtes Schild ankleben, mit dem man sie einer bestimmten Gruppe zuordnet.“12 Die Schwierigkeit, die jedem Versuch der Definition einer „jüdischen Philosophie“ innewohnt, ist dieselbe, der wir begegnen, wenn wir versuchen, eine „ethnisch - jüdische“ Antwort zu beschreiben und zu diskutieren, und so sind wir wieder am Anfang angekommen : ( a ) Es gibt keine Möglichkeit, in irgendeiner Antwort ein „jüdisches Element“ festzustellen. ( b ) Ethik, wie auch Philosophie, beschäftigt sich mit kognitiven Errungenschaften des Menschen. Ethische Forderungen sollten daher nicht mit nationalen oder ethnischen Etiketten versehen werden, denn eine solche Etikettierung widerspricht ihrer Existenz als universal gültigen Argumenten. Mehr noch, da der Judaismus keine vereinte und zentral gesteuerte Gemeinschaft umfasst, ist es unmöglich, von einer „jüdischen“ Haltung oder einem gemeinsamen „jüdischen“ Standpunkt in Bezug auf irgend ein gegebenes Thema zu sprechen.
10 Louis E. Newman, Past Imperatives : Studies in the History and Theory of Jewish Ethics, Albany 1998, S. 3. 11 Siehe Raphael Jospe, What is Jewish Philosophy ?, Tel - Aviv 1988. 12 Siehe Shalom Rosenberg / Jacob Levinger / Joseph B. Sermoneta, „What Is Jewish Philosophy ? A Symposium“. In : Moshe Hallamish / Moshe Schwartz ( Hg.), Revelation, Faith, Reason, Ramat - Gan 1976, S. 145–169 ( Hebräisch ).
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III.
Isaac Hershkowitz
Vorgaben für „jüdische Antworten“
Ich glaube daher, dass wir uns ein bescheideneres Ziel setzen müssen, eines das sich präziser definieren lässt. Wir müssen uns auf den Versuch konzentrieren, eine Anzahl konkurrierender „jüdischer ethischer Antworten“ – im Plural – auf den Holocaust zu finden, und dabei gleichzeitig einen diesen Antworten gemeinsamen Nenner festzustellen und zu beschreiben.13 Trotz der ideologischen und bildungsmäßigen Unterschiede zwischen den diversen Denkern ähneln ihre Antworten sich doch häufig. Ich glaube, dass wir über diesen Ansatz feststellen werden, dass der Versuch, die Konturen eines jüdischen Diskurses zu der Frage, welche ethischen Schlussfolgerungen aus dem Holocaust zu ziehen sind, ein fruchtbares Unterfangen darstellt. Wenn man die Hauptlinien der jüdischen ethischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust untersucht, dann findet man eine klare Unterscheidung zwischen zwei divergierenden Tendenzen : Den partikularistischen Ansatz im Gegensatz zum universalistischen. Der partikularistische Ansatz enthält typischerweise den Ruf nach einer nach innen gerichteten Korrektur „jüdischen“ Fehlverhaltens – und zwar sowohl vom religiösen als auch vom nationalistischen Standpunkt aus betrachtet. Mit anderen Worten, ein derartiger Ansatz identifiziert einen konkreten Fehler, der angeblich im Leben der jüdischen Gemeinschaft existiert haben soll, und fährt dann damit fort, die Schrecken des Holocaust als göttlichen Posaunenschall zu interpretieren, der eine völlige Neubewertung jüdischer Lebensweisen und jüdischen Glaubens bewirken soll. Im Gegensatz zu dem, was man instinktiv annehmen möchte, ist ein solcher theologischer Standpunkt nicht auf ultraorthodoxe Kreise beschränkt. ( Selbstverständlich will ich in keiner Weise unterstellen, dass sämtliche ultraorthodoxen religiösen Denker und Führer den Holocaust in dieser Weise sehen.) Einigermaßen überraschend fand sich ein ganz ähnlicher Gedankengang auch innerhalb bestimmter nicht - religiöser Kreise unmittelbar nach dem Krieg. Er war ebenso unter hartgesottenen zionistischen Ideologen während der frühen Stadien des Krieges verbreitet, bevor man die furchtbare Größenordnung der Geschehnisse richtig erkannt hatte. Eine gründliche Analyse dieser letzteren Haltung findet sich in Dinah Porats Werk.14 Um diese ambivalente Haltung gegenüber der Katastrophe zusammenzufassen, zitiere ich die Worte Francis R. Nicosias : „Zu diesen Haltungen gehörte auch die Vorstellung, dass der Yishuv die Juden Palästinas als die einzig wahren Juden ansah, als die Antithese zu den Juden der Diaspora, die 13 Eine große Anzahl von Werken beschäftigt sich mit Holocaust - bezogenen ethischen Aspekten der jüdischen Philosophie. Doch versuchten diese Werke nicht, das „jüdische Gen“ innerhalb dieser Antworten aufzufinden. Siehe z. B. John K. Roth, Ethics during and after the Holocaust, New York 2005. David Patterson / John K. Roth, After - Words: Post - Holocaust Struggles with Forgiveness, Reconciliation, Justice, Seattle 2004. 14 Dina Porat, The Blue and the Yellow Stars of David : The Zionist Leadership in Palestine and the Holocaust, 1939–1945, Cambridge, MA 1990.
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verloren wären und kaum Rettung verdient hätten. In Wirklichkeit allerdings beruhte das Engagement der Zionisten zur Rettung der europäischen Juden nach 1942 auf einem tief empfundenen Mitgefühl innerhalb des Yishuv mit den Juden Europas angesichts ihres Leids, verbunden mit der pragmatischen Erkenntnis, dass es letztendlich womöglich keinen jüdischen Staat geben werde, es sei denn, die Juden Europas würden in nennenswerter Zahl überleben.“15
In ultraorthodoxen Kreisen gab es eine ähnliche Selbstkritik, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Hier verstand man die Katastrophe als göttliches Strafgericht angesichts der allgemeinen Tendenz zur Assimilation, zum Säkularismus, und vor allem des Zionismus, der unter den jüdischen Gemeinden der Vorkriegszeit so sehr verbreitet gewesen war.16 Das Hauptproblem dieser Art von Antworten und der hauptsächliche Grund, warum ich mich im Folgenden damit nicht weiter beschäftigen werde, ist, dass sie wenig mehr enthalten als den Versuch des jeweiligen Verfassers, die Öffentlichkeit von seiner eigenen ideologischen Weltsicht zu überzeugen. Nach meiner Erkenntnis beschäftigt sich die überwiegende Mehrheit nicht mit dem Studium des Holocaust als eines bis dahin nie dagewesenen, schändlichen historischen Ereignisses, sondern es handelt sich um die Auswüchse und Fortsetzungen wohlbekannter und etablierter ideologischer Haltungen, die bereits Jahre vor dem Beginn der Gräueltaten gepredigt worden waren. Als solche kann man sie nicht als ethische Schlussfolgerungen aus den historischen Ereignissen sehen, sondern muss sie als wenig mehr als einen verkleideten ideologischen Standpunkt betrachten. Daher werde ich mich nun den universalistischen Antworten zuwenden, da diese uns möglicherweise moralische Erleuchtung sowie eine Botschaft bieten, die von der gesamten Menschheit akzeptiert werden kann.
IV.
Orthodoxe ethische Antworten
Viele jüdische Denker, die sich mit dem Holocaust beschäftigt haben, unter anderem Emanuel Levinas, Elie Wiesel und Primo Levi, sind für ihre humanistischen ethischen Aufrufe bekannt, die direkt aus den Schrecken resultierten, welche sie aus erster Hand erlebten. Doch bevor wir uns einigen der bekannteren ethischen Antworten zuwenden, möchte ich diesen Abschnitt mit einer Dis15 Francis R. Nicosia, „The Yishuv and the Holocaust“. In : The Journal of Modern History, 64 (1992) 3, S. 533–540 ( review ). Dieses Zitat stammt von S. 536. Siehe auch ders., „Ein nützlicher Feind : Zionismus im nationalsozialistischen Deutschland, 1933– 1939“. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989) 3, S. 367–400. 16 Die führenden Figuren dieser Position waren u. a. die Rabbiner Elchanan Wasserman, Yoel Teitelbaum. Siehe Gershon Greenberg, „Foundations for Orthodox Jewish Theological Response to the Holocaust, 1936–1939“. In : Alice L. Eckardt ( Hg.), Burning Memory : Times of Testing and Reckoning, Oxford 1993, S. 71–94, sowie Zvi J. Kaplan, „Rabbi Joel Teitelbaum, Zionism, and Hungarian Ultra - Orthodoxy“. In : Modern Judaism, 24 (2004) 2, S. 165–178.
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kussion derjenigen Ansätze beginnen, die von einigen weniger bekannten Denkern vorgeschlagen werden. Die Tatsache, dass diese Antworten bisher relativ unbekannt geblieben sind, ist meiner Ansicht nach der orthodoxen Identität der Autoren geschuldet, sowie der Tatsache, dass ihre Schriften bisher nicht aus dem Hebräischen übersetzt worden sind.17 Trotz ihrer relativen Anonymität sind die ethischen Antworten dieser religiösen Führer durchaus moralisch inspirierend, angesichts ihrer Verwurzelung in den traditionellen religiösen Referenztexten, was ihren Rufen eine Aura frommer Verdienstbarkeit verleiht – zumindest in den Augen ihrer religiösen Anhänger.18 Rabbi Shimon Efrati (1908–1988)19 gilt als einer der wichtigsten Verfasser von Antworten auf den Holocaust im Zusammenhang mit im Verlaufe des Holocaust aufgeworfenen Fragen zur Halacha ( religiösen Rechtsnormen ). Zu diesem besonderen Genre gehören auch Arbeiten der Rabbis Tzvi Hirsch Meizel, Ephraim Oshri und Joseph Tzvi Karlebach sowie vieler anderer Rabbis. Die Fragen, mit denen sich diese Arbeiten beschäftigen, geben Zeugnis von der Verzweif lung, in der orthodoxe Juden während des Holocaust lebten, nicht nur in Bezug auf ihren Kampf um das reine Überleben, sondern auch bezüglich der Frage, wie sie mit der Unmöglichkeit umgehen sollten, religiöse Normen bezüglich des Essens ( kashrut ), des Gebets und der Eheverpflichtungen sowie der Beachtung von Feiertagen und des Sabbat einzuhalten.20 Sie suchten nach Rat und Unterstützung in der Frage, wie sie mit den die Seele zerreißenden Herausforderungen umgehen sollten. Efrati schrieb ein ethisches Vorwort zu seiner Halacha Arbeit,21 in dem er eine einzigartige Schlussfolgerung aus dem Holocaust zog : „Die Fünf Bücher Mose weisen uns an, dass das Ziel unseres Lebens nicht darin bestehen soll, uns von unseren bösen Neigungen leiten zu lassen, insofern als das menschliche Streben von Beginn an fehlgeleitet ist. Das Ziel und der Zweck unseres Pentateuchs besteht darin, die menschliche Natur zu revolutionieren und zu einem Wendepunkt im Verhalten der Welt zu gelangen. [...] Unsere mosaischen Gesetze weisen uns an, das zu 17 18
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Siehe Meir Ayali, „Ethischer und religiöser Widerstand im Spiegel der Responsenliteratur“. In : Kairos, 36–37 (1994–1995), S. 105–110. Zu einer breiteren Debatte der von einigen der hier genannten Denker gegebenen Antworten siehe Isaac Hershkowitz, „Rabbinic Nazi Camp Survivors and the Call for a Religious Protection of Human Prerogatives“. In : Marianne Neerland - Soleim ( Hg.), Prisoners of War and Forced Labor : Histories of War and Occupation, Cambridge 2010, S. 138–149. Efrati, ein Rabbiner in Bessarabien, wurde während des Zweiten Weltkrieges nach Sibirien verbannt. Nach seiner Befreiung kehrte er nach Polen zurück und diente als Rabbiner für heimatlose Flüchtlinge. Er emigrierte schließlich nach Israel und wurde eine wichtige Figur im Oberrabbinat. Zu einer umfassenden Bewertung dieses Genres : Hirsch J. Zimmels, The Echo of the Nazi Holocaust in Rabbinic Literature, New York 1977. Jonathan I. Helfand, „Halakha and the Holocaust : Historical Perspectives“. In : Randolph L. Braham ( Hg.), Perspectives on the Holocaust, Boston 1983, S. 93–103. Siehe auch Isaac Hershkowitz, „Netivei Halakhah Institute, Holocaust Responsa Project ( A Comprehensive Database of Scholarly Responsa Pertaining to the Holocaust ), Jerusalem 2006.“ In : Holocaust Studies : A Journal of Culture and History, 15 (2010) 3, S. 97–99 ( review ). Shimon Efrati, From the Valley of Slaughter, Jerusalem 1961, S. 10–16.
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tun, ‚was richtig und gut ist‘, und in uns die ewigen Gefühle von Liebe und Brüderlichkeit gegenüber all denen zu erwecken, die nach Gottes Bild erschaffen wurden. ‚Volk soll nicht das Schwert gegen anderes Volk erheben; genauso wenig sollen sie fürderhin den Krieg lernen‘ ( Jesaja 2 :4).22 [...] Die Welt ist nur inmitten Gottes möglich, was bedeutet, dass die Entität, welche die Welt darstellt, nichts ist als eine göttliche Offenbarung minderen Wertes, so dass in jedem existierenden Objekt ein göttliches Wesen zu finden ist, erst recht in der Seele eines Menschen. Eine chassidische Weisheit erklärte, der Vers ‚Du sollst keinen fremden Gott in dir tragen‘ ( Ps. 81 :10) bedeute, dass der große Gott, der Schöpfer der Welt – Er soll kein Fremder in den inneren Bereichen der Seele sein23 [...] es ist die Pflicht des Menschen, sich selbst zu erhöhen und Gottes moralischen Eigenschaften nachzueifern. ‚So wie Er voller Gnade ist – so musst auch du sein; so wie Er voller Mitleid ist – so musst auch du sein.‘“24, 25
Efrati beschrieb ein religiöses Gebot, jeden Menschen zu ehren und zu respektieren, unabhängig von seiner Ethnie oder von irgendwelchen sozialen Unterschieden unter den Menschen. Indem er einen panentheistischen Standpunkt einnimmt, der sehr stark von chassidischen Quellen inspiriert ist, die traditionell Gottes Anwesenheit in der Welt und besonders in der Seele eines Menschen betonen, fordert er eine Lebensweise des Respektes gegenüber jedem, denn wo immer der Mensch hinschaut, ist das Göttliche anwesend, das in anderen Menschen lebt. Man könnte annehmen, dass Efratis Verwendung einer theologischen Basis, auf welche er seine Forderung nach einem moralischen Kodex für das Verhalten der Menschen gründet, nur ein rhetorisches Mittel ist. Entsprechend einer solchen Annahme könnte man feststellen, sein wahres Ziel habe darin bestanden, eine allgemeine Grundlage für den Wert und den Respekt gegenüber der Menschenwürde zu legen. Obwohl ich diese Möglichkeit nicht ausschließen kann, glaube ich dennoch, dass seine Verwendung der chassidischen Gottesvorstellung als eines potentiellen „Fremden“ in der Psyche des Individuums authentisch ist.26 Er glaubt ernsthaft, das nur religiöse Frömmigkeit dem Menschen die Kraft geben kann, seine bösen Neigungen zu überwinden. Rabbi Yissakhar Shlomo Teichtal (1885–1945), ein Rabbi aus Piestany in der Slowakei, der in Auschwitz zu Tode kam, bewegt sich entlang eines ähnlichen Pfades, aber ohne irgendwelchen mystischen Sprachgebrauch. Er versicherte, das Kernproblem der westlichen Moral sei ihre Machtlosigkeit gegenüber der
22 Efrati hatte kein utilitaristisches ethisches System im Sinn, das auf die Erschaffung einer funktionalen Gesellschaft hinauswollte. Statt dessen glaubte er, dass das hauptsächliche gesellschaftliche Ziel des Pentateuch darin bestehe, die jüdische Gemeinschaft als Speerspitze einer Kampagne einzusetzen, die darauf abzielte, eine moralische Botschaft des guten Willens unter der übrigen Menschheit zu verbreiten. Nicht alle jüdischen Ethiker stimmen mit diesem Erziehungsziel überein; zu einer bescheideneren Vostellung der ethischen Forderungen der Torah siehe i. e. Maimonides’ The Guide for the Perplexed 3:27. 23 Siehe Rabbi Menachem Nachum of Chernobyl, Ma’or ‘Einayim, Slavita 1808, 78a - b. 24 Dies ist eine alternative Methode, die oben erwähnte „Imitatio Dei“ zu praktizieren. 25 Efrati, From the Valley of Slaughter, S. 14–15. 26 Siehe Tzipi Kaufmann, „‚Ke’oved Le’uvda Zu‘ : A Strange God and Idolatry in Hassidic Thought“. In : Akdamot, 19 (2007), S. 87–104 ( Hebrew ).
