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German Pages 381 [382] Year 2004
eINZIO VIOLANTE
Das Ende der ,großen Illusion'
Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 18
Das Ende der ,großen lllusion' Ein europäischer Historiker im Spannungs feld von Krieg und Nachkriegszeit, Henri Pi renne (1914 -1923)Zu einer Neulesung der "Geschichte Europas"
Von
Cinzio Violante Herausgegeben von Gerhard Dilcher Mit einem Vorwort von Giorgio Cracco
Duncker & Humblot . Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Italienische Ausgabe La fine della ,grande illusione' Uno storico europeo tra guerra e dopoguerrra, Henri Pirenne (1914 - 1923). Per una rilettura della "Histoire de I'Europe" (Annali dell'lstituto storico italo-germanico in Trento. Monografia, 31), il Mulino, Bologna 1997 Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Tieck Herausgegeben von Gerhard Dilcher Mit einem Vorwort von Giorgio Cracco
Alle Rechte vorbehalten [) 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-11591-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@ Internet: hup:/Iwww.duncker-humblot.de
Für Laura, die mir in der langen Zeit der Prüfung mit Liebe beistand: »denn es will Abend werden«. (Lukas, 24,29) »Il y a des gens qui se laissent abattre par le malheur et d' autres que le malheur trempe. Il faut vouloir etre de ces derniers. « (Aus einem Brief von Jenny Pirenne an ihren nach Deutschland deportierten Mann)
Henri Pirenne
Inhaltsverzeichnis
Gerhard Dilcher
Einleitung des Herausgebers
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Giorgio Cracco
Cinzio Violante - Die schwierige Identität eines europäischen Historikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Das Ende der ,großen Illusion' Ein europäischer Historiker im Spannungsfeld von Krieg und Nachkriegszeit, Henri Pirenne (1914-1923)Zu einer Neulesung der "Geschichte Europas"
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Erstes Kapitel Die Erfahrung des Krieges
69
1. Akademischer Stolz und politische Opposition im besetzten Gent. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69 2. In den Gefangenenlagern: Neue menschliche Erfahrungen und geistige Anregungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 73 3. Neue Kontakte zur deutschen Gesellschaft: Das Exil in einer Universitätsstadt und in einem abgelegenen Dorf - Von der rigorosen Forschung zur kulturellen Revision und zur Synthese: Die Abfassung der "Geschichte Europas" . . . . . . . . . . . . . . . 86 4. Die Erinnerungen an das Exil in den "Souvenirs de captivite": Die Entdeckung eines ungeahnten Deutschland .. . . . . . . . .. 105
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Inhaltsverzeichnis
Zweites Kapitel Die Professoren im Sturm
1. Die Hintergründe für die Vorbereitung der deutschen Historiker auf die Kriegsideologie ............................ 2. Der Ausbruch des "Intellektuellenkriegs" . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der "Geist von 1914" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die fortschreitende Divergenz zwischen Extremisten und Gemäßigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Divergenzen und gemeinsame Anschauungen der deutschen Professoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117 117 129 136 143 158
Drittes Kapitel Der Bruch in der akademischen Welt Europas zwischen Krieg und NachkriegszeitDie ,Revanche' der belgischen Historiker
1. Die geistige Einheit der Professorenschaft in der Krise. . . . . . . . 2. Intensivierung der internationalen akademischen Initiativen im Geist des Nachkriegsrevanchismus 3. Der Ausschluß der deutschen Wissenschaftler aus der Königlich Belgischen Akademie: Wilamowitz und Liszt . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Ausschluß der deutschen Wissenschaftler aus der Königlich Belgischen Akademie: Lamprecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Reaktion Pirennes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.....................
167 167 174 176 181 202
Viertes Kapitel Die Reden Pirennes in der Nachkriegszeit: Gewissenskrise und historiographische Revisionen
207
1. Vom romantischen Nationalismus zum Rassenimperialismus: Kritik einer kulturellen und politischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Das mittelalterliche Reich - germanisch oder römisch? Revision einer historiographischen und politischen Operation . . . . . . . . . 223 3. " ... desapprendre de l'Allemagne" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Inhaltverzeichnis
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Fünftes Kapitel
Horizonterweiterung zwischen dramatischen Visionen und übemationaler Dynamik im Geschichtsdenken der Nachkriegszeit: Der Brüsseler Kongreß 1923 1. Von der Nationalgeschichte über den Vergleich zur Universalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Völkerwanderungen und Invasionen, Kulturbegegnungen und Kulturkrisen, Wechsel historischer Zeiten . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Horizonterweiterung und methodologische Erneuerung in der Wirtschaftsgeschichte: Von Pirenne zu Febvre und Bloch . . . . . .. 4. Die Vorträge Blochs und Febvres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Ein beschwerlicher Weg zur Versöhnung und Kooperation mit den Historikern der ehemals feindlichen Länder. . . . . . . . . ..
247 247 254 269 276 281
Sechstes Kapitel
Die "Geschichte Europas": Die "ReHlections d'un solitaire" und Pirennes Schriften der Nachkriegszeit als Interpretationsschlüssel 1. Europa als historisches Thema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Grundlegende methodische Kriterien, die Pirennes Darstellung der "Geschichte Europas " bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Invasionen, dynastische Heiratspolitik, Umstände und Gleichzeitigkeiten: Das Problem des Zufalls in der "Geschichte Europas" . . .. 4. Die" Verspätung" Deutschlands in der Geschichte Europas . . . .. 5. Die fortschreitende Entwicklung der Besonderheiten und der Integration der europäischen Nationen. . . . . . . . . . . . . . . ..
291 291 294 301 312 315
Siebtes Kapitel
Der Leitfaden der "Geschichte Europas"
319
1. Von der Kontinuität des antiken Staates und seiner Auflösung bis zur Bildung der "Nationalstaaten" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 319 2. Vielfalt der Leitlinien in der Geschichte Europas zwischen 1350 und 1550 bis hin zur modemen Staatsbildung . . . . . . . . . . . . .. 328 3. Allgemeine Merkmale der "Geschichte Europas" . . . . . . . . . .. 345
Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 353 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 375 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 377
Einleitung des Herausgebers Von Gerhard Dilcher Die Rolle eines Herausgebers dieses Bandes ist mir eher unverdient zugefallen. Die Mühen haben vor allem der Direktor Prof. Cracco und das bewährte Arbeitsteam des Trienter Instituts getragen. Ich konnte erst zum Schluß durch einige Ratschläge und Glättungen der Textfassung einen Beitrag leisten. Dennoch fühle ich mich dem Autor und dem Buch seit langem so verbunden, daß ich den freundlichen Antrag von Giorgio Cracco gerne annahm, in der Hoffnung, dadurch diesem, für Deutsche sicher schwierigen Buch etwas besser den Weg zum deutschen Leser zu bahnen. Cinzio Violante hat die italienische Fassung sicher auch deshalb dem Italienisch-Deutschen Historischen Institut in Trient, dem er lange einen Teil seiner Arbeitskraft geschenkt hatte, zur Veröffentlichung anvertraut, weil er sich für dieses Buch gerade auch den deutschen Leser gewünscht hat. Vor allem ist zu sagen: Cinzio Violante, der Mediävist, will hier weder eine Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der bei den Weltkriege und ihrer politischen und ideellen Hintergründe bis hin zur "Kriegschuldfrage" schreiben (obwohl dies Seite für Seite eine offenbare oder hintergründige Rolle spielt), noch will er die Verflochtenheit deutscher Geschichtsschreibung in völkische, nationale und machtpolitische Ideologien zum Thema machen und analysieren, obwohl dies dem Leser zuweilen als der Gegenstand des Buches erscheinen mag. Zu all dem gibt es heute, auch gerade von seiten der deutschen Historiographie, genauere und umfassendere kritische Analysen, so wenig freilich auch hier ein Ende der Diskussionen sich abzeichnet, manches vielmehr erst in den allerletzten Jahren ins Licht getreten ist (man braucht nur die Themen der letzten Historikertage und die anschließenden Diskussionen ins Auge zu fassen). Violante will jedoch nicht hierzu einen Beitrag liefern, obwohl er manches aus dieser Diskussion zitiert. Cinzio Violante legt vielmehr ein sehr persönliches Dokument von großer eben persönlicher - Authentizität vor; ein Dokument seiner Auseinandersetzungen mit seinem persönlichen Schicksal in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und seiner Stellung zur deutschen und europäischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Das war sein Motiv, in seinen letzten Jahren trotz gesundheitlicher Behinderungen noch einmal ein Buch schreiben zu müssen. Allerdings schreibt er kaum über sich selbst. Er findet einen Spiegel, in weichem er sein eigenes Erleben erkennen und verstehen kann, im Leben und
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Gerhard Dilcher
Denken des belgischen Historikers Henri Pirenne in der Phase des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit. Diese Spiegelung des persönlichen Anliegens des Autors in der Beobachtung des Lebens und Denkens des anderen Historikers macht einen besonderen Reiz und eine besondere Eigenart dieses Buches, die Gebrochenheit und Ambivalenz seiner Aussagen aus. Gerade dies, die Indirektheit, Gebrochenheit und Ambivalenz in dieser Spiegelung ermöglicht eine eigene Form subjektiver Intensität. Für Cinzio Violante wird nicht die Verflechtung seines eigenen Landes, Italiens, in die Phase totalitärer Diktaturen und dessen Überfall auf Griechenland, dem er als junger Offizier dienen muß, zum wichtigsten Problem (sein weiteres Leben, seine weltanschauliche und politische Stellung und sein Werk als Sozial- und Mentalitätshistoriker distanzieren ihn hiervon). Ebensowenig thematisiert er den Nationalsozialismus. Zum Problem wird ihm vielmehr die persönliche Konfrontation mit Deutschland als Militär- und Machtstaat, wie er sie durch die Gefangennahme in Griechenland und als Internierter während des Kriegs in Deutschland erlebt, während er dasselbe Deutschland als Student und junger Gelehrter als die Welt einer bewunderten wissenschaftlichen und geistigen Kultur kennengelernt hatte, die ihre Anziehungskraft für ihn zeitlebens nicht verliert. Seine jahrelange Verbindung zum Deutschen Historischen Institut in Rom soll hier erwähnt werden. Wie Violante es aber in den Schlußworten seines Buches bewegend ausdrückt, hat er erst durch seine Identifikation mit dem Lebensweg und dem Denken von Henri Pirenne, dem die gleiche Faszination und ein ähnliches Schicksal widerfahren ist, zu einem Standpunkt gefunden, der ihm nun in innerer Ruhe zurückzublicken erlaubt. Deutlich wird uns dabei vor allem in der doppelten Brechung im Denken von Pirenne und Violante das ungeheure Ansehen, welches die klassische deutsche Wissenschaftskultur der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und auch noch danach genoß; dem vielleicht irrationalen Ausmaß dieses Ansehens entsprach die Größe der Enttäuschung, als diese Wissenschaft keine überzeugende Antwort auf den Ausbruch des großen Konfliktes der Nationalstaaten und auf die neue europäische Situation nach dem Krieg zu finden wußte; ein Versagen freilich in einer bedrängten und bedrängenden internationalen Situation der wirtschaftlichen und politischen Not und Diskriminierung Deutschlands, die Violante durchaus auch hinter dem Handeln Pirennes und anderer aufscheinen läßt, ohne daß er ihre Wirkungen hier breiter thematisiert hätte. Er will nicht Beurteilungen der beteiligten deutschen Historiker bieten, sondern begnügt sich mit der Perspektive auf Pi renne und durch Pirenne, dessen Äußerungen und Handeln. Nur so, nicht als umfassende Analyse der Geschichtswissenschaft vor und nach dem Ersten Weltkrieg, konnte ja dieses Alterswerk Violantes gelingen und überdies seinen ganz persönlichen Sinn erfüllen.
Einleitung des Herausgebers
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Auf dieser Ebene gelingt nun eine interessante Annäherung an den wichtigen und maßgebenden Weg Pirennes vom nationalen zum europäischen Historiker; sie lädt ein auszumessen, welchen langen Weg auch die europäische Sichtweise des Mittelalters von Pirenne bis zur Rückschau heute aus dem Rahmen eines Einigungsprozesses der europäischen Staaten in der Europäischen Union, gegangen ist und noch geht. Gerade auch in ihrer natürlichen Zeitgebundenheit, als oft mühsame und nicht immer gelungene Ablösung vom Denken in den Kategorien des Nationalen, wird die Bedeutung der erweiterten Sichtweise des großen belgischen Historikers nach dem Weltkrieg deutlich. Innerhalb des von Violante betrachteten Zeitraums, schon Mitte der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, findet sich in dem erörterten Kontext gleichzeitig der Ansatz zum Aufstieg der französischen Geschichtswissenschaft, die für dieses ganze Jahrhundert die zuvor führende deutsche in der internationalen Ausstrahlung auf einen hinteren Rang verweisen sollte. Dieser Perspektive wohl bewußt, läßt Violante das Licht auch auf die Anfänge der Annales-Schule, auf die jungen Historiker Marc Bloch und Lucien Febvre fallen, die für ihn selber dann auch wichtiger als die deutsche Historiographie werden sollten. Das Medium, in der die Auseinandersetzungen um jeweilige Gegenwarten, das äußere und innere Ringen Pirennes wie der deutschen Historiker, schließlich und vor allem des Autors Cinzio Violante selbst, spielen, ist die Geschichte, die Geschichte des Mittelalters. Sie wird ganz ernst genommen, als Ort unserer Herkunft, als Spiegel unserer Wertvorstellungen und Emotionen, schließlich als Refugium, wo es ihm, wie Violante sagt, möglich wird, innere Ruhe zu finden. Auch dies ist etwas, was uns dieses Buch vermittelt und was einer hektischeren Zeit den Sinn der Beschäftigung mit einer anderen, ferneren Welt, aus der aber die unsere hervorgegangen ist, aufzeigen kann. Aus Anlaß eines Vortrags in Frankfurt - es war Mitte der 80er Jahrekonnten Johannes Fried und ich mit Cinzio Violante, der zum ersten Mal seit seiner Internierung wieder auf deutschem Boden stand, die umliegenden Landschaften und Städte besichtigen. Es war aufregend, wie unser Gast diese als Zeugen deutscher Geschichte und Kultur empfand; dabei stiegen in ihm gleichzeitig immer wieder Eindrücke und Erinnerungen aus den Vierzigerjahren hoch. Der Speyrer Dom hat ihn damals tief als Zeugnis eines anderen, nördlich geprägten Mittelalters beeindruckt; er sprach bei späteren Begegnungen immer wieder davon. Auch dies ist für mich ein Hintergrund, vor dem dieses Buch seinen Weg nach Deutschland antritt, das Land, das in einem halben Jahrhundert bei den beiden Historikern, von denen das Werk handelt, solch tiefe und in die europäischen Kulturbeziehungen hineinwirkenden Verstörungen hinterlassen hat.
einzio Violante Die schwierige Identität eines europäischen Historikers Von Giorgio Cracco In deutscher Übersetzung wird hier das Buch über Pirenne zwischen Krieg und Nachkriegszeit (1914-1923) veröffentlicht, das sich ein international renommierter Mediävist, Cinzio Violante, "in einem gewissen Abschnitt" seines Gelehrtenlebens (er wurde in Andria, in Apulien, 1921 geboren und starb in Pisa am 27. März 2001) zu schreiben verpflichtet fühlte. Er wollte über sich selbst, über seinen Beruf als Historiker und über das "moralische und politische" Engagement Rechenschaft ablegen, das ihn während seiner fünfzigjährigen Tätigkeit im Dienst der Universität und der Forschung getragen hatte. Denn obwohl der Titel auf Henri Pirenne und seine "Geschichte Europas" 1 verweist, soll dieses Buch in der Absicht des Autors keineswegs "eine Studie zur Historiographiegeschichte oder zur Geschichte der Neuzeit sein", sondern etwas anderes: der Versuch, das aufzulösen, was zu lange in ihm (an den" Wurzeln meines kulturellen Engagements") ungelöst geblieben war. "Ich wollte verstehen", schreibt er, "wie all das, was der Krieg offenbart hatte, geschehen konnte"2. Es handelt sich also um ein in vieler Hinsicht ungewöhnliches Buch in einem wissenschaftlichen Kontext, in dem Autobiographie und Forschung normalerweise getrennt sind. Aber genau aus diesem Grund lohnt es, das Buch auf deutsch vorzulegen: Zu einem Zeitpunkt an dem alle "Metiers", auch das des Historikers, neu definiert wurden, kann man von ihm ausgehend über die gesamte Produktion Violantes (eine Pflicht dem verstorbenen Historiker gegenüber) und die tiefgreifenden, individuellen und kollektiven Wendungen und Windungen der europäischen, insbesondere der deutsch-italienischen Geschichtsschreibung des 19 . Jahrhunderts nachdenken.
H. Pirenne, Geschichte Europas. Von der Völkerwanderung bis zur Reformation, 1. Ausg. Frankfurt a.M. 1956, 1982, franz. Ausg.: Histoire de l'Europe. Des invasions au XVle siede, Paris / Brüssel 1936. Alle bislang angeführten Zitate finden sich unten, im Vorwort zu diesem Band. 2 VioJantc
Giorgio Cracco
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1. Ein "ungeahntes Deutschland" Violante wollte also verstehen "wie all das, was der Krieg offenbart hatte, geschehen konnte". Er meinte damit genauer sein persönliches Schicksal: Kaum zwanzigjährig, bereits mit mediävistischen Studien an der Scuola Normale Superiore in Pisa befaßt und hier zur "Liebe für Deutschland und für die deutsche Kultur" von Professoren wie Giorgio Pasquali und Delio Cantimori erzogen, befand sich Violante als Offizier der italienischen Armee in Griechenland, auf dem Peloponnes, als er am 8. September 1943 verhaftet und in Deutschland interniert wurde, wo er fast zwei Jahre lang blieb. Es war eine, wie er selbst sagte, "verheerende " Erfahrung, geprägt durch "besonders harte Prüfungen" wie jene, die er in einem Straflager in Köln durchmachte, eine Erfahrung, die seine "jungendliche Zuneigung für Deutschland und die deutsche Kultur"} von Grund auf erschütterte und tiefe Spuren in ihm hinterließen, die körperlich und seelisch sein ganzes Leben lang nachwirken sollten. Als er nach Italien zurückgekehrt war und nachdem er lange Monate in einem Militärkrankenhaus in Catania verbracht hatte, um seine Gesundheit wieder herzustellen, die stets prekär bleiben sollte (später sprach er bitter von "enteigneter Jugend")4, unternahm er dennoch alle Anstrengungen um zu vergessen, und posierte nie als "Kriegsheimkehrer", eine Haltung, die er im Gegenteil ~ewußt vermied 5• Statt dessen stürzte er sich in die Arbeit, in die wissenschaftliche Forschung, um gleichsam die verlorene Zeit wieder gut zu machen. So waren seine Kontakte mit den ehemaligen Kameraden des Gefangenenlagers und mit Zentren des italienischen Widerstands in Deutschland!' sporadisch. Ein expliziter Hinweis auf seine leidvolle Vergangenheit findet sich nur in der Widmung zum ersten großen, 1953 veröffentlichten Buch "La societa milanese nell'eta precomunale": "Meinen Waffengefährten, Zeugen der Freiheit, die auf dem Friedhof von Leipzig, am Völkerschlachtdenkmal, )
Vgl. wieder unten, Vorwort und sein letztes (posthum erschienenes) Interview:
C. Violante, Le contraddizioni della storia, Dialogo con Cosimo Damiano Fonseca,
Palermo 2002, S. 21 f. 4 C. Violante, Una giovinezza espropriata, Pisa 1998, besonders S. 12: »Wegen des glücklichen Verlaufs der Kindheit und der Jugend blieben jene ersten Eindrücke und jene Fragen auf dem Grund meines Bewußtseins liegen, bis der Krieg kam, sie weckte und meine eben erst begonnene Jugend für sich reklamierte". In diesem Erinnerungsbuch "La mia prigione in Germania 0943-45)" wird sie in Kapitel 3, S. 5182 behandelt. Ebd., S. 79 f. 6 Ich kann in diesem Zusammenhang ein Vorwort zitieren, das er in Form eines Briefs an den Herausgeber eines Sammelbands geschrieben hat: C. Lops (Hrsg.), Albori deIIa Nuova Europa. Storia documentata deIIa Resistenza italiana in Germania, Bd. 1: 8. September 1943 ·8. Mai 1945, Rom 1965, S. IX·X, wo er eher als Historiker denn als ehemaliger Internierter spricht und methodische Anleitungen gibt.
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ruhen; denjenigen, denen die körperlichen Leiden die Freude, zu überleben und zurückzukehren, vergällt haben"7. Sieht man sich die Karriere Violantes an, die sowohl an der Universita Cattolica in Mailand als auch an der Universita Statale in Pisa überwältigend war - geprägt durch Initiativen, die die europäische Mediävistik befruchtet haben (es seien nur die Studienwochen am Mendelpaß erwähnt), häufige Kontakte mit der deutschen Wissenschaft, auch enge Freundschaften mit Historikern aus bei den deutschen Staaten (vor allem mit Gerd Tellenbach und Ernst Werner) und wissenschaftlichen Beiträge auf höchstem Niveau, die ihm viele akademische Anerkennungen in Italien und im Ausland eintrugen -, so könnte man meinen, daß auch er manchmal den Eindruck, ja die Illusion gehabt habe, mit der Vergangenheit abgeschlossen und über sie einen Schleier gebreitet zu haben. Aber dem war nicht so: "Ich spürte", gestand er später, "etwas Ungelöstes in mir"8; und er sah sich ständig einer Frage gegenüber, die jedoch nach einiger Zeit allmählich sein persönliches Erlebnis transzendierte und sich auf ein kollektives Problem richtete, das die gesamte europäische Geschichte betraf, vor allem die Phase in dieser Geschichte, die von den Diktaturen bestimmt worden war: Wie war es möglich gewesen, daß sich Professoren wie die deutschen, Vertreter einer Wissenschaft und Kultur, die zu den besten gehörte, ja vielleicht sogar die beste überhaupt war - von Haus aus an die Forschung, an die Auseinandersetzung, an den Dialog jenseits der Grenzen, der Staaten, der Ethnien und über sie hinweg gewohnt und gleichsam eine Art übernationale Elite bildend - unter Politiker und Militärs mischten und ihrerseits, gerade im Namen der Kultur, zu Urhebern von Kriegen, Unterdrückern von Völkern und überzeugten Zerstörern jeder Andersartigkeit wurden? Wie hatte sich die "unnatürliche Verbindung von Kultur und Gewalt"9 entwickeln können? Mir ist nicht bekannt, ob und inwieweit derartige Fragen auch durch "doktrinäre" Lektüre angeleitet waren, etwa durch Gerhard Ritters Buch "Die Dämonie der Macht"lO, das 1948 in München erschien und in Italien 7 C. Violante, La societa milanese nell'eta precomunale, Bari 1953. Der Band hat in italienischer Sprache mehrere Auflagen erlebt. Ich folge hier der ersten Ausgabe in der Universale Laterza, Rom / Bari 1974. Vgl. nochmals unten, Vorwort. 9 Vgl. unten, Nachwort. 10 G. Ritter. Die Dämonie der Macht, München 1948 (it. Übers. Bologna 1968). Vgl. zuletzt A.E. Baldini (Hrsg.l. La Ragion di Stato dopo Meinecke e Croce. Dibattito su recenti pubblicazioni. Beiträge zum internationalen Seminar in Turin. 21.-22. Oktober 1994. Genua 1999. insbesondere den einleitenden Aufsatz des Herausgebers. Le ricerche sulla Ragion di Stato: .situazione e prospettive. S. 7-31.
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zwanzig Jahre später übersetzt wurde. Ich würde es jedoch ausschließen oder doch dessen Einfluß eher niedrig ansetzen: Violante, ein Vollbluthistoriker, achtete viel mehr auf das Leben als auf die Doktrinen und besaß andere Mittel, um jene Fragen wissenschaftlich fruchtbar zu machen, die sonst auf der Ebene der inneren Qual geblieben wären. Seit Ende 1947, als er als Stipendiat an das Istituto Croce in Neapel kam, hatte er oft bei Federico Chabod im Zusammenhang mit der Frage der Kontinuität oder der Zäsur zwischen Antike und Mittelalter von Henri Pirenne gehört. Mit dem belgischen Historiker war er schon seit einiger Zeit, während er sein Buch über die Mailänder Gesellschaft in der vorkommunalen Zeit schrieb, in einen ideellen, oft stark polemisch akzentuierten Dialog eingetreten (er teilte nicht dessen katastrophische Thesen). Trotz des Dissenses hatte er sich von Pirenne stark angezogen gefühlt, vielleicht auch aufgrund einer wahlverwandten historiographischen Disposition. So begann er damit, Materialien zu sammeln, um über ihn eine kritische Biographie zu schreiben. Aber während er sie durch lange Forschungen in Belgien und in Deutschland vorbereitete, kam 1974 eine mehr als erschöpfende Biographie Pirennes von Bryce Lyon heraus ll . Was tun mit all den abgelegten Zetteln? Zu jenem Zeitpunkt kam ihm die Idee. Über Pirenne wußte Violante viel. So wußte er zum Beispiel, daß er lange (er wurde 1862 geboren) die deutsche Wissenschaft bewundert, ja fast einen Kult um sie betrieben hatte, da er in Deutschland studiert hatte und oft nach Deutschland zurückgekehrt war, um dort Referate und Vorlesungen zu halten (besonders anläßlich der Deutschen Historikertage) und auch um akademische Ehrungen entgegen zu nehmen. Er wußte, daß er sich nach der Besetzung Gents durch die deutschen Truppen dem Widerstand angeschlossen hatte und deshalb am 18. März 1916 (zusammen mit seinem Lehrer Paul Fredericq) verhaftet und nach Deutschland deportiert wurde, zunächst als Gefangener (in den Lagern von Krefeld und später von Holzminden) und schließlich als Asylant (wenige Monate in Jena und schließlich ab Januar 1917 bis zum Ende des Krieges in Creuzburg, einem kleinen Dorf in Thüringen). Er wußte, daß Pi renne von alldem erschüttert worden war und auf diese Weise ein "ungeahntes Deutschland" {eine ultranationalistische und kriegerische Macht)12 entdeckt und auch ungeahnte deutsche Kollegen und Freunde kennen gelernt hatte, wie diejenigen, die sich nach Gent begaben, um ihn dazu zu bewegen, vom Widerstand abzusehen {und er wollte sie nicht einmal empfangen)ll. Er wußte auch, daß Pirenne erschüttert, aber nicht gebrochen worden war. So hatte er in einem sehr mutigen Brief einen Satz seiner Frau zitiert. Darin hießt es, "daß das Unglück die einen zerschmettert ... , II
Br. Lyon, Henri Pirenne: A Biographical and Intellectual Study, Gent 1974.
