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German Pages [338] Year 2015
25 Geschichten von der Stunde Null Inge Jens Willy Brandt Loki Schmidt Freya von Moltke Michail Gorbatschow Armin Mueller-Stahl Maximilian Schell Ralph Giordano Siegfried Lenz Fritz Stern Kurt Masur Joachim Fest Wolfgang Joop Marcel Reich-Ranicki Richard von Weizsäcker Elisabeth Noelle-Neumann Christian Graf von Krockow Hans-Dietrich Genscher Uta Ranke-Heinemann Alfred Neven DuMont Dieter Hildebrandt Esther Bejarano Joachim Gauck Stefan Heym Elie Wiesel Hoffmann und Campe
Als der Krieg zu Ende war 25 Geschichten von der Stunde Null
Hoffmann und Campe
Zusammengestellt von Constanze Neumann 1. Auflage 2015 Copyright © 2015 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg www.hoca.de Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Gesetzt aus der Albertina Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 1SBN 978-3-455-50364-7
HOFFMANN UND CAMPE Ein Unternehmen der
GANSKE VERLAGSGRUPPE
Inhalt
Siegfried Lenz
9
Ich zum Beispiel
Kennzeichen eines Jahrgangs
Esther Bejarano
41
Die Gedanken sind frei
Kurt Masur
49
Pianist im Schloss
Joachim Gauck
55
Etwas Neues hatte begonnen
Ralph Giordano
64
Im Rattenloch
Stefan Heym Ein amerikanischer Sergeant
69
Grabe seines Vaters
Inge Jens
81
Nach dem Krieg
Wolfgang Joop Er verlangte von mir, die Mutter mit ihm zu teilen
94
Armin Mueller-Stahl
99
Wir waren nach 1945 außer Rand und Band
Alfred Neven DuMont
118
Wir sind frei!
Joachim Fest
124
In Kriegsgefangenschaft
Elie Wiesel
137
Zu den Bildern kommt der Lärm Befreiung aus Buchenwald
Christian Graf von Krockow
157
Unterwegs in die Zukunft
Loki Schmidt
179
Ich habe mir nie Zeit genommen, sentimentalen Gefühlen nachzugehen
Überleben nach dem Krieg
Maximilian Schell
216
Jetzt waren wir Emigranten
Marcel Reich-Ranicki
223
Geschichten für Bolek
Michail Gorbatschow
242
Als der Krieg zu Ende ging, war ich vierzehn
Fritz Stern
256
Als es kein Deutschland gab
Freya von Moltke Die letzten Monate in Kreisau
266
Richard von Weizsäcker
278
Kriegsdienst bis zum Ende
Elisabeth Noelle-Neumann
284
Romeo und Julia nach dem Kriege
Hans-Dietrich Genscher
289
Das Schicksal war gnädig mit mir gewesen
Dieter Hildebrandt
304
Erinnerungen an den Endsieg
Uta Ranke-Heinemann
309
Der BDM-Keller im Hause meines Vaters Meine Jugenderinnerungen an die Hitler-Zeit
Willy Brandt
322
Mai 1945
Nachweise
333
Siegfried Lenz Ich zum Beispiel Kennzeichen eines Jahrgangs
Man kann nicht gleichzeitig mit der Welt groß werden, sie ist immer schon da wie die Erwachsenen, sie ist eine anmaßende, aber vollendete Tatsache, hält nur einen Inhalt für uns be-
reit, eine Rolle, einen Charakter womöglich. Das war auch am
17. März 1926 der Fall, als ich geboren wurde, als ich unter ordentlichen Seufzern und Hoffnungen auf eine Welt kam, die
ich weder übersehen noch zurückweisen konnte, denn sie war
schon da. Die kleine Stadt Lyck war schon da. Man nannte sie bereits die >Perle MasurensDas Leben von Hermann Göring ׳und machten uns mit Büchern von Erich Kästner bekannt. Auch an meiner
Schule gab es Pädagogen, die sich nicht abfanden, die sich mit den andern auseinandersetzten - wobei der Schnittpunkt der
Auseinandersetzung in uns lag, in den Schülern. Längst war neben dem Bild von Hindenburg, der trübe und gedankenlos auf uns herabblickte, das Bild von Hitler aufgehängt worden. Es war
eine Fotografie, die ihn unter Pimpfen zeigte: Hitler scherzte mit
seiner zartwüchsigen Gefolgschaft. Der höchste gewalttätige Pimpf fühlte sich offensichtlich wohl unter »seinen« Mitpimpfen, die darüber aufgeklärt waren, daß sie seine persönliche
Freude vermehrten, wenn sie weiter werfen, schneller rechnen, 15
länger laufen und besser singen konnten. So blieben unsere
verbesserten Leistungen zumindest nicht unbemerkt und nicht ohne Folgen. Bei Schulfesten, bei Sportkämpfen, bei der Erntehilfe galt demnach jede besondere Anstrengung offiziell der
Mehrung seiner Freude.
Das zu tun hatten sich augenscheinlich auch etliche unserer Lehrer entschlossen, sie erfreuten ihn, indem sie zu Reserve-
Übungen einrückten, die natürliche Erhabenheit des Kätheders gegen die zugige Kühle der Kasernen tauschten, und zwar
gleichzeitig, plötzlich, wie auf Verabredung. Das schien mir um so weniger verständlich, als die ganze Stadt schon voll von Sol-
daten war. Sie biwakierten auf dem Rennplatz. Sie hielten jedes
freie Bett in den Privatwohnungen besetzt. Am Bootshaus, auf den Straßen, auf unserm Schulhof, überall dampften ihre Feldküchen und überzogen die Perle Masurens mit einem deckenden Geruch von Erbsensuppe. An den Brücken waren Kanonen
in Stellung gegangen, und unsere Greise und Invaliden sprachen mit den Soldaten, entsannen sich ihrer Taten, nicht ihres
Unglücks. Pioniere flitzten in flachen Booten überden Lyck-See,
betäubten die Tochter des schwarzen Fischkönigs mit Handgranaten, brieten und aßen sie. Es war ein glühender, elektrisch geladener August; immer mehr Soldaten strömten in die Stadt,
kampierten und wachten, und die Bänke in der Schule waren in diesen Tagen heiß und voller Splitter; wir konnten das Ende des
Unterrichts kaum erwarten, stürzten nicht nach Hause, um mit Robinson Crusoe eine Palisadenwehr zu errichten, mit LederStrumpf zu streifen oder Winnetous feucht gewordenes Pulver
zu trocknen; wir stürzten vielmehr zu den Kanonen, Sturm-
booten und mobilen Funkstationen, in denen die Chiffren des Unheils aufgefangen und knisternd weitergegeben wurden.
Ich war dreizehn Jahre, als der Krieg begann: ein Schüler, ein 16
Pimpf, ein geduldiger Spaliersteher, der keine Zwischenfragen
stellte, der auf Handzeichen jubelte, als sei Jubeln so etwas Sachgemäßes wie Essen. Mit fünf, mit sieben, mit neun Jahren hatte ich mir hinter der spanischen Wand meiner Phantasie eine Rol-
le zugelegt; ich hatte Vorstellungen von Dingen, die getan werden mußten; es schwindelte mir angesichts der Möglichkeiten, die es für mich als Kosaken-Hetman gab. Mit dreizehn hatte ich
die träumerische Tollheit unerhörter Einzelaktionen hinter mir,
mit denen ich die Welt zu korrigieren hoffte. Man hatte mich zu äußerlichem Gehorsam bekehrt. Ich begann einzusehen, daß man lernen muß, zu verstehen, bevor man handelt. So wurde ich zum minderjährigen Spaliersteher verurteilt.
Während von der nahen Grenze der Geschützdonner zu uns
herüberdrang, dem meine Großmutter mit erbitterten Chorälen antwortete, stand ich im erregten Spalier der Lycker und be-
obachtete die Soldaten, die heiter das Nachbarland überfielen, die fröhlich und selbstgewiß, aber auch hochmütig vorbeizo-
gen, beschenkt und mit Blumen dekoriert, siegessicher wie alle Soldaten zu Beginn, wohlgenährt, rasiert natürlich. Panzerwa-
gen zogen drohend vorbei - zum phantastischen Rendezvous
mit der besessenen polnischen Kavallerie. Pioniere mit Sturm-
booten und Pontons zogen vorbei. Flugzeuggeschwader flogen südwärts über die Stadt. Ich dachte an die Holzflößer, von de-
nen ich soviel gelernt hatte: galt dieser entsetzliche Aufwand ihnen? Richtete sich die hochmütige Heiterkeit der Soldaten
gegen die polnischen Landarbeiter? Wollten sie die listigen
polnischen Bauern bestrafen, die uns zu Weihnachten Gänse schickten? Jede Frage richtete sich gegen mich selbst. Winken war leichter, erträglicher, vorteilhafter, und so stand ich am Tag, an dem der Krieg begann, am Rand der Straße und winkte dem
feldgrauen Unglück zu. Ich beklagte nicht, was ich sah, ich war 17
nicht erschrocken, ich fragte mich nicht, wie alles ausgehen wird, ich hatte weder den Wunsch, mich zu verleugnen, noch die Phantasie, mich zu fürchten: ich fühlte mich einfach nur unentbehrlich als Zuschauer. Damit hatte ich mein Leben dem
Zufall entrissen. Ich hatte eine Tätigkeit, wenn auch ohne Ziel,
und diese Tätigkeit übte ich auch aus, nachdem meine Familie nach Braunsberg gezogen und ich in eine Internatsschule ge-
kommen war. Es genügte mir in dieser Zeit, die Welt von außen zu empfangen, mir lag nichts an eigenen Wirkungen, ich kann-
te mich in den Ereignissen wieder, die der Krieg mit sich brachte.
Der Krieg nahm alles für sich in Anspruch, er bewohnte uns. Meinen Schulkameraden ging es nicht anders.-Jeder hatte einen Vater, einen Bruder, einen Schwager im Krieg - aus Paris kamen
Pakete mit betörender Seife, aus Polen trafen Schmalzkonserven ein, aus Norwegen dunkelroter Rentierschinken und aus Griechenland Korinthen; der Krieg war fern und ging gut und
verlief allem Anschein nach rentabel. Wir schmeckten den Krieg zunächst aus Paketen. Wir hörten
ihn im Radio, sahen ihn mit seinem jungen Triumph in der Zeitung. Wir nahmen den Krieg zu uns bei der Lektüre geschwind
verbreiteter, wohlfeiler Heldenliteratur: da empfahlen sich die
Bezwinger der Maginotlinie und die unbedenklichen Dreinschläger von Narvik; Kapitänleutnant Prien lockte uns nach Scapa Flow, und ein Stoßtruppführer Geiger suchte uns für die Möglichkeiten des Flammenwerfers zu begeistern. Es war nicht
selbstgenügsames Heldentum, was sich da aussprach, präsentierte und spreizte; das Heldentum sollte als Reklame wirken, es
war eine Annonce für den Krieg, und wir sollten der überreden-
den Wirkung erliegen. Es gab aber nicht nur diese Annoncen, es gab auch Reklamereisende für den Krieg, junge, enthusiastisehe Invaliden, hochdekoriert und erträglich verstümmelt; sie
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kamen in Offiziersuniform in unsere Schule, schoben die Leh-
rer zur Seite und machten uns, die wir längst erwachsen waren, geschwind wieder zu Kindern, indem sie uns ein unerhörtes Spielzeug anboten: Panzer, geballte Ladungen, Stukas, U-Boote
und den bräutlichen Karabiner. Aus frischer, aus heiterer, aus verzückter Erfahrung erzählten sie von den Genugtuungen, die
dieses Spielzeug ihnen gewährt hatte. Sie ließen uns teilhaben: wir saßen auf und fuhren auf Panzern in ein polnisches Abend-
rot; erregt beobachteten wir im ausgefahrenen Sehrohr den
ahnungslosen Konvoi; wir stürzten uns auf niederländische Brücken, ließen französische Bunker erzittern, trieben Gefan-
gene zusammen und waren mit der Furcht einverstanden, die fremde Zivilisten vor uns empfanden.
So wurden wir vorbereitet. So wurde unsere Ungeduld entfacht, und wir übersahen die kosmetisch verdeckte Invalidität
des Lobredners und sorgten uns auf einmal, daß der Krieg aus und vorbei sein könnte, bevor wir Städte erobert, Schiffe ver-
senkt und bedeutende Brücken zerstört hatten. Es gab viele
unter meinen Schulkameraden, die diese Sorge hegten, die bedauerten, noch nicht sechzehn oder siebzehn zu sein, um sich freiwillig melden zu können. Da half nichts. Das resignierte,
ironische Lächeln meines Deutschlehrers blieb ohne Wirkung und die riskanten Kommentare des Lateinlehrers. Auch die Tatsache änderte nichts, daß die Gedenktafel für gefallene Schüler eines Tages nach unten zuwuchs und es sich als notwendig her-
ausstellte, eine zweite Gedenktafel zu enthüllen. Wir konnten sie betrachten, ohne das Notwendige zu denken, wir wandten uns ab und starrten auf die Europakarte, auf der mit Wollfäden
und Stecknadeln die Front des Triumphes und des Unheils mar-
kiert war. Manchmal war ich an der Reihe, den Frontverlauf nach 19
neuestem Stand zu bezeichnen, und ich ärgerte mich, daß ich
den Wollfaden nie über Leningrad hinausschieben konnte. Le-
ningrad störte mich besonders, weil es widerstand und mich zwang, eine komplizierte Bucht zu stecken. Dafür war ich in
Nordafrika großzügig, dort machte mein Wollfaden Geländegewinne nach Herzenslust, ebenso im Kaukasus und in der
staubigen Einöde der Kalmückensteppe; hier stieß ich vehe-
ment vor und legte mitunter schon die Etappen der Eroberung für den nächsten Tag fest. Der Geographielehrer, der die Karte täglich überprüfte, zwang mich nie zu einer Korrektur, und mein Deutschlehrer merkte es nicht, da er immer nur blicklos
an der Karte vorbeiging, mit einer milden, ganz und gar träu-
merischen Geringschätzung. Heute ist mein alter Deutschleh-
rer Lehrer für Russisch in der DDR: ein leichter, zartwüchsiger, manchmal verschmitzter Pädagoge, dessen Lächeln für jede lehrhafte Behauptung sogleich um Entschuldigung bittet. Er infizierte mich mit Literatur. Er kontrollierte meinen Lektüreplan.
An dem Tag, an dem mein Pimpfendasein endete und ich
in die »Hitler-Jugend« überwiesen wurde, saßen wir wie so oft
beim Tee in seinem Haus, drei Schüler und er, und scheu, hän-
dereibend interpretierte er die Ringerzählung aus »Nathan« oder die »Buddenbrooks« oder »Raskolnikow« oder »Deutschland, ein Wintermärchen«.
Am stärksten wurde ich ergriffen, wenn er von Schriftstellern erzählte. Fast jedes Werk sah er vor dem biographischen
Hintergrund seines Schöpfers, jede Dichtung war für ihn ein
Ausgang aus biographischer Not. Worunter litt der Autor, als er dieses oder jenes Werk schrieb? Das war die Frage, die niemand
zu stellen unterlassen durfte, der Aufschluß verlangte. Balzacs
chronischer Geldbedarf, Dostojewskis sozial-religiöse Visionen, Heinrich Manns kunstvolle Klagen über die Gesellschaft - alles 20
erhielt einen biographischen Leidensgrund; die Schriftsteller hörten auf, glorreiche, körperlose Gespenster zu sein, sie litten
offenbar, um schreiben zu können. Mein Deutschlehrer rief sie
ins Zimmer, preßte ihnen sanft Bekenntnisse ab, und in dem Augenblick, da sie ihre Leiden bekannten und zu Belastungszeugen ihrer Zeit wurden, verlieh er ihnen traurig die höchste
Note und bestätigte ihre Mission, »dem Unglück Worte zu verleihen«. Er hielt lediglich das für Wahrheit, was die Schriftsteller leiden ließ; und da sie in seinen Augen unentwegt litten, sah er ihnen nach, daß sie bemüht waren, sich mitunter ein wenig Behaglichkeit in ihrem Ungemach zu verschaffen. Sie durften
heiter im Unglück sein. Sie durften vergnügt die Untauglichkeit
des Menschen für die Welt proklamieren. Nichts sprach gegen sie, weder Charakter, Alkoholverbrauch, interessante Verblendüngen noch Liebesaffären - nur mußten sie an der Welt beredt
Anstoß genommen haben und in der Lage sein, ihren Schmerz
einzigartig zu formulieren. Wenn diese Voraussetzung erfüllt
war, nahm mein Deutschlehrer sie an seine schmächtige Brust und sprach sie von allen Irrtümern und Verfehlungen frei. Am gleichen Abend schrieb ich unschuldig mein erstes Gedicht
in Prosa, es war den wilden Schwänen des Lyck-Sees gewidmet, die ich als flammende Glückskometen aus einer Nachtwolke
herabstürzen ließ, zum Trost der Gefangenen auf der Halbinsel; mein vorsorglicher Anspruch auf eine Zukunft als Schriftsteller war damit angemeldet.
Doch ich verlor die Zukunft schon über Nacht wieder aus den
Augen. Ich hatte alle Hände voll zu tun, um der maßlosen Ge-
genwart zu genügen: ich übersetzte aus dem Gallischen Krieg und trieb mich mit dem Hilfskreuzer »Atlantis« im Indischen
Ozean herum; ich paukte unregelmäßige Verben und machte einen Vorstoß auf Stalingrad; in kurzen Hosen bestätigte ich
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am Vormittag Euklid und startete in der Dämmerung zu einer
eleganten Patrouille mit den Nachtjägern. Eine Jugend im Krieg steht unter einer besonderen Spannung: obwohl man sich allen
Helden überlegen fühlt, muß man sich mit einem Ersatz-Heldentum in der Einbildung begnügen. Man ist da in der Lage des
verletzten Fußballspielers, der von der Reservebank das Spiel
seiner Mannschaft verfolgt: zwar läuft alles zufriedenstellend, aber doch beileibe nicht so erfolgreich, wie alles liefe, wenn das
eigene kribbelnde Bein dabei wäre. Wir saßen auf der Reservebank des Krieges. Man hatte uns beigebracht, im Sieg der Mann-
schäft den individuellen Sieg zu erblicken. Wenn wir einstweilen auch noch aus der Arena ausgeschlos-
sen waren, das Training blieb uns nicht erspart: in den Ferien
- und nicht nur in den Ferien - schickten sie uns in Lager. Es
waren »Wehrertüchtigungslager«, die Ausbilder waren hoch-
dekorierte, von Verwundungen genesende Unteroffiziere; die Gewehre waren richtige Gewehre, die Handgranaten richtige
Handgranaten. Nachsichtig erklärten uns die Ausbilder den Gebrauch der Waffen. Sie gaben sich nicht sehr viel Mühe mit
uns. Sie verzichteten vor allem auf Schikane und Demütigungen als Erziehungsmittel. Was mich am meisten beeindruckte, das war ihre unerhörte Müdigkeit: sie schliefen sitzend
beim Heimabend, schliefen beim Geländespiel, und wenn wir Übungsschießen hatten, übernahm ein Ausbilder die Aufsicht,
während sich die vier anderen unter einen Wacholderbusch legten und schliefen. Als wir wieder zur Schule zurückkehrten, de-
monstrierten auch wir eine unbesorgte Müdigkeit, wir trugen sie zur Schau wie das Abzeichen eines Ordens.
Die Schule ging weiter, obwohl der Krieg draußen anschei-
nend nicht mehr so rentabel verlief; wir merkten es zuerst an der Seife, am Internatsessen, am grauen Papier der Schulhefte,
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und ich merkte es augenfällig, wenn ich den roten Wollfaden
des Triumphes hinter Tobruk oder Charkow zurücknahm, oder wenn ich den Kaukasus räumte und auf das ausdauernd widerstehende Leningrad gar nicht zu blicken wagte. Wie es um den
Krieg stand, bewiesen auch die häufigen Sondermeldungen. Manchmal eröffnete ein Lehrer den Unterricht mit der Wieder-
gäbe einer Sondermeldung: pünktlich zur Physikstunde waren
abermals sechsundzwanzigtausend Tonnen Schiffsraum im
Atlantik versenkt worden; das gab Aufschwung für die schriftliehe Arbeit über die Gravitation. Verliefen die Schuljahre in die-
ser Zeit auch konfliktlos, so verliefen sie doch nicht ereignislos.
Da der Krieg bereits so lange dauerte, daß wir uns an ihn gewohnt hatten, ließ er durchaus das Ereignis der ersten Liebe zu.
Des schwarzen Fischkönigs goldschuppige Tochter war längst
ein Opfer der Pioniere geworden, ich mußte mich anderweitig umsehen; und ich tat es mit diskreter Geschicklichkeit auf
dem Sportplatz, an milden Trainingsabenden, den Speer in der
Hand, mein Lieblingsgerät, das ich zur Freude des allerhöch-
sten Pimpfes schon vierundfünfzig Meter weit geschleudert hatte und eines Tages fünfundfünfzig Meter weit zu schleudern hoffte. Da ich mich selbst nicht genug liebte, hatte ich wohl den
Wunsch, von einem andern freimütig und kurzweilig geliebt zu
werden: so geriet ich an die Hochspringerin. Sie war zäh, busenlos und intelligent, was mich allerdings weniger beeindruckte als die Tatsache, daß sie in schwebendem, seltsam verzögertem
Rollsprung regelmäßig über einmeterachtundvierzig kam und sich eines Tages auf einmeterundfünfzig zu steigern hoffte. Außerdem war sie Führerin, befehligte zwölf zottelhaarige oder
bezopfte Geschöpfe ohne Geschlecht. Wir verglichen unsere
Trainingsmethoden und kamen uns dabei näher. Ich fuhr sie auf dem Fahrrad nach Hause. Ich hörte ihr im Wald unregelmäßige 23
Verben ab. Ich holte sie zum Schwimmen ab und hatte es ganz
gern, wenn ihr dunkles, kurzes Haar lackglänzend im Nacken klebte. Es dauerte lange, bis ich merkte, daß ihr Lieblingswort
»Pflicht« war. Sie sagte etwa: »Wir haben die Pflicht, dafür zu
sorgen, daß die Menschen Europas wieder hell lachen können«, und es kamen ihr keine Zweifel bei solch einem Satz. Alles war
für meine Hochspringerin ein Akt der Pflicht: das abendliche Training, die Feldpostbriefe, die sie an ihre drei Brüder schrieb, die Schularbeiten, das Zähneputzen, und als ich sie zum ersten
Mal küßte, nahm sie es gewiß als sachliche Pflicht - freilich bat sie darum, nicht in Uniform geküßt zu werden. Die Briefe, die sie mir später schrieb - und die ich heute noch besitze -, zeig-
ten mir, daß es eine Zuneigung aus Pflicht geben kann, daß ein
bedächtig waltender Eros der Pflicht die Gefühle so beherrsehen kann, daß jeder Verrat aus Leidenschaft ausgeschlossen
ist. Wenn alles eine Verpflichtung ist, haben die gefährlichen Wonnen der Wahl ausgespielt. Mitunter, oft sogar, habe ich den
Komplex, mir meine Jugend vom Leibe halten zu müssen, und ich glaube heute zu wissen, daß meine erste Liebe ihren Teil
dazu beigetragen hat.
An den Fronten hatten sie sich anscheinend totgesiegt, immer
häufiger wurden die Sondermeldungen, Ruhmestaten, Heldengesänge, unablässig brachten wir der gegnerischen Welt Niederlagen bei, und wo immer sich ein Stalingrad ereignete, ging es zu
unseren Gunsten aus. Da war es eines Tages nur selbstverständ-
lieh, daß sie keine Rücksicht mehr auf unser Alter nahmen: weil sie in siegreicher Not waren, erließen sie mir die Prüfung zum
Abitur. Sie bescheinigten mir die Reife auch ohne Examen. Sie überreichten mir ein Zeugnis, das für sich sprach: alle Zensuren
waren um mindestens eine Note aufgebessert. Sie waren von Mitleid inspiriert, von Abschiedsschmerz, vielleicht auch von 24
schlechtem Gewissen; ich war durch die Kriegslage zu einem
vielseitig begabten Schüler geworden, der, wenn er fallen sollte,
zumindest das Abitur besaß. Mein Deutschlehrer, dergleichzeitig mein Klassenlehrer war, hatte meine Freude über das famose
Zeugnis befürchtet, und er kam noch vor der Abschiedsfeier zu
mir, zögerte lange, scheu und händereibend, aber dann sagte er doch: »Dein Zeugnis ist ein Geschenk - an den Soldaten, nicht an den Schüler. Beherzige das.« Es war einer der unbarmherzig-
sten Ratschläge, die ich je erhielt.
Endlich war ich dabei; die Zeit des Spalierstehens, Winkens,
der tatenlosen Jahre war vorüber; mit siebzehn holten sie mich,
weil sie mir die Schule nicht mehr zumuten wollten und weil sie gewiß glaubten, daß ich ihnen zum Sieg verhelfen könnte. Ich verstärkte ihre Marine, und ich weiß noch: auf der Fahrt in die kleine pommersche Garnison, beim Anblick des stillen, unzer-
störten Hafens wiederholte sich ein kindlicher Traum, den ich
schon einmal an den verlassenen Ufern des Lyck-Sees geträumt hatte: ich hielt mich für einen Favoriten des Wassers, der Mee-
re, für einen ausgemachten Günstling der einflußreichen Wassergeister, und ich glaubte mich in der Lage, zunächst Ost- und
Nordsee, dann alle anderen Ozeane von den Schiffen unserer
Gegner unnachsichtig zu reinigen. Seit dem Märzmorgen, an dem ich durch das Eis des Lyck-Sees brach, hatte ich eine beson-
dere Beziehung zum Wasser-eine Art dämmerndes Heimweh verbindet mich mit ihm, ein sanfter neurotischer Eros beginnt
wirksam zu werden, sobald ich unter die Oberfläche tauche; es
gab schon Augenblicke, da hielt ich mich für einen masurischen, rundköpfigen Bruder Undines. Märchenwelt, reglos gespiegelte
Kindheit, der Genuß dunkler Erwartungen, die Schönheit der
Fische, die Verheißungen des Horizonts: vieles kommt zusam-
men, und ich habe oft in arglosem Pathos geglaubt, daß ich 25
mich auf dem Wasser würde bestätigen müssen. Ich sah mich als Boot, durchschnitt mit meinem Bug die Wellen, und die ein-
zige Lebensspur, die ich zurückließ, war die schaumige, sacht
sterbende Linie des Kielwassers. In trüber Voraussicht erkannte
ich, daß ich meine Höchstleistung auf dem Wasser vollbringen würde.
Mit Pappkarton und Stellungsbefehl meldete ich mich bei der
Marine und griff aus meinem bevorzugten Element in die kriegerischen Geschehnisse ein - oder, nach dem Niveau meiner
damaligen Erfahrung, in das Kriegsspiel. Ein Zeichen des Spiels
ist es ja, daß der Ernstfall geleugnet wird, und ich ertrug gelassen die Schikanen der Grundausbildung, schenkte den Quäle-
reien und Demütigungen einstweilen keine Beachtung, alles war für mich ein Spiel, zumindest ein unerläßliches Vorspiel,
und deshalb stieg ich in die Regentonne, wie ein Ausbilder es befahl, hob, wie er’s befahl, von Zeit zu Zeit meinen Kopf über den Tonnenrand und rief über den Platz, zu erstaunten Zivilisten draußen auf der Straße: »In mir hat die Marine einen guten
Fang gemacht.« Kein gravitätischer Ehrbegriff empörte sich da, ich hielt mich wirklich für einen guten Fang der Marine, und
deshalb war ich weder gekränkt noch beleidigt; denn was mich
mit siebzehn beschäftigte, das waren weniger vorgestellte Konflikte, Ängste, Passionen, als reale Ereignisse. Und ich begeisterte mich für die Wirklichkeit, weil sie mir als Spiel erschien: ich lernte das Flaggenalphabet, ich lernte winken und morsen. Un-
geduldige Ausbilder, die die Sprache der Ausbildungsfibel sprachen, brachten mir Knoten und Spleißen bei, ließen mich Kut-
ter segeln und Boje-über-Bord-Manöver fahren, unterrichteten mich im Zurren der Hängematte und im Gebrauch der Boots-
mannspfeife. Ich ergab mich dem trübseligen Fernweh der Shanties, die wir abends sangen. Mit dem Kompaß wurde ich
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intim. Ich lernte Nähen, Waschen, Haareschneiden, erwarb mir Kenntnisse über das Grußzeremoniell fahrender Schiffe, über
Rangabzeichen, Schiffstypen und Bestattungen auf hoher See. Ich zweifelte nicht, daß dies alles zur günstigen Entscheidung des Krieges nötig sei; vor allem war ich still davon überzeugt, daß meine künftigen Heldentaten, die ich für die Marine vollbringen wollte, nur mit Hilfe solider seemännischer Kenntnisse
möglich waren. Trotz dieser Kenntnisse blieb ich ein Ich ohne
Inhalt, ein emsiger Seemann ohne Tätowierung, ein sogenannter blauer Junge aus dem Bilderbuch, dessen einzige Hygiene in
»Körperpflege« bestand. Die Diktate der Erfahrung fanden erst
später statt. Ich hatte noch nicht gemerkt, daß jedermann zustieß, was einem einzelnen widerfuhr. Die viermonatige Ausbildung ging vorüber, ich erhielt mein erstes Bordkommando, und ich entsinne mich einer angeneh-
men Erregung beim Betreten des Decks: ich war an dem Ort,
der eines Tages stummer Zeuge meiner Heldentaten werden würde. Es war ein schwerer Kreuzer, auf den sie mich kommandierten, die Engländer nannten seinen Typ geringschätzig
»Westentaschen-Schlachtschiff«, denn seine Bewaffnung stand in katastrophalem Mißverhältnis zu seiner Panzerung und Ge-
schwindigkeit: mein Gott, mir machte das nichts aus! Und wenn
man mich auf eine Dschunke kommandiert hätte - ich besaß nautische Kenntnisse und die glänzende Ahnungslosigkeit, die Heldentum ermöglicht. Angst ist die unschuldigste Form der
Reife, und sie besaß ich nicht; vor dem grauen Riesenspielzeug
wurde ich zum zweiten Mal zum Pimpf: ich befand mich auf dem nassen Kriegspfad, ein Lederstrumpf zur See. Um mich zu legitimieren, mußte ich etwas vollbringen, doch ich erhielt keine Gelegenheit dazu: das graue Ungetüm, das
einstweilen nur im gefahrlosen »Idiotendreieck« Swinemünde 27
Bornholm-Gdingen kreuzte, erwies sich auch nur als Stätte
der Ausbildung: ich wurde Ladenummer an einem FünfzehnZentimeter-Geschütz, wurde Kuttergast, erhielt eine Feuer-, Gefechts-, Wach- und Abblendrolle, und die einzige Möglichkeit, mich hervorzutun, bestand bei Schuhappellen, bei Kleider-,
Spind- und Sauberkeitsappellen. Da ist es verständlich, wenn ich mich nicht genügend beansprucht fühlte; in mir schlief
Lord Nelson, dem sein Trafalgar vorenthalten, vielleicht sogar geraubt wurde. Ich wußte nicht, daß man mich der letzten Reserve zugeteilt hatte, die in einem unvermuteten, späten Augen-
blick für strahlende Überraschungen sorgen sollte. Der Augenblick kam. Er kam bald - und anders, als ich es
gedacht hatte - nach dem Tag, an dem die Besatzung auf die Schanz befohlen wurde und der Kommandant von einem Attentat sprach. Er sprach im Seewind. Es hatte da ein Attentat auf
den sogenannten Obersten Kriegsherrn stattgefunden, unzufriedene Offiziere hätten da eine Bombe, die Fäden bis nach Ber-
lin, die Bombe sei hinter dem Rücken der ganzen kämpfenden Front, aber er lebt, denn der Herr oder die Vorsehung oder ein Flügel des Engels des Herrn, weil wir ihn brauchen, mit ihm für
Deutschlands Sieg, und aus Dankbarkeit und aus Freude, aus Stolz würden seine Soldaten nicht mehr militärisch, sondern
mit dem deutschen Gruß, mit seinem Gruß grüßen und ihr Le-
ben noch freudiger ... An diesem Tag stürzte ich aus einer Illusion, ich entdeckte, daß sich der Mann, in dessen Dienst ich als Heldenlehrling stand, nicht auf allgemeine Zustimmung berufen konnte, daß man an ihm zweifelte und offenbar sogar Gründe hatte, ihn zu
töten. Ich erfuhr zum ersten Mal, daß man ihm widersprach also gab es nicht das Wunder eines kollektiven Gehorsams. Man hatte ihm hier und da das Vertrauen entzogen; das schien
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mir sehr bedeutungsvoll: ich mußte ihn von nun an beobachten, ich empfand eine neue Art der Aufmerksamkeit für ihn.
Sein Krieg erinnerte sich endlich an mich: wir erhielten über-
stürzte Einsatzbefehle, dampften dorthin, wo man in Bedräng-
nis war, und man war überall in Bedrängnis: nächtliche Kriegsmärsche, U-Boot-Alarme, Angriffe sowjetischer Bomber und
Torpedoflieger, dekorative Fontänen bei Artillerieduellen über lange Distanz, gemächliches Kreuzen vor Inseln und Küsten mit gelegentlichen Bombardements, Geleitschutzfahrten, Beschießungen sowjetischer Panzeransammlungen: sie gaben mir
einen Krieg, doch dies war nicht der Krieg, den der minderjährige, heimliche Admiral, der meinen Namen trug, sich gewünscht hatte. Was hatte ich mir gewünscht? Einen Spielzeugkrieg viel-
leicht, in dem alle mitspielten: die Schiffe spielten versenkt, die
Verwundeten spielten nur Verwundete, und die Toten spielten nur Tote, so wie ich es einst als Kind getan hatte auf den sandi-
gen Exerzierplätzen von Lyck. Ich war ratlos, ich war fassungs-
los und war verzweifelt, denn die Schiffe, die einmal versenkt
worden waren, erhoben sich nicht vom gleichmütigen Grund
der See; das Stöhnen der Verwundeten erfüllte die Decks und war wirklich, und die Toten stiegen nicht übers Fallreep an Bord zurück. Eine Gelegenheit zum unblutigen Erwerb von Ruhm
gab es nicht. Ich bekam keinen Gegner zu Gesicht, er schickte
nur seinen Tod herüber, so wie wir unsern weitreichenden Tod
zu ihm schickten, und ich sah die Wirkungen auf unserer Seite: ich hatte sie nicht begehrt. Zuerst dachte ich, endlich erlebe ich etwas; dann, mitten in der Arena, mitten in den Wirren und
Untergängen und Katastrophen, verlor ich meine Arglosigkeit,
und die Erlebnisse hinterließen einen hellen Schrecken und einen unbekannten Schmerz. Wir liefen in den Seekanal nach Königsberg ein. Wir verlän
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gerten das Sterben in der Festung Königsberg, indem wir den Verteidigern mit unseren schweren Geschützen halfen. Wir stellten Landkommandos, die auf Schneefeldern, auf vereisten Piers Verwundete bargen. Wir fuhren auf kleinen Schlitten
Tote zum Pillauer Friedhof und begruben sie nicht: wir mußten an Bord unseres Schiffes zurück, wo Schuh-, Kleider- und
Spindappelle angesetzt waren. Ein alter sächsischer Seemann lenkte meinen Blick auf Hitlers Bild und sagte: mit dieser Visage zum Sieg, Kleiner - und ich protestierte nicht, die Bemerkung
lähmte mich nicht, ein ruhiges Mißtrauen hatte mich bereits unterwandert. Ich war ein Gefangener des Augenscheins. Ich
mußte die Tode anerkennen, die Verzweiflung der Flüchtlingstrecks, die Schiffstragödien. Ich konnte nicht wegsehen von
treibenden Trümmern, von flammenden Parolen, von Gehenkten in kahlen Bäumen und den Spieren gesunkener Lazarett-
schiffe, die schwarz über der winterlichen Einöde der Ostsee standen: der Augenschein veränderte mich. Solange ich darauf aus gewesen war, blitzenden Ruhm zu erwerben, hatte ich
den Tod als schüchternen Abteilschaffner angesehen; nun, da er mich umgab, erschien er mir als versteinerter Chef, der nur
den Zeigefinger auszustrecken brauchte, um alle Hoffnungen zu zerstören. Ich denke, wir waren sein Flaggschiff: der letzte intakte schwere Kreuzer, der noch in der Ostsee schwamm, und ich
tat Dienst auf ihm. Ich ging U-Boot-Ausguck, ich verrichtete die Arbeit einer Ladenummer, ich fuhr nächtliche Kutterma-
növer und lernte, im Stehen zu schlafen. Ich erwarb mir die
redliche Müdigkeit, die ich bei meinen Ausbildern im Wehrer-
tüchtigungslager so bestaunt hatte. Die Kette der Erinnerung
ist nicht gebrochen: Bilder von hastiger Munitionsübernahme bei Scheinwerferlicht tauchen auf, bissige Angriffe sowjetischer
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Schlachtflieger, riskante Zickzackfahrten und vorbeiflitzende
Torpedos, und dann ein klarer Wintermorgen, gepfiffene Kornmandos, der alte sächsische Seemann, den der Bordwachtmei-
ster vor versammelter Besatzung verhaftete wegen »Zersetzung der Wehrkraft«: er hatte mit einer Bierflasche nach Hitlers Bild
geworfen.
