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German Pages 557 [560] Year 2006
Wilhelm Koller Narrative Formen der Sprachreflexion
W G DE
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
79
Walter de Gruyter · Berlin · N e w York
Wilhelm Koller
Narrative Formen der Sprachreflexion Interpretationen zu Geschichten über Sprache von der Antike bis zur Gegenwart
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
I S B N - 1 3 : 9 7 8 - 3 - 1 1 -Ol 8 9 2 5 - 4 ISBN-10: 3-11-018925-9 ISSN 1861-5651 Bibliografische
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Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken. ./. W. von Goethe Denken ist interessanter als Wissen, aber nicht als Anschauen. ,/. W. von Goethe Alles Fixieren geschieht durch Verknüpfung durch eine mehr oder minder individuelle Beziehung. Novalis Unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein. F. Nietzsche The speech of the dead, like my own speech, is not private property. St. Greenblatt Die Diagonale zeigt, wie man sich in mehrere Richtungen zugleich bewegt. A. Demandt Nicht alles muss im Sinne des Erfinders verstanden werden.
Den wissbegierigen Studierenden, die ich in dreieinhalb Jahrzehnten in Lund, Hannover und Kassel kennen lernen durfte.
INHALTSVERZEICHNIS
Α DIE FORMEN DER SPRACHREFLEXION ALS FORMEN DER SINNBILDUNG
I
Der Problemzusammenhang
1
II
Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
7
III
IV
1. Der Formbegriff 2. Der Reflexionsbegriff 3. Der Repräsentationsbegriff. 4. Der Perspektivitätsbegriff.
7 11 15 18
Die begrifflichen Reflexionsformen
22
1. Die kognitiven Funktionen von Begriffen 2. Die Stärken und Schwächen von Begriffen 3. Die Leistung von Begriffen in der Sprachreflexion
23 25 28
Die narrativen Reflexionsformen
31
1. Vom Mythos zum Logos und vom Logos zu Mythos 2. Die gegenstandskonstitutive Kraft von Geschichten 3. Die Erkenntniskraft von Geschichten 4. Die Implikationen narrativer Gegenstandsobjektivierungen 5. Geschichten als hermeneutische Herausforderungen
33 36 39 45 50
Β TEXTINTERPRETATIONEN
I
Der Baum der Erkenntnis
61
1. Grundsätzliche Probleme 2. Das biblische Sprachkonzept und die Struktur des Mythos 3. Die Schlange als Zeichen 4. Das Problem des Todes und der Arbeit
64 67 69 75
VIII
II
Inhaltsverzeichnis
5. Die Erkenntnis des Guten und Bösen 6. Sprache, Denken und Bewusstsein
78 84
Der Turmbau zu Babel
91
1. Interpretationsansätze 92 2. Die Turmbauerzählung und die Idee des mehrfachen Schriftsinns 94 3. Das Verhältnis von Sprache und Arbeit 102 4. Die Ambivalenz von sprachlichen Differenzierungsprozessen.... 108 5. Die Sprache als soziales Phänomen 112 6. Alternative Turmbaukonzepte 117
III
IV
V
VI
Das Sprachexperiment von Psammetichos
121
1. Herodots Mitteilungsinteressen 2. Der historische und geistige Hintergrund des Experiments 3. Die Prämissen des Experiments 4. Die ungelösten Probleme 5. Das Nachfolgeexperiment von Kaiser Friedrich II 6. Die Variation des Experiments bei Marivaux
123 124 127 130 137 140
Der Brief der Skythen an Dareios
142
1. Die sprachtheoretischen Implikationen des Textes 2. Die Formen der Schrift 3. Die Zeichenproblematik 4. Die Denkoperationen beim Verstehen von Zeichen
143 144 149 154
Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift
158
1. Die Thematik des Phaidros-Dialogs 2. Der Theuthmythos 3. Die Interpretation des Theuthmythos durch Sokrates 4. Die Schriftkritik im Politikos und im Siebenten Brief. 5. Schriftkritik als Sprach- und Sprachgebrauchskritik 6. Die Erscheinungsformen von Wissen
161 164 169 172 178 184
Das platonische Höhlengleichnis
190
1. Rezeptionsmöglichkeiten für das Höhlengleichnis 2. Der Erziehungs- und Bildungsgedanke 3. Die Erkenntnis- und Ideenproblematik 4. Das Höhlengleichnis als Sprachgleichnis 5. Die Sprache als soziale Institution
193 193 200 206 216
Inhaltsverzeichnis
VII Der Hase des Physiologus 1. Zur Wahl des Textes 2. Das Problem der Wortbedeutungen 3. Das Analogieprinzip in Verstehensprozessen 4. Die Konstitution von Zeichen 5. Das Buch der Natur und die Allegorese
VIII Die Erkenntnismaschine von Lagado 1. Die Hintergründe des Textes 2. Das Problem der Universalsprache 3. Die Implikationen des Relationsgedankens 4. Der Bericht über die Erkenntnismaschine als Satire 5. Die Prämissen der Erkenntnismaschine 6. Der zeichentheoretische Wert der Satire
IX
IX
222 223 226 234 238 243
250 253 255 262 266 271 279
Der Akademieplan zur Abschaffung der Verbalsprache. 285 1. Der Ansatz der Swifltschen Satire 287 2. Die pragmatischen Ansatzpunkte der Kritik 290 3. Die zeichentheoretischen Ansatzpunkte der Kritik 294 4. Die möglichen Vorteile einer Kommunikation mittels Dingen.... 299 5. Der Status und die Funktion von Begriffen 303 6. Die sprachlichen Formen als Wissensspeicher 309
X
XI
Humpty Dumpty als Sprachdenker
315
1. Die Hintergründe des Textes 2. Das Problem der Namen 3. Die Sinn- und Machtfrage bei Bedeutungszuweisungen 4. Das Konzept des Ungeburtstages
319 321 331 341
Die Krankheit des Vergessens
349
1. Die 2. Die 3. Die 4. Die 5. Die 6. Die
353 354 360 371 377 382
Einbettung des Textes in den Roman Pest der Schlaflosigkeit Struktur und die Funktion des Gedächtnisses Formen des Vergessens in Macondo Verschränkung von Erinnerungs- und Vergessensprozessen Krankheit des Behaltens
XII Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen 1. Die Thematik der Geschichte 2. Der sozialpsychologische Problemrahmen 3. Die Benennungskonventionen 4. Die Möglichkeit der Veränderung von Sprachkonventionen 5. Die sprachtheoretischen Grundprobleme der Geschichte 6. Eine Gegengeschichte von Astrid Lindgren
XIII Schädlichs Sprachabschneider 1. Der Problemhorizont der Geschichte 2. Die semiotische Strukturordnung der Sprache 3. Die Umkehr des Spracherwerbsprozesses 4. Der Verlust von Präpositionen und bestimmten Artikeln 5. Der Verlust von Verbformen 6. Der Verlust von Konsonanten 7. Der Rettungsweg 8. Der parabolische Gehalt der Geschichte
XIV Die Genese und Leistung von Zeichen 1. Zur Wahl des Textes 2. Die Struktur des Gedichtes 3. Die Zeichenproblematik 4. Das Verstehen von Zeichen 5. Die Zeichentypen
390 394 399 402 411 418 425
429 436 437 446 448 458 468 469 471
475 476 478 483 493 504
Schlussbemerkungen
515
Literaturverzeichnis
522
Personenregister
535
Sachregister
540
A DIE FORMEN DER SPRACHREFLEXION ALS FORMEN DER SINNBILDUNG
I Der Problemzusammenhang „Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles."1 Mit diesem Aphorismus lässt sich sehr gut auf die generelle Zielsetzung dieses Buches aufmerksam machen. Diese besteht darin, eine Lanze für die narrativen Formen der Sprachreflexion zu brechen. Es soll plausibel gemacht werden, warum gerade über diese Formen möglicherweise ein sehr viel lebendigerer und vielschichtigerer Zugang zu dem komplexen Phänomen Sprache eröffnet werden kann als über die begrifflichen Formen. Diese genießen zwar in der Regel einen besonders hohen Prestigewert, da man sie nicht nur für präziser, sondern auch für philosophischer bzw. tiefsinniger hält als die narrativen Formen. Gleichwohl gibt es aber gute Gründe, beiden Formen der Sprachreflexion ein genuines und sich ergänzendes Existenzrecht zuzubilligen. In dem Aphorismus werden die Verben sagen und erzählen auf eine sehr aparte Weise kontrastiv voneinander abgesetzt und sowohl in eine semantische als auch in eine psychologische Opposition zueinander gebracht. Mit dem Verb sagen wird im Allgemeinen nicht nur die Vorstellung verbunden, dass Informationen vermittelt werden, sondern auch die Auffassung nahe gelegt, dass diese Informationen eine ganz besondere inhaltliche Bedeutsamkeit haben (Er redete viel und sagte nichts.), dass mit ihnen eine soziale Bindung eingegangen wird (Gesagt ist gesagt.) und dass hinter ihnen eine Autorität steht, die den jeweiligen Informationen eine belehrende Funktion geben kann (Er hat etwas zu sagen.). Diese mit dem Verb sagen verbundenen Sinnerwartungen werden hier durch die Einbettung des Verbs in die passivisch zu verstehende Lassen-Konstruktion auf spezifische Weise konkretisiert. Durch diese Konstruktion bezeichnet das grammatische Subjekt die Menschen nicht Personen, die als Quelle einer Information anzusehen sind, sondern vielmehr Personen, die Zielpunkte von Informationen bzw. Adressaten von Belehrungen sind. Dadurch kann dann natürlich auch deren Widerspruchsgeist angestachelt werden. Dieser vermag sich naturgemäß nicht gegen die Tatsache der Informa1
Bernhard von Brentano, zitiert nach R. Faber, „Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles", 2002.
2
Der Problemzusammenhang
tionsvermittlung selbst richten, sondern nur gegen den Inhalt der jeweils vermittelten Informationen bzw. gegen den Anspruch, fertige Denkergebnisse von anderen zu übernehmen und sein Handeln danach auszurichten. Das dokumentiert sich im vorliegenden Aphorismus dadurch, dass das Gesagte von den jeweils Angesprochenen als nichtig angesehen wird. Mit dem Verb erzählen verbinden wir dagegen eine ganz andere Grunderwartung. Die beim Erzählen vermittelten Inhalte werden als Informationen verstanden, die pragmatisch nicht mit der Funktion einer Belehrung verbunden sind, sondern eher mit der, anregende Vorstellungen zu konkretisieren. Erzählte Inhalte sind nicht dazu bestimmt, Sachverhalte kategorial einzuordnen, etwas als wahr zu behaupten oder jemanden zu belehren. Sie dienen vielmehr dazu, komplexe Gesamtvorstellungen zu vermitteln und mit vielschichtigen Phänomenen bekannt zu machen. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass das Verb erzählen hier mit dem Indefinitpronomen alles verbunden worden ist. Da sich Menschen beim Erzählen nicht unmittelbar belehrt fühlen, sondern vielmehr zu umfassenden Imaginationsprozessen eingeladen werden, lassen sie sich auch gerne alles Denkbare mitteilen. Das Erzählte macht sie mit etwas bekannt, aber es zwingt sie nicht, ihm einen ganz bestimmten Stellenwert zu geben. So gesehen macht es uns der Aphorismus leicht, das Erzählen mit einer sehr bekannten didaktischen Maxime zu korrelieren: Rettet die Phänomene! Im Kontrast dazu müsste das Sagen eher mit der folgenden Maxime verbunden werden: Beherrscht die Phänomene! Es ist offensichtlich, dass diese beiden Leitsprüche sich recht leicht mit den Zielsetzungen der narrativen und der begrifflichen Formen der Sprachreflexion verbinden lassen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass es keine Notwendigkeit gibt, einem der beiden Denkansätze eine höhere Dignität zuzuordnen, da sie sich sachlich ergänzen und ihre spezifische Leistungsfähigkeit erst dann offenbaren, wenn sie als interdependente Sinnbildungsanstrengungen verstanden werden. Zweifellos ist das Sagen eng mit dem Ziel verbunden, etwas zu durchschauen und auf den Begriff zu bringen, während das Erzählen eher dem Ziel verpflichtet ist, etwas anzuschauen und sich eine plastische Vorstellung davon zu machen. Obwohl den begrifflichen Objektivierungen von Sachverhalten meist ein höherer Erkenntniswert als den erzählerischen zugebilligt wird, sollte man eine Einsicht nicht vergessen, die Erkenbrecht sehr schön auf den Punkt gebracht hat: „Wer alles durchschaut hat, sieht nichts mehr."2 Dieser Aphorismus passt auch gut zu einem Diktum Goethes, in dem die geistige Sterilität bloßer Feststellungen angeprangert wird. „Übrigens ist mir alles verhaßt, was
2
U. Erkenbrecht, Divertimenti, 1999, S. 148.
Der Problemzusammenhang
3
mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben."3 Begriffliche Sprachreflexionen gelten gemeinhin als professionell und narrative als amateurhaft. Nun kann man sich aber sicher trefflich darüber streiten, ob man besser mit einem Phänomen bekannt wird, wenn man sich ihm als Analytiker nähert, um es besser durchschauen und beherrschen zu können, oder als Liebhaber (Amateur), um es besser kennen zu lernen und mit ihm mehr zu erleben. In beiden Zugangsweisen erwirbt man ein bestimmtes Wissen über das jeweilige Phänomen, aber sicher ein je anderes. Beiden Annäherungsweisen wird man ein gewisses erotisches Spannungsverhältnis zum Gegenstand ihres Interesses im Sinne eines Partizipationsstrebens zugestehen können, obwohl dieses sicherlich jeweils ganz unterschiedlich strukturiert ist. Es reicht von dem Bestreben, verborgene Strukturen zu entschleiern, auf der einen Seite bis zum bewundernden Staunen auf der anderen. Entgegen dem ersten Anschein kann den narrativen Formen der Sprachreflexion eine philosophische Dimension wohl nicht abgesprochen werden, da seit Sokrates der Anfang der Philosophie immer wieder darin gesehen wurde, dass man ins Staunen darüber gerät, dass etwas so ist, wie es ist.4 Geschichten über Sprache konzipiert und erzählt man nur, wenn man selbst über das Phänomen Sprache gestaunt hat und auch andere darüber zum Staunen bringen will. Das in Geschichten über Sprache repräsentierte Wissen lässt sich schwerlich mit Hilfe von definierten Begriffen objektivieren. Gleichwohl lässt es sich aber doch als ein Wissen über Sprache ansehen, weil es dazu beiträgt, unsere Vorstellungen von der Sprache zu verbessern und uns ein Gefühl von der Vieldimensionalität der Sprache als eines anthropologischen Urphänomens zu vermitteln. Das im Sprachgefühl verankerte Wissen von Sprache wird meist nicht als wirkliches Wissen anerkannt, weil ihm keine feste begriffliche Gestalt gegeben werden kann und weil es sich nicht direkt argumentativ verwerten lässt. Diesbezüglich sollte man aber nicht vergessen, dass der Erwerb eines expliziten, begrifflich konkretisierbaren Wissens über einen bestimmten Gegenstandsbereich immer ein implizites, begrifflich kaum fassbares Umgangswissen über ihn voraussetzt. Ohne unser intuitives Wissen über die Sprache, das sich in Form unseres Sprachgefühls als der Summe unserer Erfahrungen über die Strukturordnungen und die Funktionsmöglichkeiten der Sprache manifestiert hat, können wir uns kein explizites, argumentativ verwendbares Gegenstandswissen über sie erarbeiten. Das im Sprachgefühl verankerte implizite Wissen von der Sprache ist unsystematisch, aber eben deswegen in vielen Hinsichten vielleicht auch sachadäquater. Es steckt seine Gegenstände nicht gleich in das
3
4
Brief Goethes an Schiller vom 19.12.1798, Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe in 4 Bänden, Bd. 2, S. 362. J. Hersch, Das philosophische Staunen, 1981.
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Der Problemzusammenhang
Prokrustesbett von Theorien und Wahrnehmungsmustern, sondern nimmt sie als widerborstige, eigenständige Phänomene ernst, die den Erkennenden immanent dazu zwingen, sich selbst geistig zu bewegen, um geeignete Wahrnehmungsperspektiven für sie zu finden. Geschichten über Sprache müssen einerseits immer auf unsere alltäglichen Erfahrungen mit Sprache und unsere alltäglichen Vorstellungen von Sprache Bezug nehmen, um verständlich zu sein. Sie müssen dieses allgemeine Wissen andererseits aber durch das Erzählen von außergewöhnlichen Erlebnissen mit Sprache auch transzendieren, um Neugier für das Thema Sprache zu wecken und uns zum Staunen über die Wirkungsmöglichkeiten der Sprache zu bringen. Um die Struktur dieser spannungsvollen Dialektik besser verstehen zu können, ist es hilfreich, sich die zeichentheoretische Unterscheidung von unmittelbarem und dynamischem Zeichenobjekt in der Semiotik von Charles Sanders Peirce zu vergegenwärtigen. 5 Als unmittelbares Zeichenobjekt bezeichnet Peirce diejenige Objektvorstellung, die einem Zeichenträger kraft Konvention und Tradition spontan als Repräsentationsobjekt zugeordnet wird. Als dynamisches Zeichenobjekt bezeichnet er dagegen diejenige Vorstellungsgröße, auf die ein Zeichenträger zunächst nur indexikalisch als widerborstiges Referenzobjekt verweist und dessen spezifische Eigenschaften wir uns erst nach und nach durch zusätzliche Informationen bzw. durch den praktischen Umgang mit ihm erschließen können. Wenn wir diese heuristische Differenzierung akzeptieren und das Phänomen Sprache als ein empirisch zugängliches, eigenständiges dynamisches Objekt betrachten, dann lässt sich für ihre geistige Objektivierung ein kategorischer Imperativ formulieren, der für die narrativen Formen der Sprachreflexion konstitutiv ist: Erzähle viele Geschichten über mich, damit du mich und meine Funktionsmöglichkeiten besser kennen lernst. Das durch Geschichten konstituierte dynamische Objekt Sprache bzw. das durch Geschichten vermittelte pragmatische Wissen von Sprache hat nun auch eine nicht zu unterschätzende mnemotechnische Funktion für die Speicherung unseres Sprachwissens. Begriffliche Aussagen über Sprache sind relativ schlecht memorierbar, wenn sie nicht provokativ zugespitzt sind oder wenn sie nicht zusätzlich von Bildern und Metaphern Gebrauch machen. Geschichten über Sprache bleiben dagegen recht gut im Gedächtnis haften, weil sie die Sprachproblematik in konkrete und gut vorstellbare Handlungsprozesse einbetten. Deshalb können Geschichten über Sprache das schon vorhandene Sprachwissen nicht nur gut exemplifizieren, sondern es auch zum brauchbaren Ausgangspunkt für präzisierende oder negierende Zusatzüberlegungen machen. Theorien bzw. theoretische Aussagen über Sprache können diese Funktionen nicht so gut erfüllen, weil sie im Prinzip die Sprache nicht als dynamisches 5
Ch. S. Peirce, Collected Papers, 8.314.
Der Problemzusammenhang
5
Objekt vergegenwärtigen wollen, sondern eher dazu beizutragen versuchen, dass sich zumindest im wissenschaftlichen Sprachgebrauch ein präzises unmittelbares Zeichenobjekt für den Terminus Sprache herauskristallisiert. Während theoretische Aussagen über die Sprache als Behauptungen zugleich einen spezifischen Wahrheitsanspruch in einem korrespondenztheoretischen Sinne stellen, sind Geschichten über Sprache diesbezüglich sehr viel indifferenter und offener. Sie wollen allenfalls zeigen, welche Bewandtnis es mit dem Phänomen Sprache hat. Deshalb stellen sie auch nur einen Wahrheitsanspruch im Sinne eines pragmatischen Fruchtbarkeitsanspruchs, aber nicht im Sinne eines begrifflichen Abbildungsanspruchs. Die narrative Objektivierung von Wissen über Sprache ist weder dazu bestimmt, unseren konkreten Sprachgebrauch zu verbessern, noch dazu, unser begriffliches Wissen über das Sprachsystem zu optimieren. Es zielt lediglich darauf ab, uns eine umfassendere Einsicht darüber zu vermitteln, wie Mensch und Sprache ineinander verwickelt sind. Deshalb haben die narrativen Formen der Sprachreflexion auch eine genuine anthropologische Relevanz, da sie darauf aufmerksam zu machen versuchen, auf welch elementare Weise die Sprache die Wahrnehmung der empirischen und geistigen Welt des Menschen prägt. Die hier entwickelten Überlegungen zu den narrativen Formen der Sprachreflexion und zu den konkreten Geschichten über Sprache sind insbesondere zwei Zielsetzungen verpflichtet. Einerseits soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Geschichten über die Sprache kulturelle Erzeugnisse sind, die aus ganz bestimmten Erkenntnisinteressen an der Sprache hervorgegangen sind, und dass sich in diesen Geschichten dementsprechend auch eine ganz bestimmte, historisch qualifizierbare Sicht auf Sprache manifestiert hat. Andererseits soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass das in Geschichten über Sprache niedergelegte Wissen von Sprache ein Zugangswissen ist, das nur partiell in begriffliches Gegenstandswissen überführt werden kann und das sich deshalb auch nicht als ein definitives, sondern nur als ein ergänzungsbedürftiges Wissen verstehen lässt. Ebenso wie sich die anthropologische und heuristische Relevanz von Mythen nicht abschließend auf den Begriff bringen lässt, so lässt sich auch die Sinnbildungskraft von Geschichten über Sprache nicht durch ein System theoretischer Aussagen über Sprache ersetzen. Geschichten über Sprache wollen Sprache nicht als begriffenes Objekt repräsentieren, sondern als ein zu begreifendes Objekt. Die narrativen Formen der Sprachreflexion sind so gesehen auch immer als Formen einer unbegrifflichen Sprachphilosophie zu verstehen, die eher an der Ausarbeitung von Fragen als an der Formulierung von Antworten interessiert ist. Einerseits bündeln Geschichten über Sprache Erfahrungen mit Sprache und Denkperspektiven auf Sprache in übersichtlichen Sinngestalten. Andererseits fordern sie aber auch immanent dazu auf, die erzählten Erfahrungen mit Sprache begrifflich zu bewältigen. Obwohl Geschichten über Sprache
6
Der Problemzusammenhang
vordergründig nur individuelle Fälle erzählen, wollen sie im Prinzip im Einzelfall doch immer etwas Allgemeines durchschimmern lassen. Der heuristische Sinn der erzählten Exempel besteht deshalb darin, unser analogisierendes Denken anzuregen. Bei der begrifflichen Interpretation der einzelnen Geschichten aus fast drei Jahrtausenden soll der Versuch gemacht werden, die in ihnen verarbeiteten Erfahrungen mit Sprache und das in ihnen sich manifestierende Interesse an Sprache in historischer und systematischer Sicht zu rekonstruieren. Dieses Bemühen kann die Sinnbildungsleistungen der jeweiligen Geschichten nicht ersetzen, sondern allenfalls hinsichtlich spezifischer Teilaspekte thematisieren. Ebenso wie die einzelnen Geschichten als Fenster zu werten sind, die uns bestimmte Blicke auf das Phänomen Sprache freigeben, so müssen auch die verschiedenen Interpretationsperspektiven als Fenster verstanden werden, die uns ganz bestimmte Blicke auf die komplexe Sinnstruktur der jeweiligen Geschichten über Sprache eröffnen.
II Die grundlegenden Ordnungsbegriffe Die für Sachverhaltsbeschreibungen bzw. für Textinterpretationen verwendeten Basisbegriffe verdienen immer eine genauere Betrachtung, weil durch sie maßgeblich mitbestimmt wird, wie Phänomene für uns als Denkgegenstände in Erscheinung treten und wie sich Interpretationsprobleme fur uns konstituieren. Deshalb ist es vorteilhaft, sich vorab Rechenschaft darüber abzulegen, welchen Sinn man den hier immer wieder verwendeten Ordnungsbegriffen Form, Reflexion, Repräsentation und Perspektivität zuordnen kann.
1. Der Formbegriff Im üblichen Sprachgebrauch verwenden wir den Terminus Form meist in einer kontrastiven Opposition zum Terminus Inhalt. Dabei herrscht in der Regel die Vorstellung, dass Formen als Behältnisse verstanden werden können, in denen sich ein von ihnen unabhängiger Inhalt speichern und transportieren lässt. Die Form wird als etwas verstanden, was keinen Einfluss auf den Inhalt nimmt, sondern diesen allenfalls so zur Erscheinung bringt wie eine Verpackung einen verpackten Gegenstand. Obwohl dieses Verständnis von Form auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität hat, lässt es sich im Hinblick auf durch Zeichen manifestierte Inhalte nicht halten, weil dabei das Interdependenzverhältnis von Form und Inhalt übersehen wird. Dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis ist allerdings nicht leicht zu fassen. Es ist im Laufe der Kulturgeschichte auch sehr unterschiedlich akzentuiert und beurteilt worden. Diese unterschiedlichen Sichtweisen sollte man im Auge behalten, wenn man sich die Frage stellt, welches besondere Leistungsprofil die narrativen Formen der Sprachreflexion im Vergleich zu den begrifflichen haben oder haben können. Im Bereich von Zeichen sind Formen und Inhalte sehr viel stärker miteinander verwachsen als das kontrastive Verständnis von Form und Inhalt nahe legt. Formen sind hier nicht als Behälter für Inhalte zu verstehen, sondern als interpretierende Repräsentationsweisen von ihnen, die ganz bestimmte Aspekte der von ihnen objektivierten und vermittelten Inhalte hervortreten lassen und andere abschatten. Wenn man psychologisch denkt, dann könnte man sogar geneigt sein, Formen als Vorbedingungen für die Konkretisierung von Inhalten anzusehen, da sie bestimmen, was überhaupt als Inhalt in Erscheinung treten kann. Inhalte würden so gesehen nicht unabhängig von den
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Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
Formen existieren, in denen sie sich objektivieren, sondern müssten vielmehr als Produkte von Formen bzw. Formgebungen angesehen werden. Formen wären dementsprechend die entstehungsgeschichtlichen Grundlagen von Inhalten und keine Behälter, in die Inhalte nachträglich gesteckt würden. Schon Piatons Überlegungen zu den so genannten Ideen legen nahe, diese als vorgegebene Urformen zu verstehen, aus denen die empirisch fassbaren Einzelphänomene hervorgehen wie Siegelbilder aus Siegelformen. Formen können so betrachtet als ideelle Grundmuster bzw. als Begriffe verstanden werden, die allem individuell Gegebenen als eigentliche Realität vorausliegen. Dementsprechend werden für Piaton die Ideen bzw. die Urformen auch nicht in sinnlichen Wahrnehmungen fassbar, sondern nur im Denken. Diese Zwei-Welten-Lehre, in der zwischen der ursprünglichen Realität der Ideen und der abgeleiteten Realität der Erscheinungen unterschieden wird, ist für Aristoteles nicht akzeptabel gewesen. Er unterscheidet deshalb aspektuell zwischen Form und Stoff. Aber das sind für ihn keine eigenständigen Phänomene, sondern Phänomene, die erst durch ihre Verbindung Seiendes konstituieren. Das Allgemeine, das von Begriffen erfasst werden soll, existiert fur ihn nicht außerhalb von Einzeldingen, sondern als Wesenssubstanz in ihnen. Begriffe repräsentieren für ihn deshalb nichts Präexistentes, sondern das innere Wesen des jeweils Beobachtbaren. Im Laufe der abendländischen Geistesgeschichte hat dann der Formbegriff immer stärkeres Interesse auf sich gezogen und ist deshalb auch als sinnbildender Faktor immer stärker akzentuiert worden. Leibniz hat von der Form als einer tätigen Kraft (vis activa) gesprochen und Kant hat den Formbegriff zu den Reflexionsbegriffen gezählt, durch die das Verhältnis der gegebenen Vorstellungen zu ihren Erkenntnisquellen näher bestimmt werde. Durch diese Sicht ist der Formbegriff als strukturbildendes Ordnungsprinzip so stark in den Vordergrund des Interesses gerückt worden, dass beispielsweise in der bildenden Kunst die Gestaltung der Sicht auf die Dinge eine Dominanz über den Anspruch bekommen hat, das Wesen der Dinge zu repräsentieren. Außerdem erfuhr der Formbegriff dadurch eine große Aufwertung, dass seit Shaftesbury und Humboldt von einer inneren Form gesprochen wurde, die als formbildende Kraft (forming power) hinter allen konkret wahrnehmbaren Formen stehe. Dadurch wurde der meist ziemlich statisch verstandene Formbegriff dynamisiert, was dazu führte, zwischen der Form als gestaltbildendes Prinzip (forma formans) und der Form als gestaltetes Produkt (forma formata) zu unterscheiden. Humboldt wollte deshalb auch die Sprache nicht als geformtes Werk (Ergon), sondern vielmehr als tätige Kraft (Energeia) verstanden wissen. „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise versteheni."1 In dieser Sicht kann man den Formbegriff dann auch im Sinne eines
1
W. v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 455. Vgl. auch W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 243ff.
Der Formbegriff
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Konkretisierungsprinzips verstehen, mit dem man einen interpretativen kognitiven Zugang zu den jeweiligen Gegenständen und Sachverhalten gewinnt und mit dessen Hilfe sich Phänomene erst als Wahrnehmungsphänomen konstituieren können. Am umfassendsten hat wohl Cassirer den Formgedanken im Sinne eines struktur- und damit auch sinnbildenden Prinzips in seinem Konzept der symbolischen Formen ausgearbeitet. Obwohl er zunächst nur von fünf symbolischen Formen (Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Wissenschaft) als grundlegenden geistigen Gestaltungsprinzipien gesprochen hat, so hat er doch später auch die Τechnik und die Mathematik zu den symbolischen Formen gerechnet. Im Prinzip spricht nämlich nichts dagegen, dieses Konzept auch auf weniger komplexe Ordnungsformen auszudehnen, wenn sie die Funktion erfüllen, einen bestimmten Sachbereich so zu ordnen, dass sich wahrnehmbare Gestalten von eigener Sinnprägnanz konstituieren. Deshalb hat beispielsweise auch der Kunsthistoriker Erwin Panofsky die Zentralperspektive in der Malerei als eine symbolische Form bezeichnet, weil durch sie Bilder so strukturiert würden, dass ganz spezifische Ordnungs- und Sinngestalten entstünden. 2 Für Cassirer sind symbolische Formen bestimmte Stile der Weltaneignung und Gegenstandsbildung. Durch sie werde bestimmt, wie die Objektsphäre für die Subjektsphäre in Erscheinung treten könne. Da Cassirer der festen Überzeugung ist, dass Erkenntnisinhalte sich nicht allein von den ins Auge gefassten Phänomenen herleiten ließen, sondern dass immer auch die Mittel berücksichtigt werden müssten, mit denen diese Phänomene objektiviert würden, bestimmt er die einzelne symbolische Form als eine besondere Art des Sehens, die „ihre eigene Lichtquelle" in sich trage. 3 ,flicht Nachahmungen dieser Wirklichkeit, sondern Organe derselben sind jetzt die einzelnen symbolischen Formen, sofern nur durch sie Wirkliches zum Gegenstand der geistigen Schau gemacht und damit als solches sichtbar werden kann. Die Frage, was das Seiende an sich, außerhalb dieser Formen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung sein und wie es beschaffen sein möge: diese Frage muß jetzt verstummen. Denn sichtbar ist für den Geist nur, was sich ihm in einer bestimmten Gestaltung darbietet."4 Bezeichnend ist nun, dass Cassirer weniger an den Trübungs- als an den Erhellungsfunktionen der symbolischen Formen bei der Objektivierung und Repräsentation von Erkenntnisinhalten interessiert ist. Außerdem ist er der festen Überzeugung, dass sich Erkenntnisse nicht durch reine Kontemplation erzielen ließen, sondern vielmehr nur durch strukturierende Handlungen. Eben darin können dann natürlich symbolische Formen als Handlungsstile eine grundlegende Rolle spielen. Eine Erkenntnistheorie, die die medialen Voraus-
2 3 4
E. Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form", 1927. E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 1976 5 , S. 82. E. Cassirer, a.a.O., S. 79.
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Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
Setzungen der geistigen Objektivierungen und die Handlungsimplikationen von Erkenntnisprozessen nicht berücksichtigt, also all das, was man mit dem Begriff der Kultur in Zusammenhang bringen kann, ist für ihn nicht akzeptabel. „Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: das 'Sein' ist hier nirgends anders als im 'Tun' erfassbar. "5 Heute wird nicht nur in den Kulturwissenschaften, sondern auch in den Naturwissenschaften von unterschiedlichen Objektivierungsstilen bzw. Diskursstilen gesprochen. Diese werden dann keineswegs nur als unterschiedliche Darstellungsformen fur identische Inhalte verstanden, sondern als unterschiedliche Denkstile, die zur Ausbildung eigenständiger Sinngestalten fuhren, deren Wahrheitsgehalt insofern nicht direkt gegeneinander abgewogen werden kann, als sie perspektivisch auf ganz andere Aspekte der jeweils ins Auge gefassten Phänomene Bezug zu nehmen versuchen. Unterschiedliche wissenschaftliche Stile können dementsprechend dann auch als unterschiedliche kulturelle Stile der Weltaneignung verstanden werden.6 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es sicher nicht abwegig, die Vorstellung von narrativen und begrifflichen Formen der Sprachreflexion mit dem Konzept der symbolischen Formen bzw. mit dem Konzept der kulturellen Denkstile in Zusammenhang zu bringen. Beide Formen der Sprachreflexion lassen sich als besondere Stile der geistigen Objektivierung und Repräsentation des Phänomens Sprache verstehen, die ihre eigenen Erkenntnisinteressen und Lichtquellen in sich tragen und die uns auf ganz unterschiedliche Dimensionen von Sprache aufmerksam zu machen versuchen. Beide Reflexionsformen sind eigenständige Erfassungsformen für Sprache, die eine besondere Prägnanz haben, aber eben dadurch auch eine besondere Ergänzungsbedürftigkeit, insofern sie ganz unterschiedliche Modi der Wahrnehmung von Sprache repräsentieren. Das Verständnis von Formen als Mitteln der Gegenstandsobjektivierung schließt natürlich nicht aus, das Formproblem auf einer Metaebene selbst wieder zu einem eigenständigen Sachproblem zu machen und in besonderen Denkansätzen die Leistungsfähigkeit von Objektivierungsformen kontrastiv voneinander abzugrenzen. Deshalb sollen hier auch theoretische Überlegungen zum Stellenwert von begrifflichen und narrativen Formen der Sprachreflexion den eigentlichen Textinterpretationen vorangestellt werden, um kenntlich zu machen, welchen potenziellen Erkenntniswert die vorgestellten Texte für die Aufklärung der Sprachproblematik haben können.
5 6
E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, 1964 4 , S. 11. Vgl. B. Weiss, „Stil". Eine vereinheitlichende Kategorie in Kunst, Naturwissenschaft und Technik? In: E. Knobloch (Hrsg.), Wissenschaft, Technik, Kunst, 1997, S. 147-163.
Der Reflexionsbegriff
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2. Der Reflexionsbegriff Wenn im alltäglichen Sprachgebrauch im Bereich des Denkens der Terminus Reflexion verwendet wird, dann verstehen wir darunter in der Regel ein intensives prüfendes Nachdenken über bestimmte Sachverhalte, das eine große Nähe zu den Wissenschaften hat und das dazu dient, ein schon vorhandenes Gegenstandswissen zu präzisieren, zu vertiefen und mit anderem zu verbinden. Reflexionen über Sprache hätten dementsprechend dann das Ziel, Sprache als spezifischen Denkgegenstand zu isolieren und hinsichtlich seiner Struktureigenschaften und Funktionsmöglichkeiten besser kennen zu lernen. Solche Reflexionsprozesse lassen sich zwar im Rahmen der Wissenschaften hinsichtlich ihres Sachbezuges und ihrer Erkenntnisinteressen methodisch einschränken, aber hinsichtlich ihrer Ziele, ihres Umfangs und ihrer Verfahren können ihnen im Prinzip keine festen Grenzen gesetzt werden. Außerdem haben Reflexionsprozesse eine immanente Neigung zur Selbstbezüglichkeit, insofern sie sich natürlich auch auf die Mittel richten können, mit denen sie sich ins Werk setzen. In umfassenden Reflexionsprozessen gibt es beim Denken immer eine Spannung zwischen der gegenstandsthematischen und der reflexionsthematischen Ausrichtung der einzelnen Denkschritte. Seit sich die einzelnen Fachwissenschaften aus der Philosophie ausgegliedert haben, wird deshalb die Philosophie als genuine Heimat solch umfassender Reflexionsprozesse angesehen, insofern ihr die Aufgabe zugewachsen ist, sich nicht nur Gedanken über spezifische Sachverhalte zu machen, sondern auch darüber, auf welche Weise wir Wissen über diese Sachverhalte erwerben können. 7 In der Sprachwissenschaft wird in der Regel sachthematisch gedacht, solange sich das Interesse auf bestimmte Strukturprobleme des Sprachsystems oder auf bestimmte Verwendungsmöglichkeiten von Sprache richtet. Wenn es aber darum geht, sich ein allgemeines Bild von der anthropologischen Relevanz des Phänomens Sprache zu machen, dann muss auch reflexionsthematisch über Sprache nachgedacht werden, weil sich die Frage stellt, auf welche Weise ein solches Wissen von der Sprache objektiviert und vermittelt werden kann und welcher Stellenwert sich diesem Wissen jeweils zuschreiben lässt. Da also umfassende Reflexionsprozesse sich auch immer mit den medialen Bedingungen des Erwerbs und der intersubjektiv nachvollziehbaren Objektivierung des Wissens zu beschäftigen haben, ist es hilfreich, sich die Genese des Reflexionsbegriffs zu vergegenwärtigen, weil sich dadurch gut veranschaulichen lässt, inwiefern das Objektivierungsmedium Einfluss auf das mit ihm erzeugte und repräsentierte Wissen nimmt.