12 Siehe unten, S. 105 ff. Il Siehe unten. S. 72 f.
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die anderen aber stählt" und "daß man zu den letzteren gehören müsse"14. Die Antwort Pirennes war also nicht Resignation und Schweigen, sondern die Ausübung seines "Berufs als Historiker" im großen Stil. So gelang es ihm gerade während der Monate des Exils, eine "Geschichte Europas" zu schreiben: Ein Werk, das nicht von Büchern beeinflußt war, deren er kaum welche besaß, sondern von dem "Unglück" (das "Unglück", das manchmal auch den Gelehrten die Augen öffnet) und das deshalb als sein historiographisches Manifest gelesen werden konnte. Weil er all dies wußte, sah sich Violante in Pirenne wie in einem Spiegel: Auch er hatte Deutschland und seine Wissenschaft geliebt. Auch er hatte im Zweiten Weltkrieg dasselbe Los eines Deportierten erfahren und die Entdeckung eines "ungeahnten Deutschland" gemacht. Zwar blieb außer dem Unterschied der Zeiten ein großer Unterschied gegenüber dem belgischen Historiker. Pirenne, schon über fünfzigjährig und auf Ruhm und Karriere zurückblickend, hatte sofort, schon während der Internierung, auf das "Unglück" reagiert und die "Geschichte Europas" geschrieben. Violante hingegen war noch zu jung und mußte seine akademische Laufbahn erst aufbauen. So hatte er nicht reagiert und jahrelang über seinem "Unglück" gebrütet, ohne es verarbeiten zu können. Aber jetzt war, wenn auch verspätet, der Moment der Reaktion gekommen. Violante sollte seine persönliche Tragödie durch Pirenne lösen, indem er über ihn nicht eine neue und vielleicht unnütze Biographie schreibt, sondern eine Geschichte von Pirennes "Unglück", der Reaktionen, die es in ihm bis zum Kriegsausbruch (1914) und dann während der Jahre der Gefangenschaft und des Exils und später in der Nachkriegszeit (bis 1923) auslöste: kurz, die Geschichte jenes Jahrzehnts zwischen Krieg und Nachkriegszeit, das aus Pirenne - einem Pirenne, der nach der "großen Illusion" endlich die Augen öffnete - einen anderen Menschen und einen anderen Historiker gemacht hatte, einen, der im Exil eine "Geschichte Europas" schrieb und dann nach der Rückkehr in die Freiheit und zu den Studien mit den denkwürdigen Büchern über die mittelalterliche Stadt l5 und über Mohamet und Karl den Großen l6 zum eigentlichen Durchbruch kam. Und das Buch, das hier vorgestellt wird, bekam allmählich Konturen. 14 Dieser Satz der Ehefrau steht in einem von Pirenne am 31. Januar 1917 aus dem Exil in Creuzburg geschriebenen Brief: vgl. H. Pirenne, Geschichte Europas, Vorwort, o.S. 15 H. Pirenne, Les Villes du Moyen Age. Essai d'histoire economique et sociale, Brüssel 1927. 16 H. Pirenne, Mahomet et Char!emagne, posthum Brüssel 1937 (dt. Übers.: Mahomet und Kar! der Große. Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germanischen Mittelalters, Frankfurt a.M. / Hamburg 1963).
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2. "Professoren im Sturm" Zu Beginn erzählt Violante - vor allem auf der Grundlage der autobiographischen Schriften - "die Kriegserfahrung" Pirennes, von dem Zeitpunkt an, als Gent, wo er lebte, im Zuge der deutschen Besetzung "ein Kollektivgefängnis" wurde und sein Sohn Pierre, ein erst 19 Jahre alter Jüngling, an der Yserfront fiel. Was in den Augen Violantes am meisten zählt, ist jedoch nicht das Tagesgeschehen, sondern die Reaktion des Historikers, des Professors diesem gegenüber. Als ihn die Besetzung überraschte, setzte er - so Violante - seine Arbeit fort (er sah gerade den fünften Band seiner "Histoire de Belgique" durch) und verarbeitete höchstens hierdurch die Auswirkungen des Unglücks, das sein Vaterland und seine Familie getroffen hatte. Als er dann im Zuge der Gefangennahme in Lagern interniert wurde, bekam seine Reaktion noch positivere Akzente. Violante spricht in diesem Zusammenhang - mit der Sensibilität eines Mannes, dem Ähnliches widerfahren ist - von den "neuen menschlichen Erfahrungen und geistigen Anregungen" 17, die der belgische Historiker erfuhr. Bereits in Krefeld beschränkte er sich nicht darauf, seine Studien dank der Bücher fortzusetzen, die er als "Herr Professor" (als solcher wurde er weiterhin von denjenigen anerkannt, die ihn gefangen hielten) bekommen konnte, sondern er wollte eine ihm bis dahin unbekannte Welt mit anderen teilen, mit den über 800 Offizieren, die genauso wie er Gefangene waren: Nicht nur Belgier, sondern auch Franzosen, Engländer und vor allem Russen (er begann sogar, Russisch zu lernen). In Holzminden, einem Lager, in dem 10.000 Gefangene der unterschiedlichsten geographischen und sozialen Herkunft zusammengepfercht waren, war das Miteinander noch intensiver: Pirenne hielt Vorlesungen über die Geschichte Belgiens, aber auch über die europäische Wirtschaftsgeschichte, besonders im Hinblick auf den slawischen und byzantinischen Teil (das verlangte sein größtenteils aus Russen bestehendes Publikum): Das Ergebnis war die Entdeckung eines "erweiterten" Europas, das sicherlich durch die "nationalen Merkmale" geprägt, aber derzeit durch das "Gefühl der verletzten Würde und des verletzten Stolzes"18 geprägt war. Der darauffolgende Wechsel von der Gefangenschaft ins Exil zuerst in Jena und dann in Kreuzburg brachte Pirenne wieder mit einer Wirklichkeit in Kontakt, die ihm gut bekannt war - Deutschland, vor allem die deutsche Universität - aber er löste in ihm andersartige Reaktionen aus, die menschlich sehr bitter waren (das gnadenlose, zu gnadenlose, Porträt des Kollegen und früheren Freunds Alexander Cartellieri) und sich auf seine Identität als Historiker auswirkten. So begann er sich etwa zu fragen, welchen Sinn es 17 Siehe unten, S. 73. 18 Siehe unten, S. 82 f.
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hatte, sich der "Gelehrsamkeit" und der "reine[n] Wissenschaft" in einer Zeit zu widmen, da sich um ihn herum die "schrecklichste Katastrophe" abspielte, "die je existiert hat". Er meinte den Krieg, eine Wirklichkeit, die es zwar immer gegeben hat, wie die Historiker wissen; "aber" - setzte er mit Widerwillen hinzu - "es gibt keinen Grund dafür, daß es immer so sein muß". Genauso gab es keinen Grund dafür, daß die Historiker immer in ihr Spezialistentum eingeschlossen blieben und aufgrund der Notwendigkeit, ihre Darstellung nur und stets auf die Dokumente zu gründen, den "zu mechanisch[en]" Arbeitsmethoden verhaftet blieben, die "von ihrem wahren Gegenstand, dem Leben, zu weit entfernt" sind. Die Folge war, daß sie, auch wenn sie die Kriege untersuchten, nicht auf "die Leiden des Volks" aufmerksam wurden, das immer "Opfer" ist l9 • Die Erfahrungen und die kämpferische Art und Weise, sie zu bewältigen deutet Violante an - waren dabei, gerade den Historiker Pirenne zu verändern: Die Spezialuntersuchungen des Fachmanns genügten ihm nicht mehr; er wollte darüber hinau~ gehen, die Probleme und die von den Dokumenten nicht festgehaltene "Not" wahrnehmen, sich auf die Seite der "Opfer" stellen. Sein Ziel war es, die gesamte Vergangenheit auf eine andere, nicht so ausgeprägt fachliche, mehr "erlebte" Weise zu erforschen. Das brachte ihn, wie er später in den "Souvenirs de captivite" ausführte, in Widerspruch zu den Fachhistorikern par excellence, den deutschen, und ihrer Kultur. Ja, deren wohlbekannte Merkmale, die ihn lange beeindruckt und fasziniert hatten - die "strenge Spezialisierung", das ausgeprägte Bewußtsein der eigenen Überlegenheit, der implizite Militarismus - begann er bereits anzuprangern. Und dahinter zeichneten sich für ihn bereits übergroß die entsprechenden Grenzen ab, d.h. "das Fehlen kritischen Geistes und freien Empfindens" , eine vollkommene Gefügigkeit gegenüber den Fachleuten des Krieges und der Politik und am Ende eine substantielle "Abneigung" - die sogenannte "historische ... Verspätung Deutschlands" -, als es darum ging, auf allen Gebieten "die von der Französischen Revolution eingeführten Neuerungen" zu übernehmen20• In den "Souvenirs" erweiterte Pirenne dann seine Kritik und verlagerte seine durch und durch politische und Deutschland schwer belastende These von der deutschen Alleinschuld, die sich bereits bei der Friedenskonferenz in Paris 1919 durchgesetzt hatte, auf das wissenschaftliche Terrain21 • Siehe unten, S. 95-100. Siehe unten, S. 106-110. 21 Diese Argumentation ist in einem langen, abgeklärte Kritik und freundschaftliche Bewunderung äußernden Privatbrief enthalten, den Arnold Esch, damals Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, nachdem er das Buch gelesen und über es nachgedacht hatte, am 3. November 1998 an Cinzio Violante schrieb. Ich danke dem Freund, daß er mir diesen Brief - einen Brief, den man in voller Länge veröffentlichen sollte - zugänglich gemacht und mir erlaubt hat, ihn zu benutzen. 19
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Jetzt erscheint Violante auch existentiell so von dieser Kritik gegenüber den deutschen Intellektuellen und Professoren in Beschlag genommen, daß er das - vielleicht auch dem organischen Zusammenhang des Bands abträgliche - Bedürfnis empfindet, die kulturelle Biographie Pirennes abzubrechen, um sie zu analysieren und sie sich gleichsam anzueignen. So wird Pirenne im zweiten Kapitel, das mit »Die Professoren im Sturm" überschrieben ist (und vielleicht als letztes, nach allen anderen, als ein selbstständiger Aufsatz geschrieben wurde), nie erwähnt und auch nicht zitiert, während die »deutschen Historiker" mit ihrer alten Neigung zur »Kriegsideologie"22 zu den alleinigen Protagonisten werden. Denn während es für die Intellektuellen aller Länder »natürlich" war, auch nur als Bürger oder als Untertanen dem Vaterland in Waffen zu dienen, stand für deutsche Gelehrten sehr viel mehr auf dem Spiel: eine Kulturfrage, ein besonderes Bedürfnis. Nicht von ungefähr war in Deutschland von »geistiger Mission des Deutschtums" die Rede, das den Okzident mit seiner überlegenen Weltanschauung aus seiner Dekadenz befreien sollte: einen Okzident, der ein Opfer sowohl des Wirtschaftsbürgertums als auch der turbulenten Massen war. Und es hatten Lehren wie die Otto von Gierkes Anklang gefunden, die über die Einzelnen und ihre eigene Freiheit die Genossenschaft mit ihrem »unitarischen Willen" stellten. (Dem Organismus war alles zu opfern, auch das Leben: Das ist die neue Version des pro patria mori.) Am Ausgang dieser Denkrichtung steht der von dem Althistoriker Eduard Meyer geteilte Satz, wonach der Staat keine »historische Schöpfung"23 ist, das Ergebnis eines Vertrags, der von Einzelnen, die zusammenleben möchten, geschlossen worden ist, sondern ein ursprüngliches Prius, das Individuen und Völkern vorausliegt und sie bestimmt - »in Form" setzt, wie Oswald Spengler formuliert 24 . In der Tat waren mit solchen Theorien und ihrer Auswirkung auf das deutsche Bildungswesen alle Voraussetzungen für eine Kriegsideologie gegeben. Dies geschah jedoch nicht, weil sich die Intellektuellen als Politiker und Generäle versuchten, sondern weil sie die Politiker und die Generäle am Ende voll legitimierten und ihnen den technisch-fachmännischen Beitrag der eigenen Disziplinen zur Verfügung stellten. Hierin wurzelte die alte Kriegsideologie der deutschen Intellektuellen. Das Übrige ergab sich daraus konsequent. Daher verwundert es nicht - möchte ich hinzufügen, um Violantes Denken zu erläutern - wenn später, mitten im Krieg, im Dezember 1917, 22 Siehe unten, S. 117 H. 23 Siehe unten, S. 124 f. 24 0. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der
Weltgeschichte, München 1923, S. 1006. Violante zitiert diesen Autor weiter unten,
S.268.
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ein Autor wie Spengler in Anbetra81t seines Buches »Der Untergang des Abendlandes" die Hoffnung äußert, es möge »neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen"25. Die Intellektuellen der anderen europäischen Länder merkten dies wohl und entfesselten einen regelrechten »Krieg der Geister"26, der mit Plakaten, Appellen und Erklärungen geführt wurde, der jedoch zur Folge hatte, daß die deutschen Professoren, auch die »gemäßigten" (wie A. von Harnack, H. Delbrück und F. Meinecke) im Namen der lebensnotwendigen Bedürfnisse"27 Deutschlands noch näher zusammenrückten (der »Aufruf an die Kulturwelt" aus dem Jahr 1914 enthielt 93 Unterschriften, der aus dem Jahr 1915 1347, davon 352 von Professoren) und am Ende, am 31. August 1917, eine Art »Überpartei", die Deutsche Vaterlandspartei, gründeten. Hinzu kommt, daß Violante alle Anstrengungen unternimmt, um unter den deutschen Professoren andere, ja sogar abweichende Ideen und mehr oder weniger explizite Übereinstimmungen mit Professoren anderer europäischer Länder zu entdecken. Aber seine Schlußfolgerung fällt am Ende deutlich aus: Es handelte sich um Ideen, die »praktisch allen deutschen Professoren gemeinsam ... " waren, das Ergebnis ihrer starken Kultur - die Kritik schließt die Bewunderung nicht aus -, ihrer wissenschaftlichen Seriosität, ihrer moralischen Leidenschaf~8. Pirenne, der jahrzehntelang mit jenen Professoren verkehrt hatte, hätte sie kennen müssen. Statt dessen bemerkte er sie erst »überrascht" zu Kriegsbeginn. Was hatte ihm viele Jahre hindurch den Blick verstellt? Das ist die Frage, die das dritte Kapitel durchzieht. Es greift die kulturelle Biographie Pirennes auf und untersucht die Beziehungen des belgischen Historikers zu seinen deutschen Kollegen aus der Nähe: Den Anfang macht Karl Lamprecht, der viele Jahre lang, wenigstens seit 1883, sein historiographisches Vorbild gewesen war und zu dem er auch enge freundschaftliche Beziehungen geknüpft hatte. An sich hätte er dessen pangermanistische Ideen kennen müssen, die die Annexion des flämischen Belgiens einschlossen (er hatte sie seit 1903 in den drei Ergänzungsbänden seiner »Deutschen 25 0. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Vorwort zur ersten Ausgabe des 1. Bandes, S. X. 26 Violante benutzt hier und später das deutsche Wort »Geisterkrieg" , bezieht sich aber auf eine Schrift von H. Kellermann (Hrsg.), Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkrieg, Dresden 1915. Zum besseren Verständnis wird hier und später Kellermanns Ausdruck verwendet. 27 Siehe unten, S. 158. Um diesen und andere von Violante zitierte Gelehrt ist die Debatte weiterhin hochaktuell, vgI. z.B. K. Nowak / o.e. Oexle (Hrsg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wirtschaftspolitiker, Göttingen 2001. 28 Siehe unten, S. 166.
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Geschichte" dargelegt}. Aber es war, a1s würde er sie nicht kennen. Er sah, wie viele andere nichtdeutsche Gelehrte (das sollte ihm später klar werden), Deutschland nicht so, wie es war, sondern so, "wie er es sich erträumte und wie er es in Gedanken erbaute"29. Er wurde sich dessen jedoch zwischen 1915 und 1916 bewußt, als jene Ideen zu politisch-militärischen Handlungen wurden, die ihn und sein Vaterland überwältigten, und er sich verraten und verfolgt fühlte (er entdeckte, daß sogar seine "Histoire de Belgique" von eifrigen deutschen Kollegen als "belgischer Imperialismus" gebrandmarkt wurde}30. Die Reaktion Pirennes wurde, nachdem er ihr nach dem Krieg Ausdruck verleihen konnte, wie Violante bemerkt, äußerst hart: Am 6. Januar 1919 eröffnete er als Vorsitzender die erste Sitzung der Literarischen Klasse der Academie Royale de Belgique nach dem Krieg und verlangte und erreichte, daß drei bekannte deutsche Gelehrte von der Liste der ausländischen Mitglieder gestrichen wurden: Der Philologe Ulrich von Wilamowitz, der Strafrechtler Franz Eduard von Liszt und der Historiker Karl Lamprecht {bei letzterem, der 1915 starb, handelte es sich um eine regelrechte damnatio memoriae}: "Personen, die keine Skrupel hatten" - so Pirenne - "sich als Menschen zu entehren und sich als Wissenschaftler zu diskreditieren, indem sie gegen Belgien ... ebenso diffamierende wie lügnerische Beschuldigungen" richteten "31. Violante nimmt diese rückhaltlose Verurteilung zur Kenntnis, widmet aber seinerseits diesen drei Gelehrten zahlreiche Seiten, um ihre Ideen und politischen Positionen, die keineswegs einheitlich waren {und es handelt sich um wichtige Präzisierungen} eigenständig zu untersuchen. Aber der "Moralismus" Pirennes, der gegen die "pangermanistische ... und militaristische ... Ideologie" gerichtet war, gestattete keinen kritischen Spielraum: Deutschland hatte zuviel gelehrt, jetzt mußte man es "en bloc" zurückweisen. "Ce que nous devons desapprendre de l'Allemagne" ist der Titel einer Rede, die er in Gent am 18. Oktober 1921 hielt'2. Das vierte Kapitel kreist um die Untersuchung der von Pirenne in der Nachkriegszeit gehaltenen politischen Reden und soll zeigen, was man nach Meinung des belgischen Historikers dringend verlernen mußte: zunächst einmal, daß die Nation wichtiger sei als die Einzelnen - im Gegenteil, entgegnete Pirenne, hat sie nur als Garantie der individuellen Freiheit eine 29 30 31 32
Siehe unten, S. 171 (Rede vom 10. Oktober 1921). Ebd. Siehe unten, S. 174. Siehe unten, S. 206.
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Daseinsberechtigung; dann, daß das »Deutschtum", d.h. die romantische Überhöhung des spezifischen »Genies" des deutschen Volks - die bald im Zuge der anthropologischen Entdeckungen auch zur Überhöhung der Rasse wurde - ein Trumpf für das Volk und für die Menschheit sei. Nein - widerspricht Pirenne - die Kultur kann nur das gemeinsame Werk der ganzen Menschheit sein; und keine Kultur und keine Rasse kann sich als autonom oder als rein und als allen anderen überlegen betrachten. Im Gegenteil: Die besten Völker sind nicht diejenigen, die sich abschließen oder sich über die anderen erheben, sondern jene, die am besten in der Lage sind - wie etwa die alten Griechen - das Beste der anderen zusammenzufassen (»sich die Schätze aus der Tradition der benachbarten Gesellschaften anzueignen"). Kurz, man sollte nicht mehr Reden hören wie die Werner Sombarts, des bekannten Historikers und Volkswirtschaftlers der Universität Berlin, die die Deutschen mit folgenden Worten als» Volk Gottes" feierten: »So wie des Deutschen Vogel, der Aar, hoch über allem Getier dieser Erde schwebt, so soll der Deutschen sich erhaben fühlen über das Gevölk, das ihn umgibt, und das er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt"H. Aufrufe wie diese hatten die Deutschen - Pirenne war fest davon überzeugt - zur Besetzung Belgiens verleitet. So kam in seinen Reden, wie Violante bemerkt, die kompromißlose Kritik am Pangermanismus oft, wie es nur natürlich war, auf die »belgische Frage" zurück. Und auch in diesem Zusammenhang hatte er als Historiker und als Bürger eines »Kleinstaats" der deutschen Kultur viel vorzuwerfen. Die große Nachbarnation hatte nämlich Belgien normalerweise entweder als unbedeutend verachtet oder wegen seiner Andersartigkeit (seiner liberalen Verfassung, seiner guten Beziehungen zu Frankreich und England) mit Unbehagen ertragen. Aber wir Belgier, wendet Pirenne ein, hatten trotz unserer Fehler einen Vorzug: »Wir waren am Leben und wir waren es, weil wir frei waren". Deshalb galten unsere Sympathien Frankreich und England. Und was hatte die deutsche Propaganda im Krieg nicht alles erfunden, um die Besetzung Belgiens zu rechtfertigen: daß Belgien wie Holland im Grunde von Bevölkerungen germanischer Rasse bewohnt werde, daß es sich nicht um einen richtigen, sondern um einen künstlichen (eine französisch-englische, von den deutschen gehaßte Schöpfung) und noch dazu zerrissenen Staat wie Österreich handele, zweigeteilt wie Böhmen, kurz: ohne »nationales Genie". Und Pirenne widerlegt Punkt für Punkt: Belgien war so nach dem Willen seines Volks eine» Wahlnation" , eine von jenen Nationen, die »nur durch die konstante Ausübung der höchsten Tugenden bestehen können: der gegenseitigen Toleranz, der Achtung vor dem Recht und H Siehe unten, S. 218. Zitat aus W. Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915, S. 143.
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der Gerechtigkeit". Und was seinen künstlichen Charakter betraf, nun ja, den hatte es, aber »alles, was im höheren Sinne menschlich ist, ist künstlich"H. Und jenseits der »belgischen Frage" gab es die ganze Theorie von den Ursprüngen des modemen Deutschlands, die Pirenne faszinierte und die er einer drastischen Revision unterziehen wollte. An sich - so bemerkte er - war dieses Deutschland aus dem Preußen Friedrichs Ir. hervorgegangen. Dennoch hatten es die deutschen Historiker mit dem Heiligen Römischen Reich des Mittelalters in Verbindung gebracht, das auf diese Weise »germanisiert" wurde. Demgegenüber war die Geschichte dieses Reichs - die Violante, einer Rede Pirennes folgend, ausführlich zusammenfaßt - vielmehr in den Rahmen der römischen und kirchlichen Tradition einzuordnen, wobei Deutschland sich immer aufgrund seiner nicht nur geographischen Marginalität und seiner dauernden Verspätung gegenüber den wichtigsten Entwicklungen der mittelalterlichen Kultur als unfähig erwies, »imperiale Aufgaben" zu übernehmen. Aber alle diese Motive kommen mit neuen und ausführlicheren Weiterführungen in der Rede wieder, die Pirenne 1921 in Gent hielt und die den bereits oben zitierten Titel »Ce que nous devons desapprendre de I' Allernagne" trägt: In diesem Text werden die großen Verdienste, die die »deutsche Wissenschaft" (übrigens ein unglücklicher Ausdruck: Die Wissenschaft ist Wissenschaft, sie beobachtet, sie braucht keine nationalen Prägungen) in den ersten siebzig Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem auf historiographischem Gebiet und im Bereich der Hilfswissenschaften der Geschichte nicht in Abrede gestellt, jedoch das politische Abdriften der Wissenschaft im neuen »preußischen" Reich angeprangert. Die Historiker hätten schließlich sogar von einem seit dem Altertum vorherrschenden Germanismus gesprochen, wo doch die Germanen in der Antike bloß Barbaren waren und demnach »das Reich nicht germanisierten, sondern es nur barbarisierten". Und sie beurteilten am Ende sogar alles aus dem Blickwinkel des Staats (des preußischen Staats), als ob der Staat ein »wesentliches Element der Kultur" sei (daher das negative Urteil Droysens über die Republik Athens und Mommsens über die römische)}5. Nicht die Gewalt, sondern die Kultur war jedoch aufzuwerten: Im Mittelalter, im Kampf zwischen Papsttum und deutschem Reich hatten die moralischen Kräfte und nicht die Waffen gesiegt. Um das Jahr Tausend waren die wichtigsten Neuheiten - die kluniazensische Reform, der Feudalismus, das Rittertum, die scholastische Philosophie, die gotische Kunst - aus einem schwachen Staat wie dem der kapetingischen Monarchie hervorgegangen; und ab dem 13. Jahrhundert begann sich der sogenannte »moderne Staat" in Frankreich und in England zu bilden, nicht in Deutschland, wo im Gegenteil nach dem Tod Friedrichs Ir. von Staufen ein langer Zersetzungsprozeß begann. l4
}5
Siehe unten, S. 218-223. Vgl. hier den Kommentar A. Eschs im oben, Anm. 21, zitierten Brief.
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Von Deutschland »verlernen", bedeutete demnach für Pi renne, sich eines Jahrhunderts pangermanischer Kultur und Wissenschaft zu entschlagen und »unsere Geschichte", d.h. die Geschichte »der bereits zum römischen Reich gehörenden Regionen" wieder zu finden. Es ging natürlich nicht darumPirenne war bereit, sich selbst zu korrigieren -, das »germanische Vorurteil" durch ein »romanisches Vorurteil" zu ersetzen und noch einmal in die »verhängnisvolle Rassentheorie" zurückzufallen. Vielmehr stand endlich eine ausgewogene Einschätzung des Beitrags an, den alle Völker zur gemeinsamen Geschichte der Menschheit leisten und zu leisten imstande sind: »Geschichte im eigentlichen Sinn ist nur die Universalgeschichte" 36. So stellt die »Horizonterweiterung" die weitere und letzte Phase (fünftes Kapitel) in Violantes intellektueller Biographie Pirennes dar: Eine Phase, zu der zeitgleich in Brüssel im April 1923 der Fünfte Internationale Historikerkongreß stattfindet, bei dem Pirenne nicht nur den Vorsitz führte, sondern auch großer Protagonist war. Es genügte nämlich nicht, der nationalistischen Historiographie den Rücken zu kehren und die deutschen Historiker zu verbannen, die ja auch zum Kongreß nicht eingeladen wurden (und erst wieder zum nächsten in Oslo zugelassen werden). Man mußte den Mut haben, eine neue, »streng unparteiliche" Historiographie zu gründen, sowohl im Hinblick auf die Methode, die »vergleichend" und »synthetisch" zu sein hatte, als auch auf die Inhalte, die oft grundlegend zu verändern waren und zusammen den Weg zur Versöhnung frei zu machen hatten. Zu jenem Anlaß konnte Pirenne vor großen Historikern - wie Louis Halphen, Ferdinand Lot, Michael Rostovtzeff, NicolaeJorga und anderen - zum ersten Mal seine kühne, bereits in dem Titel »Mahomet und Karl der Große" angedeutete These zur Diskussion stellen. Gleichzeitig nahm er an den Sitzungen der Sektion für Wirtschaftsgeschichte teil und konnte Vorträge der Junghistoriker aus Straßburg wie Lucien Febvre und Marc Bloch hören, die ihre großen Bücher vorwegnahmen und darüber hinaus den Grund für die späteren »Annales" legten37 • Nur ein »Gesamthistoriker" wie Violante, der in der Lage war, sich auf allen Gebieten der historischen Forschung (der Institutionen-, der Wirtschafts-, der Religions- und der Mentalitätsgeschichte) zu bewegen, konnte ein so lebendiges und vollständiges, in diesem Kapitel wiedergegebenes, Bild der auf dem Kongreß in Brüssel sich ankündigenden historiographischen Bewegung entwerfen. Das ist der letzte und entscheidende Schritt auf dem langen Weg durch das zentrale Jahrzehnt im Leben Pirennes, das Jahrzehnt des Widerstands, der Internierung und der darauffolgenden Nachkriegsphase im Zeichen des revisionistischen Revanchismus (I 914-1923), um ans Ziel zu kommen: die \1,
Siehe unten, S. 223-244.