Ich fragte mich: welche Rolle spielte Hitler selbst dabei, und ich wußte es nicht, ich erfuhr nur die Auswirkungen seiner
unbeweglichen, unvergleichlichen Rachsucht. Lord Nelson in mir starb einen unbemerkten Tod, und Lady Hamilton, die aus
Pflichtgefühl den Hochsprung trainierte und mir unverzagte Feldpostbriefe schrieb, empfing überrascht meinen formulier-
ten Zweifel.
Wir brauchten zum Krieg nichts dazuzutun, er hatte seine ei-
gene Dramatik, er war in seiner Weise vollkommen als vollkommenes Grauen, das Inferno als Form, der Wahnsinn, der nach letztem Ausdruck verlangte, und wer wollte, wer Zeit, Klarheit
oder Herz besaß, konnte sich in ihm erkennen. Er konnte sich und seinem Werk begegnen in verstümmelten Körpern, in der
Tränenlosigkeit der Kinder, in untergegangenen Schiffen. Der Krieg ist eine Sache des Menschen, in der er sich wiedererken-
nen kann: unter Schlägen und Leid findet er sein deformiertes Bild.
Mein Schiff ging im Bombenhagel unter, und mit ihm die Fünfzehn-Zentimeter-Langrohr-Geschütze: die Ladenummer hatte ihre Arbeitsstelle eingebüßt, ich durfte an Land. Hin-
und hergeschoben, von neuem ausgebildet an modernen Minen, modernen Torpedos und ich-weiß-nicht-was, bis zuletzt gedrillt und quälend beschäftigt mit Aufgaben, die nie erfüllt werden konnten, da Erde, Luft und See verloren waren, wofür
wir weiterhin feierlich und schikanös trainiert wurden: da mie
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teten sich Kafka und Ionesco in meinen Krieg ein, und Professor Parkinson fand die blendende Bestätigung seiner Lehrsätze. Ich
lernte die Paradeaufstellung auf Schiffen, und wir hatten keine Schiffe mehr, man brachte mir die Bedeutung des geschossenen
Saluts bei, doch wir besaßen keine Salutkanone, sie unterrichteten uns über die Behandlung von feindlichen Schiffbrüchigen
auf hoher See, und wir selbst waren zumindest symbolisch die
Betroffenen. Kein Stillstand, kein Atemholen, nur keine Pause, das schien die dringlichste Sorge derer, die das Wort hatten. Sie
hielten uns in Bewegung. Sie fürchteten sich vor den Ergebnissen der Stille. Sie ließen uns Ein- und Aussteigen üben und ver-
legten uns nach Dänemark.
In den letzten Monaten kam ich nach Dänemark, und ich war von nichts mehr beeindruckt. Ich erinnere mich, daß ich
gleichgültig auf alles reagierte, was sie mit uns taten. Ich war
keineswegs darauf aus, mir heimliche Reservate von Freiheit zu sichern. Ich empörte mich nicht, floh nicht nach vorn, suchte
weder mich noch die andern zu rechtfertigen, sondern begegnete allem mit der aufmerksamen Gleichgültigkeit, zu der der Soldat von einem gewissen Punkt an gelangt. Nichts wird mehr
verwandelt, bewertet, zur Bestimmung der eigenen Person her-
angezogen. Man ist klar, offen, nüchtern, doch man sieht keine Aufgabe. Man nähert sich dem Zustand des Minerals.
Ich war in Dänemark und lernte Stillstehen, Warten, Laufen, Wachen, und ich hatte einen Strohsack und ein Kochgeschirr,
und das genügte. Es genügte bis zu dem Tag, an dem sie einen erschossen, weil er sich aufgelehnt hatte mit Worten; sie brauch-
ten einen Toten, um uns an ihre Macht zu erinnern, sie brauchten ihn aus pädagogischen und disziplinarischen Gründen; ich
erfuhr es und erwachte. Was erhoffte ich mir, was wollte ich erreichen, als ich in einer Nacht mein automatisches Gewehr
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nahm und in die Wälder ging und mich versteckte? Lossagung
vielleicht, eine stillschweigende, beiläufige Art der Lossagung
ohne Plan - nicht mehr. Es war ein warmes Frühjahr, und ich streifte nachts durch die Wälder westwärts, verbarg mich am Tag. Sie verfolgten mich nur kurz und lustlos und ließen mich
dann allein - zum ersten Mal allein. Ohne Kameraden, Freunde und Nebenmänner, ohne Lehrer, Erzieher, Vorgesetzte, ohne die bergende Anonymität der großen Zahl, und ohne geregelte
Tage, Nächte und Gedanken: mit neunzehn Jahren hatte ich es erreicht, zum ersten Mal allein zu sein. Ich schlief unter Büschen
an Seeufern. Ich schlief in Schuppen und in einem Autowrack. Ich aß allein, wusch mich allein, ruhte und dachte allein. Nur mir gehörte meine Angst, niemand war zuständig für meinen
Hunger, ich sicherte für mich, ich plante für mich, ich hoffte
für mich: die Welt befand sich mir gegenüber. In Ruhepausen, krank von braunem Rohzucker, der meine Hauptnahrung war,
wachsam und tückisch und von Tag zu Tag vorsichtiger, entwarf ich eine Aufgabe für mich allein: ich wollte am Leben bleiben.
Dänische Bauern halfen mir, ein dänischer Chauffeur teilte sein Brot mit mir, und durch einen dänischen Studenten erfuhr ich schließlich vom Ende des Krieges. Am ersten Tag des Frie-
dens war ich allein. Auch Geschlagene können Konformisten sein, und ich zog
ihre Straße südwärts, nachdem ich dem Studenten mein Ge-
wehr geschenkt hatte: ich fand wieder zur Marine, zu bayrisehen U-Boot-Leuten, die mit sich zufrieden waren, die gelassen heimkehrten wie nach einer Herrenpartie. Die einzige Gewiß-
heit, die wir besaßen, betraf den Inhalt unserer Taschen, sonst nichts. Die Angehörigen, die zahlreichen Führer, die Freunde,
Deutschland gar: alle Schicksale waren ins Ungewisse gestürzt; zum Anfang - das dachte ich - würden Information und Auf 33
klärung gehören. Ein leichter Panzerspähwagen dirigierte uns in lässige Gefangenschaft unter freiem Himmel. Wir schlugen
da Zelte auf. Wir erklärten die Brennessel zum Hauptgericht und die Zigarette zur Währung. Goethe und Schiller im Herzen, reagierten wir auf die geschichtliche Misere durch Vorträge,
Diskussionen, Rezitationen und Liederabende. Schöne Kultur-
anstrengung machte die Niederlage erträglich. Und dort im La-
ger las ich die erste Zeitung, die frei war von Lüge. Es war eine englische Zeitung, und die Informationen wirkten infektiös, sie
zwangen mich, Stellung zu nehmen, meine Lage zu betrachten.
Was erfuhr ich? Sie, die uns mit Geraune und Gewalt, mit
Drohung und Schmeichelei in den Krieg geführt hatten, waren auf einmal fort, sie waren untergetaucht, hatten Rock und Namen gewechselt, waren geflohen oder hatten sich einen schmerzlosen Tod beigebracht. Ich erfuhr von neuen Grenzen,
von Besatzungszonen, von toten, unheimlichen Städten. Die
Zeitung berichtete Gefangenenzahlen. Ein Foto erbeuteter Waffen, ein Foto einer phantastischen Ruinenlandschaft, ein Foto von einem lädierten Engel, der eine gewaltsam hervorgerufene Ödnis segnete: auch das fand ich in der Zeitung. Und ich hörte durch sie den Jubel der befreiten Städte und Länder, überall in
Europa läuteten die Glocken, bevor man daranging, die Toten zu zählen. Jeden Tag bekam ich von einem englischen Posten die Zeitung, und jeden Tag erfuhr ich mehr. Ein Panzerspähwagen holte mich, ich wurde Dolmetscher
einer englischen Entlassungskommission, die kreuz und quer durch Schleswig-Holstein fuhr, bewaffnet mit Stempeln und Formularen, beauftragt, jedermann offiziell aus dem Krieg zu
entlassen, der noch keinen Entlassungsschein besaß. Wo wir unsere Klapptische aufschlugen, strömten die Überlebenden
zusammen, scheu, mißtrauisch, doch von dem Wunsch erfüllt, 34
ein beglaubigtes Abschiedsformular zu erhalten. Sie kamen in
Uniformen. Sie kamen in schlechtsitzendem Zivil und in gemischter Kleidung. Sie kamen an Krücken und am Arm einer
Krankenschwester, und auf meine stehende Frage, was sie zu tun gedächten, wußten alle eine Antwort. Solange man weiß, daß man nur Überlebender ist, sind die Ziele bescheiden, aber
klar. Zum Schluß entließ ich mich selbst. Aufgeregt nahm ich mir ein Formular, ertappte mich bei dem Gedanken, das Geburtsdatum zu fälschen, mich ins Knabenalter zurückzubeför-
dern: es war nutzlos, mein Leben hatte zu viele Zeugen, und ich selbst war mein schroffster Belastungszeuge. Im Jahre Null be-
kannte ich mich zum Alter von Neunzehn. Ich erließ mir nicht meine alten heroischen Träume, die angestrengten Entwürfe aus Pimpfen-Phantasie und maritimer Trunkenheit. Ich unter-
schrieb meinen Entlassungsschein, stempelte ihn sorgfältig und tötete mit dem Stempeldruck endgültig den schlafenden Admi-
ral. Ich entließ mich nach Hamburg. Danach genoß ich das Vakuum. Die vollständige Offenheit, die Abwesenheit jeder Spur,
jeden Zwangs, jedes rechthaberischen Glaubenssatzes, der Au-
genblick flimmernder Leere - ich genoß sie. Da ich damals nicht
dazu neigte, mich anzuklagen, war der Genuß ungetrübt. Ich wollte mich nicht festlegen, bekennen, zu unmißverständlicher Aktion entscheiden, denn ich hatte gemerkt, daß mit einmaligen Entscheidungen nicht alles getan ist.
So bezog ich die Universität und studierte ohne gerichteten
Eifer, ohne lockendes Ziel - solange ich von den Beständen lebte, die die Engländer mir zum Abschied hinterlassen hatten. Mit
einem Vermögen von sechshundert Zigaretten studierte ich ehrgeizlos Philosophie, Anglistik, Literaturgeschichte, schrieb
mehrere in szenischer Sinnlichkeit ertrinkende Kosakendra-
men, verschaffte mir Genugtuung als umsichtiger Schwarz 35
händler, dessen Erfolg durch Spezialisierung auf Nähnadeln, Zwiebeln, Präparieralkohol begründet wurde. Disponibel le-
ben, geschärft leben, ein bißchen hungrig sein und ein bißchen
durstig, hier mal schlafen und da mal, bei Schramm und bei Johannsen: die muntere Vorläufigkeit des Verhaltens entsprach
der geheimen Skepsis des Gedachten. Ich wurde ein Zeitversäumer, ein Sammler von unschädlichen Eindrücken; ich benutzte
die Bibliotheken zur Zerstreuung und die Universität zu oft er-
staunlichen Geschäften. Ich besaß nichts, hatte weder ein Heim noch eine erklärte Mission, darum glaubte ich, aus der Patsche
zu sein. Jeder Tag war offen. Jeder Tag war eine Falle. Ich war
glücklich. Dann, auf einmal, versiegten meine Quellen, es ging mir sehr schlecht, und um meine dringenden Unkosten zu decken, ließ ich mich als Blutspender anwerben. Ich blieb im Bett, um au-
ßergewöhnliche Unkosten zu vermeiden. Ich schränkte meine
Bewegungen ein, um meinen Appetit zu reduzieren. Ich las, und ich spürte vor allem, daß ich las, um mich selbst zu verste-
hen. Je mehr ich mir mißfiel, desto mehr Chancen gab ich mir: ich kam blinzelnd aus dem Schatten hervor, sah mich um und
entdeckte, daß etwas zu tun war.
Ich entschied mich für den Lehrberuf und begann mit plan-
vollem Eifer zu studieren und fand Zeit, ein Wunschbild von mir selbst zu entwerfen: im Kreis meiner Schüler, nicht verehrt,
aber wohlgelitten, unter Kollegen bekannt als Verfasser einer zweibändigen »Geschichte des Fisch-Motivs in der Literatur», Herausgeber eines Bandes »Kosakisches Brauchtum im Donezbecken«, Besitzer eines Hauses, vollgestopft mit Büchern, Sport-
fischer in den Ferien: ich mühte mich, dem Bild zu entsprechen.
Endlich hatte ich die Zeit der Ungewißheit hinter mir. Meine Irrtümer hatten sich anscheinend gelohnt: ich wußte etwas
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mit meinem Leben anzufangen und nahm bereits Wohnung in
der Zukunft. Der Aufbruch begann, und ich fühlte mich zum Pädagogen bestimmt, ich wollte meine Schüler zum Zweifel
bekehren, ihnen beibringen, einfachen Lösungen zu mißtrauen und jede Art von kollektiver Begeisterung für eine Krankheit zu halten. Sie sollten durch mich die kargen Wohltaten erfahren, die die Säure der Klarheit hervorruft, sie sollten die Chancen des Widerspruchs, des Widerrufs bekenntnishaft kennenlernen. Ich hielt aus, obwohl ich sah, wie einer nach dem anderen
absprang, unzufrieden mit sich die Universität verließ. Die auf
Zivil getrimmten Uniformen wurden seltener, die Gesichter der Kommilitonen jünger; allmählich fühlte ich mich wie ein Fossil.
Ich studierte emsig und tröstete mich mit »nachher und dermaleinst«, so wie ich mich schon einmal als Eleve des Heldentums getröstet hatte. Ich war die Welle, die auf einen Strand zurollte, lang, gleitend, getragen von unabänderlichem Rhythmus. Aber
warum sollte ich den Strand erreichen? Lohnte es sich, so weit
vorzudringen? Ich hatte verständige, ich hatte menschliche und verehrungswürdige Professoren. Sie boten mir Zigaretten an. Sie zogen mich ins Vertrauen hier und da. Sie wußten, wie man
zu Geld oder zu einem Wintermantel kommen konnte, und sie behielten dies Wissen nicht für sich. Ein freies, ein tröstliches
Komplizentum entstand mitunter: man steckte unter einer Decke, man erkannte im andern den Überlebenden. In ungeheizten Hörsälen wurde Hamlets Zaudern verständlich und König Lear trat mit Beginn der Stromsperre auf. Nachdem ich mein »Kopfgeld« aufgebraucht hatte, das je-
der am Tag der Währungsreform erhielt, blieb ich im Bett und stand erst wieder auf, als ich mich entschlossen hatte, all mei-
ne Bücher zu verkaufen. Die Zigarette hatte keinen Kurswert mehr, und um weiter studieren zu können, mußte ich mich von 37
meinen Büchern trennen. Ich entschuldigte mich bei Swift, bei Hobbes und Bolzano und versetzte sie; auch im Verrat blieb ich höflich. Hartnäckig wiederholte ich mir, der Verkauf meiner
Bücher sei ein Opfer gewesen, doch ich glaubte nicht daran, ich
konnte mir selbst nichts mehr vormachen, denn es hatten sich Ansichten bei mir eingeschmuggelt, die jedes Versteckspiel un-
interessant machten. Ich versteckte mich hinter dem Wunsch
nach Gewißheiten, und ich wußte, daß ich Ungewißheit zu meinem Leben brauchte. Ich gab vor, auf ein glänzendes Ziel hin-
zuarbeiten, und sehnte mich nach rechtschaffener Ziellosigkeit. Ich widersprach meiner eingebildeten Genugtuung über eine
beschlossene Berufslaufbahn. In der kleinen Studentenbude in Bargteheide bei Hamburg korrigierte ich in listigen Denkspielen die Schicksale berühmter literarischer Personen: ich sprach
Raskolnikow frei, ließ Josef K. mit einer Klage gegen Unbekannt auftrumpfen, Werther überlebte seine Folgen und Hans Ca-
storp heiratete Clawdia Chauchat. Was feststand, reizte mich, es setzte mir so lange zu, bis ich es aufhob, veränderte, öffnete.
Als ich mir eine Frist zur Beendigung meines Studiums ge-
setzt hatte - aus Schwäche, denke ich, aus Mißtrauen gegen mich selbst -, begegnete ich einigen Journalisten. Ihre Erzählungen erwiesen sich als so ansteckend, daß ein Gespräch von einer Stunde genügte, um von dem Pädagogen Abschied
zu nehmen, der in meiner Haut steckte. Ich wollte Journalist werden. Ich war so angezogen von diesem Gedanken, daß ich
mir nicht einmal die Zeit nahm, meinen beruflichen Haken-
schlag vor mir selbst zu rechtfertigen. Wie ich zunächst auf den Kosaken-Hetman, dann auf den Admiral und den Pädagogen hingelebt hatte, lebte ich nun auf den Journalisten zu, mit der usurpatorischen Heftigkeit, mit der man ein verheißungsvolles Angebot der Vorsehung annimmt. Ich sagte mir einfach: du
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wirst Journalist, schön, also bist du zum Journalisten geboren.
Die Rechtfertigung erfolgte über die Hintertreppe. Und nicht nur dies: wie immer, wenn ich etwas Neues zu werden beschloß, veränderte sich der Blickwinkel, unter dem ich die Welt sah.
Nachdem ich von der Zeitung »Die Welt«, die damals ein Blatt
der englischen Besatzungsmacht war, einen Vertrag erhalten hatte, betrank ich mich vor Begeisterung allein in meiner Stu-
dentenbude; ich glaubte nun alle Voraussetzungen zu besitzen, um der Welt zu begegnen: was geschah, konnte eigentlich nicht
ohne mich geschehen, ja, es geschah sogar nur mir zuliebe. Alle Diskussionen, Amtseinführungen, Verkehrsunfälle, Buchmessen, Dachstuhlbrände - sie ereigneten sich mir zuliebe. Indem ich sie berichtete oder bearbeitete, wurden Kongresse wirk-
lieh, Einbrüche, Parlamentsschlachten, Flugzeugabstürze und Kunstausstellungen. Der tote Pädagoge bedrückte mich nicht
mehr. Ich redigierte Kulturnachrichten, politische Nachrichten,
Nachrichten über gemischte Verbrechen. Ich lernte streichen. Ich wurde mit den Schwierigkeiten beim Formulieren einer
Nachricht vertraut und wunderte mich über die Mitteilungsfreude der Menschen, die ich interviewte. Meine journalisti-
sehen Lehrer, von denen einige meine Freunde wurden, nahmen sich die Zeit, mich auf meine Fehler und Irrtümer aufmerksam
zu machen; dafür bin ich ihnen dankbar. Die Lehre hörte nicht auf, auch nachdem ich Feuilleton-Redakteur geworden war. Ich hatte das Bedürfnis, meine Illusionen, meine Abschiede, meine Schwenkungen und Überhol-
manöver zu begründen; ich wollte meine Rolle an einem ganz bestimmten Punkt verstehen lernen: im Augenblick des Widerrufs, der Lossagung, im Moment der Veränderung. Nichts war
geblieben von den alten Entwürfen; entweder waren sie durch
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die Umstände oder durch mich selbst widerlegt worden. Ich wollte gleichzeitig verstehen und zugeben: so begann ich zu
schreiben.
Schreiben ist für mich die beste Möglichkeit, um Personen,
Handlungen und Konflikte verstehen zu lernen. Unter dem Einfluß bewunderter Vorbilder wie Faulkner, Dostojewski,
Hemingway begann ich Erzählungen, Romane und Stücke zu schreiben, in denen oft die Motive wiederkehren, die mich be-
schäftigen: es sind die Motive von Fall, Flucht und Verfolgung,
von Gleichgültigkeit, Auflehnung und verfehlter Lebensgrün-
Es sind gewiß nicht nur »meine« Motive, »meine« Themen;
für mich ist das Schreiben auch eine Form der Selbstbefragung, und in diesem Sinne versuche ich, auf gewisse Anrufe, Aufga-
ben, Herausforderungen mit meinen Möglichkeiten zu antwor-
ten. Ich weiß wohl, daß ich viele dieser Möglichkeiten dem Journalismus verdanke, den ich eines Tages aufgab, um nur noch zu schreiben. Seither lebe ich als freier Schriftsteller in Hamburg.
Esther Bejarano Die Gedanken sind frei
Mit mir im Lager waren neben jüdischen auch politische Gefangene, vor allem Kommunistinnen. Die hatten heimlich ein Radio in der Decke installiert. Deshalb wussten sie ganz gut
Bescheid, wo die Russen standen und was sich außerhalb des Lagers tat.
Eines Tages, es war wohl im April ’45, sagten diese Frauen, wir sollten uns Zivilkleidung organisieren und sie unter unsere Häftlingskleidung anziehen. Die bräuchten wir, weil die Russen
schon fast vor der Tür stünden und wir bald von Ravensbrück weg müssten. In den Effektenkammern konnte man sich solche Sachen kaufen. Ich habe mir da zum Beispiel mal einen Pullover
geholt, weil mir immer so furchtbar kalt war, und dann fünf Tage lang nichts gegessen. Das war der Preis für den Pullover:
fünf Tagesrationen Brot. Dann begann der sogenannte Todesmarsch. Wir mussten in
Siebenerreihen in einer Kolonne gehen. Wir liefen durch Mecklenburg, kilometerweit. Dieser Marsch war für uns eine ganz
schwierige Sache. Wir waren natürlich nicht die Stärksten, wir hatten ja wenig zu essen. Wir gingen eine ganze Weile, bis zu einem anderen Konzentrationslager, bei Malchow. Dort hatte ich großes Glück, weil
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ich Frauen traf, die zuvor mit mir in Auschwitz gewesen waren. Dass wir uns wiedersahen, war natürlich eine große Freude. Sie reihten sich in unsere Kolonne ein. Es war wahnsinnig kalt und
wir hatten keine Kraft mehr. Wenn wir uns ausruhen durften,
dann nur in irgendwelchen kleinen Städten auf dem Marktplatz.
Da durften wir uns dann hinsetzen oder hinlegen. Ich kann mich noch erinnern, wie wir auf Pflastersteinen gesessen haben.
Immer weiter sind wir marschiert, bis wir plötzlich einen SS-
Mann zu einem anderen sagen hörten, es dürfe nun nicht mehr geschossen werden. Bis dahin war es so: Wenn Frauen hinfielen
und nicht schnell genug aufstehen konnten, hat man sie gna-
denlos erschossen. Das war für uns eine Katastrophe, wir mussten über die Toten drübersteigen; man ließ sie einfach auf der Straße liegen, es war furchtbar. Jedes Mal haben wir gedacht: »Oh Gott, wenn wir hinfallen, dann passiert mit uns dasselbe.«
Es waren Frauen, die zum Teil schon drei oder vier Jahre gefan-
gen gewesen waren und alles Mögliche durchgestanden hatten. Und nun, auf diesem Todesmarsch, wurden sie erschossen. Wir sagten uns: »Jetzt müssen wir versuchen, die Kolonne zu
verlassen.« Wir wussten überhaupt nicht, wo sie uns hinbringen würden. Ich glaube, die SS hat es selbst nicht gewusst, die Männer waren auch ratlos. Wir verabredeten, dass sich eine nach der anderen versteckt,
wenn wir in einen Wald kommen, so, dass die SS es nicht merkt. Das klappte dann auch. Wir waren sieben Mädchen und warte-
ten, bis die Kolonne vorbeimarschiert und außer Sichtweite war. Dann zogen wir alleine weiter. Das war nicht einfach, natürlich
haben wir unsere Sträflingskleidung ausgezogen, wir hatten
ja die Zivilkleidung drunter. Auf keinen Fall wollten wir, dass
irgendwelche Deutschen sahen, dass wir Gefangene sind. Wir hatten kein Vertrauen mehr zu den Menschen und waren uns 42
sicher: »Wenn die wissen, dass wir aus dem KZ kommen, dann
schicken sie uns wieder zur Kolonne zurück.« Als wir so umherirrten, trafen wir auf zwei Franzosen, die
auch auf der Flucht waren. Wir baten sie, mit uns zu gehen sieben jüdische Mädchen allein unterwegs, das war nicht ein-
fach, wir wussten ja nicht mal wohin. Und so sind die zwei mitgekommen. Doch wo sollten wir übernachten? Es gab ja nichts. Wir haben uns in Hauseingänge gelegt, unter Brücken, unter
Treppen und konnten so wenigstens ein bisschen schlafen. Bis zum Städtchen Neustadt-Glewe waren unsere männ-
liehen Begleiter dabei. Dort trennten wir uns. Sie hatten andere französische Gefangene getroffen, mit denen sie jetzt weitergehen wollten. Sie verabschiedeten sich, wir waren wieder allein.
Neustadt-Glewe war schon von den Russen besetzt. Ich ging
dort zu einem russischen Soldaten - in Ravensbrück hatte ich bei Siemens gearbeitet, zusammen mit russischen Frauen,
konnte daher also ein paar Brocken Russisch - und habe ver-
sucht, ihm klarzumachen, dass wir unendlich müde sind und irgendwo übernachten müssen. Mit Händen und Füßen versuchte ich, mich verständlich zu machen. Er erklärte sich bereit,
uns zu helfen, und ging mit uns in eine leerstehende Villa. Dort
fanden wir gleich tausend Reichsmark, und Kleidung war auch noch da, ein paar Kinderpullover. Weil ich so klein und dünn war, passten sie mir, die anderen gingen leider leer aus.
In der Villa wollten wir gern bleiben. Der russische Soldat sagte zu mir: »Aaah, ihr seid sieben Mädchen, das ist ja wunder-
bar. Wir kommen heute Abend und machen ein Fest. Ich bringe noch sechs Freunde mit!« Da sagte ich zu ihm: »Wir müssen uns erst mal ausruhen, wir sind völlig fertig.« - »Das macht nichts«, sagte er, »wir kommen trotzdem.«
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Wir Frauen waren uns einig, dass wir die Soldaten auf keinen
Fall reinlassen wollten, und schlossen die Tür ab. Dann schauten wir uns in der Villa um. Es waren genug Betten da, wenn man sich zu zweit eines teilte. Meine Freundin Miriam ging mit
mir zusammen in die erste Etage. Mitten in der Nacht klopfte es plötzlich an der Tür - die Soldaten waren da. Als sie feststellten, dass abgeschlossen war, versuchten sie es an der Hintertür. Sie
zerschlugen das Glasfenster, konnten mit der Hand reingreifen und die Tür von innen öffnen. Sofort verteilten sie sich im Haus. Der Russe, mit dem ich ge-
sprochen hatte, fand mich im ersten Stock. Er wollte sich zu mir legen, Miriam sollte aus dem Bett verschwinden. Da sagte ich: »Pass mal auf, das geht so nicht. Wir sind krank, haben Durchfall. Es geht uns nicht gut, wir können heute auf keinen Fall mit euch feiern. Wir müssen uns erst mal erholen. Kommt morgen
wieder.« Er war zum Glück einsichtig. Ich schlug ihm noch vor: »Bring doch auch ’ne Flasche Wodka mit, damit wir ganz lustig wer-
den!« Das leuchtete ihm wohl ein. Er sammelte seine Freunde ein und gemeinsam zogen sie wieder ab. Das war unser Glück. Dass wir alle Durchfall hatten, stimmte wirklich. Es kam daher,
dass die Speisekammer in diesem Haus bis oben hin voll war
mit Nahrungsmitteln. Meine Freundin Miriam, eine wunderbare Köchin, war sofort in die Küche gegangen und hatte für uns gekocht. Wir aßen Unmengen. Das war natürlich ein großer Fehler, denn unsere Mägen waren überhaupt nichts mehr
gewohnt. Es gab Fleisch im eigenen Saft und vieles mehr. Später
mussten wir vor dem einzigen Klo der Villa Schlange stehen. Wir waren krank, aber wir wussten: Hier können wir nicht
bleiben. Durch die Hintertür sind wir hinaus in die Nacht. Uns 44
war klar, dass wir die Russen am nächsten Tag nicht mehr ab-
wimmeln konnten. Als wir in einen Wald kamen, hörten wir auf einmal Schüsse.
Jemand rief: »Don’t move, stop!« Wir blieben stehen, zwei amerikanische Soldaten kamen auf uns zu. Wir erzählten ihnen so-
fort, woher wir kamen und dass wir so schnell wie möglich aus dem russischen Sektor weg wollten. Die Amerikaner sagten:
»Okay, wir helfen euch, aber ihr müsst ganz ruhig sein, weil wir durch einige Kontrollen müssen. Wir bringen euch in den ame-
rikanischen Sektor.« Als wir zu einem Posten kamen, sagten die beiden: »Hier
sind sieben American nurses« - also amerikanische KrankenSchwestern -, »die müssen wir in unser Camp bringen.« Auf
diese Weise kamen wir durch sämtliche Kontrollen.
Wir wurden in einem leeren Bahnwärterhäuschen untergebracht, direkt neben einem Camp, und die zwei Soldaten brach-
ten uns Matratzen und Essen. Außer ihnen wollten wir nieman-
den ins Haus lassen. Trotzdem haben uns auch die anderen Amerikaner geholfen, sie warfen durchs Fenster, was sie selbst entbehren konnten.
Als wir ungefähr eine Woche in dem Häuschen wohnten,
hieß es: Das Camp wird aufgelöst und nach Ludwigslust ver-
legt. Unsere beiden Soldaten, Dane und John, nahmen uns in
einem Leiterwagen mit. Dem Bürgermeister von Ludwigslust erzählten sie die gleiche Geschichte wie vorher den Kontrollposten: Wir seien amerikanische Krankenschwestern, könnten nicht mit den Soldaten im Camp wohnen und bräuchten eine
Unterkunft. Wir wurden einem Bauern zugeteilt, der ein großes Haus
hatte, und bekamen zwei Zimmer. Es waren sehr nette Leute, die Anteil an unserem Schicksal nahmen. Von ihnen erfuhren
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wir mehr über die Gräuel der Nazis, sie haben uns darüber auf-
geklärt, dass es außer in Auschwitz und Ravensbrück noch viele andere Konzentrationslager gab. Einmal nahm uns der Bauer mit in den Garten. Dort grub
er eine Kiste aus. Die war voll mit Büchern, die die Nazis verboten hatten, Bücher, die er eigentlich hätte verbrennen müssen. Doch er hatte sie in der Erde verbuddelt. Er sagte: »Ihr seht, ihr
seid in einem kommunistischen Haus.« Das zu erleben, war für
uns eine großartige Sache. Irgendwann wollten wir jedoch weiter. Auf einer Landstraße
trafen wir viele Flüchtlinge, die Berlin verlassen hatten, um den Russen zu entgehen. Mit denen gingen wir ein Stück. Wieder
kamen wir bei einem Bauern unter und durften in seiner Scheune schlafen. Er schenkte uns einen ganzen Eimer voll Pellkartoffein. So hungrig wie wir waren, haben wir die natürlich schnell
aufgefuttert.
Am Morgen, als der Bauer mit uns vor seinem Hof stand, sagte er: »Ihr könnt euch jetzt aussuchen, wohin ihr gehen wollt. Auf der linken Seite sind die Russen, auf der rechten die Amerika-
ner.« Die Entscheidung wurde uns abgenommen, denn in der
Ferne sahen wir amerikanische Panzer auf uns zurollen. Wir
liefen ganz schnell dahin, man hievte uns auf die Tanks, und wir zeigten gleich die Nummern auf unseren Armen, die man uns in Auschwitz eingebrannt hatte. Die Amerikaner umarmten uns, kehrten um und nahmen uns mit in das kleine Städtchen Lübz. In einem Hotel bekamen wir ein Zimmer, wurden in ein Restaurant eingeladen und mussten erzählen, was wir erlebt
hatten. Weil ich und eine Freundin sehr gut Englisch sprachen, haben wir beide ihnen von Auschwitz berichtet. Ich erzählte,
dass ich dort als Akkordeonspielerin im Mädchenorchester war und wahrscheinlich deshalb überlebt habe. 46
Auf einmal, vielleicht eine Viertel- oder eine halbe Stunde später, kam ein amerikanischer Soldat mit einem Akkordeon:
»So, das schenk ich dir.« Ich weiß nicht, woher er das hatte. Es
war ein sehr schweres Instrument, aber ich hab’s mitgeschleppt, eine ganze Zeitlang.
Dann fingen wir in diesem Restaurant an zu singen. Die Deutschen, die dort saßen, verließen ziemlich schnell das Lokal.
Plötzlich hörten wir einen furchtbaren Krach auf der Straße.
Wir liefen raus und sahen, wie die Rote Armee in den Ort einmarschierte. Die Russen riefen: »Kapitulation, der Krieg ist aus! Hitler ist tot!« Es war der 8. Mai ’45.
Wir haben uns natürlich total gefreut, die amerikanischen
und die russischen Soldaten haben sich umarmt und geküsst. Das kann man heute gar nicht mehr glauben, aber es war so. Die waren so glücklich, dass der Krieg zu Ende ist. »Das muss gefeiert werden, auf der Stelle!«, sagten Russen wie Amerikaner.
Gleich nebenan war der Marktplatz, da sind wir alle hin. Ein
russischer und ein amerikanischer Soldat holten aus einem Geschäft ein großes Hitlerbild. Das haben sie gemeinsam angezündet und alle, die Russen, die Amerikaner und sechs Mädchen tanzten um das brennende Bild herum. Und ich spielte
Akkordeon. Wir sangen alles, was uns in den Sinn kam: »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen, es bleibet dabei, die Gedanken sind frei.«
Im KZ Ravensbrück hatte ich auch russische Lieder gelernt,
von den russischen Frauen bei Siemens. Ein Lied erzählt die
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Geschichte von einem russischen Soldaten, der seiner Frau ein rotes Halstuch als Lebenszeichen nach Hause schickt. Auch das
hab’ ich gespielt, bis heute gehört es zu meinem Repertoire. Das war also meine Befreiung. Es war eine großartige Sache.
Ich sage auch heute noch, wenn ich in Schulen über mein Leben
erzähle: »Das war für mich ein neuer Anfang, das war meine zweite Geburt!«
Kurt Masur Pianist im Schloss
Meine Heimatstadt Brieg war bis 1944 vom Krieg ganz unbe-
rührt. Ich wuchs auf mit dem Gefühl, dass das Leben ganz nor-
mal weitergehen würde, bis auf einmal der Einberufungsbefehl kam. Nach kurzer Ausbildungszeit bei der Luftwaffenboden-
truppe wurde ich zum Einsatz abkommandiert.
Meine Mutter verabschiedete sich auf eine Weise von mir, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Immer war sie in Sorge,
meine ungeheuer zärtliche, liebende Mutter. Zum Abschied
aber sagte sie nichts weiter als: »Junge, sei tapfer!« Das hat mich sehr erstaunt, ich weiß nicht, wie viel Überwindung sie das gekostet hat, aber mit Sicherheit wollte sie damit nicht ausdrü-
cken: »Riskiere Kopf und Kragen für dein Vaterland.« Unter Tapferkeit verstand sie wahrscheinlich auch Klugheit.