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mangelnden Perfektion der menschlichen Natur. Die kantische Naivität habe zur Formulierung reiner und erhabener, aber ineffizienter moralischer Normen geführt, die zwar logisch inspirierend, aber abstrakt und unrealistisch seien. Nach Teichtal dienen diese Kategorien lediglich als Ornamente zur Verzierung philosophischer Werke, denen jeder praktische Wert ermangele. Mehr noch, er behauptet, dass nur ein religiöser Moralkodex, ein Kodex, der einer transzendenten Entität entspringe, die Hoffnung böte, das menschliche Verhalten wahrhaft zu beeinflussen.27 Sowohl Efrati als auch Teichtal glaubten, dass die säkulare Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen, soweit sie die Moral betreffen, sich als vollkommen mangelhaft erwiesen habe, um eine auf der Vorstellung der Bewahrung menschlicher Prärogative beruhende menschliche Gemeinschaft zu schaffen. Nach Efrati ist Gott in jedem Menschenwesen präsent, und es ist dieser göttliche Funke im Menschen, der bewahrt und geschützt werden muss. Teichtal andererseits vertrat eine konservativere Weltsicht, in welcher Gott sich als der göttliche Meister menschlichen moralischen Verhaltens darstellt. Beide aber glaubten, dass nur die Anwesenheit Gottes und der Abdruck dieser Anwesenheit im menschlichen Bewusstsein das Verhalten des Menschen beschränken könne. Im Lichte von Teichtals und Efratis Meditationen bot Berkovits eine bemerkenswerte ethische Antwort. In völligem Kontrast zu Teichtal ruft er die Menschheit auf, sich von der Abhängigkeit von Gott zu befreien : „Man kann dem Menschen Angst einflößen, doch man kann ihn nicht zum Guten prügeln. Würde Gott nicht die Freiheit des Menschen respektieren, seinen Weg in persönlicher Verantwortung zu wählen, dann wäre nicht nur das moralisch Gute wie auch das Böse in der Welt abgeschafft, sondern der Mensch an sich würde ebenfalls dahingehen. Ohne sie ist der Mensch kein Mensch. Wenn es den Menschen geben soll, dann muss es ihm gestattet sein, seine Wahl in Freiheit zu treffen. Wenn er diese Freiheit hat, wird er sie nutzen. Nutzt er sie, wird er sie häufig falsch nutzen.“28
Berkovits weist nicht nur den Ruf an den Allmächtigen zurück, der Menschheit Angst zu machen und Männer und Frauen davon abzuhalten, Böses zu tun, er erklärt auch, dass in den Augen Gottes die Freiheit das Wesen des menschlichen Lebens in der Welt ausmacht. Gott, schrieb er, war genötigt, dem Menschen zu gestatten, Böses zu tun, um den autonomen Status der Welt zu rechtfertigen. Ohne diese Erlaubnis wäre die Welt wertlos, und das theologische Experiment der Erschaffung einer Welt des guten Willens würde sich als zum Scheitern verurteilt erweisen. Daher kann die Quelle ethischen Verhaltens nicht ein göttliches Dekret sein, sondern sollte in der Natur und den Neigungen des Menschen gesehen werden. Allerdings meint dies nicht Kants Imperativ : Berkovits glaubt nach wie vor, dass Gott im moralischen Verhalten der Menschen eine Rolle spielt :
27 Yissakhar Shlomo Teichtal, Refined Faith in the Holocaust Furnace, vol. 1, Jerusalem 1995, S. 93–106. 28 Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 89.
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„Wenn der Mensch nicht von der Hand des Menschen vernichtet werden soll, wenn das schließliche Schicksal des Menschen nicht davon abhängig sein soll, dass der Mensch niemals eine tödliche Fehlentscheidung trifft, dann darf Gott Seiner Schöpfung nicht die Fürsorge versagen. Er muss in der Geschichte anwesend sein [...] Er ist anwesend, ohne zweifellos manifest zu sein. Er ist abwesend, ohne hoffnungslos unzugänglich zu sein.“29 Mit anderen Worten, Gott spielt eine Rolle, insbesondere bezüglich der menschlichen Bestrebungen nach dem Guten und der Erlösung. Der Mensch sollte der göttlichen Vorsehung ihren Spielraum lassen; er muss das Gefühl haben, beobachtet und überwacht zu werden, auch wenn es nichts gibt, was ihn wirklich von seinen Taten abschreckt. Trotz der Tatsache, dass sie sich in fundamentalen Punkten unterschieden, ließen alle drei Denker Raum für eine göttliche Bestimmung des moralischen Wertesystems. Sie alle verstanden, dass die Menschheit Hilfe braucht, wenn sie zu einem angemessenen ethischen System für alle Menschen gelangen soll. Tatsächlich schrieben sie von universalen Werten, doch es ist ebenso eindeutig, dass sie nach einem jüdischen Umdenken riefen : Ihre Schriften richteten sich an Juden, und sie verwendeten eine jüdische Terminologie, daher bin ich der Meinung, dass man ihre Werke als „jüdische ethische Antworten“ sehen darf, in den Farben der Einzigartigkeit der Orthodoxie, die Gott die entscheidende Rolle des Ausgangspunktes zuteilt. Auf den folgenden Seiten werde ich mich einer schwierigeren Aufgabe zuwenden : Ich will versuchen, einen jüdischen gemeinsamen Nenner unter jüdischen Denkern zu finden, die nicht im orthodoxen Kontext sprachen und schrieben.30
V.
Primo Levi und der Ruf nach Gott als Quelle der Moral
In diesem Abschnitt beziehe ich mich auf mehrere Denker gleichzeitig, um das „jüdische Gen“ ihrer Lektionen über Moral aufzuspüren. Ich habe mich dafür entschieden, mich nicht auf so prominente Denker wie Elie Wiesel, Emil Fackenheim und Emanuel Levinas zu konzentrieren, sondern mich stattdessen mit einigen innovativen Schlussfolgerungen wenige bekannter Personen zu beschäftigen, die, wie ich glaube, die Meditationen dieser hoch gelehrten Denker ergänzen. Als Ausnahme allerdings beziehe ich mich hier auf Primo Levi, den berühmten Schriftsteller und Intellektuellen, denn die moralischen Aspekte seines den Holocaust betreffenden Denkens, die ich betonen möchte, werden selten beachtet.
29 Ebd. 30 Ich möchte keinen dieser Denker kategorisieren, sondern sie lediglich innerhalb ihrer jeweiligen Kontexte vorstellen : Einige waren religiöse Denker, d. h. sie beschäftigten sich mit religiösen Vorstellungen, und manche waren nicht - religiöse Denker, d. h. sie beschäftigten sich mit universalen, säkularen Vorstellungen.
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Unmittelbar nach dem Holocaust schrieb Levi ein Gedicht mit dem Titel „Shem’a“.31 Das Shem’a, welches als das wichtigste Gebet des Judentums gilt und mindestens zweimal am Tag gesprochen wird, sollte im Fokus sämtlicher intellektueller Bemühungen stehen, die Vorstellung des Monotheismus zu stärken. Indem man das Shem’a spricht, sollte man sein Verständnis von Gottes völliger Herrschaft auf jeder zeitlich - räumlichen Ebene und natürlich besonders innerhalb der Seele des Menschen zum Ausdruck bringen. Es ist diese grundsätzliche Vorstellung – die jedem Juden bekannt ist, der auch nur die geringfügigste religiöse Unterweisung erhalten hat – die Levi herausforderte, als er dieses zwiespältige Gedicht zu Papier brachte, welches Rowland als „von bitterer ironischer Parodie erfüllt“ beschrieb : „You who live secure In your warm houses Who return at evening to find Hot food and friendly faces : Consider whether this is a man, Who labors in the mud Who knows no peace Who fights for a crust of bread Who dies at a yes or a no. Consider whether this is a woman, Without hair or name With no more strength to remember Eyes empty and womb cold As a frog in winter. Consider that this has been : I commend these words to you. Engrave them on your hearts When you are in your house, when you walk on your way, When you go to bed, when you rise. Repeat them to your children. Or may your house crumble, Disease render you powerless, Your offspring avert their faces from you.“32
Levis uneingeschränkter Zorn sollte uns nicht von dem Widerspruch zwischen dem Titel des Gedichtes und dessen Inhalt ablenken. Der Titel hat eine religiöse Implikation, besonders wenn er in einer anderen Sprache als dem Hebräischen erscheint ( das Wort shem’a ist der Imperativ des hebräischen Wortes für „hören“; im Hebräischen kann er auch eine neutrale Bedeutung haben, auch wenn dies nicht wahrscheinlich ist ), während das Gedicht selbst keinerlei reli-
31
Zu Levis Gedicht siehe Anthony C. Rowland, „Poetry as Testimony : Primo Levi’s ‚Collected Poems‘“. In : Textual Practice, 22 (2008) 3, S. 487–505. Rowland definiert Shem’a als ein Meta - Zeugnis, in dem Levi fordert, die Stimme des Überlebenden als eine Kritik der Bewertung des Holocaust durch den Menschen zu legitimieren. 32 Primo Levi, Collected Poems, trans. Ruth Feldman and Brian Swann, London 1998, S. 9. Ebenfalls unter : http ://www.poemhunter.com / poem / shema.
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giöses Motiv aufweist.33 Mehr noch, in seinem ursprünglichen Kontext ist das Shem’a ein göttlicher Aufruf an die Menschheit, Gottes Stimme und Sein zu hören und zu verkünden, während in Levis Gedicht shem’a einen Ruf von Mensch zu Mensch darstellt. Eine radikale theologische Interpretation des Gedichtes als ein Ruf nach Gottes Wahrnehmung und Bewertung einer furchtbaren Situation, die sich im Rahmen seiner Vorsehung ergeben hat, mag ebenfalls ihre Berechtigung haben. In diesem Fall wäre der „Fluch über das Haupt“ dessen, der dies nicht verhindert hat, tatsächlich eine an Gott gerichtete Herausforderung. Dieses Gedicht bringt die frühen Stadien von Levis sich entwickelnder ethischer Sichtweise zum Ausdruck, die er in seinem Meisterwerk „Ist das ein Mensch ?“34 weiter entwickelt hat. Der Mensch ist Mensch nicht nur in seiner individuellen Lebenskraft und seiner Teilnahme am Gemeinschaftsleben, sondern auch in seiner Agonie, Einsamkeit und Verzweif lung. Vielleicht ist der wahre Mensch derjenige Mensch, der kein normales Leben führt, dem seine schützende Bedeckung genommen ist und der nackt bleibt, in einem Zustand schlichter Menschlichkeit. Er sollte das Objekt eines Rufes nach Moral sein; ihn sollte man Mensch nennen. Doch ist dies wirklich ein Dialog mit Gott ? „Braucht“ Levi Gott für seine Gleichung, oder ist Gott das Mittel, mit dessen Hilfe Levi nach Antworten sucht auf die Frage : „Was ist Menschlichkeit ?“ Und : „Was sollte die Haltung der Menschheit sein gegenüber demjenigen, der gräulich und bösartig ist ?“ Es scheint, als ob Levi bei seinem Versuch, das Wesen des Menschlichen zu definieren, an die Quelle des Lebens gelangt sei, um es in seinen letzten und bedeutendsten Momenten zu bewerten. Hier ergeht der moralische Ruf ( sowie die Sanktionen, die Levi über diejenigen verhängen möchte, die den Ruf nicht hören ) nicht nach einer Änderung des Verhaltens oder einer Neubewertung sozialer Verhaltenskodices, sondern nach einer Haltung der Ehre und Würde, nach einer intrinsischen Wertschätzung des menschlichen Lebens.
VI.
Ignaz Maybaums frühe Holocaust - Meditationen
Ignaz Maybaum war einer der bekanntesten und umstrittensten jüdischen Denker im Zusammenhang mit dem Holocaust.35 Geboren in Wien und aufgewachsen in Deutschland, wurde er 1926 an der Hochschule für die Wissenschaft des 33 Zu Levis nicht - religiösem Charakter und Einfluss siehe Michael Rothberg und Jonathan Druker, „A Secular Alternative : Primo Levi’s Place in American Holocaust Discourse“. In : Shofar, 28 (2009) 1, S. 104–126. Ihr Text vergleicht Levis vom Holocaust inspiriertes Ethos mit demjenigen Wiesels als der beiden wichtigsten Modelle der Interpretation des Holocaust in den USA : Ein säkulares versus ein heiliges Modell. 34 Primo Levi, If This Is a Man, New York 1959. Das Manuskript wurde im Jahre 1946 fertig gestellt. 35 Zu besinnlichen Notizen zu Maybaum siehe die kürzlich erschienene Arbeit von Friedrich Lotter, Rabbiner Ignaz Maybaum – Leben und Lehre, Berlin 2010, S. 13–16. Siehe auch Alisa Jaffa, „Ignaz Maybaum: Memories of My Father“. In: Nicholas de Lange (Hg.),
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Judentums zum Rabbiner ordiniert.36 Er promovierte an der Universität Marburg und hielt Vorlesungen in Bingen, Frankfurt an der Oder und schließlich Berlin. Im Anschluss an die Kristallnacht und die nationalsozialistische Verfolgung prominenter religiöser und nicht - religiöser Führer des Judentums emigrierte er mit seiner Familie nach Großbritannien, wo er in London als Rabbiner tätig war und am neu errichteten Leo Baeck - Institut lehrte. Maybaum ist besonders dafür bekannt, dass er das Konzept der Akedah ( Die Fesselung Isaaks ) als ein entscheidendes Element der jüdischen Antwort auf den Holocaust einführte. Ich möchte diese Assoziation in keiner Weise in Frage stellen, doch bin ich der Ansicht, dass es seine abschließende Bewertung des Holocaust war und nicht eine intuitive Erkenntnis, was Maybaum zu dieser Schlussfolgerung brachte. Bereits im Februar 1941 veröffentlichte Maybaum ein Buch unter dem Titel Man and Catastrophe,37 in dem er einige seiner unmittelbaren Reaktionen auf die Kristallnacht und die Verfolgung der Juden in Deutschland notierte. Zu diesem Zeitpunkt, nicht lange nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, hielt er es für seine Pflicht, sowohl seinem Publikum in der Synagoge als auch seinen christlichen Lesern Texte vorzulegen, die ihre besorgten Seelen beruhigen und moralische sowie geistige Ziele bieten sollten. Wie im Titel angedeutet, beschäftigt sich Man and Catastrophe mit dem existentiellen Problem des Unglücks. Allerdings diskutiert das Buch größtenteils keine existentiellen Fragen, sondern betont die Kollektivität des Judaismus und die Frage, was es bedeutet, in einer liberalen christlichen Welt Jude zu sein. Maybaum nimmt keinerlei mystische oder gar partikularistische Konzepte in seine jüdische Sicht der Dinge auf, er hält an seinem Glauben fest, dass der Judaismus eine universale Mission habe. Allerdings beschäftigt er sich sehr wohl mit den grundlegenden jüdischen Konzepten der Spiritualität, des Priestertums, des Leidens und der Verantwortung. Er bringt einen wahren Altruismus zum Ausdruck, wenn er schreibt : „Heutzutage nennen die Menschen es einen Kreuzzug. Und das ist auch richtig so. Denn da die Offenbarung der Besitz aller ist und alle Menschen entweder die Offenbarung annehmen oder Heiden sind, muss jeder Krieg mehr sein als nur ein Kampf für die eigenen selbstsüchtigen Interessen [...] wenn sie Krieg führen wollen, dann mögen sie dies tun, dann mögen sie das Schwert gegeneinander erheben, wenn nur ihr Krieg ein Heiliger Krieg ist [...] Die Verwendung des Wortes ‚gut‘ als ein Synonym für ‚meine eigenen Interessen‘ ist nichts als der heidnische Standpunkt, der heutzutage in Deutschland vorherrschend ist [...] Gut ist, was gerecht ist, und ebenso was wahr ist.“38 Ignaz Maybaum : A Reader, New York 2001, S. ix–xv. Zu einer lebendigen Darstellung von Maybaums Beitrag zum Leo Baeck College nach dem Krieg siehe Hillel Avidan, „My Student Years at Leo Baeck College“. In : European Judaism, 39 (2006) 1, S. 50. 36 Zu dieser Hochschule und ihrem Auftrag siehe Edward Ullendorff, „The Berlin Hochschule für die Wissenschaft des Judentums : Marginalia, Personalities, Reminiscences“. In : Glenda Abramson / Tudor Parfitt ( Hg.), Jewish Education and Learning, Chur 1994, S. 195–202. 37 Ignaz Maybaum, Man and Catastrophe, London 1941. 38 Ebd., S. 144–145.