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Vgl. J. Zimmer, Reflexion, 2001.
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Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
Der Terminus Reflexion stammt ursprünglich aus dem Bereich der Optik, wo er dazu dient, die Rückbeugung von Lichtwellen bzw. die Rückspiegelung von Dingen mit Hilfe eines spiegelnden Mediums zu bezeichnen. Dieses Strukturverhältnis, dass nämlich etwas mit Hilfe von etwas anderem fur ein wahrnehmendes Subjekt präsent gemacht wird, lud natürlich dazu ein, von der anschaulichen Ebene der Optik auf die unanschauliche Ebene der Kognition übertragen zu werden, da ohnehin die Strukturbedingungen des Sehens immer wieder über Metaphern mit denen des Erkennens analogisiert worden sind {Perspektive, Sichtweise, Einsicht, Überblick usw.). Die Modellierung von kognitiven Objektivierungs- und Wahrnehmungsprozessen nach dem Bilde von optischen ist nun aber keineswegs problemlos, da eine allzu naive Analogisierung durchaus in die Irre führen kann. Problematisch wird das optische Verständnis der Reflexion für die Modellierung kognitiver Reflexionsprozesse insbesondere dann, wenn dabei an einen Widerspiegelungsprozess gedacht wird, bei dem ein fest vorgegebener Wahrnehmungsgegenstand gleichsam auf einer anderen Wahrnehmungsebene verdoppelt wird. Ein solches Verständnis von Reflexionsprozessen ist nämlich sowohl auf der Ebene der Optik als auch auf der der Kognition bzw. der Zeichen inadäquat. Genau besehen verdoppeln auch optische Spiegelungen das Gespiegelte nicht, sondern repräsentieren es nur auf ganz spezifische Weise für ein wahrnehmendes Subjekt. Das Spiegelbild verwandelt beispielsweise dreidimensionale Phänomene in zweidimensionale, es grenzt das Gespiegelte aus seinem natürlichen Zusammenhang aus und macht es auf diese Weise analytisch zu einem Einzelteil eines größeren Ganzen, es integriert das Gespiegelte in neue Kontexte und gibt ihm eben dadurch einen anderen Stellenwert und eine andere Physiognomie und Qualität. Je nach der Struktur des spiegelnden Mediums (Glasspiegel, Metallfläche, Wasseroberfläche) wird das Gespiegelte als Erscheinungsbild mehr oder weniger verzerrt, verfärbt, verdunkelt oder verwischt. Das bedeutet strukturell, dass im Prinzip schon jeder einfache optische Reflexionsprozess als ein Transformationsprozess zu werten ist, in dem bestimmte Aspekte des Gespiegelten akzentuiert, verdeutlicht oder verändert werden. Eben weil das spiegelnde Medium eine strukturierende Funktion für die Konstitution von Spiegelbildern hat, können auch optische Reflexionsprozesse im Prinzip als Interpretations- bzw. Sinnbildungsprozesse verstanden werden, da die physische Beschaffenheit und der methodische Einsatz des spiegelnden Mediums bestimmt, wie das jeweils Gespiegelte im Spiegelbild in Erscheinung tritt bzw. wie im Reflexionsprozess die Objektsphäre für die wahrnehmenden Subjekte zugänglich wird. Das gilt in optischen Wahrnehmungsprozessen nicht nur von spiegelnden Flächen als Reflexionsmedien, sondern auch von sensorischen Wahrnehmungsmedien, wie beispielsweise den Augen. Ob mit einem Linsenauge oder mit einem Facettenauge wahrgenommen wird, bedingt, welche Aspekte von Wahrnehmungsgegenständen re-
Der Reflexionsbegriff
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gistriert und wie diese Einzelaspekte zu Wahrnehmungsgestalten zusammengeführt werden. Aus diesen Hinweisen ist nicht abzuleiten, dass die jeweiligen Spiegelungs- und Wahrnehmungsmedien ihre Spiegelbilder und WahrnehmungsInhalte frei schaffen können, sondern nur, dass sie Einfluss darauf nehmen, wie etwas für eine wahrnehmende Instanz in Erscheinung treten kann. Diese Strukturbedingung ist zu beachten, wenn wir optische Reflexionsprozesse als Modelle für kognitive Reflexionsprozesse verwenden und danach fragen, was in kognitiven Spiegelungs- und Objektivierungsprozessen Medienfunktion hat und welche Einflüsse auf die Sinnbildung von diesen Medien ausgehen. Auf einer sehr fundamentalen Ebene kann die Struktur unserer Vernunft bzw. unseres Erkenntnisapparates als ein Medium kognitiver Objektivierungsprozesse betrachtet werden, insofern von ihr apriorische Einflüsse auf die Ausbildung von Vorstellungsinhalten ausgehen, auf die wir keine Einwirkungsmöglichkeiten haben und zu denen wir uns auch schwerlich konkrete Alternativen zu denken vermögen. Viel interessanter sind demgegenüber die kulturell entwickelten Denk- und Objektivierungsmuster als Medien kognitiver Reflexionsprozesse. Alle Arten kultureller Formen und Zeichen (Begriffe, Theorien, Frageweisen, Objektivierungsverfahren, Sinnbilder, Textmuster usw.) sind als Medien kognitiver Reflexionsprozesse anzusehen, die das in ihnen Gespiegelte auf je unterschiedliche Weise perspektivisch zugänglich machen. Seit Leibniz wird deshalb sowohl im Hinblick auf Menschen als auch im Hinblick auf die von ihnen entwickelten Objektivierungsmittel gerne als von lebenden oder schaffenden Spiegeln gesprochen, die auf je eigene Weise Spiegelbilder von etwas herstellen, was als von ihnen unabhängig gedacht wird. 8 Wenn man sich dieser Strukturverhältnisse bewusst ist, dann überschneiden sich die Begriffe Reflexion, Repräsentation, Objektivierung und Interpretation in großen Teilen. Alle wollen auf den Tatbestand aufmerksam machen, dass in jede Objektwahrnehmung immer etwas aus der Subjektsphäre einfließt, insofern die wahrnehmenden Subjekte immer intuitiv oder bewusst entscheiden müssen, mit welchen Spiegelungstechniken bzw. Medien und Reflexionsformen sie sich bestimmte Phänomene als Objekte des Denkens repräsentieren wollen. Die verschiedenen Formen der Reflexion sind so betrachtet immer auch verschiedene Objektivierungs- und Interpretationsformen. Diese stehen vordergründig zwar immer in einer gewissen Oppositionsrelation zueinander, aber hintergründig eher in einer Ergänzungsrelation, da alle Wahrnehmungsprozesse eine selektive perspektivische Grundstruktur haben und immer nur Teilaspekte der jeweilig ins Auge gefassten Phänomene erfassen können. Wenn man den Reflexionsprozess in der beschriebenen Weise versteht, dann ist gut nachvollziehbar, dass Reflexionsprozesse logisch gestuft werden 8
Vgl. R. Konersmann, Lebendige Spiegel, 1991.
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Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
können, dass sie sich auf anderes und auf sich selbst ausrichten können, dass sich in ihnen ein Gegenstandsbewusstsein und ein Reflexionsbewusstsein ausbilden kann und dass sich in ihnen der Wahrnehmungsprozess selbst, also die Interdependenz von Objektsphäre und Subjektsphäre, zum Thema machen lässt. Wenn sich Reflexionsprozesse intentional nicht nur sachthematisch, sondern auch reflexionsthematisch orientieren, dann muss das Gedachte methodisch einerseits immer vom Denken bzw. Reflektieren unterschieden, aber andererseits auch immer wieder mit ihm verknüpft werden, insofern es unter diesen Umständen ja darum geht, den Einfluss von Denkprämissen, Denkstrategien und Denkmitteln auf die Ausbildung von Denkergebnissen aufzuklären. Die immanente Tendenz von Reflexionsprozessen, von einem Fremdbezug in einen Selbstbezug überzugehen, ist methodisch nicht leicht zu beherrschen. Das gelingt nur, wenn man sich genaue Rechenschaft über den Ausgangspunkt, die medialen Bedingungen und die Zielsetzungen von Denkoperationen ablegt. Reflexion als gründliches Nachdenken über bestimmte Sachverhalte schließt auch ein gründliches Nachdenken über die jeweils praktizierte Denkstruktur ein. Im Rahmen der Philosophie wird diese Ausweitung des Denkens auf seine eigenen Voraussetzungen im Anschluss an Kant meist als transzendentale Reflexion bezeichnet, da in ihr all das aufgeklärt werden soll, was an bedingenden Strukturen vor der Ausbildung konkreter Vorstellungen und Denkinhalte liegt. Das so erzielte Metawissen zum Gegenstandswissen nimmt diesem natürlich etwas von seiner Unmittelbarkeit und Autarkie, weil sich dadurch jede feste, vorgegebene Gegenständlichkeit in eine konstituierte Gegenständlichkeit transformiert. Dadurch ergibt sich das psychologische Problem, dass die Gegenstände des Denkens nicht mehr die Rolle eines eigenständigen Dialogpartners spielen, an dem sich die Subjekte abarbeiten können, aber an denen sie eben deshalb auch einen Halt zu finden vermögen. Infolgedessen entsteht dann sehr leicht eine Sehnsucht nach rein gegenstandsbezogenen Wahrnehmungsformen oder nach einer absoluten Reflexion, in der das Gegenstandswissen und das Reflexionswissen nicht mehr in einer als negativ empfundenen Spannung zueinander stehen bzw. in der die verschiedenen Wissensinhalte und Wissensformen nicht mehr als Entzweiungsformen von Wissen verstanden werden. Aufschlussreich für diese Problematik ist nicht nur der biblische Mythos vom Baum der Erkenntnis, sondern auch Kleists Schrift Über das Marionettentheater. Kaum zu zweifeln ist sicher daran, dass die narrative Thematisierung von Sprache eine spezifische Form der Reflexion bzw. der Wahrnehmung von Sprache ist. Strittig ist aber sicher, welcher Rang dieser Form der Objektivierung von Sprache zugeordnet werden kann und ob in den begrifflichen Objektivierungsformen von Sprache die narrativen nach Hegel im mehrfachen Sinne des Wortes aufgehoben werden, d.h. beseitigt, bewahrt und emporgehoben.
Der Repräsentationsbegriff
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3. Der Repräsentationsbegriff Das Spannungsverhältnis in Reflexionsprozessen zwischen dem Gegenstandsbewusstsein auf der einen Seite und dem Reflexionsbewusstsein auf der anderen Seite lässt sich auch ganz gut durch den Begriff Repräsentation erläutern. Dieser spielt natogemäß bei der Wahrnehmung von Zeichen und insbesondere von sprachlichen Zeichen eine zentrale Rolle, da Zeichen ja ganz entscheidende Medien der Reflexion sind, insofern in geistigen Reflexionsprozessen einerseits von den im Zeichen repräsentierten Wissen Gebrauch gemacht wird und andererseits das Ergebnis von Reflexionsprozessen wieder in Zeichen konkretisiert und manifestiert werden muss. Der Terminus Repräsentation leitet sich von dem lateinischen Verb repraesentare ab, das ein breit gefächertes Bedeutungsspektrum hat. Dieses reicht von vergegenwärtigen über veranschaulichen, nachahmen und verwirklichen bis zu bar bezahlen, wobei das Präfix re- nicht nur auf das Merkmal der Wiederholung, sondern auch auf das der Intensivierung aufmerksam machen kann. Der abstrakte Begriff repraesentatio war dementsprechend dazu bestimmt, etwas klar Fassbarem (Bild, Zeichen, Person, Handlung, Münze usw.) eine Stellvertretungs- bzw. Verweisfunktion auf etwas anderes zuzuordnen, das entweder räumlich, zeitlich oder sinnlich nicht klar fassbar war oder das wegen seiner Komplexität nicht gut überschaut werden konnte. 9 Diese Hintergründe machen deutlich, dass der Repräsentationsbegriff im Sinne des Stellvertretergedankens als eine Variante des Zeichenbegriffs anzusehen ist, wobei der Zeichenbegriff unsere Aufmerksamkeit allerdings stärker darauf konzentriert, worauf das Zeichen referenziell Bezug nimmt und der Repräsentationsbegriff hingegen stärker darauf, welche psychischen und kognitiven Implikationen mit dem jeweiligen Vergegenwärtigungs- und Objektivierungsprozess verbunden sind. Gemeinsam ist dem Zeichenbegriff und dem Repräsentationsbegriff aber, dass das Bezeichnete bzw. Repräsentierte von so großer Komplexität ist, dass das Stellvertretende das jeweilige Bezugsphänomen nicht in seiner ganzen Totalität vertritt, sondern nur in bestimmten Hinsichten. Bei Repräsentationen ist zu beachten, dass das Repräsentierende nicht ganz hinter seiner Repräsentationsfunktion verschwindet, was beispielsweise bei konventionalisierten Zeichen in der Regel der Fall ist, sondern sich selbst mehr oder weniger deutlich ins Spiel bringen darf, j a soll. So erwartet man beispielsweise von einem Anwalt, dass er nicht nur seinen Mandanten als Person vertritt, sondern zugleich auch ein juristisches Wissen ins Spiel bringt, über das sein Mandant gerade nicht verfügt. Auch ein Abgeordneter soll nicht nur seine Wähler im Sinne eines Sprachrohrs repräsentieren, sondern soll in 9
Vgl. H. Hofmann, Repräsentation, 1974.
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Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
Entscheidungsprozessen auch sich selbst und sein Gewissen geltend machen. So gesehen lässt sich sagen, dass eine Geschichte über Sprache auch nicht nur das Phänomen Sprache vergegenwärtigen soll, sondern darüber hinaus auch noch weitere Phänomene ins Spiel bringen darf, die direkt oder indirekt mit der Wahrnehmung des Phänomens Sprache verbunden sein können, wie etwa die Phänomene Staunen, Unterhaltung, Anschaulichkeit, Memorierbarkeit usw. Geschichten über Sprache müssen im Kontext des Repräsentationsgedankens nicht vertuschen, dass sie eine Erzählstruktur haben, sondern dürfen das geradezu als mediale Hilfe reflexionsthematisch akzentuieren. Repräsentationen vergegenwärtigen als Abbilder zwar ein Original bzw. ein Urbild, aber sie verdoppeln es nicht im Sinne eines Gipsabdrucks, sondern bringen es vielmehr so in das Bewusstsein der Rezipienten, dass es für diese geistig assimilierbar wird. Deshalb muss man auch einräumen, dass Repräsentationen zwar nicht in einem ontischen, aber in einem wahrnehmungspsychologischen Sinne dem jeweils Repräsentierten vorausgehen. Da wir uns keinen absolut zeichenfreien bzw. medienunabhängigen Zugang zum jeweils Repräsentierten verschaffen können, lässt sich das Repräsentierte auch nicht direkt mit seinen Repräsentationen vergleichen. Allenfalls können wir verschiedene Repräsentationsformen und Repräsentationsverfahren miteinander vergleichen und daraus Hypothesen über die 'Natur' des Repräsentierten ableiten bzw. Entscheidungen darüber treffen, welche der Repräsentationen uns auf Grund welcher pragmatischer Objektivierungsbedürfhisse sinnvoller als andere erscheinen. Da uns ein gottgleicher Blick von nirgendwo auf die ins Auge gefassten Phänomene prinzipiell verwehrt ist, bleibt uns nur der Blick auf sie durch die Brille der verschiedenen für sie entwickelten Repräsentationsformen. Insofern wir etwas nicht an sich, sondern nur als etwas wahrnehmen und erkennen und insofern wir eine natürliche Tendenz haben, Teilwahrnehmungen zu komplexen Wahrnehmungsgestalten zu verschmelzen, stellt sich das Problem, wieweit der Repräsentationsgedanke mit den verschiedenen Spielarten des erkenntnistheoretischen Idealismus und Realismus verbunden werden kann. Eine Verbindung mit dem Idealismus ist nicht möglich, wenn dieser soweit geht, dass er die Repräsentation von Phänomenen als Bedingung für die Annahme ihrer Existenz ansieht und nicht nur als Vorbedingung für ihre Zugänglichkeit. Der Repräsentationsgedanke geht nämlich immer davon aus, dass das Repräsentierte unabhängig davon existiert, ob von ihm Repräsentationen bzw. Spiegelbilder hergestellt werden. Er ist weiterhin durch die Annahme geprägt, dass das zu Repräsentierende kein passives Material für Repräsentationen ist, sondern dass es allen Repräsentationsanstrengungen Widerstand leistet und dass es letztlich nur multiperspektivisch erfasst werden kann. Hinsichtlich der Ausbildung von Wahrnehmungsperspektiven durch Wahrnehmungssubjekte ergeben sich dann allerdings Anknüpfungspunkte zum erkenntnistheoretischen Idealismus. Mit dem erkenntnistheoretischen Realismus
Der Repräsentationsbegriff
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lässt sich der Repräsentationsgedanke dann verbinden, wenn von diesem nicht behauptet wird, dass die Dinge sich so repräsentieren lassen wie sie sind, sondern nur behauptet wird, dass die Dinge eine Seinsweise haben, die unabhängig von ihren möglichen Repräsentationsweisen ist und dass die jeweiligen Objektivierungsweisen nur verbesserbare Versuche darstellen, die Seinsweise der Dinge aspektuell zu erfassen. 10 Wenn zwischen dem Repräsentierten und der Repräsentation eine völlige oder weitgehende Identität bestünde, dann würde sich die pragmatische Funktion der Repräsentation verflüchtigen. Deshalb ist für jede Repräsentation die Spannung von Anwesenheit und Abwesenheit des Repräsentierten konstitutiv und prägend. Eine Repräsentation ist immer eine Interpretation und eine Vermittlung des Repräsentierten im Hinblick auf bestimmte Zwecke. Peirce hat deshalb die Repräsentation auch prinzipiell als eine Zeichenrelation bzw. als ein Phänomen der Drittheit bestimmt, bei der mit einem Repräsentierenden auf ein Objekt in einer bestimmten Interpretationsperspektive Bezug genommen wird. 11 Repräsentationen müssen sich keineswegs immer in Form konventionalisierter Zeichen realisieren. Sie können auch in Form von natürlichen Anzeichen sowie in Form von Erfahrungsmustern, Vorstellungen, Textmustern oder individuellen Geschichten Gestalt gewinnen, wenn etwas auf etwas anderes verweist. Es ist auch nicht immer leicht, eine scharfe Grenze zwischen dem zu ziehen, was als Repräsentationsmittel gelten soll, und dem, was als repräsentierter Inhalt verstanden werden soll. Das fällt insbesondere dann schwer, wenn zwischen dem Repräsentierenden und dem Repräsentierten keine konventionelle, sondern eine ikonische Relation vorliegt, in der etwas kraft Analogie repräsentiert wird (Porträt von Personen), oder wenn eine indexikalische Relation vorliegt, in der etwas kraft Kausalität ins Bewusstsein gerufen wird (Rauch als Hinweis auf Feuer). Da Repräsentationen nur mit Hilfe bestimmter Medien Gestalt gewinnen, ist es nicht immer leicht, reflexionsthematisch zwischen dem Repräsentationsmittel und seiner Repräsentationsfunktion auf der einen Seite und dem repräsentierten Phänomen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Aber gerade der immanente Zwang, immer wieder zwischen beiden unterscheiden zu müssen, ermöglicht es uns, das Repräsentierte in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven genauer kennen zu lernen und uns Rechenschaft darüber abzulegen, hinsichtlich welcher Aspekte wir es kennen gelernt haben bzw. es kennen lernen möchten. Repräsentationen müssen als medial gebundene Interpretationsanstrengungen gewertet werden, die durch individuelle und kulturelle Komponenten geprägt werden. Dabei spielt dann auch eine wichtige
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Vgl. J.R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, 1997, S. 162ff. Ch: S. Peirce, Collected Papers, 8.328-332. Vgl. auch W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K.H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 36ff.
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Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
Rolle, ob das zu Repräsentierende, wie beispielsweise die Sprache, als statisches Strukturphänomen oder als dynamisches Aktionsphänomen angesehen wird, ob es in Begriffssysteme oder in Handlungszusammenhänge eingeordnet werden soll, ob morphologische oder funktionelle Erkenntnisinteressen im Vordergrund der Repräsentationsanstrengungen stehen sollen usw. Da Repräsentationen prinzipiell dazu dienen, Phänomene nicht nur ins Bewusstsein zu rufen, sondern zugleich auch mit anderen in Beziehung zu bringen, setzen sie auch immer eine gewisse Distanz zu dem jeweils zu Repräsentierenden voraus. Das unmittelbar Erlebte lässt sich nicht befriedigend repräsentieren, weil es zunächst oft nur als Konglomerat von Einzeleindrücken wahrgenommen wird. Gestalt gewinnt es erst dann, wenn es durch implizite und explizite Interpretationen zu einem repräsentierbaren Phänomen geworden ist. Deshalb hat jede Repräsentation sowohl einen Bezug zur Objektsphäre als auch einen solchen zur Subjektsphäre, weil in ihr die Spannung zwischen der Seinsweise von Phänomenen auf der einen Seite und den Wahrnehmungsinteressen von Subjekten auf der anderen Seite zum Ausgleich gebracht werden muss.
4. Der Perspektivitätsbegriff Neben dem Form-, Reflexions- und Repräsentationsbegriff kann auch der Perspektivitätsbegriff dabei helfen, grundlegende Strukturen von Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen aufzuklären, weil durch ihn in erhellender Weise auf die Interdependenz von Objektsphäre und Subjektsphäre in Objektivierungsprozessen aufmerksam gemacht werden kann. Ebenso wie die schon erörterten drei Begriffe muss auch der Perspektivitätsbegriff als ein grundlegender Strukturbegriff für die Analyse von Erkenntnisprozessen angesehen werden bzw. als ein anthropologisches Urphänomen, das alle optischen und kognitiven Wahrnehmungsprozesse von Menschen auf fundamentale Weise prägt. In den erkenntnistheoretischen Spekulationen der Spätantike und des Mittelalters sind deshalb nur Gott und die Engel von der prägenden Macht dieses Urphänomens ausgenommen worden. 12 Der Perspektivitätsbegriff wird hier als ein Ordnungsbegriff verstanden, mit dem alle Faktoren und Strukturphänomene zusammengefasst werden, die sowohl in optischen als auch in kognitiven Wahrnehmungs- und Objektivierungsprozessen wirksam werden. Mit Hilfe der drei Unterbegriffe Aspekt, Sehepunkt und Perspektive kann seine Struktur recht gut erläutert werden. Mit dem Begriff Aspekt lässt sich die Objektorientierung des Perspektivitätsbegriffs bzw. menschlicher Wahrnehmungsprozesse thematisieren. Als Wesen in Raum, Zeit und Kultur, die biologisch mit einem bestimmten Wahr12
Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 6ff.
Der Perspektivitätsbegriff
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nehmungs- und Erkenntnisapparat ausgestattet sind, können Menschen die ihnen begegnenden Phänomene nicht in ihrer ganzen Totalität erfassen, sondern nur hinsichtlich derjenigen Aspekte, die unter diesen Rahmenbedingungen wahrnehmbar sind. Die mit der Aspektwahrnehmung verbundene Einschränkung des Erkennens ist prinzipiell nicht aufzuheben, sondern nur dadurch abzumildern, dass die jeweiligen Partialwahrnehmungen im Verlaufe von umfassenden Wahrnehmungsprozessen durch andere ergänzt werden. Obwohl zuweilen die Vorstellung herrscht, dass begriffliche Wahrnehmungen im Gegensatz zu optischen als Wesenwahrnehmungen im Sinne von Totalwahrnehmungen anzusehen sind, zeigt ein genauerer Blick doch, dass eine solche Vorstellung illusionär ist. Auch begrifflich objektivierte Wahrnehmungen erfassen Phänomene nur aspektuell, weil sie auf die mediale Hilfe von kulturellen Objektivierungsmustern und Objektivierungsstrategien angewiesen sind. Mit dem Begriff Sehepunkt lässt sich die Subjektorientierung des Perspektivitätsbegriffs bzw. menschlicher Wahrnehmungsprozesse thematisieren. Dieser Begriff ist im 18. Jahrhundert von Chladenius ausgearbeitet worden, um bestimmte Darstellungsprobleme der Geschichtsschreibung zu kennzeichnen. Er muss aber als ein hermeneutischer Grundbegriff angesehen werden, zu dem es eine Reihe von Synonyma gibt (Gesichtspunkt, Standpunkt, Blickpunkt, Standort, Erkenntnisinteresse usw.). Er ist deshalb auch nicht nur räumlich und zeitlich zu verstehen, sondern auch kulturell und kognitiv. Er soll uns darauf aufmerksam machen, dass die räumliche, zeitliche und geistige Position des Wahrnehmenden bzw. die von ihm verwendeten Objektivierungsmedien immer präjudizieren, welche Aspekte von Phänomenen man überhaupt in den Blick bekommt und welche nicht. Die Wahrnehmungssubjekte können durch eine räumliche und geistige Eigenbewegung ihre Sehepunkte und damit auch ihre konkreten Aspektwahrnehmungen ändern, aber sie können das Prinzip der Aspektwahrnehmung nicht aufheben. Mit dem Begriff Perspektive, der genuin strukturorientiert ist, lässt sich die Korrelation bzw. die Interdependenz der Objektsphäre und der Subjektsphäre thematisieren. Durch ihn lässt sich beschreiben, wie Subjekte in die Welt der Objekte hineingleiten und welche Hilfen dabei die jeweiligen Wahrnehmungs- und Objektivierungsmedien bieten. Perspektiven bedingen, auf welche Weise Objekte für Subjekte in Erscheinung treten können und wie etwas zu einem aspektuell beschreibbaren Wahrnehmungsobjekt werden kann. Die Ausbildung von Perspektiven ist einerseits abhängig von unabweisbaren praktischen Erfahrungen mit einem Phänomen und andererseits von dem Einfallsreichtum der Subjekte bei der Wahl von Sehepunkten und medialen Hilfsmitteln. Der Perspektivebegriff verdeutlicht, dass Wahrnehmungsinhalte weder als Erfassungen von Dingen an sich angesehen werden können noch als reine Konstrukte von Subjekten, sondern nur als Sinngestalten, die aus perspektivisch gebundenen Interpretationsprozessen hervorgegangen sind, welche
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Die grundlegenden Ordnungsbegriffe
sich letztlich an bestimmten pragmatischen Differenzierungsinteressen orientieren. Das bedeutet, dass jeder Anspruch auf Realismus, der das Phänomen Perspektive bzw. Perspektivität unberücksichtigt lässt, letztlich illusionär ist. Zu Recht hat deshalb Rombach die These formuliert: „Perspektivität ist der Realismus der Wahrnehmung,"13 Begriffliche und narrative Formen der Reflexion über Sprache sind ganz offensichtlich als unterschiedliche perspektivische Zugänge zu dem Phänomen Sprache anzusehen, die nicht gegeneinander ausgespielt, sondern vielmehr aufeinander bezogen werden sollten. Das ist auf zweierlei Weise möglich. Zum einen kann man mit Hilfe von Theorien und begrifflichen Reflexionen prüfen, auf welche Weise sich das Phänomen Perspektivität in Geschichten über Sprache bemerkbar macht bzw. welchen spezifischen perspektivischen Zugang die einzelnen Geschichten zu ihrem Gegenstand Sprache suchen. Zum anderen kann man mit Hilfe des Sprachwissens, das sich in Geschichten manifestiert, den Geltungsanspruch von Sprachtheorien relativieren und zeigen, welchen spezifischen perspektivischen Zugang diese Theorien zu dem Phänomen Sprache suchen bzw. als was sie Sprache jeweils ansehen möchten. Solange man Sprache nur als ein Systemgebilde wahrnehmen will und sich auch nur darüber zu verständigen sucht, solange kann man gut und gerne auf die narrativen Formen der Sprachreflexion verzichten. Wenn man allerdings die Sprache als ein Handlungsinstrument wahrnehmen möchte und sich für die Funktionsmöglichkeiten der Sprache interessiert, dann haben begriffliche Beschreibungs- und Reflexionsformen eine natürliche Grenze, weil sich durch sie komplexe Funktionszusammenhänge nicht auf exemplarische Weise in Handlungszusammenhängen veranschaulichen lassen. Das bedeutet, dass man die narrativen Objektivierungsformen für Sprache nicht als bloß unterhaltende Geschichten oder gar als Märchen über Sprache abtun kann, sondern dass man sie als kognitive Perspektivierungsanstrengungen besonderer Art ernst nehmen muss. Zwar gehen diese Objektivierungsanstrengungen den begrifflichen phylogenetisch und ontogenetisch voraus, aber deswegen haben sie keine mindere, sondern allenfalls eine fundamentalere Qualität. Ebenso wie man die These Hegels anzweifeln kann, dass „die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes" sei und von der Philosophie im mehrfachen Sinne des Wortes aufgehoben würde 14 , so kann man auch die These anzweifeln, dass die narrativen Perspektivierungen und Objektivierungen von Sprache von den begrifflichen aufgehoben würden. Der Perspektivitätsbegriff ist im Zusammenhang mit den Formen der narrativen Sprachreflexion in einem doppelten Sinne aktuell. Zum einen kann man Perspektivität im Sinne von kognitiver Perspektivität verstehen. Dann
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H. Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, 1980, S. 187. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, S. 25. Wissenschaft der Logik I, Werke, Bd. 5, S. 113f.
Der Perspektivitätsbegriff
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richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, die prinzipiellen Leistungsunterschiede von narrativen und begrifflichen Formen der Sprachreflexion zu erfassen und zu klären, welches kognitive Potenzial in erzählerischen Objektivierungsformen bzw. in Geschichten steckt. Zum anderen kann man Perspektivität im Sinne von kommunikativer Perspektivität verstehen. Dann richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, welche Wahrnehmungsperspektiven die einzelnen Geschichten auf Sprache eröffnen bzw. welche Aspekte von Sprache in diesen sichtbar werden. Bei der Interpretation der einzelnen Geschichten über Sprache ist außerdem zu berücksichtigen, dass in ihnen nicht nur die spezifische Denkperspektive eines individuellen Autors fassbar wird, sondern zugleich auch die spezifische Denkperspektive einer bestimmten Epoche oder Kultur, die sich in den besonderen Formen des jeweiligen Erzählens und Strukturierens niederschlägt. Das bedeutet, dass wir es also bei Erzählungen über Sprache nicht nur mit einer spezifisch personenbezogenen Subjektsphäre zu tun haben, sondern auch mit einer spezifisch epochalen oder kulturellen. Dementsprechend ist die Differenzierung von kognitiver und kommunikativer Perspektivität auch nicht als absolute, sondern nur als heuristische Differenzierung anzusehen. Sie will nicht klar trennbare Gegebenheiten benennen, sondern nur idealtypisch auf Extrempositionen auf der kontinuierlichen Skala der Ausprägungsmöglichkeiten von Perspektivität aufmerksam machen.
III Die begrifflichen Reflexionsformen Alle Formen der Reflexion haben das Ziel, das Wissen über den jeweiligen Gegenstandsbereich zu verbessern. Allerdings können die Ansichten darüber, was als Verbesserung zu betrachten ist, weit auseinander gehen. Da sich hier das Hauptinteresse auf die Leistungsfähigkeit der narrativen Formen der Sprachreflexion richten soll, ist es methodisch sinnvoll, sich zunächst mit den begrifflichen Reflexionsformen zu beschäftigen, um dafür einen kontrastbildenden Hintergrund zu haben. Die begrifflichen Reflexionsformen sind diejenigen Denkformen, die in den Wissenschaften bei der Aufklärung von Phänomenen bevorzugt werden. Das mit ihrer Hilfe objektivierbare Wissen gilt weitgehend als dasjenige Wissen, das sich diesen Namen wirklich verdient. Alle anderen Reflexions- und Wissensformen werden im Vergleich dazu meist als Vor- oder Defizitformen des eigentlichen Wissens angesehen, denen man allenfalls einen didaktischen Wert zubilligen kann, aber keinen erkenntnismäßigen. Zweifellos sind die begrifflichen Objektivierungsformen von Wissen für die Wissenschaft unverzichtbar, weil sich erst in ihrem Rahmen Darstellungs-, Argumentations- und Schlussfolgerungsprozesse so entfalten können, dass sie sich mit der Wahrheitsfrage im üblichen Sinne konfrontieren lassen. In der Wissenschaft wird der Wahrheitsbegriff in der Regel nicht mit dem Fruchtbarkeitsbegriff verknüpft, sondern mit dem Abbildungsbegriff. Dementsprechend billigen wir Wahrheit dann nur solchen Äußerungen zu, die eine zutreffende Proposition beinhalten. Diese ergibt sich dadurch, dass in Sätzen eine Gegenstandsvorstellung (Satzsubjekt) auf zutreffende Weise durch eine Bestimmungsvorstellung (Satzprädikat) näher bestimmt wird. Dadurch wird dann sprachlich eine außersprachliche Tatsache objektiviert. Von den begrifflichen Formen der Sprachreflexion wird erwartet, dass sie zu wahren oder zumindest zu wahrheitsfahigen Sätzen über das Phänomen Sprache führen, aber nicht zu Sätzen, die uns zufällige Erlebnisse mit Sprache erzählen oder die uns auf analogisierende und metaphorische Weise aparte assoziative Zugänge zu dem Phänomen Sprache eröffnen, welche wiederum Anlass zu weiteren spekulativen Assoziationen geben. Von begrifflichen Sprachreflexionen erhoffen wir uns ein allgemeines, belastbares Wissen von Sprache, das weder randständig noch zufallig ist. Allerdings ergibt sich in diesem Zusammenhang sofort die Frage, ob es ein solches Wissen von Sprache überhaupt geben kann und ob die begriffli-
Die kognitiven Funktionen von Begriffen
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chen Reflexionsverfahren als unbestrittene Königswege anzusehen sind, um adäquates Wissen über die Sprache zu erwerben. Zunächst kann man diesbezüglich nur festhalten, dass die begrifflichen Formen der Sprachreflexion kulturhistorisch und entwicklungspsychologisch als relativ späte Formen der Sprachreflexion anzusehen sind. Offen bleibt dabei dann, ob sie im Vergleich zu den begrifflichen Formen als fundamental oder als überholt anzusehen sind.