Das war zu Beginn des Jahres ’45, im Februar. Wir kamen nach
Holland und es begann eine Zeit, die ich wenig bewusst erlebt
habe. Es war wohl alles ziemlich traumatisch. Damals war mehr der Überlebensinstinkt gefordert und nicht so sehr der Verstand. Wir waren eine Kompanie von hundertfünfunddreißig Sieb-
zehnjährigen, sogenannten Offiziersanwärtern. Man hielt uns
vielleicht für fähig, noch irgendetwas zu retten, was zu diesem 49
Zeitpunkt, nach der Einschätzung meines Vaters, der im Ersten
Weltkrieg Schwereinsätze erlebt hatte, natürlich völlig unglaub-
würdig war. Die Verlegung nach Holland verlief anfangs noch ruhig, wir wurden in verschiedenen Lagern untergebracht. Dann aber
begannen die Angriffe der englischen Tiefflieger - und jener Bomber, die nur eine Bombe dabeihatten und ansonsten mit Maschinengewehren operierten. Die waren so gefährlich, dass
wir uns tagsüber gar nicht mehr vors Haus trauten. Marschiert
wurde nachts, wenn die Truppen verlegt wurden. Da sind wir manchmal in einer Nacht vierzig Kilometer gelaufen, natürlich
mit Gepäck, das war schon sehr beschwerlich. Dann kam plötzlich der Einsatzbefehl, für unsere junge Trup-
pe viel zu früh. Irgendeine Ausbildung oder Erfahrung, wie man
einen solchen Angriff überstehen könnte, hatten wir nicht. Wir hatten keinen Begriff davon, was auf uns wartete. Ich erinnere mich an einen der ersten Nachtangriffe auf eine Ortschaft, der zunächst erfolgreich verlief. Wir mussten den Ort am nächsten Morgen aber wieder aufgeben, weil wir von
allen Seiten beschossen wurden und schon ein paar Kameraden verloren hatten. Das war die erste frustrierende Erkenntnis - dass es nicht immer siegreich ausgeht, wenn man angreift.
Dann kam das für mich vielleicht einschneidendste Erleb-
nis: Wieder sollten wir bei Nacht ein Dorf angreifen. Es hatte sich aber Nebel gebildet und unser Kommandeur fand den Ort
nicht! Im Morgengrauen standen wir plötzlich vor den Häusern und wurden derart heftig beschossen, dass es nur noch galt, sich zu verstecken. Ich erinnere, dass einige von uns versuchten, sich in einen der vielen kleinen Kanäle zu retten, die es in Holland gibt. Wenn einer auch nur den Kopf hob, wurde er abge
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schossen wie ein Hase. Die Scharfschützen waren in dieser Zeit ziemlich erfolgreich. Die Überlegenheit unserer Gegner war groß - am Boden, aus der Luft und in der technischen Ausrüstung. Wir standen
erst amerikanischen Soldaten gegenüber, später dann kana-
dischen. Bei einem Angriff hieß es, das sei jetzt eine polnische Exiltruppe aus Freiwilligen. Die kämpften mit besonderer Ver-
bissenheit. Immer wenn wir uns in der nächsten Ortschaft wiederfanden, die sogenannte Etappe erreichten, baten mich diejenigen, die
wussten, dass ich gerne musizierte, doch in die nächste Kirche
zu gehen und für sie Orgel zu spielen. Das war schon fast wie ein Ritus, wenn wir vom Einsatz zurückkamen. So hab’ ich dort
oben im Norden fast alle Orgeln kennengelernt. Es war schon erstaunlich, dass die Priester in Holland das tolerierten und
uns den Schlüssel für ihre Kirchen gaben. Wir haben oft noch
nachts dagesessen und ich habe musiziert. Ich glaube, das waren Stunden der Besinnung für alle, die
damals begannen, darüber nachzudenken, wie sinnvoll dieser Krieg überhaupt war. Eigentlich war uns allen ziemlich klar,
dass er verloren war. Dass es noch eine Wunderwaffe geben
würde, glaubte keiner mehr von uns.
Wir sollten Holland verteidigen, den sogenannten Brückenköpf. Also zogen wir weiter nach Norden, an die Zuider See.
Dort erlebten wir einen Nachtangriff mit Panzern. Die Engländer hatten schon übergesetzt, es war ein unglaubliches In-
ferno. Dieser Nachtangriff war derart zerstörerisch, dass unser Kompaniechef alle einsammelte, die er noch einsammeln konn-
te. Siebenundzwanzig Mann, alle anderen waren gefallen oder
wurden vermisst. Es fand sich ein Schiff, mit dem wir am 1. Mai
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1945 über den Dollart setzten, ein Fischerboot mit Hilfsmotor, eigentlich ein Segelboot.
Als wir drüben in Emden ankamen, waren die Rohre der
deutschen Geschütze auf uns gerichtet und ein Offizier begrüß-
te uns mit den Worten: »Macht schnell, dass ihr wegkommt, ich habe schon Befehl gehabt, euch zu versenken!« Wir wurden bei Emden in ein Barackenlager gebracht, an
das ich mich noch gut erinnere, weil dort ein Klavier stand, an
dem ich an diesem 1. Mai ein bisschen musiziert habe, nicht zur
Freude aller. Manche sagten: »Musik hilft uns jetzt auch nicht weiter.« Nach dem 1. Mai ging dann alles sehr schnell. Wir wurden
noch mal abkommandiert, zur Bewachung der Nordküste bei Greetsiel. Doch plötzlich war die Kapitulation da und damit der Befehl, die Waffen abzugeben. Das geschah unter Aufsicht
unserer Offiziere und der Besatzer. Ich glaube, es waren kana-
dische und englische Truppen, die dort oben im Norden von Ostfriesland stationiert waren. Wir alle hatten Tränen in den
Augen. Wir waren Teenager und wirklich keine ausgereiften
Männer. Noch wussten wir nicht viel von dem, was man Deutschland als Verbrechen anlasten konnte und musste. Aber ich glaube,
viele ahnten, dass es ein Zusammenbruch war, der mit dem Hochmut ä la »Deutschland, Deutschland über alles« verbun-
den war. Die Trauer über den verlorenen Krieg dauerte bei mir persönlich nicht sehr lange. Ich war jetzt interniert, konnte aber
schon bald wieder musizieren - mit Freunden, in einer Schule in Pewsum. Wir machten Kammermusik für unsere Kamera-
den. Ich erinnere mich noch daran, dass ich vor einem Konzert die pneumatische Orgel dort mit Leukoplast repariert habe.
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Kurze Zeit später fanden wir heraus, dass alle, die aus WestDeutschland waren, nun Papiere bekamen und aus dem Inter-
nierungsgebiet in die Heimat, ins Privatleben entlassen werden konnten. Diejenigen aber, die wie ich aus dem Osten kamen,
wurden sehr oft als Minensucher eingesetzt, natürlich ein sehr gefährlicher Job.
Dann hatte ich das große Glück, bei einem unserer Kammermusik-Abende Theda von Frese kennenzulernen. Ihre Familie
besaß ein Wasserschloss, die Burg Hinta bei Emden. Frau von Frese hatte mich spielen gehört und bat nun darum, dass ich
auf das Schloss kommen dürfe. Dort wurde ich verpflegt. Jede
Woche gab ich ein kleines Konzert. Ich glaube, ich habe nie wieder im Leben so deutlich gespürt, welch heilende Kraft von Musik ausgehen kann. Ich habe da-
mals gelernt, schwere Situationen durch Musik zu überwinden, und dabei begriffen, dass ich nie ohne Musik leben könnte. Das
ist die wichtigste Erfahrung, das größte Geschenk, das ich aus dieser schweren Zeit mit ins Leben genommen habe.
Meine ganze Familie hatte aus Schlesien fliehen müssen und jeder war anderswo gelandet. Ich wusste damals nicht, wo ich suchen sollte. Erst über das Rote Kreuz haben wir uns wiedergefunden.
Eines Tages stand plötzlich meine ältere Schwester Lieselotte vor der Schlosstür. Sie brachte mir Kleidung mit, meine Konfirmationshose und ein buntes Hemd. Sie meinte, wir sollten
versuchen, dass ich irgendwie rauskomme aus dem Internie-
rungsgebiet. Ich tat dann etwas, das ich später nie wieder getan hätte: Mit einem Foto und dem Stempel des Kreistierzuchtamtes
Pewsum bastelte ich mir einen falschen Pass. Lieselotte und ich
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fuhren dann bis zur Straßensperre. Ich glaube, der Grenzposten am Schlagbaum hat genau gemerkt, dass da irgendwas nicht stimmte, aber er hat den jungen Kerl einfach laufen lassen.
Gemeinsam kamen wir nach Oschersleben an der Bode. Hier hatte mein Vater inzwischen ein zerbombtes Haus wieder auf-
gebaut. Anfang Dezember ’45 war die Familie wieder vereint.
Joachim Gauck Etwas Neues hatte begonnen
Weihnachten 1944 bestand ich meinen ersten öffentlichen Auf-
tritt auf einer wahrscheinlich von der nationalsozialistischen Frauenschaft veranstalteten Weihnachtsfeier. Ich vermochte
ein ganzes Weihnachtsgedicht aufzusagen, ohne mich zu ver-
haspeln und ohne zu stocken: »Von drauß, vom Walde komm ich her ...« Der Weihnachtsmann war so gerührt, dass er ver-
sprach, nach der Feier noch bei mir zu Hause vorbeizukommen und mir ein spezielles Geschenk zu übergeben. Er hielt sein Ver-
sprechen: Ich bekam einen weiteren Panzer aus Holz.
Wustrow blieb vom Krieg verschont. Zwei Bomben fielen auf die Wiesen vor dem Ort, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Rostock hingegen wurde bereits Ende April 1942 zu
sechzig Prozent durch Bombenangriffe der Royal Air Force zer-
stört. In den vier Nächten zwischen dem 23. und dem 27. April
legten jeweils über hundert Flugzeuge die historische Altstadt
in Schutt und Asche, Brände fraßen Sankt Nikolai und die Petrikirche auf. Die Erwachsenen standen in Wustrow auf dem
Deich und blickten bang nach Westen, wo der Rauch aufstieg;
viele hatten Verwandte in Rostock, meine Mutter sorgte sich um ihre Eltern. Bei Westwind trieb es die Asche bis in die Gärten von Wustrow. Der Krieg hatte Mecklenburg gefunden.
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Einmal, so meine einzige wirkliche Kriegserinnerung, waren
wir bei den Großeltern Warremann in Rostock zu Besuch. Wir
saßen miteinander im Keller des Hauses, von fern hörte ich Sirenen, die Bedrohung konnte ich nicht ermessen, aber ich
spürte die Angst der Erwachsenen, die sich auf mich übertrug. Insgesamt kamen die Großeltern im Krieg glimpflich davon.
Bomben, die im Rostocker Vorort Brinckmansdorf niedergingen, zerstörten zwei Häuser in der Nachbarschaft. Bei den Großeltern wurde nur die angebaute Garage neben dem Haus
weggerissen und das Dach beschädigt. Oma Warremann und die Schwester meiner Mutter mit ihren beiden Kindern über-
standen die Angriffe unversehrt im Keller. Die Möbel waren
etwas lädiert, aber noch zu gebrauchen. Als in den letzten Apriltagen 1945 der Kanonendonner von der Front zu hören war, packte Großvater Warremann einen Leiterwagen mit Federbetten und etwas Hausrat, setzte meinen Cousin Gerhard und meine Cousine Dörthe darauf, dann schoben die Erwachsenen den Wagen Richtung Westen bis Bad Doberan, wo sie zum Dorf Retschow abbogen. Dort fanden sie bis Kriegsende
im Pfarrhaus Unterschlupf. In Rostock und Ribnitz zog die Sowjetarmee am 1. Mai 1945 ein. Über die Dorfstraße von Wustrow fuhren am 2. Mai einige
sowjetische Panzer zum Hohen Ufer direkt an der Ostseeküste. Nachdem sie dort nur auf eine verlassene Stellung und zwei ge-
sprengte Geschütze gestoßen waren, zogen sie sich wieder zu-
rück.
Am Morgen des 3. Mai wurde schließlich auch Wustrow besetzt. Wir Kinder waren hinter den Erwachsenen her zu einer Anhöhe gelaufen. Von dort konnte man die einzige Straße über-
blicken, die sich auf das Fischland schlängelt. Sie kamen vom
Westen, aus der Kreisstadt Ribnitz, Soldaten in abgerissenen 56
Uniformen mit Panjewagen und strubbeligen, abgemagerten Pferden. Ohne einen einzigen Schuss abzugeben, zogen sie in das Dorf ein, wo sich fast alle Frauen versteckt hielten, viele
hatten die Gesichter schwarz angemalt. Kaum hatte sich die Schreckensnachricht vom Anmarsch der Russen verbreitet, eilte Oma Antonie auf den Hof. Sie hatte es auf meine Fahne abgesehen, die Fahne des Deutschen Reiches
seit 1935, rot mit einem schwarzen Hakenkreuz in einem weißen
Kreis. Oma Antonie versuchte den mit deutscher Gründlichkeit am fünfzig Zentimeter langen Fahnenstock befestigten Stoffteil
abzureißen, brach, als ihr dies nicht gelang, den Stock einfach
über ihrem Knie entzwei und steckte Stock und Fahne in das Feuer des Waschkessels, in dem gerade die große Wäsche kochte. Ich war entsetzt und verstand die Welt nicht mehr. Die müsse
weg, erklärte Oma Antonie, weg, bevor die Russen kämen. Meine Mutter verhielt sich erstaunlich ruhig. Sie hatte erst
wenige Tage vor dem Einmarsch der Sowjettruppen ihr drittes
Kind geboren, meinen Bruder Eckart. Als die Russen von der Landstraße abbogen, eine abenteuerliche Gestalt mit asiati-
sehen Gesichtszügen und zwei weitere Soldaten in unser Haus traten, hörten wir als Erstes, was schon Tausende vor uns ge-
hört hatten und Tausende nach uns noch hören würden: »Uhri, Uhri.« Mutter reagierte geistesgegenwärtig und ließ blitzschnell
ihre Armbanduhr vom Handgelenk in die Sesselritze rutschen,
dann streckte sie die Arme hoch: Sie hatte keine Uhr. Bald wurde requiriert und geklaut. Wer noch ein Auto hatte,
der Arzt und einige wenige andere, musste es abliefern. Die Fahrzeuge wurden vor der Schule abgestellt. Wir Jungen kletterten heimlich in die unverschlossenen Gefährte, umfassten das Lenkrad - ein einzigartiges Vergnügen, besaß doch keiner
unserer Väter ein Auto. Noch heute erinnere ich mich an den 57
wunderbaren Geruch der Ledersitze und des Benzins. Ferner mussten Radios und Telefone abgeliefert werden; Fahrräder
wurden nicht eingefordert, dafür aber in der Regel von den russischen Soldaten requiriert.
Die Seefahrtschule wurde okkupiert, die Tannen an ihrer Frontseite eine nach der anderen gefällt und zum Bau von Holzbaracken verwendet, die als Pferdeställe dienten. Nautische Ge-
räte, Kreiselkompasse, mit denen die angehenden Steuerleute und Kapitäne ihr Handwerk erlernt hatten, fanden sich, acht-
los weggeworfen, in unserem Garten wieder. Mehrere Häuser
wurden für die Offiziere beschlagnahmt. Unsere Nachbarin Frau Fuchs, deren Wohnung nur durch den Eingangsflur von
unserer getrennt war, musste zwei Zimmer und die Veranda an
einen sowjetischen Major abtreten. Meine Mutter war darüber zunächst entsetzt. Doch der Major liebte uns Kinder von Herzen, nahm uns auf den Arm, das war zwar unangenehm, denn
er roch nach Wodka, aber er lachte und schenkte uns Brot. Die drei Gebäude, die unmittelbar an der Ostsee lagen - darunter das Haus meiner Großmutter Antonie -, wurden für
militärische Zwecke genutzt. Den russischen Soldaten schien
Großmutters Haus geeignet, um dort einen Ausguck zur See zu errichten. Sie stießen einfach das Rohrdach durch, warfen Klei-
dungsstücke und Möbel aus dem Fenster, einige Bücher wurden
zerrissen, andere in russischer Schrift mit Losungen wie »Tod den deutschen Okkupanten!« versehen. Großmutter Antonie kam jedoch ungeschoren davon und durfte sich mit einem Teil
ihrer Habe bei Bekannten im Dorf einmieten. Mitte Juni 1945 teilte meine Mutter einem Bekannten in ei-
nem Brief mit, Flüchtlinge, Evakuierte und Ausländer müssten
Wustrow innerhalb der nächsten Tage verlassen; es liefen sogar Gerüchte um, die ganze Küste werde aus militärischen Grün
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den geräumt. Dann reduzierte sich die Maßnahme offensichtlieh auf die Sperrung des Strandes. Nicht einmal Kinder hatten
Zugang zur Ostsee. Mit fünf Jahren war ich zu klein, um auch nur annähernd zu erfassen, was um mich herum vorging. Mir erschien das Kriegs-
ende vor allem interessant und abenteuerlich. Die Soldaten
brachten Abwechslung in unsere kleine Dorfwelt, sie sahen anders aus, sprachen anders, benahmen sich anders - etwas Neues hatte begonnen. Auch Jungen, die ein wenig älter waren als ich, nahmen das
Geschehen zunächst eher von der sportlich-abenteuerlichen
Seite. Sie fanden Koppel, Munitionstaschen und Munition, die haufenweise auf dem Hohen Ufer zwischen Wustrow und
Ahrenshoop lagen, wo Küstengeschütze stationiert gewesen waren. Heute sind nicht nur die Militäranlagen aus der NS-Zeit,
sondern auch aus der DDR-Zeit im Wasser verschwunden, denn die Ostseewellen tragen das Land am Hohen Ufer ab. Damals buddelten die Jungen die Kartuschen aus der Erde, klopf-
ten sie auf, schütteten das Schwarzpulver aus und veranstalteten Feuerwerke. Ein paar Jahre später war auch ich dabei. Wir
häuften das Munitionspulver fast einen halben Meter hoch und
schichteten Seetang, Steine und Sand darüber, nicht ohne zuvor
eine kleine, ebenfalls mit Pulver aufgeschüttete Rinne dorthin geführt zu haben. Es war ein diebisches Vergnügen. Der Haufen
flog in die Luft, und die Steine wirbelten durch die Gegend. Wenn ich als Erwachsener zurückblicke, staune ich, welch
harmlose Ereignisse im Gedächtnis des kleinen Jungen haften blieben. Erst viel später erfuhr ich, dass sich mehrere Wustro-
wer unmittelbar vor dem Einmarsch der Sowjetarmee umgebracht hatten. Der Bildhauer Johann Jaenichen schnitt sich die
Pulsadern auf; er war kein Nazi gewesen, die Gründe für seinen 59
Freitod sind nicht bekannt. Unbekannt blieben auch die Motive
des Selbstmords der Flüchtlingsfamilie Hennings; erst tötete das Ehepaar seine achtjährige Tochter, dann sich selbst. Der
Dorfpolizist aus Wustrow erhängte sich mit seiner Frau auf dem Dachboden seines Hauses. In Ahrenshoop erschoss sich ein Ehepaar, das als fanatisches Nazi-Pärchen bekannt war. Of-
fensichtlich fürchteten sie die Strafe der Sieger. Die Verhaftungen von Männern zwischen fünfzehn und fünfzig blieben mir ebenfalls verborgen. Die wenigen, die sich
im Dorf aufhielten, standen im Verdacht, Mitglied der NSDAP oder der SA gewesen zu sein; fast alle kamen ins Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg, oder sie wurden in die Sowjetunion
deportiert. Auch von den Vergewaltigungen habe ich nichts bemerkt.
Meine Mutter wurde zwar manchmal belästigt, dann stand
ein Soldat grinsend auf der Türschwelle. Doch offensicht-
lieh haben die Anwesenheit des Majors und das neugeborene
Kind sie geschützt. Andere Frauen hingegen wurden abends um sieben zum Ausheben von Schützengräben auf den Deich
befohlen. Sie hatten keine Chance zu entkommen. Vor ihnen die Ostsee, hinter ihnen Wiesen, in denen Flüchtende sofort
auszumachen gewesen wären. Am Tag nach solchen Einsätzen erschienen dann einige in der Praxis unseres Arztes Dr. Meyer, der Scheidenspülungen vornahm, um Schwangerschaften zu
verhindern. Im Frühjahr und Sommer 1945 suchten bis zu vierzig Menschen in seinem Haus Zuflucht, zwei Drittel von ihnen
Frauen. Zur Abschreckung sowjetischer Soldaten hatte Familie
Meyer das Bett der Großmutter gleich hinter der Eingangstür
aufgestellt. Sie hatte Gelbsucht und war so quittegelb, dass ein
Russe, wenn er sich tatsächlich über die Schwelle traute, gleich wieder kehrtmachte.
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Die Soldaten hatten schreckliche Angst vor Typhus, Paratyphus und Infektionskrankheiten. Offiziere, bei denen man eine Geschlechtskrankheit feststellte, wurden zum einfachen
Soldaten degradiert. Deswegen war Doktor Meyer auch bei den
Besatzern gefragt. Einmal wurde er abends zum russischen Kommandanten gerufen, um dessen Tripper zu behandeln.
Erst am nächsten Morgen kehrte der Arzt nach Hause zurück -
sturzbetrunken, weil er die ganze Nacht hatte anstoßen müssen: »Sto gramm!« Die Familie war ihm trotzdem nicht gram,
denn er brachte, eingewickelt in gestohlenes Leinen, ein Stück von einer requirierten Kuh mit: ein Dank des Kommandanten.
Bei uns sah es allerdings anders aus. Das Essen war knapp. Bald gab es keinen Zucker mehr, kein Brot, kein Mehl, nicht ein-
mal Salz. Im Sommer liefen die Frauen zum Strand, schöpften Wasser aus der Ostsee und ließen es in großen Zinkwannen verdunsten. Die Methode war wenig ergiebig, gerade mal ein weißer Hauch setzte sich am Wannenboden ab, wenn das Wasser
verdunstet war. Das Obst und Gemüse aus den Gärten und das
wenige Vieh reichten nicht aus, um die Dorfbewohner zu ernähren, zumal die Einwohnerzahl durch den Zustrom der vielen Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern bei Kriegsende wohl doppelt so hoch war wie vor dem Krieg. Einige Wustrower
hatten etwas von dem Proviant retten können, den ein S S -Trupp zurückließ, als er sich im letzten Moment über die Ostsee nach
Dänemark absetzte. Andere gingen auf Hamsterfahrt, setzten mit dem Dampfer über nach Ribnitz und zogen von Bauernhof
zu Bauernhof, um Bettwäsche oder Tischdecken gegen Eier und Brot zu tauschen. Im Übrigen war es wichtig, dass es Fischer gab - Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern, die Schollen
aus der Ostsee holten, Sprotten und kleine Fische, die sie Tobis
nannten. 61
Wo Jugendliche in den Familien waren, fiel das Organisieren
leichter. Als beispielsweise eine der Kühe, die die Russen an der Küste von Wustrow nach Althagen trieben, am Hohen Ufer abstürzte, konnte, wer schnell genug zur Stelle war, mit einem
Stück Fleisch nach Hause ziehen. Ein Sohn des Arztes stahl in
sportlichem Ehrgeiz den russischen Soldaten sogar neun frei
laufende Pferde. Sein Vater scheuchte sechs Tiere gleich wieder weg, eines aber spannte er vor das Gefährt, das ihm als Ersatz
für sein eingezogenes Auto diente, ein weiteres tauschte er bei
einem Bauern gegen eine Kuh. So trugen Jugendliche erheblich zum Überleben ihrer Familien bei. Meine Mutter hatte es dagegen schwer, unsere Familie durch-
zubringen. Mein Vater, der kurz vor dem Einmarsch der Sowjettruppen von Ostpreußen in die Marine-Kriegsschule nach
Flensburg-Mürwik versetzt worden war, war in englische Gefangenschaft geraten. Unter Aufsicht eines englischen und
eines polnischen Verbindungsoffiziers hatte er ehemalige polnische Zwangsarbeiter auf Frachtschiffen in ihre Heimat zurückzubringen. Wir wussten zunächst nichts von seinem Ver-
bleib, erst im Sommer 1946 kehrte er nach Hause zurück. Wir drei Kinder aber waren bei Kriegsende noch zu klein, um Mut-
ter beistehen zu können. So zogen wir Ende 1945 von Wustrow
zu den Großeltern Warremann nach Rostock, in die Räume, die Mutters Schwester gerade verlassen hatte, weil ihrem Mann
eine Pfarrstelle in dem mecklenburgischen Dorf Sanitz zuge-
wiesen worden war. Großmutter Antonie blieb allein in Wustrow zurück. Sie hoffte auf die Rückgabe ihres Hauses an der See. Doch von
den Russen ging das Haus an einen Großbetrieb über. Großmutter Antonie erhielt eine beleidigend niedrige Miete, das war
ihre Rente. Als die ersten Pachtverträge ausliefen, musste sie 62
weiter verpachten, zuletzt an einen großen Staatsbetrieb aus
Magdeburg. Oma Antonie lebte in wechselnden Wohnungen, zuletzt im Pfarrhaus Wustrow. Sie starb 1964 bei dem Pastoren-
ehepaar Hanns und Renate Wunderlich in dem Ort, den sie zu ihrer Wahlheimat gemacht hatte - aber nicht in dem Haus, das sie dort errichtet hatte. Wenn wir nach ihrem Tod den Ort be-
suchten, haben wir das Haus gemieden, der Anblick war zu trist.
Ralph Giordano Im Rattenloch
Unser zentrales Lebensgefühl, spätestens seit der Reichspogromnacht 1938, war die Furcht vor dem jederzeit drohenden
Gewalttod. Ich wusste, eines Tages würde der Befehl kommen und meine Mutter würde deportiert werden, oder wir gleich
alle zusammen. Also war ich immer auf der Suche nach einem Versteck, das war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Im Herbst 1944 traf ich Gretel Schulz, eine ehemalige Nach-
barin, mit der wir in einem Haus gewohnt hatten, bis wir aus-
gebombt wurden. Sie war ein Anti-Nazi, durch und durch. Ich
traf sie zufällig und sie erklärte mir, wo sie wohnte: In der Alsterdorfer Straße, im Norden von Hamburg. Ich war froh, dass ich sie wiedergefunden hatte, und besuchte sie. Gretel Schulz
war eine Bundesgenossin und deshalb sicher auch bereit, uns bei der Suche nach einem Unterschlupf zu helfen.
Ich ging in der Dunkelheit zu ihr. Ich wusste, das hatte sie mir gleich gesagt, dass es dort auch noch Nachbarn gab, sie waren allesamt ausgebombt und lebten in einer Ruinenlandschaft. Die Leute aus den unteren Etagen hatten sich die Waschkeller aus-
gebaut, auch Gretel Schulz. Ich klopfte leise bei ihr, es sollte ja keiner merken. Sie machte die Tür auf, ich ging rein und dachte
sofort, was ich hier sehe, ist nicht geeignet, um uns zu verste64
cken: ein Wohnraum, genauer gesagt ein Wohn- und Schlaf-
raum, zwei kleine andere Räume, eine Nasszelle, kein richtiges Bad, eine Toilette. Dann, beim Rausgehen aber sah ich, dass es in dieser »Woh-
nung« eine Kammer gab, die voller Gerümpel war. Und ganz hinten, in der Wand, war ein ziemlich großes Loch. Ich fragte Gretel: »Was ist dahinter?« Da sagte sie einen sehr symbolischen Satz: »Dahinter ist die Hölle!« Ich fragte: »Darf ich da mal reingu-
cken?« Sie gab mir eine Taschenlampe und ich stieg über das Gerümpel auf das große Loch zu, das die Bewohner dieses Hau-
ses bei den schweren Angriffen auf Hamburg im Juli 1943 geschlagen hatten. Sie waren aus ihrem eigenen Haus nicht mehr
herausgekommen und wollten versuchen, ins Nachbarhaus zu
kommen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Das Erste, was ich sah, waren Ratten, die in alle Richtungen davonstoben.
Ratten und Wasser, etwas Ungastlicheres kann man sich nicht vorstellen. Aber ich wusste: Das ist es, das Versteck, das ich im-
mer gesucht hatte. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 war es so weit. Meine Mutter hatte von der Geheimen Staatspolizei den De-
portationsbefehl für den kommenden Morgen bekommen. Ab
jetzt lebten wir in diesem Verlies. Wenn ich die Situation in zwei
Worten zusammenfassen sollte, würde ich sagen: Schweigen
und Kälte. Wir, das heißt, mein Vater Alfons Giordano, meine Mutter Lilly Giordano, mein älterer Bruder Egon, mein jüngerer
Bruder Rocco und ich.
Die Nachbarn in den Kellern rechts und links durften selbstverständlich nichts merken. Gretel Schulz, unsere Wirtin, un-
sere Freundin, unsere Beschützerin, arbeitete von neun Uhr
morgens bis achtzehn Uhr abends, war also den ganzen Tag
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weg. Wir durften keinen Mucks von uns geben, kein Laut durfte nach außen dringen. Wir hörten die Stimmen der Nachbarn
sehr genau. Das Kellerloch war zwar in sich abgeschlossen, aber
in dieser Trümmergegend konnte uns jedes Wort verraten. Es gab zwei besondere Risikofaktoren: Meine Mutter hatte, seit ich mich erinnern kann, einen schweren Herzhusten. Schon in meiner Kindheit stand sie mit blau-rotem Gesicht über den Handstein gebeugt und hustete. Dieser Husten ist ihr
ganzes Leben hindurch geblieben und kam in unbestimmten periodischen Abständen wieder.
Die andere Gefahr: Mein jüngerer Bruder Rocco, 1930 geboren und damals also fünfzehn Jahre alt, hatte miterlebt, wie ich am 1. September 1939 zum ersten Mal von der Gestapo ver-
haftet wurde. Seitdem wachte er nachts häufig auf und begann zu schreien, wenn es dunkel um ihn war. Das hörte auch jetzt
nicht auf. Diese beiden Gefahren bedrohten uns. Darum schliefen mein älterer Bruder Egon und ich nachts niemals gleichzeitig, son-
dern immer nur einer von uns. Der andere passte auf, damit er im Ernstfall sofort eingreifen konnte. Und es musste mehrere Male eingegriffen werden, vor allem bei meiner Mutter. Sie hielt sich dann immer ein Kissen vors Gesicht, um den Husten zu
ersticken, und erstickte dabei fast selber.
Alle vierzehn Tage holte ich Proviant, der für uns versteckt worden war, von einem Bundesgenossen, einem ehemaligen
Kommunisten. Wie Gretel Schulz ein Anti-Nazi durch und
durch, er kannte unsere Situation und hatte sich bereit erklärt, uns zu versorgen. Es war ein beschwerlicher Weg. Es ging na-
türlich nur nachts - raus aus dem Versteck, auf die Gleise der
S-Bahn beim Bahnhof Ohlsdorf, zwei Stationen: Rübenkamp,
Alte Wöhr, und dann durch ein Schrebergartengelände zu einem 66
großen Stein. Dahinter war der Proviant versteckt. Es bestand immer die Gefahr, entdeckt zu werden, auch von den Nachbarn.
Deshalb musste auch der Rückweg bei Dunkelheit geschehen.
Ich erinnere die Ratten. Wir waren in einem Zustand, den ich nur schwer schildern kann. Ich denke, nach ein, anderthalb Monaten hatten wir kaum noch Ähnlichkeit mit Menschen.
Ratten merken, wenn ihre Opfer schwach werden, sich nicht mehr wehren können. Dieser Zustand trat Anfang April ’45 ein, nachdem ich zu der Stelle gekommen war, wo sonst immer der Proviant lag - dieses Mal aber nicht. Ich kehrte ohne zu-
rück und wir hatten nichts mehr zu essen, wochenlang waren
wir ohne Nahrung. Ich hab’ noch genau in Erinnerung, dass wir den Hunger nicht im Magen spürten, sondern in den Knie-
kehlen - das ging nicht nur mir so, sondern den anderen auch. Unvergesslich. Wir waren so schwach, dass wir uns nicht mehr wehren konnten. Mein Vater wurde von den Ratten im Gesicht
angebissen, ich habe eine größere Narbe an der Außenseite des linken Oberschenkels. Wir waren einfach zu schwach, uns dagegen zu wehren. Nur mit den Händen zu wedeln hat die Biester
nicht abgehalten. Von Gretel Schulz erfuhren wir, dass die Front immer näher rückte. Unser Leben war nun geworden, was man einen Wettlauf zwischen der Endlösung der Judenfrage und dem Endsieg
der Alliierten nennen könnte. Am 3. Mai 1945 kam Gretel Schulz in unseren Raum. Wir lagen da wie tot. Sie sagte etwas, was ich nie vergessen werde. Zum ersten Mal, seitdem wir in diesem
Loch hausten, sprach sie laut mit ihrer normalen Stimme und
sagte: »Die Scheiße hat also ein Ende!« Hamburg hatte kapituliert. Die 8. Britische Armee mar
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schierte ein. Das hatten wir nicht mehr für möglich gehalten.
Wir wagten uns aber noch nicht gleich raus, nach all der Todesfurcht, sondern erst am nächsten Tag, als wir die Panzer des Feldmarschalls Montgomery hörten. Die kamen aus der Innen-
Stadt, vom Hauptbahnhof und waren auf dem Weg zum Flugha-
fen. Durch Zufall fuhren sie durch die Alsterdorfer Straße. Wir hörten sie dröhnen und da wussten wir: Wir werden befreit!
Aber wir waren nicht imstande, unseren Befreiern aufrecht entgegenzugehen. Auch das sind Bilder, von meinem Vater, meiner
Mutter, die ich nie vergessen werde. Die Waschküche lag im Souterrain, die Treppen konnten wir nur hochkriechen. Und wir konnten auch den Panzern mit unseren Befreiern, die etwa fünfunddreißig Meter entfernt waren, nur entgegenkriechen.
Ich sehe noch, wie die Kleider meiner Mutter durch die bloße
Berührung mit dem Boden zerfielen. Am Straßenrand zogen die Panzer an uns vorbei, eine endlose Kolonne. Plötzlich hielt
einer an, die Luke wurde geöffnet, ein britischer Soldat guckte
raus, starrte uns fünf an, die wir da am Straßenrand lagen. Und auch das werde ich nie vergessen: den Gesichtsausdruck dieses Mannes. Wenn er vorher nicht in Bergen-Belsen oder einem
anderen Konzentrationslager gewesen war, dann hatte er einen
solchen Anblick, wie wir ihn da boten, noch nicht erlebt. Jetzt entdeckte ich, was ich vorher nicht hatte sehen können,
weil es immer dunkel war in unserem Kellerloch: Meine Mutter
Lilly Giordano war mit schwarzen Haaren in das Versteck gegangen, nun waren ihre Haare vollkommen weiß, silbrig-weiß.
Mein Bruder Egon hatte braunes Haar gehabt und seine Haare
waren zur Hälfte weiß geworden. Als ich das sah, habe ich ge-
weint.
Stefan Heym Ein amerikanischer Sergeant am Grabe seines Vaters
Zu Ende: Das deutsche Oberkommando hat sich ergeben, be-
dingungslos. VE-Day, der Tag des Victory in Europe, auf den man so lange gewartet hat, ist gekommen, der Spuk ist vor-
bei. Der Sergeant S. H. kleidet sich langsam an, dann greift er
nach seiner Pistole, begibt sich in den Hof der Villa und feuert das ganze Magazin, eine Patrone nach der anderen, in die Luft.
Draußen laufen die Menschen zusammen, begaffen durch das eiserne Gitter hindurch den einsamen Soldaten, der sei-
ne Pistole im Holster unter der Schulter wieder verstaut und achselzuckend zurückschreitet ins Haus; er wird noch rasch
einen Kaffee trinken, ein Mini-Päckchen Pulver auf eine Tasse heißen Wassers, bevor er quer durch den Park hinübergeht in die Redaktion. Sieg, Sieg bedeutet zunächst einmal zusätzlich Arbeit.
Gerade will er den Rasen betreten, den Kurrasen, den gepflegten, der Kiesweg rund um die Grünfläche ist ihm zu lang und
zu langweilig, und da sind auch die zwei Bübchen, fünf- oder
sechsjährig, die auf dem Gras herumtollen in der Sonne, da - Gott inszeniert sein eignes Theater - taucht eine Amtsperson
auf, eine Art Parkwächter oder auch Förster, in moosgrünen Breeches, die ebenso moosgrüne Jacke stramm über Brust und
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Bauch und das befiederte Hütchen schnurgerade ausgerichtet über der Nasenwurzel, und schnauzt die Bübchen an.
Der Sergeant S.H. versteht nur »Verboten!« und geht zu auf
den Uniformierten und stellt ihn. Er irre sich, teilt er ihm mit, es sei nicht verboten, auf dem Rasen zu spielen, und er möge die Kinder gewähren lassen. Der Mann blickt S.H. an aus ver-
kniffenen Augen, die Lippen zittern ihm, er wagt nicht zu wi-
dersprechen, er deutet nur auf das Schild, weißbemaltes Holz-
brett, dreißig Zentimeter über dem Gras: Verboten! Der Sergeant S. H. grinst. Auch dieses Schild gelte nicht mehr, erklärt er dem Grünen, es sei aus und vorbei nun mit der alten Ordnung, und
Freiheit herrsche von jetzt an in Deutschland, und alle dürfen
tanzen und singen, überall, neue Tänze, neue Lieder, und umherhüpfen auf dem Kurrasen im Kurpark von Nauheim, ka-
piert? Und plötzlich, in dem Ton, den der Mann gewöhnt ist: »Still gestanden! Kehrt! Abtreten!«
Der pariert auf der Stelle, schleicht ab, die Schultern gekrümmt. Eine Welt ist zusammengebrochen, seine. Also doch, endlich: Sieg!