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Diese deontologische Haltung führt zu einer Unterscheidung zwischen dem Utilitarismus der Nationalsozialisten und der jüdischen Moral ( vielleicht wäre auch Monotheismus der bessere Ausdruck ). Mehr noch, dieser Aufruf zum Krieg gegen die Interessen einer Gesellschaft, wenn diese Interessen auf Kosten unschuldiger Menschen verwirklicht werden, ist tatsächlich ein Aufruf zu einem Krieg innerhalb eines jeden Individuums. Jeder Mensch, selbst der rechtschaffendste und reinste, verspürt manchmal den Wunsch, bestimmte Partikularinteressen zu verfolgen, zum Beispiel seinen Wohlstand und sein Wohlergehen, häufig ohne die Interessen anderer zu berücksichtigen. Aus Maybaums Sicht handelt es sich dabei um eine unvollkommene, wenn auch weit verbreitete Haltung. Nach Maybaum stellt der Nazismus ein Extrembeispiel dieses Zustands dar und brachte eine Zeit herauf, welche zu Zeugen der Folgen unbeschränkter bösartiger Bestrebungen des Menschen wurde. Was aber wären die Mittel, mit deren Hilfe eine solch tiefsinnige Botschaft die Seele der Öffentlichkeit erreichen und dort verankert werden könnte ? In der Nachfolge seines großen Meisters, Franz Rosenzweig, versichert Maybaum : „Was ist der Jude ? [...] der Jude ist der wandernde Priester [...] wir sind Fremde in unserer priesterlichen Bestimmung [...] wir können zur Welt sprechen. Und siehe, das Heilige wird vor aller Augen sichtbar.“39 Es ist der Jude, jeder einzelne Jude, der von Ort zu Ort ziehen soll und seine Gesellschaft dazu erziehen soll, eine altruistische Lebensweise anzunehmen. Im Gegensatz zu allen Denkern, mit denen ich mich bis hierher beschäftigt habe, erlegt Maybaum dem einzelnen Juden eine höchst anspruchsvolle Mission auf. Unter all den Autoren, die hier diskutiert wurden, ist er der einzige, welcher die „jüdische Mission“, der Welt die Moral zu bringen, als eine einzigartige moralische Aufgabe beschreibt – sowohl als ein transitives als auch ein intransitives Unternehmen.
VII. Schlussfolgerungen Im vorliegenden Aufsatz habe ich diverse wichtige jüdische Antworten auf den Holocaust diskutiert und versucht, ihre gemeinsamen Grundbestandteile aufzuspüren. Zu diesem Zweck habe ich zwei zentrale Tendenzen dieser Antworten verfolgt – zunächst die partikularistische und dann die universalistische. Die partikularistische Tendenz ruft nach der inneren Korrektur von Missetaten, sowohl vom religiösen als auch vom nationalistischen Standpunkt aus. Wie bereits festgestellt, liegt mein Schwerpunkt auf der universalistischen Tendenz, die zu hilfreichen moralischen Erkenntnissen bezüglich der Menschheit führen könnte. Doch finden wir innerhalb der universalistischen Tendenz eine weitere Unterteilung. Manche universalistischen Denker nehmen die Haltung ein, einen auto39 Ebd., S. 63–65.
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nomen Moralkodex zu fordern, der irgendwie auf dem Kantischen Imperativ beruht. Sie glauben, dass die Schrecken des Holocaust beispielhaft sind für das Schicksal jener Menschen, die nicht auf ihre innere Stimme hören, und dass die abgeschlachteten Opfer uns dazu aufrufen, dem menschlichen Kodex des Respekts gegenüber dem Anderen und der Verantwortung für dessen Wohlergehen mehr Kraft zu verleihen. Wie in Kants Meditationen, allerdings mit stärkerer Betonung der Infrastruktur der menschlichen Moral, glauben sie, dass moralisches Verhalten dem Menschen natürlich sei und dass die einzigartige Mission des jüdischen Volkes darin bestehe ( ein weiterer gemeinsamer Nenner vieler jüdischer Denker ), innerhalb der Gesellschaft die Verfolgung dieser Konzepte zu ermutigen. Zu dieser Gruppe gehören unter anderen Primo Levi und Emmanuel Levinas. Die zweite Unterteilung innerhalb der universalistischen Strömung ist besonders faszinierend, denn sie stellt einen Ruf nach einer Veränderung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden sowohl im Bereich des Historischen als auch des Moralischen dar. Diese Haltung wird überwiegend von religiöser Leidenschaft motiviert, von einem existenziellen Bedürfnis, die Missetaten des Menschen zu korrigieren, die zu einer derart furchtbaren Entweihung von Gottes Namen und Bild geführt haben ( auf Hebräisch : Hillul HaShem, eine der schwerwiegendsten religiösen Sünden ). Der moralische Ruf nach einer Änderung des menschlichen Verhaltens kommt aus einem religiösen Bereich – und führt wieder zu diesem zurück – für den aufgrund des ewigen Bundes zwischen Israel und Gott das Judentum verantwortlich ist. Dieser Bund gibt beiden Seiten keinerlei besondere Rechte, er erlegt ihnen lediglich eine besondere Verantwortung für die Menschheit auf. Fackenheims Kritik an Kants moralischem Imperativ zum Beispiel leitet ihre Grundlage aus der grundsätzlichen Anerkennung von Gottes Ruf ab, der Menschlichkeit gebietet : „Du sollst nicht töten.“ Der priesterliche Status, um es in den Worten des Rosenzweigschülers Maybaum zu sagen, besteht darin, eine Lebensweise der Verantwortlichkeit auf der moralischen Ebene der Welt vorzuschreiben. Es handelt sich dabei nicht um ein jüdisches Interesse, sondern um ein jüdisches Gebot. Die hier zu lernende Lektion ist eine interne : Der Judaismus muss seinen Platz als Leuchtturm der Menschheit einnehmen, als Beschützer aller Unterdrückten. Letztere Vorstellung wird von reformierten, orthodoxen und konser vativen Denkern sowie von nicht - religiösen jüdischen Intellektuellen geteilt. Trotz der Tatsache, dass diese zwei Fraktionen der universalistischen Strömung unterschiedliche ethische Missionen und Ziele definieren und betonen, haben sie etwas Einzigartiges gemeinsam : Eine gewisse moralische Rastlosigkeit. All diese prominenten Denker, mit unterschiedlichen Hintergründen und aus unterschiedlichen Kulturen stammend, sind der Ansicht, dass auf ihren Schultern die Aufgabe lastet, die Welt in Ordnung zu bringen. Ungeachtet der Problematik, die darin liegt, von einer „jüdischen“ ethischen Antwort auf den Holocaust zu sprechen, kann man aber davon sprechen, dass
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die Juden sich vom Holocaust zum Handeln angetrieben fühlen, um das moralische Ansehen der Welt wiederherzustellen. Dieser Antrieb ist beinahe allen jüdischen Denkern nach dem Holocaust gemeinsam, und seine Interpretation leitet sich aus der geistigen und moralischen Haltung eines jeden Einzelnen von ihnen ab.
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Täterprofile. Zur moralischen Struktur von Populärgeschichte im Fernsehen Stewart Anderson / Wulf Kansteiner Die Erinnerung an den Holocaust stellt einen zutiefst moralischen Diskurs dar. Viele Erzählungen über die „Endlösung“ wollen ihrem Publikum moralische Lehrstunden erteilen und die angemessene Darstellung, Verpackung und Vermittlung des Holocaust waren in moralischer Hinsicht immer umstritten. Wie moralisch aufgeladen der Holocaust ist, wird besonders deutlich, wenn bestehende Erinnerungspraktiken kritisiert und an veränderte moralische und politische Prioritäten angepasst werden. Im Frühjahr 2012 votierten Dana Gisecke und Harald Welzer für eine solche Neukalibrierung, als sie argumentierten, dass die deutsche Holocausterziehung, so wie sie an Schulen, in den Medien und in den Gedenkstätten stattfindet, junge Menschen dazu zwänge, eine politisch korrekte moralische Haltung einzunehmen. Ihrer Meinung nach unterlaufen die Institutionen der Populärgeschichte dadurch jene Vermittlung demokratischer Werte und eines nonkonformistischen Verhaltens, welche doch angeblich das hauptsächliche Ziel einer jeden Holocausterziehung sein sollten. Giesecke und Welzer sprechen sich dafür aus, die historische Bildung expliziter moralischer Instruktionen zu entkleiden und die Inhalte unserer Lehrpläne und Geschichtsmedien zu erweitern. Sie hoffen, den jüngeren Generationen sowohl den Schrecken als auch „die Momente des Glücks, Erfolgs und zivilisatorischen Fortschritts“ zu vermitteln, welche ebenfalls zur Geschichte des Menschen gehören.1 Die Intervention von Giesecke / Welzer, die von einer Reihe ihrer Kollegen aufgenommen wurde,2 stellt ein provokantes Beispiel angewandter Ethik 1
2
Dana Giesecke / Harald Welzer, Das Menschenmögliche : Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012, S. 25; siehe auch Welzer, „Vom Zeit zum Zukunftszeugen : Vorschläge zur Modernisierung der Erinnerungskultur“. In : Martin Sabrow / Norbert Frei ( Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 33–48. Vgl. Volkhard Knigge, „Zur Zukunft der Erinnerung,“ Aus Politik und Zeitgeschichte, 60 (2010) 25–26, S. 10–16; Ulrike Jureit, Gefühlte Opfer : Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010; Martin Sabrow, „Welche Erinnerung, wessen Geschichte?: Das neue Interesse an der Vergangenheit“. In : kultur.macht.geschichte : Kulturpolitik und kulturelles Gedächtnis. Hg. von der Kulturpolitischen Gesellschaft, Essen 2010, S. 36–46.
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dar. Sie wollen nicht das bestehende Wertesystem ersetzen; in ihrer Wahrnehmung stimmt die gegenwärtige Unterrichtspraxis nicht mehr mit langgültigen Wertemaßstäben und korrespondierenden didaktischen Zielen überein und muss entsprechend revidiert werden. Derartige Provokationen sind ein übliches Element demokratischer Geschichtskulturen. Im vorliegenden Fall hat die Provokation eine interessante generationsdynamische Komponente. Die Kritik scheint die Herausbildung einer post - 1968er Generation widerzuspiegeln, deren Angehörige die historische Kultur ihrer Vorgänger abwerten und entscheidend verändern wollen.3 Jeder Versuch, die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in einem positiveren Licht erscheinen zu lassen, stellt ein politisches Risiko dar – wie sich an einer historiographischen Debatte der 1980er Jahre treffend demonstrieren lässt. Im Jahre 1986 unternahm Rainer Zitelmann den Versuch einer Neubewertung der Sozial - und Wirtschaftspolitik des NS - Regimes. Zitelmann ist ein Angehöriger der Generation Welzers, aber er entwickelte seine anti - 68er Intervention aus einem anderen politischen Blickwinkel und in einem völlig anderen ethischen Kontext als Welzer. Aus einer angeblich wertneutralen Perspektive sah Zitelmann Hitlers Wirtschaftpolitik in der Rolle eines Katalysatoren, der die Modernisierung Deutschlands entscheidend vorangebracht hat. Die Kritik der Kollegen ließ nicht lange auf sich warten.4 In einer Besprechung stellte der Historiker Peter Longerich fest, Zitelmanns Schlussfolgerungen seien nicht nur empirisch anfechtbar ( denn er sah in Hitlers Ausführungen zur Modernität Absicht und innere Überzeugung, während andere Zeugnisse nahelegen, dass Hitlers Erwähnungen einer Modernisierung hauptsächlich ein rhetorisches und taktisches Mittel waren ), sondern auch moralisch fragwürdig. Longerich argumentierte : „Eine Rekonstruktion der ‚soziologischen‘ Vorstellungen Hitlers, ohne Einbeziehung der ‚Judenfrage‘, ergibt zwangsläufig ein schiefes Bild.“5 Wie auch andere Kritiker verlangte Longerich die Anerkennung der Tatsache, dass der Holocaust einen Schatten über die Modernisierung Deutschlands sowohl vor als auch nach dem Kriege werfe. Zu keinem Zeitpunkt brachten die Kritiker explizite ethische Argumente zur Unterstützung ihrer Position vor. Sie kritisierten Zitelmanns wirtschaftsgeschichtliche Ausführungen, weil er Hitlers bösartige Machenschaften sowie das Leid der Holocaust- Opfer nicht ausdrücklich anerkenne und dadurch uneingeweihten Lesern entscheidende moralische Wahrheiten über das NS - Regime vorenthalte. Im Kontext des Holocaust - Paradigmas schien diese ethische Haltung eine Selbstverständlichkeit zu sein, doch 3 4
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Vgl. Birgit Schwelling, „Memory Fatigue : Some Reflections on the Current Debate on Memory Practice and Memory Studies in Germany“, öffentlicher Vortrag auf dem Kongress „The Future of Memory“, Konstanz, Germany, 5. 7. 2012. Vgl. Rainer Zitelmann, „Nationalsozialismus und Moderne : Eine Zwischenbilanz“. In : W. Süß ( Hg.), Übergänge : Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit, Berlin 1989, S. 195–223; Zitelmann, Selbstverständnis eines Revolutionärs, 3., überarb. Auflage Stuttgart 1990. Peter Longerich, „Adolf Hitler – ein Revolutionär ?“. In : Die Zeit vom 2. Oktober 1987, S. 39–40.