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Siehe unten, Kap. 5.
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"Neuinterpretation ",genauer gesagt: "eine Neuinterpretation" der "Geschichte Europas" . Ihr sind die beiden letzten Kapitel dieses Buchs gewidmet.
3. ,Jetzt weiß ich" Bei einer Geschichte Europas, die als Deportierter geschrieben worden ist, um auf das "Unglück " zu reagieren, fast aus dem Gedächtnis und ohne Hilfsmittel, und die noch dazu ein Entwurf und unabgeschlossen geblieben ist (sie reicht nur bis 1550), ist es müßig, grundsätzliche Erklärungen oder umfangreiche status quaestionis zu erwarten, aus denen man die Absichten des Autors ableiten könnte. So ist Violante denn auch gezwungen, dessen Identität indirekt zu rekonstruieren, zum Beispiel im Hinblick auf die verfolgte Methode, ausgehend von anderen Schriften Pirennes zu den heißesten damals diskutierten Fragen: wie die Geschichte von der Soziologie zu unterscheiden war (die nur "abstrakte Geschichte" ist); wie der Historiker das Gewicht der Massen mit dem der Einzelnen verbinden konnte ("die politische Geschichte ist nämlich das Werk der Einzelnen"), worin die normale und vorhersehbare Entwicklung aufgrund eines "historischen Gesetzes" (aber inwieweit war die Geschichte Wissenschaft?) bestand und wie sich die Einwirkung des "Zufalls" dazu verhieles. Das behandelte Thema leitet Violante hingegen direkt von den Inhalten der "Geschichte Europas" ab, anhand deren deutlich wird, daß für Pirenne - das ist das Thema des Werks - Europa "römische Kultur" bedeutet, "bewahrt und ergänzt durch die Kirche Roms" und deshalb zunächst das karolingische Reich (einschließlich des eroberten und bekehrten germanischen Teils), das italische Reich, die spanische Mark, Britannien und Irland, soweit sie christianisiert waren und anschließend - das Kriterium ist stets die Zuordnung zur römisch-christlichen Welt - die skandinavischen Regionen und, noch später, die Ostregionen (Polen, Böhmen und Ungarn) umfaßt. Ausgenommen bleiben also die Gebiete des Okzidents und des Orients, solange sie vom Islam besetzt oder weiterhin mit Byzanz verbunden waren (vor allem im Hinblick auf die Ausformung des Verhältnisses von Staat und Kirche): Zu letzteren gehörte Rußland, das noch dazu den Invasionen der asiatischen Völker ausgesetzt war und deshalb als "außerhalb Europas";9 stehend zu betrachten war. Siehe unten, S. 294-301. Siehe unten, S. 391-294. Es sei mir gestattet, zu bemerken, dllß das Mißtrauen gegenüber Rußland in der Historiographie des Okzidents zwischen 19. und 20. Jahrhundert, auch bei "deutschfreundlichen" Autoren, weit verbreitet war. Vgl. den Engländer Freeman: G. Cracco, Edward Augustus Freeman 0823-1892), un medievista senza Medioevo, in: Annali della Scuolll Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofill, 11 (1980,2, S. 341-361, besonders S. 352-354. ;8
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Über einen großen Teil des Mittelalters hinweg, auch als sich die Handelsstädte und dann die Katalanen und das Haus Anjou in den Mittelmeerraum hinein ausdehnten, blieb der Kern Europas im Norden oder, im Zuge der späteren Einbeziehung der westlichen Slawen und der Ungarn, im Nordosten. Erst nachdem die Türken über den Balkan hinauf zu expandieren begannen und sogar Wien bedrohten, verlagerte sich der Kern Europas allmählich in Richtung Süden, in das Italien der Renaissance und anschließend, nach den geographischen Entdeckungen, in Richtung Westen, hin zu den Staaten, die auf den Atlantik hinaus lagen. Aber nicht nach Deutschland (das ist die "Rache" Pirennes); Deutschland hatte vielmehr auch als Sitz des Reichs oft die Schuld, die Entwicklung des wahren, des römisch-christlichen, Europas zu schwächen oder zu verspäten. Das war nur ein erster Angriff auf die pangermanistische Historiographie. Andere folgten. So schrieb er: "Es ist nicht richtig zu sagen, daß die römische Welt sich germanisierte; sie barbarisierte sich, was nicht dasselbe ist". Eine wahre Zäsur in der Geschichte Europas wurde jedoch nicht durch die germanischen Invasionen, sondern durch ein "plötzliches Ereignis" herbeigeführt, die islamische Expansion, die den Mittelmeerraum erfaßte und die römisch-christliche Welt nach Norden hin abdrängte. Damals traten ab dem 7. Jahrhundert und vollständig in der karolingischen Zeit die Züge eines "katastrophischen" Europas hervor, das durch die Krisen der tragenden Mächte und durch die Verländlichung der Wirtschaft und der Gesellschaft geprägt wurde40• Es mußten einige Jahrhunderte vergehen, und es bedurfte eines weiteren "plötzlichen " Ereignisses, des Kreuzzugs, eines "spirituellen" Phänomens also - hier tritt wiederum der "Zufall" in Erscheinung - um das nördliche Europa der Bauern und des Landes in das Europa der Kaufleute und des mediterranen Verkehrs umzuwandeln. Andere "spirituelle" Schübe wie "die wissenschaftliche Neugier und die Propagierung des Glaubens" werden herangezogen, um den späteren Wandel zu erklären, der Ende des 15. Jahrhunderts dank der Eroberung der Neuen Welt zum "Durchbruch des neuzeitlichen Kapitalismus" führte. Und Deutschland? Pirenne ging nicht in die Falle eines Rassismus mit umgekehrtem Vorzeichen (die stets schwachen Deutschen, die im Vergleich zu den stets starken und vorgreifenden "Romanen" verspätet sind). Und dennoch gelingt es ihm, - und nicht sine iro et studio - die deutsche Rolle in der europäischen Geschichte zu deklassieren, indem er einfach die Taste der "historischen Umstände" 40 Das ist der Kern der berühmten "These" Pirennes, die noch heute diskutiert wird, siehe T. Kötzer, Kulturbruch oder Kulturkontinuität? Europa zwischen Antike und Mittelalter - Die Pirenne·These nach 60 Jahren, in: K. Rosen (HrsgJ, Das Mittel meer - die Wege der europäischen Kultur, Bonn 1998, S. 208-227; P. Brown, The Rise oE Western Christendom. Triumph and Diversity, A.D. 200-1000, Oxford 2003, S. 9-12.
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drückt. So sind die historischen Umstände der Grund, warum die nördlich der Donau gebliebenen Deutschen ihren barbarischen Charakter beibehielten, während die Deutschen, die in die römisch-christliche Welt einwanderten, sich darin zu zivilisieren wußten. Historische Umstände waren es auch, die das deutsche Reich zu einer Macht werden ließen, die den sozialen Trägern fremd und deshalb schwach war; und historische Umstände führten dazu, daß das Luthertum dem neuzeitlichen Deutschland die starre Prägung der Staatsgläubigkeit und der Disziplin aufdrückte41 . Aber die wahre Deklassierung des deutschen Beitrags zur europäischen Geschichte erfolgt - und das ist ein wichtiger Interpretationsschlüssel für das ganze Werk - durch die Negierung der "primären Bedeutung des Staats" als Motor der Geschichte: Für Pi renne konnte der Staat nur dann Gewicht haben, wenn die politische Verfassung dem corps sodal und dem esprit publique der Nation entsprach; und das sei im mittelalterlichen Deutschland keineswegs der Fall gewesen42 • Pirennes Bemühen, die deutsche, an der Vorstellung von der Zentralität des Staats orientierte Historiographie zu verdrängen, führte ihn auf nicht einmal ganz so paradoxe Weise dazu - und hier findet Violante im letzten Kapitel den Leitfaden des ganzen Werks - die Geschichte des Staats in den Mittelpunkt der "Geschichte Europas" zu stellen, um mit der Sprache der Tatsachen zu zeigen, daß ein Staat, der "ausschließlich Träger der politischen Gewalt und der militärischen Macht"43 und also nicht sozial verwurzelt ist, nicht in der Lage sei, die Prüfungen der Geschichte zu bestehen. So konnte der Staat des Altertums dank seiner Bindung zu den städtischen Gewerbeschichten zwar die germanischen Invasionen, aber nicht die islamische überleben, die ihn der städtischen Grundlage beraubte und ab den Karolingern zur Herausbildung des Feudalwesens führte. Ein Staat mit corps sodal und esprit publique, d.h. ein Nationalstaat, wurde erst dann wieder möglich, als es zur Wiedergeburt der Städte - "Töchter des Handels" - nach dem Jahr Tausend kam, die seine Grundlage und gleichzeitig seine Identität bildeten. Natürlich handelte es sich nicht um eine einheitliche Identität: Der Vielfalt des europäischen Städtewesens konnte nur eine Vielfalt der Staaten entsprechen. Das galt vor allem für die beiden größten unter ihnen, England und Frankreich. Deutschland wird wieder an den Rand gedrängt. So habe das Reich, weil es mit der Kirche verbunden und von den dynamischen Kräfte der Gesellschaft getrennt gewesen sei, "nie einen wirklichen Staat" gebildet44 • Auch die Kirche bildete keinen Staat. NachdetTI sie Städte und Staaten gegen das Reich unterstützt und sie zu hegemonisieren versucht hatte, wurde sie ihrerseits von 41 Siehe unten, S. 301-315. 42 4l 44
Siehe unten, S. 315-318. Siehe unten, S. 321. Siehe unten, S. 325 f.
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diesen zurückgewiesen. Daraufhin löste sich die das mittelalterliche Europa prägende organische Einheit auf, und die gesamte europäische Gesellschaft entwickelte sich, gleichsam befreit (trotz Krisen und vielfältiger Unruhen) entlang dreier Leitlinien, die "nebeneinander, aber nicht wirklich parallel" verliefen und sie in die Neuzeit hinein führten: der Wirtschaft, die einen neuen Kapitalismus hervorbrachte, der Kultur, die sich in der Renaissance entfaltete, der Religion, die die Reformationen zeitigte45 . Und der gesamte Prozeß entwickelte sich - nicht zufällig - "zugunsten der Zentralgewalt des Staats"46. Denn auch wenn von Wirtschaft und Gesellschaft, ja sogar von sozialen Auseinandersetzungen die Rede ist, die durch die Entstehung des "Proletariats" in den spätmittelalterlichen Städten hervorgerufen wurden - als Sohn eines Textilfabrikanten, der auf die sozialen Umwälzungen seiner Zeit achtete, konnte Pirenne das nicht übersehen - bleibt die "Geschichte Europas" vor allem Staatsgeschichte oder besser gesagt (in diesem Zusammenhang ist die Interpretation Violantes denkbar überzeugend): Sie gerät zu einem großen politischen Fresko, auf die Vorstellung gegründet, daß Europa nichts anderes als eine Nationengemeinschaft sein konnte. An dieser Stelle beschließt Violante seine Analyse mit einigen "Schlußbemerkungen" , die den Pirenne des Jahrzehnts, den durch das "Unglück" gezeichneten Historiker, zu seinem Gesamtwerk in Beziehung setzen sollen, genauer gesagt zu dem Beitrag, den er zur großen europäischen Historiographie zwischen 19. und 20. Jahrhundert leistet. Hier wird eine Tatsache mit Nachdruck wiederholt: die Entstehung von "Pirennes Thesen" ist - im Gegensatz zu dem, was Jan Dhondt behauptet hat - untrennbar mit dem Ausbruch des Weltkrieges und der "moralische[n] und kulturelle[n] Reaktion" , die er hervorrief, verbunden47 . Es war der Krieg, der einen anderen Pirenne formte, welcher sogar dazu bereit war, die eigenen Auffassungen in Frage zu stellen und zu ändern, ja gar zum Theoretiker der historischen Methode zu werden, wie es ihm bis dahin noch nie passiert war (dasselbe sollte, schreibt Violante, später während des Zweiten Weltkrieges auch Marc Bloch geschehen, als er die "Apologie de l'histoire" schrieb). Der Krieg ließ die alten Fragen von dramatischer Aktualität und einer Antwort bedürftig erscheinen: Wer bestimmte den Verlauf der Dinge (die Nationen, der Volksgeist, der Zufall, die Einzelnen)? Worin konnte die historische Kritik bestehen: im Produzieren objektiver Daten oder auch in ihrer fatal subjektiven Rekonstruktion? Wie konnte der Historiker den Konditionierungen durch die Natur, die Umwelt, 45 Siehe unten, S. 328. 46 Siehe unten, S. 344. 47 Siehe unten, S. 353 ff. Violante bezieht sich auf den Aufsatz von]. Dhond/,
Henri Pirenne, historien des institutions urbaines, in: Annali della Fondazione italiana per la storia amministrativa, 3 (1960) [jedoch 1966], S. 81-129. 3 Viola.te
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die Nationalität und die Rasse entgehen und versuchen wenigstens tendenziell "unparteiisch" zu sein? Mit Sicherheit - und dies ist die Antwort auf die letzte Frage - indem er die Horizonte seiner Untersuchung erweiterte und vergleichende Analysen anstellte. Aber an dieser Stelle soll nicht zu Pirennes "Reflexionen " zurückgekehrt werden, sondern gezeigt werden, wie diese für Violante alle auf das Jahrzehnt nach dem Kriegsbeginn zurückzuführen waren: also das ausschlaggebende Jahrzehnt, die Inkubationszeit, für· den reifereren Pi renne, des "Mahomet und Kar! der Große" und der" Villes du moyen age". Diese These entspricht mit Sicherheit der Entfaltung des Bandes, auch wenn damit die Diskussion über Pirenne keineswegs abgeschlossen ist. Man kann sich beispielsweise fragen, ob sich Pirenne wirklich und radikal mit der - traumatischen - Wende des Krieges von der Welt abwandte, die mehrere Jahrzehnte lang seine gewesen war und auch seine große Schuld gegenüber der deutschen Wissenschaft enthielt. Letzten Endes war ihm die Idee, daß die Geschichte nicht nur aus individuellen und bewußten Faktoren besteht, sondern auch aus kollektiven und unterbewußten (Kulturgeschichte) gerade von Deutschland gekommen; daß die Bildung nicht ausreicht, wenn ihr nicht die historische Aufarbeitung folgt; und diese Aufarbeitung, insofern sie subjektiv und an eine Tradition gebunden ist, führte zu einer Interpretationsvielfalt und rechtfertigte diese, und damit auch eine Geschichtsschreibung wie die deutsche (Pirenne gelang es im Grunde genommen nie, sich ganz von Kar! Lamprecht zu befreien).48 Aus gutem Grund hatte also die neue Geschichtswissenschaft, die auch dank Pirennes - und dies ist wieder eine Hervorhebung Violantes -, nach dem Krieg ihren Schwerpunkt von Deutschland nach Frankreich verlagerte, nur die Illusion - die 1928 auf dem Historikertag in Oslo kultivierte "große Illusion" - eine ganz andere zu sein und irenisch die in ihr latenten Unterschiede und Konflikte lösen zu können. Und so kam es sofort danach, und von neuern, mit dem tragischen Aufkommen des "universellen Faschismus"49 zum Sturm: nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und im Rest der Welt, und viele Historiker (nicht allen, man denke nur an diejenigen, die in die Vereinigten Staaten emigrierten)5o waren sofort bereit, im Dienste der Staaten und sogar der Rasse auf gegenüberliegenden Fronten Stellung zu beziehen. 48 Zum berühmtesten Historiker der wilhelminischen Ära vgl. R. Chickering, Kar! Lamprecht. A German Academic Life 0856-1915), Atlantic Highlands NJ 1993 (von Violante nicht zitiert). 49 Dieser Ausdruck stammt von Benito Mussolini (27. Oktober 1930), vgl. P. Chiantera-Stutte, Julius Evola: Dal Dadaismo aHa Rivoluzione conservatrice 09191940), Rom 2001, S. 84-94. 5(1 Siehe unten, S. 371 ff.
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Aber an dieser Stelle kann nicht über Violantes Thesen hinausgegangen werden. Es bleibt nur, sie in ihrem eigenen Kontext anzunehmen, der über die philologische Tatsache hinausgeht, um den Autor und seine letzte Frage existentiell zu berühren: wie war "jener unnatürliche Auswuchs von Kultur und Gewalt" möglich geworden? Mit der Antwort, die lapidar im Nachwort dieses Bandes folgt: "Nun weiß ich, von wie weit her, aus welchen idealen Höhen und durch welche fortschreitenden oft unbewußten Erniedrigungen dieser unnatürliche Auswuchs von Kultur und Gewalt herrührt: und mein Geist ist friedlich"51. Dies scheint eine endgültige Anklage, eine weitere und späte Verdammung, nicht anders als die vielen schon ausgesprochenen, nach dem Ende des Nationalsozialismus, gegen Deutschland und sein Vol~2. Aber es ist Violante selbst, der diesen Eindruck verneint, beinahe um sich selbst zu korrigieren; er schreibt im Vorwort zu dem Band, daß gerade eine kritische Untersuchung der Schriften Henri Pirennes ihn davon überzeugt habe, daß "der ultranationalistische und militaristische Geist, der zum Krieg geführt hatte und vom Krieg verschärft worden war" kein exklusives Merkmal der Deutschen gewesen sei und nicht nur unter den "deutschen Professoren" heimisch gewesen sei 53. Das "nun weiß ich" wird also durch komplexe, vielleicht widersprüchliche Horizonte klar: Horizonte, die dieser Band alleine, ohne das übrige Werk des Autors in Betracht zu ziehen, nur schwer widerspiegeln kann. 4. Die Pilgerreise der Erinnerung
So lautet der Schluß von Violantes Buch, das über Pirenne und durch Pirenne argumentiert. Ein weiterer Schritt ist jedoch vonnöten, der dazu beiträgt, den Autor bekannt zu machen: Das Buch ist in den Zusammenhang seiner gesamten wissenschaftlichen Produktion zu stellen. Ich bin nämlich nicht der Meinung, daß man passiv seiner Aufforderung folgen sollte, dieses Buch als einen gesonderten Beitrag aufzufassen, der auf jeden Fall aus dem Rahmen seines üblichen "Historikerberufs" fällt. Nein, auch in diesem Buch kann man den ganzen Violante finden, ja vielleicht sogar den besten Violante. Das Vergnügen, in einen Autor, in unserem Fall Henri Pirenne, hineinzusehen, ihm zu begegnen ("die Begegnungen, von denen ich rede, haben meinen Lebensweg geprägt"), liebevoll seine kritische Identität wahrzunehmen ("Das historische Denken ist ein Liebesakt" hatte ihn Benedetto Croce gelehrt), war ihm recht besehen immer eigen gewesen, allerdings verstärkt an seinem 51
Ebd., S. 411.
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Vgl. z.B. nur A.J.P. Taylor, The Course oE German History, London 1945.
SI
Siehe unten, S. 63.
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.Lebensabend". So empfand er 1985 zum ersten Mal das Bedürfnis, da er sich nunmehr als Zeuge einer "versunkenen Welt" (das Buch ist denn auch den .jungen Historikern" gewidmet) fühlte, die Porträts einiger verstorbener Historiker zusammenzustellen, die mit ihm befreundet waren: vier Italiener (Ottorino Bertolini, Gian Piero Bognetti, Paolo Lamma, Arsenio Frugoni) und zwei Ausländer {Franc;ois-Louis Ganshof, Jean-Franc;ois Lemarignier)54. Später, 1992, hatte er in einem weiteren und ähnlichen Band, der wiederum den .Jüngern Clios" gewidmet war, Aufsätze, die verschiedene Forschungsperspektiven zur Geschichte der mittelalterlichen Gesellschaft betrafen, neu veröffentlicht und stellenweise überarbeitet, um (wie er schrieb) .in meinem Geist die intensivsten Momente der historiographischen Entdeckungen nachzuempfinden". Das war eine andere Art, durch kritische Musterung ihrer Forschungsperspektiven .bedeutenden Historikern aller Nationen" zu begegnen, die ihm teuer waren: Alfons Dopsch, Philip Dollinger, Ernesto Sestan, Pierre Courcelle, Carlo Maria Cipolla, Robert Brentano, Liuba Kotelnikova, Rosario Romeo, Pierre Toubere 5. Aber im Laufe seiner Studien hatte Violante das Vergnügen, vielen anderen Mediävisten zu • begegnen " , d.h. ihren Beitrag zum Forschritt der Forschung von Grund auf zu diskutieren: Henri-Irenee Marrou, Gerd TeIlenbach, Ernst Wem er und Gioacchino Volpe {diesem widmete er auch in den letzten Jahren zahlreiche .Neuinterpretationen")56. Ein Anzeichen dafür, daß der Historiker in der Reife das Bedürfnis empfand, die gesamte Vergangenheit neu zu überdenken (cogitavi dies antiquos, wiederholt er mit dem Psalmisten), sie auch rückzugewinnen und sie gleichsam noch einmal zu erleben (indem er verstreute, aber thematisch zusammenhängende Schriften in einem Band sammelte), um sie gleichsam als wertvolles Erbe den neuen Generationen zu übergeben 57 . Als Beleg für die Intensität dieser Phase, die ich "Pilgerfahrt der Erinnerung" nennen würde, kann man drei weitere seiner Bücher heranziehen: ein 1998 fast im Anschluß an das hier vorliegende veröffentlichtes, in dem er unter einem nicht nur autobio54 C. Violante, Devoti di Clio. Ricordi di amici storici, Rom 1985, insbesondere das Vorwort, S. 9. Das Thema der Begegnungen ist typisch für eine besondere Phase in der italienischen Mediävistik. Vgl. A. Frugoni, Incontri nel Medioevo, Bologna 1979. Vgl. dazu G. Cracco, Voci d'archivio (ancora a proposito della .Sambin Revolution"), in: Ricerche di storia sociale e religiosa, 31 (2002), S. 37-52, bes. S. 48 f. 55 C. Violante, Prospettive storiografiche sulla societa medioevale. Spigolature, Mailand 1995, bes. S. 9. 56 Vgl. vor allem seine Einleitung zu G. Volpe, Medio Evo Italiano, Rom / Bari 1992, S. V-XLI. Die vollständige Violante-Bibliographie, hrsg. von E. Salvatori, ist online einzusehen: http://www.humnet.unipi.it/medievistica/viola.htm. 57 Vgl. die Widmungen und die Epigraphen der oben, Anm. 48 f., zitierten Bände.
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graphischen Gesichtspunkt seine Jugendjahre von 1931 bis 1948 durchgeh~8; ein zweites von 1999, in dem er die Beiträge zu einem für ihn zentralen Thema zusammenfaßt, der Wende des 11. Jahrhunderts und dem damit zusammenhängenden Verhältnis zwischen Kirche und Feudalwesen. Sie werden jedoch durch den Filter der Erinnerung hindurch überarbeitet und zum Teil neu geschrieben (es ist seinen alten "Kameraden und Freunden der römischen mediävistischen Schule" gewidmet, "um gleichsam den Faden unserer wertvollen, sehr lebhaften Diskussionen wieder aufzugreifen"), mit dem Bedürfnis, "aus der Gegenüberstellung zahlreicher Untersuchungen und aus den Überlegungen eines ganzen Lebens den einen oder anderen Schimmer einer interpretativen Synthese zu gewinnen"59. Noch bedeutender ist ein dritter, posthum erschienener Band, das Ergebnis eines "Dialogs " mit seinem Schüler und Freund, Cosimo Damiano Fonseca, in dem er zu einer gekonnt provozierten und orientierten "Neuinterpretation " seiner selbst gerät, die sich nicht von der unterscheidet, die er über Pirenne vorgelegt hat. Es handelt sich um die nachdenklich, aber nie nachsichtig, im Gegenteil streng aufgemachte Bilanz - die letzte, die er uns hinterlassen hat - eines der Geschichte gewidmeten Lebens; eine Bilanz voller erhellender Reflexionen über die eigenen Grundoptionen (was ihm zusagte war, wenn nicht eine "Gesamtgeschichte", so doch eine auswählend "umfassende" Geschichte: Eine Geschichte, die "das Leben in seiner Fülle wiedergeben sollte"), über die bevorzugten Themen (er ließ die vielfältigsten zu, unter der Bedingung, daß sie, wie es Pirenne und Volpe gelang, die Kultur eines bestimmten historischen "Bereichs " in ipsis rebus zu erfassen wußten, d.h. "in den Strukturen, in den Institutionen und in der öffentlichen und privaten Lebensart"), über die Fragen, die er sich im Zusammenhang mit der Gültigkeit und der Nützlichkeit der Geschichte stellte. Aber, gesteht er - und das ist sein letztes Wort -, um einen Sinn jenem Leben zu geben, das "wie Sand durch die Finger rinnt, ziehe ich noch immer die mittelalterliche Geschichte vor"60. Es stimmt, daß diese insistierende Pilgerfahrt der Erinnerung den Eindruck erzeugen kann, daß die letzte Produktion Violantes, einschließlich des Buchs 58 C. Violante, Una giovinezza espropriata. 59 C. Violante, "Chiesa feudale" e riforme in Occidente (sece. X-XII). Introduzione
a un tema storiografico, Spoleto 1999, bes. S. VII-XI. Es sei mir eine persönliche Bemerkung gestattet: Violante widmete den Band mir und meiner Frau und präsentierte die Arbeit als "Zusammenfassung und Erinnerung vieler Dinge». Nebenbei bemerkt: In diesem Band hätte auch ein (nicht in seiner Anm. 28 zitierten Bibliographie aufgenommener) "synthetischer» Beitrag Platz finden können: La "Rivoluzione religiosa" e le istituzioni ecclesiastiche del medioevo, in: G. Cracco (Hrsg.), L'eta medievale, Turin 1992, S. 221-230. 60 C. Violante, Le contraddizioni della storia, besonders S. 72, 91 f., 144.