1. Die kognitiven Funktionen von Begriffen Das Prestige von Begriffen wurzelt wohl immer noch in einem Denkmodell, das seit Sokrates und Piaton als Ideenlehre bekannt geworden ist, ohne allerdings von beiden explizit als solche vertreten worden zu sein. Danach kommt eigentliche Realität nicht den konkret beobachtbaren Einzelphänomenen zu, sondern nur den Ideen als abstrakten Gebilden, aus denen die beobachtbaren Einzelgegenstände dann hervorgehen wie Münzen aus einer Prägeform. Dementsprechend kann der richtig konzipierte Begriff als Repräsentant einer ewigen Idee angesehen werden, die als prägende Urform allen empirisch fassbaren Einzelerscheinungen zu Grunde liegt. Dabei ist es dann fur das kognitive Prestige von Begriffen letztlich nicht so wichtig, ob die Begriffe bzw. die Ideen als eigenständige Phänomene vor den konkreten Einzeldingen existieren, wie es Piaton nahe legt, oder als Wesenskern in den Einzeldingen existieren, wie es Aristoteles annimmt. In beiden Fällen werden Begriffe nicht als bloße heuristische Denkmuster von Menschen erzeugt, sondern vielmehr als Seinsmuster von diesen jeweils nur freigelegt. Dementsprechend hätte dann eine begriffliche Sprachreflexion prinzipiell die Aufgabe, einen adäquaten Sprachbegriff zu formulieren, der als Seinsbegriff das Wesen aller vorfmdbaren Sprachen trifft. Erkenntnispsychologisch ist im Hinblick auf dieses Begriffsverständnis wichtig, dass in richtig fixierten Begriffen das Streben nach Wissen eigentlich zur Ruhe kommt und seine abschließende Repräsentationsform findet. Faktisch ausgearbeitete Begriffe können sich als korrekturbedürftig erweisen, aber im Prinzip wird in diesem Denkrahmen nicht bezweifelt, dass unser Wissen in Form von Begriffen, von Begriffshierarchien und von Propositionen als richtigen Zuordnungen von Begriffen zueinander seine optimale Ausprägungsform und abschließende Gestalt finden soll und finden kann. Obwohl dieses Denkmodell heute erkenntnistheoretisch und ontologisch als kaum mehr vertretbar angesehen wird, hat sich das Prestige von Begriffen als Wesensrepräsentationen weitgehend erhalten, weil der wissenschaftliche Sprachgebrauch sich diesem Modell verpflichtet fühlt. Alle Wissenschaften arbeiten mit definierten und normierten Begriffen und streben ein begriffliches bzw. propositional fixierbares Wissen an. Über den ontologischen und erkenntnistheoretischen Status von Begriffen müssen die Wissenschaften sich
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Die begrifflichen Reflexionsformen
solange keine Gedanken machen, wie das so vergegenständlichte Wissen praktisch erfolgreich verwendet werden kann und in sich kohärent ist. Erst wenn mit ihm nicht mehr erfolgreich gearbeitet werden kann oder wenn sich das Denken ganz neue Ziele setzt, die mit den vorhandenen Begriffsmustern nicht mehr erreicht werden können, besteht die Notwendigkeit, sich genaue Rechenschaft über den Status und die Erkenntnisleistung von Begriffen abzulegen und diese nicht als unbezweifelbare Seinsobjektivierungen anzusehen. Obwohl in der Neuzeit Begriffe in der Regel als heuristische Denkmuster verstanden werden, die ihre Herkunft eher pragmatischen Differenzierungsbedürfnissen als ontischen Seinsformen verdanken, gilt das begrifflich objektivierte Wissen gleichwohl als optimale Ausprägungsform von Wissen, weil es sich nicht nur assoziativ und erläuternd verwenden lässt, sondern auch argumentativ. Es wird angenommen, dass Begriffe operational brauchbare Denkmuster sind, die sich aus pragmatisch motivierten Abstraktionsprozessen ableiten, welche dadurch gekennzeichnet sind, dass Einzelphänomene nach bestimmten Ähnlichkeitsaspekten auf verschiedenen Abstraktionsebenen zu Gruppen bzw. Mengen zusammengefasst werden. Die Mitglieder dieser Mengen werden in einer bestimmten Denkperspektive dann als gleichartig erklärt, obwohl sie in anderen Denkperspektiven als ganz ungleichartig angesehen werden müssen. Nietzsche hat dementsprechend auch folgende sehr pointierte These vertreten: , Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen."1 Begriffe sind so gesehen Menschenwerk bzw. Kulturwerk, insofern ihre Ausbildung von Differenzierungsinteressen gesteuert wird, die sich für die Menschen als brauchbar erwiesen haben, wenn sie sich in der Welt der Gegenstände und der Welt der Handlungen zurechtfinden wollen. Dementsprechend müssen Begriffe sowohl auf die Ordnungsstrukturen der jeweiligen Objektsphäre Rücksicht nehmen bzw. auf die Ähnlichkeitsrelationen zwischen Einzelphänomenen als auch auf die Differenzierungsinteressen, die sich aus den Bedürfnissen der jeweiligen Subjektsphäre ergeben. Deshalb haben konventionalisierte Begriffe auch nicht nur eine deskriptive, sondern immer auch eine normative Funktion, da sie festlegen, in welchen Denkperspektiven auf Phänomene Bezug genommen wird und hinsichtlich welcher Eigenschaften Phänomene trotz aller empirisch fassbaren Unterschiede dennoch als ähnlich, wenn nicht als identisch angesehen werden. Beispielsweise können wir je nach unseren Abstraktionsbedürfhissen dasselbe außersprachliche Einzelphänomen sowohl unter den Begriff Kuh als auch unter den Begriff Wiederkäuer als auch unter den Begriff Vermögen fallen lassen, wobei dann allerdings dasselbe Einzelphänomen hinsichtlich ganz anderer Sachaspekte für uns interessant wird. Ebenso können wir das '
F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Werke, Bd. 3, S. 313.
Stärken und Schwächen von Begriffen
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Phänomen Sprache sowohl unter den Begriff Zeichensystem als auch unter den Begriff Informationsmittel als auch unter den Begriff Denkmittel einordnen und damit unsere Aufmerksamkeit für dieses Phänomen ganz unterschiedlich perspektivieren. Ohne Begriffe bzw. ohne zweckfimktionale Vereinfachungsmuster können wir uns in unserer sinnlichen, sozialen und geistigen Welt nicht zurechtfinden, da wir im Meer individueller Gegebenheiten ertrinken würden. Umgekehrt verführen uns Begriffe dazu, die Besonderheit von Phänomenen zu übersehen, Begriffsordnungen vorschnell mit Sachordnungen zu identifizieren und Phänomene nur hinsichtlich derjenigen Aspekte wahrzunehmen, die uns durch die Brille unserer Begriffe zugänglich werden.
2. Die Stärken und Schwächen von Begriffen Die pragmatische Stärke von Begriffen besteht zweifellos darin, dass sie auf entscheidende Weise dabei helfen, die Vielfalt bzw. das Chaos von Einzeleindrücken mit Hilfe typisierender Muster zu ordnen und eben dadurch zu einem Kosmos zu machen. Dabei ist funktional gesehen vorerst nicht so wichtig zu klären, inwieweit sich die einzelnen Musterbildungen auf biologisch determinierte Differenzierungsmöglichkeiten unseres Sinnesapparates und unserer Gehirnstruktur, auf pragmatische Notwendigkeiten oder auf kulturell erarbeitete Differenzierungstraditionen gründen. In jedem Fall dienen Begriffe als Ordnungsmuster dazu, die Welt der Eindrücke auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen als Erfahrungswelt zu strukturieren. Begriffe haben immer eine natürliche Tendenz, sich vertikal und horizontal systemhaft zu ordnen. Das zeigt sich in der natürlichen Sprache in der ungeplanten Ausbildung von Wort- bzw. Begriffsfeldern und in den Fachsprachen durch die planmäßige Ausbildung von durchstrukturierten Terminologiegebäuden bzw. Begriffssystemen. In beiden Fällen besteht allerdings die Gefahr, etwas kurzschlüssig anzunehmen, dass das System sprachlicher Muster direkt mit dem System ontischer Gegebenheiten korrespondiert bzw. im Idealfall eine vorgegebene Realität widerspiegelt. Das dokumentiert sich sehr deutlich in unserem natürlichen Sprachvertrauen, das von dem Glauben geprägt wird, dass Sprache und Welt im Prinzip aufeinander passen und dass das Gegebene so existiert, wie es von uns sprachlich differenziert wird. Die Begriffspyramide (arbor porphyriana) in der Philosophie und das Klassifikationssystem Linnes in der Biologie exemplifizieren das sehr deutlich. Die Stärke von Begriffen besteht darin, bei Erfahrungsphänomenen das für uns Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen und ähnlich wie ein Röntgenbild die Tiefenstrukturen hinter den jeweiligen Oberflächenstrukturen zu erfassen. Die Schwäche von Begriffen liegt darin, das Gegebene statisch als Teil eines Ordnungssystems zu betrachten und unsere Aufmerksamkeit sowohl
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Die begrifflichen Reflexionsformen
von der Entstehungsgeschichte als auch von den Funktionszusammenhängen der jeweiligen Phänomene abzulenken. Begriffe suggerieren auf immanente Weise den Glauben, dass alle Phänomene kategorial scharf voneinander abgegrenzt werden können und nicht kontinuierlich ineinander übergehen. Das in Begriffen niedergelegte Differenzierungswissen bekommt auf diese Weise eine idealisierte Struktur. Dadurch wird es für Argumentations- und Schlussfolgerungsprozesse sehr tauglich, da mit den entsprechenden Begriffen Propositionen gebildet werden können, die sich nach der zweiwertigen Logik von wahr und falsch beurteilen lassen. Die Frage ist nur, ob diese Form des Wissens nicht eine zu idealisierte Gestalt hat und ob es daneben auch noch andere Wissensformen bzw. andere Repräsentationsformen von Wissen gibt, die die Defizite des begrifflichen Wissens ausgleichen können. Wenn sich ein Begriff in der natürlichen Sprache konventionalisiert hat bzw. in einer Fachsprache normativ definiert worden ist, dann ist der auf das jeweilige Bezugsphänomen gerichtete Erkenntnisprozess methodisch abgeschlossen, da ein Wissensprodukt hergestellt worden ist, das als fester Baustein fur den Aufbau umfassenderer Wissensgebäude verwendet werden kann. Auf diese Weise verlieren Begriffe leicht ihre hypothetischen Ordnungsfunktionen bzw. ihren Status als heuristische Instrumente und bekommen einen Endgültigkeitscharakter, der umso stabiler wird, je mehr die jeweiligen Begriffe Bausteine eines systematisch durchstrukturierten Wissens werden. Das dokumentiert sich in den Fachsprachen sehr viel deutlicher als in den natürlichen Sprachen, die begrifflich viel vager durchstrukturiert sind und in der feste Begriffsgrenzen durch den metaphorischen Sprachgebrauch immer wieder verwischt werden. Erkenntnistheoretisch kann nun aber durchaus bezweifelt werden, dass sich der Prozess der Wissensbildung tatsächlich abschließen lässt und dass sich dessen Ergebnisse in festen Begriffen fixieren lassen. Das mag im Rahmen der perspektivisch verengten Wissensbedürfnisse in den Fachwissenschaften temporär noch möglich sein, aber nicht im Rahmen der vielschichtigen Wissensbedürfnisse, die sich im Operationsfeld der natürlichen Umgangssprache ergeben. Hier ist die Perspektivenbildung und damit auch die Begriffsbildung ständig im Fluss, weil man ansonsten Gefangener seiner eigenen Denkmuster würde und weil man das Denken nicht mehr eine logische Stufe höher ansiedeln könnte als die Mittel, mit denen es operiert. Immer wenn danach gestrebt wird, das Wissen in endgültigen Begriffen zu fixieren und seine Bezogenheit auf Denkoperationen auszublenden, dann gerät es in Gefahr, zu verholzen oder gar zu versteinern. Ein Änderungsbedarf kann sich auf diese Weise so anstauen, dass schließlich das ganze System von Begriffen ins Wanken gerät und im Sinne eines Paradigmawechsels von Grund auf neu konzipiert werden muss, weil es sein immanentes Fließgleichgewicht verloren hat. Die Gefahr der Verholzung des Wissens ist im Operationsbereich der natürlichen Sprache natürlich längst nicht so groß wie in dem der
Stärken und Schwächen von Begriffen
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Fachsprachen, weil ihr Funktionsprofil sich nicht auf die Darstellung von Sachverhalten reduzieren lässt, sondern diese Funktion nur als Mittel benutzt, um auch andere Funktionen realisieren zu können. Musterbildungen bzw. Begriffsbildungen können in der natürlichen Umgangssprache im Gegensatz zu einer Fachsprache nie von einem einzigen Sehepunkt und hinsichtlich ganz bestimmter Sachaspekte vorgenommen werden, weil sie sehr vielfältige Handlungsfunktionen hat und ganz unterschiedlichen Objektivierungsbedürfnissen dienstbar sein muss. Das bedeutet, dass in ihr die jeweiligen Muster- bzw. Begriffsbildungen nur sehr grob vorgegeben sind und erst im konkreten Gebrauch ihr spezifisches kognitives Profil bekommen. Die Vagheit des vorgegebenen begrifflichen Gehaltes von Wörtern ist deshalb eine konstitutive Voraussetzung fur deren flexible Verwendung in der natürlichen Sprache. Lenneberg hat deshalb zu Recht darauf verwiesen, dass die sprachliche Funktion von Wörtern eigentlich nicht darin bestehe, statische Begriffe zu repräsentieren, sondern eher darin, einen zielgerichteten dynamischen Begriffsbildungsprozess zu vergegenwärtigen. Deshalb kann man das kognitive Leistungspotenzial von Wörtern auch nur ermitteln, wenn man nicht bloß nach ihrem konventionellen begrifflichen Gehalt fragt, sondern auch nach der kognitiven Strategie, in der sie jeweils verwendet werden. „Wörter sind nicht die Namen für früher einmal abgeschlossene und eingelagerte Begriffe; sie sind die Namen für einen Kategorisierungsprozess oder eine Familie solcher Prozesse. Aufgrund der dynamischen Natur des zugrunde liegenden Prozesses können die Referenten von Wörtern so leicht wechseln, lassen sich Bedeutungen erweitern und sind Kategorien immer offen. Wörter bezeichnen (etikettieren) die Prozesse des kognitiven Umgangs einer Art mit ihrer Umwelt."'1
Begriffstheorien, die sich stärker an der natürlichen Sprache als an formalisierten Fachsprachen orientieren, möchten deshalb Begriffe auch nicht als statische Klassenbegriffe verstehen, sondern eher als dynamische Typenbegriffe, die im Prinzip eine komparative Grundorientierung bieten. Beispielsweise geht die so genannte Prototypensemantik von dem Gedanken aus, dass Begriffe eigentlich als heuristische Schemata anzusehen seien, unter die konkrete Einzelphänomene mehr oder weniger gut eingeordnet werden können. 3 Das bedeutet, dass beispielsweise eine Amsel den Begriff Vogel besser als ein Strauß oder ein Pinguin exemplifiziert. Dieser Denkansatz inspiziert die These, dass wir Phänomene nicht zureichend erfasst haben, wenn wir sie einem Begriff zugeordnet haben, sondern dass wir durch solche Zuordnungen nur eine grobe Vororientierung bekommen, in welchem Denkrahmen wir weiteres Wissen über sie erwerben können. Dabei kann sich durchaus herausstellen, dass dieser Rahmen verändert werden 2 3
E.H. Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache, 1972, S. 407. Vgl. G. Kleiber, Prototypensemantik, 1998 2 .
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muss bzw. dass wir einen anderen Orientierungsrahmen suchen müssen. Grundsätzlich fordert uns dieser Denkansatz dazu auf, unsere Ordnungsbegriffe dynamisch zu halten, damit sie als Mittel der Wissenserzeugung und Wissensrepräsentation nicht verholzen. In diesem Zusammenhang spielen dann sicher die narrativen Objektivierungsformen von Wissen eine große Rolle. Das Erzählen von Geschichten über bestimmte Phänomene verarbeitet nicht nur ein bestimmtes konventionelles Erfahrungswissen über diese Phänomene, sondern erweitert auch das individuelle Wissen über sie, weil wir dadurch auf Aspekte von ihnen aufmerksam gemacht werden, die konventionalisierte Begriffe vernachlässigen oder gar ausblenden, bzw. weil wir mit Besonderheiten bekannt gemacht werden, die wir im Rahmen der beschränkten persönlichen Erfahrungsmöglichkeiten gar nicht hätten wahrnehmen können.
3. Die Leistung von Begriffen in der Sprachreflexion Alle Formen des gründlichen Nachdenkens über Sprache haben natürlich eine immanente Tendenz, das Phänomen Sprache auf den Begriff zu bringen bzw. mit adäquaten Analysebegriffen kognitiv zu beherrschen. Nach den bisherigen Überlegungen haben wir aber damit zu rechnen, dass solche Klassifizierungsund Analyseanstrengungen auch zu Pyrrhussiegen führen können. Schon wenn wir den Begriff Sprache im Sinne der klassischen Definitionslehre, die im Prinzip ja absolut gültige statische Begriffshierarchien voraussetzt, definieren wollen, indem wir den nächst höheren Gattungsbegriff (genus proximum) und die spezifische Besonderheit (differentia specifica) anzugeben versuchen, geraten wir schnell in Schwierigkeiten oder in Trivialitäten. Was lernen wir beispielsweise über das Phänomen Sprache, wenn wir die folgenden Definitionen formulieren? Die Sprache ist ein Zeichensystem, das sich auf Konventionen gründet/das die Menschen zur Übermittlung von Informationen entwickelt haben/das den Menschen den Ausdruck ihrer Gedanken ermöglicht. In solchen Definitionen systematisieren wir eigentlich nur das Wissen, das wir schon haben, wenn wir die bei der Definition verwendeten Begriffe kennen und verstehen. Deshalb lassen sich Definitionen auch im Sinne Kants als Exempel fur analytische Aussagen verstehen, die unser Erfahrungswissen nicht erweitern, sondern allenfalls präzisieren. Diejenigen Formen der Sprachreflexion, die auf solche Definitionen von Sprache abzielen, können uns allenfalls auf normative Weise belehren. Sie regen uns aber kaum dazu an, Aspekte, Dimensionen und Implikationen der Sprache kennen zu lernen oder zu erschließen, die nicht offensichtlich sind. Die Ausarbeitung von Sprachdefinitionen nach dem klassischen Schema kann unser Wissen von Sprache natürlich so systematisieren, dass wir Aussagen über Sprache machen können, die sich
Die Leistung von Begriffen in der Sprachreflexion
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argumentativ gut verwenden lassen bzw. die als -wahr oder falsch beurteilt werden können. Das ist natürlich nicht nichts, aber keineswegs schon alles. Wir müssen akzeptieren, dass die üblichen Klassifikationsbegriffe und die klassischen Definitionen von Sprache kein Monopol als kognitive Objektivierungsmittel haben und dass es auch noch andere Objektivierungsformen gibt, die unser Wissen von Sprache strukturieren bündeln, speichern und vervollständigen können. Einerseits kann man dabei an metaphorische Beschreibungen von Sprache denken bzw. an die Einbeziehung des Wortes Sprache in metaphorische Redeweisen: Die Sprache verkleidet die Gedanken. Wir sitzen im Gefängnis der Sprache. Die Sprache bleibt die alte Schlange, die sie schon im Paradiese war. Andererseits kann man dabei an Geschichten über Sprache denken, in denen dieses Phänomen im Rahmen der Darstellung von Handlungen thematisiert und als eigenständige Wirkungskraft vorgestellt wird. Die bildliche und narrative Thematisierung von Sprache bündelt nicht nur ganz ähnlich wie eine Sprachdefinition Erfahrungen mit Sprache, sondern inspiriert darüber hinaus auch dazu, unsere Vorstellung von Sprache mit konkreten Handlungs- und Wirkungsvorstellungen zu verbinden und eben dadurch als dynamischen Wirkungsfaktor in Erscheinung treten zu lassen. Durch diese Repräsentationsweise von Sprache wird zugleich indirekt darauf aufmerksam gemacht, dass sich unser Wissen von Sprache nicht ausschließlich in Begriffen kondensieren und in Propositionen niederlegen und vermitteln lässt. Das Wissen von Sprache, das wir in Gestalt von Sprachgefühl, Sprachhandlungswissen und Assoziationswissen haben, lässt sich oft nur in Form von Geschichten konkretisieren, exemplifizieren und andeuten. Jede begriffliche und propositionale Objektivierung von Sprache erzwingt eine kognitive Distanz zu ihr. Diese erleichtert zwar den Überblick über sie, aber führt sie auch zu einem Verlust an Nähe und Unmittelbarkeit, durch die das Denken dazu angeregt werden kann, das Phänomen Sprache in Kontext von Handlungsprozessen wahrzunehmen. Die nicht-propositionalen Formen des Sprachwissens, die sich in Sprachspielen, in der Bildung heuristisch fruchtbarer Metaphern und in der Erfindung von Geschichten über Sprache manifestieren, lassen sich schwerlich mit den Kategorien wahr und falsch erreichen oder gar qualifizieren, sondern allenfalls mit den Kategorien anregend oder trivial, fruchtbar oder steril, einleuchtend oder absurd. Deshalb sind solche Repräsentationen des Wissens über Sprache auch weniger für argumentative Zwecke prädestiniert, sondern eher für illustrierende. Die metaphorischen, bildlichen und narrativen Objektivierungen von Sprache wollen dem Wissen über Sprache keine abschließende Gestalt geben, sondern vor allem unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten für dieses Phänomen schärfen, indem sie uns auf die Fülle der Einbettungs- und Wirkungsmöglichkeiten von Sprache aufmerksam machen. Man sollte deshalb von diesen Formen der Sprachreflexion nicht dasselbe erwarten wie von den begrifflichen. Metaphern zu und Geschichten über Sprache sind einerseits als Vorformen von
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Die begrifflichen Reflexionsformen
begrifflichen Objektivierungen anzusehen, insofern sie den Rahmen kenntlich machen, in dem Begriffe eine Ordnungsfunktion erfüllen können, und andererseits als Mittel, erstarrte Begriffe aufzulösen und Theorien über Sprache zu überprüfen und zu exemplifizieren. Weder Begriffen noch Geschichten kann das letzte Wort über Sprache zugebilligt werden, weil beide Objektivierungsformen sich perspektivisch auf ganz unterschiedliche Aspekte von Sprache konzentrieren.
IV Die narrativen Reflexionsformen Die bisherigen Überlegungen haben das Ziel verfolgt, die These plausibel zu machen, dass alle geistigen Repräsentationsformen von Phänomenen als interpretierende Vereinfachungsformen anzusehen sind, in denen sich das fokussierende und akzentuierende Strukturierungsprinzip der Perspektivität Geltung verschafft. All diese Formen dienen dazu, die Komplexität ihrer jeweiligen Bezugsphänomene so zu reduzieren, dass wir sie uns in einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive als spezifische Ordnungszusammenhänge bzw. Sinngestalten vergegenwärtigen können. Dabei stellt sich nun allerdings die Frage, ob alle Vergegenwärtigungsformen die gleiche Qualität haben bzw. ob sie hierarchisch gestuft werden müssen. Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten, da dabei klare normsetzende Hintergrundsmaßstäbe vorausgesetzt werden müssen. Man muss sie aber im Auge behalten, damit das Denken nicht vorschnell auf seine eigenen Erscheinungsformen hereinfallt. Wer Theorien über Sprache ausbilden will und dabei nicht nur schon vorhandene Konzepte zu variieren versucht, der sollte sich ebenso wie ein guter Baumeister zunächst um die Fundamente kümmern, auf denen er seine Bauwerke errichten will. Dabei kann er natürlich auf seine eigenen individuellen Erfahrungen mit Sprache Bezug nehmen, aber auch auf das evolutionär entwickelte Kollektivwissen über Sprache. An der Ausbildung und Stabilisierung dieses überindividuellen Common-Sense-Wissens über Sprache haben sicher die Geschichten über Sprache einen größeren Anteil als die theoretischen Entwürfe. Wer viele Geschichten über Sprache kennt, der hat nicht nur seinen Erfahrungsschatz über Sprache entscheidend ausgeweitet, sondern auch seine Vorbehalte gegen alle Formen von Sprachtheorien gesteigert, die beanspruchen, ein letztes Wort zu sprechen. Geschichten über Sprache sind theoretisch naiv, ja sie müssen vielleicht theoretisch naiv sein, damit sie dabei helfen können, die Naivität von Theorien aufzudecken bzw. den verengten Blickwinkel, aus dem sie jeweils hervorgegangen sind. Auch Geschichten über Sprache haben natürlich eine spezifische Wahrnehmungsperspektive auf Sprache. Aber diese wird in der Regel nicht als so einschränkend angesehen, weil in ihr Sprache immer in komplexen Handlungszusammenhängen objektiviert wird. Dadurch bekommt Sprache immer einen Sitz im Leben und wird nicht nur als theoretisches Problem wahrgenommen.
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Die narrativen Reflexionsformen
Wenn jemand etwas über Sprache erzählt und auf theoretische Aussagen über sie verzichtet, dann ist Sprache für ihn kein Phänomen, das er schon verstanden hat, sondern vielmehr eines, das er zu verstehen versucht, weil es ihn irgendwie beunruhigt. Dadurch, dass er etwas über Sprache erzählt, gewinnt er einerseits eine beruhigende Distanz zu ihr, da er sie ja zu seinem Beobachtungsgegenstand macht. Andererseits verliert er aber auch nicht seine lebenspraktischen Bezüge zu ihr, da er sich ja vornehmlich für ihre Wirkungszusammenhänge interessiert. Dem Erzähler und dem Rezipienten erscheint die Sprache unter diesen Umständen nicht als etwas, was an sich existiert, sondern als etwas, was für ihn existiert. Deshalb kann das Erzählen im Gegensatz zum Behaupten auch als eine Reflexionsform gewertet werden, in der die bedrängende Unübersichtlichkeit eines Phänomens reduziert wird, ohne dass es seine Unmittelbarkeit für den Wahrnehmenden verliert. Die narrativen Formen der Sprachreflexion ließen sich deshalb auch einem aparten Diktum Wittgensteins zuordnen: „Scheue Dich j α nicht davor, Unsinn zu reden! Nur mußt Du auf Deinen Unsinn lauschen,"1 Bei der Beschäftigung mit Geschichten über Sprache geht es primär nicht darum, sich den in ihnen thematisierten Stoff anzueignen, sondern vielmehr darum, sich von diesem Stoff zu weiteren Gedanken anregen zu lassen, was natürlich eine genaue Kenntnis der jeweiligen Sachinhalte voraussetzt. Diese Aufgabe können Geschichten nun aber eigenartigerweise gerade deshalb so gut erfüllen, weil man sich einen narrativ repräsentierten Stoff besonders gut merken kann. Geschichten sind dazu prädestiniert, sich sehr gut in unserem episodischen Gedächtnis zu verankern und eben dadurch zu Kristallisationskernen für unser deklaratives Gedächtnis zu werden. Diese pragmatische Funktion können Geschichten deswegen so gut übernehmen, weil in ihnen theoretische Probleme als Handlungsprobleme objektiviert werden und sich auf diese Weise in einer operationalisierten Form präsentieren. Geschichten leben davon, dass in ihnen in der Exposition eine spezifische Erwartungsspannung aufgebaut wird, die dann im Erzählvorgang so präzisiert, strukturiert und schließlich gelöst wird, dass sich neue Erwartungsspannungen bilden, die zur Ausprägung von neuen Geschichten Anlass geben. Geschichten haben deshalb im Gegensatz zu Theorien einerseits eine immanente Tendenz, durch weitere Geschichten fortgesponnen zu werden, aber andererseits auch die provozierende Eigenschaft, das theoretische Denken herauszufordern, um das in ihnen Gesagte auf den Begriff zu bringen.
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Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, S. 530.
Vom Mythos zum Logos und vom Logos zum Mythos
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1. Vom Mythos zum Logos und vom Logos zum Mythos Die Kontrastierung von narrativen und begrifflichen Objektivierungsformen hat eine lange Geschichte, die Nestle für den Bereich des griechischen Denkens auf eine einprägsame Formel gebracht hat: Vom Mythos zum Logos} Obwohl Nestle diese beiden Repräsentationsformen von Wissen weniger als hierarchische Stufen des Wissens ansieht, sondern eher als Pole und Gestaltungsprinzipien des geistigen Lebens in der Antike betrachtet, insofern der Mythos dem bildlichen und künstlerischen Denken Ausdruck gebe und der Logos dem rationalen und zergliedernden Denken, so ist diese Opposition und diese Abfolge von Denkformen doch immer wieder als ein aufklärerisches Fortschrittsphänomen verstanden worden. Je mehr sich dann allerdings in der Philosophie und in den sich aus ihr entwickelnden Fachwissenschaften das begriffliche Denken durchsetzte, desto mehr wurden die narrativen Objektivierungsformen von Denken und Wissen als Defizitformen des eigentlichen Denkens und Wissens empfunden. Das macht dann auch verständlich, warum der Mythosbegriff teilweise einen negativen Akzent im Sinne der Vorstellung eines überholten oder gar eines falschen Bewusstseins bekommen konnte, was beispielsweise die Formulierungen Entmythologisierung, Mythos des Staates oder Mythen des Alltags exemplarisch verdeutlichen. Allerdings sollte uns nun aber auch der Umstand zu denken geben, dass Sokrates, der wahrlich nicht als Verächter von Begriffen gelten kann, bei der Diskussion komplexer Phänomene immer wieder die begrifflichen Denk- und Objektivierungsanstrengungen aufgibt und dazu übergeht, Gleichnisse zu entwickeln und Mythen zu erzählen. Das dokumentiert sich im Höhlengleichnis bei der Diskussion der Erkenntnis- und Wahrheitsproblematik und im Mythos über die Erfindung der Schrift bei der Diskussion der Implikationen des schriftlichen Sprachgebrauchs. Auf beide Texte soll hier noch näher eingegangen werden, weil in ihnen das Spannungsverhältnis von narrativen und begrifflichen Denkformen sehr gut exemplarisch zum Ausdruck kommt. Den Rückgriff auf narrative Objektivierungsformen könnte man natürlich als einen didaktischen Kunstgriff zur anschaulichen Präsentation eines Problems und damit als eine Vorstufe der begrifflichen Darstellung verstehen. Aber eigenartigerweise werden von Sokrates die narrativen Repräsentationsformen nicht konsequent durch begriffliche ersetzt und damit als Vorstufen des eigentlichen Wissens kenntlich gemacht. Dieser Tatbestand lässt den Verdacht aufkommen, dass es Phänomene gibt, die sich einer befriedigenden begrifflichen Bewältigung und Darstellung 2
W. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 19752.
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Die narrativen Reflexionsformen
entziehen. Offenbar lassen sich Phänomene von grundlegender anthropologischer Bedeutung wie Liebe, Tod, Erkenntnis, Klugheit, Sprache usw. oft auf narrative Weise umfassender, prägnanter und eindrücklicher objektivieren als auf begriffliche. Das erklärt dann auch die bis heute ungebrochene Faszination, die Mythen, Parabeln und Fabeln auf unser Denken ausüben. Deshalb liegt es nahe, Mythen und Geschichten als nicht ersetzbare geistige Objektivierungsformen zu werten, die historisch nicht überholt, sondern allenfalls ergänzt werden können. Bei der Beurteilung der kognitiven Leistungskraft von Geschichten ist zu beachten, dass sie im Gegensatz zu der argumentativen Rede nichts beweisen wollen, sondern nur beanspruchen, auf etwas zu verweisen. Deshalb ist für sie nicht die Opposition von wahr und falsch aktuell, sondern eher das Problem, wie sich ein Phänomen in Handlungssequenzen fruchtbar darstellen und hinsichtlich seiner Implikationen verdeutlichen lässt. Die erzählende Rede stillt deshalb Wissensbedürfhisse auch auf einer ganz anderen Ebene als die begriffliche Rede. Die begriffliche bzw. wissenschaftliche Objektivierung des Phänomens Sprache hat beispielsweise eine immanente Tendenz, Sprache als Systemgebilde zu thematisieren und dabei von allen Funktionszusammenhängen konsequent zu abstrahieren, weil diese dabei stören, sich die Sprache als ein übersichtliches Analyseobjekt abzugrenzen. Wenn beispielsweise de Saussure sich Sprache methodisch sehr gut nachvollziehbar als langue konstituiert und dabei konsequent von ihrer Entwicklungsgeschichte und von ihren pragmatischen Funktionen und Implikationen absieht, um sie als eigenständige soziale Tatsache wie ein Ding analysieren zu können, dann hat er die Komplexität dieses Phänomens so reduziert, dass es als Bindeglied zwischen der Subjektsphäre und der Objektsphäre bzw. als polyfunktionales kognitives und kommunikatives Werkzeug nicht mehr in Erscheinung treten kann. 3 Das anatomische Interesse an der Sprache lässt sich durch begriffliche Reflexionsformen natürlich sehr gut befriedigen, weil dabei der mit Begriffen verbundene Röntgenblick die statische Systemordnung der Sprache aspektuell sehr gut hervortreten lässt. Diese Reflexionsstrategie ist von dem Psychologen Bühler dann allerdings etwas bissig als „noch nicht überwundene Metzgeranalyse" charakterisiert worden. 4 Wenn man eine solche Metzgeranalyse vermeiden möchte und wenn man nicht danach strebt, die Sprache aus ihren lebendigen Verwendungszusammenhängen methodisch herauszulösen, um sie als totes Gebilde sezieren zu können, dann bieten die narrativen Reflexionsformen eine Hilfe, da diese eher ein physiologisches als ein anatomisches Interesse an der Sprache haben. Sie sind nämlich primär an den Wirkungsmöglichkeiten der Sprache interessiert und entwickeln erst von dieser Fragestellung 3 4
F. de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, 1967 2 , S. 7ff. K. Bühler, Sprachtheorie, 1965 2 , S. 58.
Vom Mythos zum Logos und vom Logos zum Mythos
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her eine Neugier für die strukturellen Voraussetzungen ihrer jeweiligen Wirkungsmöglichkeiten. Natürlich ist es denkbar, sein Interesse an der Sprache von der anatomischen auf die physiologische Ebene auszudehnen und die Funktionsmöglichkeiten der Sprache auch begrifflich zu beschreiben. Aber dabei unterliegt man leicht der Gefahr, die Wirkungsmöglichkeiten der Sprache nur deduktiv aus seinem schon vorhandenen Systemwissen abzuleiten und die Funktionsmöglichkeiten zu übersehen, die sich nicht zwingend in solchen Schlussfolgerungsprozessen ergeben. Gerade für diese Fälle sensibilisieren uns nun aber die narrativen Objektivierungsformen von Sprache, weil sie uns mit empirischen oder empirisch denkbaren Fällen konfrontieren, die über induktive Denkprozesse auf den Begriff gebracht werden müssen und die uns dabei möglicherweise auch zwingen, unser Systemwissen über Sprache zu revidieren bzw. unsere Aufmerksamkeit auf sprachliche Ordnungsstrukturen zu richten, die vorher gar nicht im Fokus unseres Interesses gelegen haben. So gesehen provozieren Geschichten über Sprache auch wieder unser begriffliches Denkvermögen und stimulieren dazu, Sprache auf andere Weise auf den Begriff zu bringen. Die Erfindung und Strukturierung von guten Geschichten über Sprache sollte deshalb ebenso wie die Konzipierung von guten Sprachtheorien bzw. wie die Formulierung von brauchbaren sprachtheoretischen Aussagen als eine kognitive Leistung gewertet werden, weil dabei Erfahrungen mit der Sprache exemplarisch so verdichtet werden, dass sie zum Gegenstand von begrifflichen Interpretationsanstrengungen werden können. Dabei sollte dann ebenfalls bedacht werden, dass sich komplexe Phänomene, zu denen sicher auch die Sprache gehört, sich letztlich nicht auf den Begriff bringen lassen, weil sie viel zu aspektreich sind, und dass wir uns ihre Dimensionen eher mit Hilfe von Geschichten als mit Hilfe von Begriffen veranschaulichen können. Mythen bzw. Erzählungen sind so gesehen nicht als irrational anzusehen, sondern vielmehr als bestimmte Erscheinungsweisen von Rationalität, insofern sie kognitive Objektivierungsanstrengungen repräsentieren, die sich darauf konzentrieren, auf exemplarische Weise die Wirkungszusammenhänge zu zeigen, in denen komplexe Phänomene in Erscheinung treten können. Ebenso wie Begriffe im Prinzip nicht dazu bestimmt sind, Einzelphänomene zu repräsentieren, sondern vielmehr dazu, konkrete Erscheinungen kategorial und typologisch zu ordnen, so dienen auch Geschichten im Gegensatz zu Berichten dazu, ein Geschehen gestalthaft so darzustellen, dass dadurch im Einzelfall immer etwas Allgemeines durchschimmert. Das bedeutet, dass begriffliche und narrative Objektivierungsverfahren auf je unterschiedliche Weise Erfahrungen kognitiv verarbeiten und verfügbar machen. Deshalb können sich Begriffe und Geschichten auch wechselseitig erhellen und ergänzen. Die Sinnbildungsleistungen von Mythen bzw. exemplarischen Narrationen lassen sich ebenso wenig in eine begriffliche Rede übersetzen, wie sich der
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Die narrativen Reflexionsformen
Inhalt einer begrifflichen Rede vollständig in eine erzählende Rede umsetzen lässt. Deshalb sind Mythos und Logos bzw. narrative und begriffliche Objektivierungen auch als je unterschiedliche Gestaltungsstrategien anzusehen, die ein unterschiedliches Objektivationsinteresse haben und deshalb auch zu je unterschiedlichen Objektivierungsergebnissen fuhren. Das schließt dann allerdings nicht aus, dass sich einzelne Sinnbildungsergebnisse wechselseitig im anderen Medium paraphrasieren und interpretieren lassen, ohne dabei allerdings deren ursprüngliche Sinnprägnanz erreichen zu können.