Aber auch die Bübchen haben sich davongemacht, nicht übers Gras, auf dem Kiesweg. Ein abenteuerliches Unterfangen, Zeitungen zu machen in
diesem zertrümmerten Land. Allein schon, daß es wieder keine
Planung gibt, keine durchdachten Direktiven, keine Politik auf lange Sicht, erschwert die Sache; wenn in diesen Blättern etwas vom Atem der Freiheit zu spüren ist, von demokratischer Ge-
sinnung, so kommt der Anstoß dazu nicht von oben, sondern von Habe, besser gesagt, von dem stellvertretenden Chefredak-
teur, dem Sergeanten S. H., durch Habe. Habe laviert; er kennt die Machtverhältnisse, die sich rapide herausbilden in der Ar-
mee und in Kreisen der Militärregierung, er will Konflikte ver 70
meiden, das Unternehmen, Herzenssache für ihn, nicht gefähr-
den; der Sergeant will Politik machen, Deutschlandpolitik, die, nach Lage der Dinge, zugleich Weltpolitik sein wird.
Wahnwitz? Aber es ist eine wahnwitzige Zeit, in der das Un-
terste zuoberst gekehrt wird, Menschen zu Tausenden über die Straße irren, die Wege der Vertriebenen von heut sich kreuzend
mit denen der Vertriebenen von gestern, eine Zeit, in der Werte, geistige und andere, die eben noch als absolut galten, über Nacht zerrinnen, eine Zeit, in der die Zigarette, der Kanten Brot, das Bündel Brennholz mehr gelten als jede Philosophie: Tabula
rasa, darauf es doch möglich sein sollte, etwas wirklich Neues zu schaffen, wenn einer nur imstande ist zu begreifen, was da
vorgeht, und es versteht, diese Vorgänge zu beeinflussen. Er fährt über die durchlöcherte Autobahn, überall sind Um-
leitungen, die Brücke ist zerborsten, also auf waghalsigem Weg
hinunter ins Tal, ein paar Pontons, Bretter darüber, weiter, wieder den Hang hinauf: welche Aussicht von oben, die Städte aus-
gebrannt, tot, ähnelnd riesigen Ansammlungen hohler Zähne. In Kassel interviewt er den Stadtingenieur: Sagen Sie, wäre es nicht praktischer, den Krempel, wie er ist, einfach stehen und
liegen zu lassen und irgendwo nebenan ein neues Kassel hinzustellen? Aber nein doch, antwortet der, unter der Erde ist ja
alles noch da, Kanalisation, Wasserleitungen, Kabel. Natürlich hat der Mann recht, und die Hessische Post wird seine Antwort drucken, so wie er sie gegeben hat, und natürlich ist er auch
Nazi gewesen, was sonst; der Interviewer hat längst aufgegeben, den Deutschen, mit denen er tagtäglich zu tun hat, die Frage zu
stellen: Und wann wurden Sie gezwungen, in die Partei einzu-
treten? In Essen, nach sieben Stunden Fahrt, umbricht der Sergeant
S. H. im Keller unter den Trümmern der Druckerei die Ruhrzei 71
tung; ein paar halb zerstörte Maschinen sind irgendwie zusammengeflickt worden, keiner der Drucker ist unter sechzig, sie
stolpern über die eigenen Füße, heiser keckernd; er fürchtet, sie
werden ihm irgend etwas schieflaufen lassen, nicht aus bösem Willen etwa, eher aus greisenhaftem Übereifer; dann geht auf einmal der Strom aus, ein Panzer ist über das Notkabel gefahren, das quer über den Straßenschutt verläuft; das Blei in den
Setzmaschinen erkaltet, auch wenn das Kabel schnellstens ge-
flickt wird, werden Stunden vergehen, bis man Weiterarbeiten kann; um drei Uhr morgens endlich sind die Seiten fertig, aber
Schorsch, einst Bayer, dann Drucker in Philadelphia und jetzt in amerikanischer Uniform, der sonst den Laden hier aufrechterhält und der ihn abholen sollte mit dem Jeep, liegt betrunken im
Quartier, und allein kann der Sergeant S. H. nicht zu Fuß gehen durch die Ruinenlandschaft, er verlöre nur den Weg, und es ist
Ausgangssperre, und die Militärpolizei schießt scharf.
Ach, und dann Straubing, die Regensburger Post, die nicht in
Regensburg gedruckt werden kann, weil dort alles zerbombt ist, Druckerei und Maschinen, also in Straubing sitzt er und wartet
auf den Kurier aus Nauheim. Der trifft auch pünktlich ein und
übergibt ihm die Kuriertasche. Doch die ist leer: kein Manuskript, kein Photo, kein Layout, kein Fetzchen Papier darin mit
den Randglossen in Habes penibler Schrift. Der Kurier schwört, so sei ihm die Tasche übergeben worden, er habe sie nicht geöffnet, wozu sollte er auch. Der Sergeant S.H. hat ein paar ältere Manuskripte bei sich, Ungedrucktes, das für vorhergehende
Nummern bestimmt war, und eine unfertige eigene Reportage;
dazu könnte man Lokales bringen, gesammelt von dem örtlichen Mann, und sowieso soll das große Communique der drei
Mächte noch kommen, für die Frontseite, Mitte. Dafür hat er
alles vorbereitet, einen Radioempfänger in der Druckerei, einen 72
ins Quartier, vor jedem Gerät sitzen zwei Stenographinnen, alle vier höchlichst empfohlen von der Militärregierung und auch
sie nur gezwungenermaßen Mitglieder der Partei, aber, nach eigenem Geständnis, außer Übung. Eine halbe Stunde vor Mitternacht soll die Übertragung beginnen; genau da schaltet der
Sender München sich ab. Also Luxemburg einstellen. Doch Lu-
xemburgs atmosphärisches Geknatter stört, außerdem haspelt der Sprecher das Dokument auf eine Art herunter, daß die Da-
men nur Bruchstücke verstehen, schließlich der rettende Strohhalm: vom Sender Berlin Teile der russischen Version. Dann
werden die Stenogramme, sämtlich Stückwerk, verglichen, und
der Sergeant S. H. beginnt, zum Wohl und Nutzen der Bürger von Regensburg und Umgebung, aus den vier verschiedenen
Fassungen ein Communique zusammenzufügen. Wenn ich es
heute nachlese, so scheint es mir in Anbetracht der Umstände gar nicht so schlecht geraten zu sein: der Stil jedenfalls ist erheblieh besser als der des Originals. Braunschweig ist, wie Köln, britische Besatzungszone, doch
solange die amerikanische Armee noch dort steht, macht Habe den Braunschweiger Boten, das heißt, der Sergeant S.H. macht das Blatt, nach Habes Direktiven. Braunschweig ist weniger zerstört als andere Städte, vor allem ist die Druckerei in gutem
Zustand, und die Arbeit geht rasch von der Hand, so daß ein
paar Stunden, ein Tag fast, ihm plötzlich zur Verfügung stehen. Könnte man da nicht, so denkt er beim Studium der Straßenkarte, auch via Leipzig zurückfahren nach Nauheim; die Entfernung
wäre nicht wesentlich größer, und am Weg läge Chemnitz ...
Wirkt da ein Heimweh? Nein, so schön war Chemnitz nie, und was ihm dort geschehen ist und seinem Vater und seiner Mutter, macht ihm den Ort nicht sympathischer; aber wieder-
sehen, wiedersehen möchte er die Stadt schon; Chemnitz ist 73
wie ein Kapitel in seinem Leben, zu dem der Schluß noch fehlt.
Außerdem soll da in der Poststraße ein Herr Rosner wohnen, dem die Mutter eine alte Brosche gegeben hat zur Aufbewah-
rung, damit sie den Nazis nicht in die Hände falle wie all ihr anderer Besitz. Und ein gewisser Ballerstedt wird wohl auch noch
vorhanden sein, der Chefredakteur des Chemnitzer Tageblatts, der damals die Haßkampagne gegen den Primaner Flieg anfach-
te und dirigierte. Nur daß Chemnitz eben in der sowjetischen Zone liegt; die Zonengrenze soll irgendwo zwischen Leipzig und Chemnitz verlaufen, genau wo, weiß bei der Neunten Ar-
mee in Braunschweig keiner so recht zu sagen. Er weiht den Fahrer in seine Absichten ein. Corporal Passuello, Philip mit Vornamen, ist Italiener und kommt aus Brooklyn,
von politischen Dingen hat er wenig Ahnung. S.H. sucht ihm
zu erklären, die verschiedenen Besatzungszonen, Ost-West; er verschweigt auch das Risiko nicht, der Trip wäre strikte illegal, was haben zwei amerikanische Soldaten in einem sonst nur Of-
fizieren zustehenden Command Car drüben bei den Sowjets zu
suchen; andererseits, er hat einen Roman geschrieben, Hosta-
ges, das wisse Passuello ja, und dieser Roman ist auch in Moskau erschienen, auf Russisch, in der Zeitschrift Znamye, und sollte es ihnen drüben wirklich an den Kragen gehen, so würde man zum mindesten ein paar Rubelchen aus dem Honorar zur Der Fahrer ist skeptisch, besonders was die Rubelchen be-
trifft. Aber er glaubt nicht an irgendwelche Gefahren, sind wir
nicht Verbündete, wir und die Russen? Also auf nach Leipzig. In Leipzig liegt, wie dem Sergeanten
S.H. bekannt, das VII.U.S.-Armeekorps; dort sollte es einen sowjetischen Liaison-Offizier geben, mit dem man morgen früh wegen des Besuchs in Chemnitz verhandeln können wird.
74
In Leipzig übernachten er und Passuello in einem drittklassigen
Hotel nahe dem zum Gerippe ausgebrannten Hauptbahnhof, und nach dem Frühstück in der Messe des VII. Korps fragen sie sich durch zum Stab.
»A Russian liaison officer?« Der zuständige Captain schüttelt
den Kopf. »Not here. Vielleicht gibt’s einen bei der Neunten Armee in Braunschweig.« »Aus Braunschweig sind wir gerade gekommen«, sagt der Ser-
geant S.H. »Doch wie ist das möglich: Sie grenzen an die Sowjets und haben keinen Verbindungsoffizier?«
Der Captain zuckt die Achseln. »Sie sehen doch!« »Ich möchte aber nach Chemnitz fahren!« »Suit yourself«, sagt der Captain. »Wie Sie wollen. Nur seien Sie ein bißchen vorsichtig. Wir hören, die Russen greifen sich jeden, der ihnen verdächtig erscheint. Noch etwas?«
»No, Sir. Thank you.« Und legt die Hand an die Mütze und
geht. Draußen blickt er den Corporal Passuello an. Der winkt die Bedenken beiseite, »to hell with them. Let’s go!«
Es ist die Zeit der Kirschen. Sie halten an, steigen auf die Motorhaube, pflücken, die dunklen Früchte sind prall, süß, saftig.
Kommt der Bauer, greisenhaft schon, mit hartem, gierigem
Gesicht, und fängt an, auf Sächsisch zu wehklagen: alle kämen sie und stopften sich voll mit seinen Kirschen, die Herren Ame-
rikaner, aber daß einer mal daran dächte, ein Stückchen Schokolade oder eine Zigarette, das nicht, nein, und so weiter und
so fort, bis die gedehnten heimatlichen Klänge dem Sergeanten
S. H. so auf die Nerven gehen, daß er dem Mann einen Riegel
Schokolade zuwirft und ein paar Zigaretten und ihm, in dessen eigenem Dialekt, erwidert: »Nu bleimse mir ahbr vom Leibe mit
Ihrm ehwchen Gejammere, Sie hahm doch nich schlechd gelähbd in diesem Krieche!«
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Der Mann reißt den Mund auf. Lachend fahren sie weiter; die
Straße wird immer einsamer, keine Autos mehr mit den Holzgasöfchen aufmontiert am Heck, keine Bauern auf ihren Leiterwagen, von magerem Klepper gezogen, auch keine Trecks mehr
von Menschen mit Rucksäcken und Handwägelchen: man spürt die Grenze, lange bevor sie in Sicht kommt. Die Grenze
verläuft entlang der Autobahn Dresden-Plauen; die Autobahn
selbst scheint in russischer Hand zu sein, man erkennt Gruppen sowjetischer Soldaten auf dem Damm und Offiziere, die einem
Konvoi nachblicken, der langsam ostwärts fährt, mit roten Fah-
nen und Transparenten geschmückte Lastwagen, darauf Frauen und Männer in Zivil, von den Nazis Verschleppte wohl, Arbeits-
sklaven, die nun heimreisen in die Sowjetunion, ferner Gesang klingt herüber, die sehnsuchtsvollen Melodien; dem Sergeanten
S.H. schnürt sich die Kehle zusammen, auch dafür hat er ge-
kämpft, daß diese frei sind, endlich. Zur linken Seite der von Leipzig nach Chemnitz führenden
Chaussee, bevor man den Damm erreicht, auf dem die Autobahn verläuft, steht das Grenzzelt der Amerikaner, dunkeloli-
ves Quadrat, davor der Posten, reglos wie er das Sternenbanner am Mast. Der Sergeant S. H. begibt sich ins Zelt; irgendein Lieutenant tut Dienst, S. H. erstattet Meldung, der Lieutenant staunt,
»Sie wollen da wirklich hinüber?« »Yes, Sir.«
Der Lieutenant läßt sich den Marschbefehl zeigen, da ist nichts erwähnt von Chemnitz. Aber schließlich, was geht ihn die Sache an, er ist nicht seines Bruders Hüter, und schon gar
nicht dieses merkwürdigen Sergeanten, der behauptet, aus der Stadt hinter den russischen Linien zu stammen. »Corporal!«
ruft er. Ein Schatten löst sich aus dem Dunkel im Innern des Zelts.
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»Begleiten Sie den Sergeanten.« Der kleine Corporal, stellt sich heraus, ist ein Kind russisch-
jüdischer Eltern; er kommt aus Chicago, hat, wie S. H., an der Universität studiert, allerdings Slawistik; hier sitzt er nun fest,
weil sie gelegentlich einen Dolmetscher brauchen; es passiert
immer mal was, zum Beispiel wenn da oben plötzlich welche abspringen von den Lastwagen und den Damm herab gerannt
kommen, auf amerikanisches Gebiet, haben offenbar keine so überwältigende Sehnsucht nach Mütterchen Rußland und Väterchen Stalin, werden aber doch von uns ausgeliefert, ob sie
auch schreien und fluchen und sich wehren: was sonst sollen wir anfangen mit ihnen, sie auf ewig durchfüttern?
Dem Sergeanten S. H. erscheint das kaum glaubhaft, er denkt an den Matrosen Kowaljow, den sowjetischen Helden par excellence, aber der kleine Corporal sieht auch nicht aus wie einer,
der sich Schauergeschichten ausdenkt. Und jetzt sind sie angelangt oben auf dem Damm, vor ein paar Offizieren, deren einer,
den breiten Epauletten nach zu urteilen ein Oberst, sich herab-
läßt, den kleinen Corporal anzuhören. Der nun erläutert ausführlich den Wunsch und die Geschichte des Sergeanten S.H.,
das Russische ist eben doch eine Erzählsprache, volltönend, die
Vokabeln schon von epischer Breite, und die ganze Zeit tappt die auf Hochglanz polierte Stiefelspitze des Obersten auf die welke Grasnarbe. Dann, plötzlich, mit befehlender Handbewe-
gung, zwei Sätze, kurz, abgehackt.
»Sie können gehen«, übersetzt der kleine Corporal, »ja, nach Chemnitz. In zwei Stunden sollen Sie zurück sein.«
Da packt den Sergeanten S.H. denn doch der Zweifel. »Und
keine Bescheinigung?« fragt er. »Kein Papier, keine Unterschrift?« »Propusk?« sagt der Oberst, und darauf etwas, das verärgert
klingt und das der Corporal auf fast klassische Weise übersetzt:
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»Der Genosse Oberst verlangt zu wissen, ob Sie dem Wort eines
sowjetischen Offiziers nicht vertrauen.«
Da salutiert der Sergeant S. H. und marschiert ab. In Chemnitz: an den Kreuzungen die russischen Mädchen
mit Kelle und Maschinenpistole, die verschwitzte Bluse straffgezogen über dem strammen Busen; auf dem Weg zum Kassberg läßt er halten und küßt die eine; Passuello knipst das. Eine sonderbare Fahrt, er in amerikanischer Uniform mit Ordens-
bändchen und Rangabzeichen und Waffe, hoch auf seinem
amerikanischen Militärwagen mit amerikanischem Fahrer; die Straßen, selbst die zerstörten, erscheinen vertraut; auffällig sind die Trupps, Nazis wohl, die unter Aufsicht einer neuen, ärmlich
uniformierten Polizei Trümmer forträumen. Das Durcheinander der Gedanken, die ihn bestürmen, wird er ordnen müssen,
wenn er wieder in Nauheim sein wird, oder gar später noch; auf jeden Fall ist die Chemnitzer Welt, die auf dem Kopf stand seit
jener überfüllten Massenversammlung gegen ihn im großen Saal der Gaststätte Meistereck, wieder auf die Füße gestellt worden, aber mit welchen Kosten!
Die Hoffmannstraße. Das Haus, in dessen Parterre die Fliegs einst wohnten, steht noch; der wilde Wein jedoch, der an den
Mauern rankte, ist verbrannt, und die Mauern selber sind be-
sät mit Narben, die Kugeln und Granatsplitter in sie rissen. Die Wohnung ist abgeschlossen; er läutet, keine Antwort. Er steigt
durch den Keller in den Hintergarten, dann die paar Stufen zur Terrasse hinab, von dort gelangt er, ein kräftiger Druck genügt, durch die Küchentür in die Wohnung. Aber es ist nichts mehr
da von früher, auch in seinem Zimmer nicht, kein Figürchen,
kein Wandteller, kein Bild; alles hier ist fremd, schäbig, kleinbürgerlich, der Fleck, wo das Hitlerportrait vor kurzem noch
hing, deutlich zu sehen; er flieht. 78
Zum Geburtshaus am Kaiserplatz. Nur noch die Vorderwand
steht, jemand hat mit Kreide eine 13 neben den Eingang geschrieben, der ins Nichts führt, vor diesem Eingang läßt er sich
abermals photographieren, Passuello ist geduldig, er tut, was
sein Fahrgast wünscht, fährt ihn, wohin der wünscht; mitunter wirft er einen Blick auf ihn - Neugier? Mitleid? Verständnis?
Zum Staatsgymnasium, das jetzt ein Lazarett ist, ein deutsches. Und wieder das Traumerlebnis, die Jahre, die Räume. Er
geht durch die große Halle zum hinteren Ausgang, die halbe
Treppe hinunter zum Schülerpissoir mit den geteerten Wänden, natürlich muß er pinkeln, wie einst, aber es steht keiner neben ihm heute und macht Witze über sein beschnittenes Glied, vielleicht ist er überhaupt der einzige Überlebende aus seiner Klasse;
weiter, hinaus in den Schulhof, wo er so oft wie geächtet stand, und in die Turnhalle; irgend etwas muß er mitnehmen von dort, nicht als Souvenir, darüber ist er erhaben, aber als Beweis, daß
er hier war, in dieser Schule, wo sie ihm das Trauma zufügten, das er jetzt überwunden hat, abgestreift den letzten Grind der
Wunde, nur die Narbe bleibt, aber auch die wird verblassen.
Also greift er sich eine jener hölzernen Keulen, mit denen man armeschwingend geturnt hat, und stolziert zurück durch den
Hauptbau, und nimmt in der Eingangshalle noch einen Grundriß der Schule von der Wand, unschön gerahmt, aber mit der
Inschrift Königliches Gymnasium zu Chemnitz, und gerade da, nachdem aus Ecken und Winkeln irgendwelche Lemuren längst
schon hervorgelugt und ihre Köpfe rasch wieder zurückgezogen haben, tritt die Autorität auf in Gestalt des Chefarztes. Nein, hebt er die warnende Hand, dieses nun nicht, den Rahmen
nicht mit dem Grundriß des Hauses, der sei, wie alles hier jetzt,
Eigentum der Sowjetmacht, und auf den Hinweis, die Sowjets
wären ja wohl Verbündete der USA, des Chefarztes gequälte 79
Antwort, ob eine Kopie des Grundrisses dem Herrn Amerikaner vielleicht genüge? Der nickt, erhält, wenig später, die Kopie,
bereits säuberlich zusammengerollt, und geht davon, wird aber am Tor noch von einer Gruppe lärmender Kinder gestellt, die
wissen wollen, wann denn nun die Amerikaner nach Chemnitz kämen, wegen der Schokolade, die Russen gäben ihnen keine, nur klebriges Schwarzbrot. Und dann zum Tempel, zum jüdischen, am Stephansplatz,
ein Katzensprung vom Staatsgymnasium herüber, den Weg
kennt er, er ist ihn oft genug gegangen an minderen Feiertagen;
an hohen kam man gar nicht erst zur Schule. Es dauert eine Minute oder zwei, bis er begreift, warum er den Tempel nicht
finden kann: der Tempel ist verschwunden, kein Stein davon mehr da, kein Ziegelbröckchen; Gras wuchert, wo der Bau einst
stand mit seinen Türmchen und bunten Fenstern, jüdisches Spätbarock mit orientalischem Einschlag; sie haben den Tempel verbrannt und die verkohlten Trümmer fortgeräumt; jetzt
ist die Stadt selbst zur Trümmerlandschaft geworden, und nur
hier grünt Leben. Weiter, wie gehetzt, zum Friedhof. Von der Mutter weiß er die ungefähre Lage des Grabes und daß sie es hat abdecken las-
sen mit einem großen flachen Stein, letzte Wohltat für den ge-
liebten Mann, bevor sie fort mußte ins Ghetto von Berlin. Und er, der Sohn, ist nicht imstande, das Grab zu finden, denn die Nazis haben die Kopfsteine umgestürzt, reihenweise, mit der
Inschrift nach unten, so stellt er sich denn vor irgendeins der
geschändeten Gräber und salutiert, Hand am Helm, Ehrengruß dem Vater und allen Toten hier; und da er kehrtmacht auf dem Absatz und langsam weggeht, sagt Passuello zu ihm: »Nimm’s
nicht so schwer; wir haben doch gesiegt.«
Inge Jens Nach dem Krieg
Nach dem Krieg: eine zu Beginn des Jahres 1945 sich realistisch
abzeichnende Zeitvorstellung. Die Front rückte näher. Der Geschützdonner war tagsüber im Krankenhaus und nachts in den
vor der Stadt ausgehobenen Schützengräben immer deutlicher
hörbar. Zeitungen gab es schon lange nicht mehr, auf Radiomeldungen war wenig Verlass. Man konnte nur warten.
Eines Morgens rollten dann die US-Panzer durch die Straßen. Ich hatte mich vom Keller - wo wir, gemeinsam mit den übrigen Bewohnern unserer Notunterkunft, die letzten Tage verbracht hatten - in die Wohnung geschlichen, stand wie in
einem schlechten Film hinter der Gardine, sah ziemlich ratlos den durchrollenden Fahrzeugen nach und versuchte meine
Gefühle zu analysieren. Eine Empfindung von Niederlage, Ende, Schmach und Verzweiflung, so, wie ich es gelesen hatte, dass man sie haben müsste in einem solchen Moment, wollte sich
nicht einstellen. Im Gegenteil, ganz commentwidrig überkam mich - das weiß ich noch genau - ein ungeheures Gefühl der
Befreiung und des Glücks: »Mein Gott, es ist vorbei. Jetzt wird alles anders werden.«
Nun, es wurde anders - aber zunächst doch sehr anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich musste lernen - und auch das
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anders als gedacht. Aus der ersten Nachkriegszeit - sie liegt im-
merhin über sechzig Jahre zurück - sind mir nur Bildfetzen und einzelne Eindrücke haftengeblieben, die im Rückblick jedoch
exemplarische Bedeutung gewonnen haben.
Da war zunächst die Geschichte mit dem Rad, auf dem mein Vater zur amerikanischen Kommandantur gefahren war. Er kam nicht wieder. Ich ging ihn suchen. Ein freundlicher Offi-
zier erklärte mir, man habe ihn als Kriegsverbrecher - er war ja Chemiker - interniert. Vermutlich sei er in einer der Baracken des ehemaligen Truppenübungsplatzes Sennelager bei Osna-
brück. Ich fragte nach seinem Fahrrad. Man gab es mir bereitwillig heraus. Aber es war abgeschlossen, und ich hatte keinen Schlüssel. Kurzes Palaver der Offiziere. Dann ließen sie einen Jeep kommen und fuhren mich mitsamt dem blockierten Rad nach Hause. Diese Handlungsweise gab mir zu denken. Sie wollte nicht recht in das mir bisher so selbstverständliche Freund-
Feind-Schema passen. Auch das, was ich dann bei dem Versuch
erlebte, meinen Vater im Sennelager ausfindig zu machen und ihm nächtens einige Briefe und Lebensmittel zukommen zu las-
sen, war eine neue Erfahrung: Die Wachposten sahen nämlich
auch dann noch weg, als ich ihnen ihre kurz zuvor zwar recht
freundlich vorgetragenen, aber doch eindeutigen Wünsche abgeschlagen hatte. Ich war dankbar für solche Zeichen von Sie-
ger-Generosität - doppelt dankbar angesichts einer Realität, auf die ohnehin keine erlernte Norm mehr passen wollte.
Langsam gab es auch wieder Zeitungen, vierseitige Nach-
richten- und Informationsblättchen, sowie Rundfunksendungen, deren Inhalte mich gelegentlich in panikartige Ängste stürzten. Was ich dort an widersprüchlichen Meinungen und gegensätzlichen Einschätzungen las und hörte, konnte ich mir nur als Vorbereitung auf eine neue kriegerische Auseinander
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Setzung deuten. Die Möglichkeit eines friedlichen Austragens
- zum Beispiel in Form ziviler Diskurse - lag außerhalb meiner
Erfahrung: erste spürbare Nachwirkung des rüden, autoritätsfixierten Schwarz-Weiß-Denkens, in dem ich in politicis zwölf
Jahre lang erzogen worden war. Schrecklicher als alles Bisherige aber waren die Nachrichten
und Bilder von den KZs. Das konnte, das durfte nicht sein; das
war Propaganda der Sieger. Und dann doch: das Erkennen-Müssen, die vorsichtige Nachfrage, das Entsetzen, die Ratlosigkeit
und die Angst vor den Konsequenzen der Wahrheit... und alles
immer wieder verdrängt, überwuchert durch die Anforderungen des praktischen Lebens. Wir wohnten, nach mehreren Teilausbombungen, mit zwölf
Personen im Alter von zwei bis siebzig Jahren in einer Zwei-
Zimmer-Werkswohnung der Holzmindener Fabrik. Zu unse-
rer sechsköpfigen Familie hatte sich zunächst meine in Bonn obdachlos gewordene Großmutter, dann, wenige Wochen vor
Kriegsende, auch die verwitwete Schwester meiner Mutter nebst drei kleinen Kindern gesellt, die nach dem verheerenden
Angriff aus Dresden geflohen waren. Für alle - mit Ausnahme
meines Vaters, der, ehe er interniert worden war, als einziger
Mann in den zweiten, als Ess-wohn-Areal genutzten Raum verbannt wurde - gab es für die Nacht ein Zimmer, in dem die Schlafgelegenheiten so angeordnet waren, dass man wie die
Sardinen: Kopf/Fuß, Fuß/Kopf, liegen konnte. In den Wasch-
Schüsseln - ein Bad gab es nicht, der einzige Wasserhahn befand sich in der Küche - mussten auch Kartoffeln und Rüben prä-
pariert werden. Das konnte auf die Dauer nicht so weitergehen, zumal es in Hamburg ein Haus gab, das, wenn es denn noch stand, Platz zumindest für eine Familie bieten würde.
Mein nächstes Bild: auf dem Kohlenzug nach Hamburg. Koh 83
lenzüge waren damals das einzige Transportmittel, auf das eini-
germaßen Verlass war. Die Besatzungssoldaten drückten ange-
sichts der zigtausend vagabundierenden Menschen ein Auge zu. Die Fahrt von Holzminden nach Hamburg dauerte sechs-
unddreißig Stunden. Als ich schließlich bei einer Tante ankam,
erkannte sie das schwarze Wesen zunächst nicht. Aber, was wichtiger war, das Hamburger Haus stand im Wesentlichen,
und nach etlichen Laufereien um Dokumente, die den Wechsel
von der amerikanischen in die englische Besatzungszone erlaubten, erhielt ich die Rückkehrbewilligung für meine Mutter und die Geschwister, sodass die Familie gegen Ende des Jahres
1945 wieder ein Zuhause hatte.
Ich versuchte, die Studienzulassung zu erhalten, ein Unterfangen, das sich zu diesem Zeitpunkt für eine achtzehnjährige
Frau als in jeder Weise hoffnungslos erwies. Also: ein halbes
Jahr Schnellkurs Handelsschule, mit Englisch, Stenographie und Schreibmaschineschreiben. Das konnte nichts schaden.
Neben der Schule verschaffte ich mir Taschengeld durch Gelegenheitsjobs - was mich, wie ich erstaunt feststellte, in den Augen meiner aus den sogenannten ersten Hamburger Kreisen
stammenden Mitschüler sozial ziemlich unmöglich machte.
Nun, ich suchte mir andere Freunde und war um eine inter-
essante Erfahrung reicher. Im Frühjahr 1946 dann die erste durchs Arbeitsamt ver-
mittelte Stelle als Sekretärin beim NWDR - beim Nordwestdeutschen Rundfunk an der Rothenbaumchaussee. Nicht ohne
Herzklopfen machte ich mich auf den Weg. Ich wurde freundlieh empfangen und von einer der auffallend gut aufgemachten und in enganliegende rote Rollkragenpullover über grauen Ho-
sen ansprechend gekleideten weiblichen Angestellten zu zwei uniformierten Herren mittleren Alters geleitet, deren Namen 84
mir etwas sagten. Trotzdem dürfte meine Erinnerung, dass ich Hugh Carleton Greene, dem damals sehr bekannten und
für den Wiederaufbau eines deutschen demokratischen Rundfunks zuständigen langjährigen Deutschlandkommentator der BBC, gegenübergesessen hätte, falsch sein. Es ging schließlich um die Besetzung einer Sekretärinnenstelle. Doch wie auch immer: Ich verließ das Funkhaus mit dem Ge-
fühl, einen guten Eindruck gemacht zu haben. Der ablehnende Bescheid ein paar Tage später verunsicherte mich nachhaltig -
vor allem wegen seiner Begründung: Als ehemalige HJ-Führerin sei ich ungeeignet für die Arbeit in einer sich der deutschen
Reeducation widmenden Institution. Das traf mich, obwohl
an der Richtigkeit des angegebenen Grundes ja kein Zweifel bestand. Es muss die unerwartete Konfrontation mit den KonSequenzen meiner Tätigkeit gewesen sein, die mich irritierte.
Bis zu diesem Moment hatte ich mich als Individuum nicht
»schuldig« gefühlt und trotz allen Erschreckens angesichts der Offenbarung deutscher Gräueltaten nie daran gedacht, dass
man mich sozusagen persönlich haftbar machen würde für Verbrechen, die ich nicht begangen, ja, von denen ich nicht
einmal etwas gewusst hatte. Das Problem der Kollektivschuld, über das wir wenig später leidenschaftlich diskutierten, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ansatzweise in mein Bewusstsein gedrungen. Die Ablehnung des NWDR wirkte als
eine unerwartete Kränkung meines Selbstgefühls recht lange
weiter und war später - wie ich heute glaube - zumindest mitbestimmend für mein durch die Arbeit an Thomas Manns Ta-
gebüchern neuerlich gewecktes Interesse an Problemen, die mit dem Eingestehen von Schuld zu tun hatten: von der problemati-
sehen Verpflichtung aller erwachsenen Deutschen, den berüch-
tigten Fragebogen zur eigenen Vergangenheit auszufüllen, bis
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zu der Hoffnung der Emigranten auf umfassende Einsicht und ein klares Geständnis. Damals, 1946, blieb mir indes nichts anderes übrig, als mein
Glück entweder bei Privatfirmen oder aber bei den Behörden und Einrichtungen der englischen Besatzungsmacht zu ver-
suchen. Man schickte mich auf ein sogenanntes Interzonenpass-Amt, wo ich von morgens neun bis nachmittags vier Uhr
- unterbrochen durch eine einstündige Mittagspause - die Namen der antragstellenden Personen sowie deren jeweilige Reise-
ziele in vorgedruckte Formulare tippte:»... is allowed to enter the French occupied Zone of Germany and to proceed to ...«
Nach vier Wochen hielt ich es nicht mehr aus. Aber die Erkenntnis, was eine solche Arbeit mit einem Menschen machen kann,
ist mir geblieben. Ich fand einen neuen Job als Dolmetscherin in einer englischen Transporteinheit und hatte das Glück, in meinem vor-
gesetzten Sergeant einen Mann zu treffen, der wie ich davon
träumte, einmal studieren zu dürfen. Er bestand darauf, dass ich - obwohl Nichtraucherin - die Zigaretten annähme, die er mir
anbot. Sie reichten aus, um mein Studium bis zur Währungsreform zu finanzieren.
Aber so weit war es zunächst noch nicht. Immerhin erhielt ich im Herbst 1946 die Zulassung zu einem sogenannten Vorkurs, in dem uns im Eilverfahren jene Minimalkenntnisse, vor
allem in Latein und Mathematik, beigebracht wurden, die zum
Erhalt einer Studienzulassung nachgewiesen werden mussten.
Ein hartes halbes Jahr - aber im Frühjahr 1947 hatte ich das Abitur in der Tasche. Doch was hieß das schon? Die Versuche, mich
in der medizinischen Fakultät zu immatrikulieren, erwiesen
sich als aussichtslos; Vorrang hatten die aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten. Mein Freund Werner überredete mich zur 86
Bewerbung an der philosophischen Fakultät. In Erinnerung an meine Passbehörden-Zeit willigte ich ein. Ich konnte mich auch als Lehrerin denken. Besser als Büroarbeit war jedenfalls
alles.
Es war ein folgenreicher Kompromiss, auf den ich mich einließ; und wenn ich auch zunächst noch in der Hoffnung lebte,
eines besseren Tages wieder zur Medizin zurückkehren zu können, so erlag ich, trotz meines anfänglich recht wahllosen Lesens und Studierens, doch zunehmend der Faszination, die nun einmal mit dem Sichauftun neuer Welten verbunden ist.
Im Nacharbeiten der literarhistorischen Kollegs und, vor allem,
von Wilhelm Flitners Vorlesungen über die Geschichte der abendländischen Bildung erlebte ich zum ersten Mal die Vielfalt menschlicher Denk- und Lebensmöglichkeiten und hatte Ver-
gnügen an dem Versuch, anderes, teilweise auch Fremdes, zu verstehen und in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Dazu kamen völlig neue Kontakte im sozialen Raum. In der
Studentengemeinde hörte ich zum ersten Mal Namen wie Mar-
tin Niemöller, Gustav Heinemann, Eugen Kogon oder Walter Dirks und lernte unter meinen - meist älteren - Kommilitonen
Menschen kennen, für die die NS-Zeit nicht ausschließlich
Krieg, sondern auch Faschismus mit allen Schrecken und Repressionen bedeutet hatte, die schikaniert und verfolgt worden
waren und sich Widerstandsgruppen angeschlossen hatten. Die Begegnung mit diesen für mich zunächst so »anderen«
Studierenden verdankte ich in erster Linie meinem Freund Werner, der mich schon vor meiner Studienzeit zu den wö-
chentlichen Zusammenkünften mitgenommen hatte. Er wohn-
te auch in Wandsbek, brachte mich abends wieder nach Hause und war überhaupt einfallsreich, einfühlsam und hilfreich um mich bemüht. Er studierte Indogermanistik und forschte über
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irgendwelche amerikanischen und indianischen Stammesspra-
chen, entwarf Grammatiken und war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Linguistik. Später lehrte er in den USA, schließlich in Kiel und Hamburg. Wir blieben in loser Verbindung und
wechseln noch heute von Zeit zu Zeit einen Brief. Seine Frau starb vor einigen Jahren. Ich verdanke ihm viel, unter anderem auch Hilfe bei der Immatrikulation, die ich ohne ihn vermutlich
nicht geschafft hätte. Etwas später, als ich bereits ordentlich studierte, traf ich dann
auch den Juristen Hans. Er »warb« mich für einen Diskussionskreis im Hause des Hamburger CDU- Politikers Erik Blumenfeld, der in einer schönen Villa am Rondeei wohnte (eine Adresse, die
mir per se Respekt einflößte). Man traf sich vierzehntägig oder
dreiwöchentlich, ich weiß es nicht mehr, und redete über den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands, »Trizonesien«, die »SBZ«, den Marshall-Plan, die Berlin-Blockade oder die Vorbereitungen für das Grundgesetz. Die Art der Diskussion bei
diesen Veranstaltungen gefiel mir. Ich hörte vorwiegend zu, las
aber fortan die Zeitung mit etwas weiter reichendem Interesse und wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Den Ehrgeiz, den Diskussionen mit Gewinn folgen zu können, hatte ich allemal. Und schließlich war da auch noch FW. Er studierte LiteraturWissenschaft wie ich, gehörte, als ich ihn kennenlernte, aber be-
reits zum Seminar-»Establishment«, arbeitete als studentische
Hilfskraft und kannte sich aus. Er hatte mich offenbar ein paar
Mal gesehen, als ich mit meinem Cello unterwegs war. Das hatte ihn interessiert, weil er das gleiche Instrument spielte, es aller-
dings, wie sich bald herausstellte, wesentlich besser beherrschte als ich. Er musizierte gelegentlich mit seinem Vater, einem emeritierten Professor für Orthopädie, wenn ich mich recht er-
innere. Wenn man Quartett, Trio oder gar Quintett spielte, war 88
ich gelegentlich dabei. Was ich sah und hörte, machte mir Ein-
druck. Es war eine völlig andere Welt.