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über Pirenne, eine nunmehr müde, gleichsam auf sich selbst zurückgefallene Produktion ist, die die .beruflichen" Regeln nicht erträgt (die Hinwendung zum .großen Publikum" anstatt zum .engen Bereich der Spezialisten"), die mehr aus .Erinnerungen" und aus ethischen Reflexionen denn aus historischer Forschung im engeren Sinn besteht. Das ist nicht ausgeschlossen; dennoch ist zu präzisieren: Der letzte Violante betreibt sicherlich immer weniger analytische Forschungen, mikrohistorische Untersuchungen, gelehrte und punktuelle Studien. Er beschäftigt sich nicht mehr leidenschaftlich, wie in den vorangegangenen Jahren, mit bischöflichen Jahreszahlen, mit dem Hof von Talamona oder mit der Genealogie der einen oder anderen Herrschaftsfamilie Ober- oder Mittelitaliens. Allerdings schreibt er weiter, regt zum Schreiben an und bringt immer neue Initiativen, Untersuchungen und Tagungen auf den Weg - auch als Mitglied des Direktionsausschusses des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient61 -, zu Themen, über die er ein ganzes Leben lang nachgedacht hat: die politischen und kirchlichen Institutionen, die Herrschaftsstände, die ländliche Herrschaft, den Ursprung des Lehens62 • Violante war also - das muß unterstrichen werden - bis zuletzt Historiker. Aber auch falls das nicht stimmte und wenn wir von ihm bloß das Buch über Pirenne besäßen, wäre es gleichermaßen falsch, an einen wissenschaftlich unter der Last der Jahre und der Krankheit zurückgenommenen und nur mehr den Erinnerungen hingegebenen Violante zu denken. Es sei denn, man wollte die zentrale These seines hier vorgestellten Buchs in Frage stellen, wonach der beste und für die Historiographie fruchtbarste Pirenne - der Pirenne, der die .Geschichte Europas" und dann seine berühmten. Thesen" geschrieben hat - der aus dem. Unglück", d.h. aus den Jahren der Gefangenschaft und des Exils erstandene Pirenne ist, und statt dessen den vorhergehenden Pirenne, den der ersten vier Bände der .Histoire de Belgique" aufwerten, der noch stolz ist, der besten deutschen Geschichtswissenschaft nahe zu stehen. Mir scheint deshalb, daß der Violante der letzten Jahre - der Violante, der sich seines • Unglücks " endlich bewußt wird - noch immer und stets der beste Violante ist, imstande, sich zu erneuern und eine andere Historiographie aufzuzeigen, eine Historiographie wie die von Pi renne und dann von 61 Für dieses Institut koordinierte Violante zwei Tagungen, die die Veröffentlichung von ebenso vielen .Quaderni" zur Folge hatten: C. Violante / J. Fried (Hrsg.), Il secolo XI: una svolta? (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 35), Bologna 1993, sowie G. Dilcher / C. Vio'ante (Hrsg.), Strutture e trasformazioni della signoria rurale nei secoli X-XIII (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 44), Bologna 1996, dt. Ausg.: Strukturen und Wandlungen der ländlichen Herrschaftsformen vom 10. zum 13. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 14) Berlin 2000. 62 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 68 f.
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Bloch, wenn sie sich im "Sturm"6J befindet, endlich die eigenen Grundlagen infrage stellt (eine Einstellung, die unter italienischen Historikern nicht sehr verbreitet ist, sei mir erlaubt hinzuzufügen)64 und ihre Methoden erneuert. Sie wird,,,synthetisch", die Daten zu überformen, die mechanische Benutzung der Quellen zu vermeiden, die "ehrliche" Subjektivität und das "moralische Urteil" als "wesentliches Element des historischen Denkens" zu berücksichtigen 65 ; eine Historiographie, die über die an sich befriedigenden Grenzen der sogenannten "Landesgeschichte" und der Institutionengeschichte (die ihm, wie wir weiter unten sehen werden, jahrelang wichtig war) hinausgeht, um europäische und Universalgeschichte zu werden, nicht so sehr in den Titeln der Arbeiten, sondern vielmehr in der Substanz, d.h. dank der Fähigkeit, auch begrenzte Phänomene und Gestalten zu untersuchen und gleichzeitig ihre Einbettung in die Geschichte eines ganzen Kontinents, ja in die Geschichte der Menschheit zu erfassen; kurz, eine Historiographie, die, stark und weise geworden und weit davon entfernt, sich vom "Unglück" erdrücken zu lassen, endlich die Barrieren des technischen Spezialistentums niederreißt, ihre Horizonte ins Unermeßliche ausdehnt, wieder Kontakt zum Leben findet, es reflektiert und es beurteilt. Wir können es ruhig sagen: Violante hat Mut gehabt, sich gerade im fortgeschrittenen Alter so zu verändern, dieses Buch über Pirenne zu schreiben, ein Beispiel für Wandlungsfähigkeit zu geben und zu vermitteln, daß die historische Forschung in der globalen Kultur des beginnenden dritten Jahrtausends, die ihrerseits neues "Unglück" mit sich bringt, sich entweder erneuert und aus dem Spezialistentum heraustritt und für die Menschheit "nützlich" wird - wohlgemerkt hic et nunc nützlich - oder zum Niedergang bestimmt ist. Man hüte sich also davor, den Violante der "Erinnerungen" zu unterschätzen, und auch davor, Violante allzu wörtlich zu nehmen, wenn er erklärt, daß dieses Buch über Henri Pirenne ein ungewöhnliches Produkt ist und mit seiner gewöhnlichen Historikertätigkeit nichts zu tun hat. Auch seine anderen bilanzierenden und Erinnerungen verarbeitenden Bücher der letzten Jahre haben nichts mit ihr zu tun. Im Gegenteil: Jenes und diese sind das 63 Vgl. nur den nicht mehr ganz neuen (1973) Aufsatz von e. Bognetti, "La strana disfatta". Mare Bloch e la crisi etico-politica deII'Europa contemporanea, in: ders., Europa in crisi. Due studi su alcuni aspetti della fine della III Repubblica francese edella Repubblica di Weimar, Mailand 1991, S. 3-113. 64 Es ist symptomatisch, daß in dem Band von o.e. Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 116), Göttingen 1996, mit Ausnahme von Benedetto Croce kaum italienische Autoren zitiert werden (P. Rossi, F. Tessitore und wenige andere). Aber nun gibt es auch den Band von Violante über Pirenne und auch den posthumen Band "Le contraddizioni della storia". (,5 C. Violante, Una giovinezza espropriata, S. 82.
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letzte, reifere und keineswegs regressive Ergebnis derselben Arbeit, wie das Dach, das ein seit einiger Zeit im Bau befindliches Gebäude abschließt und endlich seine komplexe und sogar widersprüchliche Architektur (»die Widersprüche der Geschichte"!) offen legt. Mehr noch: Jene Bücher können nicht wenig dazu beitragen, durch ihre Eigentümlichkeit - wir werden das nun zu begründen suchen -die Physiognomie eines Historikers nachzuzeichnen, den der eine oder andere mit der ihm zukommenden Rolle wohl doch in die Historiographiegeschichte einordnen wird. 5. Die kühnen "Konzeptionen"
Wir haben festgestellt: Violante hat Mut gehabt, sich zu ändern. Aber inwieweit hat er sich wirklich geändert? Und wenn er in seiner letzten Phase nichts anderes getan hätte, als seine ursprüngliche Historikeridentität dank der Weisheit seiner Jahre wieder zurückzugewinnen? Man kann die These wagen, daß der spätere Violante in vieler Hinsicht eine bewußte Neuaufnahme des jungen Violante ist, der eben erst aus dem »Unglück" herausgekommen und begierig war, in das Leben zurückzukehren. Zunächst einmal hat er selbst uns auf diese Überlegung gebracht: In einem Erinnerungsband von 1998 bezeichnet er den Aufenthalt am Istituto Croce in Neapel von 1947 bis 1948 als die magische Zeit »meiner Rückkehr in das Leben"66. Und es handelt sich nicht nur um eine Erinnerung im Alter. Schon im Januar 1953 hatte er im Vorwort zu seinem Buch über die Mailänder Gesellschaft das Istituto Croce als den Ort genannt, an dem er »nach einer langen Unterbrechung" außer »Hilfe, Anleitung, Trost" auch die »Freude an der Arbeit" gefunden hatte. Und 1973 erklärte er in der Einleitung zur zweiten Ausgabe desselben Buchs, daß es »in einem glücklichen Augenblick meines Lebens"67 konzipiert und geschrieben worden ist. Rückkehr, Freude, Glück: Eine existentielle, ja vitalistische Sprache verbindet den frühen Violante, den Autor der »Societa milanese" , mit dem späten Violante, der auf die »Erinnerungen" und auf die »Neuinterpretation" des großen Pirenne zurückgreift; eine »Neuinterpretation, bei der er nicht von ungefähr - die Sprache ist dieselbe - das Gefühl hatte, in das Leben zurückzukehren, nachdem er seinen ganzen Geist eingesetzt und dem Aufruhr existentieller Bedürfnisse68 freien Lauf gelassen hatte. Und es handelt sich nicht nur um Sprache, sondern auch um historiographische Perspektiven. Ich meine die kühnen, intensiven, zusammenfassenden Perspektiven voller idealer 66 Ebd., S. 83. 67 C. Violan/e, La societa milanese neII'eta precomunale, 2. Aufl., S. XXIII, IX. 68 In diesem Band, S. 62 f.
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Antriebe, die für einen Historiker wie Violante typisch sind, der bei aller Berücksichtigung des Berufs und seiner Methoden erhellende Erklärungen69 abzufassen weiß, Erklärungen, die den Schleier zerreißen und die Historiographie erneuern. Diese Perspektiven erhellen wenngleich aus einem anderen Blickwinkel, auch den späten Violante, der sich im Pirenne des Jahrzehnts "zwischen Krieg und Nachkriegszeit" wiederfindet, ebenso wie sie den jungen Violante, den Verfasser der "Societa milanese" , erhellt hatten. Zur Gegenprobe komme ich kurz -.auf Violantes Erstlingswerk zurüSk, das zusammen mit dem, allerdings grundverschiedenen, Erstling Georges Dubys, "La societe aux XI" et XII" dans la region maconnaise", im selben Jahr erschienen70, allen Historikern, nicht nur den Mediävisten, gut bekannt ist. Hier sieht man sofort, wie der junge Historiker zwar einerseits noch unter dem frischen Einfluß Croces und andererseits der "Annales" (vor allem Marc Blochs) stand7l , jedoch mit seinen "Konzeptionen" und seinen kühnen "Entdeckungen" zum Durchbruch kam; in einer Richtung, die nicht, wie er später selbst in bezug auf TeIlenbach feststellte, "oben vom Reich", sondern "unten von der Gesellschaft"72 ihren Ausgang nahm. Dabei orientierte er sich nicht an einem, allerdings damals stark verbreiteten Gesellschaftsmodell, das von der Vorstellung der Geschichte als des "Orts der Kraft und der Gewalt" (das war zum Beispiel die Vorstellung Cantimoris)13 ausging, sondern an einem dynamischen und konstruktiven Modell - dem "gleichzeitigen Vorankommen aller Klassen", wobei den Mittelklassen eine "entscheidende Funktion" zukam -, dank dessen (es sei z. B. auf seine Analyse des Fernhandels im Mittelmeerraum im Frühmittelalter verwiesen) er anstelle der Wirtschaft das Thema der Zivilisation und der Kulturen in den Vordergrund zu rücken vermochte74 • So konnte Violante, als es darum ging, "das blühende Sozialleben " um das Jahr 69 Im Jahre 1992 ließ Violante (Prospettive storiografiche, S. 9) seine Vorliebe für eine Historiographie erkennen, die "in meinem Geist die intensivsten Momente historiographischer Entdeckungen und Einfälle neu entfacht". 70 Paris 1953,2. Aufl. Paris 1982. Zum Inhalt dieses Werks vgl. z.B. E. Arti/oni, Georges Duby e la storia delle parole, in: D. Romagnoli (Hrsg.), Medioevo e oltre. Georges Duby e la storiografia del nostro tempo, Bologna 1999, S. 181-197, hier S. 185186. 71 C. Violante, Una giovinezza espropriata, S. 89: "Jenen undeutlichen und unruhigen Ideen gab meine ideelle Begegnung mit Mare Bloch Form, angeregt durch die zahlreichen und beeindruckenden Hinweise Chabods auf die Pariser Sixieme Section und besonders auf Lucien Febvre. Ich erinnere mich an meine begeisternde Entdekkung der Annales im Frühjahr 1948". 72 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 54. 73 A. Prosperi, Introduzione, in: D. Cantimori, Eretici italiani del Cinquecento e altri scritti, hrsg. von A. Prosperi, Turin 1992, S. XI-LXII, hier S. XII. 74 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 28.
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Tausend zu erklären, noch die Katastrophentheorie - der Aufstand der Armen, der das Feudalwesen erschüttert und zu seiner Zersetzung führt - ablehnen und statt dessen von Kontinuität, ja von einer an "zuweilen dramatischen Auseinandersetzungen" reichen Kontinuität des Feudalwesens sprechen. Mit anderen Worten: Befreiung und Gerechtigkeit für die Schwächeren und auch die Tendenz, "zum Volk zu gehen" und "Volk zu sein" (wie Cantimori lehrte), aber nicht eine durch dauernde Klassenkämpfe und durch den Tod der Freiheit geprägte Welt. Hieraus stammte die entschieden vitalistische, großteils von Gioacchino Volpe75 übernommene Vorstellung von der "Weiterentwicklung des Feudalwesens als Freiheitsbedürfnis"76. Eine weitere nicht weniger kühne Konzeption betraf die geographischen Horizonte der "Societa milanese": nicht "landesgeschichtliche", sondern europäische, ja euromediterrane Horizonte. Eine Perspektive, die sicher auf den Umgang mit europaorientierten, ihm nahe stehenden Historikern - Croce und dann Chabod und Cantimori77 - zurückging, aber dann in breitem Maß durch das Bedürfnis bestimmt wurde, sich im großen Stil mit den europäischen, ihm ideell am meisten verwandten Historikern auseinanderzusetzen; in erster Linie mit Henri Pirenne, dem (zusammen mit Marc Bloch und Gioacchino Volpe) meistzitierten, aber mehr noch mit Alfons Dopsch. Auf ihn zurückgreifend konnte er, trotz gewichtiger Unterschiede - "gerade die maximale Ausdehnung des Curtiswesens schafft die Voraussetzungen für den erneuten Aufschwung des Handels" - die These von der Kontinuität der europäischen Wirtschaft gegen die "katastrophische Konzeption Pirennes"78 75 C. Violante, Gioacchino Volpe e gli studi storici su Pisa medioevale, Einleitung zu G. Volpe, Studi sulle istituzioni comunali a Pisa (Citta e contado, Consoli ePodesta), Secoli XII e XIII, Florenz 1970, S. IX-LVIII, wieder veröffentlicht in: C. Violante, Economia societa istituzioni a Pisa nel Medioevo. Saggi e ricerche, Bari 1980, S. 313377, besonders S. 358: "Die Studien Volpes sind auch eine der wichtigsten Grundlagen, auf denen, vor allem im ersten Teil, mein Band ,La societa milanese nell'eta precomunale' aufgebaut ist, in Bezug auf den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt im Umland, die Entwicklung der Feudalinstitutionen als eines im Wesentlichen Freiheit zeitigenden Phänomens, den Beitrag der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte auf dem Land zur Entwicklung der Gesellschaft und der städtischen Institutionen". 76 C. Violante, La societa milanese, S. 169, 204. 77 B. Croce, Storia di Europa nel secolo decimonono, Bari 1932; F. Chabod, Storia dell'idea d'Europa, hrsg. von E. Sestan und A. Saitta, Bari 1961 (vgl. insbesondere das Vorwort der beiden Herausgeber, S. V-XI und den jüngsten Beitrag von B. Vigezzi, Federico Chabod e l'idea di Europa. Tra politica e storia, in: M. Herling / P.G. Zunino (Hrsg.), Nazione, nazionalismi ed Europa nell'opera di Federico Chabod, Florenz 2002, S. 179-201); P. Chiantera-Stutte, Europeismo e rivoluzione conservatrice, in: Annali deII'Istituto storico italo-germanico in Trento / Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 27 (2001), S. 41-70. 78 C. Violante, La societa milanese, S. 17, Anm. 54. In der Tat ist Europa das Hauptthema des ersten Kapitels "La ripresa del commercio" (Die Wiederaufnahme
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vertreten. So widmete Violante dem "großen Werk" des Wiener Lehrers, der die karolingische und nachkarolingische Epoche so hartnäckig in den Vordergrund gestellt und die Wirtschaftsgeschichte mit der Kultur- und der Geistesgeschichte verbunden und so der Forschung breite Horizonte eröffnet hatte ("Türen und Tore auf!", hatte seine Aufforderung gelautet), sofort nach dem Tod 1953 ein ebenso großes und stellenweise fast autobiographisches Porträt: Er erkannte an, daß er »seinen umfangreichen, europäisch engagierten Forschungen"79 viel verdankte. Last but not least machte der junge Violante, der aus seiner katholischen Identität keinen Hehl machte, eine weitere Entdeckung, die sich in dem Teil des Bands über die Zeit des Erzbischofs Aribert findet: den historischen Einfluß der Religion und der Kirche. Auch hier verdankte er viel· den Lehrern, mit denen er in Kontakt stand; vor allem Croce, der seit geraumer Zeit lehrte, daß »die wahre Geschichte der Menschheit die Religionsgeschichte"SO ist; aber auch Cantimori, der gerade über die Annäherung an die deutschen Geisteswissenschaften auf die Theologie aufmerksam geworden war, die Disziplin, die auch in der Neuzeit weiterhin die Rolle spielte, die sie im Mittelalter inne gehabt hatte, d.h. »Anleiterin der Köpfe, höchste Wissenschaft, Königin der Künste", die mit ihrer »Energie und Intensität" sogar imstande war, »Gesellschaften und Staaten neu zu gründen" (nicht von ungefähr hatte er sich auf das Studium der italienischen Ketzer des 16. Jahrhunderts konzentriert)81.
Aber auch hier steuerte Violante, der sich zudem dabei von anderen Meistem wie Raffaello Morgen und Gioacchino Volpe unterschied, etliches Eigenes bei. Nein, er war der Meinung, daß die Häresien des Jahres Tausend wie die von Monfort und Orleans mit ihrem raffinierten Intellektualismus alles andere als Zeichen eines moralischen oder sozialen Aufstands des unterdrückten Volks gegen die »Feudalkirche" waren (Schluß also mit dem einerseits modernistischen und andererseits marxistischen Mythos des »ketzerischen Armen" oder des »armen Ketzers"). Jene Häresien, ob gelehrt oder volkstümlich, waren »der religiöse und kulturelle Ausdruck des neuen des Handels): vgI. insbesondere S. 26 (»Aber hat Europas Handel eine derartige Expansionskapazität, daß es gezwungen ist, für seinen Verkehr neue Wege zu finden?"), S. 30 ("Sehen wir nun zu, welche Möglichkeit das kontinentale Europa hat, sich in diesen neuen Handelsstrom einzufügen, welche Produkte es für den Export in neue Märkte bereit stellen kann, da seine Goldreserven bald aufgebraucht sein werden") und passim. 79 C. Violante, Alfons Dopsch: profilo di uno storico (1954), in: ders., Prospettive storiografiche sulla societa medioevale, S. 11-29, hier S. 29. 80 A. Di Mauro, problema religioso nel pensiero di Benedetto Croce, Mailand 2001, S. 156. 81 A. Prosperi, Introduzione, S. XX.
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übermächtigen Aufblühen des Geists", d.h. der Entwicklung des Feudalismus als Freiheitsbedürfnis82 • Man wird einwenden: Wo kann man "solche "Entdeckungen" und "Konzeptionen" bei dem späteren Violante finden? Ich antworte: Es stimmt, Violante hat keine andere "Societa milanese" mehr geschrieben; aber die ideellen Schübe, die Zusammenhänge zwischen Leben und Forschung, die erhellenden Perspektiven, die dieses Buch kennzeichnen und es zu einem Klassiker der Historiographie machen, sind allesamt auch in dem hier vorgestellten Buch über Pirenne vorhanden. Wer hatte jemals, in einer Zusammenschau von Leben und Forschung, das "Unglück" eines Historikers thematisiert? Wer hatte jemals die "Geschichte Europas" im Licht des Zusammenhangs, in dem sie geschrieben wurde, neu gelesen? Wer hatte jemals die erneute Lektüre dieses Werks zum Anlaß genommen, um die gesamte europäische Historiographie "zwischen Krieg und Nachkriegszeit" neu zu interpretieren, ja neu zu entdecken? Kurz, man kann sagen, daß bei Violante - und ich weiß nicht, ob sich andere Fälle finden werden - die Phase der "Entdeckungen", der kühnen "Konzeptionen", obwohl in verständlichen Abständen, sowohl den Beginn als auch den Ausklang seines Historikerlebens ausmacht. Die letzten Bücher Violantes, insbesondere das Buch über Pirenne, können nicht einfach zu den "unbedeutenderen Schriften" gerechnet werden: Hier ist noch das Beste des Autors vorhanden, all jene Qualitäten, die ihm ein Sonderkapitel in der europäischen Historiographiegeschichte eintragen. Und was wurde in der Zeit dazwischen, d.h. in den über vierzig Jahren, die zwischen der "Societa milanese" und diesem Buch über Henri Pirenne liegen, aus dem Historiker Violante? 6. Der triumphierende Mediävist Als 1953 sein erstes Buch herauskam, bewegte sich Violante bereits auf eine neue Arbeits- und Forschungsumgebung zu, die sich vom Istituto Croce in Neapel deutlich unterschied: Rom und das Istituto Storico Italiano, das von einem Lehrer beherrscht wurde, der für seine religionsgeschichtlichen Studien, insbesondere für seinen zum größten Teil den Häresien gewidmeten Band "Medioevo cristiano" berühmt war83 • Und Violante, der natürlich für die "Begegnungen" und die daraus entstehenden Verwicklungen prädestiniert war, fühlte sich von dieser Umgebung angezogen; um so mehr, als er in Rom 82 C. Violante, La societa milanese, S. 229 f. Zur Diskussion über die Häresien, die sich besonders in Italien entwickelten, vgl. G. Cracco, Eresiologi d'Italia tra Otto e Novecento, in: Bollettino della Societa di Studi Valdesi, 174 (1994), S. 16-38. 83 R. Morghen, Medioevo cristiano, Bari 1951 (mit Wiederveröffentlichung eines bereits 1946 erschienenen Beitrags über die Häresien).
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im Institut auf Kollegen ersten Ranges traf, die nicht minder als ihr Lehrer auf religiöse Bewegungen und Häresien konzentriert waren, vor allem Raoul Manselli und Arsenio Frugoni84 , und außerhalb des Instituts, in den intellektuellen Kreisen, auch dank einer Begegnung mit Gaetano Salvemini, die Tendenz, .die Tätigkeiten des Historikers und des Politikers" miteinander zu verbinden "85, kennen lernte. Aber er wurde auf seine Weise davon beeinflußt. Denn obwohl er sich in den Gruppen bewegte, die den .Dialog" zwischen Katholiken und Sozialisten postulierten, ließ er sich von der Politik keineswegs gefangen nehmen. Er war mehr daran interessiert, in den Bibliotheken und in den Archiven zu arbeiten und sich, wenn schon, mit Politikgeschichte zu beschäftigen (so untersuchte er durch das historiographische Werk Giuseppe Toniolos einen Aspekt der katholischen Kultur aus der Zeit Leos XIII)86. Da er darüber hinaus begonnen hatte, ein vorher kaum erforschtes Phänomen wie die Pataria von Mailand zu untersuchen, nahm er sie nicht, wie es Morghen gefallen hätte, als eine Volksbewegung wahr, die die sogenannte Feudalkirche erschüttern konnte, sondern als ein .befreiender Durchbruch" weltlicher Kräfte, die mit der Kirche zusammenhingen und die gerade in dieser Kirche Raum und Ausdrucksmöglichkeiten fanden. In dem Band über die Pataria, den er sofort in einem Zug schrieb und der den Jahren der. Vorbereitung" (1045-1057) gewidmet ist - aber er hatte vor, zwei weitere zu schreiben, in denen das religiöse Leben Mailands bis zu seiner Einbettung in die .Anfänge der Kommune und den Entwicklungen der ländlichen Herrschaft" verfolgt werden sollte - kann man gegenüber der .Societa milanese" keine nennenswerten innovativen Ideen feststellen: Noch einmal die neue Wertschätzung des Feudalismus, noch einmal Zusammenhänge und volle Vereinbarkeit zwischen dem .sozialökonomischen" und dem .spirituell-religiösen" Aspekt, noch einmal .Aufblühen des menschlichen Geists auf allen Gebieten seiner Tätigkeit", noch einmal der Wille, ein .aktuelles 84 R. Manselli veröffentlichte gerade 1953 in der Reihe des Instituts seine .Studi suIle eresie del secolo XII" (2. Ausg. Rom 1975); A. Frugoni veröffentlichte 1954 in derselben Reihe seinen .Arnaldo da Brescia nelle fonti del sec. XII" (Neudr. Turin 1992). 85 M. Berengo, Profilo di Gino Luzzatto, in: Rivista storica italiana, 79 (1964), S. 879-925, hier S. 895; C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 34 f. (.In den letzten bei den meiner wertvollen römischen Jahre besuchte ich den selektiven politisch-literarischen Salon von Raimondi Craveri und Elena Croce auf der Piazza Santi Apostoli [ein entschieden ,laizistisches' Milieu] und war Mitarbeiter des ,Spettatore italiano', der hier vorbereitet wurde"). 86 C. Violante, Il significato dell'opera storiografica di Giuseppe Toniolo nell'eta di Leone XIII, in: G. Rossini (Hrsg.), Aspetti della cultura cattolica nell'eta di Leone XIII, Rom 1961, S. 707-768.