2. Die gegenstandskonstitutive Kraft von Geschichten Der Beitrag von Geschichten zur Lösung der Aufgabe, aus vielschichtigen unübersichtlichen Phänomenen profilierte Wahrnehmungsgegenstände zu machen, ist nicht leicht zu beschreiben. Diesbezüglich ist es vorteilhaft, sich Rechenschaft darüber abzulegen, welchen Beitrag Geschichtserzählungen dazu leisten, dass wir uns von dem komplexen Phänomen Geschichte eine konturierte Vorstellung machen können, und anschließend danach zu fragen, ob wir dieses Modell auf die Wahrnehmung von Sprache übertragen können. Zwar lässt sich sicherlich nicht in dem gleichen Sinne von erzählter Sprache wie von erzählter Geschichte sprechen, aber gleichwohl gibt es große Analogien zwischen dem Verfahren, sich die Phänomene Geschichte und Sprache auf narrative Weise zu erschließen und zu objektivieren. Geschichte und Sprache sind sicherlich keine Phänomene, die sich von vornherein als Betrachtungsgegenstände so klar und sinnvoll abgrenzen lassen wie beispielsweise die Phänomene Hund, Baum oder Haus. Sie gewinnen vielmehr erst dann als Betrachtungsgegenstände und Analyseobjekte Kontur, wenn wir sie als Konstitute von bestimmten kognitiven Anstrengungen ansehen, die je nach Wahl der Objektivierungsstrategie in unterschiedlicher Weise in Erscheinung treten können. So ist beispielsweise ganz offensichtlich, dass wir uns von dem Phänomen Geschichte ganz verschiedene Vorstellungen machen können, je nachdem ob wir es uns über den Blick auf historische Hinterlassenschaften und Monumente, über die chronologische Abfolge von Einzelereignissen, über die Struktur von Entscheidungsprozessen, über strukturanalytische soziologische Untersuchungen, über geschichtsphilosophische Spekulationen oder über historische Erzählungen objektivieren. In jeder dieser Zugangsweisen nehmen wir Geschichte hinsichtlich ganz anderer Aspekte wahr. Aufschlussreich ist, dass der Terminus Geschichte, der wortgeschichtlich auf das ahd. Verb giskehan zurückgeht, ursprünglich nur einen Einzelfall im Sinne des lateinischen Terminus casus bezeichnete. Deshalb wurde zunächst auch immer recht klar zwischen der Geschichte als Einzelereignis und der Historie als dessen erzählerischer Objektivierung unterschieden. Erst ab dem
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16. Jahrhundert wurde es üblich, mit dem Terminus Geschichte sowohl den faktischen Ereigniszusammenhang als auch dessen sprachliche Darstellung zu bezeichnen. Im 18. Jahrhundert wurde dann der Terminus Geschichte als ein Kollektivsingular verwandt, mit dem der innere Zusammenhang von Einzelgeschichten im Hinblick auf eine umfassende Gesamtgeschichte benannt werden konnte. Droysen hat das im 19. Jahrhundert auf die folgende einprägsame Formel gebracht: ,^iber über den Geschichten ist die Geschichte."5 Diese mit dem Terminus Geschichte verbundene Begriffsgeschichte dokumentiert sich auch sehr gut in der von Hegel thematisierten Spannung zwischen einem Geschichtsverständnis, das auf die Menge der Einzelereignisse Bezug nimmt (res gestae) und einem solchen, das auf die Darstellung der Geschichte als kohärenten Zusammenhang von Ereignissen Bezug nimmt (historia rerum gestarum). 6 Schon im 18. Jahrhundert hatte Chladenius ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Einbettung von konstatierbaren Einzelbeobachtungen bzw. Fakten in eine kohärente Erzählung als eine „ Verwandlung der Geschichte ins Sinnreiche" zu beurteilen sei, insofern einzelne Wahrnehmungen von einem bestimmten Sehepunkt her aus einem unübersichtlichen Konglomerat von Beobachtungen selektiert, hierarchisch geordnet, ethisch bewertet und im Hinblick auf ganz bestimmte Sinnbildungsziele miteinander verknüpft werden. 7 Das bedeutet, dass erst durch die erzählerische Darstellung aus einer Menge von Details Geschichte als ein kohärenter Vorstellungs- und Sinnzusammenhang 'gemacht' wird. Die Erzählung von Geschichte macht so gesehen aus dem Chaos von Details erst einen geordneten Kosmos bzw. eine fassbare Sinngestalt. Diese gegenstandskonstitutive Funktion der narrativen Geschichtsobjektivierung ermöglicht es auch, aus dem überlieferten Quellenmaterial immer wieder neue Sinnzusammenhänge herauszupräparieren und von neuen Sehepunkten aus neue Aspekte der Geschichte sichtbar zu machen. Nietzsche hat diesen Tatbestand, dass Geschichte aus der sinnreichen Verknüpfung von Elementen resultiert und insbesondere in narrativen Objektivierungsprozessen gleichsam immer wieder neu erzeugt wird, auf eine eindrucksvolle Formel gebracht, die nur vordergründig paradox ist: „Es ist gar nicht abzusehen, was alles einmal noch Geschichte sein wird.uS Diese Geschichtsauffassung, in der Geschichte als ein plastisches Phänomen erscheint, das insbesondere in Geschichtserzählungen immer wieder eine neue Gestalt bekommen kann, weil Geschichte gleichsam mit dem zusammenfällt, was man von ihr weiß und wie man das Gewusste miteinander verknüpft, 5
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J G. Droysen, Historik, 1937, S. 354. Vgl. auch R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1989, S. 50ff. G.W.F. Hegel, Werke, 1986, Bd. 12, S. 83, Bd. 18, S. 132. J.H. Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, 1752/1985, S. 29. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 34, Werke, Bd. 2, S. 62.
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kann natürlich kontrovers beurteilt werden. Theodor Lessing hat sich nicht gescheut, die Geschichte in Form von erzählter Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen" zu bezeichnen und als „egozentrische Selbstbezüglichkeit des Geistes" zu brandmarken. Deshalb hat er dann auch die Geschichtsschreibung mit dem Vorwurf der Illusionsbildung und der Fiktionalisierung konfrontiert. „Die Geschichte, das sind die Vorurteile der Historiker in Erzählung gebracht."9 Es ist nun offensichtlich, dass bei der Ausbildung unserer Vorstellung von Geschichte die narrative Objektivierung von Geschichte eine sehr viel intensivere gegenstandskonstitutive Funktion ausübt als die narrative Objektivierung von Sprache bei der Ausbildung unserer Vorstellung von Sprache. Das liegt vor allem daran, dass wir von der Sprache immer schon eine ausgeprägtere persönliche Erfahrung haben als von der Geschichte und dass wir von der Sprache in Gestalt unseres Sprachgefühls auch immer schon ein sehr umfassendes intuitives Wissen besitzen, das nicht so leicht manipulierbar ist. Dennoch ist sicher nicht zu leugnen, dass unser explizites und argumentativ verwertbares Wissen von Sprache auch nachhaltig durch die narrativen Objektivierungen von Sprache geprägt wird, da diese unsere persönlichen Erfahrungen mit Sprache ausweiten und uns ganz bestimmte Dimensionen von Sprache in exemplarisch verdichteter Weise zugänglich machen. Üblicherweise fällt uns Sprache als eigenständiges Phänomen und als Vermittlungsinstanz zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre bzw. als kognitives und kommunikatives Werkzeug gar nicht auf, weil wir gedanklich immer bei den Sachverhalten sind, die durch Sprache bewusstseinsmäßig präsent gemacht werden. Erst wenn die Sprache auf unübliche Weise verwendet wird (metaphorischer Sprachgebrauch) oder wenn sie nicht so funktioniert, wie wir es eigentlich erwarten (Missverständnisse), dann tritt uns Sprache als eigenständiges Phänomen bzw. als eigenständige Macht entgegen. Und eben daraus ergeben sich dann auch die Ursachen und Motive, Geschichten über Sprache zu erzählen. Je mehr Geschichten über Sprache erzählt werden, seien sie nun tatsächlich erlebt oder nur gut erfunden, desto mehr Aspekte von Sprache lernen wir kennen und desto differenziertere und umfassendere Vorstellungen von Sprache können wir uns machen. Ganz parallel zu dem Diktum Nietzsches über die Geschichte lässt sich vielleicht auch über die Sprache sagen, dass es noch gar nicht ausgemacht ist, welche Vorstellungen von Sprache wir uns noch machen können. Die Sprache kann dann ebenso wie die Geschichte als ein plastisches Phänomen angesehen werden, dessen Gestalt nicht nur von unseren begrifflichen, sondern auch unseren narrativen Objektivierungsformen abhängig ist. Natürlich kann weder der Historiker noch der Sprachwissenschaftler auf empirische Forschungen zur Ermittlung und Sicherung von Daten verzichten 9
Th. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, 1919/1983, S. 63 und S. 27.
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und erwarten, dass alles Wissen über Geschichte und Sprache sich aus guten Erzählungen ableiten lässt. Aber gleichwohl wird man einräumen müssen, dass die narrative Darstellung von Geschichte und Sprache einen außerordentlichen Einfluss darauf hat, wie Geschichte und Sprache im Bewusstsein einer Kultur, einer Epoche oder eines Individuums präsent ist und in welchen Relationsgeflechten diese Phänomene Gestalt gewinnen können. Ebenso wie wir uns nicht frei entscheiden können, ob wir im strukturbildenden Raum der Geschichte leben wollen oder nicht, so können wir auch nicht wählen, ob wir im strukturbildenden Räume der Sprache leben wollen oder nicht, weil wir in diesem Raum immer schon eingebunden sind. Allerdings hängt es von uns ab, wie wir diese Räume strukturieren und uns in sie eingliedern. Wie wir den Raum der Sprache als Sinnraum erleben und wie wir ihn uns explizit oder implizit präsent machen, das hängt sicherlich nicht nur von den begrifflichen Objektivierungsformen der Sprachwissenschaft und der Sprachphilosophie ab, sondern auch von denjenigen, mit denen wir in den Erzählungen über Sprache bekannt gemacht werden, bzw. von denjenigen, die uns beim konkreten Gebrauch der Sprache begegnen. Gerade die narrativen Objektivierungsformen des Phänomens Sprache repräsentieren uns gut fassbare und gut memorierbare Vorstellungen von Sprache, deren Prägnanz von den begrifflichen Objektivierungsformen kaum erreicht werden kann. Nicht unbeachtet sollte außerdem bleiben, dass man in Erzählungen nicht nur etwas über die jeweils thematisierten Phänomene erfährt, sondern auch etwas über diejenigen, die etwas erzählen, oder über diejenigen, die sich für das Erzählte interessieren. Über Erzählungen finden wir nicht nur einen Zugang zu der jeweils ins Auge gefassten Objektsphäre, sondern auch zu der Subjektsphäre, aus der die jeweilige Objektsphäre in den Blick genommen wird. Dabei ist nicht nur an individuelle Personen zu denken, sondern in einem erweiterten Sinne auch an individuelle Epochen und Kulturen. Die narrativen Formen der Sprachreflexion eröffnen uns so gesehen auch immer gute Zugänge zur Mentalitätsgeschichte, weil aus ihnen historische und kulturelle Sehepunkte für die perspektivische Erschließung des Phänomens Sprache rekonstruiert werden können.
3. Die Erkenntniskraft von Geschichten Wenn wir Erkenntnis mit dem begrifflich formulierten Gegenstandswissen von Phänomenen identifizieren, das in Aussageformen objektivierbar ist, die sinnvoll mit der Wahrheitsfrage konfrontiert werden können, dann haben narrative Objektivierungsformen als Manifestationsformen von Erkenntnis keine große Bedeutsamkeit. Eine andere Lage ergibt sich allerdings dann, wenn wir zwischen einem wissenschaftlichen Gegenstandswissen und einem philosophischen Reflexionswissen unterscheiden und letzteres als ein Wissen ansehen,
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das neben dem jeweiligen Gegenstandswissen auch ein Metawissen über die Konstitutionsbedingungen und den Stellenwert des Gegenstandswissen umfasst. Unter diesen Umständen gehört es dann zum genuinen Aufgabenbereich der Philosophie, sich auch mit der Qualität der verschiedenen Manifestationsformen von Wissen zu beschäftigen und damit natürlich auch mit der Qualifizierung des Wissens, das sich in narrativen Formen objektiviert hat. Vielleicht könnte man dann auch das Erzählen von Geschichten bzw. die Ausbildung von Gleichnissen und Parabeln als eine Form des Philosophierens betrachten, weil sich darin eine spezifische Sinnbildungsanstrengung manifestiert. So hat beispielsweise Schopenhauer betont, dass alle Begriffsbildung im Grunde auf Gleichnissen beruhe, da sie aus dem Auffassen des Ähnlichen und dem Fallenlassen des Unähnlichen in den Dingen erwachse. „Eben weil Gleichnisse ein so mächtiger Hebel für die Erkenntniß sind, zeugt das Aufstellen überraschender und dabei treffender Gleichnisse von einem tiefen Verstände."10 In diesem Zusammenhang lässt sich nicht nur darauf verweisen, dass Sokrates sein argumentatives Philosophieren immer wieder durch ein narratives ergänzt hat und dabei Geschichten erzählt, deren philosophische Relevanz sich allein aus ihrer immanenten Plausibilität ergeben soll, sondern auch auf Aristoteles, der den narrativen Objektivierungen von Problemen ebenfalls eine spezifische philosophische Relevanz zugesprochen hat. Er hat ausdrücklich betont, dass der Freund der Mythen und Sagen in gewisser Weise immer auch als Philosoph anzusehen sei. Beide hätten gemeinsam, nach den ersten Ursachen und Prinzipien des Wissens zu fragen, und beide müssten die Freiheit besitzen, über das anscheinend Selbstverständliche ins Staunen geraten zu können, das ja nach einer auch von Sokrates vertretenen Auffassung den Anfang und die Grundlage der Philosophie bilde. 11 Für Aristoteles ist daher die Dichtung als fiktionale Darstellung bzw. als Erzählung auch „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung, weil die Dichtung seiner Meinung nach immer auf die Darstellung von etwas Allgemeinem abziele, während die Geschichtsschreibung seiner Meinung nach nur als Bericht über empirische Einzelereignisse anzusehen sei.12 Dabei zieht er allerdings nicht in Betracht, dass die Geschichtsschreibung keineswegs nur als chronologischer Bericht über Ereignisfolgen zu werten ist, sondern zugleich auch als eine Repräsentation von komplexen Korrelationszusammenhängen, die auf exemplarische Weise über ihre eigene Faktizität hinausweisen. Wenn wir die philosophische Relevanz von Geschichten beurteilen wollen, dann müssen wir uns auch Gedanken über die Relation von Kognition und 10 11
12
A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, § 289, Werke, 1988, Bd. 5, S. 479. Aristoteles, Metaphysik, Buch I, Kap. 2, 982a-b, Philosophische Schriften, Bd. 5, S. 4ff. Piaton, Theaitet, 155d, Werke, Bd. 4, S. 120. Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1451a, 1994, S. 29.
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Kommunikation machen. Die Absicht, einem anderen etwas mitzuteilen, ist immer mit dem inneren Zwang verbunden, dieses Vorhaben in konventionalisierten Sprachformen zu verwirklichen, die j a zugleich auch kognitive Strukturierungsformen sind. Das lässt sich vielleicht auf die These zuspitzen, dass man selbst das Mitzuteilende auch erst dann wirklich richtig verstanden hat, wenn man es in intersubjektiv verständlichen Formen für andere objektiviert hat. Das bedeutet, dass kommunikativ orientierte Perspektivierungsprozesse auf genuine Weise immer auch mit kognitiv orientierten verschränkt sind. Dementsprechend bedeutet, eine Sache zu verstehen, diese Sache in allgemeinen Objektivierungsmustern sich selbst und anderen verständlich machen zu können. Das Verhältnis von Kognition und Kommunikation ist so gesehen nicht als ein Verhältnis zu werten, in dem der Erwerb von Erkenntnis und die Mitteilung von Erkenntnis klar voneinander zu trennen wären, sondern vielmehr als ein Verhältnis, das jedes Verfahren zur Konstitution von Erkenntnissen grundlegend prägt. Phänomene lernen wir nicht dadurch kennen, dass wir sie bloß betrachten, sondern vielmehr dadurch, dass wir sie in Handlungsprozesse einbeziehen. Dazu gehört nicht nur ihre Einbindung in praktische Handlungen, sondern auch ihre Einbindung in intersubjektiv nachvollziehbare begriffliche oder narrative Objektivierungsprozesse. Diese Grundauffassung hat Wittgenstein dann auch dazu gefuhrt, die Idee des Sprachspiels zu entwickeln und die Bedeutung von Wörtern nicht direkt aus den jeweiligen ontischen Referenzobjekten abzuleiten, sondern vielmehr aus ihrem Gebrauch in der Sprache. 13 Ganz ähnlich haben vor ihm nicht nur Humboldt sondern auch Lambert argumentiert: „Denn da entsteht der Begriff, den man mit dem Worte verbindet, aus den Redensarten, in welchen das Wort gebraucht wird, und man richtet die Definition so ein, daß sie diesen Redensarten und Sätzen nicht zuwiderlaufe,"14 In diesem Zusammenhang kann man auch auf die so genannte pragmatische Maxime von Peirce aufmerksam machen. Diese besagt, dass wir die Bedeutung eines Wortes bzw. den Inhalt eines Begriffs letztlich aus den Wirkungen abzuleiten haben, die die jeweiligen Bezugsphänomene der Begriffe in Handlungsprozessen auf uns ausüben. Deshalb ist für ihn bei der Beurteilung von Erkenntnisinhalten auch eine biblische Maxime sehr bedeutsam: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.15 In neuerer Zeit hat sich insbesondere der Phänomenologe Schapp darum bemüht herauszuarbeiten, dass die kognitive Erfassung von Phänomenen keine kontemplative, sondern eine aktionale und kommunikative Wurzel habe. Er hat betont, dass die angenommene innere Einheit von Phänomenen eigentlich weniger aus metaphysischen Wesensspekulationen abgeleitet werden solle, 13
14 15
Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 23 u. 43, Werkausgabe, Bd. 1, S. 250 und S. 262. J.H. Lambert, Neues Organon, Bd. 2, Semiotik, § 351, 1764/1990, S. 642. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.402.
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sondern eher aus der Einheitlichkeit der Geschichten, in denen diese Phänomene jeweils verstrickt seien. 16 Ebenso wie man eine Person dadurch am besten kennen lerne, dass man sich eine Kenntnis der Geschichten verschaffe, in die sie verstrickt sei, so lerne man auch Dinge am besten dadurch kennen, dass man sich vergegenwärtige, in welche Geschichten sie eingebunden seien oder sein könnten. Anthropologisch vertritt er sogar die Grundüberzeugung, das Mensch-Sein hieße, in Geschichten verstrickt zu sein bzw. sich in Geschichten verstricken zu lassen. Diese Auffassung versucht er sowohl ontologisch als auch sprach- und kommunikationstheoretisch plausibel zu machen. Ontologisch macht er geltend, dass wir als Menschen die Dinge ursprünglich nie in kontemplativer Schau als isolierte Einzeldinge wahrnehmen würden, sondern immer nur als Bestandteile von Handlungsprozessen, also als Wozu-Dinge. Die isolierte Vergegenständlichung von Phänomenen als Objekte einer theoretischen Betrachtung sei erst das Resultat einer nachträglichen besonderen methodischen Anstrengung. Sprachtheoretisch ergibt sich aus dieser Auffassung für ihn die Konsequenz, Wörter primär nicht als Stellvertreter für Begriffe zu verstehen, sondern als Überschriften für Geschichten, und ihre Bedeutung aus der Erinnerung an faktische Geschichten oder aus der Erwartung von möglichen Geschichten abzuleiten, in die sie verstrickt waren oder sich verstricken können. Dementsprechend setzt die Existenz von Wörtern einerseits immer schon eine Geschichte voraus und ist andererseits immer wieder mit dem Anreiz verbunden, sich neue Geschichten für sie auszudenken. Geschichten sind für Schapp keine Gebilde höherer Art, die ihre Existenz dem Umstand verdanken, dass Gebilde niederer Art nachträglich in bestimmte Beziehungen zueinander gesetzt werden. Er betrachtet Geschichten vielmehr als primäre Phänomene, da sie entstehungsgeschichtlich gesehen die Prämissen von konkreten Gegenstandsvorstellungen sind. „Wir sind durch unsere Untersuchungen zum umgekehrten Ergebnis gekommen, daß gerade Geschichten das Grundlegende sind und erst aus den Geschichten Menschen, Tiere und Häuser hervortreten,"17 Das Verstehen von Geschichten wird von ihm durch die Möglichkeiten der Rezipienten bedingt, sich selbst in die jeweiligen Geschichten zu verstricken. ,JvIan kann an der Geschichte auch nicht unterscheiden Kenntnis der Geschichte und Verstricktsein in die Geschichte, sondern beides fällt zusammen. Man ist in die Geschichten soweit verstrickt, wie man sie kennt, und man kennt sie soweit, als man darin verstrickt ist.iM So gesehen haben Geschichten zwar einen Beginn und einen Schluss, aber sie haben weder Anfang noch Ende, weil sie sowohl nach vorne als auch nach
16 17 18
W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 1976 2 . W. Schapp, Philosophie der Geschichten, 19812. W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 1976 2 , S. 85. W. Schapp, a.a.O., S. 86.
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hinten mit anderen Geschichten verwoben sind. Geschichten haben Vorgeschichten und Nachgeschichten, die sich im Halbdunkeln verlieren. Der Sinn von Einzelgeschichten lässt sich deshalb auch schwerlich von dem Sinn der mit ihnen verbundenen oder verbindbaren faktischen oder erzählten Geschichten abgrenzen, insofern jede Geschichte eine Teilgeschichte ist, die zu anderen Geschichten in der Relation der Voraussetzung, der Analogie, des Kontrastes oder der Fortfuhrung steht. Die Textwissenschaft hat diesen Tatbestand dann ja auch durch den Begriff der Intertextualität thematisiert. Wenn wir die Funktion von Geschichten für Erkenntnis- und Sinnbildungsprozesse in dieser Perspektive sehen, dann wird auch deutlich, dass sich der Sinn von Geschichten immer aus einer gewissen Mitpräsenz von Vergangenheit und Zukunft ergibt, die sich in Form von erinnerten oder erwartbaren Geschichten manifestiert. Für Schapp sind deshalb Geschichten eigentlich nicht Phänomene in der Welt, sondern elementare Konstitutions- und Repräsentationsweisen von Welt. „Für die Tradition sind Geschichten und ist Geschichte irgendetwas in der Welt. Für uns fällt Welt und Geschichte, in die wir verstrickt sind, zusammen. Für uns ist Welt nur in der Geschichte oder zunächst in den Geschichten, in die der einzelne verstrickt oder mitverstrickt ist."19 Geschichten lenken im Gegensatz zu Begriffen und Behauptungen unseren Blick von vornherein nicht auf statische, sondern auf dynamische Strukturzusammenhänge, weil sie von der Darstellung einer Handlungsdynamik leben und sich dementsprechend primär immer für die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Phänomenen interessieren müssen. Die narrative Thematisierung von Sprache ist deshalb auch als eine Form der Erkenntnis anzusehen, die von vornherein nicht auf eine abschließende Wissenskonstitution in einer bestimmten Wahrnehmungsperspektive angelegt ist, sondern auf eine Form der Wissenskonstitution, die die Verwobenheit von Sprache mit menschlichen Handlungs- und Lebenssituationen aufzuzeigen versucht. Während die begrifflichen Formen der Sprachreflexion grundsätzlich dazu neigen, nur solche Fragen an die Sprache zu stellen, die gelöst bzw. beantwortet werden können, sind die narrativen Formen primär daran interessiert, die mit Sprache verbundenen oder verbindbaren Probleme auf exemplarische Weise präsent zu machen und damit die Voraussetzungen dafür zu liefern, zielgenaue Fragen an die Sprache zu stellen. Weil die narrativen Formen der Sprachreflexion keine Antworten geben wollen, sondern vielmehr Denkperspektiven zu eröffnen versuchen, sind ihre Mitteilungen auch nicht mit der Wahrheitsfrage in dem traditionellen korrespondenztheoretischen Sinne zu verbinden, sondern allenfalls mit einer Wahrheitsfrage, die Wahrheit mit dem Konzept der Fruchtbarkeit in Zusammenhang bringt. Der Geschichtenerzähler Peter Bichsei hat das auf eine prägnante Formel gebracht: „ Während ich Ge19
W. Schapp, a.a.O., S. 143.
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schichten erzähle, beschäftige ich mich nicht mit der Wahrheit, sondern nur mit der Möglichkeit der Wahrheit"20 Die narrativen Formen der Sprachreflexion haben deshalb einerseits eine genuine Relation zur Philosophie, sofern deren Aufgabe eher darin gesehen wird, Fragen zu stellen als Antworten zu geben, und andererseits eine genuine Relation zur Kunst, sofern deren Aufgabe eher darin gesehen wird, Altbekanntes auf neue Weise sichtbar zu machen als schon Bekanntes abzubilden. Der Philosoph Odo Marquard sieht in der perspektivischen Flexibilität narrativer Objektivierungsprozesse einen Wert, der in der Welt der begrifflich orientierten wissenschaftlichen Rationalität immer wichtiger werde, weil er die Grundlage für eine wachsende Kompensationsfunktion des Erzählens sei. Rationalisierungen machen die Narrationen nicht obsolet; ganz im Gegenteil: sie erzwingen Erzählungen mit neuen Formen der Erzählung. Je mehr wir rationalisieren, umso mehr müssen wir erzählen. Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird die Erzählung: Narrare necesse est."21 Das Erzählen ist für Marquard eine Form der Sinnbildung, die für ihn unverzichtbar ist, weil das Erzählen sowohl eine Voraussetzung als auch ein Sicherungsinstrument menschlicher Freiheit darstelle. Deshalb scheut er sich auch nicht, von einer ,,Mylhenpßichtigkeit der Menschen" zu sprechen, da er in der „polymythischen Geschichtenvielfalt'' eine Form der „Gewaltenteilung" sieht. 22 Die Vielfalt von Geschichten würde uns von den Denk- und Wahrnehmungszwängen eines Monomythos befreien, zu dem alle Formen des Monotheismus und des begrifflichen Denkens von Natur aus neigten. Marquard schätzt den variablen Polyperspektivismus und die vielfältigen Andeutungsfunktionen von Geschichten, weil dadurch normative Denkzwänge aufgehoben würden. Deshalb fordert er auch für die Philosophie ausdrücklich das Recht, wieder erzählen zu dürfen, obwohl er die „Entsetzensschreie der Innung' und ihre Warnungen vor einem allgemeinen Relativismus und Skeptizismus ahnt. „Die Geschichten müssen wieder zugelassen werden: gut gedacht ist halb erzählt; wer noch besser denken will, sollte vielleicht ganz erzählen: die Philosophie muß wieder erzählen dürfen und dafür — natürlich - den Preis zahlen: das Anerkennen und Ertragen der eigenen Kontingenz,"23 Diese Wertschätzung der Erkenntnisfunktion von narrativen Objektivierungen, die uns davor bewahren soll, begriffliche Wahrnehmungsweisen als absolut gültig zu setzen, und nicht mehr in Betracht zu ziehen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse von heute durchaus zum Aberglauben von morgen werden können, darf uns den Blick allerdings nicht dafür trüben, dass narrative Objektivierungsweisen auch blind für bestimmte Strukturzusammenhänge sind 20 21 22
23
P. Bichsei, Der Leser. Das Erzählen, 1983 3 , S. 11. O. Marquard, Philosophie des Stattdessen, 2000, S. 63. O. Marquard, Lob des Polytheismus, in: H. Poser (Hrsg.), Philosophie und Mythos, 1976, S. 4546. O. Marquard, a.a.O., S. 57.
Die Implikationen narrativer Gegenstandsobjektivierungen
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bzw. psychische Anforderungen stellen, die durchaus als belastend empfunden werden können. Geschichten fuhren Wissensbildungsprozesse nicht zu einem Abschluss, sondern verweisen immer auf ergänzende Geschichten. Sie stillen nicht die heimliche Sehnsucht nach gesichertem Wissen und verlässlichen Denkperspektiven, sondern zwingen die Rezipienten immer wieder zu einer Aufgabe von vertrauten Sehepunkten und zu einer geistigen Eigenbewegung. Geschichten provozieren Fragen und fuhren in einen agonalen Wettstreit, um mit diesen geistig fertig zu werden. Sie können nicht nur die Funktion einer sokratischen Hebamme übernehmen, sondern auch die Funktion eines sokratischen Zitterrochens, der diejenigen erstarren lässt, die von ihm berührt werden. 24 Geschichten halten Sinnbildungsprozesse immer im Fluss, aber dieses kann nur dann genossen werden, wenn es als eine befreiende Alternative zu einer begrifflichen Verholzung von Wissen erlebt werden kann. Dabei ist dann auch zu bedenken, dass das Wachstum und die Verholzung von Wissen sich wechselseitig bedingen. Das Beispiel von Bäumen zeigt, dass diese ihre Krone nicht ohne Rückhalt an einen festen Stamm entfalten können. Geschichten über Sprache wollen uns naturgemäß kein kohärentes propositionales Wissen über Sprache vermitteln, sondern uns mit Sprache im Kontext von Handlungen bekannt machen. Deshalb haben narrative Sprachreflexionen einerseits eine propädeutische Funktion für begriffliche Sprachreflexionen, insofern sie unseren Erfahrungs- und Beobachtungsbereich von Sprache ausweiten und uns auf bestimmte Problemfelder aufmerksam machen, aber andererseits auch eine transzendierende Funktion für begriffliche Sprachreflexionen, insofern sie auf die blinden Flecke der Sprachwissenschaft und der Sprachtheorie aufmerksam machen. Um das genauer beurteilen zu können, ist es sinnvoll, die besonderen Strukturen narrativer Sinnbildungsprozesse genauer zu untersuchen, damit deutlich wird, dass das Erzählen eine ganz spezifische Form geistiger Sinnbildungsanstrengungen ist.
4. Die Implikationen narrativer Gegenstandsobjektivierungen Die Struktur narrativ objektivierter Vorstellungsinhalte ist durch ganz bestimmte Prämissen und Konsequenzen geprägt. Diese sollte man sich vergegenwärtigen, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, welche Phänomene sich für eine narrative Objektivierung anbieten bzw. worauf sich unsere Aufmerksamkeit bei einem solchen Darstellungsverfahren richtet. Das bedeutet, dass in der Wahl narrativer Repräsentationsstrategien auch immer bestimmte ontologische Grundüberzeugungen zum Ausdruck kommen. Wer substanzorientiert denkt und nach dem Wesen der Phänomene fragt, der wird dazu 24
Piaton, Menon, 80a-d, Werke, Bd. 2, S. 20.
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neigen, sein Wissen in begrifflichen Formen zu objektivieren. Wer funktionsorientiert denkt und die Phänomene als Wozu-Dinge sieht, der wird dazu neigen, sein Wissen in narrativen Formen darzustellen. Wer Wörter als Stellvertreter für Denkmuster ansieht, wird begriffliche Formen der Sprachreflexion bevorzugen. Wer Wörter als Überschriften für Geschichten betrachtet, der wird narrative Formen der Sprachreflexion favorisieren. Wer Sprache primär als konventionalisiertes Zeichensystem gewertet wissen will, der wird die begrifflichen Formen der Sprachreflexion für angemessen halten. Wer Sprache primär als kognitives und kommunikatives Werkzeug ansehen möchte, der wird neben den begrifflichen auch die narrativen Formen der Sprachreflexion goutieren können. Anthropologisch gesehen lässt sich sicher sagen, dass Einzeldinge für die Menschen sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch zunächst immer funktional als Wozu-Dinge in Erscheinung treten und nicht kategorial als Seins-Dinge. Ein Hund erscheint in ursprünglichen Wahrnehmungsprozessen primär nicht als ein Schäferhund oder als ein Säugetier, sondern als ein Lebewesen, das bellt, beißt oder schützt und eben über diese Aktionsmöglichkeiten mit der Welt des Menschen verstrickt ist. Ebenso erscheint uns ein Stein nicht als ein Mineralgebilde, sondern als eine Waffe oder als ein Baustein. Da uns Phänomene in elementaren Wahrnehmungen immer als Elemente von aktionalen Zusammenhängen begegnen, haben wir auch keine Hemmungen, sie emotional zu bewerten und unser Wissen über sie in Form von Erlebnisgeschichten zu konkretisieren und zu vermitteln. Die aktionale geistige Repräsentation von Dingen, die sowohl die Phänomenologen als auch die Entwicklungspsychologen immer wieder als grundlegende kognitive Interpretationsform von Welt betrachtet haben, ist kulturgeschichtlich allerdings immer wieder als eine Vorform des eigentlichen Wissens abgewertet worden, die allenfalls bei Kindern oder bei archaisch denkenden Menschen toleriert werden könne. Insbesondere Hegel hat wie schon erwähnt geltend gemacht, dass man die Anstrengung des Begriffs nicht scheuen dürfe und dass das Wissen in Form von Begriffen seine endgültige Form gewinnen müsse. In Begriffen, die für ihn allerdings dialektisch zu verstehen sind, würden alle anderen Wissensformen im mehrfachen Sinne des Wortes aufgehoben (beseitigt, emporgehoben, bewahrt). Ob nun diese Hierarchisierung von Wissensformen absolut zwingend ist und ob der Weg von den aktionalen bzw. narrativen zu den begrifflichen Objektivierungsformen nur als Fortschrittsgeschichte und nicht auch als Verlustgeschichte zu werten ist, das ist wohl noch eine Frage für sich. Sie wird sich erst dann beantworten lassen, wenn man sich eine größere Klarheit über die kognitiven Implikationen narrativer Objektivierungsformen verschafft hat und dabei auch die vielen Übergangsformen zu den begrifflichen Objektivierungsformen berücksichtigt, wie sie etwa in Fabeln, in Aphorismen oder in Meta-
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phern zum Ausdruck kommen, die allesamt eine Tendenz haben, Wissen nicht in statischen, sondern in dynamischen Repräsentationsformen zu objektivieren. Wenn man auf begriffliche Weise reflektiert, dann gibt es eine immanente Tendenz, die ins Auge gefassten Phänomene als eigenständige Gebilde anzusehen, die erst nachträglich auf Grund ihrer besonderen Eigenschaften in bestimmte Relationszusammenhänge gebracht werden können. Wenn wir nun Phänomene auf narrative Weise objektivieren, dann kann das natürlich als ein didaktisches Verfahren verstanden werden, das dazu dient, die den Begriffen zu Grunde liegenden Isolations- und Abstraktionsprozess zunächst einmal wieder rückgängig zu machen, um den Entstehungsprozess von Wissen Schritt für Schritt von der Anschauung bis zum Begriff besser verständlich machen zu können. Es lässt sich nun aber auch die Auffassung vertreten, dass narrative Objektivierungsverfahren als eigenwertige Interpretations- bzw. Wissensbildungsverfahren zu betrachten sind. In ihnen würde man dann Phänomene nicht dadurch kennen lernen, dass man sie vorgegebenen Kategorien zuordnet, sondern vielmehr dadurch, dass man gleichsam auf experimentelle Weise Situationen arrangiert, in denen sie im Kontext von Handlungen und Ereignissen etwas von sich preisgeben, was in rein kontemplativen Wahrnehmungsprozessen in der Regel verborgen bleibt. So gesehen würde die kognitive Funktion der narrativen Objektivierung von Phänomenen dann darin bestehen, diese in Geschichten zu verstricken, in denen sich bestimmte Handlungen überlagern, durchkreuzen oder in Konflikt miteinander geraten und uns eben dadurch die Chance geben, die jeweiligen Phänomene in Kontexten und Spannungsverhältnissen kennen zu lernen, die in theoretischen Kontemplationen kaum fassbar sind. Der Spannungsreiz von Geschichten besteht dann darin, dass man nicht weiß, ob sich die Intentionen der Protagonisten verwirklichen lassen bzw. ob diese die jeweiligen Bedingungsverhältnisse richtig eingeschätzt haben. Der kognitive Erkenntniswert von Geschichten ergibt sich dementsprechend daraus, dass man gerade bei der Suche nach den Gründen für die Misserfolge von Handlungen Aspekte der jeweils thematisierten Phänomene kennen lernt, die außerhalb der Reichweite der Hypothesen liegen, die die jeweiligen Protagonisten oder man selbst zunächst für sie entworfen hat. Wenn sich das Ende einer Geschichte stringent auf deduktive Weise aus den Anfangsprämissen und Intentionen der handelnden Personen ableiten ließe, dann wäre sie fade und würde unser Wissen nicht erweitern, sondern allenfalls exemplifizieren. Die Faszination von Geschichten resultiert einerseits aus der Spannung zwischen den jeweiligen Handlungszielen und Handlungsergebnissen und andererseits aus den nicht erwarteten Nebeneffekten von Handlungen. Geschichten, die wie erwartet enden, sind eigentlich keine Geschichten, da sie weder einen Spannungsreiz noch eine kognitive Relevanz haben. „Nicht das, was einer Handlungsrais on folgt, wird erzählt, sondern das, was ihr nicht folgt, indem man ihr folgt... Die Inkongruenz dessen, was
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geschieht, mit der Handlungsrais on derer, die es bewirkten, konstituiert die Geschichte,.."25 Zur Spannungsstruktur von Geschichten gehört sicher der Zufall. Aber die so genannten Zufälle sind meist gar nicht so zufällig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Auch Zufälle haben ihre Vorgeschichte bzw. ihre Einbindung in Kausalrelationen. Allerdings stehen sie in Kausalketten, die die Beteiligten nicht sehen konnten oder nicht sehen wollten. Von Zufall sprechen deshalb insbesondere diejenigen gerne, die ihre Handlungsziele nicht erreicht haben oder die später gemerkt haben, in wie engen Denkperspektiven sie jeweils wahrgenommen und gehandelt haben. Als Zufall wird oft das bezeichnet, was eigentlich nicht sein kann, weil es nach unserem Denken nicht sein darf. Deshalb lassen sich über die angeblichen Zufälle auch die blinden Flecke unserer Wahrnehmungen und unserer Theoriebildungen ausmachen. Geschichten, in denen Zufälle auftauchen, lassen sich dementsprechend auch als Gegenstände ansehen, an denen wir die perspektivische Flexibilität unseres Denkens wach halten und schulen können, um nicht Gefangene eines vorgegebenen Wissens bzw. eines Monomythos zu werden. Zu beachten ist nun, dass in Geschichten Zufälle nicht rein zufallig aktuell werden, sondern vielmehr erzählerisch konzipierte und strukturierte Zufälle sind und eben dadurch ihre spezifische heuristische Funktion bekommen. Der Geschichtenerzähler ist kein bloßer Registrator von Ereignissen, auch wenn er diesen Anschein zu erwecken versucht. Er selektiert und arrangiert die Elemente seiner Geschichte aus der Kenntnis des Ausgangs der Geschichte und kann eben dadurch die Spannung zwischen Zielen und Ergebnissen, Motiven und Kräften, Ursachen und Folgen, Handlungen und Handlungsimplikationen auf eine Weise ordnen, die fur die Konkretisierung bestimmter Einsichten besonders dienlich ist. Am Anfang jeder erzählten Geschichte steht eigentlich ihr Ende, weil alles Erzählte zu diesem passen muss. Selbst wenn sich der Erzähler unwissend stellt, so ist er es nicht, denn sonst könnte er den Faden der Erzählung nicht zu einem sinnbildenden Faden im engeren und weiteren Sinne machen, der dem Rezipienten ebenso hillreich ist, wie der Faden der Ariadne dem Theseus bei seinem Weg aus dem Labyrinth. Nur weil alle Geschichten tiefenstrukturell gesehen im Rückblick erzählt werden, können wir darauf vertrauen, dass alles, was erzählt wird, eine sinnbildende Funktion fur das Ganze hat. Auf ganz ähnliche Weise können wir ja auch darauf vertrauen, dass jedes sich drehende Rad eine Funktion in der Maschine hat, in der es vorgefunden wird. Geschichten gewinnen ihre Kohärenz und ihren Gestaltcharakter dadurch, dass sie einen Anfang haben, der eine bestimmte Erwartungshaltung auslöst,
25
H. Lübbe, Was aus Handlungen Geschichten macht: Handlungsinterferenz; Heterogonie der Zwecke; Widerfahrnis; Handlungsgemengelagen; Zufall, in: J. Mittelstraß/M. Riedel (Hrsg.), Vernünftiges Denken, 1978, S. 241-242.