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markierte sie eine entscheidende Abkehr von der moralischen Praxis vorangegangener Jahrzehnte, als Historiker viele Forschungsprojekte zum Aufstieg und Fall des Naziregimes durchführten, ohne sich um dessen Völkermordpolitik zu kümmern.6 Der Fall Zitelmann wirft interessante didaktische und moralische Fragestellungen bezüglich Gieseckes und Welzers Initiative auf – Fragen, die an die Debatte über die Historisierung des Nationalsozialismus erinnern. Man fragt sich zum Beispiel, welche Balance der positiven und negativen Geschichte Giesecke und Welzer im Sinn haben und wie viele und welche Art von positiven Elementen sie in ihre Vermittlung der NS - Geschichte integrieren wollen. Wie diese Beispiele zeigen, hat sich die moralische Ausrichtung und Struktur der Holocaust - Erinnerung im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Holocaust - Erzählungen spiegeln eine große Bandbreite von moralischen Wahrheiten, Werturteilen und Vorstellungen historischer Gerechtigkeit wider. Angesichts dieser wenig erstaunlichen Tatsache ist es bemerkenswert, dass so ein hyper - selbstreflexiver Forschungszweig wie die Holocaustforschung keine Tradition meta ethischer Selbstkritik entwickelt hat.7 Dabei haben Wissenschaftler seit den 1990er Jahren ethische Fragen vor dem Hintergrund der Geschichte des Holocaust erörtert. Aber die einschlägigen Publikationen konzentrieren sich auf die Auswirkung des Holocaust auf das ethische Denken der kontinentaleuropäischen Philosophie oder betonen die moralische Unzulänglichkeit bestimmter Objekte der Holocaust - Erinnerung.8 Deshalb wissen wir nicht, wie Holocaustmoralität sich im Laufe der Jahre verändert hat, welche moralischen Strategien besonders häufig angewandt wurden und welche Interventionen vom Publikum besonders geschätzt wurden. Seit den 1970er Jahren ist Holocaust - Erinnerung ein moralischer Imperativ, aber mit dieser Verpflichtung verbinden sich mindestens zwei meta - ethische Probleme. Erstens setzt die über die Medien abgewickelte Pflichtveranstaltung Produzenten und Konsumenten miteinander in Beziehung, die sich dem Thema auf der Basis unterschiedlicher Werturteile nähern und Erinnerungstexte deshalb sehr unterschiedlich aufnehmen. Schon deshalb empfiehlt es sich, die mora6 7
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Zum historiographischen Kontext sowie einer Analyse der Debatte siehe Wulf Kansteiner, In Pursuit of German Memory : History, Television, and Politics after Auschwitz, Athens, Ohio 2006, S. 100–104. Die Encyclopedia of Ethics definiert Metaethik, auch Ethik der Zweiten Ordnung genannt, als „das philosophische Studium der Natur, der Rechtfertigung, der Relationalität, der Wahrheitsbedingungen sowie des Status moralischer Kodices, Urteile und Prinzipien, indem man sie von ihrem spezifischen Gehalt abstrahiert,“ Lawrence Becker / Charlotte Becker ( Hg.), Encyclopedia of Ethics, 2. Auflage London 2001, S. 1079; siehe auch John Roth ( Hg.), International Encyclopedia of Ethics, S. 622; sowie bes. Marcus Düwell / Christoph Hübenthal / Micha Werner ( Hg.), Handbuch Ethik, 3. Auflage Stuttgart 2011, S. 25–35. Als Beispiele aus jüngerer Zeit siehe Jennifer Geddes / John Roth / Jules Simon ( Hg.), The Double Binds of Ethics after the Holocaust : Salvaging the Fragments, New York 2009; Berel Lang, Philosophical Witnessnessing : The Holocaust as Presence, Waltham, MA 2009; und Dorota Glowacka, Disappearing Traces : Holocaust Testimonials, Ethics, and Aesthetics, Seattle 2012.
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lische Ausrichtung dieser Medientexte einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Und dabei erkennt man zweitens sehr schnell, dass diese Medientexte natürlich nicht gleichförmig beschaffen sind und sich nicht nur in Bezug auf die ihnen zugrundeliegenden Werturteile, sondern auch in Hinsicht auf ihre moralische Oberflächenstruktur unterscheiden. Genau wie alle anderen Texte weisen moralische Aussagen sehr unterschiedliche rhetorische Eigenschaften auf, die Werte in narrative Strukturen einbetten, auf bestimmte Kommunikationsstrategien und - zielsetzungen ausrichten, und Kommunikationsprozesse so entscheidend prägen. Und wie bei anderen Texten auch sind die zugrundeliegenden Werturteile und die rhetorischen Strukturen von moralischen Aussagen dialektisch miteinander verknüpft und nicht immer klar voneinander zu trennen. Wir entlehnen unsere konzeptionellen Orientierungshilfen den verschiedenen Forschungsfeldern der Ethik, d. h. des systematischen philosophischen Studiums menschlicher Moral, was allgemeine Reflektionen über die Natur menschlicher Tugend und Gerechtigkeit sowie Fragen nach der Beschaffenheit und Wirkungsweisen bestehender und erwünschter normativer Systeme einschließt und auch das weite Feld der angewandten Ethik umfasst. Wir schlagen vier Analysekategorien vor, die uns helfen sollen, die primäre moralisch - rhetorische Stoßrichtung eines Medientextes zu bestimmen. Wir unterscheiden zwischen primär ontologischen, ethischen, normativen und an angewandter Ethik orientierten moralischen Aussagen. Ontologische Strategien zur Abbildung von Moral kreisen, wie der Begriff besagt, um die Frage des Seins. Ein ontologisch - moralisches Lehrstück enthüllt eine moralische Wahrheit, welche eine beachtliche moralische Herausforderung darstellt.9 Wenn zum Beispiel Sophokles’ Ödipus feststellt, dass er seinen Vater getötet hat und dass seine Frau in Wahrheit seine Mutter ist, nehmen seine Entscheidungen einen deutlich anderen Charakter an. Er ist nicht länger ein König und verehrungswürdiger Krieger, sondern ein Vatermörder und inzestuöser Ehemann. Eine ontologisch ausgerichtete Holocaustdarstellung wird sich dementsprechend bemühen, die besondere Bedeutung und historische Einzigartigkeit der Ereignisse an sich zu betonen, z. B. indem sie die besondere antisemitische Unmoral der Täter herausstreicht.10 9 Der Begriff der moralischen Ontologie geht auf Heidegger und seinen Kritiker David Webb zurück, die sich mit dem Konzept auf allgemein geteilte oder als geteilt unterstellte moralische Grundannahmen über die menschliche Natur beziehen. Siehe Webb, Heidegger, Ethics and the Practice of Ontology, New York 2009. 10 Während des gesamten 20. Jahrhunderts haben Wissenschaftler intensiv über die Existenz ethischer Wahrheiten diskutiert. Lange Jahre gingen die Fachleute davon aus, dass bestehende epistemische Protokolle keine Möglichkeit bieten, zu ethischen Wahrheiten zu gelangen, die unabhängig von gegebenen Standpunkten und Urteilsweisen existieren. Seit dem späten 20. Jahrhundert und nicht zufällig nach dem Niedergang des Poststrukturalismus sowie dem Erstarken des Holocaust - Bewusstseins ist der ontologische Skeptizismus einer ontologischen Neugier bezüglich kontextunabhängig gültiger Moralurteile gewichen. Siehe Marcus Düwell / Christoph Hübenthal / Micha Werner ( Hg.), Handbuch Ethik, S. 31–33.
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Primär ethisch ausgerichtete Texte konzentrieren sich auf die zentralen Fragen moralischer Selbstreflektivität, d. h. darauf, wie man ein gutes Leben führt und Gerechtigkeit erreicht, indem sie grundsätzliche Antworten auf deutlich beschriebene moralische Dilemmata geben.11 Ein relativ eindeutiges Beispiel für eine ethische Intervention ist Äsops Fabel von der „Ameise und dem Grashüpfer“. Während die Ameise den ganzen Sommer lang Nahrung sammelt, macht sich der Grashüpfer mit dem, was er auf dem Feld findet, ein schönes Leben und verwahrt nichts davon für den Winter. Als schließlich der Winter kommt, überlebt die Ameise und der Grashüpfer stirbt. Die hier gestellte, einfache Frage „Arbeiten oder Spielen ?“ wird eindeutig beantwortet : Arbeiten. Primär ethisch ausgerichtete Holocausterzählungen helfen ihren Konsumenten, ihr eigenes Verhältnis zur Nazivergangenheit zu klären z. B. indem sie ihnen moralische Leitlinien an die Hand geben, mit deren Hilfe sich die komplexen und auch widersprüchlichen Anforderungen selbstreflexiver Holocausterinnerung umsetzen lassen oder eine gerechte Bestrafung der NS Täter definieren und realisieren lässt. Normative Interventionen zielen darauf ab, Verhaltensweisen und Handlungen in konkreten Begriffen und Fallbeispielen vorzuspielen und vorzuschreiben.12 Normative Lehren konzentrieren sich auf die detaillierte Darstellung eines komplexen Charakters oder einer komplexen Situation. Sie bieten keine explizite Diskussion weitreichender ontologischer Einsichten und ethischer Prämissen, sondern erschöpfen sich in deren eindrücklicher Umsetzung. Ein klassisches Beispiel für eine normative Intervention ist Shakespeares Figur Hamlet. Nachdem dieser mit ontologischen 180° - Wendungen ( er erfährt vom Geist seines Vaters, dass sein Onkel seinen Vater ermordet hat ) und tief die Seele berührenden ethischen Fragen ( Soll Hamlet nach Rache für diesen Verrat streben ? Soll er sich selbst töten? Soll er fliehen ?) konfrontiert wird, wird das Publikum Zeuge seiner endgültigen Reaktion und damit implizit ermutigt, sich in ähnlichen Situationen genauso zu verhalten : Er stellt seinen Onkel und duelliert sich mit ihm. In der Holocaust - Erinnerungslandschaft tummeln sich viele solcher Vorbildfiguren : der deutsche Retter, der den Zuschauer dazu ermutigt, 11
Jonathan Glover hat argumentiert, dass es sich bei Ethik um die komplexen Phänomene von Gut und Böse handelt, nicht um eine Anzahl strikt philosophischer Argumente und Prinzipien. Unser Verständnis von „ethisch“ in diesem Kapitel beruht auf diesem Gedanken. Glover, Humanity : A Moral History of the Twentieth Century, London 1999, S. 11; für eine stringente Definition siehe auch Otfried Höffe ( Hg.), Lexikon der Ethik, 7. Auflage München 2008, S. 71–72. 12 Diese Vorstellung von normativer Ethik stimmt mit derjenigen von David Copp überein, der argumentiert, dass letztere auf einem komplizierten Verständnis von Urteilsweisen besteht. Siehe Copp, Morality, Normativity, and Society, New York 1995, S. 9. Unsere Kategorie normativer Feststellungen ist aus der konventionellen Differenzierung zwischen normativer und deskriptiver Ethik abgeleitet. Während letztere danach strebt, bestehende Moralsystem oder - praktiken von einem externen und neutralen Standpunkt her darzustellen, bemüht sich erstere um Moralurteile im Streben nach sozialer Gerechtigkeit und moralisch vernünftigen Lebensweisen. Siehe Düwell / Hübenthal / Werner, Handbuch Ethik, S. 25; Roth, International Encyclopedia of Ethics, S. 621.
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Opfern von Rassismus oder anderer Ungerechtigkeiten beizustehen; der sich selbst geißelnde, aber unschuldige deutsche Zeuge nationalsozialistischer Verbrechen, der den Betrachter ermahnt, ihm selbstkritisch nachzueifern; sowie viele negative Vorbilder, häufig Wachpersonal in einem Konzentrationslager oder NS - Beamte, die unmoralisches, selbstsüchtiges, rassistisches und konformistisches Verhalten und Einstellungen verkörpern. Normative Interventionen sind durch konkrete emotionale Einstiegspunkte gekennzeichnet, die den Betrachter beispielsweise in die Lage versetzen, sich auf der Basis eines starken Mitgefühls mit den Opfern des Holocaust mit moralischen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Geschichtliche Lehrstücke in angewandter Ethik konzentrieren sich auf ein konkretes, schnell erfassbares Lernziel. In ihrem Bemühen moralische Komplexität zu reduzieren, beschäftigen sich solche Texte nicht mit den Ursprüngen und theoretischen Grundlagen ihrer moralischen Positionen oder mit der abstrakten Frage, wodurch richtig und falsch konstituiert werden, sondern präsentieren ein vermeintlich eindeutiges moralisches Exemplum.13 Dementsprechend hofft zum Beispiel der Autor eines Stückes, in dem es um die Erinnerung an den Holocaust geht und in dem katholische Nonnen jüdische Kinder vor der Deportation retten, darauf, dass sich das Publikum auf das spezifische, edelmütige Handeln der Nonnen konzentriert und nicht auf das, was das Stück auslässt : das Schicksal der Eltern dieser Kinder. Hier wird lediglich eine spezifische moralische Entscheidung untersucht und dabei ihres Zusammenhangs entkleidet, wobei das Ergebnis, die Heroisierung des Handelns der Nonnen, wenig darüber aussagt, wie man eine Grundlage für allgemeines moralisches Handeln gewinnen könnte. Wie die letzten beiden Kategorien zeigen, kann man sich unser heuristisches Modell am besten als ein Spektrum miteinander zusammenhängender und sich gegenseitig überlappender Gesten moralischer Selbstreflektion vorstellen, das von weitgesteckten, abstrakten Interventionen bis zu sehr konkreten, eng umrissenen moralischen Urteilen reicht. Als komplexe kulturelle Artefakte thematisieren Fernsehsendungen moralische Fragen auf allen vier Ebenen, wobei sie allgemein als besonders geeignet für die Vermittlung normativer und an angewandter Ethik orientierter Lehren gelten. Wir werden dieses Spektrum anhand einer Analyse von ZDF - Holocaustsendungen untersuchen, die seit den 1960er Jahren ausgestrahlt worden sind. Die moralischen Argumentationsstrukturen populärer Geschichtsdiskurse sollten in diesem Korpus besonders leicht auszu13 Bis zu den 1960ern spielte die angewandte Ethik in philosophischen Studien keine große Rolle. Seitdem aber ist sie zu einer philosophischen Wachstumsbranche geworden, aus der sich wichtige neue Unterkategorien wie die Bioethik entwickelt haben. Aus dieser Perspektive betrachtet gehört die populäre Holocaustgeschichte in den Zusammenhang der zunehmenden Moralisierung einer ganzen Reihe professioneller und öffentlicher Settings, von denen das Fernsehen vielleicht die größte Reichweite besitzt. Zur angewandten Ethik siehe Düwell / Hübenthal / Werner, Handbuch Ethik, S. 243–247; sowie Becker / Becker, Encyclopedia of Ethics, S. 80–83.
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machen sein, weil das Thema zu jedem Zeitpunkt stark moralisch aufgeladen war. So ergibt sich die Möglichkeit, oft verwendete Motive und langfristige Trends vorzustellen und die moralischen Leerstellen populärer Holocausterinnerung zu definieren. Dabei geben insbesondere die Leerstellen Anlass zu einiger Besorgnis.
I.
Unsichtbare Nazis
In den 1960ern und frühen 1970ern, im ersten Jahrzehnt des Bestehens des ZDF, fiel es der Redaktion des Senders sehr schwer, der besonderen moralischen Herausforderung der Darstellung der Täter der „Endlösung“ gerecht zu werden. Zu dieser Zeit wurde das Programm noch von einer Generation gestaltet, deren Angehörige im Dritten Reich bereits Erwachsene gewesen waren. Diese Gruppe stellte auch einen Großteil des Publikum dar ( einschließlich derer, die darüber entschieden, welches Programm gesehen wurde ). Das Ergebnis war, dass SS - Verbrecher sowie ihre vielen deutschen und osteuropäischen Helfer, die den Völkermord an den europäischen Juden verübt hatten, in den ZDF - Darstellungen zur NS - Geschichte nur selten auftauchten. Bei den Sendungen, die in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellen, handelt es sich fast ausschließlich um Programme, die die fehlende Vergangenheitsbewältigung direkt thematisierten. Die Ausnahmesendungen konzentrierten sich auf die Nachkriegsgeschichte, indem sie z. B. juristische Probleme der Täterbestrafung und individuelle Versuche von Vergangenheitsbewältigung dokumentierten. Auch diese Produktionen stellten die Verbrechen nicht im Detail dar. Trotzdem waren sie um eine selbstkritische Erinnerung bemüht, boten durchaus moralisch ambitionierte Täterprofile und unterschieden sich dadurch deutlich von der großen Mehrheit der im engeren Sinne historisch ausgerichteten Sendungen zur NS Problematik. Jeweils im Jahre 1967 und 1970 brachte das ZDF zur besten Sendezeit zwei Fernsehspiele, die entschieden argumentierten, dass die westdeutsche Gesellschaft in keiner Weise mit der Herausforderung fertig geworden war, dass in ihrer Mitte so viele NS - Täter lebten. „Der Tod eines Mitbürgers“ von Jürgen Gütt handelt von der panischen Reaktion der Freunde, Verwandten und politischen Bundesgenossen eines Großindustriellen, der in seinem Testament enthüllt, dass er ein gesuchter Kriegsverbrecher ist, und darauf besteht, unter seinem richtigen Namen begraben zu werden.14 „Die Beichte“ von Oliver Storz konzentriert sich auf einen Priester, der von der vertraulichen, anonymen Beichte eines ehemaligen Angehörigen der Einsatzgruppen, der sich weigert, sich zu stellen, zutiefst verunsichert wird.15 Beide Fernsehspiele liefen in Konkurrenz zu sehr beliebten Sendungen in den ARD und erreichten daher nur geringe Ein14 Vgl. Der Tod eines Mitbürgers, 8. 3.1967. 15 Vgl. Die Beichte, 11.11.1970. Siehe auch Der Fussgänger, 7. 8.1988.