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Problem" zu diskutieren, das das "religiöse Leben und die Politik von heute" berührte. Und doch gibt es eine Wende, und sie beginnt sich abzuzeichnen: Der Historiker der Gesellschaft wird allmählich "gelehrt", im Sinne der kirchlichen Gelehrsamkeit, die auf Mabillon und auf Muratori zurückging - diese Forschungen, erklärt er, sind aus einem gelehrten Bedürfnis entstanden _87, ja er wird zum Religionshistoriker, mehr noch zum Historiker der Kirche und ihrer "Ordines" und Institutionen. Der Wandel zeichnete sich in den darauffolgenden Jahren deutlicher ab, als die persönlichen Erlebnisse (der Ruf auf den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Universita Cattolica in Mailand) und die Einwirkungen der Zeit ("im Vorfeld des Vatikanischen Konzils, ein magischer Moment der Erneuerung der katholischen Kultur")88 - auf einem Gebiet, das noch von Kirchenmännern, in erster Linie von Hubert Jedin beherrscht wurde - Violante als einen der größten, wenn nicht als den größten weltlichen Kirchenhistoriker hervortreten ließen89. Er begann die "philologisch-gelehrten Untersuchungen" auf der Grundlage von "Archivforschungen und Quellenpublikationen "90 immer mehr zu schätzen (später gibt er die pisanischen Dokumente heraus und überredet das noch von Morghen geführte Italienische Historische Institut dazu, eine Tagung über die mittelalterlichen Quellen zu organisieren)91 und gleichzeitig - auch im Zuge Gian Piero Bognettis und Jean-Fran~ois Lemarigniers und in gewisser Weise gegenläufig zur sich immer stärker "pastoral" konturierenden Kirche Johannes' XXIII. - beschloß er, sich auf die Kircheninstitutionen zu konzentrieren, die mit dem politischen und sozialen Gefüge verschränkt und als "tragende Strukturen der gesamten historischen Entwicklung gesehen wurden"92. 87 C. Violante, La Pataria milanese e la riforma ecclesiastica, Bd.1: Le Premesse (1045-1057), Rom 1955, besonders S. IX-X ("Diese Untersuchungen sind aus einem gelehrten Bedürfnis heraus, auf Anregung von don Borino entstanden und waren für die ,Studi Gregoriani' bestimmt"), S. 103 ff., 115. 88 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 47. 89 Im Jahre 1953 hatte Giuseppe Dossetti in Bologna das Centro di documentazione per le scienze religiose gegründet, um ,weltlichen' Historikern den Zugang zur Kirchengeschichte zu erleichtern. 90 Vgl. insbesondere seinen Beitrag "Il significato delI' opera storiografica di Giuseppe Toniolo nell'eta di Leone XIII, S. 742, 746, 755 f. 91 Der Beitrag Violantes zur 1973 veranstalteten Tagung trägt den Titel "Lo studio dei documenti privati per la storia medioevale fino al XII secolo", in: Fonti medioevali e problematica storiografica, Beiträge des internationalen Kongresses anläßlich des 90. Jahrestags der Gründung des Istituto Storico Italiano (1883-1973), Rom, 21.-27. Oktober 1973, Rom 1976, Bd. 1, S. 69-129. 92 C. Violanie, Le contraddizioni della storia, S. 36; das., La societa milanese, Vorwort, 2. AuH., S. X-Xl.
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So entstanden denkwürdige Beiträge, allen voran die Arbeit "Monachesimo cluniacense di fronte al mondo politico ed ecclesiastico". Hier wird die Fähigkeit, »die Ideen- und die Realgeschichte" miteinander zu verbinden, zur gegliederten und strukturellen Wahrnehmung der religiösen Revolution um das Jahr Tausend (die Spiritualität wird mit dem doppelten Institut der Privatkirche und der klösterlichen Exemtion kombiniert)93. Cluny war übrigens nur eine Phase dieser Revolution, »der Augenblick Clunys". Später, nach Gregor VII., aber ohne daß man unbedingt von Zäsuren und von verratener Reform zu sprechen hätte - warum einer Institution den zündenden Funken des Geists bestreiten? - kam der Augenblick des Klerus (nicht von ungefähr entfaltete sich das Ideal des Gemeinschaftslebens des Klerus zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert), im Zusammenhang mit der breiteren Dynamik der Wirtschaft und der Gesellschaft: In der Perspektive erkennt man »die Burgen der Bannherren, die Landgemeinden und die Städte"94. Ich entnehme dieses letzte Zitat einer Rede, die Violante 1959 auf dem Mendelpaß zur Eröffnung einer Studienwoche über das Gemeinschaftsleben des Klerus im 11. und 12. Jahrhundert gehalten hat, die erste eines von Violante selbst ins Leben gerufenen Zyklus, der alle drei Jahre die Ordines (Mönche, Kleriker, Laien) und die Kircheninstitutionen (Papsttum, Kardinalat, Episkopate, Pfarreien) durchmustern sollte, »deren Hauptaufgabe die Regierung der Gläubigen "95 war; ein Zyklus, der es Violante ermöglichte, um sein Lieblingsthema, die Kircheninstitutionen, einen Großteil der europäischen Mediävistik zu scharen - was ihm im Rahmen des Centro di Spoleto, dessen Mitglied er seit 1963 war%, weit weniger gelang (»ich plante diese 93 ].-F. Lemarignier / A. Vauchez, L'opera di Cinzio Violante nella storiografia medioevalistica contemporanea, in: C. Violante, Studi sulla cristianita medioevale, Societa Istituzioni Spiritualita, Mailand 1972, S. XXIII-XXXII, hier S. XXIV, XXVIII-XXIX. Der zitierte Artikel wird hier auf den S. 4-67 wieder veröffentlicht (ursprünglich war er erschienen in: Spiritualita duniacense [Convegni del Centro di studi sulla spiritualita medievale, 2], Todi 1960, S. 153-242). 94 C. Violante, Prospettive e ipotesi di lavoro, in: La vita comune del dero nei secoli XI e XII, Beiträge zur Studienwoche: Mendelpaß, September 1959, Mailand 1962, Bd. 2: Relazioni e questionario, S. 1-15, hier S. 5 f., 13. 95 C. Violante, Discorso di chiusura, in: Chiesa diritto e ordinamento della ,societas christiana' nei secoli XI e XII, Beiträge zur neunten Studienwoche, Mendelpaß, 28. August - 2. September 1983, Mailand 1986, S. 488-496, hier S. 491 f. Aber die Wochen am Mendelpaß folgten nunmehr einer Interpretation »von oben", in der Violante sich nicht mehr wiederfand. 96 In der Bilanz, die er 1977 über die ersten 25 Tätigkeitsjahre des Centro di Spoleto zog, machte er Vorbehalte geltend, die auch von Gian Piero Bognetti geteilt wurden: »Aber insgesamt kann man sagen, daß die Kircheninstitutionen (besonders in den ersten Wochen) vor allem als Elemente des politisch-diplomatischen Spiels betrachtet worden sind, wegen der rein politischen, sozialen und ökonomischen Funktionen, die sie übernahmen. Oder es ist vorgekommen, daß die rechtlich-formalen
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Wochen« - so erinnerte er sich später - »vor allem als Symposien von italienischen und ausländischen Freunden": vor allem ausländischen, wie Georges Duby und Jean-Fran~ois Lemarignier, Leopold Genicot und Giles Constable, Peter Classen und Kaspar Elm)97. Kirchliche Institutionen also, und nochmals Institutionen. Ja, man kann sagen, daß über ein Vierteljahrhundert lang bis zur Sammlung seiner wichtigsten Beiträge zu diesem Thema in einem großen, 1986 erschienenen Band98 Violantes Interesse für diese Frage keine Unterbrechungen erfahren hat. Gleichzeitig hielt im selben Zeitraum sein Interesse für die weltlichen Institutionen an - Zeichen einer außergewöhnlichen und vielfältigen wissenschaftlichen Tätigkeit· -, das inzwischen seine Begegnung mit dem katholischen Politologen Gianfranco Miglio und die Entdeckung der Schriften Otto Brunners genährt hatten 99. Als er 1963 die Universita Cattolica in Mailand verließ und zur Universität Pisa wechselte, die ihm seit der Zeit an der Scuola Normale bekannt war, stürzte sich Violante sofort und ganz in die neue Umgebung, die ihn mit dem gesamten Gewicht ihrer Tradition zu den »Studien über Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte und politischen Institutionengeschichte"IOO zurückführte. Er wurde auch wieder »mit den Pisanischen Bibliotheken und Archiven"101 vertraut, wo er arbeiten und in die er die Schüler schicken konnte. Vor allem aber widmete er sich, nachdem er 1964 den Vorsitz der Societa Storica Pisana übernommen hatte, ganz »den landesgeschichtlichen Fragen"lo2. Das führte ihn dazu, sich die Schriften des Lehrers noch einmal vorzunehmen, den er zusammen mit Pirenne am meisten bewunderte, d.h. Gioacchino Volpe, Verfasser grundlegender Untersuchungen über Pisa und seine Institutionen. So entstanden auf denkbar breiter Quellenbasis Studien, die vor allem das öffentliche Kreditwesen, das Steuerwesen, die Stellung des Münzwesens und die Territorialpolitik des mittelalterlichen und auch die abstrakt ideologischen Aspekte ausgewählt und vorgezogen wurden (c. Violante, Le istituzioni ecclesiastiche, in: Il centro italiano di studi suII' alto medioevo. Venticinque anni di attivita, 1952-1977, Spoleto 1977, S. 73-92, wiederveröffentlicht als Einleitung zu ders., Ricerche sulle istituzioni ecclesiastiche deII'Italia centro-settentrionale nel Medioevo, Palermo 1986, S. 7-23, hier S. 16). 97 C. Violante, Le contraddizioni deIIa storia, S. 44 f. 98 Es handelt sich um den eben, in der vorhergehenden Anmerkung zitierten Band »Ricerche sulle istituzioni ecclesiastiche " . 99 C. Violante, Le contraddizioni deIIa storia, S. 42 f., hier S. 42: »Die neuen kirchengeschichtlichen Interessen schwächten meine ursprüngliche Leidenschaft für die Sozialgeschichte nicht ab". HK) Ebd., S. 53. IIlI C. Violante, Economia societa istituzioni a Pisa, S. 7. 1Il2 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 63. Er folgte Ottorino Bertolini nach, der einer seiner Lehrer gewesen war.
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Pisa betrafen, d.h. das größere Thema der Entwicklung der Geldwirtschaft innerhalb eines Sozialgefüges, das weiterhin durch »herrschaftliche" und »feudale" Strukturen gekennzeichnet blieb. Aber Violante arbeitete wieder einmal (das war in gewisser Weise seine Bestimmung) in gegenläufiger Richtung: Er hatte sich vorgenommen, »einige besondere Momente" der pisanischen Geschichte (nicht, wie er unterstrich, »eine organische Entwicklungslinie")103 gerade in Jahren zu beschreiben, in denen die Landesgeschichte mit dem Ende des Historismus und der Abschwächung der Ideologien immer mehr als »die einzig wahre, authentische Geschichte" gefeiert und praktiziert wurde. Das konnte Violante, der Historiker der großen Perspektiven, nicht akzeptieren: Er reagierte »stark" und vertrat sowohl in theoretischen Beiträgen als auch mit Hilfe konkreter Beispiele die Ansicht, daß »die Landesgeschichte nicht eigentlich als Geschichte bezeichnet werden kann, sondern nur als Vorarbeit zur Geschichte"I04, als eine Methode, um »die Untersuchung allgemeiner Probleme zu prüfen". Dieser letzte Satz steht in dem mit »Pisa, Himmelfahrt 1979" datierten Vorwort. Violante schrieb es, um den Band vorzustellen, der seine pisanischen Aufsätze sammelte. Sie waren, so bemerkte er, zu »besonders glücklichen Gelegenheiten" und zur Würdigung Pisas entstanden, das »eine meiner vielen Heimatstädte geworden ist" 105. In der Tat konnte, trotz der Veränderungen, die in der Kultur und in der Politik vor sich gingen, die Bilanz zahlreicher Forschungsjahre Violantes in Pisa und bei den Wochen auf dem Mendelpaß, des Historikers der Kircheninstitutionen und gleichzeitig des Vertreters der Landesgeschichte, wie ich ihn bündig charakterisieren würde, durchaus als positiv, ja als »glücklich", gelten. Ich wage diese Behauptung, obwohl ich hier den gesamten Umfang seiner Tätigkeit als Historiker und als Anreger historischer Studien nur in groben Umrissen wiedergegeben habe. Nicht von ungefähr ist es jener Violante, der verdientermaßen die prestigeträchtigsten akademischen Ziele erreicht und im Wissenschaftsbetrieb einen großen Ruf erlangt. Das zeigt vor allem der Band »Studi sulla cristianita medioevale", den Piero Zerbi, der Mediävist, der ihm auf dem Lehrstuhl an der Universita Cattolica in Mailand nachfolgte, 1972 mit einer Einleitung vonJean-Fran~ois Lemarignier und Andre Vauchez herausgab, die seine Forschungsleistung als sehr bedeutend würdigten; ein Band, der das Bild eines ganz großen Historikers vermittelte, der die verschiedensten Bereiche, die politische Geschichte (die Politik Heinrichs III., Venedig im Jahr Tausend zwischen Papsttum und Reich), die Geschichte der Kirchenstrukturen und Kircheninstitutionen (noch einmal der Aufsatz über Cluny und die berühmten einleitenden Referate zu 101 \(\.1
105
4 Violani.
C. Violante, Economia societa istituzioni a Pisa, S. 12. C. Violante, Le contraddizioni deUa storia, S. 64 f. C. Violante, Economia societa istituzioni a Pisa, S. 12.
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den Wochen am Mendelpaß}, die Geschichte der Häresien (städtische und ländliche Häresien) und die Wirtschaftsgeschichte (die Geldwirtschaft im Verhältnis zu den Bischöfen) souverän beherrschte, ohne jemals die "Spiritualität" aus den Augen zu verlieren; ein Band, der an fast allen italienischen Universitäten von mehreren Generationen von Geschichtsstudenten gelesen und reflektiert wurde lO6 • Dennoch scheint dieser fast triumphale und jedenfalls auf den Höhepunkt seines wissenschaftlichen Erfolgs gekommene Violante dem Verfasser der "Societa milanese" nunmehr fern zu stehen und mittlerweile ein ganz anderer zu sein. Er war der erste, der das merkte und auch zu verstehen gab. 7. Eine "zu Ende gegangene Welt" Bereits 1959 wies er im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsleben des Klerus die "fälschlich historistische, aber konkret soziologisierende" lllusion zurück, daß die Forschung der Aktualität dienen könne, "um in der Gegenwart zu agieren". Er wollte sich von einer marxistischen, nicht nur italienischen, allzu ideologischen und engagierten Historiographie abheben. Aber eine unüberbrückbare Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft einzugestehen, bedeutete den Verlust eines direkten Kontakts zwischen Geschichte und Leben und demzufolge die Verdunkelung der großen idealen Horizonte, die er früher, bei der Niederschrift der "Societa milanese" , doch im Auge gehabt hatte. Und sie bedeutete auch wachsendes Abdriften hin zu einem Spezialistentum, der zwar die Grundlage für den Fortschritt der Studien, aber gleichzeitig auch Absonderung vom Leben, wenn nicht - wie er später bei der Beschäftigung mit Pirenne erkannte - Voraussetzung möglicher "Unglücksfälle"107 war. Jedenfalls ist der Violante, der die Aktualität der Historiographie verleugnet und sich der Fachforschung widmet, nicht mehr der Violante der Gesamtgeschichte. Und damit nicht genug. Als Spezialist diskutierte Violante immer weniger mit Generalisten wie Pirenne, Dopsch, Volpe oder Bloch. Andere Spezialisten, zumeist italienische, die sich wie er mit Institutionen und Landesgeschichte beschäftigten, wurden zu seinen Gesprächspartnern. Natürlich sah er sich veranlaßt, sich mit ihnen auseinander zu setzen; auch im Rahmen theoretischer Exkurse, für die er als von Haus aus "empirischer" Historiker überhaupt nicht geeignet war. So ver106 Der Band, mit dem Untertitel "Societa, Istituzioni, Spiritualita", vereinte acht Aufsätze Violantes (neun in der zweiten Ausgabe von 1975). 107 C. Violante, Prospettive e ipotesi di lavoro, in: La vita comune del dero,
S. 1-2.
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teidigte er entschieden den "spezifischen Charakter" der Kircheninstitutionen, der von ihren "religiösen Zielsetzungen" herrührt. Sie bezogen sich, unterstrich er, auf eine "Gemeinschaft, die am Göttlichen und am Menschlichen teilhat", so daß diese Institutionen ohne die Ekklesiologie, ohne den Kirchenbegriff, der sie prägt {und er zitierte in diesem Zusammenhang Gabriel Le Bras und Henri de Lubac)108 unverständlich wären. Das waren keine seltsamen Ideen: Auch der Pole Bronislaw Geremek definierte die Kirche als "ein großes institutionelles System", ja als "eines der komplexesten Systeme auf der Welt", aber ohne die "transzendente" und eschatologische "Dimension" der Kirche als eines "mystischen Körpers" zu vergessen, der zwischen Himmel und Erde dreigeteilt ist; denn "es ist doch notwendig zu wissen, wovon man spricht"I09. Aber da sie von einem Italiener und einem " Katholiken " wie Violante vertreten wurden, fanden diese Ideen damals keine Zustimmung, auch unter den Katholiken nicht: So setzte sich denn auch bei den Wochen am Mendelpaß eine andere, weniger gemeinschaftliche Christenheitsperspektive durch, die Perspektive "von oben", um die es einem anderen Historiker der Institutionen, Luigi Prosdocimi, ging. Das gilt natürlich um so mehr für die "Laizisten« oder die Nichtkatholiken und auf jeden Fall für diejenigen, die - wie ein anderer italienischer Mediävist, Giovanni Tabacco - das Mittelalter nicht als eine Glaubensepoche verstanden, sondern als eine Epoche, in der sich ein anarchischer Kosmos entfaltete, in dem nur die auf Macht und Gewalt gegründeten politischen Institutionen, vor allem die des germanischen Reichs (hier tauchen wieder die damals von Pirenne angeprangerten Gespenster des alten Pamgermanismus auf), prekäre Momente des Zusammenhalts und der Ordnung garantieren konnten 110. Der Verfasser der "Societa milanese" und auch der Autor der Studien über die Pataria hätte jedoch zum Schutz der Institutionen ganz andere Argumente benutzt, die weniger religiösen Zuschnitt haben und mehr auf das 108 Siehe C. Violante, Einleitung, in: ders., Ricerche sulle istituzioni ecdesiastiche, S. 8 ff. 109 Vgl. vor allem B. Geremek, Art. Chiesa, in: Encidopedia Einaudi, Turin 1977, S. 1087-1140, hier S. 1087-1089, mit dem Kommentar von G. Cracco, Introduzione, in: ders. (Hrsg.), Storia della Chiesa di Ivrea dalle origini al XV secolo, Rom 1998, S. XIX-XLVI, besonders S. XXXIX-XL. 110 C. Violante, Einleitung, in: ders, Ricerche sulle istituzioni ecdesiastiche, S. 7 f.; ders., Discorso di chiusura, in: Chiesa, Diritto e Ordinamento della ,societas christiana', S. 493: Tabacco war der Ansicht, daß das Reich, oder besser das germanische Reich ,,- ursprünglich - an sich keine christliche Legitimation hatte, sondern seine ideelle Kraft aus der Tradition des Volks, der Kultur, der germanischen Institutionen zog. Nur unter Otto III und später unter seinen Nachfolgern, besonders Heinrich 11. und Heinrich III., verbanden sich die ,nationale' und die christliche Legitimation, aber ohne sich zu vermischen und vor allem ohne Auseinandersetzungen zu vermeiden«. 4·
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"Ganze" zielen würden. So hätte er behauptet, daß die Kircheninstitutionen noch immer der beste Weg sind, um eine authentische Sozialgeschichte des Mittelalters zu schreiben, die nicht Geschichte kleiner Minderheiten - der Splittergruppe der "Reinen", der wenigen Ketzer und Rebellen - ist, sondern die Geschichte jenes unermeßlichen Volks der "gläubigen" Christen, d.h. derjenigen, die secundum fidem innerhalb der Kircheninstitutionen leben. Kurz, Violante hätte den Standpunkt vertreten, daß die Geschichte Italiens ebenso wie die Geschichte anderer europäischer Länder vor allem Geschichte von Bistümern und Klöstern, von Sprengeln und Pfarreien ist. Aber er benutzt sie nicht oder er benutzt sie weniger; ein Zeichen dafür, daß Violante, unter die Spezialisten verbannt, sich unwohl fühlte und in gewisser Weise unter dem Vergleich mit ihnen litt. Und etwas Ähnliches, wenigstens im Hinblick auf die Ergebnisse, ging in Sachen Landesgeschichte vor sich. Da er sie selbst "glücklich" praktizierte und ihre Bedeutung voll und ganz anerkannte - nicht nur nach dem Vorbild Gaetano Salveminis und Gioacchino Volpes, sondern auch und mehr noch der "deutschen wissenschaftlichen Schulrichtungen, die zur Landesgeschichte so viel beigetragen hatten")1ll - konnte er nicht umhin, sie zu verteidigen, ja zu ihrer erneuten Aufwertung beizutragen; um so mehr, als es sich nicht so sehr um eine Mode, sondern, vor allem in Italien, um den Ausgang der Krise des Historismus handelte, d.h. einer Philosophie, die der Realgeschichte die Ideengeschichte voranstellte. Hinzu kommt, daß ihm, der ein Christlich-Sozialer und im Grunde ein Demokrat war, eine Historiographie nicht mißfallen konnte, die am besten geeignet schien, gegen den staatlichen Zentralismus und die Kirche Roms die Zwischeninstitutionen (Provinzen, Diözesen, Gemeinden, Pfarreien) und die lokalen Autonomien aufzuwerten und gegen das Gewicht der großen Persönlichkeiten die in den "Archiven des Schweigens" 112 (eine glückliche Formulierung Jacques Le Goffs) zu rekonstruierenden Rolle der anonymen und vergessenen Massen zu setzen. Aber deshalb gab er sich noch nicht damit zufrieden, die gesamte Historiographie auf Landesgeschichte zu reduzieren. Denn, so tief sie auch dringt, "kann sie doch nicht das Geheimnis des Lebens erfassen". Denn oft verdeckt diese Reduzierung "eine Flucht ins Detail, einen Rückzug ins Private und in den Alltag unruhiger Geister, die Angst davor haben, die großen Probleme des 111 Vgl. in diesem Zusammenhang den Band C. Violan/e (HrsgJ, La storia locale. Temi, fonti e metodi della ricerca, Bologna 1982 (es handelt sich um die Beiträge einer von Violante selbst angeregten Tagung, die in Pisa vom 9 bis lO. Dezember 1980 stattfand), besonders den einleitenden Aufsatz, S. 15-31, hier S. 21. 112 "Es ist notwendig geworden", schreibt er, "in immer breiterem Maß schriftliche Quellen auszuwerten, die vorher kaum oder gar nicht herangezogen wurden (private Urkunden, Rechnungsbücher, öffentliche Finanzregister, Tauf- und Eheregister, Register der Pastoralvisitationen); ebd., S. 26.
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Lebens und der Geschichte anzugehen". Und er dachte an die Jungen, die er "auf extrem fragmentierte historische Untersuchungen" hin ausgerichtet sah, "aus übertriebenen Bedürfnissen nach technischer Perfektion und Vollkommenheit heraus: Bedürfnissen, die vielleicht eine gewisse psychologische, ja spirituelle Unsicherheit offenbaren" 113. Man könnte schlußfolgern, daß Violante - wieder einer seiner" Widersprüche" - zwar in Anpassung an die Zeiten und an die in der Historiographie vorherrschenden Tendenzen Landesgeschichte betrieb, ihr aber gleichzeitig mißtraute und keine Gelegenheit ausließ, um ihre Mangelhaftigkeit und ihre Grenzen aufzuzeigen. Dabei kam Nostalgie für eine historische Darstellung zum Vorschein, die noch das "Geheimnis des Lebens wahrzunehmen" und eine "allgemeine" und "synthetische" Identität zu bewahren wußte (mit all dem prägnanten, "pirenneschen" Sinn, den diese Adjektive für ihn hatten), ohne in die falschen Befriedigungen des "Besonderen" zu flüchten. Angesichts dieser Schwankungen und" Widersprüche" stellt sich manchmal der Verdacht ein, einem widersprüchlichen, ja konfusen Violante gegenüberzustehen, jedenfalls einem Violante, dem nunmehr klar ist, sich mit einer Historiographie auseinandersetzen zu müssen, die nicht mehr die seine war und die ihn im Gegenteil an den Rand drängte 114 • Er nahm öfter die Grenzen als die Verdienste dieser Historiographie wahr. Später bemerkte er dazu, daß sie sich seit geraumer Zeit in der Krise befand, daß "sie ihre Faszination verloren hatte" und den "ersten und entscheidenden Platz" eingebüßt hatte, den sie in der europäischen Kultur einnahm. Und er dachte an die verschiedenen "Schulen", besonders an die marxistische Geschichtsschreibung, die in Italien die Historiographie Croces ersetzt hatte, und an die französische der "Annales", die dem Einfluß der "Humanwissenschaften" zu stark ausgesetzt war. Er dachte auch an die deutsche Historiographie, die durchweg auf der Grundlage eines soliden philologischen Ansatzes die Tradition des "Historismus" fortsetzte. Schließlich klagte er über den jüngsten "Synkretismus", in den er selbst fürchtete, "hinein gezogen« 115 zu werden und der unter anderem eine skeptische und für ihn Besorgnis erregende Distanzierung sowohl von den Daten als auch von den Problemen bedeuten 116 und den seiner Meinung nach Ebd., S. 17 und das Vorwort zu dem Band, S. 7-10. Vergeblich würde man den Namen Violantes unter den zahlreichen Historikern suchen, die gegen Ende der siebziger Jahre von dem Verleger Giulio Einaudi angesprochen wurden, um die neue große "Storia d'Italia" zu schreiben, die zwischen 1972 und 1976 in Turin in 6 Bänden veröffentlicht wurde. Auch wurde Violante nie an die Scuola Normale in Pisa berufen, dessen Schüler er gewesen war. 115 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 128-131. 116 Im Zusammenhang mit der italienischen Historiographie nahm Violante die Tendenz wahr, dessen Interpret Girolamo Arnaldi geworden war, "unter allen Umständen den problematischen Ansatz zu vermeiden", aber auch die von Ovidio 113
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vitalen Zusammenhang "zwischen historischer Methode und philosophischer Grundkonzeption "117 aus dem Blickfeld rücken konnte. Angesichts des großen Wandels in der Kultur und in der Politik im Zuge des Studentenaufstands, der ab 1968 die Universität und die Forschung in Europa und in der Welt veränderte, neigte Violante zur Erstarrung und zur Zurückweisung "jeden Kompromisses" ("ich beharrte auf meinem Standpunkt"), obwohl er sich des Preises bewußt war, den er zu zahlen hatte: den Verlust seiner führenden Rolle nicht nur in der italienischen Mediävistik Uch stieg ruhig vom Wellenkamm herab") 118. Das machte einerseits den ganzen Mut des Mannes deutlich, der von seinen Vorstellungen niemals hätte abrücken können, isolierte aber andererseits den Historiker und machte ihn in gewisser Weise unaktuell. Sein" Widerstand" zeitigte nämlich ein fast paradoxes Ergebnis: Er war weiterhin der Historiker der Institutionen, der Kircheninstitutionen, ja der mittelalterlichen "Christenheit" (vgl. seine "Studi sulla cristianita medievale") - und als solcher war er bis zuletzt am besten bekannt, wie der Titel der 1994 erschienenen Festschrift zeigt l19 -, in einer Welt, die Institutionen und Hierarchien und die Vorstellung der "Christenheit" selbst als eine Negativprägung in der Geschichte des Okzidents zunehmend ablehnte. Und er war weiterhin der Historiker einer als Voraussetzung zur großen Geschichte aufgefaßten Landesgeschichte, in einer Welt, die zwar Trennmauern niederriß und der Globalisierung entgegen strebte, aber gleichzeitig als Reaktion und Ausgleich in das "Kleine" flüchtete und sich an die eigenen "Wurzeln" wie an die unverzichtbare Grenze der eigenen Identität krallte. Das Ergebnis war, daß er die große Geschichte ganz aus den Augen verlor. Es ist sicher kein Zufall, daß Violante, der als Historiker auf den Tiefenwandel der Gesellschaft und der Kultur achtete, an einem gewissen Punkt von "zu Ende gegangener Welt" sprach. Er hatte Recht: Die Welt, der er mit allen seinen Freunden und Lehrern angehörte, in die er alle seine Schüler eingewiesen hatte, schwand dahin, und die neue, mit der neuen Historiographie, die sie kennzeichnen sollte, zeichnete sich noch nicht ab oder nahm Konturen an, die ihn nicht überzeugten. Was tun? Capitani formulierte Kritik, die Geschichte "äußerer Realitäten" zu schreiben, ohne das "Systembewußtsein" zu berücksichtigen: C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 84 f., 90 f. 117 Ebd., S. 130. 118 Ebd., S. 59 f. 119 Societa, Istituzioni, Spiritualita. Studi in onore di Cinzio Violante, 2 Bde., Spoleto 1994. Der 1. Band enthält nicht nur Violantes, von E. Salvatori herausgegebene Bibliographie, S. XI-XXXV, sondern auch ein von ihm gegebenes Interview: Intervista sulla storia, hrsg. von C.D. Fonseca, S. 3-64.