Mit FW ging ich auch zu Vorträgen und Lesungen zeitgenös-
sischer Autoren, die von Zeit zu Zeit im unweit der Uni gelege-
nen Sendesaal des Nordwestdeutschen Rundfunks stattfanden. Ich erzählte ihm von meiner Niederlage als Bewerberin um eine Anstellung in diesem Haus. Er versuchte, sie mir plausibel zu
machen, indem er mir sozusagen meine Vergangenheit erklärte und Kategorien zur Beurteilung dessen anbot, was da zwölf Jahre lang in unserem Land passiert war und warum es geschah.
Er kannte die »andere Seite« gut und stand ihr nahe, ohne selbst
dem Widerstand angehört zu haben. Er lehrte mich, etwas grundsätzlicher nachzudenken und insistierender zu analysieren. Und er wies mich nachdrücklich auf ein schwarzes Brett
mit Aufrufen hin, die das Emblem des zerbrochenen Gewehrs, das Zeichen der Kriegsdienstverweigerer, trugen. Kriegsdienstverweigerung als Friedensdienst: Das erschien
mir zunächst ungeheuerlich, und das Umdenken, Neudenken,
ja, in diesem Punkt erstmals wirkliche Denken außerhalb der hergebrachten Bahnen war schwer und brauchte Zeit. Aber er
gab sie mir. Später hörten wir das eine oder andere Konzert mit-
einander und gingen gelegentlich - etwas völlig Neues in meinem Leben - zusammen in ein Cafe und aßen Kuchen.
Was das häusliche Leben anging, so war mein Vater nach gut zwei Jahren aus der Internierung zurückgekehrt. Die Freude, ihn wiederzuhaben, war ehrlich. Und doch veränderte seine
Anwesenheit die Binnenstrukturen der Familie nicht unwesentlieh. Es gab plötzlich wieder ein Familienoberhaupt, das - ohne
sich auch nur im Geringsten autoritär oder gar rechthaberisch
zu gebärden - doch ganz selbstverständlich die innerfamiliäre
Verantwortung und Entscheidungskompetenz für sich in An 89
Spruch nahm. Das bedeutete für uns alle, in erster Linie aber
natürlich für meine Mutter, eine recht einschneidende Umstellung, zumal sie sich gerade - aus welchen Gründen, vermag ich nicht mehr zu sagen - dazu durchgerungen hatte, eine bezahlte Tätigkeit zu ergreifen und ein konkretes Angebot des besagten »Nachbarn von gegenüber«, des in Hamburg gut bekannten Op-
tikers Weser, anzunehmen. Ich hatte das Gefühl, die Neugier auf eine derartige neue Erfahrung überwog ihre Ängste vor einem
Dasein, das sie während ihrer nahezu fünfundzwanzigjährigen Ehe noch niemals ausprobiert hatte. Nach der Rückkehr meines Vaters jedoch war von einer solchen Tätigkeit nicht mehr die
Rede.
Ob meine Mutter ihre Pläne freiwillig aufgegeben hatte, etwa, weil sie nicht mehr gezwungen war, Geld zu verdienen, oder ob es mein Vater von ihr verlangt hatte, weil er glaubte, es nicht zulassen zu dürfen, dass seine Frau »arbeiten ging«, vermag ich
nicht zu sagen. Ich fürchte, es war Letzteres - zumal er selbst es nicht leicht hatte, eine ihn befriedigende Arbeit zu finden. In
seine alte Fabrik konnte er wegen seiner zumindest formalen
NS-Belastung zunächst nicht zurück. Und auch wenn er sehr bald eine ihm zusagende Anstellung im Bereich der Herstellung
von Gefrierkaffee fand, hatte er zu kämpfen mit Ressentiments und dem Gefühl, zu Unrecht gedemütigt worden zu sein. Aber, wie gesagt, über all das wurde mit den Kindern - oder auch
nur in ihrer Gegenwart - nicht gesprochen. Erst viel später hat meine Mutter mir gegenüber mal eine Bemerkung gemacht, die darauf hindeutete, dass es für sie damals keine Alternative
gegeben hatte.
Für mich hieß die Heimkehr des Vaters Entlastung von den
Verpflichtungen, die mir als ältestem der Kinder ganz selbstverständlich zugefallen waren. Ich konnte daran denken, den
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Studienort zu wechseln. Mein Vater hatte in Tübingen studiert.
Also versuchte auch ich es mit Tübingen. Dass ich mit dieser
Entscheidung meinen Medizinertraum endgültig begrub, war
mir, glaube ich, nicht bewusst. Das Problem war in den Hintergründ getreten. Im Augenblick studierte ich Literaturwissen-
schäften und Bildungsgeschichte: nicht sehr orthodox, aber mit Spaß. Der Zugang zur Tübinger Uni erwies sich als schwierig. Man
war streng in der französischen Zone. Ich erhielt die Aufforde-
rung zu einem »Vorstellungsgespräch«. Das hieß: 36 Stunden Bahnfahrt hin, 36 Stunden zurück. Zwischendrin Rede und
Antwort stehen vor der Zulassungs-Kommission. Es war zu Beginn des Jahres 1949, ich war gerade 22 Jahre alt geworden. Drei Semester in Hamburg lagen hinter mir, gute
Zeugnisse hatte ich beibringen können, die mir vermutlich
überhaupt erst den Zutritt zu dem erlauchten Kreis ehrwürdi-
ger Männer - es war, das weiß ich genau, keine einzige Frau unter ihnen - ermöglichten. Ein kurzes Kreuzverhör über bisher
Studiertes, generell freundliche Mienen. Doch dann interessierte man sich - wenn die Erinnerung nicht trügt - mal wieder
ausschließlich für meine politische Vergangenheit. Aber es war, das tat mir wohl, keinerlei Vorverurteilung zu spüren, sondern man stellte nur recht konkrete Fragen: Ich war, das konnte der
Protokollführer meinen Unterlagen entnehmen, BDM-Führerin gewesen und sollte nun sagen, warum ich das wurde und
worin meine Tätigkeit bestanden hatte.
Ich musste an das Gespräch mit meinem HJ-Schulleiter
Wolfgang Jünemann denken: Ja, warum war ich BDM- oder, genauer, Jungmädelführerin geworden? Ich weiß nicht mehr, was ich damals antwortete, erinnere nur noch, dass mir die Frage
nachging und ich nicht ohne Beschämung feststellte, dass ich
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zwar über die Folgen, nicht aber über die Gründe meines Engagements nachgedacht hatte. Ganz überzeugend kann ich sie
auch heute noch nicht beantworten. Es war alles so selbstver-
ständlich gewesen: Meiner ganzen Veranlagung nach war ich
immer lieber »Partnerin« als »Untergebene«. Geltungsdrang? Vielleicht. Aber auch ein starkes Bedürfnis, so zu werden wie
meine »Führerinnen«, jedenfalls wie die unter ihnen, die ich wegen ihrer Kompetenz und Sicherheit im Auftreten bewun-
derte. So wie mir in der Familie mit zunehmendem Alter und provoziert durch manches Unvorhergesehene fraglos Kom-
petenzen zugefallen waren, die ich gern akzeptiert und auch zur Geltung gebracht hatte, muss es auch bei den Jungmädeln
gewesen sein. Die Hierarchie war vorgegeben, und ich war vermutlich nicht gleichgültig genug, um nicht den Wunsch zu spüren, innerhalb des Vorgegebenen so weit wie möglich Eigenes
zur Geltung zu bringen.
Eines allerdings weil? ich sicher: Mit »Ideologie« oder NS-Indoktrination hatte meine »Karriere« allenfalls am Rand zu tun. Das sage ich nicht als Entschuldigung, sondern um zu erklären,
dass meine Tätigkeit als Jungmädelführerin mein Bild von der mich umgebenden politischen Wirklichkeit so gut wie nicht
tangierte. Ich gewann weder neue Einsichten, noch festigte sich
mein Weltbild. Sehr wohl aber hatte ich Idole, Vorbilder, denen nachzueifern ich mich bemühte. Was von diesen Überlegungen ich während des Verhörs da-
mals zu Protokoll gab, weiß ich nicht einmal mehr in Umrissen. Vermutlich nichts, sie sind neueren Datums. Ich erinnere nur
noch, dass man im unzerstörten Tübingen über Luftschutzund K LV-Einsätze eigentlich nichts hören wollte, dafür aber von
Spielscharfahrten, Kräuter- und Altmaterialsammlungen. Ein
etwas zähes, ratloses Palaver - bis plötzlich ein kleiner Mann
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aufsprang, mich fragte, wie alt ich sei, und auf meine Antwort hin mit der Faust auf den Tisch schlug, dass nicht nur ich zusammenschrak: »Meine Herren, ich weigere mich, hier weiter-
hin Kinder zu verhören.« Sprach, drehte sich um und ging. Die
Sitzung war zu Ende. »Sie werden von uns hören.« - Nun, ich
bekam die Zulassung. Der kleine Mann war, wie ich viel später erfuhr, Theologe und hieß Otto Bauernfeind. Noch später, bei
den Recherchen für unsere Universitätsgeschichte, stellte ich fest, dass er einer der ganz wenigen aufrechten Regimegegner
an der alma mater Tubingensis gewesen war.
Wolfgang Joop Er verlangte von mir, die Mutter mit ihm zu teilen
Ihren Vater kannten Sie zunächst nur von Fotos. Er war lange in russischer Kriegsgefangenschaft. Erinnern Sie sich noch gut an Ihre erste Begegnung?
Das ist eine wirklich traurige Geschichte. Ich weiß noch, dass ich stramm gekämmt war und eine Haarklemme trug. Ich saß
auf einem Stuhl mitten im Zimmer, und meine Mutter sagte, ich
solle dem Vater ein Bild malen, und da malte ich ihm das Rotkäppchen. Ich weiß es deswegen so genau, weil meine Mutter kurz zuvor im Wintersport einen sehr gut aussehenden blon-
den Liebhaber gehabt hatte, einen Grafiker - schon das Wort fand ich damals sehr unanständig. Der malte für meine Kinder-
äugen verstörende Vierziger-Jahre-Frauenakte in neckischen
Posen. Ich fand ihn und seine Werke ekelhaft. Und dieser Mann hatte mir kurz zuvor beibringen wollen, dass man Rotkäppchen ordentliche Titten ins Leibchen zu malen hatte, was ich
einerseits als eine Einmischung in meine Werke und anderer-
seits auch als irgendwie grenzüberschreitend empfand. Außerdem wälzte er sich des Öfteren mit meiner Mutter im Schnee, und mir war doch versprochen worden, dass mein Vater gleich
kommen würde ... 94
Wann kam er denn dann wirklich wieder?
Als ich gerade acht war, nach hundertmaliger Ankündigung und dem Nachtgebet: »Lieber Gott, mach mich fromm und mach, dass Vater wiederkommt.« Zur Tür herein trat aber ein
anderer Mann als der, den ich vom Foto her gewohnt war. Kahl
geschoren, hohläugig und mager. Er hatte keinen Blick für die
Zeichnung, die ich ihm hinhielt. Ich saß da, dann sagte er zu mir: »Gibst du gern ab?« Ich wusste auf der Stelle, was er meinte.
Ich wusste, er verlangte von mir, die Mutter mit ihm zu teilen. Sie klingt grausam, diese erste Frage. Meinen Sie, er hatte sie sich
lange überlegt? Es kann sein, dass er kurz vor dem Wiedersehen mit seinem Sohn wirklich vor allem dachte: Wenn er glaubt, die Mutter ge-
hört ihm allein, dann soll er gleich mal sehen, wer jetzt der Herr
im Hause ist. Aber für den Achtjährigen war er nur einer der
vielen fremden Männer, die die Mutter und ihre beiden Schwestern besuchten. Nach seiner knappen und wohl doch freundlich gemeinten Frage ließ man mich auf meinem Stuhl sitzen. Die nach sieben Jahren einander Wiedergefundenen verschwanden nebenan im Ehebett, und statt Freudentränen quollen Schreie
aus dem Türrahmen. Die Tür war verschlossen. Ich wuss-
te, dass eine beschissene Zeit angebrochen war. Wie lange sie dauern würde, wusste ich nicht.
Wir hatten einen Grundwasserteich in der Wiese, am Ufer zwei mächtige Weiden, die noch heute dort stehen. Auf die
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eine bin ich immer raufgeklettert, wenn ich unglücklich war,
ganz nach oben. Da saß ich stundenlang und hoffte, dass der Tag bald verstreicht. Unser Garten war gleichzeitig die Pforte zum Park Sanssouci, eine unbeschreibliche Kulisse für aus den Fugen geratene kindliche Träume. Die Üppigkeit des Kontraste
zwischen pulsierendem Leben auf engstem Raum auf unserem Gut und die dekorative Melancholie leerer Schlösser und Parkanlagen machten aus mir sowohl einen einsamen Bauernjun-
gen als auch einen einsamen Prinzen. Es war niemand da, der mir auf meinen Wegen folgte. Also bildete ich mir tatsächlich
ein, dass das alles mir gehören würde. Ich beobachtete Vögel und Schmetterlinge, sah Wolken hinterher und Flugzeugen, die damals ständig von Berlin kamen, dickbäuchige mit run-
den Flügeln, die mir immer Angst machten, ohne dass ich deuten konnte, warum. Das muss wohl eine tiefer sitzende Er-
innerung an Bomber gewesen sein. Auch Sirenen hörte man noch häufig, selbst zu der Zeit. Wohl immer zu bestimmten
Stunden - weshalb, wurde mir nie erklärt. Vater rief mich der hatte mir nichts zu befehlen! Er rief und rief, und ich kam
nicht. Erst als es dunkel war, bin ich runtergeklettert. Und da
hat er mich dann geschnappt und über einen Hocker gelegt.
Ich erinnere das Möbel ganz genau: der Rahmen aus blondem Eichenholz, der Sitz mit rotem Samt bezogen. Und dann hat
er mich mit der Gardinenstange verprügelt. Und als er gerade fertig war, zerbrach die Stange, und er schluchzte und weinte.
Verzweifelt und wohl im Gefühl äußerster Ohnmacht fragte er den verstockten Bengel: »Soll ich wieder gehen?« »Ja!«, und nicht mehr sagte ich mit der Grausamkeit des Kindes, das zum
Mitleid noch nicht erzogen war, und warf ihn für immer aus meinem Herzen.
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Wissen Sie, warum er so verzweifelt war?
Dieser Sohn und diese Frau waren seine Grundausstattung, sein Kontinuum während des Krieges und während der Lagerhaft gewesen. Und nun waren sie ihm entglitten. Und wie
wehren sich Männer, wenn sie sich emotional nicht behaupten können? Sie schlagen zu. Ich konnte in diesem Moment wohl
vor Schreck gar nicht heulen oder klagen. Hat er Ihnen irgendwann später einmal leidgetan?
Eigentlich hätte ich ihn dafür bemitleiden sollen, aber? ... Nein.
Warum fragte er mich das? Der Kluge sollte nicht nach einer Wahrheit fragen, die er nicht ertragen kann.
Prügelte er Sie noch häufig?
Ja, das tat er! Der Mann, der mir so plötzlich als Vater mit all seinem Übermachtspotenzial beschert worden war, scheiterte
an seinem Jungen, den er sich im Muster der Vorkriegszeit mit seinen Wertmaßstäben erträumt hatte. Er schlug zu aus der Unfähigkeit zur Zärtlichkeit. War doch auch seine empfindsame Seele von Krieg, Untreue und Verrat zutiefst verletzt. Sein Leben lang verlangte er Wiedergutmachung seiner Geschichte, die ihn
schuldlos in das kollektive Dilemma seiner Zeit geschickt hatte.
Erzählungen von seiner Zeit im Krieg und in Gefangenschaft, seinem Hunger nach Essbarem und nach der Liebe seiner Fa-
milie - ich fühlte mich einfach zwangsintegriert in seine Schilderungen - ließ ich betont gelangweilt über mich ergehen. Dinge, die er von mir wollte, hatte ich nicht, und Leistungen, die er
forderte, konnte ich nicht erbringen. So saß er dann oft schwei
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gend am Tisch über mich zu Gericht und grübelte über weitere Maßnahmen der Züchtigung und Ertüchtigung nach, die, das
wusste ich insgeheim, fruchtlos bleiben würden. Fühlte ich doch, dass sowohl meine Mutter und ganz Potsdam - unsichtbar und sichtbar - hinter mir stünden und er auf verlorenem Posten große Gesten machte.
Armin Mueller-Stahl Wir waren nach 1945 außer Rand und Band
In den letzten Kriegswochen 1945 änderte sich unser Leben völ-
lig. Plötzlich kam der Krieg massiv auf Prenzlau und die ganze Familie zu. Mein vier Jahre älterer Bruder Hagen war schon als Soldat eingezogen, da sollte ich im März 1945 mit meiner
Schulklasse als Panzervernichtungstrupp nach Pasewalk geschickt werden, um die Rote Armee aufzuhalten. Für Hagen
war das der letzte Zeitpunkt, von dem er sicher wusste, dass wir noch zu Hause anzutreffen wären. Denn wenn sich die Russen Prenzlau näherten, wollten wir fliehen, das war verabredet. In
dieser Nacht radelte Hagen mit seinem Unteroffizier auf einem geliehenen Fahrrad vierzig Kilometer von ihrer Stellung bei
Pasewalk nach Prenzlau, um noch einmal mit der Familie zu
sprechen, sich zu verabschieden und um zu besprechen, wie es weitergehen sollte.
Da standen die beiden jungen Männer plötzlich in unserer Wohnung, und Mutterholte irgendetwas Gutes aus dem Keller-
das letzte Glas mit eingemachtem Enten- oder Schweinefleisch,
etwas in der Art. Aber die beiden Soldaten konnten nichts essen, sie waren zu müde, setzten sich hin und schliefen ein.
Nach einer halben Stunde mussten sie geweckt werden, denn sie mussten wieder zurück nach Pasewalk, bevor dort das große 99
Wecken stattfand. Wären sie nicht rechtzeitig da gewesen, wären sie sicher als Deserteure an die Wand gestellt worden. Also
brachen sie nach einer halben Stunde Ruhe wieder auf. Hagen
hat das später als die schwerste Stunde seines Lebens beschrieben, gegen den Wind und gegen die Uhr radeln - immer mit der
Angst im Nacken. Vierzig Kilometer treten, treten, treten, damit sie vor sechs wieder dort waren.
Ich schob an jenem Abend das Glas mit dem Schweine- oder Entenfleisch unter das Sofa, um es mir zu sichern. Es gab ja
damals nichts zu essen, schon gar kein Fleisch, selbst bei uns
herrschte Hunger. Als Hagen gerade weg war, bin ich unter das
Sofa gekrochen und habe das Glas leer gegessen, das ganze fette Fleisch. Am nächsten Morgen stand ich mit meiner Klasse auf dem
Bahnsteig in Prenzlau. Es war ja nicht nur meine Klasse, sondern auch viele andere vom Jungvolk, die zu Trupps zusammengestellt worden waren. Plötzlich hörte ich, wie einem »Kol-
legen«, einem dreizehnjährigen Jungen, auf dem Bahnhof von der Panzerfaust der Arm abgerissen wurde. Als er fürchterlich
schrie, sagte unser Fähnleinführer nur: »So benimmt sich ein
Deutscher nicht.« Plötzlich war mir der ganze Ernst der Lage bewusst.
Nun waren wir quasi an der Front. Ich stand auf dem Bahngleis und sollte mit. Da meldete sich das Fleisch vom Vorabend,
und ich stand am Baum und übergab mich. Mir ging es elend.
Ich wurde nach Hause geschickt und weinte, weil ich nicht mitdurfte. Ich wollte mit meiner Klasse in den Krieg. Noch immer
hielt ich den Krieg für ein Abenteuer, obwohl meinem Klassenkameraden der Arm abgerissen worden war - aber das war ja ein Unfall.
Was danach passierte, darüber habe ich sechzehn Jahre später 1OO
ein Lied geschrieben, das ich fünfzig Jahre später, zu meinem
achtzigsten Geburtstag, noch einmal überarbeitet habe: Meine Mutter hatte Fünfe
Einer war im Krieg Soldat Einer war schon lang im Himmel
Ich war dreizehn Jahre grad. Und ich sollte schon zur Front gehen
Lieber Junge, sei auch fromm Mutter weinte und sie betet Dass mir nichts geschieht und vom
Letzten eingeweckten Braten Packt sie mir in den Rucksack rein War im Jahre Vierundvierzig Sonntagsbraten fettes Schwein
Will schon heute satt sein morgen
Bin im Krieg ich vielleicht tot
Aß den Braten und ich war
Satt für’n Krieg und satt für’n Tod Morgen stand ich auf dem Bahnhof War ja nun Soldat und sollte Kämpfen an der Front von Pasewalk
Mir war schlecht, obwohl ich wollte In den Krieg mit meiner Klasse Von der mancher schluchzte rotzte
Ich stand blass an einem Baume Weil den Braten ich rauskotzte
Dann ging’s los der Hauptmann sagte Ab zu Muttern in die Betten
Morgen geht der nächste Zug Kannst das Vaterland noch retten
1o1
Morgen schnürt’ ich meinen Ranzen
Sag zu meiner Mutter immer Werde ich fromm sein und jetzt fahr ich
Doch der nächste Zug fuhr nimmer
Gestern kram ich in den Fächern Und ich finde Fotografien Ein vergilbtes Klassenfoto
Wo die Kleinen vorne knien
Alle blicken ernst und stumm In den weißen Sonntagshemden
Stolz und würdig und auch mutig So als wären sie bei Fremden
Sehe jeden einzeln an Denke was sie heute wären Wenn sie nicht bei Pasewalk
Mann für Mann gefallen wären Ich bin heute Anfang achtzig
Meine Haare werden dünn
Danke Mutters Eingewecktem Dass ich noch am Leben bin.
So in etwa war es tatsächlich, ganz wie es das Lied beschreibt.
Was damals in mir vorging, warum ich unbedingt an die Front wollte, das verstehe ich heute allerdings nicht mehr. Aber nachdem bei Pasewalk praktisch alle meine Klassenkameraden gefal-
len sind, Jungen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, dämmerte
es auch meinem Kindskopf langsam, was der Krieg bedeutete.
Vergessen habe ich es dann allerdings nie mehr. In den folgenden Tagen brach der Krieg mit aller Gewalt in unser Leben ein. Die erste Bombe in Prenzlau fiel am 20. April
1945, Hitlers sechsundfünfzigster und letzter Geburtstag, direkt 102
auf unser Grundstück. Und innerhalb einer Sekunde war unser
Haus eine Ruine. Ich weiß noch genau, dass ich im Bett und dann plötzlich auf Scherben unter dem Doppelfenster lag, das von der Detonation aus der Wand gedrückt worden war. Die Deckenlampe, die mein Vater noch aufgehängt hatte, baumelte halbwegs im Freien. Überall waren Glasscherben und Trümmer.
Aber wie es geschehen ist, daran erinnere ich mich nicht mehr. Nur an das totale Durcheinander und die vielen Glassplitter auf und unter mir.
Sieben Tage später brechen Verbände der Roten Armee durch die Linien der Wehrmacht bei Prenzlau. Die mittelalterliche Metropole ist ausgelöscht. 85 % aller Gebäude liegen im Staub,
das Stadtbild ist nicht mehr wiederzuerkennen. Verantwortlich dafür sind nicht nur Luftangriffe der Alliierten. Auch deutsche
Flugzeuge werfen gegen Kriegsende Bomben auf Prenzlau. Gemäß Hitlers Nerobefehl soll den Alliierten nur »verbrannte
Erde« hinterlassen werden. Ein Trupp fanatisierter Jungvolk-
jungen, die aus dem Rathaus auf die einrückende Rote Armee schießen, verhindert die Kapitulation der Stadt, sodass deren Reste schließlich von den Russen niedergebrannt werden.
Mein Vater war ein sehr sorgfältiger und vorausschauender Mann. Für den Fall der Fälle hatte er alle Schritte geplant. Sollten
wir in Prenzlau ausgebombt werden oder der Russe durchbrechen, sollten wir auf das Gut Goorstorf vor den Toren von Rostock fliehen. »Hier habt ihr freies Haus«, hatte er gesagt. Hierher
wollte er auch nach dem Krieg kommen und uns abholen. Ende April, der Zeitpunkt zur Flucht aus Prenzlau war ge-
kommen, stand plötzlich Hildchen vor uns. Ich sehe sie noch
heute vor mir. Sie war den weiten Weg allein aus Ostpreußen
geflohen, mit dem Schiff über die Ostsee. Mutter nahm sie in unsere Familie auf, weil sie von Gut Mertensdorf kam, wo sie
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Hausmädchen bei Tante Ellen von der Goltz gewesen war. Aber auch, weil Mutter gar nicht anders konnte, als der jungen Frau
zu helfen. So floh Hildchen mit uns nach Goorstorf, wo die Russen angeblich noch nicht waren.
Schon zwölf Kilometer hinter Prenzlau holte uns der Krieg ein. Wir machten Station auf Gut Zernikow, wo mein Bruder
Hagen Mitschüler bei der Familie von Wedel gewesen war - so wie ich auf Groß Pankow. Von dort guckten wir auf Prenzlau
und sahen die Stadt lichterloh brennen. Da brannte unsere Hei-
mat, aber die Flucht ging weiter: Mutter, Tante Ena, Hildchen und wir Kinder.
Auf Gut Goorstorf bekamen wir einen eigenen Raum. Hildchen machte sich nützlich und ging Mutter zur Hand. Die Gutsarbeiter waren damit beschäftigt, alles wegzuschaffen, was an
die Nazi-Zeit erinnern könnte. So versenkten sie eine große
Hakenkreuzflagge in dem Weiher auf dem Hof. Keinen Moment zu früh, denn kurz darauf erreichten die ersten russischen Soldaten das Gut.
In dem Moment, als der erste Russe auf dem Hof auftauchte, löste sich die Hakenkreuzfahne aus ihrem nassen Grab. Und deutlich sichtbar, auf weiß leuchtendem Grund, trieb das Hakenkreuz an die Wasseroberfläche. Ein Schreckensmoment für alle, die dabei waren.
Ich selber war damit beschäftigt, eine Pistole zu vergraben, die ich gefunden hatte und bei mir trug. Mutter hatte mich ge-
beten, sie zu verstecken, sonst wäre ich vielleicht erschossen worden. Und in dem Augenblick, als ich sie vergraben wollte, stand plötzlich ein Russe vor mir und sah mich mit der Pistole in der Hand. Er sah freundlich aus, mit seinen blonden Locken richtig sympathisch - und war ganz das Gegenteil. Er packte mich, stellte mich hin und drohte, mich zu erschießen. Er war
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richtig brutal, aber komischerweise hatte ich keine Angst. Nur fühlte es sich so an, als hätte mein Herz aufgehört zu schlagen.
Da trat ein polnischer Landarbeiter dazwischen und schrie den
Russen an. Das nutzte ich und rannte weg. Es war der 1. Mai 1945, der Tag, an dem mein Vater starb, in Schönberg in Mecklenburg, gar nicht so weit weg von Goorstorf.
Aber das habe ich erst 1973 erfahren.
In Goorstorf wurde jetzt eine Abteilung russischer Soldaten einquartiert. Das waren zum Teil finstere Gesellen. Und einige
von ihnen hatten nun unseren Schlafraum in Beschlag genommen und soffen, was das Zeug hielt. Da kam Hildchen herein, die siebzehn und recht drall war und wollte schlafen gehen. Sie
verschwand hinter dem Kleiderschrank in dem Zimmer und
zog sich ihr Nachthemd an. Meine Mutter hatte das gar nicht bemerkt, und nun kam Hildchen rosig und frisch hinter dem
Schrank hervor und ging in diesem kleinen weißen Nachthemdchen zu Bett. Unbekümmert zog sie die Decke über ihre runden
Brüste - vor den ganzen wilden Russen dort, die soffen. Einer stürzte vor ihrem Bett auf die Knie: »Ich lieben Du!« In diesem
Moment sprang der auf, der am finstersten aussah, ein Mongole, und stellte sich vor den Tisch und begann zu tanzen. Er lenkte die anderen Russen ab. Spielte irgendein Theater und alle guck-
ten ihm zu. Der Lärm machte meine Mutter aufmerksam, die
hereinkam und natürlich sofort begriff. Sie eilte zu Hildchen, warf ihr die Decke über den Kopf, und das Mädchen war geret-
tet. Mutters Trick war, dass sie sich alt schminkte. Sie hatte seit der Flucht aus Prenzlau immer schwarze Schminke bei sich, zur
Not nahm sie Ruß. Sie schminkte sich Zähne weg und sah wirklieh furchtbar aus. Ein Kopftuch über dem aschfahlen Gesicht
mit dem zahnlosen Mund. Und dann spielte sie die alte Frau, die nur langsam und etwas gebückt gehen kann. In Wahrheit
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war Mutter ja erst Anfang vierzig, jung und attraktiv. Außerdem
sprach sie seit der Schulzeit in St. Petersburg fließend Russisch, und das setzte sie auch ein, wenn ihr ein Russe zu nahe kam. Sie
drohte: »Vorsicht! Genosse Stalin hat gesagt, jeder Soldat, der eine deutsche Frau vergewaltigt, wird erschossen.« Das wirkte.
Schon das bloße Wort »Stalin« genügte, dass sich die Russen wegduckten.
Vielleicht war Hildchen naiv, vielleicht hatte sie durch die
Flucht über den Seeweg auch nicht erlebt, was viele deutsche Frauen und Mädchen in dieser Zeit erleiden mussten: Vergewaltigungen durch russische Soldaten waren an der Tagesordnung.
Manche Frauen erlitten das mehrmals täglich, viele starben. Und das erzähle ich nicht aus zweiter Hand. Wir sind in diesen
Ereignissen groß geworden. Die Gewalt und das Sterben gehörten zum Alltag, und für manchen war der Tod gar nicht das Schlimmste, sondern eine Erlösung. Der Tod wurde alltäglich. Nach ein paar Wochen wurde uns klar, dass Vater nicht nach Goorstorf kommen würde. Vielleicht war er in Gefangenschaft,
vielleicht in Prenzlau. Der Krieg war zu Ende, und wir traten den Heimweg an.
Von Goorstorf nach Prenzlau sind es ungefähr zweihundert
Kilometer. Nach meiner Erinnerung hat der Rückweg gut vierzehn Tage gedauert - in einem Viehwaggon mit sechzig
Menschen quer durch ein verwüstetes Land. Schon am ersten Tag erreichten wir Rostock, das war ja nicht weit. Dort erlebte ich eine Situation, die ich nicht vergessen werde. Wir waren
mit dem Leiterwagen unterwegs, als ein Russe mit deutschen Kriegsgefangenen an uns vorbeizog. Unvermittelt fiel einer der
Kriegsgefangenen um und blieb am Straßenrand liegen. Der Russe wollte ihn eigentlich erschießen, aber da ging wieder ein
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mal meine Mutter dazwischen und schimpfte und drohte mit
Stalin in bewährter Weise. Das beeindruckte den Rotarmisten.
Also beugte sich Mutter über den Deutschen und wollte ihm helfen. Und während meine Mutter sich noch um den sterben-
den Soldaten kümmerte, packte der Russe meinen Bruder Roland, der damals siebzehn war, und steckte ihn in den Trupp der
Kriegsgefangenen, wohl um die richtige Zahl an Gefangenen
abliefern zu können. Wenig später gelang es Roland, sich unter
einen stehenden Zug zu werfen und zu fliehen, und abends war er wieder bei uns. Meine Mutter litt fürchterlich. Gelitten hat sie viel, aber sie hat es uns nie gezeigt. Unterwegs machten wir immer irgendwo Station, über-
nächteten eingepfercht in einem Raum mit sechzig oder siebzig Leuten, zusammengekommen aus allen Ecken Deutschlands,
die von der Roten Armee erobert worden waren: Pommern, Schlesien, Ostpreußen. Und jeder sah zu, wie er irgendwie auf
einem Brett oder einem freien Platz am Boden schlafen konnte.
In der Nacht kamen die Russen, immer dann, wenn es gerade dunkel geworden war, und wollten vergewaltigen. Dann trat
wieder meine Mutter auf - schwarz geschminkt und scheinbar
zahnlos - und versuchte, die Frauen zu retten, die Russen mit Stalin zu vertreiben, was manchmal gelang, manchmal aber auch nicht...
Jede Nacht mussten wir einen neuen Unterschlupf finden,
meist in irgendeiner Hausruine, in der schon viele Menschen Zuflucht gesucht hatten, Kinder, junge Frauen und Alte. Geschlafen wurde immer auf nacktem Boden zwischen den Trüm-
mern, die man notdürftig beiseiteschob. In einer dieser Ruinen
fand ich ein Buch, von dem nur das Mittelstück erhalten war. Es gab keinen hinteren Teil, keinen vorderen Teil, aber ich liebte
Bücher, und dieses Fundstück war meine einzige Ablenkung. 107
Und da es keinen Anfang und kein Ende hatte, habe ich nachts gelegen und den Beginn und das Ende des Romans erfunden.
Ich liebte diesen Roman sehr, irgendeine Liebesgeschichte - ob gut oder schlecht, kann ich nicht sagen, aber mit meinem Anfang und Schluss fand ich ihn sehr gut.
Tagsüber sahen wir am Straßenrand deutsche Soldaten, die aufgehängt wurden oder schon erschossen im Graben lagen.
Wenn wir Station machten, baute Tante Ena aus losen Ziegel-
steinen einen Herd, Mutter organisierte Milch und Brot bei den Russen, denn unser Proviant bestand im wesentlichen nur aus einem Sack Puddingpulver. Immer wieder drängten sich Leute
in unseren überfüllten Viehwaggon und taten so, als seien sie Russen und wollten uns ausrauben. Das gelang ihnen nicht,
aber es war fürchterlich, diese ausgemergelten Gestalten zu sehen, besonders diejenigen, die aus KZs entlassen waren, und man konnte ihnen nichts geben.
Es wurde in diesen Tagen dauernd gestorben, der Tod war ein gewöhnlicher Gast. Ich erlebte am Bahnhof Pasewalk, wie der
Reichsbahndirektor Knoll die Züge nach Westen weiterfahren ließ. Als ein Waggon entgleiste, wurde ein Schuldiger gesucht.
Seine drei kleinen Töchter klammerten sich an Knolls Hosenbeine, und meine Mutter versuchte, »ihren Mann« zu retten. Aber da kam ein Russe, führte den Mann ab und erschoss ihn einfach. Seine junge Frau saß fassungslos auf der Bank: »Nun ist
er hin«, sagte sie lakonisch.