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schaltquoten, obwohl „Die Beichte“ zumindest großen Erfolg bei den Kritikern hatte.16 Noch wichtiger war allerdings, dass in keinem der beiden Fernsehspiele die geschichtliche Erziehung so weit konkretisiert wurde, dass die „Kriegsverbrechen“ oder die Verbrecher selber zu sehen waren. Diese gut gemeinten Interventionen unterstützten die problematische Annahme, dass die westdeutsche Gesellschaft keine andere Wahl hatte, als zu warten, bis die unsichtbaren Nazis freiwillig aus dem Unterholz kämen. Die Programme waren noch nicht in der Lage, deutliche moralische Erkenntnisse anzuzeigen und weiterzugeben. Die Zuschauer wurden nicht mit eindeutigen ontologischen Benennungen oder moralischen Instruktionen in der Tradition von Äsops Fabel konfrontiert, und sie bekamen auch keine glaubwürdigen, hamletartigen Vorbilder zu sehen, bei denen sie konkreten Rat hätten finden können, wie sie die unter ihnen versteckten Nazis finden und ihnen entgegen treten sollten. Statt dessen betonten Gütt und Storz ihre moralische Hilflosigkeit mit entwaffnender Ehrlichkeit. Und in dieser Ehrlichkeit steckte ein Stück moralischer Stärke, denn die Autoren insistierten auf bis dahin vernachlässigte, verstörende Fragen bezüglich der moralischen Herausforderung, die die NS - Vergangenheit für das Deutschland der 1960er Jahre darstellte. „Der Tod eines Mitbürgers“ und „Die Beichte“ lösten bei den Zuschauern wahrscheinlich keinen greifbaren moralischen Erkenntnisfortschritt aus und haben den Prozess der Vergangenheitsbewältigung vermutlich nur indirekt beeinflusst. Die beiden Fernsehspiele waren ein kleiner Teil der moralischen Verunsicherung, von der die Geschichtskultur Westdeutschlands 20 Jahre nach dem Krieg durchdrungen war. In diesem Sinne waren die Produktionen ein Teil des Fundamentes, auf dem die selbstkritische Erinnerung zukünftiger Jahrzehnte errichtet wurde. Die mangelnde moralische Präzision und zwiespältige Thematisierung der NS - Vergangenheit in fiktionalen Fernsehsendungen finden ihre Entsprechung in den verspäteten, häufig ängstlichen Versuchen, den Tätern der „Endlösung“ ein Gesicht zu geben. Die Fernsehdokumentationen, um die es hier geht, gehören zumeist zur Berichterstattung über die Bemühungen westdeutscher Gerichte, NS - Täter ihrer Strafe zuzuführen, und die meisten dieser Sendungen spielten als Fernsehereignisse nur eine marginale Rolle. Für die Jahre von 1963 bis 1991 bleibt schließlich nur eine Handvoll nicht - fiktionaler Sendungen, die gerade einmal eine Quote von durchschnittlich 10 Prozent der Haushalte erreichten, in denen ein Fernsehgerät zur Verfügung stand, die jeweils weniger als 50 Minuten Sendezeit umfassten und die, mit zwei Ausnahmen, nicht zur Hauptsendezeit zwischen 20 :00 und 22 :00 ausgestrahlt wurden. 217 Minuten in 28 Jahren ! Die erste erwähnenswerte Produktion mit dem Titel „Die letzte Station“ wurde im Jahre 1964 anlässlich des Auschwitz - Prozesses in Frankfurt ausgestrahlt.17 Der Regisseur Thomas Gnielka fasste die Ereignisse in Auschwitz 16 Beide Fernsehspiele erreichten eine Quote von 16 %. Siehe die repräsentative Pressekritik von Ulrike Piper, „Die Beichte“, Vorwärts, 19. 11. 1970. 17 Vgl. Die letzte Station : Eine Dokumentation zum Auschwitz - Prozess, 11.1.1964.
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zusammen, indem er auf Photographien und Auszüge einer polnischen Dokumentation von Maria Kwiatkowska zurückgriff. Zusätzlich bot Gnielka eine kurze Synopse des Lebens von sechs der Angeklagten, in welcher er den Zuschauern von ihrem Verhalten in Auschwitz sowie von ihren unauffälligen Karrieren in der Nachkriegszeit berichtete. In Gnielkas nüchternen Worten und Bildern wird gelegentlich angedeutet, welche gewaltige moralische Herausforderung noch auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft wartet. Nach 12 Jahren des Schweigens strahlte das ZDF eine erste wirklich bemerkenswerte Dokumentation über die Täter aus, mit dem Titel „Dr. W : Ein SS Arzt in Auschwitz“.18 Auf der Basis ausführlicher Interviews mit Freunden und Verwandten stellte der holländische Regisseur Rolf Orthel ein komplexes Bild von Eduard Wirth zusammen. Wirth hatte mehrere Jahre in Auschwitz gedient, regelmäßig an Hinrichtungen teilgenommen, aber gelegentlich auch Gefangenen geholfen. Er beging im Jahre 1945 Selbstmord. „Dr. W.“ ist ein hervorragendes Beispiel für einen nachdenklichen Umgang mit dem Erbe der „Endlösung“, in dem Auschwitz als ein moralisches Rätsel dargestellt wird und das davon absieht, ontologische Wahrheiten oder ethisch - moralische Gewissheiten zu verkünden. Diese Dokumentation war Teil einer bescheidenen Zunahme in der Holocaust - Berichterstattung, die von ARD und ZDF produziert wurde, bevor man ein paar Jahre später von der NBC - Miniserie „Holocaust“ von jenseits des Atlantiks hörte. „Dr. W.“, und seine weniger zielsicheren Vorläufer wie z. B. das Fernsehspiel „Die Beichte“ legten die Grundlage für die bemerkenswerte Rezeption von „Holocaust“ und führten später zu einer Welle von Fernseherzählungen über die Opfer und Überlebenden der „Endlösung“. Die Erfindung des Holocaust - Paradigmas stellt einen wichtigen Wendepunkt für die Geschichtskultur des Westens dar, unter anderem, weil Überlebende endlich die öffentliche Anerkennung erhielten, die ihnen zustand. In Deutschland wurde allerdings die besondere Aufmerksamkeit, die man den Überlebenden der Endlösung entgegenbrachte, schnell zu einem weiteren Faktor, der von der Beschäftigung mit den Tätern ablenkte. Gelegentlich trugen die Überlebenden zu diesem Pakt des Schweigens bei. Manche waren schlichtweg nicht in der Lage, über diejenigen zu sprechen, die sie gequält hatten. Andere wussten die erzieherischen Bemühungen der in den meisten Fällen jüngeren deutschen Interviewer zu schätzen und waren sich der politischen Probleme bewusst, mit denen sich diese unter Umständen zuhause auseinandersetzen mussten. Konsequenterweise sahen sie in einer gewissen Zurückhaltung davon ab, genauere Informationen über die Täter preiszugeben, die ihnen so viel Schmerz verursacht hatten. Das trifft zum Beispiel auf die außergewöhnliche und bahnbrechende Dokumentation „Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland“ von Hans- Dieter Grabe zu, die das ZDF im Jahre 1972 ausstrahlte.19 Schainfeld und Grabe sprechen ausführlich über Schainfelds familiären Hintergrund, seine 18 Vgl. Dr. W. : Ein SS - Arzt in Auschwitz, 12. 9.1976. 19 Vgl. Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland, 17. 3.1972.
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Erfahrungen in Ghettos und Lagern sowie über seine anhaltenden körperlichen und seelischen Leiden. Wann immer sich das Gespräch den Tätern zuwendet, werden das Passiv sowie Umschreibungen verwendet für die „schlechten Menschen, deren Namen ich lieber nicht erwähnen möchte“ (5 :10). Wie wir gesehen haben, fehlt es den frühen Fernsehdramen und - dokumentationen oft an ontologischer und ethischer Präzision. Sie konnten die moralische Bedeutung der Naziverbrechen noch nicht genau benennen und ihren Zuschauern auch keine überzeugenden moralischen Leitlinien vermitteln, die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in konkrete und produktive Bahnen lenken konnte. Das ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass die Sendungen zumeist ein Schattendasein im Rahmen des Gesamtprogramms führten und nur einen sehr flüchtigen Blick auf die NS - Täter zuließen. Von diesem marginalen Blickwinkel verbreiteten sie allerdings eine produktive moralische Unschärfe, indem sie darauf insistierten, dass der Holocaust eine grundsätzliche moralische Herausforderung für die deutsche Gesellschaft darstellte. Mit der intensiven Beschäftigung mit dem Leiden der Holocaustüberlebenden, die beim ZDF mit dem Überlebendenportrait „Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland“ beginnt, gewann die Holocaust - Berichterstattung einen eindeutigen moralischen Fokus. Nun betonte das Fernsehen die zentrale ontologische Bedeutung des Holocaust für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und bot zunächst eine implizite und später auch eine explizit ausformulierte Richtschnur für die deutsche Verantwortung für das Wohlergehen besagter Überlebender. Doch während ein zentrales Element des Holocaust nun allmählich in den Mittelpunkt rückte, blieb ein anderes zentrales Element weiterhin unterbelichtet. In Bezug auf die Auseinandersetzung mit den Tätern kann die Darstellung von Mendel Schainfelds Leid kaum als ethisches Modell dienen. Die Nazis bleiben weiterhin so namenlos und gesichtslos, dass selbst der Grashüpfer aus Äsops Fabel über mehr charakterliche Tiefe zu verfügen scheint. Mit Präzision und Zurückhaltung zeichnet Grabe das Portrait eines großzügigen Opfers, dessen Schicksal dem Zuschauer Respekt und Mitgefühl abfordert und das als Mediengestalt eine ideale Projektionsfläche für Opferidentifikationen und geschichtsdidaktischen Ehrgeiz bietet. Doch wie in vielen anderen Sendungen, die in den nachfolgenden Jahren das Holocaust - Paradigma im Kontext der Ausstrahlung des NBC - Mehrteilers „Holocaust“ an die deutschen Zuschauer vermittelten, gelang es auch in „Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland“ nicht, ein ähnliches Gefühl normativer Dringlichkeit in Bezug auf die noch ausstehende Auseinandersetzung mit den Tätern zu erwecken. Trotz dieser wichtigen Einschränkung stellen die frühen 1980er Jahre, d. h. die Zeit nach der Erfindung des Holocaust - Paradigmas und vor der Kommerzialisierung des deutschen Fernsehens und auch vor dem Beginn des Knopp Fernsehens, die selbstreflexivste und selbstkritischste Phase des deutschen Geschichtsfernsehens dar. Eine Reihe bemerkenswerter Täterdokumentationen wurde in jenen Jahren vom ZDF ausgestrahlt, freilich fast immer als Nischenprogramme abseits der Hauptsendezeiten. Das gilt z. B. für das Feature „Mein
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Großvater : KZ - Aufseher Konrad Keller“,20 in dem Autor Paul Karalus dokumentiert, wie der junge Journalist Kurt Kister das Leben seines Großvaters rekonstruiert, der zum Wachpersonal von Dachau gehörte und in der Familie als gutmütiger Familienvorstand geschätzt wurde. Wie Gnielka und Orthel vor ihnen, stellten auch Karalus und Kister den Täter in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen, sowohl im Drehbuch als auch in der Bildgestaltung, und erforschten das befremdliche Nebeneinander von extremer Brutalität und alltäglicher Familiennormalität, welches für das Leben so vieler NS - Täter typisch war und ihnen weder während des Krieges noch danach psychologische Probleme bereitet zu haben scheint. Solche für die Beteiligten sicherlich oft schwierigen, mit großer Ernsthaftigkeit und z. T. persönlicher Betroffenheit betriebenen alltagsgeschichtlichen Erkundungen von Täterbiographien waren allerdings mit moralischen Risiken verbunden. Die wenigen einschlägigen Ausstrahlungen beschreiben die Täter als rätselhafte moralische Leerstellen, denen es sich in Gesten bemühter Selbstreflexivität anzunähern gilt. Auf diese Weise werden die Zuschauer angehalten, über verlorene deutsche Unschuld nachzusinnen, aber ansonsten wird ihnen eine eher passive Rolle nahegelegt. Die Sendungen sind betuliche, elegische Trauerübungen, keine kraftvollen ontologischen Ansagen oder wirksame Rufe nach normativen Maßstäben und ethisch motiviertem Handeln. Dabei verstehen sich die Journalisten und ihre Gesprächspartner z. T. durchaus als Erinnerungspioniere, die den moralischen Status quo in Frage stellen wollen. Offensichtlich brauchte es außerordentlich günstige Umstände und viel Entschlossenheit, um eine Dokumentation über NS - Täter zur Hauptsendezeit im ZDF unterzubringen. Jürgen Meyer gelang dies im Jahre 1977 mit seinem nüchternen Bericht über den Majdanek - Prozess, einen der längsten NS - Prozesse der westdeutschen Geschichte.21 Meyer stellt einige der Angeklagten vor und dokumentiert in ruhiger Weise den ausführlichen Gebrauch von Neonazi - Jargon durch die Verteidigung, die schreckliche Behandlung der Überlebenden durch die Gerichtsbeamten sowie die völlige Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit gegenüber dem Verfahren. Aber in den Reihen der ZDF - Journalisten durchbrach erst die entschiedene Philosemitin Lea Rosh den Schutzschild aus kontemplativer Passivität – und das auch noch in der Prime Time. Im November 1982, eine Woche vor der Wiederholung von „Holocaust“ in der ARD, strahlte das ZDF Rosh’s eindeutig betitelte Dokumentation „Holocaust – die Tat und die Täter“ aus.22 Rosh hatte ihre Hausaufgaben gemacht und präsentierte eine scheinbar endlose Liste westdeutscher Justizskandale. Wie die wenigen ihrer Vorgänger, die sich mit dem unpopulären Genre der Tätersendungen beschäftigt hatten, beschrieb Rosh das Leben und die Verbrechen einiger weniger NS - Verbrecher, 20 Vgl. Mein Großvater : KZ - Aufseher Konrad Keller, 25. 7.1982. 21 Vgl. Die Vergangenheit kehrt zurück : Nach 33 Jahren – der Majdanek - Prozess, 27.11.1977. 22 Vgl. Holocaust – die Tat und die Täter : Die Amnestierung der NS - Gewaltverbrechen durch die deutsche Justiz und Nachkriegsgeschichte, 1.11.1982.