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Eine intellektuelle Biographie zu rekonstruieren, die Biographie eines Intellektuellen, der sich wie Violante nie vom Leben trennen wollte, bedeutet auch, ihre Phasen der Leere, des Richtungsverlusts zu berücksichtigen. Ich glaube, daß Violante, der im Mittelpunkt und an der Spitze der Historiographie gestanden hatte, für den die Begegnungen und die Diskussionen das Salz des wissenschaftlichen Lebens waren, in gewissen Momenten unter dem Abstieg vom "Wellenkamm", der Isolierung und der Einsamkeit litt. "Ich war mutlos", gestand er später flüchtig 120. Sicher, er arbeitete weiter wie immer; und er beschäftigte sich auch weiterhin mit Institutionen und Landesgeschichte, denn - das war seine hartnäckige Überzeugung - auch die Vorarbeiten haben ihre "Würde" und sollten wieder hoch geschätzt werden ("Ich selbst habe vielleicht nichts anderes gemacht als ,Vorarbeiten'. Die strahlenden Augenblicke der wahren Kreativität sind selten")l2l. Aber die "Freude" des Historikers - die zur Zeit der "Societa milanese" und auch in späteren begnadeten Momenten überschäumte - war nicht mehr vorhanden. Das verrät auch sein Stil, der strenger, fast matt wird (und doch hatte er den Ehrgeiz, ein Schriftsteller zu sein, ein großer Schriftsteller wie Pirenne). Die Erinnerung an diese "Freude" wurde unterdessen bitter, und die Unruhe des Unbefriedigten - "ich spürte etwas Unaufgelöstes in meiner Seele" - begleitet ihn nunmehr ständig. Aber einen Violante, der nachgibt und sich in den Niedergang schickt, gibt es nicht, hat es nie gegeben. Es genügte, daß er sich über seinen Zustand als freudloser Historiker klar wurde, um auf geheimnisvolle Weise - trotz Alter, Krankheit und Mutlosigkeit - eine Wiedergeburt herbeizuführen. Er wurde sich dessen bewußt, denn der Freund und Gesprächspartner von früher, Henri Pirenne, kam ihm wieder ins Bewußtsein. 8. "Zeuge der Freiheit"
Pirenne, gerade Pirenne. Während Violante sich als der große Spezialist, der er war, mit Institutionen und Landesgeschichte beschäftigte und exemplarische Beiträge schrieb, von denen bis heute sehr wenige Untersuchungen absehen könnten 122 , hatte er, wie wir wissen, weiterhin Zettel und Notizen für 120
C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 65.
Ebd., S. 114. Z.B. den kürzlich erschienen Band von M. Bettotti, La nobilta trentina neI medioevo (meta XII - meta XV secolo), (Annali dell'Istituto storico italo-germanico. Monografie, 34) Bologna 2002. Als ich kürzlich einen Beitrag über die Ursprünge einer kleinen venetischen Talgemeinde zu schreiben hatte (die übrigens von Teutonen im Laufe des 12. Jahrhunderts gegründet und kolonisiert wurde) habe ich nicht nur sein großes Buch "Ricerche suIle istituzioni ecclesiastiche", sondern auch zwei 121
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eine Biographie über den großen belgischen Historiker gesammelt. Aber jetzt verstehen wir, warum er nicht dessen Biographie schrieb: nicht weil Bryce Lyon ihm zuvorkam, sondern weil er sich vor lauter" Vorarbeiten" objektiv von ihm entfernt, ja ihn fast aus den Augen verloren hatte. Und man beginnt auch zu verstehen, warum er ihn zu einem gewissen Zeitpunkt wieder entdeckte und sich seiner erneut bemächtigte: nicht des ganzen Pirenne, sondern nur des Pirenne im Jahrzehnt zwischen Krieg und Nachkriegszeit, das unter dem Zeichen des "Unglücks " stand. Sicher auch deshalb, weil auch ihm in seiner Jugend ein ähnliches "Unglück " widerfahren war: vor lauter verdienstvoller fachmännischer Studien den Kontakt mit der großen Geschichte, mit der Geschichte der kühnen "Konzeptionen", der großen menschlichen Probleme verloren zu haben. In der Tat bewirkte die Wiederentdeckung Pirennes bei Violante einen entscheidenden Wandel: auf der Ebene der Interessen, weil er sich nicht mehr oder nicht nur auf die bevorzugten mittleren Jahrhunderte des Mittelalters konzentrierte, sondern oder auch auf die fünfzig Jahre zwischen 19. und 20. Jahrhundert als "entscheidende Wende in der Kultur- und Zivilisations-, aber auch in der Spiritualitäts- und Gesellschaftsgeschichte"123, und auf der Ebene der Methode, weil er wieder dahin kam, "die Dinge von oben zu betrachten" wie es der große Pirenne zu tun pflegte ("so erblickt man unter einem größeren Horizont die allgemeinen Linien, das Ganze"), und "zur Synthese vorzustoßen, die das wahre Ziel unserer Arbeit als Historiker" ist (die Synthese, mahnte er nebenbei, haben auch die Jungen anzustreben, die auf natürliche Weise über eine "für den Historiker entscheidende Gabe, das Intuitionsvermögen" verfügen)124. Mehr noch: Während er Pirenne gegenüberstand und das Buch über ihn schrieb - das zeigt auch der Stil, der wieder voll und lebhaft wird - entdeckte sich Violante wieder als das, was er seit zu vielen Jahren - den Jahren der Vorarbeiten - nicht mehr war: Ein wahrer "Jünger Clios"125, wieder einbezogen mit seiner ganzen Persönlichkeit, wieder im Kontakt mit dem Leben und weitere Bände über S. Allucio, Lucca und das Valdinievole zugrunde legen müssen. Zu einem hatte er die Einleitung geschrieben, den anderen hatte er zusammen mit A. Spicciani herausgegeben: G. Cracco, Valdagno. Alle origini di una storia e di un norne, in: GA. Cisotto (Hrsg.), Storia della Valle dell'Agno. L'ambiente, gli uomini, l'economia, Valdagno 2001, S. 13-30. 123 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 140. 124 Ebd., S. 136. 125 "Kurz, die Historiker, die ich in meinem kleinen Band von Erinnerungen als Jünger Clios' bezeichnet habe, sind immer seltener: Historiker, die bei ihren Untersuchungen ihre ganze Persönlichkeit einbringen"; C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 135.
Die schwierige Identität eines europäischen Historikers
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mit den Menschen, wieder im Einklang mit all seinen Idealen, noch freudig kreativ, noch imstande, sich weiter zu entwickeln, ohne seine Vergangenheit in irgendeinem Punkt zu verleugnen - jetzt stand er, nicht der Feudalismus auf dem Spiel-, einem inneren "Freiheitsbedürfnis" nachkommend. Er empfand sich also erneut wie seine Waffengefährten, die auf dem Friedhof in Leipzig ruhen (vgl. die Widmung zur "Societa milanese"), als "Zeuge der Freiheit". Deshalb kann er auch das hier vorgestellte Buch mit einem ungewöhnlichen Satz abschließen, typisch für einen Historiker, der ein Geheimnis gelüftet hat und sich gleichzeitig an der Schwelle eines weiteren Geheimnisses fühlt: "Jetzt weiß ich ... Und meine Seele ist ruhig". Fast glaubt er es nicht, daß er es soweit gebracht hat, er glaubt nicht an seine Wiederauferstehung. Jedenfalls spricht er in seinen "Erinnerungen" nicht davon l26 • Wie wir aus dem Vorwort zu diesem Buch über Pirenne erfahren, fühlt er sich nicht einmal als Historiker und wendet sich nicht an die Historiker. Aber damit tut er sich selbst unrecht. Denn auch in diesem Buch empfinden wir ihn mehr denn je als Historiker, als einen Historiker, der sich wieder gefunden hat, der seinen Beruf ausübte, weil er am Leben war (vgl. Pirenne: "Wir waren am Leben, und wir waren es, weil wir frei waren")127, weil er - das hielt ihn bis zuletzt aufrecht - "zu wagen, trotz allem Vertrauen zu haben und durchzuhalten" 128 wußte. Die großen Historiker findet man immer wieder. Auch wenn sie gestorben sind - ja, vielleicht gerade deshalb - verliert man die großen Historiker, wie Pirenne und Violante, nie.
126 Ebd., S. 69. Sein Gesprächspartner Fonseca, nicht Violante, spricht vom Buch über Pirenne: "Zum Abschluß deiner Argumentation über die Notwendigkeit der historischen Synthese füge ich der Exemplifizierung zu deinen Versuchen, sie in Bezug auf die großen mediävistischen Themen umzusetzen, hinzu, daß du selbst kürzlich (1997) eine solche zusammenfassende Arbeit mit weit gestecktem historischen Horizont veröffentlicht hast: die große Monographie über Henri Pirenne und die europäische Historiographie im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit". 127 Vgl. unten, S. 219. 128 C. Violante, Le contraddizioni della storia, S. 137.
Das Ende der ,großen Dlusion' Ein europäischer Historiker im Spannungsfeld von Krieg und Nachkriegszeit, Henri Pirenne (1914·1923) Zu einer Neulesung der "Geschichte Europas"
Vorwort
Diese Arbeit ist nicht, wie es den Anschein haben könnte, eine Studie zur Historiographiegeschichte oder zur Geschichte der Neuzeit. Es ist lediglich ein Buch, das zu schreiben ich - in einem gewissen Abschnitt meines Lebens - als Bedürfnis empfand und das ich nunmehr endlich einer breiten Leserschaft und nicht so sehr dem engen Kreis der Fachleute vorlege. Das Thema impliziert ein moralisches und politisches Engagement, und ich habe deshalb versucht, einen allgemein verständlichen Text zu schreiben, eine klare Darstellung, die auch auf Zusammenhänge eingeht, die sich für Fachleute von selbst verstehen, aber wahrscheinlich den meisten und, wie ich hoffe, zahlreichen Lesern unbekannt oder unklar sind. Ich habe es deshalb auch vermieden, Worte oder Absätze in fremder Sprache einzuflechten 1. Damit die Leser auch die Schwingungen und die Resonanz gewisser Ideen nachempfinden können, habe ich versucht, durch ungewöhnlich lange Zitate der Autoren, die an dem von mir geschilderten Geschehen teilnahmen, den Ton wiederzugeben, in dem sie mitgeteilt wurden. Daß ich auf Henri Pirenne aufmerksam wurde, verdanke ich den eindrucksvollen Vorlesungen, die Federico Chabod im Gründungsjahr (1947148) des Istituto Italiano per gli Studi Storici (Istituto Croce) hielt. Er behandelte die historiographische Debatte über die ,Kontinuität' oder die ,Zäsur' zwischen Antike und Mittelalter, von Boulainvillieres und Dubos bis zu Fustel de Coulanges, Dopsch und Pirenne . . Pirennes ,Thesen' zu dieser Frage bildeten dann die Ausgangsbasis für mein Buch »La societa milanese nell'eta precomunale" (1953), in dem sie an mehreren Stellen breit diskutie~t und gelegentlich kritisiert werden. Unter dem Gesichtspunkt der Historiographiegeschichte blieb mein Interesse sowohl für Henri Pi renne als auch für seinen großen Widersacher Alfons I Violante hat seine Vorgehensweise wie folgt beschreiben: »Alle Passagen Henri Pirennes, auch diejenigen, die in italienischer Übersetzung erschienen sind, sind von mir eigens übersetzt worden. Auch die anderen fremdsprachigen Texte sind, sofern sie nicht in italienischer Sprache veröffentlicht waren, von mir übersetzt worden. Sofern sie j~doch schon übersetzt vorlagen, sind sie von mir in italienischer Sprache aus diesen Ubersetzungen übernommen worden, oftmals jedoch mit im wesentlichen formalen Änderungen. Aus diesem Grund liegt die Verantwortung für Fehler in diesen letztgenannten Übersetzungen bei mir". Für die deutsche Ausgabe wurde, wo möglich, auf die Originalfassung zurückgegriffen [Anm. d. Hrsg.l
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Vorwort
Dopsch2 bestehen und damit für die gesamte Historiographie der fünfzig Jahre um die Jahrhundertwende. So entstand aus einem versprochenen (aber nie abgelieferten) Vorwort zur Laterza-Ausgabe von "Maometto e Carlomagno" der Entwurf zu einer kritischen Biographie Pirennes. Aber ich nahm von dem Vorhaben sofort Abstand, nachdem ich auf die mehr als erschöpfende Biographie gestoßen war, die Bryce Lyon in vielen Arbeitsjahren - einige davon hatte er eigens zu diesem Zweck in Belgien verbracht - ausgearbeitet hatte. Der vorliegende Beitrag entstand aus diesem meinem gescheiterten Versuch einer Biographie und war ursprünglich für eine der vielen Festschriften gedacht, die uns immer häufiger peinigen. Aber er nahm schnell überhand. Ich hatte nämlich die Absicht, mich lediglich mit den persönlichen Erlebnissen Henri Pirennes in dem Jahrzehnt 1914-1923 zu beschäftigen und im Zusammenhang damit seine historiographische Produktion in jener Zeit zu untersuchen, im wesentlichen also die "Histoire de l'Europe" und die beiden Aufsätze von 1922 und 1923, mit denen er zuerst die berühmte These aufstellte, wonach die islamische Invasion zwischen Antike und Mittelalter eine ,Zäsur' darstelle. Bald jedoch erschienen mir die persönlichen Erlebnisse und die Werke des belgisehen Historikers derart eng mit den großen Ereignissen und der tiefen Kultur- und Zivilisationskrise jener historischen Schlüsselphase verbunden, daß meine gesamte geistige Identität von dieser Untersuchung über das Jahrzehnt 1914-1923 beansprucht wurde. Mich beeindruckte damals die Analogie der Erlebnisse und der moralischen Umstände des Mediävisten Pi renne im Krieg ("si licet magna componere parvis") zu den Erfahrungen, die ich als junger Offizier, der gerade in die Mittelalterstudien eingeführt worden war, während des zweiten Weltkriegs gemacht hatte. Mir wurde bewußt, daß ich durch den Eifer, die hinsichtlich der wissenschaftlichen Studien verlorene Zeit wiederaufzuholen, jene Erinnerungen verdrängt und jene verheerende Erfahrung in das Unterbewußtsein abgedrängt hatte, weil sie meine jugendliche Liebe gegenüber Deutschland und der deutschen Kultur, die mir an der Scuola Normale Superiore di Pisa Professoren wie Giorgio Pasquali und Delio Cantimori vermittelt hatten, beeinträchtigt hatten. Inzwischen wurde ich andererseits durch den Umstand beunruhigt, daß meine Beziehungen zur deutschen Wissenschaft intensiver wurden und meine dann oft innigen, freundschaftlichen Beziehungen zu deutschen, jungen und älteren, Historikern sich vervielfältigten. 2 Dopsch widmete ich 1954 einen langen Nekrolog, der, entsprechend überarbeitet, mit dem Titel "Alfons Dopsch, profilo di uno storico" in meinem Band: Prospettive storiografiche sulla societa medioevale, Mailand 1995, S. 11-29, erschienen ist.
Vorwort
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Ich spürte etwas Ungelöstes in mir, das die Wurzeln meines kulturellen Engagements berührte. Ich begann nach der Lösung zu suchen und bemühte mich, jenes tragische und dennoch faszinierende, weil an tiefen idealen Spannungen reiche Jahrzehnt zu verstehen: Ich versuchte die Jahre 1914-1923 durch die Ereignisse, die Schriften, die Reaktionen Henri Pirennes zu verstehen; später auch immer mehr durch die Untersuchung der deutschen Professorenwelt, gegen die er sich wandte. Zu diesem Zweck versuchte ich, über die zeitgebundenen Umstände ihrer Haltung während des Krieges hinaus, die wissenschaftliche Tradition der deutschen Professoren und die femen Ursprünge ihrer Kultur ans Licht zu bringen: Ich wollte verstehen, wie all das, was der Krieg offenbart hatte, geschehen konnte. Schließlich hatte ich jedoch zunehmend den Eindruck, daß die Tragödie des ultranationalistischen und militaristischen Geistes, der zum Krieg geführt hatte und vom Krieg verschärft worden war, nicht nur eine Sache der Deutschen war. Nach einer langen und sehr lebhaften Diskussion mit meinem Freund Rosario Romeo kam ich im Zuge einer kritischeren Musterung der Schriften Henri Pirennes und einer, freilich nur kursorischen, Erweiterung des Untersuchungsspektrums um die Historiker anderer Nationen zu der Überzeugung, daß dieser Geist eben nicht bloß den deutschen Professoren eigen war. Ich entwickelte damals das Bedürfnis, die Besonderheit der kulturellen Gründe zu erklären, die die Haltung der Historiker und der anderen deutschen Wissenschaftler während des Krieges bestimmten: Die Lösung jenes Problems würde entscheidend sein für ein Verständnis, das mich von meinen quälenden Zweifeln befreien konnte. So öffnete sich diese Arbeit, die aus einer bestimmten Gelegenheit heraus und mit rein historiographischen Absichten entstanden war, Bedürfnissen, die ich mit einem Wort als existentiell bezeichnen könnte. Obgleich es sich nicht um eine distanzierte akademische Abhandlung handelt und sie nicht in eine bestimmte Sparte wissenschaftlicher Literatur eingeordnet werden kann, ist das daraus entstandene Buch doch notwendigerweise den Anforderungen des Historikerberufs entsprechend von kritischen Überlegungen und der Objektivität getragen, die ich mir aufzuerlegen versucht habe. Ich habe den Leser lediglich darauf hinzuweisen, daß der eigentümliche Charakter dieses Buchs mir die Veröffentlichung gestattet, obwohl es mir - aufgrund meines unzureichenden Augenlichts - nicht möglich war, das reiche Archiv Pirennes zu konsultieren, so daß ich für die hier im Mittelpunkt stehenden Jahre nur die veröffentlichten Briefe (es sind jedoch viele und sie zählen - glaube ich - zu den interessantesten), Pirennes "Reflections d'un solitaire" und den publizierten Teil seiner Tagebücher, die nicht den letzten Zeitabschnitt des Exils umfassen, heranziehen konnte (in der von mir sehr häufig benutzten Pirenne-Biographie Bryce Lyons ist jedoch
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Vorwort
auch der unveröffentlichte Teil der Tagebücher minutiös ausgewertet worden; und das begrenzt den Schaden für mein Buch). Schließlich habe ich die von Pirenne selbst, sofort nach dem Krieg, geschriebenen »Souvenirs de captivite" nochmals kritisch gelesen. Bei dieser Arbeit, die ich - mit langen Unterbrechungen - ungefähr zwanzig Jahre lang voran gebracht habe, ist mir vielfältige und großzügige Hilfe zuteil geworden. Ich danke deshalb, außer den Direktoren und dem Personal der Bibliotheken, die ich gewöhnlich benütze, besonders den Direktoren und dem Personal der Universitätsbibliotheken von Gent und Löwen (die, als ich sie konsultierte, noch nicht zweigeteilt war), der Sonderabteilung für den ersten Weltkrieg in der Stadtbibliothek Stuttgart sowie den Bibliotheken des Deutschen Historischen Instituts und der Belgisehen Akademie in Rom. Es ist mir unmöglich, die zahlreichen Personen zu erwähnen, die mir auf vielfache Weise geholfen haben. Ich nenne hier nur Femand Vercauteren in Lüttich - in Erinnerung an ihn danke ich ihm von Herzen - und F ran'roisLouis Ganshof in Gent, die mir aus ihren Erinnerungen als Schüler und dann als Kollegen Pirennes erzählten. Darüber hinaus danke ich Albert D'Haenens in Löwen, Livia Fasola in Pisa, Kerstin Muddemann in Marbach, Andrea D'ünofrio und meine mir eng verbundenen ,Trentiner' Freunde Paolo Prodi, Pierangelo und Giuliana Schiera. Dem Präsidenten, dem Direktor und dem wissenschaftlichen Beirat des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient danke ich schließlich ganz herzlich für die Bereitschaft, dieses Buch in die anspruchsvolle Reihe des Instituts aufzunehmen; im Vergleich zu ihr ist es in der Tat ,extravagant'.
Einleitung Für einen kurzen Zeitraum intensiver und ausgedehnter historiographischer Produktion und außerordentlicher Lebenserfahrungen bewog mich mein Interesse, über das Jahrzehnt zu forschen, das Henri Pirenne zwischen dem großen Krieg und der Nachkriegszeit durchlebte. Es reichte bis zum Internationalen Kongreß der Geschichtswissenschaften in Brüssel (923), mit dem die weltweite wissenschaftliche Zusammenarbeit auf diesem Gebiet wieder aufgenommen wurde. Als ich mich zur Arbeit anschickte, sah ich mich zunächst gezwungen, unter allen möglichen Aspekten die Ereignisse, die damals im persönlichen Schicksal des belgischen Historikers schmerzlich aufeinander folgten, wie auch sein Leiden daran zu untersuchen, um im Hinblick auf die Motivationen und die Tiefenwirkungen, die sich daraus ergaben, seine starke und würdige Reaktion auf die unerwarteten Schicksalsschläge besser zu verstehen. Das erste Forschungsziel bestand nämlich darin, herauszufinden, welchen Einfluß die familiären Rückschläge, die Erfahrung der deutschen Besetzung Gents, die Gefangenschaft und das Exil in Deutschland auf das Werk Pirennes gehabt hatten und was ihn das Nachdenken in jenen Zeiten der Einsamkeit im Hinblick auf das Wesen und die Methoden der Geschichte gelehrt hatte: als Reaktion auf die deutsche Historiographie, wie sie sich ihm angesichts der Mitwirkung der deutschen Historiker an der Kriegspropaganda darbot. Um aII dies einzufangen, galt es nicht nur die unterschiedlichen Umgebungen ins Gedächtnis zurückzurufen, in denen der belgische Historiker leben mußte (Gent und seine Universität unter ausländischer Besatzung, ein Kriegsgefangenenlager für Offiziere, ein Lager für politische Gefangene, eine deutsche Universitätsstadt. ein abgelegenes Dorf im Herzen Deutschlands), sondern vor allem seine Gefühle und seine Gedanken von damals zu ergründen. Bei dieser Forschung kam mir, abgesehen von der Durchmusterung der im Vorwort genannten Quellen, die Untersuchung der teils wissenschaftlichen teils politischen Vorträge zu Hilfe, die Pirenne bei verschiedenen Gelegenheiten in der Nachkriegszeit gehalten hat. Besonders ergiebig war für mich jedoch die kritische Lektüre der "Geschichte Europas" , die während des Exils in der abgeschiedenen Atmosphäre eines Dorfs geschrieben wurde. Denn dieses Werk präsentiert in seiner breiten und entspannten und dennoch durch den Hang zur Zusammenfassung geprägten Darstellungsform die historischen Interpretationen, die der Autor an zentralen Punkten den, - wie er glaubte 5 Viola.te
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Einleitung
durch den Einfluß des historiographischen Nationalismus deformierten, Thesen der deutschen Kollegen entgegenhielt. Die Analyse und die Kommentierung der "Geschichte Europas" unter Heranziehung der verschiedensten Schriften Pirennes aus der unmittelbaren Nachkriegszeit werden deshalb den idealen Schlußpunkt dieses Buchs bilden. Auf diese Weise bot sich mir die Gelegenheit, die jähe und schmerzliche Enttäuschung Pirennes über die deutschen Historikerkollegen (die manchmal auch Freunde waren) nachzuvollziehen. Sie schienen nunmehr alle in die gewalttätigste und - was er im Hinblick auf ihren Historikerberuf für noch schlimmer hielt - ,verlogene' Kriegspropaganda eingebunden: Die historischen Thesen, die sie zu diesem Zweck entwickelten, würden - so meinte er - den nationalistischen Charakter ihrer Historiographie deutlich machen. Um diesen Punkt zu klären, habe ich die vielfältigen wissenschaftlichen und ideellen Gründe untersucht, die die deutschen Historiker dazu führten, an Vereinigungen mitzuwirken, die politische Kräfte und ihre unmittelbare Propagandatätigkeit flankierten. Dabei habe ich versucht, die weit zurückliegenden Ursachen und Beweggründe aufzudecken und die unterschiedlichen Gruppierungen auszumachen, in denen sich die Historiker zu diesen Zwecken zusammenfanden, um darüber hinaus auch persönliche Einstellungen in den Blick zu nehmen. Demgegenüber waren nicht nur die Reaktionen Henri Pirennes, sondern auch anderer Historiker, die Deutschland feindlich gegenüberstanden, zu berücksichtigen, und zwar anhand der vielfach begründeten Antworten der Historiker der Alliierten auf die "Appelle" und auf die "Manifeste" der deutschen Kollegen, der verschiedenen Resolutionen der französischen und englischen Akademien und der belgischen Akademie, und der Vorschläge zur Ausweisung der Akademiker fremder Länder. Dieser mehr oder weniger starke Rachegeist der Sieger war in der Nachkriegszeit weiterhin spürbar, da die Wiederaufnahme der weltweiten, damals schlagartig expandierenden, akademischen Beziehungen und die bereitwillige (und manchmal überstürzte) Neubegründung und Schaffung alter und neuer Organisationen für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit oft unter Ausschluß der Wissenschaftler aus ehemals feindlichen Ländern, vor allem der Deutschen, erfolgten. Der Prozeß ihrer Wiedereingliederung verlief ziemlich langsam und beschwerlich, so etwa im Bereich der Historiographie. Analog zu der Erfahrung, die nach dem Ende des Krieges die anderen internationalen Eliten (der Adel und die hohen militärischen Grade wie in dem Film Renoirs) machten, war die "große Illusion" einer elitären weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft, die - über die Grenzen und die vielfältigen Auseinandersetzungen hinweg - durch die ruhige Gewohnheit der wissen-
Einleitung
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schaftlichen Zusammenarbeit! verbunden war, irreparabel zerbrochen. Der Grund dafür war die Teilnahme der Professoren aller Nationen an jenem Krieg der Intellektuellen ("Krieg der Geister"), der den Krieg der Waffen beseelt hatte. Im Zuge ihres politischen Engagements stiegen die Professoren aus ihrer abgeschiedenen Welt herab und verloren die hohe Wertschätzung, die sie allgemein genossen. Und nun sollte die Neugründung einer Weltorganisation für die historischen Studien, die mit Mühe im letzten Augenblick auf der Tagung von Brüssel im Gemeinschaftsgeist beschlossen worden war, nur kurze Zeit, bis zur Tagung von Oslo (928), Bestand haben. In diesem weitläufigen Zusammenhang bekommt die Frage nach den Modifizierungen im historiographischen Werk Pirennes im Zuge der Kriegsund Nachkriegserfahrungen eine tiefere Bedeutung und erweitert sich um das Problem der Wandlungen der damaligen internationalen Historiographie.