Für meine Mutter war klar, dass sie sich der Familie annehmen würde. Und so nahm sie Frau Knoll und die drei Töchter
mit nach Prenzlau, wo sie mit Tante Ena und uns in zwei Zim-
mern lebten, bis die Witwe und eine Tochter nach der anderen an Typhus starben. Jeder Tag brachte ein schreckliches Erlebnis, das anderntags
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von einem anderen abgelöst wurde. Trotzdem haben mich diese Monate nach dem Krieg nicht lebenslang als Schreckgespenst
verfolgt. Irgendwann wurden dann auch wieder ganz normale Probleme wichtig. Aber wer die Nachkriegszeit in Deutschland,
besonders in der sowjetischen Besatzungszone, erlebt hat, der
sieht den Wert des Lebens anders an, als wir heute in unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft, wo die Gedanken darum
kreisen, wie wir die Möbelfarben kombinieren, oder ob jenes Kleid zu diesen Schuhen passt und dergleichen. Undenkbar damals. Als wir nach langer und mühsamer Irrfahrt wieder nach Hause
kamen, glich Prenzlau einer Totenstadt. Alles lag in Trümmern. In der von Vater so liebevoll eingerichteten Brüssower Straße 2
sahen wir von unten nur noch ausgebrannte Zimmerhöhlen. In einer baumelte noch der Kronleuchter, und das gab ein be-
sonders absurdes Bild. Hier konnte man nicht mehr leben. Glücklicherweise erhielten wir eine Notunterkunft mit zwei Zimmern gleich gegenüber dem Gymnasium. Hier erreichten
uns eines Nachts - trotz Ausgangssperre - unsere Großeltern, Onkel Wolfram mit seiner Frau, Tante Sigrid und Tante Ellen
aus Ostpreußen mit ihren Kindern. »Dittchen, aufmachen«, rief Tante Ellen. Sie waren über Monate nach Westen getreckt
und hatten Schreckliches erlebt. So lebten wir für einige Zeit
mit mehr als zwanzig Personen und einem Klavier in zwei Zim-
mern. Wo die anderen Männer geblieben waren, wusste zu die-
sem Zeitpunkt keiner. Meine Mutter mit ihrem fröhlichen Wesen, ihrem Gottver-
trauen und ihrer unglaublichen Tatkraft hielt den ganzen Laden
zusammen. Zu ihr hatte ich immer eine ganz besonders tiefe
Beziehung, und wenn ich es bedenke, dann wurde diese Be
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Ziehung nach ihrem Tod eher noch stärker. Ich hätte mir keine bessere Mutter vorstellen können. Sie musste immer teilen, mit
fünf Kindern und viel Lebensmut, aber wenig Geld auskommen. Seit dem jähen Ende ihrer heilen Kindheit in der russischen Oktoberrevolution hatte sie über weite Strecken ein verzichtvolles
Leben führen müssen: Als Schulkind allein mit ihrem Vater in
St. Petersburg, die Flucht mit den Eltern nach Deutschland, das
nicht immer einfache Leben in Tilsit, die Flucht vor den Russen aus Prenzlau, die schrecklichen Erlebnisse in Goorstorf.
Damals begann Mutters große Zeit, 1945 mit der Flucht nach Goorstorf. Sie wurde für viele Menschen ein Segen. Durch ihr fließendes Russisch konnte sie auch nach der Rückkehr man-
chen Schrecken vereiteln, als sie in Prenzlau Dolmetscherin der Stadtverwaltung wurde. Mutter war in politischen Dingen
unglaublich naiv. Sie wollte einfach nur Gutes tun und hat sich
heimlich den offiziellen Stempel des Bürgermeisters nach-
machen lassen und Bittstellern selbstständig Reisegenehmi-
gungen ausgestellt, abgestempelt und auch gleich selbst unterschrieben. Damit sind die Leute gereist, zu ihren Familien in
andere Bezirke der SBZ oder in den Westen. Sie schickte die
Menschen in die Freiheit, was sich wohl bis nach Berlin herumsprach, dass es da in Prenzlau jemanden gäbe ... Mutter teilte auch Wohnungen zu und stempelte die notwendigen Papiere dafür ab. Das machte sie so lange, bis sie selbst in Gefahr geriet,
weil sie offenbar dem russischen Geheimdienst ins Gehege kam, der sie gern als Agentin verpflichtet hätte.
Von Vater hatten wir 1946 immer noch keine Nachricht, aber mein ältester Bruder Hagen war unversehrt aus dem Krieg zu-
rückgekehrt. Genau wie meine Mutter wurde er in meiner Schule als Lehrer eingesetzt, denn an Lehrern mangelte es sehr in der
Nachkriegszeit. Bis zu dem Tag, als er plötzlich wieder zum 110
Schüler in derselben Klasse wurde, in der er gerade noch Klassenlehrer gewesen war: Man hatte das Abitur, das er in Kriegs-
Zeiten abgelegt hatte, für ungültig erklärt. Und nun musste er, der Soldat und Lehrer gewesen war, ein Abitur nachholen, das
er schon einmal bestanden hatte. Natürlich war er unter diesen Umständen nicht gerade der artigste Schüler dort... Aber verglichen zu mir war Hagen Gold. Denn ich war damals ganz und gar unmöglich.
In diesem Jahr legte auch mein Zweitältester Bruder Roland
sein Abitur ab. Das war eine sehr, sehr traurige und intensive
Zeit. Er hatte immer wahnsinnige Kopfschmerzen. Er lernte für sein Abitur, und ich sehe ihn noch mit einem nassen Handtuch um den Kopf, das die Schmerzen lindern sollte, auf dem Bett liegen und lesen. Oft wurden die Schmerzen so stark, dass sich
sein Blickfeld schmälerte. Dann wollte er Musik hören. Wenn ich oder ein anderer aus der Familie in der Nähe war, bat er
häufig, dass man seine Hand nähme. Selbst konnte er das nicht
mehr, denn in diesen Momenten sah er praktisch nichts mehr. Mich hat das sehr berührt, denn wir alle haben unseren Bruder sehr geliebt. Wenige Tage, bevor Roland starb, schrieb er aus
dem Krankenhaus in Rostock an uns: »Ach was könnte man jetzt leiden, aber, es ist doch so gut zu wissen, dass man von
Gott gehalten wird und bei ihm geborgen ist.« Meine Mutter, der klar war, dass Roland sterben würde, hat
gelitten und gebetet, aber sie hat das uns anderen Kindern - und sicher auch Roland - nie gezeigt. Sie telegrafierte an die Großeitern, dass Roland gestorben sei, und Großvater antwortete:
»Ich hab es nicht anders erwartet. Nun ist er bei Gott. Nehmt
Matthäus 5,8: Selig sind die reinen Herzens, denn sie werden Gott schauen.«
Dieses Gefühl des Gottvertrauens hatten wir in dieser Zeit. Es 111
hielt uns aufrecht und am Leben. Ich fühlte mich wirklich aufgehoben in einer besonders wunderbaren Familie mit viel Kraft. Diese Kraft kam durchs Gebet, und wir waren sehr, sehr fromm.
Das habe ich in der DDR irgendwann abgelegt wie viele. Wir wurden in der DDR unfromm. Aber meine Mutter hat uns und vielen anderen Menschen in dieser Zeit mit ihrer Kraft unglaub-
lieh geholfen. Wenn sie helfen konnte, wuchsen ihr Kräfte zu, die unermesslich schienen.
Trotzdem hatten wir alle in den ersten Jahren oft Hunger, und ich selbst war nicht viel mehr als ein Gerippe und hatte alle er-
denklichen Krankheiten. Als die Witwe Knoll und ihre Töchter starben, lag ich im Nebenzimmer und litt an Typhus und einer eitrigen Mittelohrentzündung. Irgendwie war ich überzeugt, dass nun ich sterben würde. Das war weder bedrohlich noch
ungewöhnlich. Viele starben entkräftet an solchen Krankhei-
ten. Ich weiß noch, dass ich richtig enttäuscht war, als ich nach der Operation am Mittelohr wieder aufwachte. Mit einem ganz
gewöhnlichen Stemmeisen, denn es gab so gut wie keine ärzt-
liehen Instrumente, wurde ich im Krankenhaus von Prenzlau am Ohr operiert. Dass ich danach noch am Leben war, war mir gar nicht recht. Ich wollte bei meinem toten Bruder Roland sein.
Ich wollte weg aus dieser Welt.
Mutter hatte einiges auszuhalten mit mir. Natürlich stand sie Ängste aus und lag nachts wach, wenn ich nicht zu Hause war. Denn unter der russischen Besatzung herrschte Ausgangssperre in Prenzlau. Das war für uns nicht ungefährlich. In Mutters
Tagebuch lese ich viel über ihre Sorgen wegen ihrer Kinder und wie sie um uns gebetet hat. Und ihre Ängste waren nicht unbegründet: In einer Nacht brach ich auf dem Bahnhof von
Prenzlau mit einem Freund in einen Güterzug ein, der von
russischen Soldaten bewacht wurde. In einem Waggon fand
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ich Zucker, den ich mir in die Knickerbockers schaufelte. Kilo-
weise braunen Zucker! Ich konnte kaum laufen, so prall waren die Hosen gefüllt. Und dann wurden wir entdeckt und sind
nur noch gerannt. Die Russen kamen hinterher und schossen sogar, aber irgendwie entkamen wir ihnen. Ein Hosenbein ging
auf, und der ganze kostbare Zucker fiel raus. Aber die Fracht im
anderen Hosenbein war gerettet. Vielleicht waren wir damals in gewisser Weise verrückt, vielleicht ein kleines bisschen lebensmüde - ich weiß nicht mehr -, aber der Tod hatte in dieser Zeit
kein schreckliches Gesicht. Mit den paar Kilo Zucker allerdings
war ich erst einmal ein Held. Als Schüler war ich dagegen eine echte Plage, oder wie meine Mutter notierte: »Armin war nicht nur faul, er hatte auch den Kopf voller dummer Streiche.«
Unser Musiklehrer hieß Knobloch, er schlurfte immer in großen Schlappen herum. Knobloch war ein kleines bisschen
verrückt, geistesabwesend und wohl nie ganz auf der Erde angekommen. Aber irgendwo auch ein rührender Mann, der in
seiner eigenen Welt lebte. Er spielte Klavier und war dabei sehr von sich überzeugt: »Beethoven und ich ...«, sagte er immer und
sprach auch gerne laut im Dialog mit den großen Komponis-
ten. Einmal krochen wir zu zweit unter den Flügel, während er
spielte, und hielten seine Füße fest, und einer meiner Freunde, Ocka Roch, zog ihm die Schlappen aus. Natürlich trug er kei-
ne Strümpfe - so kurz nach dem Krieg gab es nur Fußlappen. Dann sprangen wir auf und hänselten ihn laut: »Knobloch, wir haben nachgeguckt, das ist ein zwiebelartiges Gewächs ...!«
Wir waren nach 1945 außer Rand und Band. Voller Lebens-
hunger und kaum zu bändigen. Und wäre nicht das große Herz meiner Mutter gewesen ... Wer weiß, was aus mir geworden
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wäre. Immerhin schaffte ich es gemeinsam mit Ocka Roch, die ganze Schule in die Aula einzusperren, samt Direktor und allen
Lehrern. Oder wir brachen nachts in die Schule ein und knabberten das Frühstück an, sämtliche Brötchen, die schon für den Morgen vorbereitet waren. Oder ich korrigierte die Hefte der
Lehrer und gab ihnen Zensuren: »Nur mit Rücksicht auf die
schöne Tochter gerade noch mangelhaft. Mueller-Stahl« - etwa
in der Art.
Nach der Aktion mit der Aula wurden Ocka und ich der Schule verwiesen. Es wurde auch Zeit, denn bei mir war wirklich
Hopfen und Malz verloren. Ich hatte nicht einmal eine Schul-
mappe, sondern stopfte alles nur in eine Brieftasche. In puncto
Klassenarbeiten hatte ich den Ruf: »Mueller-Stahl kommt nur, wenn er will, und er kann, wenn er will.« Das genügte mir, und es ehrte mich. Deswegen interessierte mich der Schulverweis
auch nicht besonders.
Auf Wunsch meiner Mutter wurden Ocka Roch und ich wieder zurückgerufen an die Schule - nachdem wir uns entschul-
digt hatten. Sehr lange hielt ich es allerdings nicht mehr aus an der Schu-
le. Zu der Zeit, etwa seit 1947, gab ich schon Konzerte mit dem Prenzlauer Orchester. Das setzte sich aus Barmusikern zu-
sammen. Der Klarinettist war der erste Musiker, sozusagen der Dirigent, und der setzte mich ans Konzertmeisterpult: »Du kannst vorne spielen«, sagte er und tatsächlich spielte ich wohl
am saubersten. Die anderen waren Gelegenheitsmusiker ohne
große Ausbildung. Dieser Klarinettist war es, der mir als Erster sagte: »Du musst Musiker werden.« Er besorgte mir eine Tele-
fonnummer an der Hochschule für Musik in Berlin, ich rief an, und so packte ich mitten in der zehnten Klasse meine Sachen und fuhr im März 1948 zum Vorspielen nach Berlin. An der
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Musikhochschule wurde ich zwar nicht gleich aufgenommen,
aber die Alternative, die sich mir überraschend öffnete, war
sogar noch attraktiver. Der damals sehr bekannte Professor Hans Mahlke, Mitbegründer des Havemann-Quartetts, bot mir
- kostenlosen! - Privatunterricht an. Er machte großes Talent bei mir aus, bemerkte aber, dass ich wegen des Krieges fast ein
wenig zu spät dran sei. Mahlke war sehr deutlich: »Du musst
dich jetzt entscheiden, was du werden willst. Entweder du wirst ein schlechter Geiger mit Abitur oder ein guter Geiger ohne
Abitur.« Mutter trug meine Entscheidung mit Fassung. Sie hatte Vertrauen zu ihren Kindern und glaubte, dass selbst ich doch nicht
ganz missraten sei. Und als ich sagte: »Ich bleibe in Berlin und studiere jetzt Musik«, antwortete sie nur: »Ja, mein Junge.« Und so kam es. Abitur habe ich nie gemacht.
Während ich mich in West-Berlin auf das Examen als Konzertgeiger und Musiklehrer vorbereitete, um danach Dirigent
und vielleicht sogar Komponist zu werden, zog Mutter nach Leipzig. Sie absolvierte ein Fernstudium und wurde an der ABF, der Arbeiter- und Bauernfakultät der Universität Dozentin für
Russisch, was sie im Gegensatz zu den anderen Slawisten akzentfrei sprach. An der ABF wurden angehende Akademiker auf ein Studium in der Sowjetunion vorbereitet. Ich werde heute noch hin und wieder von ehemaligen Studenten angesprochen, die meine Mutter als Lehrerin hatten und alle sehr beeindruckt
von ihr waren. Als ich in den sechziger Jahren in der DDR schon ein po-
pulärer Schauspieler war, hatte ich immer noch eine starke Bindung an meine Mutter und habe mir viele Kraftmomente
von ihr geholt. Vor großen Auftritten, vor großen Reisen rief ich sie an, und auf die Frage nach ihrem Befinden antwortete
״5
Mutter immer: »Ich kann danken.« Sie war eine gute Ratgebe-
rin, setzte mich aufs Gleis, und ihren Ratschlägen glaubte ich auch immer sofort. Viel später verabschiedete sie sich dann zusehends in eine Demenz. Ich hatte immer Angst, meine Mutter
zu verlieren, aber am Ende war ich froh, dass der liebe Gott sie
genommen hat. Noch sehr lange hat meine Mutter auf unseren Vater gewartet
und nie den Glauben verloren, er werde zurückkommen. 1948
feierte sie die Silberhochzeit in Prenzlau allein mit uns Kindern und Tante Ena, und immer dachte sie, er sei vielleicht noch in
Kriegsgefangenschaft. Das hätte sein können. Bis weit in die fünfziger Jahre kamen Spätheimkehrer aus der Sowjetunion
zurück, und Vaters Schicksal war nicht geklärt. Wir warteten eigentlich alle irgendwie. Und als mein Großvater Maaß mit
83 Jahren 1958 in Schönburg an der Saale starb, stand der Name meines Vaters wie selbstverständlich unter der Todesanzeige:
»Fred Mueller-Stahl (vermißt)«. 1973 bekamen wir - achtundzwanzig Jahre nach dem Kriegsende - endlich Nachricht vom Roten Kreuz, dass mein Vater am
1. Mai 1945 im Reserve-Lazarett in Schönberg östlich von Lübeck verstorben sei. Der Brief ging an meine Tante Sigrid Frey
im niedersächsischen Bad Pyrmont, bei der meine Mutter mittlerweile wohnte. Nach der Wende fuhr ich 1989 nach Schön-
berg in Mecklenburg, das hart am ehemaligen Sperrgebiet der DDR, ein paar Kilometer vor der innerdeutschen Grenze liegt.
Das Grab meines Vaters habe ich nicht gefunden. Der Pfarrer von Schönberg erzählte meiner Frau und mir, dass die Toten
damals alle in ein Massengrab kamen. Ich stelle mir vor, dass Vater auf dem Weg zu seiner Familie nach Goorstorf war, das war ja nicht weit. Und dass er erschossen wurde - als Deserteur auf der Flucht - von den fanatischen Verteidigern dieses deut
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sehen tausendjährigen Reiches, das von diesem Tag an noch
eine knappe Woche existierte ... Das Massengrab ist heute ein Stück Wiese. Dort steht eine Bank, auf die ich mich mit meiner Frau setzte, als könnte Vater
noch einmal zu uns sprechen. Das konnte er nicht. Aber ich konnte endlich Abschied nehmen.
Alfred Neven DuMont Wir sind frei!
Im Frühsommer 1944 war ich, nach der Versetzung in die Oberprima und einem Kriegsabitur in der Tasche, in den Reichs-
arbeitsdienst eingerückt, um im Herbst in Berchtesgaden
wieder entlassen zu werden. Da ich sehr wohl wusste, dass auf mich, den Siebzehnjährigen, das Militär wartete, meldete
ich mich alsbald in Schongau zu einem Segelflugkurs an, der als sogenannter vormilitärische Ausbildungsdienst mich vor-
übergehend vor der Front, die im Osten wie im Westen weit-
gehend zusammenbrach, schützte. Weihnachten war ich noch zu Freund Edi auf sein Gut in Mähren gereist, um die letzten
Hasen, bevor die Russen kamen, zu schießen. Dann, im Januar 1945, kam, was kommen musste: Der Stel-
lungsbefehl! Für den nächsten Tag. Aber nicht zum Militär, son-
dern für den Volkssturm. Keiner wusste, was das bedeuten sollte. Ich packte schon unter den besorgten Blicken meiner Mutter
meine Sachen zusammen, als es überraschend zur späten Stunde unten an dem Tor unserer Villa in Starnberg klingelte. Ein älterer Herr in Zivil bat darum, meine Mutter zu sprechen. Im Salon im ersten Stock kam er in meiner Gegenwart zu Wort:
»Ich bin Oberst der Reserve Tweer aus Aachen. Ich kenne
und schätze, gnädige Frau, Ihre Familie. Deshalb bin ich heute 118
Abend im Geheimen aus Weilheim, wo ich das Amt des Korn-
mandanten des Wehrkreises innehabe, herübergekommen. Ihr
Sohn hat heute Morgen einen Stellungsbefehl zum Volkssturm
bekommen, eine neue verzweifelte Einrichtung, um dem hoffnungslosen Krieg von deutscher Seite neuen Impuls zu geben.
Der Volkssturm besitzt völkerrechtlich Partisanenstatus, wo Männer in Zivil, halbe Kinder und angehende Greise, aus dem Hinterhalt den Gegner angreifen sollen. Sie können jederzeit wie Freiwild, wenn sie in Gefangenschaft geraten, standrecht-
lieh liquidiert werden. Ich kann nicht als Offizier der alten
Wehrmacht verantworten, dass Ihr Sohn als Kanonenfutter an die Front geschickt wird. Bitte lassen Sie Ihren Sohn möglichst
noch diese Nacht in aller Stille verschwinden und irgend, wo es Ihnen möglich ist, untertauchen. In einem Keller, Speicher
weitab, im Wald.« Er schwieg, meine Mutter und ich sahen den merkwürdigen Überraschungsgast, der aus dem Nichts erschienen war, ent-
geistert an. Dann trat meine Mutter auf den alten Mann zu, der sich erhoben hatte, und umarmte ihn mit Tränen in den Augen:
»Mein Herr, Gott hat Sie uns geschickt. Ich frage mich, wie kann ich Ihnen danken?«
Der Zufall wollte es, dass meine Schwester Silvia, immer
noch blutjung und völlig unerfahren, am Tag zuvor Christoph Scheibler, der als junger Leutnant zur Hochzeit Heimaturlaub
von der Ostfront erhielt, geheiratet hatte. Wir feierten den Eh-
rentag der beiden, der sonst mit großem Pomp über die Bühne
gegangen wäre, in aller Stille so gut es ging. Aber keiner zweifeite daran, dass Silvia mit diesem überstürzten Entschluss in
der letzten Phase des Krieges Christoph aus einer befreundeten Marienburger Familie das Leben rettete. Mutter hatte ihr großes Schlafzimmer im zweiten Stock für das junge Paar geräumt.
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Nun mussten sie mir, dem Verfolgten, weichen, sodass ich geschützt vor unerwünschten Beobachtern die letzten Stunden
vor meiner Flucht verbringen durfte. Weit nach Mitternacht bestieg ich im Dunklen ein Fahrrad, das meine Mutter versteckt in den Park gestellt hatte.
Ich fuhr auf Nebenwegen hinter Ambach auf die andere Seite des Sees. Als ich endlich völlig erschöpft vor dem Malvenhaus
am Rand des Waldes eintraf, warf ich einen Kieselstein an das
Fenster, hinter dem ich das Zimmer von Charles, der längst ein Freund war, wusste. Wenig später ging die erleuchtete Haustüre auf, und wir standen uns gegenüber. Er streckte mir spät in der Nacht die Hand entgegen, als ob er den Hintergrund meines
überraschenden Besuchs erahnte. Es folgten die denkwürdigsten Wochen meines Lebens. Charles Regnier und seine Frau Pamela, die Tochter des bekann-
ten Dramatikers Frank Wedekind, nahmen mich ohne weitere Fragen auf, obwohl ich ihnen den Grund meiner Flucht gleich nach meiner Ankunft mitteilte. Viele hätten mich abgewiesen.
Wer einen Fahnenflüchtigen versteckte, und das war ich ohne Zweifel, riskierte sein Leben genauso wie der Täter selbst. Mit
Pamela und Charles, der in frühen Jahren eine Zeitlang in einem Konzentrationslager verbracht hatte, hatte sich meine Familie längst über eine tiefe Abneigung gegen das nationalsozialistisehe Regime gefunden.
Die Tage verliefen eher eintönig, aber sehr harmonisch. Ich schlief im ersten Stock in einer kleinen Stube mit einem direk-
ten Ausgang über eine wacklige Stiege hinter dem Haus. Ein Pfad führte durch einen verwilderten Garten und ein Dickicht
direkt in einen dichten Wald, der sich über viele Kilometer bis
hinüber ins Isartal streckte: Dies war mein abgesteckter Bezirk, den ich nicht verlassen durfte. Selbst Charles’ Weg zu dem na 120
hen Bauern war mir verwehrt. Deutschland war in den letzten
Kriegsjahren ein Hort von Denunzianten geworden. Jeder Verdächtige lief Gefahr, bei den Behörden angezeigt zu werden, ein
junger, frei herumlaufender Mann auf alle Fälle. Wenn ich mich tagsüber nicht im Wald versteckte, wo ich so gut wie unauffindbar war, befand ich mich auf Ausblickposten auf der Vorderseite
des kleinen Hauses mit Blick hinunter über die wenig befahrene
Landstraße bis zum Ufer des Sees. Jede verdächtige Person, die sich dem Haus näherte, was selten genug geschah, war für mich Anlass, schnurstracks durch den Hintereingang zu verschwin-
den. Die Landstraße, die entfernt vom Haus vorbeilief, führte über den nahen Weiler St. Heinrich mit einer Wendung um das Ende des Sees herum nach Seeshaupt. Dort hatte sich eine der
berüchtigten Feldgendarmerien etabliert, die jede männliche Person ohne Rücksicht auf den Rang kontrollierte. Geriete ich
in deren Fänge, wäre das mein Untergang. Wenn das Wetter es erlaubte, liefen Charles und ich tief in den Wald hinein, wo wir eine kleine Lichtung fanden. Wir studier-
ten den zweiten Akt von Goethes Iphigenie ein, wo Orest mit
seinem Freund Pylades auftritt: »Es ist der Weg des Todes, den wir treten ...« Pylades antwortet später: »Ich bin noch nicht, Orest, wie Du bereit, in jenes
Schattenreich hinabzugehen ...« Wir engagierten uns über Stunden, steigerten uns mit In-
brunst in die Rollen, wobei ich ein gelehriger Schüler von Charles, dem späteren bekannten Bühnen- und Filmstar, wurde.
Das fehlende Publikum wurde ersetzt von herbeifliegenden Vögeln und gelegentlich von durchstreifendem Wild. Der Schnee war geschmolzen, manchmal glaubte man, den nahenden
Frühling zu ahnen. Dass nicht weit von uns Menschen in immer
noch erbittertem Gefecht starben, war schwer vorstellbar. Aber 121
wenn wir abends hinter verschlossenen Türen den englischen Sender hörten, wurden wir eines Besseren belehrt. Eines Tages erschien zu unserer Überraschung Majella, mei-
ne inzwischen fünfzehnjährige, bildhübsche Schwester. Sie brachte große Neuigkeiten mit. Sie rief noch ganz außer Atem:
»Der Krieg ist aus. Die Straßen sind wie leergefegt. Die Deutsehen«, und damit meinte sie das Militär, »haben sich in die Ber-
ge zurückgezogen, die Amerikaner stehen vor Starnberg. Ich
soll dich nach Hause abholen, Bruderherz.«
Nach einem herzlichen Abschied rollten wir beide mit unseren Fahrrädern über die Höhen des östlichen Seeufers in
Richtung Starnberg. Die Frühlingssonne strahlte, als ob sie sich mit uns freuen würde. Mich überfiel ein solches Glücksgefühl,
dass ich laut aufjauchzte. Die Welt um uns herum war wie ausgestorben, wie Majella berichtet hatte, kein Lebewesen weit und breit. Wo waren all die Menschen? Trauten sie sich nicht heraus,
unsicher, was folgen würde, vielleicht versteckt, wie ich noch soeben?
In der Mitte von Starnberg, am Tutzinger-Hofplatz, hielten
wir an. Dort hatten sich Menschen versammelt, weit über hundert. Aus den umliegenden Häusern wurden weiße Tücher, eins nach dem anderen, erst zögerlich, dann mehr und mehr, herausgehängt. Ein Mann lief hinzu, außer Atem:
»Sie kommen!« Die Menge wiederholte, fast zögerlich, ungläubig: »Sie kommen.« Schon von weitem hörten wir das Dröhnen,
das laut und lauter wurde. Dann rollten sie vom Westen über die Hanfeiderstraße und von der Münchner Straße heran, die
riesigen Tanks, Ungetümen gleich, und bremsten angesichts der Menschenansammlung ihre Fahrt, kamen endlich zum
Stillstand, weit über ein Dutzend an der Zahl. Nichts geschah,
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die Stille um uns herum erschien unheimlich. Endlich erhoben
sich einige Hände auf unserer Seite zu einem zögerlichen Gruß. Andere folgten. Eine Frau sagte laut: »Endlich ist es vorbei...»
Ich hörte leise Stimmen, wie im Chor: »Vorbei.. .״ Ein alter Mann neben mir sprach wie im Gebet: »Der Spuk!«
Dann öffnete sich eine Luke oben an einem Tank. Vorsichtig lugte ein braungebranntes Gesicht heraus. Es starrte uns an, wir
starrten zurück. Ich dachte: Ist dieser Mensch vom Mars? Oder sind wär es? Majellas Phantasie ging in eine andere Richtung. Sie zischte mir zu:
»Er blickt uns an, als ob wir aus dem Zoo kämen.«
Dann kippte die Stimmung. Einer wagte sich vor: »Willkommen!«
Einige taten ihm nach. Jetzt öffneten sich die Luken der Panzer und über die Straße strömten Männer, alle kräftig, in hell-
braunen Uniformen, jeder mit Waffen im Anschlag auf den
Platz. »Infanterie«, kommentierte ein Mann in meiner Nähe und
fügte bewundernd hinzu: »Wie leger, wie elegant die sich bewegen!« Ein Älterer, offenbar eine höhere Charge, rief in unsere Richtung:
»Go on, move!« Seine Geste war eindeutig und genug Englisch verstanden wir auch. So verteilte sich die Menge in kurzer Zeit, und Majella und ich schoben unsere Fahrräder den Mühlberg
hinauf in Richtung der Villen. Als wär wäeder unter uns waren, ließ ich mein Fahrrad fallen, lief auf mein Schwesterchen zu,
packte Majella mit beiden Armen und schwenkte sie im Kreis. Dabei rief ich immer wieder: »Frieden, Frieden! Wir sind frei!«
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Joachim Fest In Kriegsgefangenschaft
Gegen Mitternacht kam der Transportzug nach dreistündiger
Fahrt mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Beim Blick aus
den Waggonluken entdeckten wir auf der einen Seite Schuppen und Lagerhäuser, auf der anderen ein weites, von gleißendem
Scheinwerferlicht markiertes Feld. Vor dem Zug liefen an die zweihundert Soldaten mit durchgeladenem Schießzeug herum und riefen das schon gewohnte »Come on!«, »Let’s go!« oder
»Hurry up!«.
In dreißig Metern Entfernung sahen wir, kaum daß wir aus dem Zug gesprungen waren, ein zweiflügeliges Tor, das den
Zugang zu einem weitläufigen, von hohem Stacheldrahtzaun umgebenen Gelände bildete. Eine Pioniereinheit war unter
Lampenlicht dabei, im Abstand von hundertfünfzig Metern
Wachttürme zu errichten. Dann wurde der ranghöchste Ge-
fangene, ein Oberstleutnant, zu der kurz zuvor eingetroffenen Gruppe amerikanischer Offiziere befohlen und angewiesen, die annähernd zehntausend Gefangenen in das Lager zu füh-
ren. »Wo sind die Unterkünfte?« fragte der Stabsoffizier. »Oder haben Sie wenigstens Zeltplanen und Decken?« Da drängte sich
ein junger, drahtiger Offizier nach vorn und stellte mit schnei-
dender Stimme fest: »Wir sind kein Hotel hier! Doch wir haben«,
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und dazu fuchtelte er mit der Maschinenpistole in der Luft her-
um, »den Schlüssel, um das Tor dichtzumachen. Warnen Sie Ihre Leute vor einem Fluchtversuch! Unsere Soldaten haben
Befehl, sofort zu schießen! Haben Sie verstanden?« Der Oberstleutnant hob die Hand an die Mütze und befahl den Abmarsch
zum Stacheldrahttor. Die behelmten amerikanischen Solda-
ten luden die Maschinenpistolen mit übertriebenem Krachen
durch und bildeten ein enges Spalier. Wir standen rund sechs Stunden auf dem umzäunten Gelände herum, bis es hell zu werden begann. Ringsum lagen tiefe
Nebelbänke auf, und als sie sich lichteten, wurde im Westen ein
Tafelberg sichtbar, der von einer dreitürmigen Kathedrale beherrscht war. Kaum aber hatte das Bild Umrisse angenommen,
verschwand es wieder im einsetzenden Schneeregen. Nach meiner Erinnerung fiel das Geriesel nahezu drei Tage auf uns herab.
In dieser Zeit vermaßen wir, hungrig und frierend, den Verlauf der Lagerstraßen und hoben Gräben für die späteren Rohrlei-
tungen aus. Währenddessen wurden wir in Kompanien aufge-
teilt. Wer als SS-Angehöriger erkannt worden war, wurde in ein kurzzeitig angelegtes Sonderlager abgeführt; dort gingen die Eintreffenden wie auf Befehl in die Hocke und sahen mit einem
Ausdruck trotziger Ergebung vor sich hin. Noch immer näßte der Schnee, und beim morgendlichen Wecken bestand das La-
ger aus einer Anzahl buckliger Schneehaufen, die sich im aufdämmernden Licht zu rühren und allmählich Menschengestalt anzunehmen begannen.
Am dritten Tag bog eine Kolonne von Lastwagen ins Lagertor ein und warf in berechneten Abständen Bettgestelle, Zelte, Dek-
ken, Waschschüsseln und andere Bedarfsgegenstände von den
Ladeflächen herab. Schon am folgenden Tag waren die Unter-
künfte für die Gefangenen weitgehend aufgestellt und auch die 125
Wachttürme rings um das Lager errichtet. Zugleich wurden wir
in unterschiedlich große Arbeitsgruppen eingeteilt, von denen jede ihren Tätigkeitsbereich innerhalb des Depots erhielt. Ich
kam in die mit hohen Gerüsten ausgestattete Halle der Büroartikel, die vom Bleistift über alle Sorten von Wandtafeln bis hin
zu Schreibmaschinen und Rechengeräten der unterschiedlichsten Typen und Größen weit über dreitausend Angebote auf-
wies. In anderen Hallen lagerten Uniformen, Autoersatzteile,
Lederzeug und, mit Ausnahme von Waffen, alle Gegenstände des militärischen Bedarfs.
Am Nachmittag des ersten Tages in den Zelten wurde das La-
ger zum Appell gerufen. Auf der breiten Mittelstraße zwischen den Zeltreihen stand der Kommandant, Captain John F. Do-
naldson, eskortiert von dem drahtigen Offizier mit der schneidenden Stimme, der sich als Leutnant Bernard P. Dillon vorstellte, und einem zweiten Leutnant, Charles W. Powers. In einigem
Abstand neben ihnen hatten First Sergeant Don D. Driffel, First
Sergeant John S. Walker und Sergeant Paul F. Geary sowie etliehe Unteroffiziere und Mannschaftsdienstgrade Aufstellung genommen. Nach einer kurzen, über den Lagerlautsprecher
verbreiteten Ansprache, in der Captain Donaldson vornehmlieh von Arbeit, Disziplin und Gehorsam sprach, schritt er ein
Stückweit die Reihen ab. Alle zwanzig Meter blieb er stehen und richtete das Wort an den ein oder anderen Gefangenen, wobei ein Gefreiter aus seinem Gefolge Notizen machte. Der Zufall
wollte es, daß der Captain auch vor meiner Gruppe haltmachte und sich bei mir nach Alter, Rang und Ort der Gefangennahme
erkundigte. Vor dem Weitergehen wies er seinen Schriftführer an, alles zu notieren.
Am nächsten Tag wurde ich zum Headquarter in der Baracke
vor dem Lagertor gerufen. Bei meinem Eintreffen standen dort 126
drei Gefangene, die ebenfalls von Captain Donaldson einbestellt worden waren. An mich richtete er im Grunde die glei-
chen Fragen wie während des Appells, nur nahm er sich dabei
weit mehr Zeit und erkundigte sich auch nach meiner Familie, meinem Bildungsgang und dem Beruf des Vaters. Mitten im Gespräch unterbrach er sich und rief einen Dolmetscher, weil
meine Sprachkenntnisse nach dem lediglich anderthalbjähri-
gen Schulunterricht für kompliziertere Unterhaltungen nicht ausreichten. Als er mich entließ, riet er mir, mein Englisch zu
verbessern, er wolle mich gern als Assistenten im Headquarter haben. Er fügte etwas wie »Don’t worry!« hinzu, es werde schon
alles gutgehen. Der Captain war ein hochgewachsener, eleganter Mann mit
kahlem Schädel. Das Gesicht war beherrscht von einem offenbar mit einer Creme gezwirbelten und in nadelspitze Enden auslaufenden Bart, was der Erscheinung einen Zug ins Exzen-
trische gab. Er legte unverkennbar Wert auf gemessene Bewegungen, und auch seine Rede klang überaus gewählt. Dabei
zeugte der tiefe Baß von einer großen, fast zivilistischen Wär-
me. Niemals jedenfalls spielte er durch barschen Tonfall seine ranghöhere Stellung aus, und die Autorität, über die er gebot,
war ganz unangestrengt. Er zeigte bald eine spürbare Vorliebe
für mich, und als ich einmal wegen der Bewunderung sowohl der Deutschen als auch zahlreicher Ausländer für Hitler in ei-
nen reichlich unsinnigen Streit mit ihm geriet, mahnte mich der
immer besorgt brummelnde First Sergeant Driffel, die »väterliehe Zuneigung« nicht zu vergessen, die Captain Donaldson für mich empfinde: Sonst könne es mit der Bevorzugung im Handumdrehen ein Ende haben.