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fügte dem aber eine vernichtende Analyse hinzu, indem sie das ZDF - Publikum über die empörend milden Urteile informierte, welche deutsche Gerichte über die Täter verhängt hatten. Man könnte argumentieren, wie dies manche Kritiker getan haben, dass Roshs Ärger ihre Urteilskraft beeinträchtigt habe und dass es ihr nicht gelungen sei, ein ausgeglichenes Bild der westdeutschen Justiz zu präsentieren.23 Wie aus der Produktionsakte hervorgeht, muss die Zusammenarbeit mit Rosh wohl auch schwierig gewesen sein.24 Nichtsdestotrotz ist „Die Tat und die Täter“ ein außerordentliches Fernsehdokument, weil hier NS - Tätergeschichten mit intensiven Gefühlen von Wut und Trauer erzählt werden, die eigentlich viele Journalisten, Politiker und Bürger hätten empfinden und ausdrücken sollen. „Die Tat und die Täter“ definiert einen neuen moralischen Urteilsrahmen und zeigt zugleich auf ganz konkrete Weise, wie das ( west )deutsche Fernsehen auch schon in früheren Jahren eine moralisch überzeugendere Auseinandersetzung mit den Tätern hätte führen können. Roshs Dokumentation markiert einen Wendepunkt, weg von der Unbestimmtheit und Passivität, mit denen frühere Produktionen der Herausforderung der Darstellung der Nazi - Täter begegnet waren. Roshs unverhüllte Empörung über das Versagen der Gerichte, verstärkt durch ihre Wahrnehmung des Holocaust als eines Verbrechens von einzigartiger Bedeutung, führt zu einer ungewöhnlich kraftvollen ontologischen Aussage über die zentrale moralische Bedeutung der „Endlösung“. Zu diesem Zweck manipuliert Rosh ungeniert die Gefühle ihrer Zuschauer. In der Eröffnungsszene der Dokumentation wird z. B. die durch Schauspieler nachgestellte Hinrichtung einer schwangeren polnischen Frau durch zwei NS - Beamte gezeigt. Unmittelbar nachdem das Publikum Zeuge dieser erschütternden Szene geworden ist, erfährt es durch ein aus dem Off gesprochenes Zitat aus den Verhandlungsakten, dass die Mörder keinen einzigen Tag im Gefängnis verbracht haben. Indem Rosh Bild - und Kommentarebene gegeneinander setzt, drückt sie die von ihr empfundene grundlegenden Diskrepanz aus : Das absolute Böse des Holocaust kann von den scheinbar so bemühten Ritualen der westlichen Justiz, die von rechtslastigen Richtern und Verteidigern zur völligen Wirkungslosigkeit verdammt wird, nicht erfasst und schon gar nicht angemessen abgeurteilt werden. Dieses erschreckende Missverhältnis wird im weiteren Verlauf des Films in einer treffenden visuellen Metapher ausgedrückt. Die Dokumentation enthält Filmaufnahmen der NS - Angeklagten, die technisch so manipuliert sind, dass die Anonymität der dargestellten Personen peinlich gewahrt bleibt. Die ehemaligen Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen, für die sie nicht belangt wer-
23 Vgl. „Kritisch gesehen : Holocaust : Die Tat und die Täter,“ Stuttgarter Zeitung, 11.11.1982. 24 Eine umfangreiche Produktionsakte, in der z. B. erhebliche Differenzen bezüglich des Budgets während und nach der Produktion von „Die Tat und die Täter“ dokumentiert sind, findet sich in der „Zentralen Registratur“ des ZDF unter der Produktionsnummer 6471/0284.
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den, während gleichzeitig die Regeln einer „fairen“ Prozessführung das Kamerateam daran hindert, dem Publikum die Gesichter dieser Täter zu zeigen. Rosh verbindet also die Darstellung absoluter ontologischer moralischer Gewissheit mit dem Vorwurf eines systematischen, großangelegten normativen Versagens. Allerdings versetzt auch Rosh ihr Publikum in einen Zustand relativer moralischer Passivität und Hilflosigkeit. Indem sie sich ausschließlich auf die Unzulänglichkeiten des westdeutschen Justizsystems konzentriert, lädt Rosh ihre Zuschauer dazu ein, ihre Wut zu teilen, ohne Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren, die in einer moralisch nützlichen Erinnerungsarbeit münden könnten. In „Die Tat und die Täter“ wird der neue ontologische Imperativ noch nicht in ein operationales normatives Wertesystem mit entsprechenden konkreten Handlungsanweisungen überführt.
II.
Die visuelle Konstruktion der deutschen Unschuld
Der relative Mangel an Tätergeschichte im deutschen Fernsehen war eine der Voraussetzungen für den Erfolg der Abteilung für Zeitgeschichte des ZDF in den 1990ern. Der Fernsehhistoriker Guido Knopp und seine Mitstreiter begannen die Lücke zu füllen, indem sie Konzepte der Darstellung der NS - Geschichte verfolgten, die in anderen Bereichen der deutschen Geschichtskultur schon für viele Jahre Verwendung gefunden hatten. Zum Zwecke der Visualisierung konventioneller Wahrnehmungen Hitlers und seiner Schergen als Haupttäter von Krieg und Völkermord verließen sich Knopp und Co., wie viele ihrer Kollegen, oft auf das Film - und Photomaterial, das von den Nazis zu Propagandazwecken selber hergestellt worden war. Diese Filme und Photos wurden digital „remastered“ und zu glatten, schnell geschnittenen Sequenzen aus Augenzeugenberichten, Animation und nachgespielten historischen Szenen zusammengestellt. Die daraus entstehenden Dokumentationen füllten eine seit langem bestehende Lücke in der visuellen Kultur Deutschlands und verschafften dem ZDF einen Vorteil im Wettbewerb mit den neu gegründeten, zunehmend erfolgreichen kommerziellen Fernsehsendern. Doch erreichten diese Filme noch viel mehr. Indem sie explizite, politisch korrekte Anti - Nazi - Botschaften mit deutlich ambivalenteren visuellen Produkten kombinierten, die ursprünglich zu dem Zweck produziert worden waren, die Macht der Nazis zu feiern, boten Knopp und Co. ihren Zuschauern ein ebenso widersprüchliches wie faszinierendes Geschichtserlebnis. Dem ZDF - Publikum wurde eine Gelegenheit geboten, ein wenig Nazi zu spielen, während es gleichzeitig ( fest ?) in der etablierten, anti - totalitären historischen Kultur Deutschlands verwurzelt blieb.25 25 Zu den außerordentlich erfolgreichen, sich auf Hitler konzentrierenden Knopp’schen Produktionen, einschließlich den Serien „Hitler : Eine Bilanz“ (1995) und „Hitlers Helfer“ (1997–98) siehe Kansteiner, In Pursuit of German Memory, S. 167–180, sowie Kansteiner, „Macht, Authentizität und die Verlockungen der Normalität : Aufstieg und Abschied der NS - Zeitzeugen in den Geschichtsdokumentationen des ZDF“. In : Martin
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Ohne empirische Rezeptionsstudien gibt es keine Möglichkeit, zu entscheiden, ob diese Art historischer Berichterstattung positive oder negative Folgen für die Entwicklung des kollektiven Gedächnisses in Deutschland hatte. Die klammheimliche Freude, sich einen Moment lang an nationalsozialistischer Macht berauschen zu können, könnte dem ZDF durchaus Zuschauer eingebracht haben, die ansonsten nur geringes Interesse an historischer Bildung hatten. Doch hatte die Medienrevolution des ZDF problematische Folgen für die Darstellung der Durchschnittstäter. Ein Teil von Knopps Innovation bestand darin, die Betonung von traditionellen historiographischen Problemen – wie konnte es zur Katastrophe des Nationalsozialismus kommen – auf deutlich emotionalere Fragen zu verlagern – wie erlebte man die Zeit des Nationalsozialismus, was verspürte man als Opfer oder als Zuschauer. Diese Verlagerung führte zu einer gewissen ethischen Vieldeutigkeit und eventuell sogar zu ethischer Verwirrung, denn die Spannungen zwischen Kommentar und Bildmaterial ließen offen, nach welchem Wertekanon die NS - Vergangenheit zu beurteilen sei. Waren der anti - totalitäre Wertekodex der BRD, die voyeuristischen Unterhaltungsinteressen der Zuschauer oder gar das Weltbild der Nazis der angemessene Maßstab ? Der neue emotionale Zugang lud die Zuschauer dazu ein, sich am Prozess der Erinnerungskonstruktion zu beteiligen. Eine derartige Intervention erforderte evokative Editionstechniken, welche, abgesehen von anderen Konsequenzen, das Schwergewicht auf den emotionalen und nicht den historiographischen Inhalt der Aussagen der Augenzeugen legten. Der Wendepunkt in der visuellen Konstruktion historischer Zeugen geschah in den späten 1990ern. Der Erfolg von „Hitler : Eine Bilanz“ katapultierte eine ganze Reihe von Knopps Sendungen in das Hauptprogramm. Die außergewöhnliche Tragweite dieser Programmentscheidung wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass das ZDF in den zwei Jahrzehnten vor „Hitlers Helfer“ nur zwei nichtfiktionale Sendungen über den Nationalsozialismus um 20.15 gezeigt hatte ( traditionell der Beginn der Hauptsendezeit im deutschen Fernsehen ). Seit diesem entscheidenden Wendepunkt wird mit historischen Zeugen in völlig anderer Weise umgegangen, besonders im ZDF. In visueller Hinsicht bleiben die Interviewpartner anonym und austauschbar. Ihr Erscheinen wird auf kurze Einspielungen von etwa 20 Sekunden begrenzt und den Vorgaben des Kommentars untergeordnet. So können die Zeugen keine persönlichen Erinnerungen mehr ausdrücken, die dem von den Produzenten vorgegebenen ideologischen oder ästhetischen Rahmen widersprechen. Die Produzenten schneiden einfach heraus, was ihnen als nicht passend erscheint, und ersetzen es durch die Einspielung eines anderen Zeugen. Den Produzenten vom ZDF gelang es, die prinzipiell ästhetisch sehr unterschiedlichen Komponenten der historischen Dokumentation aneinander anzugleichen und miteinander zu verweben, so dass Film - und Photomaterial, ZeuSabrow / Norbert Frei ( Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 320–353.
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genaussagen und Animationen ( z. B. Karten ) eine farblich und perspektivisch gut abgestimmte Bildersequenz ergaben. Dieses sorgfältig austarierte Produkt wurde darüber hinaus visuell angereichert durch das innovative und evokative Nachstellen historischer Szenen. In ihrem traditionellen Erscheinungsbild enttäuschte die historische Dokumentation beständig die Unterhaltungsinteressen der Zuschauer. Langatmige Experteninterviews, umfangreiches schwarz - weißes Bildmaterial sowie umständliche didaktische Trickfilmeinspeisungen, die visuell - atmosphärisch nicht miteinander integriert und bestenfalls lose mit den OffKommentaren verknüpft waren, erschwerten den Zuschauern den emotionalen Zugang zum Thema und machten es ihnen unmöglich, in die dargestellte geschichtliche Welt einzutauchen. Dem entspre chend bestand die traditionelle historische Dokumentation aus einer tödlichen Mischung aus intellektuell - emotionaler Stagnation und ästhetischen Unterbrechungen und wurde konsequenterweise aus dem Hauptprogramm verbannt.26 Knopps neue Filmsprache arbeitete in sehr unterschiedlicher Weise. Einerseits hatte der Editionsrythmus ein halsbrecherisches Tempo angenommen. Andererseits waren sämtliche individuellen Segmente nun auf das Sorgfältigste ästhetisch integriert. Ein bruchloser Strom von Bildern, sauber an den Kommentar angepasst, gibt dem Zuschauer die Gelegenheit, für die Dauer der Sendung in die Welt der Nazis einzutauchen. Dieser Dokumentationsstil kultiviert Gefühle, nicht historisches Wissen.27 Die sonore Stimme des Kommentators, die gemessene, eingängige Musik, sowie die sorgfältig konstruierte visuelle Homogenität vermitteln ein Gefühl emotionaler Sicherheit, besonders für das erfahrene Knopp - Publikum. Gleichzeitig, auf der Grundlage dieses visuellen Heimatgefühls, hasten die Produktionen von einer Grenzerfahrung und einem emotionalen Höhepunkt zum nächsten, indem sie in kurzer Abfolge Erzählungen von Leid, Liebe, Einsamkeit, Erlösung, Macht und Tod inszenieren. Diese Sendungen stellen machtvolle, technologisch ausgefeilte Elegien dar, die eine Reihe politischer Tabus gebrochen haben und, jedenfalls im sehr spezifischen historischen Kontext der 1990er, viele Zuschauer dazu verführten, in die imaginierte Landschaft des ZDF - Hitlerlandes einzutreten. Knopps Innovation führte zu einer bemerkenswert effektiven Manipulation der Aussagen von Augenzeugen : Die Inter viewpartner werden in geschickter Weise vor dem berühmten schwarz - blauen Hintergrund ausgeleuchtet.28 Durch von oben kommende Spotlights ist das ganze Gesicht gut zu erkennen, obwohl 26 Für eine Darstellung dieser dokumentarischen Ästhetik siehe „Zur Geschichte dokumentarischer Formen und ihrer ästhetischen Gestaltung im öffentlich - rechtlichen Fernsehen,“ Fischer / Wirtz, Alles authentisch, S. 109–136. 27 Konsequenterweise schrieb ein Kritiker vom „Siegeszug des Gefühlsfernsehens über die teuflische Zeitgeschichte“. In : General - Anzeiger vom 16. 10. 2003. 28 Dieser berühmte Hintergrund konnte sich nicht generell als Gestaltungsmittel durchsetzen und wurde nur von ZDF und ARD verwendet. ( Lersch / Viehoff, Geschichte im Fernsehen, 203). Deshalb erscheint die auf vielseitige und langfristige Verwertung angelegte Medienästhetik schon nach wenigen Jahren veraltet und zerstört die Illusion der Zeitgenossenschaft mit den Zeitzeugen.