Über diese olympische internationale Elite von Universitätsprofessoren vor dem ersten Weltkrieg vgl. jetzt F Stern. Historians and the Great War. Private Experience and Public Explication. in: The Yale Review. 82 (994). 1. S. 34·56, hier S. 36.
Erstes Kapitel Die Erfahrung des Krieges 1. Akademischer Stolz und politische Opposition im besetzten Gent Das Gelehrten- und Dozentenleben, das Henri Pirenne bis dahin straff organisiert geführt hatte, wurde durch den Weltkrieg erschüttert: Auf lange Jahre, die ohne nennenswerte äußere Ereignisse verstrichen waren, folgte eine Reihe von bitteren, oft sehr schmerzlichen Erfahrungen, die in mancher Hinsicht beträchtlichen Einfluß auf die späteren wissenschaftlichen Veröffentlichungen des nunmehr voll ausgereiften Historikers l hatten. Zunächst wurde Pirenne in seinem Familienleben hart getroffen: drei seiner Söhne wurden in unterschiedlicher Weise in den Krieg verwickelt. Der jüngste von ihnen, Pierre, meldete sich freiwillig und fiel in der Schlacht an der Yser am 3. November 1914 im Alter von neunzehn Jahren. Wenige Tage zuvor, am 12. Oktober, hatte der bekannte Historiker mit ansehen müssen, wie seine Wahlheimatstadt Gent von den deutschen Truppen besetzt wurde. Der plötzliche und blitzschnelle deutsche Einmarsch in Belgien war ein schrecklicher Schlag für den nunmehr fünfzigjährigen Henri Pirenne, denn mit diesem unerwarteten Ereignis brach für ihn eine ganze Welt von Werten zusammen, und es verschwand gleichzeitig eine Reihe von Sicherheiten2 • Die Hauptquelle für die Biographie Henri Pirennes während des ersten Weltkriegs ist vor allem sein Tagebuch. Die Abschnitte bis zum 28. September 1916 sind publiziert worden von Br. Lyon / M. Lyon, The Journal de guerre of Henri Pirenne, Amsterdam / New York / Oxford 1976. Jüngst haben Bryce und Mary Lyon zusammen mit JacquesHenri Pirenne die .RHlections d'un solitaire" , by Henri Pirenne (niedergeschrieben zwischen Oktober 1917 und November 1918 im Exil in Creuzburg) publiziert in: Bulletin de la Commission Royale d'histoire. Academie Royale de Belgique, 125 (1994), S. 143-257. Die Briefe Pirennes (von denen einige sehr wichtig sind) sind veröffentlicht worden von G. Girardy, Henri Pirenne (1862-1935), Ministere de I'Education Nationale, Brüssell962; die .Souvenirs de captivite" sind publiziert in: Revue des deux mondes, 55 (1920), S. 539-560 und S. 829-858. Lyon hat darüber hinaus eine umsichtige und detaillierte Biographie veröffentlicht: Br. Lyon, Henri Pirenne. A Biograflcal and Intellectual Study, Ghent 1974, auf die ich den Leser für die biographischen Hinweise verweise. 2 Für den Zeitraum, den Pirenne in Gent während der deutschen Besatzung verbracht hat und über seine Reaktionen vgl. Souvenirs, S. 542-546.
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1. Kap.: Die Erfahrung des Krieges
Aber er und seine Frau J enny waren vor allem um ihren Sohn Pierre besorgt, von dem sie seit seiner Abreise an die Front, im Oktober, nichts mehr gehört hatten, und sie befürchteten das Schlimmste. Pirenne hielt diese schweren Prüfungen aus; ja er setzte, seinem Temperament entsprechend, den Schicksalsschlägen die typisch männliche Reaktion einer intensiveren Tätigkeit entgegen, zog sich während der deutschen Besatzung zurück und vertiefte sich in seine Studien. So nahm er sofort die Arbeit an der Edition der Dokumente zur Tuchindustrie in Flandern aue, schrieb am fünften Band seiner "Histoire de Belgique" weiter und überarbeitete den gesamten Text4 • Der Historiker hatte in der ersten Hälfte des Jahres 1912 begonnen, diesen Band vorzubereiten5• Er umfaßte den gesamten Zeitraum vom Westfälischen Frieden bis zu den Erhebungen von Lüttich und Brabant gegen die österreichische Herrschaft (d.h. von 1648 bis 1792). Im Januar 1914 hatte er die Darstellung der "revolution braban~onne" begonnen. Angesichts dieses herausragenden Ereignisses der belgischen Geschichte war er damals, wie er schrieb, sehr beeindruckt von den bitteren und gänzlich in Beschlag nehmenden Parteikämpfen, die seinem Eindruck nach den zeitgenössischen ähnelten und die öffentliche Meinung von den Problemen der wissenschaftlichen Forschung und ganz allgemein der höheren Bildung ablenkten6• Im Juni, am Vorabend des Krieges, war die Niederschrift des Bandes nunmehr weit fortgeschritten, und Pirenne glaubte in seinem Optimismus, sie binnen weniger Monate abzuschließen. Das Interesse des Autors galt weiterhin hauptsächlich der "revolution braban~onne". Bei dem Vergleich dieser antiösterreichischen Revolution des späten 18. Jahrhunderts mit derjenigen, die sich im 16. Jahrhundert gegen Spanien abgespielt hatte, war er besonders von dem Unterschied der Ideen beeindruckt, der zwischen beiden Bewegungen bestanden hatte, obwohl die äußeren Umstände fast identisch waren7 • Offensichtlich war für ihn der bewaffnete Aufstand gegen die Fremdherrschaft als bewegendes Element der ,nationalen' Einheit noch nicht der gemeinsame und charakte} Es handelt sich um den dritten Band des "Recueil de documents relatifs a l'industrie drapiere en Flandre", erstellt in Zusammenarbeit mit G. Espinas. Der Band erschien 1920. 4 H. Pirenne, Histoire de Belgique, Bd. 5: La fin du regime espagnol, le regime autrichien, la revolution braban~onne et la revolution Iiegeoise, Brüssel1921, 2. Auf!. 1926, Avant-propos de la premiere edition, S. IX-XV. 5 BriefPirennes an Lamprechtvom 12.Juni 1912, in: The Letters ofHenri Pirenne to Kar! Lamprecht (1894-1915), hrsg. von Er. Lyon, in: Bulletin de la Commission Royale d'histoire. Academie Royale de Belgique, 132 (1966), S. 161-231 (Nr. 25, S. 222 f.). Brief Pirennes an Lamprecht vom 27. Januar 1914, ebd., Nr. 26, S. 223 f. Brief vom 6. Juni 1914, ebd., Nr. 27, S. 225 f.
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risierende Aspekt jener beiden historischen Phasen (bereits im Vorwort zum vorhergehenden vierten Band der "Histoire de Belgique" - Juni 1911 - hatte der Autor unterstrichen, daß viele Grundzüge des heutigen Belgien nicht auf den Aufstand gegen die Fremdherrschaft, sondern auf ganz andere historische Phänomene zurückgehen, d.h. auf die monarchische Restauration und die katholische Reform; verwiesen hatte er dabei vor allem auf den institutionellen Neubeginn im 16. Jahrhundert, sowohl im zivilen als auch im kirchlichen Bereich)8. Aber jetzt, während er 1914 und 1915 diesen arbeitsintensiven fünften Band umarbeitete, eingeschlossen "in jenes Kollektivgefängnis, das Gent unter dem deutschen Joch"9 geworden war, ging ihm die ganze Bedeutung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf: eine Zeit der wirtschaftlichen und "nationalen " Wiedergeburt, obschon Belgien zu jener Zeit Schauplatz der größten politisch-militärischen Auseinandersetzungen war und Verwüstungen, Raub- und Gewalttaten hinzunehmen hatte. Die Revolutionen von Lüttich und Brabant galten nunmehr beide als ein entscheidendes historisches Ereignis und erschienen als die gemeinsame Tat der Belgier zur Verteidigung ihrer jahrhundertealten Freiheiten. Dabei sah der Autor jedoch nicht über die Art der Auseinandersetzung zwischen fortschritdichen ,Patrioten' und konservativen ,Klerikalen' hinweg. Pirenne unterstrich die Bedeutung jener Unterscheidung nach Parteien, die damals entstanden war, aber - für den Augenblick - von dem "nationalen " Aufstand gegen den österreichischen Unterdrücker überlagert wurde. Denn er sah dort die Ursprünge jener Parteienkämpfe, die noch zu seiner Zeit das politische Leben der belgischen Nation heimsuchten 10. Unter diesen geistigen Umständen wurde Henri Pirenne nach der Eroberung Gents durch die deutschen Truppen sofort zum entschlossenen Gegner der Besatzer und ihrer ördichen Kollaborateure. Er war sogar einer der glühendsten Vertreter des vom Akademischen Rat geleisteten Widerstands. Er richtete sich gegen die deutschfreundliche autonome Verwaltung Flanderns und vor allem gegen die sehr viel mächtigeren deutschen Militärbehörden, die die Universität Gent unter ihrer Kontrolle wieder eröffnen und in ihr das Flämische als ausschließliche offizielle Sprache einführen wollten. Neben Pirenne reihte sich 8 H. Pirenne, Histoire de Belgique, Bd. 4: La revolution politique et religieuse, le regne d'Albert et d'Isabelle, le regime espagnol jusqu'a la paix de Münster (1648), 3. Aufl., Brüssell927, Avant-propos de la premiere edition, S. VII-IX. 9 H. Pirenne, Souvenirs, S. 542. Am 28. Juni 1914 war sich Pirenne sicher, daß er den Band im Januar 1915 (Brief an Lamprecht, in: The Letters, Nr. 30, S. 229) fertigstelIen würde; tatsächlich aber beendete er ihn erst am 11. November 1915: vgl. Histoire de Belgique, Bd. 5,3. Aufl. 1926, Avant-propos de la premiere edition, S. IX. 10 H. Pirenne, Histoire de BeIgique, Bd. 4, S. 460-537. Vgl. Brief an Lamprecht vom 27. Januar 1914, in: The Letters, Nr. 26, S. 223 f.
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sein ehemaliger Lehrer und nunmehriger Kollege und Freund Paul Fredericq, Professor für neuere Geschichte, in die vorderste Front des Widerstands. Aufgrund dieser unnachgiebigen oppositionellen Haltung wurden beide Professoren am Morgen des 18. März 1916 - ohne daß der eine vom anderen wußte - verhaftet, sofort nach Deutschland deportiert und in verschiedene Gefangenenlager eingesperrt. Daß unter den Professoren der Universität Gent Pirenne und Fredericq verfolgt wurden, hatte nicht nur mit ihrem besonderen Engagement im Widerstand und mit ihrem Prestige zu tun. In den Augen der Belgier war ihre antideutsche Position vielmehr deshalb glaubwürdig, weil sie mit der deutschen akademischen Welt sehr verbunden gewesen waren. Paul Fredericq und Henri Pirenne waren die einzigen ausländischen Historiker gewesen, die gewohnheitsmäßig die Deutschen Historikertage, die jährlichen Tagungen der deutschen Geschichtsprofessoren, besuchten; mit vielen von ihnen hatten sie wissenschaftliche Kontakte geknüpft und zuweilen waren auch Freundschaftsbeziehungen entstanden. Beide waren Korrespondenzmitglieder verschiedener wissenschaftlicher Akademien und Ehrendoktoren deutscher Universitäten geworden. Wahrscheinlich hatten die deutschen Behörden gehofft, die beiden belgischen Professoren würden, wenn schon nicht zustimmen und mitarbeiten, so doch keine feindselige Haltung einnehmen. Darüber hinaus wußten sie ja, daß Paul Fredericq ein "flamigant" war, d.h. ein kultureller und politischer Vertreter der belgischen Flamen. Vor allem darauf stützten sie sich, um ihn auf ihre Seite zu ziehen. Aber er spürte intensiv die historische Einheit der belgischen Nation und brachte nun - wie die meisten in seiner ethnischen Gruppe - den gewalttätigen Invasoren Aversion entgegen. Darüber hinaus fühlte er sich auch der belgischen Tradition des liberalen Protestantismus verbunden, der dem autoritären Regime der Besatzungsmacht feindlich gegenüberstand 11 • Auf der anderen Seite setzten die deutschen Professoren so großes Vertrauen in den Geist akademischer Solidarität und die Freundschaft Henri Pirennes, daß einige von ihnen, auf der Durchreise im besetzten Belgien, versuchten, von dem Genter Historiker empfangen zu werden. Offensichtlich wollten sie wieder wissenschaftliche und persönliche Kontakte mit ihm knüpfen und auf diese Weise seinen Widerstand mildern; aber "natürlich" - wie er später schrieb - "wurden sie abgewiesen" 12. Pirenne lehnte es u.a. ab, Dr. Rudolf 11 Zu Paul Fredericq, Protestant und Liberaler, vgl. F-L. Ganshof, Paul Fredericq historien de la Reforme, in: Annales de la Societe d'Histoire du Protestantisme Belge, 3 (1954),4, S. 142-151. 12 H. Pirenne, Souvenirs, S. 542.
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Hoeninger zu empfangen, der während seines Aufenthalts an der Universität Berlin 1885, der der Vervollkommnung seiner Sprachkenntnisse diente, sein Studienfreund und sein Kamerad bei Studentenabenteuern gewesen warB. 2. In den Gefangenenlagern: Neue menschliche Erfahrungen und geistige Anregungen Am Morgen des 19. März 1916, einen Tag nach der Verhaftung, wurde Henri Pirenne in das Gefangenenlager in Krefeld eingewiesen. Es war ein Lager für kriegsgefangene Offiziere, in dem sich über 800 Belgier, Franzosen, Engländer und - vor allem - Russen befanden. Der bekannte Historiker galt als Kriegsgefangener und wurde als Offizier höheren Rangs behandelt. So wurden ihm ein Einzelzimmer und ein ,Bursche' zur Verfügung gestellt. Nach den Aufregungen der Verhaftung und der Abfahrt und den Impressionen bei seiner Reise durch Deutschland in Begleitung eines Offiziers ließ er, kaum allein, seinen Gefühlen freien Lauf: "Es ist wie eine Wunde auf dem Grund des Seins" - schrieb er sofort in sein Tagebuch - "ein Gefühl moralischer Zerrissenheit, einer Betäubung, die mit einem Sich-fügen gemischt war"14. Als erstes fiel dem belgischen Historiker auf, daß es in dem Lager eine ungefähr achthundertbändige französische, eine umfangreichere englische und eine russische Bibliothek gab. Und seit dem darauffolgenden Tag begannen die Mitgefangenen, ihm ihre eigenen Bücher zu leihen, die unterschiedlicher Art und in verschiedenen Sprachen geschrieben waren. Einer der französischen gefangenen Offiziere, Charles Marouzeau, ein bekannter Professor für klassische Philologie an der Sorbonne, riet seinem Kollegen, die Bücherausleihe bei den Universitätsbibliotheken in Bonn und Münster zu beantragen, deren er sich selber schon bedient hatte 15 • Darüber hinaus traf schon am 7. April beim Lagerkommando ein Brief Prof. Adolf von Hamacks ein, der sich bereit erklärte, Pirenne von der Bibliothek der Universität Berlin die von ihm benötigten Bücher schicken zu lassen 16. Am selben Tag bekam der belgische Historiker einen Brief von Prof. Aloys Schulte, der ihm seine Privatbibliothek zur Verfügung stellte 17 • Die beiden deutschen Professoren, die mit Pirenne nicht durch besondere Freundschaftsbeziehungen 13
Br. Lyon, H. Pirenne, S. 209. Vgl. S. 112 Anm. 167.
14 Journal, S. 30, Eintragung datierbar auf den 20. März 1916. Ebd., S. 33, Eintragung vom 21. März. Ebd., S. 36-57 (zu Harnack vgl. auch P. Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, an verschiedenen Stellen). 17 Journal, S. 57. 15
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verbunden waren, handelten im solidarischen Geist der Akademiker, die sich über die nationalen Spaltungen und Auseinandersetzungen erhaben fühlten. Henri Pi renne jedoch antwortete Schulte mit einer höflichen, aber förmlichen, untergründig polemischen, Karte, daß die Bücher, die er habe, bereits ausreichend seien, um "die langen Stunden seiner Haft auszufüllen"18. Am 5. April, nur siebenundzwanzig Tage nach seiner Internierung, erreichte Pirenne aus Holland ein großes Paket mit Büchern und Zigaretten, das ihm Sam Müller schickte l9 • Während der ganzen Haft- und Exilzeit des beIgisehen Professors war dieser treue ehemalige holländische Schüler, nunmehr Archivdirektor in Utrecht, sehr engagiert: Er schickte ihm Bücher und veranlaßte Verleger, ihm welche zu schicken. Seine Frau und andere Familienangehörige und Freunde (Belgier, Franzosen, Holländer, Dänen, Schweizer) taten dasselbe. Dank seines Rufs und der allgemeinen Entrüstung, die seine politisch begründete Verhaftung ausgelöst hatte, wurde Pirenne in der Gefangenschaft mit besonderem Respekt behandelt und genoß einige Privilegien, insbesondere im Hinblick auf das Studium. Die politischen und militärischen Behörden bemühten sich ohnehin, den gefangenen Universitätsprofessoren die Erleichterungen zu verschaffen, die mit ihrer Situation vereinbar waren. So groß war die offiziell in Deutschland demonstrierte Wertschätzung für die Wissenschaft und für die Universitätsprofessoren! Marouzeau hatte im Lager in Krefeld Gelegenheit, ein kleines populärwissenschaftliches Buch zur Linguistik zu verfassen, und Pirenne diskutierte oft mit ihm. Als er einmal den ,Auszug' eines kurz vorher verfaßten Beitrags zum klassischen Sprachunterricht 'in den französischen Mittelschulen gelesen hatte, wies er ihn auf die Notwendigkeit hin, an den Universitäten das mittelalterliche Latein, und zwar - bezeichnenderweise - ab dem 12. Jahrhunderf°, lehren zu lassen. (Pirenne war nämlich immer stärker davon überzeugt, daß jenes Jahrhundert der Anfang in der großen Entwicklung der modernen Kultur des Okzidents gewesen war, schon deshalb, weil damals die neulateinische wie die romanische Literatur in großer Blüte standen.) Pirenne konnte also bequem an seinen Studien arbeiten. Geht man von den Büchern aus, die er bekam, und vor allem von denen, die er auslieh, bei Freunden anforderte oder bei Verlegern bestellte, ist es naheliegend, daß er damals mit der Vorbereitung des sechsten Bands der "Histoire de Belgique" beschäftigt war. Seine Lektüren betrafen nämlich vor allem die Französische Revolution, die Geschichte Europas zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert und die belgisehe Nationalrevolution von 1830. 18 Ebd., S. 65, datierbar auf den 18. April. 19 Ebd., S. 54. 20 Ebd.
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Inzwischen korrigierte er die ersten Probedrucke der Quellenedition zur flämischen Tuchindustrie, die ihm der Verlag Hayez prompt in das Krefelder Lager gesandt hatte21 • Aber der belgische Historiker nutzte die ungewöhnliche Umgebung des Lagers, um eine neue kulturelle Erfahrung zu machen. Seit den ersten Tagen seiner Internierung in Krefeld hatte er begonnen, russisch zu lernen; durchweg nahm er bei dem Obersten IvanovichJanichewski Unterrichf2 • Mit ihm und mit anderen Offizieren derselben Armee unterhielt er sich gern über russische Geschichte. In seinem Tagebuch notierte er, daß der Oberst Arnoldi ihn gefragt hatte, ob es möglich sei, einen Vergleich zwischen dem abessinischen und dem okzidentalen Feudalismus anzustellen. (Dieser Offizier war viele Jahre lang Attache an der russischen Botschaft in Abessinien gewesen, kannte gut die politischen Institutionen dieses Landes und hatte ein Buch über das abessinische Heer geschrieben.) Henri Pirenne interessierte sich nämlich stark für seine neue Umgebung, in die er unversehens geraten war; und sein Interesse war um so lebendiger, als die Menschen, ihre Kultur und ihre Ziele von seiner normalen Erfahrungswelt entfernt waren. Er pflegte deshalb nicht so sehr mit seinen neuen belgischen und französischen Kameraden Umgang, sondern überwiegend mit den Engländern und vor allem mit den Russen. Mit den englischen Offizieren diskutierte er besonders über Politik und über Verfassungssysteme, wobei auf den Commonwealth Bezug genommen und ein Vergleich zwischen dem englischen und dem römischen Reich angestellt wurde. Angeregt von diesen Gesprächen, las der belgische Historiker ein Buch, mit dem Titel "The Project of a Commonwealth "23 und fand es sehr interessant. In dem Werk wurden zwei Staatstypen unterschieden: ein imperialer Staatstyp asiatischen Ursprungs, gegründet auf dem göttlichen Willen, der sich im Despotismus offenbart; der andere höhere Staatstyp war auf dem nationalen Willen gegründet, der Maßstab des Gesetzes und Garantie der Individualrechte ist (Tradition Griechenlands, des republikanischen Rom und des Commonwealth). Pirenne meinte dazu, es handele sich um "einen vollEbd., S. 67, datierbar auf den 20. April. Siehe oben, Anm. 3. Journal, S. 35, datierbar auf den 24. März. 23 Pirenne liefert keine weiteren bibliographischen Hinweise, aber es handelt sich um L.G. Curtis, The Project of a Commonwealth. An Inquiry into the Nature of Citizenship in the British Empire and into the Natural Relations of the General Communities Thereof, London 1915. (Es könnte sich auch um die zweite Auflage von 1916 handeln.) Lionel George Curtis war ein Fachmann im Bereich der Studien zum Commonwealth und befaßte sich vor allem mit Südafrika und Indien. 21
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kommen englischen Gesichtspunkt" und er notierte in seinem Tagebuch, daß nach Meinung des Autors dieser zweite Staatstyp germanischen Ursprungs sei: Die Germanen des kontinentalen Okzidents seien in die Anarchie getrieben worden, weil sie im Mittelalter mit einer zu ausgreifenden imperialen Konzeption in Berührung gekommen seien, während die Germanen Englands hingegen in einem Nationalstaat dank ihrer Insularität die freiheitlichen Traditionen, die sie auch vor dem Einfluß der römischen Kirche schützten, bewahrt und verwirklicht hätten. So sei den Engländern das Schicksal der Portugiesen und der Spanier erspart geblieben. Deren Eroberungen seien von den jeweiligen Königen, die dem Papsttum untertan waren, aus eigenen Gründen und zu Propagandazwecken, auf der Grundlage einer MonopolsteIlung, vollbracht worden. Diesen Ideen entsprechend, sei das auf die Freiheit gegründete englische Imperium nunmehr für das Heil der Menschheit, die es zu einem Viertel kontrollierte, unabdingbar geworden: Sein Untergang würde die größte Katastrophe der Geschichte sein24 • Diese gänzlich politische und, wenn man so will, demokratische englische Version des Imperialismus, die der entsprechenden deutschen Konzeption gegenübergestellt wurde, überzeugte an sich Pirenne nicht ganz, aber sie erhellte ihm beide Gesichtspunkte. Mit den französischen Offizieren wurden vielfältigere Gesprächsthemen, darunter manchmal die Literatur, berührt. Mit dem Obersten Brisson, der vielleicht mehr als die anderen Neugier für Kultur zeigte, unterhielt Pirenne sich gern, schon um seine politischen Meinungen und seine unklaren Verfassungsentwürfe anzuhören: Der Offizier bewunderte Taine, haßte die Demokratie25 und entwickelte in seinen Gedanken einen Verfassungsplan, der die Hierarchisierung der Gesellschaft vorsah. So sollten die politischen Vertreter der Nation von den Provinzial- und Gemeinderäten gewählt werden26 . Pirenne kommentierte bezeichnenderweise in seinem Tagebuch: »Sollte er also glauben, daß die schlimmen Zustände der Gegenwart bloß politischen Ursprungs sind?"27. Mit dem belgischen Obersten De Thier diskutierte Pirenne über die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsleben 28 , ein Thema, das ihn auf politischer Ebene stets interessierte und das damals besonders im Mittelpunkt der historiographischen Reflexion stand29• Journal, S. 53 f., datierbar auf den 4. April. Ebd., S. 48, datierbar auf den 31. März. 26 Ebd., S. 60, datierbar auf den 11. April. 27 Ebd., S. 356 ff. 28 Ebd., S. 55, datierbar auf den 6. April. 29 Siehe S. 330 und, weiter unten, Schlußbemerkungen, Abschn. 4. 24 25
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Der Professor aus Gent weckte von neuem das Interesse seiner Mitgefangenen für die Geschichte, auch wenn er beklagte, daß sie dazu neigten, sofort zur Tagespolitik überzugehen30 . Auf ihre Anfrage hin hielt er Vorträge; die Themen lagen im Bereich ihrer Gespräche über die großen Fragen des weltweiten Imperialismus in der Geschichte: "La conception imperiale au moyen age"31 und "La conception politique de l'Europe au moyen age"32. (Auch ein Vortrag zur mittelalterlichen Kirchengeschichte ist überliefert33 .) Dies waren Themen, über die er selbst, durch die Ereignisse, aber auch durch die täglichen Gespräche angeregt, damals als Mediävist nachdachte. Wir wissen jed~ch nicht, ob er den Vortrag über die Geschichte der Eisenbahn hielt, die ihm der russische Oberst Beloi vorgeschlagen hatte34 . Es handelte sich um ein Lieblingsthema Gustav von Schmollers, dessen Vorlesungen der junge Pirenne dreißig Jahre zuvor in Berlin besucht hatte35 . Aber vielleicht interessierte sich der bekannte Historiker für seine unverhofften Kameraden vor allem wegen ihrer Persönlichkeit. All jene Offiziere waren in der Schlacht gefangen genommen worden, viele waren Berufsoffiziere. Der Professor bewunderte ihren Geist der Verherrlichung der militärischen Ehre und beobachtete interessiert ihr von ihm als professionell erkanntes Engagement in den körperlichen Übungen und in den Sportarten, die vor allem die Engländer mit Leidenschaft und Methodik auch in der Gefangenschaft praktizierten36• Aus all diesen Gründen traf Pirenne und seine Mitgefangenen der plötzliche Befehl zur Verlegung in ein neues Lager tief. Die Offiziere forderten ihn auf, zu protestieren, um einen Gegenbefehl zu erreichen. Aber die deutsche Regierung hatte beschlossen, daß der belgische Professor nicht mehr als kriegsgefangener Offizier, sondern als politischer Gefangener zu gelten hatte und deshalb nicht in Krefeld bleiben konnte. So mußte Pi renne, den die Bezeugungen der Wertschätzung und Freundschaft gerührt hatten, das Lager am Morgen des 15. Mai nach etwas weniger als zwei Monaten verlassen 37 • Am Nachmittag desselben Tages kam Henri Pi renne in Holzminden an, einem deprimierenden Lager, in dem 8-10.000 Zivilgefangene zusammen3()
Journal, S. 74, datierbar auf den 26. April.