In persönlichen Belangen war Donaldson überaus diskret, so daß ich in den fast zwei Jahren, in denen er mein Vorgesetzter
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war, nie herausbekam, wo er lebte, was es mit seiner Familie auf sich hatte, was er im Zivilberuf tat und was er seinerseits auf jene Fragen geantwortet hätte, die er mir gestellt hatte. Es schien, als ziehe er Themen der Bildung und der Politik im weiten Sinn
allen übrigen Gegenständen vor. Kaum hatte er meine Vorliebe
für die Musik erkannt, fragte er mich in langen Abendunterhaltungen darüber aus, nicht anders über meine literarischen
Vorlieben und wie ich an die Geschichte des alten Rom oder an das Florenz der Renaissance geraten sei, wobei er durchblicken ließ, wie unbegreiflich ein Kopf beschaffen sein müsse, der so
abgelegene Neigungen entwickelte. Er war verwundert, daß ich
nichts über Dreiser, Faulkner oder Hemingway wußte, deren Namen ich erstmals von ihm hörte, und befand daraufhin, wie
erschreckend weit Deutschland sich unter den Nazis von den zivilisierten Völkern entfernt habe. Als wir uns besser kannten, wollte er Einzelheiten über meine Familie wissen, über meinen
im Krieg gebliebenen Bruder, meine Geschwister und Freunde. Ich verschwieg ihm allerdings die politischen Schwierigkeiten, in die meine Eltern geraten waren, weil ich deren Darlegung für
wichtigtuerisch hielt. Statt dessen berichtete ich ihm über man-
ehe aus Deutschland geflohenen Freunde, über Drangsalierungen in der Nachbarschaft und die Nöte eines Lebens unter einer
Gewaltherrschaft. Ich verrichtete meinen Dienst bei Captain Donaldson nicht ungern und beschaffte mir, seine Mahnung wegen meiner Eng-
lischkenntnisse im Ohr, als erstes einen Band der Army Pocket Books mit dem Titel »The Loom of Language«. Da eine hinrei-
chende Probezeit im Headquarter ausgemacht war, hatte ich anfangs, zumal während des Nachtdienstes, genügend Zeit,
mich Seite für Seite voranzuarbeiten. Manchmal sah der Cap-
tain mir dabei über die Schulter und erläuterte ungewöhnliche 128
Wendungen mit ein paar Worten über den Ursprung einer Redensart oder Metapher.
Als ich am 11. Mai 1945 zum Lagertor hinunterging, sah ich, wie sich vor dem Schwarzen Brett, wo die Anordnungen des
Kommandanten und gelegentlich wichtige Nachrichten aushingen, beunruhigte Gefangene drängten. Die Meldungen, die
so ungewöhnliche Aufmerksamkeit erzeugten, stammten aus
verschiedenen Zeitungen und besagten, daß die Wehrmacht nach der Kapitulation vor den Westmächten im nahen Reims
nun auch in Karlshorst vor sämtlichen Alliierten die Waffen ge-
streckt habe. Schon von weitem war eine erregte AuseinanderSetzung zu erkennen; als ich hinzukam, sagte einer der Gefan-
genen gerade zu einer Gruppe Herumstehender: »Na, endlich
Schluß! Es wurde höchste Zeit!« Die Mehrzahl der Versammel-
ten sah ihn wortlos an.
Wenige Meter entfernt stand ein Feldwebel, der verschiedentlieh so herrisch aufgetreten war, daß man annehmen konnte, er halte die Zeit des Herumkommandierens noch nicht für vorbei.
Nicht ohne Schärfe fuhr er den Soldaten an: »Was heißt denn »endlich«? Daß wir den Krieg verloren haben? Wolltest du das?«
Dabei sah er sich beifallsuchend um. Der Angesprochene, der schon im Abgehen war, machte kehrt, rückte nah an das Ge-
sicht des Feldwebels heran und erwiderte in gedämpftem, aber
uneingeschüchtertem Ton: »Nein! Sondern daß der verdammte Krieg zu Ende ist!« Ein Gefreiter mischte sich ein und brüllte über die Köpfe hin: »War sowieso ein Idiotenkrieg! Von Anfang
an! Wer hat denn an den Sieg geglaubt?« Ein anderer rief in das zunehmende Durcheinander hinein: »Das Genie des Führers!
Du lieber Himmel!« Und bald schrie einer gegen den anderen an, vereinzelt kam es zu Handgreiflichkeiten, und immer wieder fiel das Wort vom »Idiotenkrieg« und von der »Größe des
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Führers«. Die Auseinandersetzung offenbarte, wie empfindlich der Gegenstand selbst jetzt noch war.
Jedenfalls ließ sich von den Gesichtern ablesen, daß die ein-
geübten Reflexe bei vielen weiterhin ihren Dienst taten. In nicht
wenigen Mienen spiegelte sich ein ungläubiges Erschrecken über die Offenheit, mit der sich einige über die Hitlerzeit äußer-
ten. Dann zog der Gefreite ab, der das Wort vom »Idiotenkrieg« aufgebracht hatte, sich vor Lachen schüttelnd. Der herrische Feldwebel rief ihm nach: »Verräter! Falscher Fuffziger!« Als bei-
des wirkungslos blieb, folgte ein: »Deserteur!« Doch der Gefreite,
ein Mann von annähernd fünfzig Jahren, hob, ohne sich umzu-
drehen, schlenkernd die Arme und wiederholte hohnlachend: »Ja, ja! Das Genie des Führers!« Als ich diesem Gefreiten am folgenden Tag auf der LagerStraße begegnete, kamen wir auf den Vorfall zurück. Er erwies
sich als überaus unterhaltsam und lud mich schließlich in sein
Einzelzelt ein. Als Maler und Zeichner, sagte er, sei er sozusagen von Berufs wegen immer »ein paar Schritte aus der Welt«.
Aber die Verrücktheit dieses Krieges wäre ihm niemals einge-
fallen. Man sage ja von den Deutschen, daß sie kein Verhältnis zur Realität hätten: er halte das zwar für ein ziemlich dummes
Klischee, aber Hitler habe das Klischee wahr gemacht. Und die Dummheit gleich dazu. Gegen die Welt: Er werde nie begreifen, was da mit den Deutschen vorgegangen sei. Und die Deutschen
selbst hätten es auch nicht begriffen, wie der Streit vom Vortag deutlich gemacht habe.
Seine Ansichten sorgten noch für manches Gespräch. Da
er unablässig dabei war, die amerikanischen Bewacher, deren
Frauen, Kinder und Geliebte nach fotografischen Vorlagen zu
malen oder zu zeichnen, kamen ihm zahlreiche Privilegien zugute. Dazwischen malte er auf kleineren Sperrholzplatten
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Lageransichten, Landschaften oder Blumen. Er stammte aus dem Bergischen Land und hieß Alfred Sternmann. Zu seinen Vergünstigungen gehörten neben dem Einzelzelt ein richtiger
Schrank statt eines metallenen Militärspinds, zwei Sessel sowie eine Teeausrüstung mit Kocher und Wasserbehälter, außerdem
ein abgeteiltes Atelier. So verbrachte ich, wann immer es der Dienst erlaubte, die Nachmittage mit ihm beim Tee.
Zur Verbesserung meiner Sprachkenntnisse ließ ich mir von
einem Gl des Headquarters nach dem »Loom of Language« wei-
tere Bücher aus der Pocket-Bibliothek beschaffen. Zum zweiten Mal las ich die Abenteuer von Tom und Huck und bekam überdies von Leutnant Dillon, der sich in der Literatur einigermaßen auskannte, sein Wissen aber nur widerwillig herausrückte, ei-
nige andere Titel, darunter Joseph Conrads »Heart of Darkness«.
Wenig später machte mich ein Gefreiter aus dem Lagerstab mit dem Autor bekannt, dessen Werke mich dann während der
längsten Zeit der Gefangenschaft begleitet haben: W. Somerset Maugham. Vielleicht beeinflußt vom Vorurteil meines Va-
ters gegen Romane, begann ich überaus skeptisch »The Razor’s
Edge« zu lesen, die Geschichte eines ruhelos umgetriebenen Menschen, vertiefte mich an dem Tag, an dem ich die Lektüre beendet hatte, sogleich in den Roman »Of Human Bondage«,
die Geschichte eines ausweglosen Verfallenseins, und konnte
mir zuletzt noch, unter Schwierigkeiten, »The Moon and Sixpence« beschaffen. Mehr Werke des Schriftstellers waren nicht
aufzutreiben, ausgenommen eine Reihe von Novellen, die meist scharf beobachtete, dramatisch zur Krise drängende Liebesgeschichten enthielten. Verblüffenderweise empfahl mir niemand Steinbeck oder Hemingway, niemand Dos Passos, die zu dieser
Zeit längst berühmt waren. Im Verlauf der Monate, die ich mich mit Somerset Maugham
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beschäftigte, bin ich auf keine umständliche oder gar langweili-
ge Zeile gestoßen. Die Lektüre machte mir im Anschluß an das
erste Gespräch mit Captain Donaldson auch klar, daß meine
literarischen Kenntnisse bislang zu einseitig von klassischen deutschen Texten bestimmt waren, daß ich weder Musil noch Heinrich oder Thomas Mann kannte, auch Balzac nicht, Flau-
bert, Dickens oder die großen Russen: durchweg häufig auftauchende Namen, mit denen ich nicht viel anzufangen wußte. Darüber hinaus lernte ich durch die Zeitschrift »Die Brücke«,
die eigens für die amerikanischen Gefangenenlager hergestellt
wurde, die Namen zeitgenössischer deutscher Autoren kennen. Erstmals hörte ich von Friedrich Reck-Malleczewen, Reinhold
Schneider oder Romano Guardini und las beeindruckt die Gedichte von Erich Fried. Überraschend war und blieb der lockere Umgang der ame-
rikanischen Soldaten untereinander. Zwischen den höheren und den niederen Rängen gab es kein »Stillgestanden!« oder
Strammstehen; nur in Befehlssituationen kam es zum Haltung-
nehmen mit dem straff gewinkelten Arm zum Mützenrand. Selbst höhere Offiziere verkehrten auf unverkrampfte Weise
mit den Mannschaftsdienstgraden, und häufig sah man beide bei Besprechungen in einer Art Kniesitz palavern. Auch die
Sicherheitsvorkehrungen fanden die nachlässigste Beachtung. Die ein- und ausrückenden Arbeitskolonnen wurden lediglich der Zahl nach erfaßt; infolgedessen bürgerte es sich ein, daß an
manchen Abenden vier oder fünf Gefangene in Laon blieben und an ihrer Stelle die gleiche Anzahl in Arbeitskluft verklei-
dete Huren ins Lager kam. Am Morgen wurden die einen dann
gegen die anderen ausgetauscht. First Sergeant Driffel sagte mir einmal, er habe unsere List längst durchschaut: »Ihr Deutsehen haltet euch für verdammt clever! Aber wir wissen längst,
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daß ihr euch in der Stadt in den Bordellen rumtreibt.« Er werde trotzdem nichts dagegen unternehmen. Denn sie würden sich in ähnlicher Lage genauso verhalten. Es dürfe am Ende nur keiner fehlen.
Als die Beziehung zu Captain Donaldson vertrauter wurde, konnte ich mit Unterstützung einiger Mitgefangener die
ein oder andere Vergünstigung erreichen. So erweiterten wir die Turniere im Handball und Fußball, die anfangs lediglich als Lagermeisterschaft ausgespielt wurden, auf nahe gelegene
Orte wie Reims, Soissons und St. Quentin. Außerdem regten wir an, einem Kreis von Interessierten politischen Unterricht zu erteilen, in dem von den Anfangsgründen der Demokratie die Rede sein sollte. Captain Donaldson wußte auch eine Art
Bildungsoffizier ausfindig zu machen, dessen womöglich allzu hochgestimmten Ausführungen die Mehrzahl der Teilneh-
mer mit abgebrühter Ironie begegnete. Dennoch verfehlten die
Lehrstunden des »Commanding Professor«, wie Captain Grey
spöttisch genannt wurde, ihre Wirkung nicht. Den überraschendsten Eindruck machte, daß er sich den Widerspruch von seinen Zuhörern nicht nur gefallen ließ, sondern sogar verlangte, und ein Oberleutnant aus Hamburg, mit dem mich bald eine
Art Gesprächsfreundschaft verband, sagte nach einer dieser
Debattierrunden: »Ganz überzeugend, der gute Mann. Aber die Amerikaner sind nun mal arglose Leute. Daß es mit der Freiheit
immer schiefgeht - davon weiß einer wie der nichts.« Vor allem aber gelang es im Verein mit einigen Mitgefangenen, überzählige Lebensmittel in die Festung Laon zu schaffen.
Regelmäßig nämlich fuhren die Amerikaner alle nicht verwen-
deten Eßwaren auf eine nahe Abfallhalde und warfen sie dort auf herumschimmelnden, von Ratten, Mäusen und anderem Getier durchraschelten Müll. Im französischen Lager jedoch
wurden an die viertausend deutsche Kriegsgefangene unter er-
bärmlichen Umständen festgehalten. Nur zu gern, so flüsterte mir einer bei einem Besuch zu, hätten sie die Stapel Kastenbrot, die Ballen Milchpulver, das Trockenei und das Corned beef ge-
habt, das bei uns täglich übrigblieb. Es bedurfte keiner langen Worte, um Captain Donaldson die Unsinnigkeit dieser Situation zu verdeutlichen. Trotzdem benötigte die Militärbürokra-
tie ein paar Wochen, um dem Verlangen zu entsprechen.
Als ich mit einem der ersten Laster das Tor zur Festung auf
dem Berg passierte, traten ausgehungerte Gestalten auf uns zu und begannen schweigend die Säcke und Kisten abzuladen.
Zwar war uns strikt verboten worden, mit den Festungsgefangenen zu sprechen, doch gelang es dem ein oder anderen, ei-
nige Worte mit ihnen zu wechseln, und wir hörten von Hunger, Dreck und sanitärem Grausen. Die Lieferungen wiederholten
sich dann, und zweien oder dreien von uns wurde zugesteckt, daß die französischen Bewacher nur einen geringen Teil der Lebensmittel an die Gefangenen Weitergaben, während die Masse der Ladung dem Schwarzen Markt zugeführt wurde.
Im Herbst 1945 versuchte der in die Vereinigten Staaten emigrierte Freund meines Vaters, Hubertus zu Löwenstein, mich
mit Hilfe seiner einflußreichen Verbindungen freizubekommen. Aber seine Bemühungen liefen ebenso ins Leere wie die Vorsprachen des Schriftstellers Emil Lengyel, eines anderen
Freundes meines Vaters, der die Familie während der Hitlerjahre mehrfach besucht hatte. Immerhin konnten beide mich über
das Schicksal meiner Angehörigen unterrichten und mich wissen lassen, daß meine Mutter mitsamt meinen beiden Schwe-
stern irgendwo in Berlin überlebt hatte. Von Winfried hieß es einigermaßen rätselhaft, daß er »seinen Häschern im letzten
Augenblick entkommen« sei, während sich die Spuren meines 134
Vaters im Ostpreußischen verloren. Am Ende eines Briefes von Löwenstein war noch zu lesen, er hätte mir gern Lebensmittel
geschickt, doch sei das nach den Erkundigungen, die er eingeholt habe, nicht erlaubt. Das gleiche schrieb mir Lengyel.
Damals begann ich Tagebuch zu führen. Eine Welt, dachte ich mir, in der sich nichts ereignete, müsse durch aufgeschriebe-
ne Gedanken erlebnisreicher gemacht werden. Ich notierte die
Gespräche mit Captain Donaldson, sowenig sie im einzelnen hergaben, oder die Ärgernisse mit Leutnant Dillon, der offenbar der Ansicht war, daß ein gewisses Maß an finsterer Laune zu
jeder Uniform gehöre. Aber auch die Streitigkeiten der niederen Wachchargen untereinander oder mit den kürzlich eingetroffenen polnischen Kommandos hielt ich fest sowie die Unterre-
düngen mit der allmählich größer werdenden Freundesgruppe. Die Mittelpunktfigur der lockeren Runde war Erich Kahnt, ein hochgewachsener, sich seiner Leibesfülle rühmender Saarländer, der sich gern als Koch, Poet und Causeur betätigte; ferner
gehörte Wolfgang Münkel dazu, der anhänglich und vernünftig
war, sowie Klaus-Jürgen Meise aus Hamburg, der als Mitglied der Swing-Jugend bei den Nazis im Zuchthaus gesessen und sei-
ne Zeltecke dicht an dicht mit bunten Pin-ups vollgehängt hatte. Und natürlich dauerte die enge Verbindung zu Alfred Stern-
mann fort. Fast nichts war in meinen Tagebuchnotizen über
Berlin vermerkt; die drei oder vier Postsachen, die ich von zu Hause erhielt, meldeten aus Zensurgründen nichts als Belangloses: »Schön, daß du lebst! Wir sind auch davongekommen. Wie
geht es dir? Bekommt ihr zu essen? ...«und so fort. Längere und inhaltsreichere Eintragungen galten dem Commanding Profes-
sor, der wie eh und je auf die Habeas-Corpus-Akte und die Bill of Rights zurückkam. Als einer der Kursusteilnehmer die ewi-
gen Wiederholungen Greys monierte, hatte unser Lehrer die 135
entwaffnende Erklärung bereit, die beiden Dokumente seien nicht nur von grundlegender Bedeutung, vielmehr habe er sie
einfach von Jugend auf geliebt. »Ja!« beharrte er mit Nachdruck. »>Liebe< ist das richtige Wort.« Und das sollten wir, um unseres Landes willen, möglichst genauso halten.
Elie Wiesel Zu den Bildern kommt der Lärm Befreiung aus Buchenwald
Ehrlich gesagt, ich könnte bis an das Ende meiner Tage von den unterschlagenen Wochen und Monaten in Auschwitz erzählen,
von dieser verschwundenen Ewigkeit, und mein Leben, mein Überleben ausschließlich dem Andenken derjenigen widmen, die der Aschesturm mit sich fortgerissen hat, ohne je ein ande-
res Thema zu berühren. Doch der Mystiker in mir warnt mich
ständig: »Vorsicht! Erzähle nicht zuviel! Das Geheimnis der Wahrheit liegt im Schweigen!« Was soll ich also tun? Schweigen
ist unmöglich, Sprechen ist verboten. Deshalb habe ich mich
entschlossen, zu warten und von anderen Dingen zu sprechen, und davon viel mehr als von meinen Erlebnissen in Auschwitz.
Ich habe über den Talmud, die Bibel, die Mystik, den Chassi-
dismus und über Jerusalem, Moskau und Sighet (in Gezeiten des Schweigens) geschrieben. Wenngleich ich als Erzähler Geschiehten aus der Vergangenheit oder der Gegenwart erfinde, in denen Personen mit den unterschiedlichsten Schicksalen vorkommen,
lebe ich doch im Schatten der Flammen, die mich einst erleuchteten und blendeten. Der Erzähler hat sie vor Augen und wird
sie immer vor Augen haben. Er hat sich geschworen, sie niemals
ausgehen zu lassen. Sogar in der Welt dort oben, wo nur die Wahrheit zählt, wird er vor den himmlischen Thron treten und 137
sagen: »Sieh nur, sieh Dir die Flammen an, die immerfort brennen. Hörst Du nicht die stummen Schreie Deiner Kinder, die zu
Asche und Staub werden?« Wird man dem Erzähler dort oben zuhören? Und hier unten?
Ich habe die Hinrichtung dreier Gefangener durch Erhängen
ausführlich geschildert und den Todeskampf des Jüngsten beschrieben. Vierzig Jahre später sollte ein jüdischer Literaturkri-
tiker in Amerika schreiben, es würde ihn nicht wundern, wenn
er hörte, dass diese Schilderung erfunden sei. Ist das ein Auswuchs des Skeptizismus, eine Verirrung der Urteilskraft oder die Folge einer um sich greifenden allgemeinen Leugnung? Die-
ser Kritiker muss wohl in den Niederungen zu Hause sein, um mir eine solche Niedertracht zu unterstellen. Januar 1945. In jedem Januar denke ich an ihn zurück. Ich bin
krank. Mein Knie ist geschwollen, ich habe Schmerzen. Ich kann mich nur noch hinkend fortbewegen. Es ist Winter. Die
schlesischen Winter sind erbarmungslos hart. Der Schnee begräbt uns unter sich, der Leib ist halb erfroren. Es ist müh-
sam zu marschieren, wenn man einen tauben Körper mit sich schleppt. Das Fieber schüttelt mich und wirft mich nieder. Ich
kann nicht mehr mit dem Kommando zur Arbeit gehen. Ich bin
am Ende. Ich spüre, dass meine letzten Kräfte bald aufgezehrt
sein werden. Wie kann ich meinen Zustand verbergen? Mein Vater ahnt etwas, doch er schweigt. Mein Vater ahnt alles, weiß alles, aber er kann nichts tun. Schließlich frage ich ihn: »Was soll ich machen? Ich bin krank...«Mein armer Vater öffnet den
Mund, dann schließt er ihn wieder. Bestimmt denkt er an mei-
ne Mutter, wie ich. Früher klagte ich ihr mein Leid. Jetzt habe ich nur noch ihn. Sein abgemagertes, abgezehrtes Gesicht ist
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dunkelgrau. Leuchten seine Augen noch? Er zögert, eine EntScheidung für mich zu treffen. Soll ich in den KB (Kranken-
block) gehen? Das ist gefährlich. Kaum ein Kranker verlässt ihn lebend und wenn, dann höchstens, um nach Birkenau gebracht
zu werden. Also lieber nichts tun, nichts sagen? Ich werde nicht mehr lange durchhalten. Schließlich entscheidet er: »Geh zum
KB, dann wissen wir wenigstens, was du hast.« Am Abend, nach der Arbeit und vor dem Appell, gehe ich zum KB. Mein Vater wartet am Eingang auf mich. Er zittert
vor Kälte und Angst. Seine Arme baumeln schlaff. Er ist allein, einsamer denn je. Werden wir uns wiedersehen? Und wenn man mich nicht mehr gehen lässt? Ich wage nicht, mich nach
ihm umzusehen, und gehe so schnell wie möglich hinein. Ein Stubendienst stoppt mich: »Was hast du?« Ich zeige ihm mein
Knie. Mit angewiderter Miene lässt er mich weitergehen. Ich reihe mich in die Schlange ein. Und mein Vater? Wird er sich
auch keine Lungenentzündung holen? Werden sie ihn mit dem
Knüppel vertreiben? Endlich bin ich an der Reihe. Ein Arzt wirft einen Blick auf mein Knie, tastet es ab, ich unterdrücke einen
Schmerzensschrei. »Muss sofort operiert werden«, meint der Arzt. Und mein Vater? So gut ich kann, humple ich zu ihm zurück. Er hat sich nicht von der Stelle gerührt. »Sie werden mich
operieren«, sage ich. Er reagiert nicht. Ich sage noch einmal: »Sie
werden mich operieren.« Sein Blick schweift in die Ferne: »Er-
innerst du dich, wie wir dich nach Satmär brachten?« Die Blinddarmentzündung ... der Segen des Borscher Rabbi ... die Zugfahrt am Sabbat ... die sanfte Krankenschwester ... Wie weit
liegt das alles zurück, wie aus einem anderen Leben. »Alles wird gutgehen«, sagt mein Vater. Ich ergreife seine rechte Hand und
umarme ihn. Das Herz will mir zerspringen: Werde ich ihn wiedersehen? Wenn wir uns trennen, und sei es nur, um zur Latrine 139
zu gehen, erwacht jedes Mal dieselbe Angst in mir: Und wenn es das letzte Mal wäre? Ich kehre in die Krankenbaracke zurück.
Dort erlebe ich wieder ein menschliches Wunder: Einer der Ärzte, ein großer, herzlicher Mann, versucht, mich zu trösten: »Es wird nicht wehtun oder nur ein klein wenig. Mach dir keine
Sorgen, Kleiner, du wirst leben.« Vor der Operation unterhält
er sich mit mir, und als ich wieder zu mir komme, höre ich ihn noch mit mir sprechen. Er hat zweifellos ununterbrochen mit mir geredet.
Als ich viele Jahre später an der Universität von Oslo einen
Vortrag halte, tritt ein würdiger, elegant gekleideter Mann an mich heran: »Ich glaube, wir waren im selben Lager.« Mit einem Schlag vergesse ich, wo ich bin. Professor Leo (Schua) Eitinger, ein Psychiater von internationalem Ruf, und ich, wir sind plötzlieh allein. Der Hörsaal liegt wie hinter einem dunklen Schleier.
Lange sehen wir uns schweigend an. Dann lächeln wir uns im selben Moment zu. Seither erscheint dieses Lächeln jedes Mal auf unseren Gesichtern, wenn wir uns wiedersehen, als wollten
wir unser geheimes Einverständnis bekräftigen. Später sollte er zu denen gehören, die während des offiziellen Festessens nach der Verleihung des Nobelpreises das Wort ergriffen. Er sprach mit den schlichten Worten eines Überlebenden. Und es gibt
noch einen Punkt, den wir gemeinsam haben: Er hat sein Leben der Verteidigung der Überlebenden gewidmet. Während seiner Rede sehe ich uns beide dort, zwischen den Schatten.
Erlauben Sie mir eine Zwischenbemerkung: Unter Psychiatern spricht man häufig - vielleicht ein wenig
zu oft und viel zu leichtfertig? - über die sogenannte »Schuld der Überlebenden«. Gipfel der Ironie: Die Henker leiden nicht
unter diesem Komplex. Sie fühlen sich nicht schuldig. Während 140
der Verhandlungen im Frankfurter Auschwitz-Prozess in den sechziger Jahren lachten sie. Fühlen sich also nur die Über-
lebenden auf irgendeine Weise angeklagt: »Warum habe ich
überlebt, während so viele andere sterben mussten?« Sie quälen sich zu Unrecht. Ich habe mich oft dazu geäußert. Und Eitinger hat dasselbe gesagt. Die Überlebenden sind nicht daran schuld,
dass sie dem Tod entkamen. Sie sind an überhaupt nichts schuld. Nur der Henker hatte die Macht, über Leben und Tod zu
entscheiden. Den Opfern befahl man zu marschieren, und sie
marschierten, man befahl ihnen anzuhalten, und sie hielten an, man befahl ihnen zu essen, und sie aßen, man sagte, sie sollten
sich fügen, und sie gehorchten. Die Überlebenden haben ein Vorrecht, das Sie ihnen nicht
nehmen können: Sie dürfen über Sie urteilen, Sie aber nicht über die Überlebenden. Zu den Bildern kommt der Lärm ... Es ist der 18. Januar 1945. Die Rote Armee steht wenige Kilometer vor Auschwitz. Warschau ist gerade befreit worden. Mor-
gen wird Krakau fallen. Und Lodz. Berlin beschließt, die Gefan-
genen nach Deutschland zu verlegen. In allen Baracken herrscht
fieberhafte Betriebsamkeit. Die Lager werden geräumt. Decken und Kleider werden verteilt. Jeder erhält einen Laib Brot. Die
Prominenten erhalten die vierfache Menge. Mein Vater besucht mich in der Krankenbaracke.
Im allgemeinen Durcheinander lässt man ihn herein. Ich
sage ihm: »Die Kranken dürfen im KB bleiben, aber ...«- »Was, aber?«, fragt mein Vater. - »Es ist... es ist so, dass ich mich nicht von dir trennen will.« Ich füge hinzu: »Du könntest aber bei mir
bleiben, weißt du.« - »Geht das?«, fragt er. - »Ja, es geht.« Es gibt Platz genug. Heute wechselt die Wachmannschaft. In diesem
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Kommen und Gehen ist alles möglich. Die Vorstellung ist ver-
lockend, doch wir verwerfen sie. Wir haben Angst. Die Deutsehen werden keine Zeugen zurücklassen. Sie werden uns alle töten. Bis zum letzten Mann. Es gehört zur Logik ihrer wahn-
witzigen Unternehmung. Sie werden alles in die Luft jagen, da-
mit die freie Welt nichts von Art und Ausmaß ihrer Verbrechen erfährt. Wir beschließen also, mit den anderen zu gehen, zumal auch die meisten Ärzte sich evakuieren lassen.
Was wäre aus uns geworden, wenn wir uns entschieden hatten zu bleiben? Alle oder beinahe alle Kranken haben überlebt.
Sie wurden neun Tage später von den Russen befreit. Anders gesagt: Wenn wir uns entschlossen hätten, in der Krankenbaracke
zu bleiben, wäre mein Vater nicht zehn Tage später in Buchen-
wald vor Hunger und Schmach gestorben. Und mein Leben hätte einen anderen Lauf genommen. Ich wäre mit ihm nach Sighet
zurückgekehrt. Ich wäre bei ihm geblieben. Ich wäre nicht nach
Frankreich gegangen. Ich hätte meine französischen Bücher nicht geschrieben. Hätte ich überhaupt Bücher geschrieben?
1979 treffe ich im Verlauf eines offiziellen Besuchs in Moskau
den sowjetischen General Wassili Petrenko, der mit seinen Truppen Auschwitz befreite. Wir tauschen Erinnerungen aus. Er erzählt mir, wie die unter seinem Kommando stehenden Ein-
heiten Stellung bezogen und sich auf den Angriff vorbereiteten, während ich berichte, wie sehr wir ihn und seine Soldaten er-
warteten. »Wir haben auf Sie gewartet, wie gläubige Juden auf den Messias warten. Warum sind Sie nicht einige Stunden früher gekommen? Warum kamen Sie so spät? Der Vorstoß weni-
ger Spähtrupps hätte genügt, um Tausende Menschenleben zu retten!« Er antwortete ausweichend, führte technische Gründe an, sprach von der Strategie, dem Wetter, der Logistik. Seine Erklärungen haben mich nicht überzeugt. Sollte es wahr sein,
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dass Stalin entschlossen war, alles zu tun, um die sowjetischen
Kriegsgefangenen nicht zu befreien? Das sagt man jedenfalls.
Tatsache ist, dass die sowjetische Armee mehr Anstrengungen
hätte unternehmen können. Sie hat es nicht getan. Auch die
amerikanische Armee hat später an ihrer eigenen Front darauf verzichtet. Die Historiker sind sich durch die Bank darüber ei-
nig: Die Konzentrationslager gehörten in keinem Generalstab der Alliierten zu den festgelegten Kriegszielen. Es gab keine ein-
zige Anweisung, in der ihre Befreiung vorrangiges Ziel gewesen wäre. Sie geschah nebenbei, sozusagen zufällig.
Trauere ich noch heute um den Tod meines Vaters, weil ich an dem Tag, als er starb, nicht weinte? Die Prüfungen, die seinem Tod vorausgingen, sind mir in ihrer ganzen Gewalt gegenwärtig. In Die Nacht zu begraben, Elischa habe ich die Ereignisse in einem
Zug niedergeschrieben: der Todesmarsch nach Gleiwitz, der Schlaf im Schnee, die Fahrt im Stehen in den Waggons, durch die der Wind pfiff, die wahnsinnigen Schreie der lebenden
Toten vor ihrer Ankunft in Buchenwald - auch davon könnte ich mein Leben lang berichten. Wie kann ich die gellenden
Schreie in mir zum Schweigen bringen? Habe ich die Fußtritte bekommen? Ist man mir zu Hilfe geeilt? Wir alle waren nicht mehr bei Sinnen. Wir waren schon tot, wir fürchteten den Tod nicht mehr. Wir waren stärker als der Tod. Ich weiß nicht mehr,
warum, aber plötzlich sah ich mich am Abend des Kol Nidre
von lauter Gläubigen umringt, die ihre rituellen Schals trugen; ich sah Lebende und Tote, die bereit waren, zum Himmel auf-
zusteigen, um dort für eine vom Satan besiegte Menschheit ein-
zutreten. Ich schrie mit den anderen, ich heulte wie die anderen die Worte des Sch’ma Israel, des Kaddisch und anderer Gebete, die auf den Schnee niederfielen. Vom Wind fortgetragen, wer
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den sie die ganze Erde bedecken und schließlich das ganze Universum umhüllen. Die Köpfe unter feuchten und schweren De-
cken, hielten mein Vater und ich uns an der Hand, wiegten uns
vor und zurück wie früher im Bet ha-Midrasch, wie Verrückte
in einer Welt, die verrückt geworden ist, und ... Die heiße Dusche nach der Ankunft in Buchenwald tut uns
gut. Unglücklicherweise jagt man uns danach unbekleidet
ins Freie. Wir sind im kleinen Lager. Es ist mit Menschen vollgestopft, überfüllt. Riesige Baracken. Ein einziges Herumgeschubse. »Lass uns zusammenbleiben, zusammen«, sagt
mein Vater, die Worte meiner armen Mutter wiederholend, die sie damals im Zug sprach. Zwei Wracks, kaum noch von
menschlicher Gestalt, klammern sich aneinander, um nicht unterzugehen. Mein Vater hat Fieber. Ich auch, aber es ist ein
anderes Fieber. Er ist bereits schwer krank, ich nicht. Ein Strom zahlloser Menschen reißt uns mit und trennt uns. Wir rufen
einander. Wir finden wieder zusammen. Bei der Tür gibt es heißen Kaffee. Sollen wir hingehen? Besser nicht, in dieser er-
regten, hysterischen Menschenmenge ist die Gefahr zu groß,
sich zu verlieren. Wir verzichten auf den Kaffee und warten auf die Suppe. Sie wird kommen. Sie kommt. Jetzt nur keine Zeit
verlieren. Ich lasse meinen Vater auf der obersten Pritsche eines
Stockbetts zurück und laufe zur Tür, wo das Essen ausgegeben
wird. Als ich zurückkehre, ist mein Vater verschwunden. Panik erfasst mich, ich frage die Menschen zur Rechten und zur Lin-
ken nach ihm. Niemand hat ihn gesehen. Ich lasse den Essnapf
stehen, mache mich auf die Suche, und da ist er. Er war bei den
Latrinen. Es geht ihm schlecht. Mein Vater ist krank, und ich bin verzweifelt.
Jahre, Lichtjahre sind seitdem vergangen. Ich tausche mit Jorge Semprun Erinnerungen an Buchenwald aus. Er war im
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großen Lager. Er arbeitete in der Schreibstube und musste nicht unter dem Hunger und der Kälte leiden. Er kannte das kleine Lager, wenn man so will, von weitem. Warum so tun, als wäre
es nicht so gewesen? Das Los der Juden war grundverschieden
von dem der Nichtjuden. Wir lebten zwar in unmittelbarer Nähe, und dennoch jeder in einer anderen Welt.
Der Zustand meines Vaters wird immer schlimmer, ich weiß, dass er sterben wird. Es ist der finsterste Tag in meinem Leben. Der Tag, den mein Verstand am schwersten verkraftet hat. Ich
bin schwach, erschöpft, krank, ich will ihm helfen, doch ich
weiß nicht, wie. Ich würde alles für ihn tun. Ich würde ihm mein Blut, mein Leben schenken. Ich will für ihn leiden, seinen
Tod auf mich nehmen. Doch meine Stunde ist noch nicht gekommen. Für ihn ist es so weit. Ich flehe die Ärzte an, den Stubendienst, ich flehe zu Gott: Helft doch meinem Vater! Sie haben kein Erbarmen, niemand hat Mitleid. Man jagt uns mehrmals ins Freie, damit der Block
gereinigt werden kann. Mein Vater kann sich nicht mehr bewegen. Ich will bei ihm bleiben, doch man treibt mich mit StockSchlägen hinaus. Da stelle ich mich krank, tue so, als müsste ich auch sterben. Mein Vater verlangt nach mir, und ich will ihn nicht enttäuschen. Er spricht zu mir, doch was er sagt, ist zu-
sammenhanglos. Will er mir seinen letzten Willen mitteilen? Irgendwann murmelt er etwas von dem Schmuck, den wir vergraben haben, von dem Geld, das wir christlichen Freunden an-
vertrauten. Ich will es nicht hören. Was geht mich der Schmuck an? Was gehen mich die Reichtümer der Welt an? Mein Vater liegt im Sterben, der Schmerz bohrt in mir. Stöhnend bringt er
noch meinen Namen hervor, ich will aufstehen, ich will nach oben klettern, zu ihm kriechen, doch die Folterknechte sind wachsam, jede Bewegung ist verboten. Ich möchte schreien:
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Hab Geduld, Vater, bleib stark, Vater, nur noch eine Minute,
eine kurze Minute, und ich bin bei dir, dann höre ich dir zu,
spreche mit dir, ich lasse dich nicht allein sterben, ich sterbe mit dir. Mein Vater liegt im Sterben, und ich werde wahnsinnig
vor Schmerz. Ich will nicht von seiner Seite weichen. Ich lasse ihn allein, ich werde dazu gezwungen. Man schlägt mich, man wird mich totschlagen. Er stöhnt, und ich warte darauf, dass die
Folterknechte verschwinden. Er weint leise wie ein Kind, ich fühle, wie mir das Herz zerspringt. Er röchelt, es schneidet in
mein Fleisch. Ohnmächtig und vom Gefühl zu versagen niedergedrückt, spüre ich, dass ich mein Leben lang - mein Leben?
oder einen Tag? eine Woche? - dieses erdrückende Schuldge-
fühl mit mir herumschleppen werde. Mein Vater stöhnt, mein
Vater windet sich vor Schmerzen, mein Vater stirbt, und ich bin bei ihm, doch nicht nahe genug. Mein Vater ruft nach mir, und ich bin nicht schnell genug an seiner Seite, um ihm die Hand
zu halten. Was tun, um seine Schmerzen zu lindern? Was tun,
damit er nicht so einsam ist? Plötzlich sehe ich Großmutter
Nissel vor mir: Ich bitte sie, mit mir ins Lehrhaus zu gehen. Wir werden den Schrein öffnen, wir werden gemeinsam die Heilige Tora bitten, für meinen sterbenden Vater zu sprechen.