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einen Mittelteil, in dem sich Handlungen entfalten, überlagern und kreuzen, sowie einen Schluss, der in einer spezifischen Spannung zu den Anfangserwartungen der Protagonisten und der Rezipienten steht und der uns eine neue Perspektive auf die jeweils thematisierten Probleme eröffnet. Geschichten brauchen deshalb im Gegensatz zu Theorien auch den Fluss der Zeit, weil sie kein statisches Sein repräsentieren wollen, sondern das Funktionspotenzial von Sein im Werden bzw. ein werdendes Sein. Das bedeutet, dass sich das Erzählen von Geschichten als eine bestimmte Strategie der Sinnstiftung bzw. der Korrelation von Individuellem und Allgemeinem verstehen lässt. Ein Geschehen wird erst dadurch zur Geschichte, dass seine Elemente auf eine bestimmte Art und Weise miteinander verknüpft werden. Im Erzählen konkretisiert sich ein anderer kognitiver Habitus als im Beschreiben oder Argumentieren, weil Korrelationszusammenhänge eines ganz anderen Typs herausgearbeitet werden. Dadurch ergeben sich dann auch andere Wissensformen und Wissensinhalte. In einer durchgestalteten Geschichte repräsentiert sich das Wissen des Erzählers in ähnlicher Form wie sich im Krug das Wissen des Töpfers und im Bild das Wissen des Malers repräsentieren. Bei der Wahrnehmung von Geschichten konzentriert sich unser Interesse natürlich zunächst auf die Oberflächenspannung zwischen den jeweiligen Handlungsintentionen und Handlungsergebnissen. Im Rückblick auf die ganze Geschichte wird aber tiefenstrukturell ein ganz anderer Spannungsbogen aktuell. Im Hinblick auf ihn konzentriert sich das Interesse darauf, auf welche Fragen die Geschichte zu antworten sucht, welche unausgesprochenen Denkprämissen ihr zu Grunde liegen, auf welchen Ebenen sich in ihr Sinnbildungsanstrengungen manifestieren, zu welchem Zweck sie erzählt wird und wie sie weiter erzählt werden kann bzw. welche Gegengeschichten sich eventuell zu ihr erzählen lassen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass in der Rhetorik insbesondere im Hinblick auf die Gerichtsrede unter narratio die Beweisführung verstanden worden ist. In einer narratio sollte ein Sachverhalt aus der Perspektive einer Partei durch spezifische Selektion und Verknüpfung von Einzelteilen so dargestellt werden, dass er anderen und insbesondere Richtern kohärent, plausibel und glaubwürdig erscheinen konnte. Das bedeutet, dass Geschichten im Sinne einer narratio nur dann ihren pragmatischen Zweck erfüllen können, wenn sie auf den Wissensstand und die Erwartungen der jeweiligen Rezipienten abgestimmt worden sind. Das schließt natürlich nicht aus, dass insbesondere fiktionale Geschichten eben diesen Wissensstand und Erwartungshorizont auch transzendieren können und sogar transzendieren müssen, wenn sie nicht nur eng begrenzten Zwecken dienen wollen. Für die pragmatische Wirksamkeit von Geschichten ist ihre gute Memorierbarkeit eine unabdingbare Voraussetzung. Das Erzählte muss ein klares Vorstellungsbild ergeben, dass sich affirmierend, kontrastierend oder fortfuh-
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rend in die schon vorhandenen Vorstellungen und das schon vorhandene Wissen einfügen muss. Nur wenn Geschichten klar konturierte Vorstellungen erzeugen, können sie kraft Analogie auch ikonisch auf nicht beobachtbare Sachverhalte verweisen und pragmatisch als Exempel verstanden werden. Mythen, Fabeln, Parabeln und Anekdoten dokumentieren das auf besonders eindringliche Weise. Wenn man die These akzeptiert, dass Geschichten über einen konkreten Einzelfall sinnlich nicht direkt beobachtbare Strukturordnungen bildlich veranschaulichen, dann haben sie natürlich eine immanente heuristische Funktion und einen spezifischen Erkenntniswert. Geschichten lassen sich so gesehen einerseits in Konkurrenz zu Theorien dazu verwenden, die Tiefenstrukturen von komplexen Sachverhalten in ganz bestimmter Hinsicht zu objektivieren, und andererseits dazu, komplexe Gedankensysteme und unübersichtliches Wissen übersichtlich zu veranschaulichen. Das hat Nietzsche zu dem folgenden Gedanken inspiriert: ,ytus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anekdoten herauszuheben, und gebe das übrige preis."26
5. Geschichten als hermeneutische Herausforderungen Im Prinzip stellen alle Texte hermeneutische Herausforderungen an ihre Rezipienten, da diese immer in einer natürlichen historischen, sachlichen und medialen Distanz zu ihnen stehen. Beim Verstehen von Texten müssen immer bestimmte Verstehensbarrieren überwunden werden, die sich aus unzureichenden aktuellen und historischen Sprachkenntnissen, aus lückenhaftem Sachwissen oder aus unvertrauten Denk- und Repräsentationsformen ergeben. Gerade narrative Objektivierungsformen stellen dabei oft noch größere hermeneutische Herausforderungen als begriffliche, insofern man sich nicht nur auf das zu konzentrieren hat, was wortwörtlich in ihnen gesagt wird, sondern auch noch auf das, was hintergründig in ihnen gemeint ist oder potenziell gemeint sein könnte. Dieses zusätzliche Spannungsverhältnis kann natürlich auch begrifflichen Aussageweisen eigen sein. Es tritt aber in narrativen Gestaltungsformen besonders deutlich hervor, weil diese eine ausgeprägte ikonische Struktur haben. Geschichten erzeugen konkrete Vorstellungsbilder, die dann ihrerseits wieder Zeichenträger für etwas anderes sind oder werden können. Wofür diese Vorstellungsbilder dann allerdings Zeichenträger bzw. Exempel sind, das ist nicht konventionell geregelt und lässt sich schwerlich abschließend fixieren, sondern muss vielmehr in variablen Denkperspektiven interpretativ erschlossen 26
F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Vorwort, Werke, Bd. 3, S. 352.
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werden. Um die besonderen hermeneutischen Herausforderungen narrativer Texte im Vergleich zu begrifflichen herauszuarbeiten, ist es vorteilhaft, sich fünf Gemeinsamkeiten und fünf Unterschiede zwischen den auf sie beziehbaren Verstehensprozessen vor Augen zu führen. Erstens teilen die auf beide Gestaltungsformen gerichteten hermeneutischen Anstrengungen die Denkprämisse, dass den jeweiligen Texten im Prinzip eine überschießende Sinnfülle eigen ist, die spontan nicht erfasst werden kann, sondern die sich nur mit Hilfe geeigneter Fragestellungen bzw. durch die Einnahme angemessener Sehepunkte erschließen lässt. Dieses Postulat, dass man sich beim Verstehen selbst geistig bewegen muss bzw. dass man angemessene Wahrnehmungsperspektiven zu entwickeln hat, kann zwei unterschiedliche praktische Konsequenzen haben. Entweder kann es zu dogmatischen Interpretationen führen, wenn man glaubt, dass es letztlich nur eine einzige angemessene Wahrnehmungsperspektive für Texte gibt, oder zu hypothetischen Interpretationen, wenn man glaubt, dass die Sinnfülle eines Textes nur in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven zugänglich ist und dass sich deshalb Interpretationsprozesse nur methodisch, aber nicht sachlich abschließen lassen. Zweitens teilen sie die Denkprämisse, dass jeder Text im Prinzip als eine Antwort auf eine in der Regel nicht formulierte Frage anzusehen ist. Das bedeutet, dass der jeweilige Verstehensprozess sich in einem sehr hohen Maße darauf zu konzentrieren hat, die dem jeweiligen Text zu Grunde liegende Ausgangsfrage zu rekonstruieren, um dessen Antwortfunktion richtig beurteilen zu können. Texte können so immer als Repliken auf bestimmte Unsicherheitserlebnisse angesehen werden bzw. als Teile eines dialogischen Prozesses, die ihr spezifisches Sinnrelief erst dann bekommen, wenn man sie als Bestandteile eines Interaktionsprozesses begriffen hat. Obwohl Texte vordergründig als primäre Gegebenheiten in Erscheinung treten, sind sie genetisch betrachtet eigentlich sekundäre Phänomene, nämlich Antworten. So betrachtet kann es dann auch durchaus legitim sein, nach der ursprünglichen Intention des Textautors zu fragen, wenn man diese als den Versuch versteht, eine Ausgangsfrage zu beantworten. Nur sollte man darüber nicht vergessen, dass die Ausgangsfrage eher als ein Interesse an bestimmten Problemstrukturen zu verstehen ist denn als eine Nachfrage zur Aufhebung von punktuellen Informationsunsicherheiten, dass Antworten immer mehr beantworten können, als der Antwortende eigentlich beantworten will, und dass in der historischen Distanz die Frageimplikationen und das Antwortpotenzial der jeweiligen Texte natürlich umfassender überschaut werden können, als das den jeweiligen Autoren und Zeitgenossen möglich gewesen ist. Das impliziert auch, dass dieselben Texte im Laufe der Zeit ihren Sitz im Leben durchaus ändern können und dass gute Texte sich eben dadurch auszeichnen, dass sich das in ihnen enthaltene Frage- und Antwortpotenzial nicht abschließend fixieren lässt.
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Drittens ist zu beachten, dass Textinterpretationen sich nicht nur auf eine einfühlende Rekonstruktion eines angenommenen vorgegebenen Sinnes zu beschränken brauchen, sondern dass sie Texte auch immer zu Objekten von Negationen und Aggressionen machen können. Diese Tendenz dokumentiert sich am klarsten dadurch, dass wir Texte durch methodische Entscheidungen in Kontexte stellen können, die den Autoren entweder noch gar nicht zugänglich waren oder die sie möglicherweise auch fur gar nicht akzeptabel gehalten hätten. Texte lassen sich so gesehen auch gegen den Strich ihrer ursprünglichen Intention lesen und können auch dann aufschlussreich werden, wenn man keinen kongenialen Nachvollzug anstrebt, sondern ihre Defizite aufzudecken versucht. Die innere Bedürftigkeit von Texten nach erschließenden Fragen und Kontexten, um als Dialogpartner und als Widerstandsnester in Erscheinung treten zu können, hat Lichtenberg in einem schönen Aphorismus thematisiert: „Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen."27 Viertens stellt sich bei allen Interpretationen das fast paradoxe Problem, ob der Sinngehalt eines Textes auf das beschränkt werden darf bzw. soll, was in ihm tatsächlich angesprochen wird, oder ob er auch auf das ausgedehnt werden kann, was an Denkinhalten während seines Aneignungsprozesses bei einem Rezipienten tatsächlich aktiviert wird oder potenziell aktiviert werden könnte. Wenn man seine Vorstellungen vom Gesamtinhalt eines Textes auch auf die Denkinhalte ausdehnt, die durch ihn aktiviert werden, dann beschwört man natürlich die Gefahr herauf, den Texten einen sehr beliebigen Sinn zuordnen zu können, da sich dieser nur individuumsbezogen legitimieren muss. Dieser Gefahr wird allerdings immanent immer dadurch begegnet, dass alle konkreten Sinnbildungsprozesse eine soziale Ausrichtung haben, da für ihre Ergebnisse prinzipiell immer eine soziale Akzeptanz angestrebt wird. Nur das erscheint letztlich als wahr und relevant, was auch von anderen als wahr und relevant angesehen wird. Fünftens haben alle Verstehensprozesse eine immanente Tendenz zur „Verschmelzung" von Denkhorizonten, die vermeintlich für sich bestehen. 28 Im Verstehensprozess wird die Welt des Textes mit der jeweiligen eigenen Denkwelt auf vielfältige Weise ineinander verschränkt. Dadurch kann die eigene Welt im Sinne des Strukturmusters von Figur und Grund eine spezifische Identität und Kontur bekommen bzw. sich mit der einer anderen Welt zu einer neuen Gesamtwelt verbinden. Eigenes und Fremdes können auf diese Weise in ein dialogisches Interaktionverhältnis eintreten, aus dem beide am Ende anders herauskommen, als sie ursprünglich in Erscheinung getreten sind. Solche Verschmelzungsprozesse können dann zu einem Fließgleichgewicht in unseren Vorstellungswelten führen, das seine Stabilität gerade dadurch ge-
" G. Ch. Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 1, S. 239, Ε 213. 28 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 311.
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winnt, dass sich in ihnen nichts verhärtet, sondern alles für neue Verknüpfungsmöglichkeiten offen bleibt. Wenn wir uns nun den ganz spezifischen hermeneutischen Herausforderungen von narrativen Sinnobjektivierungen im Kontrast zu begrifflichen zuwenden, dann lässt sich auf folgende fünf Charakteristika hinweisen. Vielleicht kann man sogar sagen, dass gerade die Interpretation von narrativen Texten auf ganz idealtypische Weise das Interpretationsgeschäft der Geisteswissenschaften exemplifiziert. Erstens ist herauszustellen, dass Geschichten und insbesondere Geschichten zur Sprache immer einen individuellen Fall (casus) repräsentieren. Sie wollen nicht Aussagen über den Begriff Sprache machen, sondern einen Fall erzählen, in dem Sprache direkt oder indirekt eine konstitutive Rolle spielt. Sprache tritt nicht als ein Ding an sich in Erscheinung, sondern als ein Ding für uns, das eng mit relevanten menschlichen Lebenssituationen verknüpft ist. Narrative Objektivierungen des Phänomens Sprache sind deshalb in kategorialer Hinsicht ungesättigt, weil sie uns immer vor die Aufgabe stellen, die jeweilige Erfahrung von Sprache auf den Begriff zu bringen bzw. einem allgemeinen Denkschema für Sprache zuzuordnen. Dabei kann diese Aufgabe so verstanden werden, dass man das Erzählte entweder einem schon vorliegenden Begriff von Sprache zuordnet bzw. die jeweilige Geschichte als Exempel für eine schon vorliegende Sprachtheorie betrachtet, oder so, dass man auf der Erfahrungsbasis der Geschichte eine neue Theorie von Sprache konzipiert bzw. eine schon gegebene abwandelt. Im ersten Fall hätten wir einen kategorialen Käfig und betrachteten die vorliegende Geschichte dann als einen dafür passenden Vogel. Im zweiten Fall hätten wir einen spezifischen Vogel und suchten dann einen für ihn passenden kategorialen Käfig. In jedem Fall müssten wir Empirie und Theorie aufeinander beziehen und lernten dabei beide besser kennen. Zweitens ist zu klären, ob bzw. wie der jeweils erzählte Fall als Repräsentation von etwas anderem zu verstehen ist. Dabei ergibt sich dann insbesondere das Problem, ob das Erzählte als Symptom (Index) zu werten ist, das auf natürliche bzw. implikative oder kausale Weise auf etwas anderes verweist, oder als Bild (Ikon), das kraft Analogie auf etwas anderes verweist. Beim Verstehen von Geschichten haben wir also immer zu prüfen, ob sie als Ganzes oder ob Teile von ihr eine Zeichen- bzw. Verweisungsfunktion haben. Um Geschichten bzw. Teile von Geschichten als Zeichenträger zu identifizieren und als solche inhaltlich zu deuten, bedarf es einerseits eines hohen Maßes an Sachwissen und andererseits eines hohen Maßes an Einfallsreichtum, um indexikalische und ikonische Verweisstrukturen aufspüren zu können. Drittens ist zu beachten, dass Geschichten eine natürliche Tendenz haben, die von ihnen thematisierten Phänomene nicht als vorhandene Strukturgebilde in Erscheinung treten zu lassen, sondern als Ergebnisse von Handlungen oder als wirksame Kräfte. Das exemplifiziert sich besonders deutlich in Mythen, wo
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wirksame Kräfte in der Regel personifiziert werden, um sie als Träger von Handlungen und als Ursachen von Tatsachen klar herausstellen zu können. So wird beispielsweise in der Geschichte vom Turmbau zu Babel Gott als aktiver Sprachverwirrer dargestellt, um möglicherweise die Ursache der Existenz vieler Sprachen plastisch herauszustellen. Dabei tritt dann die Frage ganz in den Hintergrund, ob für diesen Tatbestand nicht auch noch ganz andere Gründe namhaft gemacht werden könnten. Im platonischen Mythos über die Herkunft der Schrift wird Theuth als Erfinder der Schrift vorgestellt, obwohl die Ausbildung der Schrift sicher kein punktuelles Ereignis gewesen ist, sondern vielmehr ein langwieriger evolutionärer Prozess. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Vorliebe von Geschichten für die Darstellung von kausalen und funktionalen Zusammenhängen bedingt, dass in narrativen Thematisierungen von Sprache diese nicht im Sinne von langue und Ergon in den Blick kommt, sondern in dem von parole und Energeia. Viertens bekommt im Rahmen von Geschichten die Wahrheitsfrage einen anderen Sinn als in dem von theoretischen Aussagen. Letztere wollen in dem Sinne wahr sein, dass sie empirische Einzelphänomene zutreffend auf Begriffe und Begriffe zutreffend auf Oberbegriffe oder Theorien zuordnen bzw. dass sie aus Prämissen zutreffende Schlussfolgerungen ableiten. Ihr Wahrheitswert lässt sich dementsprechend dann mit Hilfe einer Logik qualifizieren, die nur die Werte wahr und falsch kennt. Dagegen lassen sich Geschichten, die sich selbst nicht als historische Berichte über faktische Vorkommnisse verstehen, sondern vielmehr als Versuche, komplexe Phänomene auf narrative Weise zugänglich zu machen, nicht sinnvoll im Rahmen der zweiwertigen Logik qualifizieren. Da es ihnen nicht um die historische Richtigkeit, sondern um die pragmatische Plausiblität, Relevanz und Belastbarkeit der vorgenommenen Korrelierungen geht, lässt sich ihr Wahrheitsanspruch nicht im Denkrahmen der Alternative von wahr und falsch beurteilen. Die Wahrheit solcher Geschichten ließe sich allenfalls im Hinblick auf die Intensität ihres geistigen Anregungspotenzials und ihrer kognitiven Fruchtbarkeit beurteilen. Fünftens ist zu beachten, dass sich Geschichten im Gegensatz zu theoretischen Aussagen handlungsmäßig nicht auf deskriptive oder konstative Sprechakte beschränken, sondern zugleich noch weitere Handlungsimplikationen haben können. Sie wollen in der Regel nicht nur etwas feststellen, sondern zugleich auch noch unterhalten, andeuten, belehren, erklären, warnen, ironisieren usw. Das bedeutet, dass in Geschichten je nach Wahrnehmungsperspektive sehr unterschiedliche Sinnebenen bzw. Inhalte erschlossen werden können. In diesem Zusammenhang ist sehr bezeichnend, dass im Hinblick auf die Bibel schon sehr früh zwischen einem buchstäblichen und einem spirituellen Sinn unterschieden worden ist. Ab dem 4. Jahrhundert wurde dann sogar die Theorie des vierfachen Schriftsinns entwickelt (buchstäblich-historischer, allegorischer, moralischer, anagogisch-eschatologischer Sinn), da sich immer deutlicher herausstellte, dass man den Sinngehalt biblischer Erzählungen nicht nur
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auf eine einzige Kategorie von Informationen beschränken konnte.29 Auch im Hinblick auf den Sinngehalt von Mythen stellte sich immer klarer heraus, dass die durch sie objektivierten Inhalte nicht vollständig in begriffliche Aussageformen transformierbar waren und dass keine scharfe Trennlinie zwischen ihnen und ihrer Rezeptionsweise gezogen werden konnte.30 Angesichts dieses hermeneutischen Herausforderungspotenzials narrativer Texte ist wohl ganz gut nachvollziehbar, warum bei der Interpretation von Texten, in denen Sprache auf narrative Weise zum Thema gemacht wird, nicht das Ziel verfolgt werden kann, einen ganz bestimmten vorgegebenen, wenn auch verborgenen oder verschleierten Sinn aufzudecken und möglichst erschöpfend in begriffliche Aussageweisen umzusetzen. Die Interpretation solcher Texte muss vielmehr versuchen, unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven fur diese auszuarbeiten und die durch sie erfassbaren einzelnen Wahrnehmungsinhalte wieder miteinander zu verknüpfen. Einerseits muss sie die Verständlichkeit solcher Texte dadurch retten, dass sie ihre Genese, ihre kontextuale Einbettung und ihre pragmatische Funktion aufklärt. Sie muss zu rekonstruieren versuchen, von welchen Sehepunkten und in welchen Denkperspektiven auf das Phänomen Sprache aufmerksam gemacht wird und welche Erfahrungen mit Sprache sich in der jeweiligen Geschichte widerspiegeln. Andererseits darf sie aber nicht nur rekonstruktiv tätig werden, sondern muss das Erzählte auch mit Fragen konfrontieren, die aus späteren bzw. aus heutigen Denkmöglichkeiten resultieren. Gerade wenn man Geschichten über Sprache als indexikalische und ikonische Zeichen versteht, deren Objektivierungsleistungen kraft Sachwissen und kraft Analogiebildungen erst konkretisiert werden müssen, dann lässt sich ihr Inhalt nicht abschließend fixieren und qualifizieren, sondern nur vorläufig und partiell, da neue Kontexte und Erfahrungen auch immer neue Strukturierungsleistungen zugänglich machen können. Geschichten über Sprache können und wollen uns kein Wissen über Sprache vermitteln, das wir direkt argumentativ verwerten können, aber sie wollen uns dabei helfen, die vielfältigen Relationsverhältnisse, in die Sprache eingebunden ist, zu sehen und konkret zu exemplifizieren. Das dabei erworbene Wissen kann deshalb keine Endgültigkeitsfarbe annehmen, weil es perspektivisch gebunden ist und deshalb prinzipiell ergänzungs- und interpretationsbedürftig bleibt. Aber eben dadurch wird auch verhindert, dass sich unsere Sicht auf die Sprache auf einen Aspekt oder auf wenige reduziert und sich dogmatisch verhärtet. Wissenschaftstheoretikern, die sich am Vorbild begrifflicher Aussagen in den Wissenschaften orientieren, sind narrative Repräsentationsweisen von Wissen und damit natürlich auch narrative Formen der Sprachreflexion ein 29 30
Vgl. J. Grodin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, 1991, S. 33ff. Vgl. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 1979.
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Dorn im Auge, da hier sowohl die Verifikations- als auch die Falsifikationsverfahren ins Leere greifen. Allenfalls können sie die narrativen Formen der Sprachreflexion dem propädeutischen Bereich der eigentlichen Sprachreflexion zuordnen, insofern sie die Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Problembereiche der Sprache lenken. Suspekt sind diese Formen der Sprachreflexion dann nicht nur deswegen, weil ihre Ergebnisse wahrheitstheoretisch nicht eindeutig qualifiziert werden können, sondern auch deswegen, weil sich in ihnen die Objektsphäre und die Subjektsphäre des Denkens nicht klar genug voneinander abgrenzen lassen, sondern sich auf eine als problematisch empfundene Weise ineinander verschränken. Die scharfe Trennung von Objektbereich und Subjektbereich in Erkenntnisprozessen mag sich im Hinblick auf die Erfassung von Naturphänomenen noch einigermaßen stringent durchhalten lassen, wenn man einmal von der Heisenbergschen Unschärferelation bei der Wahrnehmung von Mikrophänomenen absieht bzw. davon, dass auch die Wahl von Objektivierungsmethoden der Subjektseite von Erkenntnisprozessen zuzuordnen ist. Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Kulturphänomenen wird eine solche ontologische Trennung aber höchst problematisch und lässt sich allenfalls methodisch rechtfertigen. Hier richtet sich nämlich das Denken immer auf seine eigenen Produkte und tritt in gewisser Weise in einen Dialog mit sich selbst ein. Wegen dieser Selbstbezüglichkeit haben die Geisteswissenschaften, die Kulturphänomene aufklären wollen, deshalb auch mit viel härteren methodischen Problemen zu kämpfen als die Naturwissenschaften. Zwar hat Vico die interessante These entwickelt, dass die Menschen eigentlich nur das verstehen könnten, was sie selbst gemacht hätten, aber wie weit sie das können, wäre sicher immer noch eine Frage für sich.31 Heinz von Foerster hat in diesem Zusammenhang das Verhältnis der deduktiven und induktiven Naturwissenschaften, die sich gerne als „hard sciences" verstehen, zu den hermeneutischen und narrationsnahen Geisteswissenschaften, die im Kontrast dazu oft als „soft sciences" bezeichnet werden, auf eine aparte Weise folgendermaßen charakterisiert: „Die 'hard sciences' sind erfolgreich, weil sie sich mit den 'soft problems' beschäftigen; die 'soft sciences' haben zum kämpfen, denn sie haben es mit den 'hardproblems' zu tun."32 So gesehen könnte man dann auch sagen, dass sich eine Sprachwissenschaft, die sich deduktiv und induktiv mit der Sprache als Sprachsystem (Ergon) beschäftigt, sich mit „soft problems" beschäftigt, während sich eine Sprachwissenschaft, die sich mit Hilfe hermeneutischer Interpretationen mit Sprache als sinnbildender Kraft (Energeia) beschäftigt, sich mit „hard problems" auseinander zu setzten hat.
31
32
Vgl. K. Löwith, Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur, Sämtliche Schriften, Bd. 9, S. 195-227. H. v. Foerster, Sicht und Einsicht, 1999, S. 17.
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Wenn wir uns mit den narrativen Formen der Sprachreflexion beschäftigen, dann geht es immer um mehrschichtige Probleme und vielfaltige Fragestellungen. Wir haben zu klären, welche Prämissen dem jeweils Gesagten zu Grunde liegen, durch welche Fragestellungen man das Gesagte über das jeweils Mitgeteilte hinaus zum Sprechen bringen kann, was über die Form des Gesagten indirekt mitgeteilt wird, welche Implikationen das Mitgeteilte hat, welche Expansionsmöglichkeiten die jeweiligen Geschichten für die Ausbildung von weiteren Geschichten bieten usw. Letztlich konvergieren alle diese Fragemöglichkeiten in der grundsätzlichen Frage, warum die jeweiligen Geschichten überhaupt erzählt werden, bzw. welche Strukturzusammenhänge man sich mit ihrer Hilfe vergegenwärtigen will. Geschichten über Sprache können wegen der Komplexität der direkt oder indirekt thematisierten Korrelationszusammenhänge deshalb auch als Probiersteine angesehen werden, an denen wir unser Wissen über Sprache ordnen, unser Denkvermögen erproben und unsere Fähigkeit zur Ableitung von Informationen aus anderen Informationen verbessern können. Im Zusammenhang mit all dem stellt sich dann natürlich auch die Frage, ob wir im historischen Abstand womöglich die jeweiligen Geschichten besser verstehen können als diejenigen, die sie konzipiert oder als Zeitgenossen wahrgenommen haben. Diese alte hermeneutische Grundsatzfrage ist sicher nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Einerseits verstehen wir bestimmte Aspekte von Geschichten über Sprache aus der historischen Distanz sicher besser als die jeweiligen Urheber oder Zeitgenossen, weil es bei ihrem Verständnis nicht nur um den Nachvollzug von ursprünglichen Darstellungsintentionen geht, sondern auch immer um ein umfassendes Verständnis des jeweils angesprochenen Sachproblems. Insofern Geschichten über Sprache meist als erste Ansätze zur Objektivierung einer Sachproblematik zu verstehen sind, die dann im Verlaufe der Kulturgeschichte präzisiert worden sind, können die Nachgeborenen die jeweiligen Geschichten natürlich besser verstehen als die ursprünglichen Produzenten und Zeitgenossen. Andererseits ist aber sicher auch nicht zu leugnen, dass die Nachgeborenen die jeweiligen Geschichten nicht immer besser verstehen, sondern zuweilen oft nur anders, weil sie perspektivisch ganz anderes in ihnen wahrnehmen. Wir müssen prinzipiell damit rechnen, dass bestimmte Verstehensmöglichkeiten im Laufe der Kulturgeschichte verloren gehen, weil ein anderes Denkklima entstanden ist, in welchem bestimmte Erkenntnisinteressen, Wahrnehmungssensibilitäten und Frageweisen verloren gegangen sind. Deshalb müssen wir bei den jeweiligen Geschichten über Sprache die historischen und die generellen Sinndimensionen zu unterscheiden versuchen bzw. den Sinn, den diese Geschichten ursprünglich hatten, und den Sinn, der ihnen im Verlaufe der Interpretations- und Rezeptionsgeschichte zugewachsen ist. Wie schon betont worden ist, lassen sich Geschichten über Sprache im Prinzip als Antworten auf Fragen verstehen, die man potenziell an das Phäno-
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men Sprache stellen kann. Das schließt ein, dass solche Geschichten im Prinzip auch Fragen beantworten können, die die Urheber und Zeitgenossen faktisch gar nicht gestellt haben bzw. stellen konnten, die wir aber heute durchaus stellen können. Das Faszinierende von ikonischen Zeichen bzw. Repräsentationsweisen besteht ja gerade darin, dass sie begrifflich nicht vollständig ausschöpfbar sind, weil sich ihre Analogiebeziehungen nicht abschließend eingrenzen lassen, und dass sie auch dort noch Strukturierungsund Objektivierungsleistungen erbringen können, wo man das zunächst gar nicht vermutet. Geschichten provozieren immer wieder dazu, faktische Vorstellungen interpretativ zu bewältigen bzw. in passende Relationszusammenhänge einzuordnen. Karl Kraus hat darauf in zwei fast paradoxen Aphorismen aufmerksam gemacht: „Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen.'''' ,Jch schnitze mir den Gegner nach meinem Pfeil zur echt. "33 Ebenso wie Fragen ungesättigt sind, weil sie erst durch Antworten ihr Profil gewinnen, so können auch Antworten ungesättigt sein, wenn man die Fragen nicht kennt, auf die sie sich beziehen. Die Rekonstruktion von ursprünglichen oder potenziellen Fragen zu Geschichten über Sprache ist ein schwieriges Geschäft, das methodisch und inhaltlich nicht vollständig beherrschbar ist. Manche Fragen ergeben sich gleichsam von selbst, weil sie in den jeweiligen Texten thematisiert bzw. zumindest angedeutet werden oder sich im Hinblick auf die jeweilige Situation aus der allgemeinen Lebenserfahrung von selbst ergeben. Andere Fragen lassen sich erst dann konkretisieren, wenn man die jeweiligen historischen Umstände der Textgenese kennt, wenn man ihre jeweilige Interpretationsgeschichte überschaut oder wenn man heuristisch fruchtbare Korrelationen herzustellen weiß. Natürlich können nicht alle Fragen, die ein Text provoziert, von dem Text oder der Textinterpretation beantwortet werden. Das ist auch weder notwendig noch wünschenswert, denn die Ausarbeitung und Präzisierung der Fragestellungen stellt schon einen Wert an sich dar und kann durchaus als eine kognitive Sinnbildungsanstrengung verstanden werden. Oft ist es schwieriger, gute Fragen zu stellen als gute Antworten zu finden. Man kann nämlich nur dann etwas suchen und finden, wenn man schon eine grobe Vorahnung von dem hat, was man sucht oder wo man es vielleicht finden kann. Jede Frage ist nicht nur eine mögliche Ausdrucksform des philosophischen Staunens, sondern zugleich auch eine Manifestationsform der geistigen Freiheit, das unmittelbar Gegebene zu transzendieren und sich Alternativen dazu vorzustellen. Fragen implizieren immer ein gewisses Vorverständnis über das Erfragte, da sie nicht aus dem Nichts entstehen, sondern aus bestimmten Prämissen bzw. aus einer gerichteten Neugier. 33
K. Kraus, Aphorismen, 1986, S. 161 u. S. 166.
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Bei der Erschließung des Sinnpotenzials von Geschichten ist es mindestens ebenso aufschlussreich, Fragen zu entwerfen als Fragen zu beantworten, weil man schon bei dem Entwurf von Fragen gezwungen ist, Wissen zu aktivieren, zu ordnen und zu korrelieren. Mit einer guten Frage ist immer schon die halbe Antwort gegeben, weil die Fähigkeit, Fragen zu stellen, die Fähigkeit impliziert, Denkperspektiven zu wechseln und nach dem zu suchen, was nicht im üblichen Lichtkegel der Aufmerksamkeit liegt. Deshalb kann man auch sagen, dass Fragen nicht den Beginn einer geistigen Aktivität repräsentieren, sondern schon deren erste Ergebnisse. Die Ausarbeitung von Fragen hat außerdem eine sehr wichtige pragmatische Funktion für die Einwurzelung von Wissen. Wissensinhalte, die nicht als Antworten auf Fragen verstanden werden können, lassen sich schlecht im Gedächtnis verankern. Durch ungewöhnliche Fragen können wir uns Gegenstände verfremden, aber eben dadurch auch auf neuartige Weise sichtbar machen. Falsch gestellte Fragen können uns Gegenstände verschließen, unfruchtbare Denkperspektiven eröffnen oder zu trivialen Antworten fuhren. Da Fragen wichtige Strukturierungsfunktionen ausüben, können sie auch dann noch wichtige kognitive Funktionen haben, wenn sie aktuell oder prinzipiell nicht beantwortbar sind. Sie können allerdings auch so gestellt werden, dass sie uns in unfruchtbare Alternativen führen, wie etwa die nach der Priorität von Henne oder Ei. Fragen können Unruheherde bilden, die immanent dazu zwingen, Folgefragen zu entwerfen. In jedem Fall lassen sich Interpretationsfragen zu Texten als Schnittstellen zwischen der Welt des Textes und der des Lesers bzw. zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre betrachten, insofern sie Denkperspektiven eröffnen und Wahrnehmungen aspektuell fokussieren. Sie sind gleichsam als Hebel zu betrachten, die dazu dienen, einen Text zum Sprechen zu bringen bzw. unsere Einbildungskraft anzuregen und die Maschinerie unseres begrifflichen Denkens in Gang zu setzen. Geschichten über Sprache können nicht nur unser Wissen über Sprache und unsere Sensibilität für die Wahrnehmung von Sprache verbessern, sie können uns auch als Quellen dafür dienen, die Geschichte des Nachdenkens über Sprache zu rekonstruieren. Die narrativen Formen der Sprachreflexion gehören so gesehen auch zur Geschichte der Sprachphilosophie bzw. zur Physiognomie kultureller Epochen, da sie uns Informationen darüber vermitteln, was die einzelnen Kulturepochen an der Sprache fasziniert hat und was nicht. Alle narrativen Thematisierungen von Sprache sind deshalb auch theoriegetränkt und theoriegeleitet, obwohl das auf den ersten Blick gar nicht so erscheint. Sie geben uns nämlich sehr gute Hinweise auf das unausdrückliche Vorverständnis von Sprache in den jeweiligen Epochen, das allen begrifflichen Formen der Sprachreflexion immer schon zu Grunde liegt bzw. das diese zu präzisieren versuchen. Die Interpretation von Geschichten über Sprache wirft ein grundsätzliches Darstellungsproblem auf, das mit dem Stichwort Wiederholung gekennzeich-
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net werden kann. Da solche Geschichten sich nicht nur auf bestimmte Einzelaspekte von Sprache konzentrieren wollen, sondern vielmehr bestrebt sind, die Sprache in umfassenden pragmatischen Zusammenhängen zu thematisieren, ergibt sich bei ihrer Interpretation das Problem, dass man bestimmte Argumentationen wiederholen muss, um diesen komplexen Zusammenhängen gerecht zu werden. Solche Wiederholungen lassen sich natürlich z.T. dadurch vermeiden, dass man mit Querverweisen arbeitet. Aber dieses Verfahren macht die Lektüre der Interpretationen ziemlich unerquicklich. Deshalb wird hier in Kauf genommen, bestimmte sprachtheoretische Gesichtspunkte und Argumentationen immer wieder zu thematisieren, um die Interpretation von einzelnen Geschichten zur Sprache in sich verständlich zu machen.