31
Ebd., S. 44, datierbar auf den 29. März.
32
Ebd., S. 59, datierbar auf den 10. April.
3l
Ebd., S. 89, datierbar auf den 10. Mai.
l4
Ebd., datierbar auf den 5. April.
35 F. Vercauteren, Discours (zum hundertsten Geburtstag von JIenri Pirenne), in: Bulletin de la Classe des lettres de I'Academie Royale de BeIgique, 5. Folge, 49 (969), S. 35·44 (37). 3(,
Journal, S. 30, 31, 97.
37
Ebd., S. 91-97.
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gepfercht waren. Sie wurden deutschfeindlicher Äußerungen, Taten und Einstellungen beschuldigt oder zumindest als unerwünscht eingestuft. Sie waren in Frankreich, Belgien und in allen von den deutschen Truppen besetzten Ländern Osteuropas zusammengetrieben worden. Diese Schar schlecht ernährter und schlecht gekleideter Menschen bestand aus Personen jeder sozialen Klasse, jeden Bildungstyps und -niveaus und jeder Sprache. Es waren Beamte, Richter, Politiker und sogar einige Adelige vertreten, aber die Angehörigen der unteren Schichten überwogen bei weitem, und die Entwurzelten und Gescheiterten aller Schattierungen waren nicht selten. Es fehlten auch nicht diejenigen, die wegen gemeiner Verbrechen, sogar wegen Mords verurteilt und aus den Gefängnissen ihres Landes geholt worden waren. Es gab auch zahlreiche Frauen ganz unterschiedlicher Art: Prostituierte aus Warschau, Brüssel oder einer anderen Stadt, Bäuerinnen und Arbeiterinnen aus Polen, Frankreich und Belgien, Beamten- oder Offiziersehefrauen; und bei ihnen befanden sich zahlreiche Kinde?8. Das Lager bestand aus dreiundachtzig Baracken, die in acht Reihen angeordnet waren, mit einer großen Straße in der Mitte, die den ganzen Tag vor Menschen wimmelte. Längs der von den Gefangenen so getauften "avenue Joffre" standen nämlich die armseligen Bauten, die viele gutwillige Einrichtungen beherbergten: KappelIen für Katholiken, Orthodoxe und Protestanten, Bibliotheken in verschiedenen Sprachen, Schulen jeder Stufe, sogar eine so gut wie möglich eingerichtete" Universität", kleine Geschäfte, ein Cafe, sogar ein Restaurant, Klubs und Vereinigungen für Sport und Konzerte, ein Kino mit deutschen Filmen, Niederlassungen von Hilfswerken für die einzelnen Nationalitäten. Alles natürlich im Rohzustand und vorübergehend J9• Zu den Menschen, die die große Straße füllten, kamen die Frauen hinzu, wenn sie - von 12 bis 15 Uhr - freien Ausgang aus ihren Baracken hatten, die im Zentrum des Lagers lagen und mit Stacheldraht eingezäunt waren, und morgens belebten die Kinder, die zur Schule gingen, die Straße40 • Das Kommando über das Lager hatte ein Major, die Bewachung besorgten einige Unteroffiziere und wenige Soldaten, die Verwaltung deutsche Zivilbeamte. Alles andere war der Verantwortung und der Initiative der Gefangenen selbst überlassen; unter ihnen wurden - unter strenger Aufsicht des Militärkommandos - die Barackenführer, die Distriktführer und der interne Lagerkommandant sowie die Leiter der verschiedenen Kultur- und Hilfswerke~1 gewählt. J8
19 40
41
H. Pirenne, Souvenirs, S. 551-552. Journal, S. 104-106; H. Pirenne, Souvenirs, S. 551 ff. und passim. Journal, S. 104-106. H. Pirenne, Souvenirs, S. 553.
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Auch in einer solchen Umgebung wurde Henri Pirenne, soweit es möglich war, mit besonderem Respekt behandelt. Er bekam vom deutschen Kommando ein großes Zimmer ganz für sich allein. Es lag in der Baracke, wo die Gefangenen lebten, die für das innere Leben des Lagers verantwortlich waren. Es waren Personen von einem gewissen Niveau, die sich sofort und während seines gesamten Aufenthalts bemühten, ihm mit ihren armseligen Mitteln bei den kleinen und großen Bedürfnissen eines Gefangenenlebens zu helfen42 • Er erhielt auch zur Unterstützung einen, Wächter', die seltsame Ausgabe eines mittelmäßigen Akrobaten, der die Neugierde des Professors mit seinen lebhaften Reden im Pariser Jargon erregte43 • Der kommandierende General gewährte darüber hinaus Pirenne beachtliche Erleichterungen. So konnte er im Vergleich zu den Mitgefangenen eine größere Anzahl von Briefen an die Familienangehörigen schicken. Vor allem ermöglichte er ihm, ohne Restriktionen zu schreiben, sofern es seine wissenschaftliche Tätigkeit betraf 44 • Der belgisehe Historiker ließ sofort seinen intensiven Briefverkehr wieder aufleben, und bald erhielt er neue Pakete, während Briefe und Pakete ihm regelmäßig aus dem Lager Krefeld nachgeschickt wurden. So erhielt der Gefangene von den gewohnten Absendern zahlreiche Bücher; einige davon waren auf seine bestimmte Anweisung hin ausgewählt worden. Zu jener Zeit begann in Holland das Hilfswerk belgiseher Emigranten zu funktionieren, über das dem bekannten gefangenen Historiker Bücher und Zigaretten übermittelt werden sollten. Er hatte nämlich die Angewohnheit, beim Studium zu rauchen. Das von den Zeitungen angekündigte "Oeuvre du livre et de la cigarette du Professeur Pirenne" hatte schnell Erfolg und das Universitätshilfswerk für die gefangenen Studenten bot von der Schweiz aus an, ihm Bücher für die Universitätskurse, die er im Lager hielt, zu schicken45 • Schließlich konnte Pi renne die Universitätsbibliothek des Lagers benutzen, die ungefähr viertausend Bände enthielt, die aus Frankreich und aus der Schweiz stammten46 • Auch im Lager Holzminden schenkten einige Kollegen und andere Wissenschaftler Professor Pirenne - wie es normalerweise üblich ist - ein Exemplar ihres gerade erschienenen Werks, um es ihm zu unterbreiten. Die Kontakte mit der wissenschaftlichen Welt waren also nicht ganz unterbrochen47 • 42
43 44
45 46 47
Journal, Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
S. 97 ff. 99 ff. 95 f. und S. 101, datierbar auf den 18. Mai. 109, 137. 107. 948, datierbar auf den 17. Juli.
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Auf einer Photographie, die die Mitgefangenen in seinem Zimmer in Holzminden machten, ist Pirenne im Vordergrund zu sehen; dahinter ein primitives Bücherregal, das über dem Tisch hängt. Es besteht aus zwei Fächern voller Bücher; darunter kann man einige Bände der "Deutschen Geschichte" Karl Lamprechts erkennen48 • Dem Professor war es gelungen, so viele Bücher zu erhalten, daß er, als er nach Holzminden verlegt wurde, sich per Bahn eine randvolle Bücherkiste an die neue Adresse nachschicken lassen mußte49 • Anhand der erhaltenen Bücher, die besonders die Französische Revolution oder Holland im Jahr 1830 betrafen, kann man mutmaßen, daß Pirenne noch am sechsten Band der "Histoire de Belgique" arbeitete. Die Lektüre zweier Romane von Paul Bourget, einem Freund aus der Zeit seines früheren Studienaufenthalts in Paris, sollte für ihn eine Ablenkung sein50• Aber vielleicht wirkte die Suggestivkraft dieses Schriftstellers, der über einen großen psychologischen Scharfsinn verfügte, verstärkt auf ihn, angesichts dieser Menge von Gefangenen, die aus den verschiedensten und seltsamsten Menschen zusammengesetzt war und deren Charaktere und Reaktionen aufgrund der physischen und seelischen Leiden überzogen waren. Die Hauptbeschäftigung Pirennes in Holzminden bildeten die Vorlesungen, die er in dem, übertrieben als Universität bezeichneten, Gebäude hielt, wo die Gefangenen irgendwie den Unterricht in verschiedenen Disziplinen organisierten. Als Dozenten luden sie die Professoren und andere Fachleute ein, die sie im Lager auftreiben konnten. Er hielt dort für seine Landsleute jeden Bildungsniveaus einen Kurs über die Geschichte Belgiens vom hohen Mittelalter an. Dabei ging er den fernen nationalen Ursprüngen nach, entsprechend den Ideen, die er bereits im ersten Band seines großen Werks dargelegt hatte. Die Absichten und die Früchte dieser Vorlesungen, die auch bei den Gefangenen anderer Nationalitäten großen Erfolg hatten, gingen über die Grenzen einer einfachen historischen Darstellung weit hinaus 51 • Viel stärker beanspruchten Pirenne bald die Vorlesungen zur Wirtschaftsgeschichte Europas, die er wenige Tage zuvor, auf die dringende Anfrage einer lebhaften Gruppe von zwei- oder dreihundert russischen Universitätsstudenten, die sich in jenem Lager befanden, weil sie von den Deutschen in Lüttich im August 1914 gefangen genommen worden waren, begonnen hatte. Der erfahrene Professor bereitete diese Vorlesungen sorgfältig vor und mußte sie auf jeden Vgl. Jas Photo. Journal, S. 177. 511 EbJ., S. 108, datierbar auf den 21. Mai. Pirenne liest Bourgets Roman .. Le Disciple". 51 Journal, S. 117, Jätierbar auf Jen 1. Juni. 4X
4~
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Fall lange durchdenken. Alle zwei Wochen fand eine Vorlesung statt, und der Stoff begann natürlich beim Hochmittelalte~2. Das lebhafte Interesse, das diese Zuhörer, die von so weither kamen, der allgemeinen europäischen Wirtschaftsgeschichte entgegenbrachten, und die Erweiterung des Blickfelds auf die östlichen Regionen Europas, die die Zuhörerschaft selbst auferlegte, waren für Pirenne lehrreiche Erfahrungen. Jetzt tendierte er dazu, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, sein bereits vorhandenes Interesse für die slawische und byzantinische Geschichte auszuweiten und zu verstärken. In der Tat hatte er 1911 in der Rezension eines großen deutschen Handbuchs über die Quellen der Universalgeschichte den Autoren insbesondere vorgeworfen, kein einziges Werk russischer Fachleute zur russischen und zur Geschichte Byzanz' zitiert zu haben 53 . So widmete sich der bekannte Historiker in Holzminden wieder verstärkt dem Studium der russischen Sprache und nahm Unterricht bei einem der russischen Studenten in Lüttich, namens Kleine~4. Bei dem Lagerhandel besorgte er sich ein russisches Wörterbuch und begann, zusammen mit seinem Lehrer, die Übersetzung der großen, jüngst erschienenen "Geschichte Rußlands" von V.O. Klyuchevskr5.
Im Vergleich zu den verschiedenen Gesprächen mit den russischen Offizieren im Lager in Krefeld war diese Studienarbeit mit jungen Leuten, die mit der westlichen Universitätskultur direkten Kontakt gehabt hatten, Pirenne wegen ihres höheren wissenschaftlichen Gehalts nützlich. Darüber hinaus wurden neue historische Probleme aufgeworfen. Unter diesen russischen Studenten waren einige, die besonders historisch kompetent und interessiert waren, wie eben Kleiner, der Pirennes Buch "Les anciennes democrathies aux Pays Bas" gelesen hatte und nunmehr mit dessen Übersetzung in die eigene Sprache begann56. Die Fragen, die die russischen Studenten und die anderen Zuhörer seines Kurses über Wirtschaftsgeschichte stellten, und der Umstand, daß sich - in dieser Lage - seine natürliche Neigung verstärkte, brachten Pirenne auf viele neue Probleme und regten zahlreiche vergleichende Beobachtungen an zu den historischen Entwicklungen des östlichen Teils gegenüber dem westlichen Teil Europas. 52 Ebd., S. 100, 104, 108. 53 H. Pimme, Rezension zu: Quellenkunde zur Weltgeschichte. Ein Handbuch, unter Mitwirkung von A. Hofmeister und R. Stübe, bearbeitet und hrsg. von P. Herre, Leipzig 1910, in: Revue de I'instruction publique, 54 (1911), S. 36-38. 54 Journal, S. 133. 55 V.O. K1yuchevsky, Autor eines berühmten Kurs "russkoi istorii" in vier Bänden 0904-1911). Vgl. Journal, S. 133 und 195, Anm. 105. 5(, Journal, S. 173, datierbar auf den 25. August.
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Aber für den belgischen Historiker sollte auch die Internierung in Holzminden nicht lange dauern. Die deutsche Regierung entschied nämlich, daß Henri Pirenne und Paul F redericq aus ihren jeweiligen Gefangenenlagern entlassen und beide zu einem Zwangsaufenthalt in eine Universitätsstadt in Mittel- oder Ostdeutschland verlegt werden sollten. Diese Entscheidung war sicher auf die Fürsprache der internationalen wissenschaftlichen Welt und der höchsten akademischen Stellen der neutralen Länder und sogar des Papstes zurückzuführen 57 • Vielleicht hatte auch die Intervention Harnacks und anderer deutscher Universitätsprofessoren hierauf unmittelbaren Einfluß gehabt58 • Pirenne lehnte es ab, das Lager zu verlassen und, unabhängig von ihm, entschied sich auch F redericq für das Lager, in das er eingeschlossen war. Aber die Verlegung nach Jena war nunmehr für beide ein Befehp9. Henri Pirenne verließ das Lager in Holzminden nach dreimonatigem Aufenthalt und nahm die Erinnerung an die völlig neuen Eindrücke mit, die er dort gewonnen hatte. Er schrieb kurz nach seiner Ankunft in Jena an Sam Müller: wFür mich werden die in Holzminden verbrachten Monate sicher der lehrreichste und einprägsamste Abschnitt meiner Existenz bleiben"60. Im Krefelder Lager war er vor allem von den Begegnungen und den Gesprächen mit jungen und älteren Offizieren von starker Persönlichkeit und mit ausgeprägten nationalen Zügen beeindruckt worden. Mit ihnen hatte er, als gehörten sie zur gleichen ideellen Gruppe, das Gefühl der verletzten Würde und des verletzten Stolzes und die Ungeduld im Warten auf die Wiederaufnahme seiner Tätigkeiten geteilt. In Holzminden wurde seine ausgeprägte Beobachtungsgabe nicht durch einzelne Persönlichkeiten oder nationale Besonderheiten angeregt, weil seine persönlichen Begegnungen, von den russischen Studenten abgesehen, beinahe auf seine belgischen Landsleute beschränkt blieben. Aber er fühlte sich von der bunten Schar von Unbekannten betroffen, vor allem von der Kleidung, den Gesten, dem Gang, dem Gesicht leidender, verzweifelter, neurotischer Menschen und von der Würde, die die Masse gegenüber der Ungerechtigkeit und dem Schmerz bewies61 • H. Pirenne, Souvenirs, S. 557 ff. Das wenigstens sagten Pirenne der kommandierende General des Lagers von Holzminden (24. August) und später der ,Kurator' der Universität Jena (4. September); Journal, S. 171-183. Pirenne selbst schrieb in den wSouvenirs" (S. 558), daß einige deutsche Freunde sich an den General von Bissing, Kommandant der Besatzungstruppen in Belgien, gewandt hatten, um ihn zu bitten, die Proteste, die sich um sie herum erhoben, mildern zu können. 59 Journal, S. 171, datierbar auf den 24. August. 60 G. Gerardy, Henri Pirenne, S. 88, Brief an Sam Müller (ebd., August 1916Januar 1917). 61 H. Pirenne, Souvenirs, S. 552. 57
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In Holzminden verdeckten die nationale Tradition, der Sinn für soziale Unterschiede und die Bildung nicht mehr die unmittelbaren menschlichen Seiten dieser Personen noch die Sicht des Historikers, der sie beobachtete. Die Vorlesungen über belgische Geschichte und die Unterstützung der Landsleute aller Bildungsgrade und sozialen Schichten trat natürlich an die Stelle der freundschaftlichen Gespräche, die er in Krefeld mit einer internationalen Elite geführt hatte. In den "Souvenirs de captivite" schrieb Pirenne bezeichnenderweise über seinen Aufenthalt in Holzminden: "Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich wirklich nützlich gefühlt, weil ich, wiederum zum ersten Mal, den Existenzgrund selbst berührt hatte"62. Die Schicksalsschläge, die Pirenne während des Krieges erlitt, weckten sein religiöses Empfinden neu. Er war wie sein Vater ein Liberaler, und gegenüber der Religion hatte er eine - wie wir heute sagen würden - ,laizistische' Position eingenommen. Aber er hatte die etwas aufdringliche religiöse Bildung, die ihm die sehr geliebte Mutter, eine tiefgläubige Katholikin, vermittelt hatte, nicht vergessen6) . Während der Gefangenschaft waren es besonders die familiären Gefühle, die den bejahrten Professor wieder zur Religion hinführten. Diese hatte er bereits mit besonderer Intensität bei dem Trauergottesdienst für seinen Sohn Pierre empfunden, nachdem am 16. Oktober 1915 aus Gent die offizielle Nachricht von seinem Tod eingetroffen war64 • In den Tagebüchern, die Pi renne regelmäßig führte, finden wir Eintragungen wie diese: Am 14. Mai 1916, anläßlich der Sonntagsmesse, der er, kurz bevor er das Lager in Krefeld verließ, beiwohnte, betete er "mit Inbrunst" für seine Angehörigen 65 • Am darauffolgenden 15. August gedachte er im Lager von Holzminden des Geburtstags seiner Mutter und sprach "ein kleines Gebet für sie"66. Die Religiosität, die damals bei Pirenne hervorbrach, hatte einen stark sentimentalen, manchmal fast pathetischen Charakter. Er war von der Einfachheit und der Spontaneität der freiwilligen liturgischen Funktionen in der Gefangenschaft beeindruckt. Am 26. März ergriff ihn der Sonntagsgottesdienst im Krefelder Lager, der - trotz primitiver Mittel- gemäß der Liturgie der großen gesungenen Messe abgehalten wurde. Er bemerkte dabei die Armut des Ambiente, der Einrichtung, der liturgischen Gewänder, die Einfachheit des Geistlichen (eines Landpfarrers) und die unpersönliche Bescheidenheit seiner kurzen Predigt, sowie die zahlreich und in gläubiger 62 Ebd., S. 560. 61 64
65 66
Br. Lyon, H. Pirenne, S. 48 f. Ebd., S. 221 f.
Journal, S. 94. Ebd., S. 166.
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Haltung anwesenden gefangenen Offiziere, deren religiöse Gefühle und Nostalgie er teilte67 • Ähnliche Eindrücke und Gefühle empfand er im Lager Holzminden, als er - an einem "grauen und schweren" Morgen - in die "leere und armselige" Kapelle trat, die eine Baracke war, "leer und dunkel, kaum erhellt durch den schwach leuchtenden Fleck zweier armseliger Altäre"68. Erneut empfand er sie, als er - in einer anderen Baracke - einer Sonntagsmesse beiwohnte, an der vor allem Polen teilnahmen: der zelebrierende Geistliche mit einem langen Gefangenenbart, die Frauen mit Kopftüchern, die ihnen ein "gotisches Aussehen" gaben, einige Damen in kleinbürgerlicher Kleidung. Der Beobachter empfand tief, daß es an jenem Ort es nichts anderes gab als eine seit jeher gelebte religiöse Inbrunst69 • Da die sentimentale Religiosität Pirennes zum Ästhetismus neigte, wirkten besonders die formalen Eindrücke der orthodoxen Liturgie auf ihn, deren kulturelle Bedeutung er auch erahnte. Eine tiefgreifende Erfahrung bedeutete für ihn die Teilnahme an den Gottesdiensten zum Karfreitag und in der Nacht zum Osterfest in der russischen Kapelle von Krefeld. Die Farben der Paramente und der heiligen Gewänder, die feierlichen Gesänge, die Lichter der Lampen und der von den Gläubigen getragenen Kerzen, die Gesten des zelebrierenden Geistlichen, der die Luft erfüllende Weihrauchgeruch, die Prozession des Schweißtuchs und die Kniefälle während des Karfreitags, die Freudenschreie und die Umarmungen und Küsse, die bei der Auferstehung ausgetauscht wurden, erschütterten den belgischen Historiker derart, daß er sich als einziger der anwesenden Ausländer diesen Brüderlichkeitsbezeugungen anschloß. Er notierte dazu in seinem Tagebuch, daß einige russische Offiziere dabei bloß einer Tradition folgten, andere aber besäßen eine authentische mittelalterliche Religiosität. Nachdem er geschildert hatte, daß zum Abschluß der österlichen Zeremonie die russischen Offiziere ihren fremdländischen Kollegen die Hand gegeben hatten, setzte er hinzu: "Es ist soviel Freude im Umlauf! Und der Eindruck, der auf uns wirkt, ist stark. Es ist die Tradition des alten Christentums, die sich, zwischen gefangenen Soldaten, in dieser improvisierten Kapelle manifestiert; und daraus ergibt sich etwas Bewegendes"70.
67 Ebd., S. 39: "L'impression est touchante des prisonniers elevant leur coeur, comme moi sans doute, vers I'eternelle justice et pensant a ceux qui sont leur chers a leur pays".
68
Ebd., S. 113, datierbar auf den 27. Mai.
Ebd., S. 114, datierbar auf den 28. Mai: " ... je ne vois guere la une ferveur d 'habitude" . 69
70
Ebd., S. 68-70, datierbar auf den 21. und 22. April.
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1. Kap.: Die Erfahrung des Krieges
3. Neue Kontakte zur deutschen Gesellschaft: Das Exil in einer Universitätsstadt und in einem abgelegenen Dorf Von der rigorosen Forschung zur kulturellen Revision und zur Synthese: Die Abfassung der "Geschichte Europas" Nachdem er fast drei Monate in jenem Lager verbracht hatte, reiste Pirenne, begleitet von einem Feldwebel, am Morgen des 28. August aus Holzminden per Bahn ab und kam am gleichen Abend in Jena an7l • Nachdem er sich vorübergehend im Hotel einquartiert hatte, begab sich der belgische Historiker am Morgen darauf - wie ihm befohlen worden war - zum Bürgermeister, der ihm sofort mitteilte, er habe Befehl, ihn und Fredericq, der bald ankommen werde, "scharf, aber höflich" zu bewachen und ihnen, im Einvernehmen mit der Universität, alle Erleichterungen für ihre wissenschaftlichen Arbeiten zu verschaffen72• Nachdem er ihm einige Bestimmungen für die Überwachung der beiden Ausländer während ihres Zwangsaufenthalts mitgeteilt und einige Warnungen hinsichtlich ihres öffentlichen Verhaltens ausgesprochen hatte, wies Dr. Fuchs (so hieß der Bürgermeister) Pirenne fürsorglich darauf hin, daß drei seiner Kollegen aus Jena (Alexander Cartellieri, Georg Menz und Alfred Weber) sich zu seiner Verfügung gestellt hätten, und er riet ihm, sofort die akademischen Würdenträger aufzusuchen. Bereits am ersten Morgen seines Aufenthalts in Jena begegnete unser Historiker auf dem Weg zum Bürgermeister dem Mediävisten Alexander Cartellieri, der ein alter Freund von ihm war. Dieser lud ihn sofort für fünf Uhr nachmittags nach Hause ein. Dem Kollegen, der ihn "so gut es ging" empfing, erklärte Pirenne sofort - mit einer polemischen Spitze -, daß er nicht ganz ,seinem' Wunsch entsprechend dort war. Jedenfalls verlief der Besuch sehr freundschaftlich. In einem bestimmten Augenblick zog Cartellieri auch seine Frau hinzu, um das schwierige Problem der Suche einer Privatunterkunft für den Gast zu lösen. Schließlich begleitete er ihn ins Hotel zurück7}. Am nächsten Morgen holte Cartellieri Pirenne im Hotel ab und brachte ihn zur Universität, um die akademischen Würdenträger zu besuchen. Den Anfang machte, da der ,Protektor' nicht da war, der ,Vize-Protektor