Sie reicht mir ihre Hand, doch ich greife ins Leere. Ich beiße auf
meine Knöchel, bis der Schmerz nicht mehr zu ertragen ist, ich möchte aufheulen, doch ich murmle nur, so sehr tut es weh. Ich möchte sterben vor Schmerz. Als mein Vater stirbt, bin ich sechzehn Jahre alt. Nachdem er
gestorben ist, fühle ich keinen Schmerz mehr. Ich fühle überhaupt nichts mehr: In mir ist jemand gestorben, und dieser jemand bin ich.
Ich habe nicht geweint. Mein Körper war ein einziges
Schluchzen, doch ich hatte keine Tränen mehr. Ich habe mich 146
aus meinem Leben zurückgezogen, und Tote weinen nicht. Es
war nicht üblich, dass im Lager jemand weinte, als fürchtete man, nie mehr aufhören zu können. Freiheit würde für uns zu-
allererst bedeuten, weinen zu können. Stumpf geworden, taumle ich verloren weiter. Ich sehe mich zwischen den Toten, suche meinen Vater, als wollte ich ihm sa-
gen: Sieh, ich bin hier, bei dir. Dabei muss ich es ihm gar nicht sagen. Er weiß es, er weiß alles. Ich auch. Ich weiß alles von ihm. Bevor sein Leben erlosch,
hatte er einen Moment schrecklicher Klarheit: Er riss die Augen auf, das Entsetzen spiegelte sich auf seinem grauen, ausgemer-
gelten Gesicht wider, er stieß einen leisen Schrei aus und starb kurz darauf. Wann genau? Eine Minute oder eine Stunde später? Ich weiß es nicht. Ich stand ihm nicht beiseite, als er starb.
Ich sah ihn, wie er im Sterben lag. Dann war er nicht mehr da.
Wann hat man ihn weggebracht? Und wohin? Ich will es nicht wissen. Ich habe Angst davor.
Als mein Vater tot ist, fühle ich mich seltsamerweise befreit.
Frei, mich treiben zu lassen. Mich in den Tod gleiten zu lassen.
Wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich ihn immer wieder
in seinem Todeskampf, und es schnürt mir die Kehle zu. Ich fühle, ich werde verwaisen. Man kann durchaus auch in fort-
geschrittenem Alter Waise werden. Und man kann es mehr als einmal werden. Und jedes Mal ist es das erste Mal.
Ich habe meinen Vater vor Augen und sage mir: Ich werde nicht erleben, wie er älter wird. Ich bin schon älter als er zum
Zeitpunkt seines Todes. Und wieder steigt die quälende Frage in mir auf: Was wäre geschehen, wenn wir im Krankenblock von Buna geblieben
wären? Wer weiß, vielleicht hätte er überlebt, unser Haus wiederaufgebaut und mir einen Weg ins Leben gewiesen. Vielleicht
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hätte ich Mittel und Wege gefunden, ihn glücklich, zufrieden und stolz auf seinen Sohn zu machen.
Am 1o. Dezember 1986 stehe ich vor dem norwegischen Kö-
nig und dem norwegischen Parlament, vor dem diplomatischen
Korps und den internationalen Pressevertretern, vor Elischa und seiner Mutter, vor Hilda, und soll meine Dankesrede für die
Verleihung des Friedensnobelpreises halten. Ich schaffe es nicht. Ich bringe kein Wort über die Lippen. Der Grund: Der Präsident des Nobelpreis-Komitees, Egil Aarvik, hat in seiner Ansprache
an meinen Vater erinnert. Er sagte ungefähr: »Sie waren an der
Seite Ihres Vaters, als er starb. Es war die dunkelste Stunde Ihres Lebens. Heute ist Ihre glorreichste Stunde gekommen. Es ist daher nur recht und billig, dass Ihr Sohn bei Ihnen ist, wenn Sie die
höchste Auszeichnung entgegennehmen, die die Menschheit
einem Menschen verleihen kann.« Diese Gegenüberstellung meines Vaters und meines Sohnes erschüttert mich. Mit zugeschnürter Kehle sehe ich meinen Vater neben meinem Sohn
sitzen. Ich spüre, wie sich meine Lippen bewegen, ohne dass ein Laut zu hören ist. Tränen treten in meine Augen, die überfließen werden, Tränen, die ich damals nicht weinen konnte ...
Nachdem mein Vater gestorben ist, versinke ich in eine Teilnahmslosigkeit, aus der ich erst bei der Befreiung am 11. April
1945 wieder erwache. Ich fühle kein Leben mehr in mir, und ich will auch nicht weiterleben. Ich weiß nicht mehr, was im Lager
oder im Block geschieht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Und
ich will nichts mehr wissen. Ich bin schon einer jener »Musel-
manen«, die sich jenseits des Lebens bewegen, die sich in den
Tod gleiten lassen wie ins Wasser. Sie essen nicht mehr, sie trin-
ken nicht mehr, und sie schlafen nicht mehr, sie fürchten nicht
einmal mehr die Schläge oder den Tod. Sie sind schon tot, aber sie wissen es noch nicht. Über diese leeren Wochen ohne jeden 148
Sinn habe ich in Die Nacht zu begraben, Elischa nur wenige Seiten
geschrieben. Sie sind aus meinem Leben ausradiert und haben keine Spur hinterlassen. Habe ich auf die Ausgabe meiner Brot-
ration oder auf die Suppe gewartet? Ich wartete auf nichts und niemanden. Ich ließ die Zeit an mir vorüberziehen, um in einen traumlosen Schlaf zu fallen. Wenn ich wieder erwachte, wusste ich nicht, wo ich war. Ich zählte die Stunden und Tage nicht
mehr. Alles war mir gleichgültig. Wenn ich jetzt zurückblicke, erinnere ich mich an einige Kameraden aus Kaunas oder Wilna,
mit denen ich auf mechanische Weise Schach spielte. Mir fällt
ein, dass ich während des Pessach-Festes morgens und abends an den Gottesdiensten teilnahm, die in unserem Block abge-
halten wurden. Aber das alles muss ein anderer erlebt haben,
nicht ich. In der Nacht zum 5. April (dem siebten Tag des PessachFestes) befiehlt die SS vom Turm aus allen Juden, sich auf dem
Appellplatz zu versammeln. Wir gehorchen. Auf dem Weg tritt uns die Lagerpolizei, die »Lagerschützen«, in den Weg. Eigentlieh sollten sie uns zum Appellplatz treiben, doch stattdessen
flüstern sie uns zu, wir sollen nicht dorthin gehen, sondern in unsere Blocks zurückkehren und uns dort verstecken. Der Lagerwiderstand hat die Losung ausgegeben: Verhindert die
Evakuierung! Ich bin in dieser Zeit aber so fern von jeder Wirklichkeit, dass ich nicht einmal weiß, dass es eine Widerstands-
bewegung im Lager gibt.
Jahre später, während eines offiziellen Essens in Jerusalem,
wandte sich der norwegische Botschafter an mich: »Ich bin glücklich, Sie wiederzusehen - ich spreche absichtlich von
Wiedersehen, denn wir haben uns vielleicht schon einmal in
Buchenwald gesehen.« Wie die meisten gefangenen norwegisehen Studenten war er bei den Lagerschützen. Ich antwortete
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ihm: »Seit dem 5. April 1945 suche ich Sie, um Ihnen dafür zu
danken, dass Sie unser Leben gerettet haben.« In den Tagen vor der Befreiung finde ich mich mehrmals auf dem Appellplatz vor dem Turm ein, zur Evakuierung bereit.
In meiner Erschöpfung und Teilnahmslosigkeit hätte ich den Marsch nicht überstanden, nicht einmal einen Tag lang. Ist es
Glück oder Vorsehung, dass wir jedes Mal durch einen Luftalarm gezwungen werden, ins kleine Lager zurückzukehren?
Oder dass die Zahl der Häftlinge, die verlegt werden soll, schon erreicht ist und die Gruppe, zu der ich gehöre, in ihre Baracken
zurückgeschickt wird? In Nummer 66 gibt Gustav den Ton an. Er bevorzugt die polnischen Jugendlichen. Das ist üblich und
völlig normal. Einige haben es ihm später verübelt. Ich denke
nicht an Später. Ich denke an gar nichts. Als wir am 10. April wieder auf dem Appellplatz bereitstehen, um das Lager zu verlassen, schließt man ein letztes Mal die Tür
vor uns mit dem Hinweis: »Morgen seid ihr endgültig an der
Reihe. Morgen wird der letzte Zug das Lager verlassen.« An diesem Tag war ich etwas zurückgeblieben, und ein anderer nahm
meinen Platz ein. Seither frage ich mich oft: Wer war es? Wer
ist für mich gegangen? Genauer: Wer ist gegangen, weil ich zu-
rückblieb oder damit ich zurückblieb? Ich werde es nie erfahren,
aber ich weiß, dass ich ihm das Leben verdanke. Ich weiß auch, dass er heute dort stehen könnte, wo ich jetzt stehe. 11. April 1945: Buchenwald wird befreit. Verzeihung: Das Lager
hat sich selbst befreit. Die bewaffneten Widerstandskämpfer kommen aus dem Untergrund hervor und erheben sich wenige
Stunden vor dem wunderbaren Erscheinen der ersten amerika-
nischen Truppen. In unserem »kleinen Lager« rennt Gustav, die Taschen vollgestopft mit Handgranaten, von Baracke zu Bara 150
cke. Als Sieger fangen die erregten Häftlinge fliehende SS-Leute
ein. Die sowjetischen Kriegsgefangenen bemächtigen sich eini-
ger amerikanischer Jeeps und fahren zu einer Strafaktion an den Bewohnern Weimars, der Stadt Goethes. Wir, die jungen Juden, organisieren ein Minjan und beten das Kaddisch. Dieses Kaddisch, das zugleich Seinen Namen verherrlichte und gegen
Seine Schöpfung aufbegehrte, klingt noch heute in meinen Ohren. Es war unser Dank dafür, dass wir verschont geblieben waren, aber wir fragten auch: »Warum hast Du die vielen anderen nicht verschont?«
Seltsam: Meine Kameraden und ich fühlen uns nicht als »Sieger«. Wir fallen uns nicht fröhlich in die Arme. Wir jubeln und
singen nicht, um unser Glück zu zeigen. Denn dieses Wort be-
deutet nichts für uns. Wir sind nicht glücklich. Werden wir es
eines Tages sein? Später werde ich Reden hören und Artikel lesen, in denen der Triumph der Alliierten gegen Hitler-Deutschland gefeiert wird. Und wir Juden? Der kleine Unterschied liegt darin, dass Hitler
den Krieg verloren hat, wir ihn aber nicht gewonnen haben. Wir sind von zu vielen Toten umgeben, als dass wir von einem
Sieg sprechen könnten. Antriebslos und ohne Ziel schließe ich mich einer Gruppe an, die ich nach kurzer Zeit wieder verlasse. Ich betrachte den
Himmel, ich suche die Erde mit den Augen ab, ich suche und suche, ohne zu wissen, was. Suche ich jemanden, zu dem ich sagen könnte: »He, du, sieh mich an: Ich lebe.«? Übrigens wieder ein Wort, das nicht viel heißt. Leben - was soll das bedeuten? Werde ich es jemals wissen?
Ich erinnere mich an die amerikanischen Soldaten und an das Grauen, das sich auf ihren Gesichtern spiegelte. Ich werde niemals den schwarzen Unteroffizier vergessen - war es ein
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Unteroffizier? Ich musste es mir später bestätigen lassen. War
er schwarz? Ich meine, mich daran zu erinnern. Ein muskulö-
ser Riese mit Herz, der Tränen ohnmächtiger Wut und Scham
vergoss: Er schämte sich für das Menschengeschlecht, dem wir alle angehören. Er stieß Flüche und Verwünschungen aus, die auf seinen Lippen zu heiligen Sätzen wurden. Um ihm unsere
Dankbarkeit zu zeigen, versuchten wir ihn auf unseren Schultern zu tragen, aber uns fehlte die Kraft. Selbst zum Applaudie-
ren waren wir zu schwach. Ein Soldat warf uns Konservendosen zu. Ich fing eine auf. Ich
öffnete sie. Es war Speck, aber ich wusste es nicht. Entsetzlich ausgehungert - ich hatte seit dem 5. April nichts mehr geges-
sen - betrachtete ich die Büchse eine Zeitlang und bereitete mich darauf vor, den Inhalt zu kosten. Doch kaum berührte
meine Zunge den Speck, verlor ich das Bewusstsein. War es Erschöpfung, oder widersetzte sich mein Körper im Voraus der unreinen Nahrung, wie er auch vor mir begriffen hatte, dass ich wieder in Freiheit war?
Ich liege einige Tage halb tot im Krankenhaus (dem ehemali-
gen SS-Hospital) und dämmere in einem Bett vor mich hin. Als ich erwache, fühle ich mich restlos am Ende. Ich muss meine
ganze Geisteskraft zusammennehmen, um mir meinen Zustand vor Augen zu führen: Wo ist mein Platz in der Welt, und
wo stehe ich mit meinem Leben? Mein Vater ist tot. Ich habe ihn sterben sehen. Meine Mutter ist zweifellos auch tot. Von
Mengele für nicht jung genug befunden, um zu arbeiten. Meine
Großmutter war zu alt, meine kleine Schwester zu jung. Ich hoffe, dass wenigstens Bea und Hilda noch am Leben sind. Doch wie kann ich das herausfinden? Listen werden herumgereicht.
Man zeigt sie mir. Voll Beklemmung studiere ich sie unermüdlieh, gehe sie immer wieder Namen für Namen durch. Nichts.
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Man sagt mir, ich solle den Mut nicht verlieren, weitere Listen
würden gerade getippt. Als sie kommen, stürze ich mich auf sie. Noch immer nichts. Hier und da bleibt mein Blick an den
Namen Wiesel hängen, doch weder Bea noch Hilda sind dar-
unter. Was ist mit den Vettern? Mit Feig, Deutsch, Holländer,
den Slomowics - Gott sei Dank, einige ihrer Namen tanzen vor meinen Augen. Aber, Herr im Himmel, wo sind Bea und Hilda? Mit jeder Liste wird der Abgrund in mir tiefer. Seit ich befreit
bin, fühle ich mich niedergeschlagener und verlorener als zuvor.
Als ich wieder auf die Beine komme, bitte ich um Entlassung
aus dem Krankenhaus. Wieder bei den Kameraden, nehme ich
an ihren Versammlungen teil; eine folgt der anderen: Was sollen wir jetzt tun? Wohin sollen wir gehen? Wir werden ja nicht ewig hierbleiben ...
Zudem drängt die amerikanische Militärverwaltung auf eine Entscheidung. Wir sind vierhundert Jugendliche, die nicht wis-
sen, wohin sie gehen sollen. Der jüngste ist sechs oder acht Jahre alt. Es ist der zukünftige Oberrabbiner Israels, Rabbi Israel Meir Lau. Der spätere Gelehrte Izso Rosenmann ist nur wenig älter.
Sollen wir nach Hause zurückgehen? Einige Männer aus Sighet, die aus den benachbarten Lagern kommen, raten uns dazu. Ein
ehemaliger Händler meint: »Man wird uns wie Prinzen empfangen.« Ein anderer fügt hinzu: »Uns wird alles erlaubt sein.« Ein dritter, ein überzeugter Kommunist, erklärt: »Wir verkör-
pern eine gewaltige politische Kraft. Lasst sie uns nutzen, um eine neue Gesellschaft aufzubauen.« Und wieder ein anderer:
»Gehen wir zurück, und wäre es nur, um uns zu rächen!« Einige wenige lassen sich überzeugen, die meisten sind aber nicht einverstanden. Wir haben Angst, an den Ausgangspunkt unserer Geschichte zurückzukehren. Wozu auch, wenn man dort nur
leere Häuser findet?
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»Gut«, meinen die amerikanischen Offiziere, »es ist verständ-
lieh, dass ihr nicht nach Hause zurückkehren wollt. Aber wo wollt ihr dann hingehen?«
»Nach Palästina«, geben einige zur Antwort. Ich pflichte ihnen
bei. Es ist das einzige Land, dessen Namen mir etwas sagt.
»Hast du Verwandte dort?« »Ja«, erwidert ein Kamerad, der nicht auf den Mund gefallen
ist, »wir haben Verwandte.« »Wie heißen sie?« »Josua«, sagt er. »Amos. Jesaja. Rabbi Jehoschua ben Levi.« »Nicht etwa Mose?« fragt der Offizier lächelnd.
»Nein. Mose hat das Heilige Land niemals betreten«, versetzt
unser Sprecher.
Der Offizier schüttelt traurig den Kopf: »Und du wirst es auch nicht ... Ihr seid unglücklicherweise in derselben rechtlichen
oder politischen Lage wie Mose. Die Engländer wollen euch nicht in Palästina haben.« Aber wo sollen wir dann hingehen? Ein anderer Offizier
bringt eine gute Nachricht: »Belgien ist bereit, euch aufzuneh-
men.« Bravo, Belgien! Hurra! Und Verwandte habe ich dort auch, Vettern und Kusinen. Einen habe ich in Auschwitz getrof-
fen. Und Schiku und Reisel sind sicher auch dort. Ich erinnere mich, wie sie aus Kretschenew kamen und einige Tage bei uns
blieben, um sich Papiere und Fahrkarten für den Zug nach Antwerpen zu besorgen. Schiku war sanft und schüchtern, Reisel
hingegen, die sehr schön war, ging mit stolz erhobenem Kopf. Was ist wohl aus Stein geworden, ihrem Mann, den ich kurz nach unserer Ankunft in Auschwitz getroffen habe? Von Zeit
zu Zeit sandten sie Grüße zu Rosch ha-Schana. Gut - auf nach Belgien! Wenn wir tatsächlich nach Belgien gegangen wären, hätte ich
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vielleicht schon damals das verführerische Mädchen von strahlender Schönheit und Klugheit, voller Charme und Tempera-
ment kennengelernt, das Jahre später die Mutter meines Sohnes Elischa wurde. Sie gehörte einer zionistischen Bewegung an, der auch ich mich hätte anschließen können. Doch das Schicksal entschied anders.
Eines schönen Morgens teilt man uns mit, dass wir nicht nach Belgien fahren. Warum nicht? General Charles de Gaulle, der von unserem Drama gehört hat, lädt uns nach Frankreich
ein. Also geht die Reise nach Frankreich, in die Heimat Rabbi
Jechiels und Raschis - mehr weiß ich kaum über dieses Land.
Sicher, in Auschwitz machte ich Bekanntschaft mit Franzosen ich erinnere mich an Louis oder Charles oder Andre, den aus-
gezeichneten Flötenspieler -, doch ich verstand ihre Sprache
nicht. Um uns zu unterhalten, griffen wir auf die Sprache des Konzentrationslagers zurück, eine Mischung aus Polnisch, Deutsch, Jiddisch, Russisch und Ukrainisch. Werde ich nun also Französisch lernen müssen? Ach was, alles zu seiner Zeit...
Zuerst muss ich wieder lernen, wie man lebt, muss ich das Leben neu kennenlernen.
Von meinem Vater getrennt leben. Meinen Vater zurück-
lassen. Auf dem unsichtbaren Friedhof von Buchenwald. Ich
betrachte den Himmel. Dort ist sein Grab. Jedes Mal wenn ich die Augen zum Himmel erhebe, sehe ich sein Grab.
Verlass mich nicht, Vater, auch wenn ich dich verlasse. Von jetzt an werden wir nur noch im Traum zusammen und ver-
eint sein. Ich schließe häufig die Augen, nur um dich zu sehen. Du
gehst den einen Weg, ich den anderen. Und trotzdem wird der Abstand zwischen uns nicht geringer.
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Ich gehe weg aus dem Lager, wir gehen weg aus dem Lager,
wir gehen einem neuen Leben entgegen. Und du dort oben, du bist nur noch eine Handvoll Asche.
Nicht einmal das.
Christian Graf von Krockow Unterwegs in die Zukunft
Der 8. Mai 1945 gilt als historisches Datum; er markiert das
Ende des Zweiten Weltkriegs und des »Dritten Reiches«. Zusammenbruch oder Befreiung? Am nächsten Tag erschien der
letzte deutsche Wehrmachtsbericht, an dessen Ende es heißt:
»Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehör-
sam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland.«
Aber das entdeckt man nachträglich in einer Dokumentation. Wer hat damals den Text überhaupt im Rundfunk gehört oder
in einer Zeitung gelesen? Und auf wen unter den Deutschen hat dieses Datum einen unauslöschlichen Eindruck gemacht? Auf
mich jedenfalls nicht. In den Tagebuchnotizen, die ich in mein winziges Heft kritzelte, kommt der 8. Mai gar nicht vor. Ich befand mich als siebzehnjähriger Soldat in Dänemark;
dorthin waren wir zur »Neuaufstellung« verlegt worden. Als
stehe der »Endsieg« bevor, wurde am 20. April der Geburtstag des Führers mit einem Aufmarsch, mit markigen Reden und
Ordensverleihungen festlich begangen.
Kurz darauf wurden wir alarmiert, um, wie es hieß, in der Schlacht um Berlin, unter den Augen Adolf Hitlers, an der »Ehre des Endkampfes« teilzuhaben. Jemand sagte: Nibelungenfinale.
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Dem Verladen in einen Zug folgte allerdings »keine Abfahrt, da wieder mal Strecke gesprengt«. Nach langem Warten entstiegen wir den Waggons und marschierten zur Kaserne zurück. Dank sei also den Meistern des Dynamits aus dem dänischen Widerstand, daß sie uns am Leben und weiter in dem Land sein ließen,
in dem es Milch und wenn schon nicht Honig, dann doch Butter noch fast wie in Friedenszeiten gab.
Ganz unvermittelt folgte der Sprachwechsel. Vom Herois-
mus war nicht mehr die Rede; der angebliche Soldatentod des auf einmal seltsam unwirklichen Führers »an der Spitze der
heldenmütigen Verteidiger der Reichshauptstadt« blieb bereits unkommentiert. Schließlich am 5. Mai sagt mein Tagebuch mit deutlicher Erleichterung: »Es ist soweit! Waffenstillstand gegen die Engländer in Holland, Dänemark und Norddeutsch-
land!«
Es begann dann unser Ausmarsch aus Dänemark, nach wie
vor unter straffem deutschem Kommando und noch immer unter Waffen. Weil sich an der Grenze die Kolonnen stauten,
entstanden viele, manchmal mehrtägige Pausen; für Wochen
kampierten wir unter freiem Himmel. Aber dieser Frühling 1945 war so wundersam warm, so trocken und schön wie seit Menschengedenken kaum einer.
Manchen gefiel freilich nicht, was geschah. Unser ebenso schneidiger wie blutjunger Oberleutnant zum Beispiel, »Bubi« genannt, war wütend, als der nach dem Attentat vom 20. Juli
1944 auch in der Wehrmacht eingeführte Hitlergruß wieder
durch den militärischen ersetzt wurde. Verbissen ließ er uns exerzieren und erklärte: »Aus euch mache ich noch Soldaten!«
Sichtbar erschüttert las er uns die Meldung vor, daß die Sieger
einen Sozialdemokraten als Bürgermeister einer Großstadt eingesetzt hatten, und kommentierte: »Ja, meine Herren, das also
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bedeutet die bedingungslose Kapitulation.« Später ist der Mann zum Militärkommentator bekannter Zeitungen geworden. Am 29. Mai überschritten wir bei Flensburg die Grenze. Es
war ein schon sommerlich heißer Tag. Für Stunden standen
wir im Stau, weil die Engländer umständlich kontrollierten, ob sich SS-Leute eingeschlichen hatten, die an der Blutgruppen-
Tätowierung unter dem Oberarm kenntlich sein sollten. Alle Tornister waren mit Butter oder Speck wohlgefüllt. In der Hitze
schmolz die Butter unaufhaltsam dahin und lief den Leuten in Rinnsalen über die Rücken hinunter bis in die Stiefel hinein. Zu meinem Glück hatte ich mich bloß mit Speck versorgt. Zwei Tage später legten wir die Waffen nieder und sahen uns
in ein Kriegsgefangenenlager ohne Stacheldraht verwiesen, zu
dem zwischen Eider und Nord-Ostsee-Kanal ein großes Gebiet
im Westen Schleswig-Holsteins erklärt worden war. Anfang Juli folgte die Entlassung - als »Landarbeiter«, wie mein Entlas-
sungsschein vermerkt. Denn die Ernte stand bevor, und französische Kriegsgefangene oder polnische Zwangsarbeiter gab
es nicht mehr, um sie einzubringen. Für den 6. Juli lese ich in meinen Notizen: »Abtransport nach Eckernförde, und endlich
sind wir frei vom Kommiß ... 20.00 Ankunft in Booknis. Vorläufig ist es geschafft. Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt.«
Dies also war für mich das entscheidende Datum, der Tag meiner Befreiung.
Ja, Befreiung: Der Zusatz »vom Kommiß« besagt viel mehr, als das Wort vermuten läßt; er meint die ungeheure, undurchschaubare Kriegsmaschine, die, längst außer Kontrolle geraten,
bloß noch aufs Vernichten und die Selbstvernichtung zielte. Der einzelne war ihr kaum entrinnbar ausgeliefert; wer sich
widersetzte oder zu entziehen versuchte, den traf der Tod mit desto größerer Gewißheit. Jeder wußte von Erschießungen, je
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der kannte die Bilder der an Straßenbäumen Gehenkten. Noch
kurz vor der Kapitulation waren wir selbst zur Jagd auf Deser-
teure aufgeboten worden, allerdings ohne Ergebnis. Auch sie
hat wohl der dänische Widerstand gerettet.
Eine Anmerkung ist hier nötig. Auf meinem morschen Entlassungsschein erkenne ich mit Erstaunen, daß ich mich nicht nur zivil beim Bürgermeister, sondern auch militärisch anmel-
den mußte. Die zivile Anmeldung erfolgte am 9., die militäri-
sehe, wohl nach einigem Zögern, am 21. Juli beim zuständigen - wohlgemerkt deutschen - »Standortoffizier Kappeln«, abgezeichnet von einem Oberfeldwebel und ordnungsgemäß mit
dem alten Dienststempel versehen, aus dem nur das Haken-
kreuz herausgeschnitten war. Wie soll man den Sachverhalt erklären, zweieinhalb Mo-
nate nach dem 8. Mai? Offenbar haben britische Befehlshaber wie Montgomery oder Staatsmänner wie Churchill insgeheim
mit einem Krieg gegen die Sowjetunion gerechnet und die Re-
gistrierung der entlassenen Soldaten veranlaßt, um sie, wenn nötig, wieder einziehen zu können. Damals, im Sommer 1945,
hörte man bloß die Gerüchte, etwa darüber, daß die Waffen der
Wehrmacht sorgfältig eingesammelt würden. Bis heute gibt es nur wenige Forschungsberichte, die dieses Zwielicht über der
frühen Nachkriegszeit halbwegs erhellen. Eine praktische Folge hatte meine Anmeldung gottlob nicht, und irgendwann sind die militärischen Meldestellen aufgelöst worden. Zurück zur Befreiung: Wie das »Dritte Reich« von Anfang an,
so war die Kriegsmaschine gekennzeichnet durch Willkür und
Gewalt. Jetzt aber keimte etwas Neues, eine Hoffnung darauf, daß es ein Recht des einzelnen gab, über sich selbst zu bestimmen. Gewiß traf die Militärregierung Anordnungen nach ih-
rem Gutdünken, und sie beschlagnahmte zum Beispiel Häuser 160
für den eigenen Bedarf, natürlich die besten. Doch die Erwar-
tung war groß und allgemein, daß die Briten (oder die Amerikaner) nicht nur für Ordnung, sondern auch für das Recht sorgen
würden; noch die Empörung über unverständliche Maßnah-
men spiegelte diese Erwartung. Insgesamt ist sie erfüllt worden. Recht: Welch ehrwürdiges Wort und welch eine Verheißung! Ich habe von meinen Jugendängsten, meinem Entsetzen vorder Willkür und der Gewalt erzählt, und so mag man ermessen, wie
groß die Hoffnung war, die nicht nur mich erfüllte. Inzwischen
weiß ich: Das Recht ist eines der großen Kunst- und Kulturwerke des Abendlandes, vielleicht das größte. Nur durch das Recht
werden wir zu Bürgern eines Gemeinwesens; am Recht hängt alles, vorab unsere Freiheit. Ein berühmter Gelehrter, Gustav
Radbruch (1878-1949), hat gesagt: »Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist,
den Rechtsstaat zu sichern.« Oder um mit unserem großen Aufklärer und Philosophen Immanuel Kant zu reden: »Das Recht
muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.« Zwischen 1933 und 1945 war es in Deutschland genau umgekehrt gewesen, mit schrecklichen Folgen. Die Zweieinigkeit von Freiheit und Recht: Erst später habe ich von der großen Proklamation der amerikanischen Unab-
hängigkeitserklärung erfahren, die unserer Schulbildung vor-
enthalten worden war, vom unveräußerlichen Grundrecht des Menschen auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Was wir kannten, war einzig die preußisch-friderizianische Gegen-
parole: »Es ist nicht nötig, daß ich lebe, wohl aber, daß ich meine Pflicht tue.« Eine der zeitgemäßen Zuspitzungen hieß dann: »Du bist nichts, dein Volk ist alles.« Aber sogar das hatte man 161
uns vorenthalten, daß zu den preußischen Leistungen die EntWicklung eines Rechtsstaates von Rang gehörte, der sich vom
bedingungslosen Gehorsam grundlegend unterschied, wie der Führerstaat und noch der letzte Satz des letzten Wehrmachtbe-
richts ihn einforderten.
Meine Notiz vom 6. Juli redet nicht von der schlimmen Ent-
täuschung, die mit der Ankunft in Booknis, einem kleinen Gut an der Ostseeküste, verbunden war. Ich hatte mich dort-
hin gemeldet, weil eine Freundin meiner Schwester den Sohn des Besitzers geheiratet hatte. Ich hoffte, hier meine Familie vorzufinden - vergeblich. Der schnelle Vormarsch der Roten
Armee überrollte ihren Treck; erst 1946 sah ich meine Mutter und Schwester, erst 1947 meinen Stiefvater wieder. Ich stand also ganz allein da. Aber wie zum Jahreswechsel Kaufleute In-
ventur machen und aufschreiben, was sie haben, so vermerkte ich zur Zeitenwende 1945, was ich am Tag meiner Entlassung
besaß:
1 Reithose 1 Wehrmachtjacke
1 Käppi 1 Pullover 1 braunes Hemd 1 grünes Hemd
1 Paar Socken 1 Paar Reitstiefel 1 Kragenbinde 1 Taschentuch
1 Hosenträger
1 Packtasche 1 Paar Sporen
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1 Feldflasche 1 Brotbeutel 1 Kochgeschirr 2 Decken
1 Füllfederhalter 60 Reichsmark in bar
1 Postsparbuch mit 832 Reichsmark. Nichts war neuwertig, vieles schon hart am Rande seiner Ge-
brauchsfähigkeit; alles müßte und würde man heute schleu-
nigst auf den Müll befördern, weil nicht einmal der Caritas mit solchen Gegenständen gedient wäre. Und wem wohl sollte man jetzt noch die Sporen geben?
Wie mir erging es Millionen; halb Deutschland war das »Marschlied 1945« von Erich Kästner auf den Leib geschrieben,
das Ursula Herking in der Münchener »Schaubude« sang:
»In den letzten dreißig Wochen zog ich sehr durch Wald und Feld.
Und mein Hemd ist so durchbrochen,
daß man’s kaum für möglich hält.
Ich trage Schuhe ohne Sohlen, und der Rucksack ist mein Schrank.
Meine Möbel hab’n die Polen und mein Geld die Dresdner Bank.
Ohne Heimat und Verwandte, und die Stiefel ohne Glanz -
ja, das wär nun der bekannte
Untergang des Abendlands!»
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Immerhin ging es mir besser als vielen; ich hatte ein Dach über
dem Kopf. Im Gutshaus von Booknis war das Strandgut des Krieges zwar wenig willkommen, aber man mußte nicht hun-
gern, der idyllisch leere Ostseestrand lag nur ein paar hundert Meter entfernt, so daß man in den Sommermonaten manchmal
fast an Badeferien denken konnte. Als der Winter folgte, gab es reichlich Holz zum Heizen. Und ein unaufhaltsamer Aufstieg
zeichnete sich ab: Als ich im März 1946 eine zweite Bestandsaufnahme machte, hatte sich mein Besitz schon beträchtlich
vermehrt. Aus einem Taschentuch waren vier geworden, ich gebot nun über drei Paar Socken, und ein Jackett hatte sich ein-
gefunden, freilich mit dem Vermerk: »alt, zu weit«. Weitaus am wertvollsten war, was aus Wehrmachtlagern stammte, als Ausrüstung für Rußland, wie man sie 1941 vor Moskau gebraucht
hätte: ein Ohrenschützer, ein Paar Filzstiefel und eine mächtige
Pelzjacke, die bis zu den Knien reichte. Damit gerüstet, ließen sich Winterreisen auf Lastwagen oder in ungeheizten Zügen
ohne Schaden überstehen. Wer heute mit Menschen spricht, die die ersten Nachkriegsjahre miterlebt haben, bekommt oft Überraschendes zu hören.
»Natürlich«, heißt es, »das war eine harte Zeit. Oft haben wir gefroren, noch öfter gehungert. Man mußte sich anstrengen
und hellwach sein, um herauszufinden, wo man etwas ergat-
tern konnte. Herumhören, was die Leute auf dem Schwarzen Markt einander zuflüsterten, tauschen, handeln, Kohlen klauen,
sich in die überfüllten Züge zu Hamsterfahrten pressen, dann auf der Heimreise den Razzien entgehen ...« Aus den Städten
trug man ins Land hinaus, was sich entbehren ließ; jeder redete von den Teppichen, mit denen die Bauern angeblich ihre Kuh-
Ställe schmückten. Geläufig war auch der Spruch: »Ich kann
mir Arbeit nicht leisten.« Denn eine einzige, im Schwarzhandel 164
gewonnene Zigarette Marke »Chesterfield« oder »Lucky Strike« übertraf den Stundenlohn eines Facharbeiters bei weitem. Aber
nachdem das alles aus dunklem Erinnern ans Licht gebracht und gehörig erörtert worden ist, folgt meist als Nachsatz: »Eigentlich war es eine tolle Zeit.«
Wie das? An erster Stelle stand wohl das Glücksgefühl, von
dem schon die Rede war: Nicht mehr der Tod regierte, sondern das Leben. »Ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf
noch fest auf dem Hals« - hieß im »Marschlied 1945« der Kehrreim. Man war nicht mehr
ans Belieben anderer gekettet, sondern zu sich selbst befreit, und statt der immerwährenden Gefahr, in der man kaum weiter
zu denken vermochte als bis zum nächsten Fronteinsatz oder zum Sirenengeheul und Luftangriff, gab es wieder eine Zukunft,
so offen und ungewiß sie einstweilen auch sein mochte. Um so mehr konnte man in sie hineinträumen und Pläne schmieden.
Um nicht mißverstanden zu werden: Hier ist von den Jungen oder doch Jüngeren die Rede, die ihr Leben vor sich hatten. Denn sie bilden inzwischen die alte Generation, und niemand sonst kann man noch fragen. Für die damals Älteren sah es dü-
sterer aus. Viel zu tief hatte die Mehrheit auf den Wahn und die Gewalt des Dritten Reiches sich eingelassen, um von seinem Zusammenbruch nicht belastet zu sein. Ich habe Verständnis
dafür, daß diesen Menschen das Wort »Befreiung« kaum über die Lippen kam; ehe man über »Unverbesserliche« den Stab
bricht, sollte man bedenken