Β TEXTINTERPRETATIONEN
I Der Baum der Erkenntnis Bibel: 1. Mose, Kap. 2 und 3
2. Kapitel 8. Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. 15. Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaute und bewahrte. 16. Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, 17. aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm ißt, mußt du des Todes sterben. 18. Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. 19. Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. 20. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre. 21. Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloß die Stelle mit Fleisch. 22. Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.
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D e r Baum der Erkenntnis
25. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.
3. Kapitel 1. Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? 2. Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; 3. aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, daß ihr nicht sterbet. 4. Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, 5. sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon eßt, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 6. Und die Frau sah, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. 7. Da wurden ihnen beiden die Augen auf getan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. 8. Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten. 9. Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? 10. Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. 11. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? 12. Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß. 13. Da sprach Gott der Herr zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, so daß ich aß. 14. Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. 15. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen, der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.
Der Baum der Erkenntnis
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16. Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. 17. Und zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. 18. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen. 19. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. 22. Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! 23. Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er die Erde bebaute, von der er genommen war. 24. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.
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Der Baum der Erkenntnis
1. Grundsätzliche Probleme Die biblische Erzählung vom Baum der Erkenntnis exemplifiziert ebenso wie diejenige vom Turmbau zu Babel einen Typ von narrativen Sinnbildungsanstrengungen, den wir üblicherweise als Mythos bezeichnen. Es wird eine Geschichte erzählt, deren Sinn sich ganz offensichtlich nicht in dem erschöpft, was wortwörtlich gesagt wird, sondern der vielmehr in dem gesucht werden muss, worauf kraft Analogie in ikonischer Weise verwiesen wird. Das faktisch Gesagte bzw. das direkt Vorstellbare muss also transzendiert werden, um zu dem eigentlich Gemeinten vorzustoßen, das sich sprachlich nicht direkt repräsentieren lässt. Hinsichtlich der biblischen Erzählungen ist eigentlich nie strittig gewesen, dass das Gesagte auslegungsbedürftig ist. Umstritten ist allerdings immer gewesen, ob die jeweiligen Einzelerzählungen dem Textmuster Mythos zugeordnet werden sollten bzw. ob deren Inhalte auch in einer nicht-bildlichen Sprache bzw. in einer entmythologisierten begrifflichen Aussageweise objektivierbar sind. Der Religionswissenschaftler Pinchas Lapide soll in dem Streit um die adäquate Rezeptionsweise biblischer Aussagen nach einer Erinnerung von Hoimar von Ditfurth in einer Weise Stellung genommen haben, welche für die hier noch zu behandelnden beiden biblischen Texte sehr aufschlussreich ist: Man kann die Bibel entweder ernst nehmen oder wörtlich, beides zusammen geht nicht.1 Mythische Objektivierungen von Sachverhalten weisen in der Regel zwei Besonderheiten auf. Zum einen gibt es die ausgeprägte Neigung, bestimmte Gegebenheiten ursächlich auf eine ganz bestimmte Handlung bzw. Entscheidung zurückzuführen. Zum anderen gibt es die klare Tendenz, sehr abstrakte Strukturzusammenhänge in gut fassbaren Bildern und Geschichten zu repräsentieren. Das hat zur Folge, dass wir Strukturzusammenhänge, die wir heute vorzugsweise als Ergebnisse von evolutionären Prozessen oder als Auswirkungen von immanenten Eigenschaften gegebener Faktoren verstehen, in Mythen als Ergebnisse von individuellen Handlungen dargestellt bekommen bzw. als Konsequenzen von Entscheidungen. Mythen haben so gesehen deshalb auch eine klare Neigung, etwas Allgemeines im Bilde von etwas Individuellem darzustellen. Die ikonische Grundstruktur von Mythen führt natürlich dazu, dass ihnen ein vieldeutiger, wenn nicht ambivalenter Sinn zugeordnet werden kann, da sich Analogiebezüge auf verschiedenen Ebenen herstellen lassen, die dann auch in Spannung zueinander geraten können. Je nach Denkperspektive lassen 1
Diskussionsbeitrag von H. von Ditfurth, in: R.J. Riedl/F. Kreuzer (Hrsg.), Evolution und Menschenbild, 1983, S. 323.
Grundsätzliche Probleme
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sich Mythen oft gegenläufig interpretieren. Deshalb erweist es sich auch als illusorisch, eine eindeutige, abschließende oder gar erschöpfende Interpretation von Mythen anzustreben. Diese Eigentümlichkeit spricht nun allerdings nicht gegen den heuristischen Wert von Mythen, sondern lässt sich im Gegenteil durchaus als ein Argument für ihre Erkenntnisfunktion ansehen. Mythen vereinfachen Problemzusammenhänge zwar, aber so, dass dabei auch auf deren Vielschichtigkeit und deren interne Spannungen aufmerksam gemacht wird. Gerade weil Mythen vielfältig auslegbar sind, zwingen sie ständig dazu, sich Rechenschaft über die jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen und Sinnbildungsziele abzulegen und nicht in vorgegebenen Denkperspektiven zu verharren. Auf den ersten Blick hat die biblische Erzählung über den Baum der Erkenntnis zunächst gar nichts mit dem Problem der Sprache zu tun. In einer langen Rezeptionsgeschichte haben wir uns daran gewöhnt, diese Erzählung als Geschichte vom Sündenfall zu verstehen bzw. als eine Begründungsgeschichte für das, was Theologen mit dem Konzept der Erbsünde zu objektivieren versuchen. Dieses Verständnis der Erzählung hat sich allerdings erst in der Spätantike etabliert und wurde sicherlich auch aus nicht ganz uneigennützigen Motiven von der Kirche als Institution gefördert. Dadurch ließ sich nämlich begründen, warum man nicht nur Jesus eine so wichtige Heilsfunktion als Christus zuordnen konnte, sondern auch der Kirche eine so wichtige Vermittlungsfunktion zwischen Gott und Menschen. Gegen dieses Verständnis der Geschichte vom Baum der Erkenntnis hat sich im Zeitalter der Aufklärung ein entschiedener Protest entwickelt, weil die Vorstellung von einer Erbsünde nicht mit dem sich neu formierenden Bilde vom Menschen verträglich war. Aber selbst wenn man die Geschichte vom Baum der Erkenntnis nicht als Geschichte vom Sündenfall versteht, sondern mit Kant und Schiller als eine Geschichte der Emanzipation des Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln, so ist immer noch nicht plausibel, inwiefern sich diese Geschichte mit dem Problem der narrativen Sprachreflexion in Verbindung bringen lässt, wenn man einmal davon absieht, dass man natürlich über den Mythos als spezifische Manifestationsform sprachlicher Sinnbildungsanstrengungen reflektieren kann. Eine Verbindung der Geschichte mit dem Problem der narrativen Sprachreflexion lässt sich wohl erst dann herstellen, wenn man sie weder als eine Geschichte über den Ursprung der Sünde noch über den Zwang zur Arbeit noch über die Emanzipation von vorgegebenen Handlungsnormen ansieht, sondern als eine Geschichte über den Ursprung des Bewusstseins, des Geistes oder des reflexiven Denkens. Wenn man den Mythos vom Baum der Erkenntnis in dieser Perspektive wahrnimmt, dann ergibt sich notwendigerweise die Frage nach der Rolle der Sprache bei der Evolution des Geistes bzw. des Selbstbewusstseins.
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Da zur Zeit der Entstehungsgeschichte dieses Mythos dem Menschen die Vorstellung von einer lang andauernden Evolutionsgeschichte physischer und kultureller Phänomene sehr fern lag und da man den Ursprung komplexer Phänomene im Prinzip immer in punktuellen Ereignissen suchte, lässt sich dieser Mythos durchaus als ein Versuch verstehen, die Genese eines komplexen abstrakten Phänomens mit Hilfe der Vorstellung eines konkreten Ereignisses zu objektivieren und zu strukturieren. Gleichwohl ist aber auch zu prüfen, ob dieser Mythos nicht auch als ein frühes Exempel für ein evolutionäres und dialektisches Denken angesehen werden kann, in dem darauf aufmerksam gemacht wird, wie sich aus bestimmten Konstellationen auf sukzessive Weise neuartige Qualitäten herausbilden. Wem diese Hinweise noch nicht genügen, um den Mythos vom Baum der Erkenntnis mit der Sprachproblematik in Verbindung zu bringen, dem können noch zwei weitere Hinweise gegeben werden. Zum einen lässt sich darauf aufmerksam machen, dass in der Schöpfungsgeschichte immer wieder das Phänomen Sprache thematisiert worden ist, sodass es sehr nahe liegt, auch nach den sprachtheoretischen Implikationen dieses Mythos zu fragen. Zum anderen lässt sich darauf verweisen, dass die Verknüpfung dieses Mythos mit der Sprachproblematik keineswegs neu ist, sondern schon von Friedrich Heinrich Jacobi und von Fritz Mauthner explizit vorgenommen worden ist. Jacobi hat in einem Brief an Herder vom 7.12.1793 eher beiläufig einen Aphorismus in die Welt gesetzt, der diese Verknüpfung direkt vornimmt: „Die Sprache bleibt die alte Schlange die sie schon im Paradiese war."2 Anlass zu diesem Brief war eine Danksagung an Herder, der Jacobi ein Buch über das Verständigungswunder zu Pfingsten (Lukas, Apostelgeschichte 4.2ff.) zugesandt hatte.3 In seinem Brief äußert Jacobi eine gewisse Skepsis gegenüber dem allgemeinen Verständigungsoptimismus Herders, die er allerdings nur ansatzweise argumentativ entfaltet. Seine Vorbehalte gegen den Enthusiasmus Herders präsentiert er stattdessen in dem zitierten Aphorismus, der zurückhaltend, aber doch klar auf die Ambivalenz der Sprache aufmerksam zu machen versucht. Er kann sicher aus der Rezeptionsgeschichte des Mythos vom Baum der Erkenntnis nicht mehr weggedacht werden, wenn man ihn einmal zur Kenntnis genommen hat. In einer viel weniger offenen Weise als Jacobi hat dann Fritz Mauthner einen Bezug des biblischen Mythos zur Sprachproblematik hergestellt, als er vom „Schlangenbetrug der Sprache" sprach.4
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F.H. Jacobi, Werke, Bd. 3, S. 557. Diesen Aphorismus habe ich schon zum Gegenstand eines Festschriftbeitrages gemacht. Die folgenden Überlegungen ergänzen diesen Beitrag. Vgl. W. Köller, Die Sprache als Schlange aus dem Paradiese, in: H. Herwig u.a. (Hrsg.), Lese-Zeichen, Festschrift für P. Rusterholz zum 65. Geburtstag, 1999, S. 161-177. J.G. Herder, Von der Gabe der Sprache am ersten christlichen Pfingstfest, Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 3-59. Den Hinweis auf die Metapher Mauthners verdanke ich L. Spitzer, der leider keine genaue Quellenangabe macht. Vgl. L. Spitzer, Stilstudien, 2. Teil, 1928/1961 2 , S. 507.
Das biblische Sprachkonzept und die Struktur des Mythos
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2. Das biblische Sprachkonzept und die Struktur des Mythos Im biblischen Schöpfungsbericht wird uns zunächst mitgeteilt, dass Gott etwas schafft, indem er spricht, und dass er Ordnung stiftet, indem er das Geschaffene benennt und damit klar voneinander absetzt. „Und Gott sprach: es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht."5 Dann delegiert er das Recht, Namen zu geben und damit eine ordnende Macht über das Geschaffene auszuüben an Adam bzw. an den Menschen. Er bringt die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel zum Menschen, „daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißend Damit wird verdeutlicht, dass die Sprache bzw. die Sprachverwendung als ein konstitutives Merkmal des Menschen betrachtet wird und dass Mensch und Sprache deshalb als gleich ursprünglich anzusehen sind. Die Namengebung durch den Menschen ist dabei wohl nicht im Sinne der Arbitraritätsvorstellung von de Saussure als eine phonetische Etikettierung von sozial bedingten menschlichen Ordnungskonzepten zu verstehen, sondern wohl als eine sprachliche Objektivierung und Fixierung der von Gott geschaffenen Seinseinheiten. Daraus ist dann die Idee einer später verloren gegangenen adamitischen Ursprache abgeleitet worden, die als Natursprache unmittelbar auf die Struktur der Welt passt. Der Verlust dieser Ursprache ist immer wieder durch die so genannte babylonische Sprachverwirrung begründet worden. Bezeichnend für dieses biblische Sprachkonzept ist, dass die Sprache nicht aus einer besonderen kognitiven Anstrengung des Menschen hervorgeht, sondern dass sie als ein vom Menschen zu handhabendes Ordnungs- und Verständigungsmittel eigentlich von Anfang an präsent ist.7 Gott und Mensch können von Anfang an miteinander kommunizieren und Adam kann von Anfang an die Sprache als kognitives Ordnungsmittel einsetzen. Die Vorstellung, dass die Sprache eine eigene Entstehungs- oder gar Entwicklungsgeschichte haben könnte, scheint ganz außerhalb des Denkhorizontes des biblischen Schöpfungsberichtes zu liegen. Denn eine solche Vorstellung setzt offenbar ein historisches Bewusstsein voraus, das diesem Schöpfungsbericht noch fremd ist. Diese Beurteilung des Sprachdenkens im Schöpfungsbericht ist sicher richtig, was die explizite Thematisierung der Sprachproblematik anbetrifft. Sie 5 6 7
1. Mose, 1,3-5. 1. Mose, 2.19. Vgl. H.-M. Gauger, Die Sprache im Schöpfungsbericht der biblischen Genesis, in: B. Brogyany (ed.), Prehistory, history, and historiography of language, speech, and linguistic theory, 1992, S. 3-14. R. Albertz, Die Frage des Ursprungs der Sprache im Alten Testament, in: J. Gessinger/W v. Rhaden, Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. 2, S. 1-18.
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muss aber etwas relativiert werden, wenn man sein Interesse auf die Bewusstseinsproblematik richtet und damit auch auf die Prämissen der Sprache und auf die Vorgeschichte eines differenzierten Sprachbewusstseins. Dann zeigen sich im Mythos vom Baum der Erkenntnis zumindest Ansätze für ein entwicklungsgeschichtliches Denken, das dann mittelbar auch die Sprache betrifft. Die Frage nach der Erkenntnis von Gut und Böse ist nämlich letztlich keineswegs nur ein Benennungsproblem, sondern im Prinzip auch ein Unterscheidungsproblem und damit ein Problem der menschlichen Denkmöglichkeiten und der sprachlichen Differenzierungsmöglichkeiten. Nach unserem heutigen Wissen müssen wir davon ausgehen, dass sich nicht nur die Sprachfahigkeit und die Sprachsysteme der Menschen evolutionär entwickelt haben, sondern auch ihr Sprachbewusstsein. Das rechtfertigt, sich auch mit der Vorgeschichte der expliziten Sprachreflexion näher zu beschäftigen bzw. mit dem Verhältnis von Sprache und Bewusstsein. Und in dieser Vorgeschichte spielt der Mythos vom Baum der Erkenntnis genau besehen eine sehr wichtige Rolle. Wenn wir die Geschichte über den Baum der Erkenntnis nicht als Bericht über ein punktuelles historisches Ereignis lesen bzw. als Bericht über den Sündenfall, sondern als eine Geschichte, die ein grundsätzliches Strukturproblem der menschlichen Existenz thematisiert, dann können wir unser Interesse auf mindestens zwei zentrale Problembereiche konzentrieren. Einerseits sollten wir uns Rechenschaft über alle Faktoren ablegen, die Einfluss auf das Verstehen dieser Geschichte ausüben oder ausüben können. Andererseits sollten wir berücksichtigen, dass in diesem Mythos ein phylogenetisches und ontogenetisches Entwicklungsproblem thematisiert wird, das eine fundamentale Bedeutsamkeit für alle Menschen hat. Im Bilde eines punktuellen Ereignisses wird etwas dargestellt, was im Prinzip immer wieder in Erscheinung tritt. Aus dem Schöpfungsbericht geht weder hervor, dass der Mensch von Gott ursprünglich als unsterblich konzipiert worden ist, noch, dass er mit Gott ursprünglich im Zustand einer vollkommenen Harmonie gelebt hat, noch, dass der Garten Eden ein Paradies im Sinne eines Schlaraffenlandes war, in welchem dem Menschen alles Lebensnotwendige ohne eigene Anstrengungen zugewachsen ist. Der Garten Eden wird vielmehr als ein Ort beschrieben, der durch ganz bestimmte Ordnungsstrukturen geprägt ist und in dem ganz bestimmte Handlungspostulate gelten. Dem entspricht auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Paradies, das aus dem Persischen entlehnt ist, wo es ein umzäuntes bzw. umwalltes Gebiet bezeichnet, also einen nach außen abgegrenzten Raum, der als Lebenssphäre so etwas wie Heimat für den Menschen bedeutet. Im Garten Eden bzw. im Paradiese gibt es nun neben allerlei Bäumen zwei ganz besondere Bäume, nämlich den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Merkwürdigerweise wird dem Menschen nun aber bei Strafe des Todes nur verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht aber vom Baum des Lebens. Außerdem gehört zum Inventar des
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Gartens die Schlange, die listiger, d.h. nach altem Sprachgebrauch klüger, ist als alle anderen Tiere. Die Schlange profiliert sich in dem Mythos dadurch, dass sie ganz allgemein in Zweifel zieht, dass Gott verboten habe, die Früchte von allerlei Bäumen im Garten zu essen. Darauf bekräftigt Eva das spezielle Verbot Gottes, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. In einer überschießenden Gehorsamshaltung verschärft sie die Anweisungen Gottes sogar noch, indem sie behauptet, es sei sogar bei Strafe des Todes verboten, die Früchte dieses Baumes nur zu berühren. Dagegen stellt die Schlange dann die These, dass der Genuss der Früchte dieses Baumes keineswegs zum Tode führe, sondern vielmehr dazu, dass den Menschen die Augen aufgetan würden und dass sie dann genau wie Gott wüssten, was gut und böse sei. Eva unterliegt dieser Verlockung, klug zu werden. Sie isst von den Früchten und gibt auch Adam davon zu essen, um nicht allein das Verbot zu übertreten. Die Konsequenz dieser Missachtung des Verbots ist nun aber keineswegs der biologische Tod, sondern vielmehr die bewusste Wahrnehmung ihrer faktisch schon vorher gegebenen Nacktheit und die Scham darüber. Anhand dieses Schamgefühls überführt Gott dann Adam und Eva, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben. Als Strafe wird ihnen auferlegt, ihr täglich Brot in harter Arbeit zu erwerben und es im Schweiße ihres Angesichts zu essen. Außerdem werden sie aus dem Garten Eden verwiesen, damit sie nicht auch noch vom Baume des Lebens essen und ewiglich leben.
3. Die Schlange als Zeichen Um die Schlange als Zeichen und insbesondere als ikonisches Zeichen für die Sprache zu verstehen, muss man zwei Sachkomplexe näher untersuchen. Einerseits ist zu klären, wie die listige Schlange des biblischen Mythos agiert und welche Zeichenfunktionen aus ihren Eigenschaften und ihren einzelnen Handlungen abzuleiten sind. Andererseits ist zu klären, welche Merkmale Schlangen generell haben bzw. welche ihnen zugeschrieben werden und wie dieses Sach- und Kulturwissen die potenziellen Zeichenfunktionen des Phänomens Schlange beeinflussen können. Beide Wahrnehmungsperspektiven sind wichtig, um den Sinn der Analogisierung von Sprache und Schlange im Aphorismus Jacobis zu verstehen bzw. die Rede vom Schlangenbetrug der Sprache bei Mauthner. In dem Mythos vom Baum der Erkenntnis ist die listige Schlange diejenige Kraft, die die vorgegebene Ordnung im Garten Eden destabilisiert, welche wohl als Exempel für Ordnungen aller Art anzusehen ist. Ihre besondere intellektuelle Kraft und geistige Beweglichkeit demonstriert die Schlange dadurch, dass sie eine Hypothese entwickelt, die sowohl den Denkrahmen von Eva als auch die normativen Ordnungen im Garten Eden transzendiert. „Ja sollte Gott
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gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?" Die besondere Raffinesse der Schlange konkretisiert sich dabei in zweierlei Hinsicht. Einerseits trägt sie ihre Hypothese nicht in Form einer Behauptung, sondern in Form einer Frage vor, wodurch sie ihre soziale und pragmatische Brisanz entscheidend abmildert. Andererseits verschärft sie das spezielle Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, zu dem generellen Verbot, von den Bäumen des Gartens zu essen. Durch diese Strategie gaukelt die Schlange Eva zum einen ein individuelles Informationsdefizit vor und bringt diese leicht dazu, sich versuchsweise eine andere Situation vorzustellen bzw. die gegebene Situation in einer anderen Denkperspektive als vorher wahrzunehmen. Zum anderen bringt die Schlange Eva durch das generalisierte Essensverbot dazu, einen fälschlich behaupteten Tatbestand aus dem Gefühl eines besseren Wissens richtig zu stellen. Mit dieser raffinierten Strategie verlockt die Schlange Eva dazu, das Reich des Faktischen in Richtung auf das Reich des Möglichen zu transzendieren und den schlüpfrigen Pfad der Interpretation einer vorgegebenen Ordnung bzw. eines klaren Verbots zu betreten. Dadurch, dass die Schlange die Diskussion über die Substanz und die Reichweite des Essensverbotes eröffnet, verliert dieses natürlich sofort an Relevanz, da es dadurch zu einer Denkmöglichkeit unter anderen gemacht wird. Diese Gesprächsstrategie der Schlange erweist sich als außerordentlich erfolgreich, denn Eva übernimmt das hypothetische Denken der Schlange. Ohne Not stellt sie das Verbot Gottes in wesentlich verschärfter Form dar und behauptet, dass nicht nur das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis zum Tode führe, sondern bereits das Berühren. Nachdem nun die Schlange auf diese Weise den Boden für das Denken in Alternativen, Varianten und Interpretationen vorbereitet hat, kann sie sich weiterhin als Hypothesenmacherin profilieren und die Voraussage wagen, dass das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis keineswegs zum Tode führe, sondern vielmehr zu einer neuen Qualität des Wissens und der Existenz, wobei sie gleichzeitig andeutet, dass Gott sein Verbot möglicherweise aus Neid und Missgunst ausgesprochen haben könnte. „Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist." Wenn wir nun das komplexe Phänomen Sprache durch die Brille der Vorstellung von der biblischen Schlange sehen, dann wird unsere Aufmerksamkeit perspektivisch auf die folgenden Merkmale von Sprache gelenkt. Die Sprache erscheint als ein Mittel, die operative Intelligenz zu entfalten und Hypothesen zu entwerfen, die uns aus dem Bann traditioneller Ordnungen und üblicher Verstehensweisen hinausführen. Mittels der Sprache kann das Denken Alternativen konkretisieren, die die Dominanz des faktisch Gegebenen und Erfahrbaren relativieren. Gleichzeitig erscheint die Sprache aber keineswegs nur als
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befreiende Kraft oder als ein neutrales Werkzeug des Denkens, sondern zugleich auch als eine Verführerin, da sie Denkwege und Denkmöglichkeiten eröffnet, die ohne ihre Hilfe gar nicht in Erscheinung treten könnten. Diese Verführungsmacht hat eine Spannbreite, die von der Eröffnung neuer Lebensmöglichkeiten bis zum „Schlangenbetrug der Sprache" im Sinne von Mauthner reicht. Die Menschen fühlen sich der Schlange bzw. der Sprache oft überlegen und glauben, diese beherrschen zu können. Sie merken zunächst nicht, dass beide eine Eigendynamik zu entwickeln vermögen, deren Wirkungskraft sich nicht leicht begrenzen lässt. Die Sprache, die man einmal als beherrschbares Denkmittel genutzt hat, kann dann leicht zu einem Zauberbesen werden, der unbeherrschbar wird, weil er sich immer neue Aktionsfelder erschließt und Konsequenzen zeitigt, mit denen man vorab nicht gerechnet hat. Die Faszination, aber auch die Ambivalenz des Bildspenders Schlange für den Bildempfänger Sprache wird auch fassbar, wenn wir unser allgemeines empirisches und kulturelles Wissen von Schlangen für das Verständnis des biblischen Mythos vom Baum der Erkenntnis einsetzen. Dabei stellt sich dann auch heraus, dass Jacobi und Mauthner nicht die ersten waren, die das Phänomen Schlange mit dem Phänomen Sprache in Verbindung gebracht haben, sondern dass sie hier in einer langen Tradition stehen. Dabei ist zu beachten, dass der Bildspender Schlange sowohl eine positive als auch eine negative Qualifizierungsfunktion für seinen jeweiligen Bildempfänger haben kann. Als positiv akzentuierter Bildspender kann die Schlange fur andere Phänomene von der Zeit bis zur Sprache hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Häutung erscheinen, denn diese Fähigkeit ist immer wieder als Sinnbild für die Vorstellung der Wiedergeburt, der Erneuerung und der Heilung angesehen worden. Dafür zeugt, dass in Ägypten die Schlange mit Osiris, dem Gott des Todes und der Wiedergeburt, in Verbindung gebracht worden ist und in Griechenland mit Asklepios, dem Gott der Heilkunst. Außerdem ist das Bild der sich in den Schwanz beißenden Schlange immer wieder als Sinnbild der Zeit, der Unsterblichkeit und der ewigen Wiederkehr verstanden worden. In dieser Denkperspektive kann dann die Schlange als Bildspender für das Phänomen Sprache ikonisch ins Bewusstsein bringen, dass auch die Sprache in einem unabschließbaren Erneuerungsprozess steht und dass ihre funktionelle Kraft und Stabilität letztlich daraus resultiert, dass sich der Prozess des Absterbens alter Formen in einem Fließgleichgewicht mit der Erzeugung neuer Formen befindet. Insbesondere Metaphern exemplifizieren diesen Erneuerungsprozess der Sprache auf sehr eindrückliche Weise. Eine explizite Korrelation der Phänomene Schlange und Sprache gibt es schon in der griechischen Mythologie, wo die Schlange immer wieder die Rolle eines Katalysators zugeschrieben wird, wenn es um das Verständnis von zunächst unverständlichen Phänomenen bzw. Zeichen geht. So wird berichtet, dass Melampos die Sprache der Tiere verstanden haben soll, nachdem ihm
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eine Brut junger Schlangen, die er vor dem Tode bewahrt hatte, die Ohren reingeleckt hatten. Athene soll eine Schlange beauftragt haben, die Ohren des Teiresias zu reinigen, damit er die Sprache der prophetischen Vögel verstehen könne. Kassandra und Helenos sollen die Gabe der Prophezeiung erworben haben, nachdem ihnen heilige Schlangen die Ohren geleckt hatten.8 Auch in den Grimmschen Märchen finden wir zwei positiv akzentuierte Schlangengeschichten. In einem Märchen (Die drei Schlangenblätter) verfugt eine Schlange über geheimnisvolle Blätter, mit deren Hilfe Tote wieder lebendig gemacht werden können. In einem anderen Märchen (Die weiße Schlange) wird von einer geheimnisvollen Schlangenspeise erzählt. Wer ein Stück einer weißen Schlange isst, der kann die Sprache der Tiere verstehen und ist deshalb kenntnisreicher als alle anderen. Aus Südchina ist die ambivalente Geschichte überliefert, dass sich die Menschen anfangs wie Schlangen gehäutet hätten und sich eben dadurch auch immer wieder hätten verjüngen können. Die Menschen seien erst sterblich geworden, als eine Frau und ihr Mann lieber sterben wollten, als sich der Qual der ständigen Häutung zu unterziehen. In Melanesien soll die Redewendung „seine Haut abstreifen" als eine sprachliche Redeweise verstanden werden, mit der man auf das ewige Leben Bezug nehmen kann.9 Auch in der Bibel finden sich weitere Hinweise auf die Schlange als ambivalentes Sinnbild. Es wird berichtet, dass Gott feurige Schlangen geschickt habe, um das sündige Volk Israel mit Todesbissen zu bestrafen. Als schon viele gestorben waren und Moses Fürbitte eingelegt hatte, habe Gott ihm befohlen, eine eherne Schlange aufzurichten, deren Anblick es den Gebissenen ermöglicht habe, am Leben zu bleiben (4. Mose, 21.6ff.). Im Matthäusevangelium wird der Rat gegeben: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben." (Matthäus 10.16). Die byzantinischen und koptischen Bischöfe tragen Stäbe, die an ihren Enden in zwei Schlangen auslaufen, die wohl als Sinnbilder der Klugheit zu verstehen sind.10 Wenn man das Phänomen Sprache in der Perspektive dieses meist positiven Verständnisses von Schlangen sieht, dann liegt es nahe, die Sprache nicht nur als ein Phänomen zu betrachten, das sich selbst ständig erneuert, sondern auch als ein Mittel, etwas zugänglich zu machen, das vorher unzugänglich war, bzw. als ein Mittel, das Kräfte freizusetzen vermag, die vorher nicht verfugbar oder wirksam waren. Die durch Sprache angeregten Neuerungen werden dabei weniger als lineare Fortschrittsprozesse begriffen, sondern eher als qualitative Sprünge auf eine andere Ebene, bei denen allerdings nicht nur etwas gewonnen, sondern auch immer etwas verloren wird. Diese innere Spannung hatte wohl auch Jacobi im Auge, als er sein Diktum von der Sprache als der
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Vgl. R. Ranke-Graves, Griechische Mythologie, 1965, Bd. 1, S. 210, Bd. 2, S. 8, S. 254. Vgl. H. Egli, Das Schlangensymbol, 1982, S. 59ff. Vgl. M. Lurker, Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, 1987 3 , S. 320.
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Schlange aus dem Paradiese in demselben Brief an Herder durch eine andere Aussage ergänzte. ,JLs geht eben den Sprachen wie allen Leibern; sie sterben von der Fortsetzung ihres Lebens, und es giebt für sie, wie überhaupt, kein Mittel den Geist zu erhalten außer dem Geiste,"u Die schon angedeutete Ambivalenz der Schlangenvorstellung wird erst ganz verständlich, wenn auch die bedrohlichen Implikationen des Ikons Schlange herausgearbeitet werden, weil nur dann die ganze Spannweite der Dialektik von Leben und Tod fassbar wird, die sich mit dem Bild der Schlange verbindet. Erst dann tritt die Schlange als ikonisches Zeichen für eine Kraft in Erscheinung, die die menschliche Existenz auf unterschiedlichen Ebenen auch gefährden kann. Dementsprechend lässt sich die Schlange dann auch als eine Gegenspielerin des Menschen verstehen. Eine solche Wahrnehmungsperspektive für die Schlange wird nahe gelegt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Schlange aus dem Verborgenen zubeißt, dass sie über todbringende Giftzähne verfügen kann, dass sie ihre Opfer zu hypnotisieren vermag, dass ihre Lebenssphäre und ihre Bewegungsmöglichkeiten unberechenbar sind und dass sie eine gespaltene Zunge hat. So gesehen erscheint die Schlange als Widersacherin des Menschen, vor der dieser ständig auf der Hut sein muss. Für Psychologen liegt es dann auch nahe, die Schlange als Sinnbild für die chthonische Triebwelt zu deuten und Schlangenträume als einen Ausdruck der Angst zu verstehen, verschlungen und vergiftet zu werden. Eine solche Auffassung stützen auch andere mythische Schlangenvorstellungen. Gilgamesch wird von einer Schlange das Kraut des Lebens und der Verjüngung gestohlen, als er gerade lustvoll badet.12 Laokoon und seine Zwillinge werden von Seeschlangen erdrückt. Athene verwandelt Medusa wegen ihrer Affäre mit Poseidon in ein Ungeheuer mit Schlangenlocken.13 In der germanischen Mythologie wird die Schlange Nidhögg als schrecklicher Beißer bezeichnet, der an den Wurzel der Weltesche Yggdrasil nagt. Die Schlange steht hier für die bösen Mächte des Universums, gegen die die guten Mächte ständig ankämpfen müssen. Bezeichnenderweise verweist auch Mephisto im Faust auf die Schlange als seine „Muhme" und schreibt dem wissenschaftsgläubigen Schüler ironisch die Vorhersage der Schlange über die Wirkungen des Genusses der Früchte vom Baum der Erkenntnis ins Stammbuch: Iritis sicut Deus scientes bonum et malum." Das ist insbesondere deshalb so aufschlussreich, da Mephisto sich selbst als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft' bezeichnet.14
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F.H. Jacobi, Werke, Bd. 3, S. 558. Vgl. H. McCall, Mesopotamische Mythen, 2002, S. 91. Vgl. R. Ranke-Graves, Griechische Mythologie, 1965, Bd. 2, S. 323, Bd. 1, S. 112. Goethe, Faust, Vers 335,2048ff., 1335f„ Hamburger Ausgabe, Bd. 3, S. 18, 66,47.