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die eine Hälfte ( üblicherweise die linke ) heller angestrahlt ist. Dieser Kontrast verleiht dem Gesicht Tiefe und Plastizität. Deutlich sichtbare Falten kennzeichnen diese alten Männer und Frauen als „historisch“ und verleihen ihnen eine Aura von Authentizität. Doch diese visuell konstruierte Autorität wird schnell an die Produktion weitergereicht, denn niemand hört den Zeugen wirklich zu. Die kurzen Interview - Auszüge dienen als visuelle Fußnoten zum Kommentar. Anekdotisch bestätigen sie die dramatischen Aussagen des Sprechers über Verzweiflung, Tod, Folter und Selbstmord. So verleihen die Zeugen den Dokumentationen Glaubwürdigkeit, ohne den ästhetischen Fluss zu unterbrechen. Mit dem neuen Paradigma haben die Fernsehjournalisten die Kontrolle über die historischen Zeugen gewonnen. Sie haben sie ihrer Individualität beraubt und auf ihre Rolle als Authentizitätsmerkmal reduziert. Aber das geschah auf so elegante Weise, dass die Sendungen für die Zuschauer deutlich attraktiver sind als die Geschichtsdokumentationen vergangener Jahrzehnte. Dadurch haben die Fernseh - Historiker aber auch ungewollt unsere historischen Sehnsüchte entlarvt. Wir wollen im Fernsehen nicht irgendwelchen hölzernen, langweiligen und langatmigen alten Männern zuhören, sondern schätzen es, wenn unsere Alten zu kleinen, unterhaltsamen und benutzerfreundlichen Medienpäckchen zurechtgestutzt werden. Unter solchen Umständen sind uns ihre Glatzen, Falten und altmodischen Brillengestelle als Wahrzeichen von Historizität willkommen, denn sie liefern den Nachweis, dass diese alten Menschen tatsächlich die furchtbaren 1930er und 1940er Jahre durchlitten haben. Es wäre allerdings irreführend, hieraus zu schließen, dass das neue Dokumentationsgenre für die historische Bildung völlig ungeeignet ist. In „Holokaust“, ausgestrahlt im Jahre 2000, verwendeten die Fernsehrproduzenten ihr Handwerkzeug z. B. mit bemerkenswerter Präzision. Kommentare, Untertitel und Zeugenaussagen waren genau aufeinander abgestimmt, so dass die Zeugen über syntagmatische und paradigmatische Querverbindungen genau in Raum und Zeit verankert wurden. Auf diese Weise konnten die Aussagen deutscher Soldaten mit den Aussagen jüdischer Überlebender so in Beziehung zueinander gestellt werden, dass eine präzise, multi - perspektivische Darstellung individueller Verbrechen entstand. In der ersten Episode von „Holokaust“ gelingt es mit Hilfe dieser Technik, die Massenmorde von Liebau mit exemplarischer Lebendigkeit zu beschreiben. Es muss allerdings erst noch festgestellt werden, ob die Zuschauer ein Interesse an derartigen Querbezügen haben, oder ob sie „Holokaust“ vor allem als eine schnelle Aneinanderreihung der üblichen Narrative und Ikonographien schätzten. In jedem Fall sorgten die für „Holokaust“ herangezogenen historischen Berater in den Schlüsselsegmenten dieser Sendung für ein beeindruckendes Maß an historischer Präzision und demonstrierten dieserart, dass sich televisuelle und historiographische Annäherungen an die NS - Geschichte zu einem komplexen, vielschichtigen Medienprodukt integrieren lassen. An einem Punkt findet diese friedliche Koexistenz allerdings ihr Ende. „Holokaust“ enthält eine Reihe schwerwiegender Mängel, die höchst wahrscheinlich nicht einer bewuss-
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ten apologetischen Motivation seitens Knopps und seiner Mitstreiter entspringen, sondern der Tatsache zugeschrieben werden müssen, dass sie ein Opfer ihrer eigenen Schneidetechniken und Strategien des Zeugenmanagements wurden. Indem sie die Sendung an die vermeintlichen emotionalen Bedürfnisse der Zuschauer anpassen, erschaffen die Produzenten ein überraschend flaches moralisches Terrain und das, obwohl sie sich mit einem historischen Ereignis von außerordentlicher moralischer Tragweite befassen. In dieser Weise honorieren sie ein angeblich normales, aber in Wahrheit höchst problematisches moralisches Verhalten und konstruieren einen impliziten Betrachter, der alle Arten von „extremen“ Handlungen vermeidet.29 Wie bei vielen Programmen zu diesem Thema wird auch bei „Holokaust“ die bemerkenswerte Souveränität und Gefasstheit der jüdischen Überlebenden offensichtlich, die oft auf eine beträchtliche Interviewerfahrung zurückblicken können. In gewisser Weise mindert diese Souveränität den emotionalen Effekt ihrer Aussagen, obwohl den ZDF Mitarbeitern zugute gehalten werden muss, dass sie kaum versuchen, die Gesprächspartner durch aggressive Interviewmethoden aus der Fassung zu bringen, wie dies z. B. Claude Lanzmann getan hat.30 Vor dem Hintergrund der ruhigen und kompetenten Aussagen der Überlebenden inszenieren die ZDF - Historiker allerdings eine Reihe von emotionalen Auftritten ehemaliger deutscher Soldaten, deren Status als Nicht - Täter und Mitleid verdienende „normale“ Zeugen in „Holokaust“ sorgfältig geschützt wird. So stellt die Aussage eines ehemaligen deutschen Soldaten auch den emotionalen Höhepunkt der ersten Folge dar. Einleitend betont der Kommentator aus dem Off, dass der Soldat hier zum ersten Mal über die Massenerschießungen in Liebau spricht. Was dann folgt, ist nicht gut zu hören und wurde bestimmt von vielen Zuschauern gar nicht verstanden, weil der Soldat während des kurzen Statements in Tränen ausbricht. Der Inhalt seiner Aussage ist allerdings so problematisch, dass die ZDF Redakteure unbedingt hätten nachhaken müssen. Der Soldat sagt nämlich wörtlich : „Wenn ich das gleich gemeldet hätte, vielleicht wäre aufgeräumt worden“. Hier beschwört der Zeuge den wichtigen Mythos, dass die Verbrechen ohne Wissen Hitlers oder der Armeeführung stattfanden und dass eine Anzeige das Morden hätte verhindern können. Da kein Redakteur auf diese Bemerkung einging, blieb nicht nur der Mythos unangetastet, sondern die Sendung berührte auch zu keinem Zeitpunkt die wichtige Frage, wie man das Verhalten der vielen deutschen Genozidzeugen moralisch beurteilen sollte. Was kann man von Menschen in einer solchen Situation erwarten ? Sind sie moralisch schuldig, und wenn ja, wie hätten sie dies vermeiden können ? Wur29 Siehe die Ausführungen über die mediale Konstruktion von Normalität von Jürgen Link, Versuch über den Normalismus : Wie Normalität produziert wird, 4. Auflage Göttingen 2006. 30 Zu Lanzmann siehe Dominick LaCapra, „Lanzmann’s Shoah : ‚Here There is No Why‘,“ Critical Inquiry, 23/2 (1997), S. 231–269. Die aus moralischer Perspektive vielleicht problematischste Sendung in Knopps umfangreichem Oeuvre ist die Dokumentation „Kinder des Feuers : Die Zwillinge von Auschwitz“, 15. 3. 1992.
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den sie vielleicht sogar selbst zu Tätern ? Diese Fragen gewinnen eine noch höhere Relevanz durch die Tatsache, dass einige der interviewten Soldaten, die nur durch ihren Namen und damaligen Rang identifiziert werden, zur Führung des deutschen Nachkriegsmilitärs gehörten ( zum Beispiel Ulrich Maiziere ). Sowohl die deutschen Soldaten als auch die Überlebenden erscheinen als Opfer der Geschichte, die alle gleichermaßen unser Mitleid verdienen. Die zweite Episode enthält eine ähnliche Szene, in welcher der Fokus auf das emotionale Leid des Inter viewpartners als Folge seiner Zeugenschaft des Völkermordes Fragen nach den Verbrechen der deutschen Täter überlagert. In diesem Fall wird die Passivität und vermeintliche Tatferne der deutschen Normalzeugen nicht dadurch geschützt, dass man auf die kritische Dekonstruktion zweifelhafter zeitgenössischer Rationalisierungen verzichtet, sondern indem die Redakteure es unterlassen, die Zuschauer über die wirklich außerordentliche Integrität eines ihrer Zeugen aufzuklären. Der ehemalige deutsche Soldat ist sichtlich erschüttert, als er sich daran erinnert, wie Kinder erschossen wurden. Er berichtet, dass dieses Erlebnis ihn seitdem ständig verfolgt hat. Niemand fragt, welche Schlussfolgerungen dieser Soldat aus seinen Erlebnissen gezogen hat. Die Szene ist in exakt derselben Weise konstruiert wie das Interview mit dem Soldaten in der ersten Episode. Man könnte daraus schließen, das wiederum das emotionale Leid eines deutschen Soldaten in den Mittelpunkt gerückt wird und dass Fragen nach moralischem Versagen und dem Begehen von Gewaltverbrechen systematisch vermieden werden. Doch im letzteren Fall lassen das Desinteresse an der Person des Zeugen und der Fokus auf den emotionalen Höhepunkt seiner Aussage den Zuschauer in völligem Unwissen über die mutigen Widerstandshandlungen dieses Mannes während des Dritten Reiches. Dieser Zeuge ist niemand anderer als Heinz Drossel, der Juden vor NS - Verfolgung gerettet hat und als einer der Gerechten unter den Völkern in Yad Vashem geehrt wird. Der durchschnittliche Zuschauer, der davon nichts weiß, wird vor den wichtigen, schwierigen Fragen geschützt, die Drossels Mut bezüglich des Verhaltens aller anderen deutschen Zeugen aufwirft. Die Sendung bekräftigt somit das passive Verhalten des durchschnittlichen deutschen Wehrmachtssoldaten als moralische Norm. Aber in „Holokaust“ werden nicht nur Überlebende und Zeugen des Genozids befragt, sondern auch einige „echte“ Täter, die allerdings keine Deutschen sind. Das gilt zum Beispiel für den litauischen Hilfspolizisten Maliksanas, der nach eigener Aussage immer versuchte, den Judenstern zu treffen, damit seine Opfer schnell starben. Aber selbst in Maliksanas’ Fall führt sein freimütiges und folgenloses Bekenntnis und die Tatsache, dass er genauso behandelt wird wie alle anderen Holocaust - Zeugen, zu einer Relativierung seiner moralischen Verantwortung. Die besondere moralische Integrität der Holocaust - Überlebenden wird scheinbar automatisch auf alle Zeugen einschließlich der Täter ausgedehnt, und zwar durch die homogene ästhetische Gestaltung und das flache moralische Profil der Sendung. Man könnte beinahe von einer visuell basierten Unschuldsvermutung gegenüber allen historischen Zeugen sprechen, die sich
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schon außergewöhnliche Mühe geben müssten, um diesen „Bonus“ vor der Kamera zu verspielen.31 Die deutschen Zeugen in „Holokaust“ haben diese Gefahr mit Hilfe der ZDF - Ästhetik jedenfalls sorgfältig vermieden. Die tränenreichen Einlassungen der ehemaligen deutschen Soldaten sind die psychologisch-visuellen Höhepunkte der einzelnen Folgen. Sie dienen als normale Deutsche wie du und ich als bequeme Projektionsfläche für Zuschaueridentifikationen, und zwar gerade deswegen, weil sie als Medienfigur eine sehr problematische Handlungsanweisung verkörpern : Der mit gesundem moralischen Bewusstsein ausgestattete Normalbürger vermeidet riskante Widerstandsakte, behält seine Meinung für sich und legt tränenreich Zeugnis ab, wenn die Gefahr vorüber ist. Die den Zeugen in „Holokaust“ zugestandene visuelle Unschuldsvermutung taucht auch in vielen nachfolgenden Sendungen auf. Ein gutes Beispiel von vielen ist die Knopp - Sendung „Die Gefangenen“, die zur Hauptsendezeit im Jahre 2003 ausgestrahlt wurde.32 Diese Serie ist eine intellektuell unbefriedigende Produktion. Das Leiden der russischen Soldaten, Kriegsgefangenen und Zivilisten wird pflichtgemäß erwähnt und mit Statistiken unterfüttert, doch konzentrieren sich alle fünf Teile der Serie auf die Erlebnisse deutscher Kriegsgefangener während des Krieges. „Die Gefangenen“ erreichte durchschnittlich 4,11 Millionen Zuschauer pro Sendung, was einem Marktanteil von 12,9 Prozent entspricht. Mit solchen Einschaltquoten reiht sich die Sendung in die vielen erfolgreichen Produktionen der Abteilung Zeitgeschichte des ZDF ein. In „Die Gefangenen“ werden die Soldaten von Hitlers Armeen durch den freizügigen Gebrauch von Holocaust - Ikonographie – Bahngleise, Deportationszüge, Stacheldraht, Lagerarchitektur – als historische Opfer stilisiert, obwohl ihre Handlungen eine viel komplexere moralische Beurteilung verdienten. Die symbolische Einbettung der deutschen Kriegsgefangenen in den ultimativen Opfer - Diskurs stellte zum damaligen Zeitpunkt einen genau kalkulierten und relativ risikofreien Tabubruch dar, denn die deutsche Gesellschaft nach der Jahrhundertwende gefiel sich in der Rolle des historischen Opfers von alliierten Bombenangriffen und Vertreibung.33 Trotz seiner flachen und „toleranten“ moralischen Oberflächenstruktur ist das Knopp’sche Geschichtsparadigma ein komplexes moralisches Geflecht, dessen verschiedene Ebenen sich häufig gegenseitig in Frage stellen. Die Sendungen stellen dem Zuschauer viele verschiedene Menschen als mögliche Vorbilder vor, die im Zweiten Weltkrieg sehr unterschiedlich gehandelt und sehr unterschied31
Zur ästhetischen Herstellung kollektiver Unschuld im Knopp - TV siehe besonders Keilbach, Geschichtsbilder und Zeitzeugen, S. 224–236; siehe auch Elm, Zeugenschaft, S. 279–283. 32 Vgl. Die Gefangenen 1 : Ab nach Sibirien, ZDF, 14. 10. 2003; Die Gefangenen 2 : Willkommen im Camp, ZDF, 21. 10. 2003; Die Gefangenen 3 : Schlimmer als die Hölle, ZDF, 28. 10. 2003; Die Gefangenen 4 : Zwischen Tod und Liebe, ZDF 4. 11. 2003; Die Gefangenen 5 : Die Heimkehr der Zehntausend, ZDF, 11. 11. 2003. 33 Diese Mischung aus political correctness und Opferdiskurs wurde von dem Kritiker Heinen „Geschichte wird gemacht : ZDF - Doku - Reihe über Deutsche in Kriegsgefangenschaft“. In: Frankfurter Rundschau vom 14. 10. 2003, sehr gut dargestellt.
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liche Erfahrungen gemacht haben. Trotzdem werden die Taten und Erinnerungen dieser Menschen ausnahmslos mit einem Heiligenschein historischer Unschuld verziert. Den Zuschauern werden keine Vorschläge unterbreitet, wie sie die individuellen Handlungen beurteilen und zwischen positivem und negativem Verhalten unterscheiden können. Sowohl auf der normativen Ebene als auch auf der Ebene der angewandten Ethik ist das Knopp’sche Paradigma sehr darum bemüht, jedwedes Urteil über die Zeitgenossen des Dritten Reiches zu vermeiden, mit Ausnahme von Hitler und einigen wenigen ausgewählten Nazis, die natürlich nie als Interviewpartner vor der Kamera erscheinen. Gleichzeitig beschwören die Sendungen routinemäßig das Böse des Nationalsozialismus als ontologisches Prinzip und erteilen den Zuschauern somit den recht wertlosen Rat, dass sie Leute vom Schlage Hitlers vermeiden sollten, damit sie nicht auch Opfer der Geschichte werden. Die Kombination aus eindimensionalen ontologischen Wahrheiten und ethischen Leerstellen und normativ entleerten Fallbespielen führt zu einem erschreckenden Mangel an moralischer Selbstreflexivität. Die Sendungen schrecken schlichtweg vor jeder schwierigen, die Vergangenheit betreffenden moralischen Frage zurück, obwohl die Auseinandersetzung mit solchen Fragen zu den Kernaufgaben der historischen Bildung gehört. Die Beteiligung so vieler Deutscher als Täter am Völkermord; die Schuld derer, die dabei zusahen; die Jahrzehnte des Schweigens zu diesem Thema; und die Erinnerungspflicht zukünftiger Generationen, die keinerlei politische Verantwortung für die Verbrechen tragen – keine dieser moralischen Herausforderungen und Dilemmata wird in sinnvoller Weise angesprochen. Die Sendungen flüchten vor komplexen moralischen Fragestellungen und hinterlassen lediglich ein weitgehend inhaltleeres und deshalb höchst problematisches ethisches Gerüst, innerhalb dessen die Vergangenheit nur noch den psychologischen Unterhaltungsinteressen der heute Lebenden dient. Es ist also durchaus möglich, dass der Erfolg des Knopp’schen Paradigmas auf einer profunden moralischen Leere und einer rigiden Trennung verschiedener Kommunikationsebenen und verschiedener Ebenen moralischer Selbstreflexion beruht. Auf der Basis scheinbar fest etablierter ontologischer Wahrheiten betreiben die Sendungen eine Erinnerungspolitik, die jede weitere ethische und normative Differenzierung tunlichst vermeidet. Auf der ontologischen Ebene bestätigen Knopp und Co. unermüdlich die essentielle Wichtigkeit des Holocaust für die moderne deutsche Geschichte und den Sonderstatus der Überlebenden. Diese ontologischen Einsichten implizieren unter anderem, dass es einen fundamentalen moralischen Unterschied zwischen Opfern, Zuschauern und Tätern des Völkermordes gibt. Wenn sie aber mit der Aufgabe konfrontiert werden, diese Wahrheiten mit Hilfe spezifischer narrativer und visueller Beispiele zum Ausdruck zu bringen, setzen die ZDF Redakteure verschiedene historische Erfahrungen und Handlungen miteinander gleich. Dabei wird z. B. die Aura der Unschuld, die die Zeitzeugen umgibt, in erster Linie visuell über Bildauswahl und Schneidetechniken erzeugt, so dass man von einer sehr konkreten, aber auch sehr problematischen angewandten visuellen Ethik sprechen
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kann, die die meisten Zuschauer wahrscheinlich mehr gefesselt und beeinflusst hat als die abstrakte, routinemäßige Beschwörung der Einzigartigkeit des Holocaust.
III.