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Dieses eher negativ akzentuierte Schlangenverständnis ist nun insbesondere deshalb so interessant, weil der Mensch durch das mit der Schlange verbundene Bedrohungspotenzial immer wieder gezwungen wird, Gegenkräfte auszubilden, die fur ihn selbst eine identitätsbildende und identitätssichernde Funktion haben. In der Auseinandersetzung mit der Bedrohung durch die Schlange wird der Mensch dazu angeregt und gezwungen, Lebensformen und Strukturordnungen zu entwickeln, welche seinen Ort in der Welt festlegen und seine Lebensaufgaben präzisieren. Das Gefahrenpotenzial und die Negationsmacht der Schlange entbinden bei dem Menschen Kräfte, die ihm dabei helfen, sich in der Welt zu behaupten. Vielleicht kann der Schlange sogar eine Katalysatorfunktion zugeschrieben werden, wenn ihr nicht nur zugebilligt wird, menschliche Kräfte auf indirekte Weise freizusetzen, sondern auch zusammenzuführen. Wenn wir uns in diesem Denkrahmen bewegen, dann wird die Analogisierung von Schlange und Sprache allerdings auch etwas einseitig und problematisch. Die Sprache erscheint auf den ersten Blick nur als eine Gegenmacht des Menschen, aber nicht als etwas, was dieser selbst hervorgebracht hat, was also Fleisch von seinem Fleische ist. Auf einen zweiten Blick kann sich dann allerdings ein etwas differenziertes Bild ergeben, bei dem insbesondere auf die Ambivalenz der Schlangenvorstellung Bezug zu nehmen ist. Die Sprache ist sicher solange eine Gegenmacht für den Menschen, wie sie diesem als Ergon im Sinne Humboldts oder als langue im Sinne de Saussures gegenübertritt, also als ein System vorgegebener Denkmuster, die das individuelle Denken kanalisieren, einschränken und behindern. Hofmannsthal hat das pointiert zum Ausdruck gebracht: „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit."15 Insofern wir nun aber auch daran denken können, dass die Sprache von der Gattung Mensch hervorgebracht worden ist und dass sich in ihren Formen ein Wissen angesammelt hat, das auf den kognitiven Anstrengungen vieler Generationen beruht, dann lässt sich die Sprache nicht nur als eine Gegenmacht der Individuen ansehen, sondern auch als eine Schatztruhe, auf die diese im aktuellen Sprachgebrauch zurückgreifen können. Wenn man weiter berücksichtigt, dass die Einengung des Denkens, die von den einzelnen Sprachsystemen als überindividuellen Institutionen droht, nicht unüberwindbar ist, weil man auch auf andere Sprachen zurückgreifen kann bzw. weil man bei jedem Sprachgebrauch das vorgegebene Sprachsystem partiell verändern kann, dann kann die Bedrohung des Denkens durch die Sprache immer nur als eine vorläufige angesehen werden. Das veranschaulicht der metaphorische und ironische Sprachgebrauch sehr deutlich. Das Verhältnis von Schlange und Mensch bzw. Sprache und Mensch kann dementsprechend nicht als ein starres Oppositions- oder gar Negationsverhält15
H. v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa I, 1950, S. 267.
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nis angesehen werden, sondern allenfalls als ein wandlungsfahiges Spannungsverhältnis, das Gefahren wie Chancen beinhaltet. Das hat Humboldt sehr prägnant formuliert. „Die Sprache aber ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit, für den Menschen etwas Fremdes; er ist dadurch auf der einen Seite gebunden, aber auf der andren durch das von allen früheren Geschlechten in sie Gelegte bereichert, erkräftigt und angeregt,"16
4. Das Problem des Todes und der Arbeit Die Behauptung der Schlange, dass der Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis nicht zum Tode führe, scheint sich im weiteren Verlauf der Geschichte voll und ganz zu bestätigen. Allerdings stellen sich im Zusammenhang mit dieser Thematik drei ineinander greifende Fragen. Sollte Gott eine leere Drohung ausgesprochen haben? Ist mit der Strafandrohung der biologische Tod von Adam und Eva gemeint oder ein anderer? Welche Rolle spielt im Kontext der Todesproblematik die Sprache? Obwohl für Adam und Eva nach dem Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis das biologische Leben nicht aufhört, so hört doch ihre bisherige Lebensform auf. Ihre neue Existenzweise ist dadurch bestimmt, dass sie nicht mehr wie Tiere in den vorgegebenen Regelkreisen von Reiz und Reaktion leben, sondern dass sie nun den Tod als Lebensende geistig zu antizipieren und in ihr Leben zu integrieren haben. Der Tod ist für beide nun nicht mehr nur etwas, vor dem man in unmittelbaren Bedrohungssituationen Todesangst entwickelt, sondern er wird nun Teil ihres Lebens. In der Existenzphilosophie hat man deshalb auch den geistig antizipierten Tod als den großen Tod von dem biologischen Ableben als dem kleinen Tod unterschieden. Auch von Anthropologen ist das ins Leben integrierte Todesbewusstsein immer wieder neben der Sprache als das entscheidende Kriterium angesehen worden, Menschen und Tiere voneinander zu unterscheiden. Tiere kennen wie Menschen in konkreten Bedrohungssituationen natürlich Todesangst. Sie retten sogar Artgenossen, die sich in Todesgefahr befinden; sie trauern auch um Gestorbene, aber sie bestatten ihre Artgenossen nicht. Tiere haben allerdings kein Todesbewusstsein in dem Sinne, dass sie, abgesehen von manchen Verhaltensprogrammen, geistig Vorsorge für das Überleben in der Zukunft treffen, sei es eine Vorsorge für das aktuelle Leben, sei es eine Vorsorge für ein mögliches Leben danach. Sie betrachten den Tod nicht als Grenze ihrer Existenz, um daraus ein spezifisches Lebens- und Selbstbewusstsein abzuleiten. Tiere sterben, aber sie sind durch Instinkte bzw. angeborene Verhaltensprogramme so in den Regelkreis des allgemeinen Lebens eingebun16
W. v. Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 27. Werke, Bd. 3, S. 20.
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den, dass sie nicht wissen müssen, dass sie sterben, um alle für sie erforderlichen Lebensleistungen erbringen zu können. Beim Menschen kann das Todesbewusstsein natürlich bestimmte Lebensleistungen lähmen, aber durchaus auch anregen, da nur der Tod sicher ist, aber nicht die Todesstunde. Das Bewusstsein unendlicher Lebenszeit wäre kein wirkliches Motiv, aus dem Leben bzw. aus der zur Verfügung stehenden Lebensspanne etwas zu machen, da alle diesbezüglichen Anstrengungen in eine fernere Zukunft verlegt werden könnten. Bei einem ewigen Leben gäbe es kaum eine Lebensspannung, die ein zukunftsträchtiges Handeln tragen könnte. Ein Selbstbewusstsein, zu dem auch der Wille gehörte, etwas zu gestalten und Widerstände zu brechen, könnte sich kaum entfalten. So gesehen lässt sich sagen, dass das Bewusstsein des künftigen Todes die Menschen in hohem Maße aus den vorgegebenen Reiz-Reaktions-Kreisen der Natur herausfuhrt, weil es sie dazu motiviert, wenn nicht gar dazu zwingt, sich Lebensziele zu setzen und nicht in biologischen oder traditionellen Regelkreisen zu verharren. Das Bewusstsein des zukünftigen Todes fuhrt das Denken dazu, für sich selbst neben dem Gegenstandsbewusstsein eine Denkstufe höher ein Reflexionsbewusstsein zu entwickeln, in dem auch der Sinn des Lebens zum Thema gemacht werden kann. Wenn man nun die Vorhersage Gottes, dass das Essen vom Baum der Erkenntnis zum Todes führe, so versteht, dass damit nicht der kleine bzw. der biologische Tod gemeint ist, sondern der große bzw. der geistig antizipierte und gewusste Tod, dann klären sich viele Probleme beim Verständnis unseres Mythos von selbst. Gott äußert keine leere Drohung. Er muss auch das Essen vom Baum des Lebens gar nicht ausdrücklich verbieten, weil dessen Früchte erst dann attraktiv werden, wenn man schon ein Todesbewusstsein hat bzw. vom Baum der Erkenntnis bereits gegessen hat. Ja man könnte sogar die Frage stellen, ob mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis bzw. mit dem Erwerb des Todesbewusstseins die Schöpfung des Menschen nicht erst wirklich abgeschlossen wird. Dann würde gleichsam der Mensch selbst bzw. bestimmte Kräfte des Menschen, die durch die Schlange versinnbildlicht werden, die Schöpfung des Menschen zu Ende fuhren. Mit einem solchen Verständnis der Strafe des Todes gewinnt dann nicht nur das Phänomen Sprache eine ganz besondere Relevanz für das Gesamtverständnis des Mythos, sondern auch das Phänomen Arbeit. Die Sprache, sofern man diese nicht nur als ein System von Zeichen zur Steuerung von Handlungen versteht, sondern auch als ein System von Zeichen zum Entwurf von geistigen Vorstellungswelten, ist dann eine unverzichtbare Prämisse zur Entfaltung eines Todesbewusstseins bzw. zur Integration des Todes in die Sinngebung des Lebens. Deshalb wird in unserem Mythos die Existenz der Sprache auch schon immer als gegeben vorausgesetzt. In ihm wird die Sprachproblematik konsequent von der Todesproblematik getrennt, weil in der Denkform des Mythos Entwicklungen im Prinzip immer nur im
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Sinne von linearen Kausalketten verstanden werden, aber nicht im Sinne von evolutionären Spiralbewegungen bzw. im Sinne von Prozessen der Ko-Evolution von Teilfaktoren. Heute würden wir wohl eher dazu neigen, die Entwicklung des Todesbewusstseins und die Entwicklung der Sprache bzw. des Sprachbewusstseins als einen korrelativen spiralförmigen Gesamtprozess zu verstehen, in dem auch das Phänomen Arbeit auf konstitutive Weise eingebunden ist, das ja auch in unserem Mythos eine große Rolle spielt. Das Phänomen der Arbeit lässt sich mit dem des Todes und der Sprache über die Kategorie Vorsorge verknüpfen. Wenn man das Leben sichern will, dann muss man Vorsorge dafür treffen, dass es nicht rein zufällig endet, weil man bestimmte berechenbare Umstände nicht beachtet hat. Wenn man das Leben nicht von den Zufallen des Findens abhängig machen will, dann muss man arbeiten bzw. vom Sammeln und Jagen zum planvollen Ackerbau und Handwerk übergehen und letztlich zu einer differenzierten Arbeitsteilung. Die Vorsorge zwingt zum Denken und zur Antizipation künftiger Situationen, da man nicht darauf vertrauen kann, dass der Tisch der Natur immer reichlich gedeckt ist. So gesehen ließe sich die Vertreibung aus dem Garten Eden bzw. aus dem Paradies weniger als Vertreibung aus einem ganz bestimmten, geographisch fixierbarem Raum verstehen, sondern eher als eine neue Wahrnehmung des schon gegebenen Raumes. Die Cherubim würden dann nicht mehr den Zugang zu einem bestimmten Raum verhindern, sondern die Rückkehr zu einer alten Lebensform bzw. Bewusstseinsstufe, in der die Antizipation des Todes und die Vorsorge für die Zukunft keine konstitutive Rolle spielt. Die Korrelation von Vorsorge und Denken bzw. von Arbeit und Bewusstsein lässt sich sehr schön durch eine Episode exemplifizieren, die der Polarforscher Peary mit einem Eskimo erlebt hat. Auf die Frage, woran er denke, hatte der Eskimo geantwortet: „Ich habe an nichts zu denken... ich habe eine Menge Fleisch."11 Diese Antwort macht auf geradezu klassische Weise deutlich, welche Rolle die Vorsorge im Kontext des Todesbewusstseins nicht nur für die Entwicklung der Arbeit und der Arbeitsteilung spielt, sondern auch für die des Denkens, der Sprache und der Kultur. Not lehrt nicht nur beten, sondern macht auch erfinderisch. Sie zwingt nicht nur dazu, aus allen Abhängigkeiten und Regelkreisen auszubrechen, sondern auch dazu, neue zu organisieren. Arbeit als zielgerichtete zukunftsorientierte Anstrengung im Dienste der Vorsorge befreit ebenso wie die Sprache von der Bindung an individuelle gegenwärtige Eindrücke und von der Knechtschaft in zufälligen Situationen. Sie führt uns zu der Aneignung der Natur und zur Aneignung des eigenen Lebens. Einerseits setzt Arbeit immer das Bewusstsein von Alternativen voraus und damit natürlich auch von Sprache, mit der sich Alternativen vorstellungsmäßig erst konkretisieren lassen. Anderer17
Zit. nach R. Riedl, Die Strategien der Genesis, 1980 2 , S. 291.
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seits fördert die Arbeit aber auch die Entwicklung eines differenzierten Bewusstseins und einer differenzierten Sprache. Wenn man dieser Interpretation folgt, dann wird man wohl auch einräumen müssen, dass das Essen vom Baum der Erkenntnis bzw. die damit verbundene Entfaltung des Todesbewusstseins zur Schöpfungsgeschichte des Menschen als Menschen gehört und nicht als ein Versagen oder als ein 'Betriebsunfall' anzusehen ist. Der so genannte Sündenfall wäre dann ein Teil des Schöpfungsprozesses, weil erst dadurch Adam und Eva aus dem Orden der Tiere austreten. Dementsprechend dürfte er dann auch nicht als ein individuelles historisches Ereignis angesehen werden, sondern vielmehr als Sinnbild für den Übergang des Menschen in eine neue Lebensform. Der Theologe Paul Tillich hat diesen Übergang als Übergang von einem Leben in träumender Unschuld zur Existenz als einem Leben mit der Freiheit zur Entscheidung beschrieben.18 Solche Übergänge würden in Mythen als einmalige Begebenheiten dargestellt, sie seien aber in Wirklichkeit immer wiederkehrende Vorgänge im menschlichen Leben. Eine solche Interpretation gewinnt an Plausibilität, wenn wir uns nun auf die Frage konzentrieren, was eigentlich in unserem Mythos mit dem Wissen von Gut und Böse gemeint ist und welche hermeneutischen und sprachtheoretischen Implikationen mit dieser Formel verbunden sind.
5. Die Erkenntnis des Guten und Bösen Ganz ähnlich wie Adam und Eva nach dem Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis nicht von dem faktischen Tod betroffen werden, sondern vielmehr von dem Problem, den geistig antizipierten Tod in ihr Leben zu integrieren, so gewinnen sie nach dem Genuss der Früchte auch kein faktisches Wissen von dem, was Gut und was Böse ist, sondern vielmehr nur das Wissen, dass es notwendig ist, zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden. Sie können nicht mehr einfach in einem vorgegebenen Rahmen leben, sondern werden vor die Notwendigkeit gestellt, diesen Rahmen geistig und faktisch zu gestalten. Das bedeutet, dass sie aus einer animalischen Existenz in eine ethische übertreten müssen. Für diese Deutung lässt sich Folgendes geltend machen. Der Hinweis darauf, dass Adam und Eva die ,,fingen aufgetan" werden, ist sicher nicht in einem optischen, sondern in einem geistigen Sinne zu verstehen. Nach dem Genuss der Früchte erschließt sich ihnen eine neue Wahrnehmungsund Denkebene und damit auch eine neue Existenzform. Wenn man so will, dann ist der Baum der Erkenntnis weniger ein Baum des Wissens, sondern eher ein Baum des Bewusstseins. Seine Früchte führen nicht zur Ausweitung 18
P. Tillich, Systematische Theologie, 1956 3 , Bd. 2, S. 40.
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des empirischen Sachwissens, sondern auf einer neuen Wissensebene zur Ausbildung neuer Wissensformen. Hier kann das Wissen der ersten Ebene nicht nur kategorial geordnet, sondern auch ethisch bewertet werden. So gesehen kann der Baum der Erkenntnis dann auch als Baum des Gewissens qualifiziert werden, weil der Genuss seiner Früchte dazu fuhrt, dem faktischen Einzelwissen einen ethischen Stellenwert in einem umfassenden Wissen zuordnen zu können (lat. con-scientia = Mitwissen/Gewissen). In diesem Zusammenhang ist sehr aufschlussreich, dass Adam und Eva nach dem Genuss der Früchte ihre Nacktheit nicht mehr als natürliche Nacktheit, sondern vielmehr als Entblößt-Sein wahrnehmen und darüber Scham empfinden. Diese Scham ist nicht nur als eine sexuelle Form der Scham zu verstehen, sondern darüber hinaus auch als ein Hinweis auf eine metaphysisch zu verstehende Form der Scham, die aus der Diskrepanz zwischen dem Sein und dem Sollen resultiert. Das instinktgeleitete Leben kennt das Phänomen der Scham nicht. Dieses wird erst fassbar, wenn man sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht, seine Wahrnehmungen und Handlungen in umfassende Ordnungs- und Wertzusammenhänge einzuordnen, und die Erfahrung macht, an bestimmten Postulaten zu scheitern. Deshalb ist die Scham auch immer wieder als ein wichtiges Kriterium angesehen worden, um die menschliche von der tierischen Existenzweise zu unterscheiden. Dementsprechend sieht Bröcker die Scham auch als ein Indiz für den Verlust der tierischen Unbefangenheit an. „Sie ist das Gefühl, nicht mehr Tier und doch noch Tier zu sein."19 Es besteht nun aber durchaus auch die Möglichkeit, die Formel von der Erkenntnis des Guten und Bösen viel bescheidener in einem ganz pragmatischen Sinne zu verstehen. Der hebräische Sprachgebrauch erlaubt es offenbar, die Differenz zwischen dem Guten und dem Bösen als Differenz zwischen dem Nützlichen und dem Schädlichen anzusehen. Martin Buber hat deshalb vorgeschlagen, die Formel von der Erkenntnis des Guten und Bösen als eine Formel zu verstehen, die sich auf „Erkenntnis überhaupt, Kenntnis der Welt, Wissen um alle guten und schlimmen Dinge" bezieht. 20 G. von Rad verweist sogar darauf, dass diese Formel im alttestamentarischen Sprachgebrauch keineswegs nur in einem moralischen Sinne zu verstehen sei. Sie bedeute meist in der Opposition zu nichts wissen soviel wie „alles" wissen. „Erkenntnis von Gut und Böse bedeutet also Allwissenheit im weitesten Sinne des Wortes."21 Wenn man Erkenntnis bzw. das Wissen um das Gute und Böse in diesem pragmatischen Sinne versteht, der ethische und metareflexive Implikationen natürlich nicht ausschließt, dann 'verführt' die Schlange zu der Freiheit, Unterscheidungen treffen zu können, aber auch zu der Notwendigkeit, Unterscheidungen treffen zu müssen, die für das menschliche Leben pragmatisch wichtig 19
20 21
W. Bröcker, Der Mythos vom Baum der Erkenntnis, in: Anteile, M. Heidegger zum 60. Geburtstag, 1950, S. 40. M. Buber, Bilder von Gut und Böse, 1953 2 , S. 20. G. v. Rad, Das erste Buch Mose, Genesis 1.1-11.29, in: Das Alte Testament, 1949/50, S. 65.
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sind. Das dazu erforderliche Wissen ist dann allerdings weniger als ein theoretisches Wissen zu verstehen, das man sich in kontemplativen Analysesituationen verschaffen kann, sondern eher als ein praktisches Wissen, das aus Handlungserfahrungen hervorgeht. So gesehen beschleunigt die Schlange bzw. das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis eigentlich nur den Erwerb von Wissensinhalten, die der Mensch für seine Lebensbedürfnisse ohnehin erwerben und entwickeln müsste. Ganz gleich, ob man das Essen vom Baum der Erkenntnis nun als ein Sinnbild versteht, in dem die Entstehung des Bewusstseins und des Geistes auf mythische Weise objektiviert wird, oder als ein Sinnbild, in dem der Erwerb praktischen Wissens thematisiert wird, in jedem Fall hat dieses Vorstellungsbild mit der Ausbildung differenzierender und repräsentierender Zeichen bzw. mit Sprache zu tun. Während das Tier in der Regel einzelne Wahrnehmungseindrücke pragmatisch wichtigen Reaktionsmustern zuordnet und damit z.B. etwas sofort als Nahrung, als Beute oder als Gefahr wahrnimmt, hat der Mensch kraft Sprache eine sehr viel größere Spannweite, etwas als etwas wahrzunehmen. Das ist möglich, weil er spezifische Reizkonfigurationen auf sehr unterschiedliche kulturell erarbeitete Objektivierungsmuster zuordnen kann. Deshalb hat der Mensch dann auch sehr viel größere Freiheitsgrade, um bestimmte Reizkonfigurationen als spezifische Sachinhalte wahrzunehmen und differenziert auf sie zu reagieren. Beispielsweise kann er dieselbe Reizkonfiguration als Fisch, als Nahrungsmittel, als ästhetisches Gebilde, als Indiz für gesundes Gewässer oder als ein religiöses Zeichen wahrnehmen. Vor diesem Hintergrund wird nun auch besser verständlich, warum man sich gerade im Zeitalter der Aufklärimg, in dem man ja so nachdrücklich auf die geistige Selbstentfaltung sowie auf die Steuerungsfunktion des Denkens gesetzt hatte, so vehement dagegen gewehrt hat, die Geschichte des Essens vom Baum der Erkenntnis als Sündenfallsgeschichte zu verstehen bzw. die Schlange als eine Erscheinungsform des Satans. Der Aufklärung lag es ganz besonders nahe, diesen Mythos als eine Geschichte über die Emanzipation des Menschengeschlechtes zu rezipieren. Nahe liegend ist dann auch, dass im Zeitalter des Idealismus dieser Mythos als eine Geschichte über die dialektische Funktion des Bösen wahrgenommen wurde. Kant hat in einem Aufsatz von 1786 darauf verwiesen, dass in der Geschichte vom Baum der Erkenntnis gezeigt werde, wie sich der Mensch aus seiner Gebundenheit an die Instinkte und an die Sinnlichkeit von Anschauungen ablöse, um sich der Führung durch die Vernunft anzuvertrauen. Insbesondere die Verwendung des Feigenblattes deutet er als eine erste Äußerungsform der Vernunft. Dadurch, dass man etwas den Sinnen entziehe, zeige sich „schon das Bewußtsein einiger Herrschaft der Vernunft über die Antriebe."22 Der Schritt aus dem Paradiese sei „der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß 22
I. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, A 9, Werke, Bd. 11, S. 89.
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tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen..."23 Noch enthusiastischer als Kant hat sich Schiller 1790 über den Vorfall im Garten Eden geäußert. Er versteht im Anschluss an Kant das Essen vom Baum der Erkenntnis als einen entscheidenden Schritt des Menschen in dem Bemühen aus dem Reiche der Natur in das des Geistes überzutreten, das er zugleich als ein Reich der Freiheit zur Entwicklung von Moral ansieht. „Wenn wir also jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntniß verbot, in eine Stimme seines Instinkts verwandeln, der ihn von diesem Baume zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders als - ein Abfall von seinem Instinkte - also, die erste Aeußerung seiner Selbsthätigkeit, erstes Wagestuck seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseyns. Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte der das moralische Uebel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darinn möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt."24 In einer vergleichbaren Richtung, aber nicht ganz so enthusiastisch und mit einer etwas anderen Akzentsetzung hat sich 1792 der 17-jährige Schelling in seiner Magisterarbeit Über den ersten Ursprung der menschlichen Bosheit geäußert. Ihn interessieren vor allem die Funktionen und Implikationen der Entscheidung, vom Baum der Erkenntnis zu essen, sowie die Rolle des moralischen Übels bei der Entfaltung der menschlichen Vernunft. Es stellt sich die Frage, ob in diesem Mythos bzw. Philosophem nicht die „allerersten Ursprünge der menschlichen Bosheit beschrieben werden",25 Für ihn beschreibt diese Geschichte die Verbannung des Menschen aus dem goldenen Zeitalter und den Übergang in das Reich der Vernunft, welches die engen Grenzen der Sinneswahrnehmungen transzendiere. Aufgabe der Vernunft sei es, „das Böse vom Guten zu unterscheiden" und eben dadurch das „Reich der Natur" zu verlassen. 26 Die Schlange repräsentiert für Schelling eigentlich nur eine innere Kraft des Menschen. „Die Schlange ist nur zu dem Zweck in das Philosophem eingeführt worden, damit sie die Gemütsbewegungen des Menschen, der sich selbst zur Berührung der verbotenen Früchte der Erkenntnis reizt, sehr genau
23 24
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26
I. Kant, a.a.O., A12/93, S. 92. F. v. Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde, Nationalausgabe, Bd. 17, 1970, S. 399-400. F.W.J. Schelling, Ein kritischer und philosophischer Auslegungsversuch des ältesten Philosophems von Genesis III über den ersten Ursprung der menschlichen Bosheit. Historischkritische Ausgabe, Reihe 1, Werke, Bd. 1, 1976, S. 122. F.W.J. Schelling, a.a.O., S. 133.
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zum Ausdruck bringt,"27 Die Vernunft habe uns zwar aus „dem glückseligen Naturzustand herausgeführt' und durch die Anregung zur Erforschung der höchsten Ziele" auch in Probleme verstrickt, die eine Sehnsucht „nach den glückseligen Bäumen Edens" ausgelöst hätten, aber gleichwohl ist er der Meinung, dass wir „auch angesichts dieser Mühseligkeiten niemals zurückkehren würden - auch nicht, wenn wir in jenes Arkadien zurückkehren könnten."2* Der Mensch muss nach Schelling mit der Spannung fertig werden, die daraus resultiere, dass er in zwei Ordnungszusammenhänge eingefügt sei. „Zum einen ist er von der Sinnlichkeit gefesselt, zum anderen ist er Bürger des intelligiblen Reiches."29 Aus der Freiheit des Menschen, in diesem Spannungsverhältnis Entscheidungen treffen zu können, resultiere das moralisch Böse, da er dabei die Normen des einen oder des anderen Reiches verletzen könne. Je mehr sich seine Entscheidungsspontaneität vergrößert habe, desto mehr habe auch seine Bosheit zugenommen. Aber diesen Tatbestand deutet Schelling nun keineswegs nur negativ, denn er sieht darin nämlich auch ein stimulierendes Moment für die Kulturgeschichte. „Die auf uns einstürmende Macht des Bösen und Üblen hat nämlich den Geist weniger unterdrückt als vielmehr angespornt; sie hat uns nicht so sehr Mißtrauen gegenüber uns selbst als vielmehr Gewißheit und Vertrauen eingeflößt, daß wir das vermögen, was wir wollen; sie hat uns geradezu genötigt, mit immer mehr geschultem und geschärftem Geist nach einer Schwächung dieser Bosheit in uns selbst zu forschen und den Geist von einer bloßen Betrachtung der Bosheit auf die Suche nach dem Weg zu einer immer höheren und glückseligeren Vollkommenheit zu lenken." 30
Ganz ähnlich wie Schelling sieht auch Hegel das Essen vom Baum der Erkenntnis in einem ikonischen Sinne als das entscheidende Ereignis an, durch das der Mensch sich vom Reiche der Natur gelöst habe, um in das Reich des Geistes bzw. der Reflexion einzutreten. „Das Erkennen als Aufhebung der natürlichen Einheit ist der Sündenfall, der keine zufällige, sondern die ewige Geschichte des Geistes ist. Denn der Zustand der Unschuld, dieser paradiesische Zustand, ist der tierische. Das Paradies ist ein Park, wo nur Tiere und nicht Menschen bleiben können. Denn das Tier ist mit Gott eins, aber nur an sich. Nur der Mensch ist Geist, d.h. für sich selbst. Dieses Fürsichsein, dieses Bewußtsein ist aber zugleich die Trennung von dem allgemeinen göttlichen Geist. Halte ich mich in meiner abstrakten Freiheit gegen das Gute, so ist dies eben der Standpunkt des Bösen. Der Sündenfall ist daher der ewige Mythus des Menschen, wodurch er eben Mensch wird." 31
27 28 29 30 51
F.W.J. Schelling, a.a.O., S. 134. F.W.J. Schelling, a.a.O., S. 140. F.W.J. Schelling, a.a.O., S. 141. F.W.J. Schelling, a.a.O., S. 145. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, S. 389.
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Für Hegel besteht die Besonderheit des Geistes bzw. der Reflexion darin, sich im Denken auf anderes und auf sich selbst beziehen zu können, etwas zu begreifen und eben dabei auch sich selbst zu begreifen. Dadurch transformierten sich für den Menschen in Reflexionsprozessen die Dinge von dem Status des An-Sich zu dem Status des Für-Mich, sodass letztlich Sein und Wissen zusammenfielen. Voraussetzung dafür sei dann allerdings, dass mit Hilfe von Begriffen die Unmittelbarkeit der Dinge aufgelöst werde und dadurch zu einer vermittelten Unmittelbarkeit werde. Deshalb hat Hegel dann auch die Funktion der Sprache als „Ertötung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein" bestimmt. 32 Heinrich Heine hat es sich dann in seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie des Idealismus nicht nehmen lassen, ironisch darauf aufmerksam zu machen, dass die biblische Schlange, die faktisch die Negation der Negation praktiziere und auf diese Weise dem Geist bzw. dem Bewusstsein zum Wissen seiner selbst verhelfe, schon die Hegeische Philosophie vorweggenommen habe. „Es stehen überhaupt noch viele schöne und merkwürdige Erzählungen in der Bibel, die ihre Beachtung wert wären, z.B. gleich im Anfang die Geschichte von dem verbotenen Baume im Paradiese und von der Schlange, der kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegeische Philosophie vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigte sehr scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gott werde durch die Erkenntnis, oder was dasselbe ist, wie Gott im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst gelange - Diese Formel ist nicht so klar wie die ursprünglichen Worte: Wenn ihr vom Baume der Erkenntnis genossen, werdet ihr wie Gott sein! Frau Eva verstand von der ganzen Demonstration nur das Eine, daß die Frucht verboten sei, und weil sie verboten, aß sie davon, die gute Frau. Aber kaum hatte sie von dem lockenden Apfel gegessen, so verlor sie ihre Unschuld, ihre naive Unmittelbarkeit, sie fand, daß sie viel zu nackend sei für eine Person von ihrem Stande, die Stammmutter so vieler künftigen Kaiser und Könige, und sie verlangte ein Kleid. Freilich nur ein Kleid von Feigenblättern, weil damals noch keine Lyoner Seidenfabrikanten geboren waren, und weil es auch im Paradiese noch keine Putzmacherinnen und Modehändlerinnen gab - ο Paradies! Sonderbar, so wie das Weib zum denkenden Selbstbewußtsein kommt, ist ihr erster Gedanke ein neues Kleid!" 33
32 33
G.W.F. Hegel, Texte zur philosophischen Propädeutik, § 159, Werke, Bd. 4, S. 52. H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Vorrede zur 2. Auflage, Sämtliche Schriften, Bd. 5, S. 510-511.
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6. Sprache, Denken und Bewusstsein Sofern wir die Geschichte vom Baum der Erkenntnis nicht als historischen Bericht über den Sündenfall verstehen, sondern als einen Mythos, der auf narrative Weise Problemstrukturen zu objektivieren versucht, die mit der Genese und der Struktur des Geistes zusammenhängen, dann lässt sich gut rechtfertigen, diese Geschichte auch als einen Beitrag zur Sprachreflexion zu verstehen. Dafür lassen sich abschließend und zusammenfassend eine Reihe von Gründen geltend machen, die z.T. direkt oder indirekt schon angesprochen worden sind. Mythen tendieren generell dazu, innere Kräfte und Dispositionen des Menschen zu eigenständigen Größen, wenn nicht zu Gegenspielern des Menschen zu verselbstständigen, damit sie als Handlungspotenzen klar herausgestellt und beschrieben werden können. Solche Hypostasierungen von inneren Kräften eröffnen natürlich immer ziemlich große Denkspielräume, in denen die konkreten Zuordnungen bzw. Interpretationen letztlich natürlich Plausibilitätsurteilen unterliegen. Hier wurde die Hypothese entfaltet und historisch abzusichern versucht, dass die Schlange als Sinnbild des menschlichen Bewusstseins oder Geistes und damit auch als Sinnbild der Sprache angesehen werden könne. Dabei wurde die Prämisse zu Grunde gelegt, dass Bewusstsein, Geist und Sprache nicht nur individuelle, sondern auch immer soziale Phänomene seien. Zur Rechtfertigung dieser Denkperspektive lässt sich darauf aufmerksam machen, dass die Schlange im biblischen Mythos und die Sprache im menschlichen Leben beide die Aufgabe erfüllen, eine Distanz zu aktuellen Situationen herzustellen. Die Schlange entwickelt eine Hypothese und schafft dadurch ein Bewusstsein fur eine andere Vorstellung bzw. fur die Kategorie der Alterität. Eine vergleichbare Leistung erbringt ja auch die Sprache, insofern sie vom Banne der unmittelbaren Anschauung befreien kann und alternative Vorstellungen zu konkretisieren und zu objektivieren vermag. Jede Benennung eines empirisch erfahrbaren oder geistig konstituierbaren Phänomens impliziert nicht nur eine kategoriale Zuordnung und perspektivische Interpretation, sondern auch das mehr oder weniger lebendige Bewusstsein, dass diese Zuordnung und Interpretation im Prinzip auch anders hätte ausfallen können. Durch die Sprache bzw. durch die Wahrnehmung der Sprache als Medium des Denkens lässt sich die Unmittelbarkeit der Anschauung und des Wissens aufheben und in eine vermittelte Unmittelbarkeit transformieren. Distanzierung und Interpretation sind deshalb im Hinblick auf die Sprache zwei Seiten einer Medaille. Das Interpretationsgeschäft ist strukturell immer dadurch geprägt, dass das zu Interpretierende in ganz bestimmte Relationen eingeordnet wird. Diese
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Relationen können als vertraute Relationen in Erscheinung treten, wenn die Sprache im Rahmen der traditionellen Denkkonventionen gebraucht wird. Sie können aber auch als innovative Relationen wahrgenommen werden, wenn die jeweils thematisierten Phänomene auf unkonventionelle Weise mit neuen Kategorien verknüpft werden und damit in ganz anderen Grundperspektiven in Erscheinung treten. Im Mythos vom Baum der Erkenntnis verkörpert die Schlange auf sehr eindrucksvolle Weise die Kraft, eine gegebene Wahrnehmungssituation bzw. ein gegebenes Wissen zu transzendieren und neuartige Korrelationen herstellen zu können. Vordergründig wird diese Kraft zur Interpretation, die sich auch in der Fähigkeit und Notwendigkeit manifestiert, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, durch das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis auf den Menschen übertragen. Hintergründig betrachtet springt sie aber eigentlich von der Schlange auf Eva und Adam über, da sie schon das Handeln und das Sprechen der Schlange bestimmt und sich im Prinzip auch schon in dem Umstand bemerkbar macht, dass Eva die Hypothesen der Schlange in Betracht zieht und ihren innovativen Interpretationen folgt. Wenn man nun die Schlange auch als Sinnbild für die Sprache ansieht, dann tritt die Sprache weniger als ein Medium für die Speicherung und Vermittlung von vorgegebenem Wissen in Erscheinung (Ergon), sondern eher als eine Kraft zur Hypothesenbildung und Wissenserzeugung (Energeia). Die Sprache würde so gesehen gleichsam immanent ständig dazu drängen, nicht nur gegebene Vorstellungen zu transzendieren und Phänomene in neuen Perspektiven zu objektivieren, sondern auch dazu, sich selbst immer wieder zu häuten bzw. ihre eigenen Manifestationsformen zu erneuern. Das interpretative und perspektivische Denken, das sich erst durch die Sprache bzw. durch Zeichen manifestieren und entfalten kann, lässt sich nicht mehr beschränken, wenn es einmal in Gang gesetzt worden ist. Allenfalls lässt es sich methodisch regulieren. Es richtet sich naturgemäß nicht nur sachthematisch auf vorgegebene Phänomene, sondern immer auch reflexionsthematisch auf sich selbst und seine Hilfsmittel. Eine große Stimulanz auf die Stiftung neuer Relationen und die Entwicklung des Selbstbewusstseins geht natürlich auch von dem Todesbewusstsein aus, insofern dieses das Denken dazu anregt, Denkperspektiven zu konkretisieren, die dabei helfen, dass Menschen Vorsorge für ihre empirische und metaphysische Zukunft treffen bzw. ihre Lebensspanne sinnvoll nutzen. Ebenso stimulierend wirkt sich auf das menschliche Denken natürlich auch die Notwendigkeit aus, zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden zu müssen. Ohne die konkrete Formulierung von Geboten und Verboten ist die Entwicklung einer differenzierten Kultur kaum vorstellbar. Tiere, die instinktgeleitet agieren, brauchen keine Handlungsnormen bzw. kein Wissen vom Guten und Bösen. Menschen, die traditionsgeleitet handeln, brauchen ebenfalls kein explizites Wissen vom Guten und Bösen, sondern allenfalls gefestigte Hand-
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lungsgewohnheiten. Menschen, die nicht mehr auf unbezweifelbare Handlungstraditionen zurückgreifen können bzw. die in einem aufklärerischen Sinne ihre eigene Vernunft gebrauchen wollen, benötigen dagegen argumentativ überprüfbare Normen bzw. ein explizites Wissen von dem, was als gut und was als böse gelten soll. Normen manifestieren sich üblicherweise in Form von Verboten, weil es pragmatisch effektiver ist, bestimmte schädliche Verhaltensweisen auszuschließen als bestimmte nützliche Handlungsweisen einzufordern. Nicht zufällig sind von den zehn Geboten nur zwei tatsächliche Gebote (den Feiertag heiligen, Vater und Mutter ehren), alle anderen sind Verbote, weil es offenbar leichter ist festzustellen, welche Handlungen destruktiv sind, als festzustellen, welche konstruktiv sind. Diese Struktur haben wir so internalisiert, dass uns unser Gewissen auch eher sagt, was wir nicht tun dürfen, als dass es uns sagt, was wir zu tun haben. Verbote sind als ganz besonders prägnante Bewusstseins- und Sprachphänomene anzusehen, was auch unser Mythos sehr klar und eindrücklich dokumentiert. Sprachlogisch gesehen impliziert jeder negierte Satz bzw. jede negierte Vorstellung einen positiv vorstellbaren Denkinhalt, dessen Realitätsgehalt bzw. Geltungsanspruch dann allerdings durch einen zusätzlichen metareflexiven Denkakt mit Hilfe eines expliziten sprachlichen Negationsmittels {nicht, kein, un-, -los usw.) geistig wieder aufgehoben oder durch andere Mittel nur relativiert wird (gelb-lich, ei-förmig). Negationen transzendieren die konkreten Anschauungen und reizen dazu, ihre Belastbarkeit zu erproben. Insbesondere relativierende Negationen stellen uns vor das Problem, die Intensität der Abweichung von einer Norm zu bedenken und damit auch die Leistungsfähigkeit der jeweils verwendeten sprachlichen Objektivierungsmittel. Deshalb lässt sich sagen, dass Verbote bzw. Negationen als Denkformen zu betrachten sind, die der Kategorie der Alterität auf exemplarische Weise Ausdruck geben und die aus dem hypothetischen Denken gar nicht mehr wegzudenken sind. So begegnet beispielsweise die Schlange dem Verbot Gottes mit einer gegenläufigen Vorstellung, die sprachlich zwar in Form einer Frage in Erscheinung tritt, die aber in pragmatischer Hinsicht sicher als eine relativierende Negation zu verstehen ist. Dadurch löst sie einen Denkprozess aus, der Eva und Adam letztlich zu neuen Ufern bzw. zu einer neuen Existenzweise führt. Es ist deshalb im Prinzip auch nicht überraschend, dass in vielen Mythen immer wieder das Übertreten von Verboten als Voraussetzung für die Entfaltung neuer Lebensweisen thematisiert wird, was beispielsweise der PrometheusMythos sehr klar zeigt. In vielen Märchen fuhrt bei der Lösung schwerer Aufgaben in der Regel nicht die Befolgung traditioneller Lösungsstrategien zum Erfolg, sondern vielmehr die Ausarbeitung neuer Lösungsstrategien vor dem Hintergrund der Negation der traditionell üblichen bzw. erwartbaren. Das Verständnis des Bösen als Negation des Guten hat im dialektischen Denken des Idealismus auch dazu gefuhrt, dass das Böse als Anregefaktor fur
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die Entwicklung des Guten verstanden worden ist. Das bot dann wieder die Chance, der Schlange eine wichtige katalytische Funktion für die Entfaltung von Denk- und Lebensprozessen zuzugestehen, sei es, dass man das Gute erst zu schätzen weiß, wenn man das Böse kennen gelernt hat, sei es, dass man sich aufgefordert fühlt, das Böse durch die Entwicklung des Guten zu negieren (Negation der Negation). In jedem Fall konnte man die These vertreten, dass die Auseinandersetzung mit dem Bösen das Denken auf umfassende Weise dazu anregt, seine eigenen Manifestationen sachthematisch und sprachlich klarer auszugestalten und hinsichtlich seiner medialen Bedingungen reflexionsthematisch genauer zu qualifizieren. Solange wir den Geist nur als einen verrechnenden Intellekt verstehen, der deduktive und induktive Denkoperationen vornimmt, solange verstehen wir ihn nur auf sehr verkürzte Weise. Wir müssen ihn deshalb auch als ein Phänomen zu sehen versuchen, das sich durch unberechenbare Spontaneität, Hypothesenfähigkeit und Intentionalität auszeichnet. Erst dann können wir auch die Sprache als eine genuine Ausdrucksform des Geistes verstehen bzw. die Schlange als mythisches Sinnbild des Geistes, des Bewusstseins und der Sprache, die ja alle drei zirkelhaft ineinander verflochten sind. Vielleicht kann man die Schlange auch in gewissem Sinne als ein Sinnbild für das ansehen, was Peirce mit der Kategorie Abduktion thematisiert hat. Für ihn ist die Abduktion eine Geistestätigkeit, die nicht Hypothesen auf ihre Konsequenzen überprüft (Deduktion) oder die Hypothesen der Erfahrungskontrolle unterwirft (Induktion), sondern vielmehr eine Denktätigkeit, in der die Hypothesen erst entworfen werden, die Deduktionen und Induktionen für ihre Denkoperationen benötigen.34 So gesehen wäre dann der Prozess der Abduktion bzw. die Schlange unverzichtbar, um das Denken und das Wahrnehmen nicht mechanistisch werden zu lassen. Gerade weil Geist und Sprache unterschiedliche Strebungen und Erregungen bändigen und korrelieren müssen, sind sie natürlich auch problemträchtige ambivalente Phänomene. Ebenso wie mit der Entwicklung der Vielzelligkeit der Tod in die Welt gekommen ist, so ist mit der Entwicklung des Geistes, des Bewusstseins und der Sprache die Angst, der Irrtum, der Entscheidungszwang, die Reflexion und das Wissen des Wissens in die Welt gekommen. Je nach Sehepunkt lässt sich dieser Tatbestand positiv oder negativ beurteilen. Es ist nun natürlich auch zu bedenken, dass die ikonische Objektivierung von Sprache und Geist durch das Bild der Schlange nicht ganz unproblematisch ist, weil dadurch Analogievorstellungen ausgelöst werden können, die die zu repräsentierenden Phänomene nicht oder nur unzulänglich treffen. Gleichzeitig haben wir aber auch zu berücksichtigen, dass die begriffliche Objektivie-
34
Ch. S. Peirce, Collected Papers, 5.145, 5.171, 5.196, 6.474. Vgl. W. Köller, Der Peircesche Denkansatz als Grundlage für die Literatursemiotik, in: A. Eschbach/W. Rader (Hrsg.), Literaturwissenschaft I, 1980, S. 42ff.