Gewalttätige Holocaust - Erinnerung
Die Auseinandersetzung mit den NS - Tätern ist sicherlich die größte moralische Herausforderung, der sich die Holocaust - Erinnerung in Deutschland stellen muss. Wie wir gesehen haben, weisen die entsprechenden Erinnerungsversuche im Fernsehen erhebliche Defizite auf. Aber der Umgang mit Tätergeschichte ist natürlich nur eines der zentralen Themen der Holocaustdiskurse, die seit den 1980er Jahren die öffentliche Geschichtslandschaft in Deutschland prägten. Im Laufe einer fortschreitenden Institutionalisierung der Holocaust - Kultur gewann eine neue Art der Berichterstattung an Bedeutung, die Holocaust - Erinnerung als Erfolgsgeschichte zelebrierte und sich deshalb bei Journalisten besonderer Beliebtheit erfreute. Nach Jahren engagierter erinnerungspolitischer Praxis hatte das Fernsehen viele Gelegenheiten über besonders lobenswerte selbstreflexive Deutsche und ihre philosemitischen Taten zu berichten.34 Auch diese Art der Berichterstattung hatte natürlich einen stark moralisierenden Charakter und auch in diesem Kontext wurden gelegentlich die moralischen Schattenseiten der Holocaust - Kultur entlarvt. 1995 strahlte das ZDF eine Sendung mit dem programmatischen Titel „Enkel auf Zeit : Deutsche Zivis in Prag“ aus.35 Zehn Tage lang beobachtet ein deutsches Kamerateam drei Kriegsdienstverweigerer, die Sozialdienst an HolocaustÜberlebenden in Prag leisteten. Gleich zu Beginn der Ausstrahlung konnten die Autoren der Versuchung nicht widerstehen und präsentierten den Zuschauern einen unterhaltsamen Versprecher, den sie während der Produktion mitgeschnitten hatten. Der Kriegsdienstverweigerer Fabian und die Überlebende Frau Ernstova sitzen Seite an Seite auf einer Bank im Freien, während der Interviewer den jungen Mann fragt, ob er irgend einen wichtigen Unterschied darin sehe, vom Holocaust nur abstrakt zu wissen oder neben einer Überlebenden zu sitzen, welche die tatsächlichen Ereignisse selber erlebt hat. Fabian bestätigt pflichtgemäß den Unterschied und fügt hinzu, dass er es tatsächlich unmöglich finde, beides zu vergleichen :
34 In diesem Stil präsentierte das ZDF im Jahre 1988 die Gedenkbemühungen von 25 deutschen Jugendlichen, die in den 1960ern beim Bau einer Synagoge in Lyon geholfen hatten. Siehe Kontext : Reise in die Vergangenheit : 1963 – Junge Deutsche bauen eine Synagoge in Lyon, ZDF, 28. September 1988. 35 Vgl. Enkel auf Zeit : Deutsche Zivis in Prag, ZDF, Dezember 10, 1995. Diese Sendung von Michael Koechlin war ursprünglich für den 21. Juli um 21.15 vorgesehen, wurde aber kurzfristig verschoben. Siehe ZDF - Programm für den 21. Juli 1995 und den 10. Dezember 1995. Sie wurde von 1,4 Millionen Zuschauern gesehen, was 3 Prozent der Fernsehhaushalte im vereinigten Deutschland entspricht.
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Fabian : Es ist schon etwas Anderes, und ich kann beide Vorstellungen nicht zusammenbringen. Frau Ernstova als Lebende [ sie lacht, und er wird rot ], ich meine, lebendig als Person ... Frau Ernstova [ unterbricht ihn ruhig ]. Ja, ich weiß schon. Fabian : und dann diese Berichte, die so viel Hoffnungslosigkeit ausdrücken und ja nur auf dem Papier stehen. Während Fabians Versehen sein gutes Verhältnis zu Frau Ernstova nicht beeinträchtigt zu haben scheint, sind die psychologischen Folgen einer anderen Szene aus „Enkel auf Zeit“ unter Umständen weniger harmlos gewesen. Der Inter viewer, der bereits die Auschwitz - Überlebende Frau Pechanova danach gefragt hat, wie wichtig Fabians tägliche Besuche für sie sind, hat darauf hingewiesen, dass sie von jungen Deutschen gefoltert wurde und nun einen jungen Deutschen in ihrer Wohnung hat. Als Ergebnis dieser alles andere als subtilen Befragung entlockt der Interviewer ihr ein paar deutliche Sätze, in denen sie Fabians Unschuld und seine hervorragende Arbeitsethik bestätigt. Doch der Interviewer scheint einen ganz bestimmten Interviewplan zu verfolgen, der im Titel der Sendung zum Ausdruck kommt, und gräbt deshalb weiter. Zunächst zeigt die Kamera eine alte Photographie, auf der drei sowjetische Soldaten und zwei Frauen in Lagerkleidung zu sehen sind. Dann fährt die Kamera langsam den Arm der Person entlang, die das Photo hält, bevor sie auf der Lager Tätowierung auf dem linken Unterarm von Frau Pechanova zur Ruhe kommt. Nach einem Schnitt zeigt die Kamera von oben eine Nahaufnahme von Frau Pechanovas Gesicht, einer alten, kleinen und gebeugten Frau, die mitten im Zimmer steht und leicht schwankt ( die Zuschauer wissen bereits, dass sie zum Gehen einen Stock benutzt ). Die Szene wird von einem Kommentar aus dem Off begleitet, bevor wir Frau Pechanova selbst hören. Für die Dauer der Szene bleibt die Kamera aus nächster Nähe auf ihr Gesicht gerichtet. Kommentar : Dieses Photo wurde von einem russischen Soldaten aufgenommen. Die nach vorne gebeugte Hedwiga Pechanova an ihrem 30. Geburtstag während der Befreiung von Auschwitz. Die Konzentrationslagernummer 74 901 ist das äußere Zeichen dessen, was ihr Leben für immer verändert hat. Frau Pechanova : Da, das bin ich ... In den Jahren unter Heydrich hier hatte ich traurigerweise beide Eltern verloren, beide Eltern und 52 Verwandte. Nun bin ich ganz allein auf der Welt. Interviewer : Ist es unter diesen Umständen von besonderer Wichtigkeit für Sie, dass Fabian jeden Tag vorbei kommt ? Frau Pechanova : Ja, das ist sehr wichtig. Interviewer : Was für eine Beziehung haben Sie zu ihm ? Wie würden Sie das beschreiben ? Frau Pechanova ( schwankt noch mehr und gerät kurz aus dem Blickfeld der Kamera, lacht dann ein wenig ) : Als sehr freundlich ...
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Täterprofile
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Interviewer : Wenn der Krieg, die Verfolgung und die Zeit der Nazis nicht gewesen wären, dann käme vielleicht ein Enkel, vielleicht ein eigener Enkel zu Ihnen. Ist Fabian ... Frau Pechanova ( schwankt, unterbricht den Interviewer plötzlich, spricht schnell und bleibt dann still ). Ja, ja, ja, nein. Es ist schon so, wie Sie sagen. Interviewer : Was für ein, was für ein Enkel ist er ? Ist er ein lieber Enkel ? Frau Pechanova ( nickt und lacht ein wenig, bleibt dann still ) : Gut, gut, gut, gut. (21 :53–23.43) Eine Kamera, ein gutes Gewissen und der feste Wille, die Vergangenheit zu bewältigen, können eine selbstgefällige und sogar gewalttätige Mischung ergeben. Der Autor und Interviewer von „Enkel auf Zeit“ ist sehr höflich und zurückhaltend, wenn er im Off - Kommentator auf die Nazi - Verbrechen Bezug nimmt („was ihr Leben für immer verändert hat“), aber er kennt keine Zurückhaltung, wenn er die Überlebende von Angesicht zu Angesicht befragt. Der Interviewer schreckt gerade noch davor zurück, mit Frau Pechanova über „ihr“ Enkelkind Fabian zu reden, aber von dieser Ausnahme abgesehen zwingt er die alte Frau dazu, ihm auf seinen geschmacklosen metaphorischen Pfaden zu folgen, die er im Drehbuch abgesteckt hat. Beim Betrachten von „Enkel auf Zeit“ fragt man sich, ob es sich bei der Geschichte der deutschen Erinnerungspolitik wirklich um eine Fortschrittsgeschichte handelt. Gehen die selbstgerechten Erinnerungsprofis der 1990er Jahre wirklich offener und selbstkritischer mit der Vergangenheit um als die gehemmten, verlogenen Philosemiten der 1960er Jahre ? Beide Generationen verstanden sich darauf, deutsche Verbrechen und deutsche Schuld in blumiger Sprache zu umschreiben, aber die Erinnerungskünstler der ersten Stunde hielten Abstand von den Opfern und verwickelten sie nicht in den nationalen Medien in eine potentielle Missbrauchssituation. „Enkel auf Zeit“ ist keine Dokumentation über die Täter, dennoch bezieht die Sendung ihre moralische Spannung von der machtvollen symbolischen Präsenz der abwesenden NS - Großväter. 50 Jahre nach Ende des Krieges werden Fabian und seine Kollegen in die Rolle der moralischen Gegenstücke zu ihren Vorvätern gedrängt. Die Sendung zeigt allerdings, wie schnell ein solches Unterfangen moralisch scheitern kann, wenn keine gründliche ethische und normative Reflexion stattfindet, die zwischen dem abstrakten Wert der besonderen Bedeutung des Holocaust und der Umsetzung dieser Einsicht in eine überzeugende angewandte Ethik vermitteln könnte. Im vorliegenden Fall führt dieser Mangel an Reflexion zu einer thematischen Schwerpunktverlagerung weg vom Leiden der Opfer hin zu den bewundernswerten Handlungen einiger deutscher Gutmenschen, deren Lobpreisung Vorrang erhält vor dem Schutz der Opfer. Trotz der unterschiedlichen Themenstellung sind die Dokumentationen aus Knopps Abteilung und das Feature „Enkel auf Zeit“ ähnlich problematisch und ähnlich moralisch strukturiert. Auf einem hohem Abstraktionsgrad wird den Zuschauern suggeriert, dass das Thema für sie von zentraler moralische Bedeutung ist. Aber dieses vermeintlich zentrale ontologische Diktum wird nie mit
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Stewart Anderson / Wulf Kansteiner
einem explizit entwickelten ethischen Wertekodex und entsprechenden normativen Verhaltensrichtlinien unterlegt. Stattdessen operiert das Fernsehen auf der Ebene der angewandten Ethik mit Vorbildern und Narrativen, die den ontologischen Grundsatz der besonderen moralischen Bedeutung des Holocaust mit visuell ausagierten Handlungsszenarien kurzschließen, die wenig selbstkritisches moralisches Potential haben. Um es einmal ganz einfach zu formulieren : Die Programme sagen, der Holocaust ist wichtig, um dann schnell und ausführlich hinzuzufügen : Seht mal, wie die deutschen Soldaten damals ( auch ) gelitten haben und heute noch unter ihren Erinnerungen leiden. Oder : Der Holocaust ist wichtig, und schaut mal, wie unsere Jugend heute den Opfern hilft und wie dankbar die Opfer dafür sind. So ergibt sich aus unserer Analyse eine dreigeteilte Moralgeschichte des bundesrepublikanischen Fernsehens. In der Anfangsphase des Fernsehens in den 1960er Jahren konnte die moralische Bedeutung der „Endlösung“ noch nicht grundsätzlich formuliert werden, und deshalb gelang es den Redakteuren auch nicht, überzeugende Handlungsmodelle für die Auseinandersetzung mit den Tätern zu entwickeln. Aber in einzelnen Programmen, die sich den Tätern zumeist recht behutsam näherten, wurde diese Leerstelle als wichtige Herausforderung anerkannt. Es folgte die „Entdeckung“ der ontologischen Bedeutung des Holocaust in den 1980er Jahren, die das moralische Augenmerk auf die Überlebenden richtete und dadurch wiederum die Frage verdrängte, wie denn prinzipiell und ganz konkret mit den Täter verfahren werden sollte, von denen noch so viele in Deutschland lebten. Der ontologische Fortschritt, den das HolocaustParadigma zweifellos darstellte, konnte in Bezug auf die Täter nicht in überzeugende ethische Programme und normative Handlungsanweisungen umgesetzt werden. Das hat sicherlich viel mit dem Umstand zu tun, dass die deutsche Gesellschaft die juristische Auseinandersetzung mit den Tätern zum damaligen Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtete. Knopp und seine Mitarbeiter füllten die Lücke seit Mitte der 1990er Jahre mit einer moralisch verkehrten Geschichtslandschaft, die unter dem Deckmantel einer ontologischen Holocaust - Erinnerung erhebliche ethische und normative Verwirrung stiftete. Insbesondere auf der Bildebene wichen sie immer wieder vor der Konfrontation mit den Tätern zurück und propagierten, gewollt oder ungewollt, eine angewandte Ethik, die den mit dem Thema verbundenen moralischen Herausforderungen nur selten gerecht wurde. Tätergeschichte als ein selbstkritischer, sorgfältig normativ begründeter und verantwortungsvoll umgesetzter Diskurs hat im Fernsehen erst in Ansätzen stattgefunden. Dementsprechend muss man auch Bestrebungen skeptisch gegenüber stehen, die die Mediendiskurse über deutsche Vergangenheit ausgewogener gestalten und deshalb mehr Gewicht auf die positiven Aspekte der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts legen wollen. Oberstufenschüler und Fernsehzuschauer mögen durchaus den Eindruck haben, dass sie sich mit so ziemlich jedem Aspekt der NS - Geschichte beschäftigt haben und mit dem Thema nicht weiter behelligt werden müssen. Aber dieses Gefühl mag ja auch eine Reaktion auf die mangel-
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Täterprofile
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hafte Qualität der Medienprodukte sein, die sich immer wieder auf die gleiche Art der NS - Geschichte bemächtigen. Wenn ein so wichtiger erinnerungspolitischer Akteur wie das ZDF bei der Aufarbeitung der Tätergeschichte so oft moralisch Schiffbruch erlitten hat, dürfte das selbstkritische Potenzial des Themas bisher wohl kaum ausgeschöpft worden sein. Das Fernsehen könnte also sicherlich noch einiges dazu beitragen, dass die Auseinandersetzung mit den negativen Aspekten der deutschen Zeitgeschichte mehr positive didaktische und politische Folgen hat als das in der Vergangenheit der Fall war – falls das betagte Medium Fernsehen nicht aus mediengeschichtlichen Gründen als kollektive Moralanstalt ausgedient hat.
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Autorenverzeichnis Stewart Anderson, Jahrgang 1979, PhD, Visiting Assistant Professor an der Brigham Young University in Provo, Utah Wolfgang Bialas, Jahrgang 1954, Priv.-Doz. Dr. sc. phil., Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden Florian Bruns, Jahrgang 1978, Dr., Forschungsassistent am Institut für Geschichte der Medizin, CharitéCentrum 1 für Human- und Gesundheitswissenschaften Amy Carney, Jahrgang 1981, PhD, Assistant Professor für Geschichte an der Pennsylvania State University Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Prof. Dr. phil. habil., Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz Mary Fulbrook, Jahrgang 1951, Professorin für Deutsche Geschichte am University College London Peter J. Haas, Jahrgang 1947, Abba Hillel Silver Professor für Jüdische Studien an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio Gunnar Heinsohn, Jahrgang 1943, Prof. Dr. Dr., Professor emeritus der Universität Bremen Isaac Hershkowitz, Jahrgang 1977, Department für Philosophie an der BarIlan University Jerusalem, Israel Gerrit Hohendorf, Jahrgang 1963, Priv.-Doz. Dr. med., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TU München Uwe Kaminsky, Jahrgang 1962, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre Wulf Kansteiner, Jahrgang 1964, Associate Professor für Europäische Geschichte an der Binghamton University (SUNY) Wulf Kellerwessel, Jahrgang 1963, Prof. Dr. phil. habil., außerplanmäßiger Professor am Philosophischen Institut der RWTH Aachen
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Autorenverzeichnis
André Mineau, Jahrgang 1955, Professor für Ethik und Geschichte an der University of Quebec at Rimouski, Kanada Regina Mühlhäuser, Jahrgang 1971, Dr. phil., Gastwissenschaftlerin am Hamburger Institut für Sozialforschung Christopher Theel, Jahrgang 1978, M. A., School of International Studies an der TU Dresden Richard Weikart, Jahrgang 1958, Professor für Geschichte an der California State University, Stanislaus Rolf Zimmermann, Jahrgang 1944, Prof. Dr. phil. habil., Universität Konstanz
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