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rung dieser Phänomene in der sprachlichen Form von Substantiven ebenfalls ihre Tücken hat. Dadurch laufen wir nämlich Gefahr, Sprache und Geist zu eigenständigen Substanzen zu verdinglichen, die syntaktisch die Rolle von Subjekten und Objekten übernehmen können. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, ob es nicht angemessener wäre, diese Phänomene sprachlich in Form von Verben zu objektivieren und folglich nur die Verben denken und sprechen zu benutzen statt der Substantive Geist und Sprache. Allerdings können wir uns dann die thematisierten Phänomene kaum noch zu abgrenzbaren Gegenständen des Denkens machen, weil sie bewusstseinsmäßig nur als variable Vorgänge in Erscheinung treten. Die mythische bzw. metaphorische Repräsentation von Geist und Sprache im Bilde der handelnden Schlange ist so gesehen dann gar nicht so abwegig, wie sie vielen auf den ersten Blick erscheinen mag. Solange wir die Schlange nicht nur als Tier mit bestimmten ausdeutbaren Merkmalen sehen, sondern auch als eine Handlungskraft mit bestimmten Handlungsdispositionen, kann sie als Sinnbild durchaus unsere Vorstellungen von Sprache ambivalent objektivieren. In diesem Zusammenhang lässt sich dann auf folgende Analogien aufmerksam machen. Auf den ersten Blick treten sowohl die Schlange als auch die Sprache als feste Bestandteile der natürlich gegebenen Welt in Erscheinung. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass beide Phänomene auf konstitutive Weise dadurch geprägt werden, dass sie zumindest partiell die Welt, in die sie eingebunden sind, auch transzendieren können, insofern sie Alternativen zu ihr artikulieren können. Damit stehen beide paradoxerweise innerhalb und außerhalb ihrer Welt. Im alltäglichen Gebrauch erscheint uns die Sprache als ein natürlich gegebenes semiotisches Benennungssystem, das problemlos auf das System der Welt passt. Sie tritt fur uns nicht als ein vom Menschen hergestelltes wandelbares Kulturprodukt in Erscheinung, das von ganz bestimmten Differenzierungsinteressen geprägt wird, das ganz bestimmte Ordnungshypothesen beinhaltet und das ganz bestimmte Brechungsfaktoren bei der Wahrnehmung von Welt wirksam werden lässt. Erst wenn wir die Sprache als ein Vermittlungsmedium sehen, das einerseits aus dem Denken hervorgegangen ist und das andererseits durch das Denken veränderbar ist, dann können wir die Innovations- und Verfugungskraft der Sprache bzw. ihren Schlangencharakter angemessen erfassen. Die Sprache trägt nämlich nicht nur dazu bei, unser Vorstellungsvermögen auszuweiten und zu stimulieren, sondern auch dazu, unser naives Vertrauen in das gegebene Wissen zu destabilisieren, weil sie dieses durch alternative Objektivierungen als hypothetisches Interpretationswissen sichtbar zu machen vermag. Ebenso wie die Schlange sich in unserem Mythos als Hypothesenmacherin profiliert und das Denken in andere Bahnen bringen kann, so ist auch der Sprache die Kraft eigen, immer wieder neue Sichtweisen auf die Welt zu ent-
Sprache, Denken und Bewusstsein
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werfen und neue Objektivierungsformen fur die Repräsentation der Welt auszubilden. Ebenso wie die Schlange Eva und Adam aus dem Reiche der Natur in das der Kultur führt und damit natürlich zugleich in das Reich der Ambivalenzen und Entscheidungen, so kann uns auch die Sprache auf Grund ihrer immanenten Erneuerungs- und Umgestaltungskraft aus dem Reich der konventionalisierten Denk- und Wahrnehmungsweisen in das Reich der Hypothesen, Fiktionen, Alternativen und Interpretationen führen. Im Zeitalter der Aufklärung hatte man keine Probleme, die Transzendierung von vorgegebenen Ordnungen durch die Schlange enthusiastisch als Entfaltung der Vernunft, als Befreiung vom Gängelwagen der Instinkte und als Beginn der kulturellen und moralischen Existenzweise des Menschen zu preisen. Im Gegensatz dazu haben konservative Skeptiker in diesem Transzendierungs- und Relativierungsprozess vorgegebener Ordnungen immer ein Problem gesehen. Sie haben deshalb diesen Mythos auch gerne als Geschichte vom Sündenfall verstanden, da sie den Menschen eigentlich nicht zutrauten, mit den Freiheiten geistig fertig zu werden, zu denen die Schlange ihnen verholfen hatte. Diese Skeptiker haben deshalb immer wieder die anthropologische Notwendigkeit von festen institutionalisierten Ordnungen postuliert, sei es auf der Ebene des Staates, der Sozialstrukturen, der Denkstrukturen oder der Sprachstrukturen, um die als belastend empfundenen Freiheitsspielräume im Denken und Handeln auf ein den Menschen erträgliches Maß zu reduzieren. Deshalb musste ihnen die Schlange dann auch als eine prototypische Versinnbildlichung aller verführerischen Kräfte und nicht als Versinnbildlichung aller kreativen Kräfte erscheinen. Allenfalls konnte man der Schlange noch dadurch etwas Positives abgewinnen, dass man sie als eine Kraft ansah, die auf dialektische Weise die Kräfte des Guten stimulieren konnte. Wenn wir die Schlange als eine ambivalente mythische Verkörperung der innovativen Kräfte des Menschen ansehen, dann kann man über sie auf ganz bestimmte Merkmale des Sprechens und Denkens aufmerksam machen. Die Schlange repräsentiert dann die durch die Sprache ermöglichte Fähigkeit des Denkens, jede vorgegebene Grenze nur als vorläufige Grenze zu akzeptieren und alte Denkformen von Zeit zu Zeit zu Gunsten neuer abzustreifen. Diese Agilität des Denkens und Sprechens korrespondiert insbesondere mit der Struktur der natürlichen Sprache als dem universalsten und flexibelsten menschlichen Denk- und Objektivierungsmedium. Im Gegensatz zu den formalisierten Fachsprachen muss sie sich ihre Operationsmuster nämlich in jedem Sprachgebrauch auf der Basis der tradierten Muster gleichsam immer wieder neu herstellen, worauf Humboldt eindringlich aufmerksam gemacht hat. selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich
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Der Baum der Erkenntnis
ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen,"35 Die innovative, aber auch ambivalente Schlangenhaftigkeit der Sprache exemplifiziert sich wohl am eindrucksvollsten in metaphorischen Redeweisen, die für die natürliche Sprache nicht nur typisch, sondern geradezu konstitutiv sind. Gerade hier zeigt sich die Fähigkeit des Denkens und Sprechens sehr deutlich, alle gegebenen Grenzen partiell zu überschreiten, neuartige Hypothesen und Korrelationen vorzunehmen und anscheinend Unvereinbares auf fruchtbare Weise miteinander zu verbinden. Wenn uns Jacobi das Phänomen Sprache über das Phänomen Schlange ins Bewusstsein zu rufen versucht, dann will er uns die Sprache als einen Denkgegenstand präsentieren, den wir nicht gleich in das Prokrustesbett einer Theorie stecken können, sondern an dem wir uns ständig abzumühen haben, weil er wegen seiner vielfaltigen Funktionen und Implikationen nicht abschließend auf den Begriff zu bringen ist. Metaphorische Redeweisen geben dem Denken eine Stütze, aber keine, die das Denken steif macht, sondern eine, die es erlaubt, Brücken zu neuen Ufern bzw. zu neuen Wahrnehmungsweisen zu schlagen, die sonst für uns gar nicht erreichbar wären. Beim Gebrauch von Metaphern wissen wir im Prinzip, dass die Sprache letztlich keine Abbildungs-, sondern eine Interpretations- und Vermittlungsfunktion hat und dass unser Wissen von der Welt sich letztlich nicht auf passive Rezeptionsprozesse, sondern auf aktive Handlungsprozesse gründet. Da sinnbildliche Redeweisen und insbesondere Metaphern nicht das Ziel haben, Phänomene kategorial gefangen nehmen zu wollen, sondern vielmehr darauf aus sind, sie kennen zu lernen bzw. sich von ihnen gefangen nehmen zu lassen, sind sie unersetzbare heuristische Werkzeuge. Dafür ist die Metapher von der Schlange aus dem Paradiese wohl kein schlechtes Beispiel.
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W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 46, Werke, Bd. 3, S. 418.
II Der Turmbau zu Babel
Bibel: l.Mose, Kap. 11
1. Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, laßt uns Ziegel streichen und brennen! - und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel. 4. und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. 5. Da fuhr der Herr hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! 8. So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, daß sie aufhören mußten, die Stadt zu bauen. 9. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.
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Der Turmbau zu Babel
1. Interpretationsansätze Die Geschichte vom Turmbau zu Babel gehört sicherlich neben der vom Baum der Erkenntnis zu denjenigen biblischen Geschichten, die sich als archetypische Sinnbilder bzw. Mythen tief in das kulturelle Bewusstsein des Abendlandes eingegraben haben. Allerdings lässt sich nicht so leicht eine Antwort auf die Fragen finden, was denn diese Geschichten auf so eindrucksvolle Weise versinnbildlichen, warum sie über die Zeiten hinweg als so faszinierend empfunden worden sind und weshalb auf sie in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder angespielt werden konnte. Zunächst kann man wohl feststellen, dass die Faszination dieser Mythen keineswegs nur darin begründet liegt, dass sie fundamentale anthropologische Probleme wie die Erkenntnis von Gut und Böse oder wie die Vielfalt von Sprachen thematisieren, sondern sicher auch darin, dass sie das Verstehensund Sinnbildungsvermögen der Menschen auf eine sehr intensive Weise herausfordern, insofern sie sich massiv gegen eine eindeutige und abschließende Interpretation sperren. Das historische Verständnis dieser Erzählungen verdeutlicht, dass sehr unterschiedliche Epochen sie als Antworten auf ihre ureigensten Fragen und Probleme verstehen konnten. Auf diese Weise hat sich das Sinnpotenzial dieser Geschichten historisch ständig vergrößert, weil man nun nicht mehr nur danach fragen kann, was uns heute an diesen Geschichten noch fasziniert, sondern auch danach, was frühere Epochen an ihnen so faszinierend gefunden haben und wie man sich frühere Verstehensmöglichkeiten zugänglich machen kann. Das bedeutet, dass uns diese Geschichten in Sinnbildungsanstrengungen hineinzuziehen vermögen, die wir nicht sachlich, sondern allenfalls methodisch abschließen können. Die Rezeptionsgeschichte der Erzählung vom Turmbau zu Babel ist durch ein monumentales Werk erschlossen worden, in dessen Ozean von Zeugnissen aus zwei Jahrtausenden man förmlich ertrinken kann.1 Hier soll deshalb nur versucht werden, das Interesse am sinnbildlichen und rezeptionsgeschichtlichen Reichtum dieses Mythos auf diejenigen Aspekte zu beschränken, die eng mit der Sprachproblematik verknüpft sind. Diese Problematik ist ähnlich wie beim Mythos vom Baum der Erkenntnis gleichsam auf zwei unterschiedlichen Ebenen präsent. Zum einen wird in dem Turmbaumythos die Sprachproblematik auf ganz direkte Weise angesprochen, insofern er ja ganz unmittelbar auf die Frage nach dem Ursprung der verschiedenen Sprachen Bezug zu nehmen scheint. Zum anderen werden wir in ihm wie auch im Mythos vom Baum der Erkenntnis auf indirekte Weise dadurch mit der Sprachproblematik konfrontiert, dass wir uns 1
A. Borst, Der Turmbau zu Babel, 4 Bände, 1957-1963.
Interpretationsansätze
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zwangsläufig Rechenschaft darüber ablegen müssen, wie wir mythische Darstellungsweisen angemessen verstehen können. Gerade im Hinblick auf die Geschichte vom Turmbau zu Babel stellt sich besonders eindrücklich die Frage, wie wir das Spannungsverhältnis zwischen einem wortwörtlichen und einem sinnbildlichen Verständnis bewältigen können bzw. ob oder inwieweit wir diese Geschichte auch als einen historischen Bericht verstehen dürfen. Diese Problematik hat die Bibelhermeneutik seit ihren Anfängen immer wieder beschäftigt. Methodisch hat sie das Problem der unterschiedlichen Sinnebenen biblischer Erzählungen im Rahmen der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zu bewältigen versucht. Diese Lehre soll auch hier zu heuristischen Zwecken genutzt werden, um die verschiedenen Sinndimensionen des Turmbaumythos herauszuarbeiten. Dabei ergeben sich dann möglicherweise auch Hinweise auf die generelle Sinnstruktur von Mythen, in denen ja immer versucht wird, die Vorstellung von einem individuellen Ereignis in der Zeit zu einem Sinnbild für eine allgemeine Ordnungsstruktur außerhalb der historischen Zeit zu machen. Weiterhin soll am Beispiel dieser Geschichte näher untersucht werden, auf welche Weise die Phänomene Arbeit und Sprache ineinander verschränkt sind und welcher innere Zusammenhang zwischen dem Problem der Arbeitsteilung und dem Problem der Ausdifferenzierung von Sprachen besteht. In dieser Denkperspektive lässt sich die Geschichte vom Turmbau zu Babel weitgehend aus allen religiösen und theologischen Kontexten lösen und als mythische Darstellungsweise eines fundamentalen anthropologischen und sozialen Strukturproblems ansehen. In dieser Sicht kann dann auch der Mythos vom babylonischen Turmbau als eine Art Fortsetzung des Mythos vom Baum der Erkenntnis angesehen werden, bei dessen Interpretation ja auch schon mit Hilfe der Kategorie der Vorsorge auf die Verschränkung der Phänomene Arbeit und Sprache aufmerksam gemacht worden ist. Wenn man sprachliche Differenzierungsprozesse bzw. die Vielfalt von Sprachen mit dem Phänomen der Arbeit in Verbindung bringt, dann muss man sich zwangsläufig auch mit der Ambivalenz des Phänomens Vielfalt beschäftigen. Dieses Phänomen hat wichtige anthropologische Aspekte und Implikationen, weil es unmittelbar mit Entfaltungsprozessen zusammenhängt und damit auch mit dem Problem der Auflösung einer ursprünglichen Einheit und der Überschreitung von Grenzen. Die Termini Vielfalt und Einheit bezeichnen Ordnungskategorien, ohne die sich weder die Phänomene Arbeit noch Sprache sinnvoll beschreiben lassen. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum Zusammenhang von Arbeit und Sprache lässt sich dann auch das Phänomen Sprache sehr gut als ein soziales Phänomen bzw. als eine gesellschaftliche Institution betrachten. Diese anthropologisch und soziologisch ausgerichtete Sichtweise scheint sich auf den ersten Blick sehr weit von der gewohnten religiösen Rezeptionsweise der Turmbaugeschichte zu entfernen, aber genau betrachtet verliert sie keineswegs
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Der Turmbau zu Babel
den Kontakt zu ihr. In dieser Wahrnehmungsperspektive erscheinen nämlich sowohl die Religion als auch die Sprache als gesellschaftliche Institutionen, die eine lebenserleichternde Funktion für die Menschen haben und eben deswegen auch funktional eng miteinander verknüpft sind. Zugleich kann in dieser Betrachtungsweise sehr gut darauf aufmerksam gemacht werden, dass Mythen den Sinn haben, durch konkrete Exempel auf sehr allgemeine Strukturverhältnisse aufmerksam zu machen, die zwar auch begrifflich thematisiert werden können, die aber in dieser Objektivierungsform sehr viel schwerer als Erkenntnisse memorierbar und tradierbar sind. Zum Schluss soll noch auf zwei Turmbaugeschichten aufmerksam gemacht werden, die auf eine sehr aparte Weise den biblischen Turmbaumythos variieren. Gerade weil in ihnen von alternativen Denkprämissen ausgegangen wird, kann durch sie der spezifische Stellenwert der biblischen Turmbaugeschichte auf kontrastive Weise besonders gut erläutert werden.
2. Die Turmbauerzählung und die Idee des mehrfachen Schriftsinns Wie schon im Zusammenhang mit der Geschichte vom Baum der Erkenntnis hervorgehoben worden ist, hatte sich im Hinblick auf das Verständnis biblischer Texte sehr früh die Notwendigkeit ergeben, zumindest zwei unterschiedliche Sinnebenen zu unterscheiden, nämlich eine wortwörtliche und eine spirituelle bzw. allegorische Verständnisebene. Dabei konnte man sich einerseits auf die Aussagen von Paulus über die Differenz zwischen dem Buchstaben und dem Geist biblischer Aussagen berufen (2. Korinther, 3.6; Römer, 2.29, 7.6) und andererseits auf die stoischen und alexandrinischen Traditionen bei der Auslegung von Homertexten und Mythen. Im Anschluss an Philo von Alexandrien, der insbesondere die Texte des Alten Testaments sinnbildlich bzw. allegorisch auszudeuten versuchte, hat dann der Kirchenvater Origines eine Theorie des dreifachen Schriftsinns entwickelt, in welcher zwischen einem buchstäblichen, einem seelischen und einem spirituellen Sinn unterschieden wurde. Diese Lehre wurde im 4. Jahrhundert dann zu der Theorie des vierfachen Schriftsinns ausgebaut und später von Thomas von Aquin bekräftigt. Augustinus von Dakien hat diese Theorie dann im Mittelalter in einem berühmten Merkvers zusammengefasst: ,J.ittera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia."2 Dieser Merkvers besagt, dass der Buchstabe oder der wörtliche bzw. historische Sinn lehre, was faktisch geschehen sei, dass der allegorische Sinn lehre, was man glauben solle, dass der moralische Sinn lehre, was man tun solle und
2
Vgl. J. Grodin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, 1991, S. 41.
Die Turmbauerzählung und die Idee des mehrfachen Schriftsinns
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dass der anagogische bzw. eschatologische Sinn lehre, wohin man streben solle bzw. was heilsgeschichtlich wichtig sei. Diese Differenzierung von Sinnebenen in biblischen Texten läuft faktisch darauf hinaus, in einem Text zwischen der wortwörtlichen Bedeutung einerseits und einem daraus abgeleiteten zusätzlichen Sinn andererseits zu unterscheiden, bei dem man dann wiederum eine allegorische, eine ethische und eine handlungsleitende Ebene unterscheiden kann. Diese Differenzierung eines Textsinns nach verschiedenen Sinnebenen kann sich als nützlich erweisen, um den komplexen Gesamtsinn der Geschichte vom Turmbau zu Babel kategorial zu strukturieren und mit begrifflichen Mitteln so zu objektivieren, dass man auf sie auch in argumentativen Zusammenhängen zurückgreifen kann. Bei der Anwendung dieses hermeneutischen Verfahrens lassen sich zwei unterschiedliche Ziele verfolgen. Einerseits können wir dadurch ein klareres Verständnis dafür gewinnen, welche Aspekte von Sprache in dem Turmbaumythos thematisiert werden. Andererseits lässt sich die Anwendung dieses Verfahrens auch als ein Stück praktischer Sprachreflexion ansehen, insofern dabei ein Weg aufgezeigt wird, wie sich der komplexe Gesamtsinn eines narrativ gestalteten Textes methodisch erschließen lässt.
Der buchstäbliche Sinn Das wortwörtliche Verständnis der Geschichte vom Turmbau zu Babel legt nahe, die einzelnen Aussagen im Sinne eines historischen Berichts über ein vergangenes Ereignis zu rezipieren. Das würde dann dazu fuhren, die ganze Geschichte als eine Antwort auf die Frage zu verstehen, warum es auf Erden so viele Sprachen gibt. Wenn man die Turmbaugeschichte in dieser Weise als historischen Bericht versteht, dann vermittelt sie direkt oder indirekt folgende Tatbestände: Vor dem Turmbau haben alle Menschen sich in einer einzigen Sprache verständigt, die dann meist als adamitische Ursprache bezeichnet worden ist. In einem Anflug von Größenwahn haben die Menschen dann begonnen, die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten. Deshalb hat Gott sie mit der Verwirrung ihrer gemeinsamen Sprache bestraft, womit zugleich auch eine räumliche Zerstreuung der Menschen in viele Länder verbunden war. Dieses wortwörtliche bzw. historische Textverständnis wurde seit dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus (37 - ca. 100) oft noch mit der Zusatzhypothese angereichert, dass der Turmbau eine Vorsorgemaßnahme der Menschen für den Fall einer neuen Sintflut gewesen sei. Im Rahmen dieses historischen Verständnisses wurde von Gregor von Nazianz (ca. 329 - ca. 390) außerdem die These vertreten, dass die faktische Trennung der Sprachen in
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Der Turmbau zu Babel
Babel durch das Pfingstwunder der allgemeinen Verständigung wieder aufgehoben worden sei (Lukas, Apostelgeschichte, Kap. 2).3 Dieses buchstäbliche Verständnis der Geschichte vom Turmbau zu Babel hatte nun allerdings nicht nur mit dem Problem zu kämpfen, dass auch nach dem so genannten Pfingstwunder die faktische Sprachenvielfalt gegeben war, sondern auch damit, dass in der Bibel schon vor der babylonischen Sprachverwirrung von der Existenz unterschiedlicher Sprachen gesprochen worden ist. Noahs Söhne Sem, Ham und Jafet hätten nach der Sintflut Kinder gezeugt, die sich in verschiedenen Regionen der Erde niedergelassen und Völker mit eigenen Sprachen begründet hätten. „Von diesen haben sich ausgebreitet die Bewohner der Inseln der Heiden. Das sind die Söhne Jafets nach ihren Ländern, ihren Sprachen, Geschlechtern und Völkern." (1. Mose, 10.5). Von Ham soll dann auch Nimrod, der Erbauer des Turms zu Babel, abstammen. Wenn man diese Hinweise ernst nimmt, dann ist es recht unwahrscheinlich, dass die Geschichte vom Turmbau zu Babel primär als ein historischer Bericht darüber zu verstehen ist, wie es zur Existenz der vielen Einzelsprachen gekommen ist. Das schließt nun allerdings nicht aus, dass die Erzählung auch gewisse historische Implikationen hat. Es ist denkbar, dass diese Geschichte ihre Existenz dem Umstand verdankt, dass ein faktisch vorhandener Trümmerberg in der Region irgendwie entstehungsgeschichtlich erklärt werden musste und dass der Turmbaumythos eben dazu diente. Wenn nun aber die Vorstellung nicht zu halten ist, dass es vor dem Turmbau eine einheitliche adamitische Ursprache gegeben habe und dass die Turmbauerzählung primär nicht dazu bestimmt gewesen sei, die Vielfalt von Sprachen zu erklären, dann stellt sich natürlich die Frage, was dann mit dem Einleitungssatz dieser Geschichte gemeint sein kann: „Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache." Die Idee eines buchstäblichen Textverständnisses lässt sich nun allerdings nicht nur in dem Sinne verstehen, dass der Text als ein historischer Bericht über einen faktischen Vorgang zu rezipieren ist. Dieses Interpretationskonzept kann vielmehr auch in dem Sinne verstanden werden, dass im Rahmen eines wortwörtlichen Verständnisses erst einmal die relevanten Grundinformationen fixiert werden, auf denen dann das abgeleitete allegorische, moralische oder anagogische Textverständnis aufbauen kann. So gesehen geht es dann beim Verständnis des buchstäblichen Sinns biblischer Texte insbesondere darum, sich auf der Basis gefestigter Sprachkonventionen konkrete Einzelvorstellungen herzustellen, die dann wieder zu Zeichenträgern für abgeleitete Zeichenrelationen gemacht werden können. Das bedeutet, dass die Fixierung des buchstäblichen Sinns von Texten weniger dem Ziel dient, bestimmte historische Tatbestände herauszuarbeiten, sondern eher dem, die konkrete Struktur von sprachlich erzeugten Vorstellungen herauszustellen, damit diese dann wieder-
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Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 1, 1957, S. 172,246.
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um als klar konturierte Vorstellungsbilder zur Grundlage von neuen, abgeleiteten Zeichenrelationen gemacht werden können.
Der allegorische Sinn Die allegorische bzw. modern gesprochen die bildliche, metaphorische oder ikonische Interpretation eines Textes baut auf dem semiotischen Grundaxiom auf, dass alle Vorstellungsinhalte, die sich durch Zeichen repräsentieren lassen, ihrerseits wieder eine Zeichenfunktion bekommen können. Als animal symbolicum hat der Mensch die Freiheit und Fähigkeit, allen ihm begegnenden und vorstellbaren Phänomenen einen Zeichencharakter zuzuordnen, wenn er ihnen eine Verweisfunktion auf etwas von ihnen Unterscheidbares zuordnen kann. In unserer Erzählung bietet es sich an, insbesondere drei Vorstellungsinhalte im Hinblick auf ihre potenziellen Zeichenfunktionen näher zu untersuchen, nämlich diejenigen Vorstellungsinhalte, die mit den Ausdrücken Turm bauen, Zunge und Sprache sowie Sprache verwirren bezeichnet werden. Anders ausgedrückt ließe sich das Problem auch so formulieren: Welche Sachlagen werden uns mit diesen Ausdrücken ins Bewusstsein gerufen und wie können wir diese sinnbildlich als Zeichen für etwas anderes interpretieren? Dessen unbeschadet lässt sich dann natürlich auch noch die vollständige Turmbaugeschichte als Gesamtvorstellung sinnbildlich interpretieren. Unsere konkrete Vorstellung vom Bau des Turms wird durch Zusatzinformationen dahingehend präzisiert, dass der Turm nicht praktischen Zwecken als Wachturm oder Lagerhaus dienen soll, sondern vielmehr dazu bestimmt ist, dass sich seine Erbauer einen Namen machen und nicht in alle Länder verstreut werden wollen. Er soll außerdem alle vertrauten Größenordnungen sprengen und bis an den Himmel reichen. Diese Hinweise verdeutlichen, dass der Turm bzw. das Bauen des Turmes sich als ein Zeichen verstehen lässt. Die Monumentalität des Turmbaus dient dann dazu, die Größe und Stärke des Volkes zu repräsentieren bzw. die Kraft zur Selbstorganisation, die verhindert, dass es über die ganze Welt zerstreut wird. Als Turmbauer treten die Menschen nicht mehr als Jäger und Sammler in der Natur in Erscheinung, sondern als Umgestalter der Natur bzw. als Hersteller einer eigenen Welt (homo faber). Ihnen geht es dann auch nicht mehr darum, in der Natur zu überleben und sich ähnlich wie die Tiere in vorgegebene Lebensräume und Strukturen einzuordnen, sondern vielmehr darum, selbst gesetzte Ziele zu verwirklichen und sich neue Lebensformen zu schaffen. Wenn man den Turmbau in dieser Weise allegorisch versteht, dann ist er gleichsam eine Fortsetzung der Geschichte über das Essen vom Baum der Erkenntnis bzw. über die Entstehung des Selbstbewusstseins und der vorsorgenden Arbeit. Allerdings dient hier die Arbeit dann weniger der Überlebensplanung, sondern eher der Verwirklichung einer neuen menschlichen Exis-
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tenzweise. Diese lässt sich nur in arbeitsteiligen Großgesellschaften bzw. in städtischen Zivilisationsformen realisieren und nicht in bäuerlichen Lebensformen und erst recht nicht in Jäger- und Sammlergemeinschaften. Aufzuklären ist in diesem Zusammenhang dann allerdings noch, auf welche Weise die Phänomene Arbeit und Sprache ineinander verschränkt sind, worauf noch in einem eigenständigen Kapitel näher eingegangen werden soll. Im Rahmen der allegorischen Simideutung der Turmbaugeschichte bedarf auch die Aussage einer spezifischen Interpretation, dass zunächst „alle Welt einerlei Zunge und Sprache" gehabt habe. Dass mit dieser Aussage die Behauptung aufgestellt werden soll, dass vor der Sprachverwirrung alle Menschen der Welt eine einzige Sprache im Sinne eines einzigen Sprachsystems gehabt hätten, ist nach den Hinweisen auf die Völkerbildungen durch die Nachkommen Noahs recht unwahrscheinlich. Mit Zunge und Sprache ist hier wohl eher Sprache in einem übertragenen Sinne als einheitliche Denk-, Wahrnehmungs- und Mitteilungsform gemeint als im Sinne eines einheitlichen phonetischen, lexikalischen und grammatischen Sprachsystems. Das würde bedeuten, dass mit dieser Formulierung nur darauf aufmerksam gemacht werden soll, dass die Menschen vor dem Turmbau einheitliche Denk- und Kommunikationsstrukturen besaßen, weil sie im Rahmen einheitlicher Lebensbedingungen existierten, und dass die Desintegration der Sprache bzw. des Denkens erst eine Folge der zivilisatorischen Großtat des Turmbaus gewesen ist. Außerdem ist zu beachten, dass der Ausdruck „alle Welt" sich nicht auf die ganze Welt beziehen muss, sondern nur auf die Welt der Turmbauer, die dann im Sinne des pars pro toto exemplarisch für die ganze Welt steht. Wenn man in dieser Perspektive denkt, dann stellt sich auch das Problem der Sprachverwirrung in einer ganz spezifischen Form dar. Man greift zu kurz, wenn man darunter nur eine Verwirrung der konventionellen Zuordnung von Wörtern zu Begriffen bzw. von Signifikanten zu Signifikaten sieht. Vielmehr ist die Sprachverwirrung wohl eher als eine Verwirrung der Ausbildung von gemeinsamen Begriffs- und Denkmustern zu verstehen bzw. als eine Verwirrung der dafür maßgeblichen gesellschaftlichen Zielsetzungen und Handlungsnormen. In diesem Zusammenhang könnte man sich dann auch die Frage stellen, ob Gott als extraterrestrische Macht tatsächlich eingreifen muss, um die Verwirklichung einer überzogenen Zielsetzung zu verhindern, oder ob sein Eingreifen hier nun sinnbildlich für eine Entwicklungstendenz steht, die immanent in allen zivilisatorischen Differenzierungsprozessen angelegt ist.
Der moralische Sinn Die Frage nach dem moralischen Sinn der Geschichte vom Turmbau zu Babel zielt auf die normbildenden Funktionen dieses Mythos. Sie setzt voraus, dass mit diesem Text insgesamt der Sprechakt der Ermahnung verbunden ist. Sie
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will auf das Gefüge von Normen aufmerksam machen, durch das die Zielorientierung des menschlichen Handelns erleichtert werden soll. Bei der Beantwortung dieser Frage muss natürlich auch auf die Zielvorstellungen und die Ergebnisse der allegorischen Interpretation zurückgegriffen werden, weil vorausgesetzt wird, dass es bei dem Turmbau und der Sprachverwirrung nicht um individuelle historische Einzelereignisse geht, sondern vielmehr um Exempel fur eine überzeitliche anthropologische Problematik. In dieser Wahrnehmungsperspektive hat man dem Bau eines Turmes, dessen Spitze bis an den Himmel reichen soll und durch dessen Existenz sich die Erbauer einen Namen machen wollen, immer wieder als Ausdruck eines anmaßenden Hochmuts verstanden, der die Menschen dazu verleitet, die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten. Gerade im Mittelalter ist deshalb der Turmbau als Ausdruck menschlichen Übermutes und menschlicher Anmaßung (superbia) verdammt worden. Bernhard von Clairvaux (1091-1153) hat den Turmbau ausdrücklich als Grenzüberschreitung gebrandmarkt: ,Jndem sie Babel bauen, glauben sie zur Gottähnlichkeit zu gelangen."4 Johann von Salisbury (1115-1180) sieht in dem Turmbau den Ausdruck mangelnder Demut und Frömmigkeit. Man glaube durch eigene Kräfte (vires) und nicht durch Tugend (virtus) den Himmel erreichen zu können. Für Philipp von Harvengt (gest. 1182) stellt sich der Turm von Babel geradezu als ein Gegenbild zu den Normen des rechten Klosterlebens dar.5 Es ist ziemlich selbstverständlich, dass der Turmbau in religiösen Denkzusammenhängen moralisch immer wieder als negativ qualifiziert worden ist, da jede Religion ihr Selbstverständnis auf die Anerkennung einer dem Menschen übergeordneten Sphäre gründet. Daraus ergibt sich dann auch, dass der Mensch sein Selbstverständnis nicht aus seinen Taten abzuleiten hat, sondern aus der inneren Bindung an diese übergeordnete Sphäre und deren Normen. So gesehen musste der Turmbau dann notwendigerweise auch als eine Art zweiter Sündenfall gewertet werden und die Sprachverwirrung als eine Bestrafung im Sinne einer zweiten Sintflut. Da die Kirche sich als Institution verpflichtet sah, immer wieder auf die Bedeutung der transzendenten Sphäre für das menschliche Selbstverständnis und Handeln aufmerksam zu machen und vor allen Autonomiebestrebungen der Menschen zu warnen, überrascht es nicht, dass sie den Turmbau und die dahinter stehende Denkhaltung moralisch verdammt hat. Umgekehrt ist nun natürlich auch nicht überraschend, dass in Denkpositionen, in denen das Autonomiebestreben der Menschen wohlwollend beurteilt worden ist, sowohl der Turmbau als auch das Essen vom Baum der Erkenntnis positiv bewertet worden ist. Unter einer solchen Denkprämisse konnte der Turmbau moralisch nicht als verdammenswerte Grenzüberschreitung gebrandmarkt werden, sondern musste vielmehr als ein Sinnbild für die Selbst4 5
Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 2, 1958, S. 629. Vgl. A. Borst, a.a.O., Bd. 2, 1958, S. 640 u. S. 727.
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entfaltungsmöglichkeiten und den Selbstbehauptungswillen der Menschen positiv gewürdigt werden. So hat beispielsweise Emst Bloch den Turmbau zu Babel mit den Mythen von Prometheus und Ikaros in Verbindung gebracht. Er betrachtet diese Geschichten als eine Ausdrucksform des utopischen Denkens und der Hoffnung darauf, auch das anscheinend Unmögliche erreichen zu können. Die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten der Menschen sieht er dementsprechend auch in weltverändernden Taten und nicht in der gehorsamen Einordnung in vorgegebene Strukturen. ,JDas rebellische Bauwerk selbst (1. Mose, 11, 1-9) kam bekanntlich nur als Fragment in Erscheinung, als Fragment freilich, das in der Bibel das Werk von Prometheus und Ikaros vertritt."6
Der anagogische Sinn Die Frage nach dem anagogischen Sinn der Geschichte vom Turmbau zu Babel setzt die nach dem moralischen Sinn voraus, weil sie darauf abzielt, aus dem Text Handlungsnormen für das rechte Leben abzuleiten bzw. den erzählten Vorgang heilsgeschichtlich zu deuten. Das kann man vordergründig so verstehen, dass die Geschichte davor warnen will, dem Hochmut zu verfallen und vorgegebene Grenzen nicht zu respektieren. Etwas hintergründiger kann man die Turmbaugeschichte aber auch in einem sehr viel weitergehenden heilsgeschichtlichen Sinne verstehen. Dann würde in ihr auf urbildliche Weise die menschliche Lebenssituation dargestellt und nicht nur eine Warnung vor dem Hochmut ausgesprochen. So möchte beispielsweise Schelling die Sprachverwirrung in Babel nicht als eine punktuelle Bestrafung für eine bestimmte Grenzüberschreitung verstehen, sondern als eine Folge der Erschütterung des allgemeinen menschlichen Bewusstseins. Der Turmbau ist ihm deshalb auch weniger ein Symptom des Hochmuts, sondern eher ein Zeichen für die Angst der Menschen vor dem Verlust einer ursprünglichen Einheit bzw. vor der drohenden Gefahr der Zerstreuung über die ganze Erde. Deshalb sieht er den Turmbau auch als einen verzweifelten Versuch an, um mit der Angst vor der Selbstauflösung fertig zu werden. ,y4lso die Angst, zerstreut zu werden, gar kein Ganzes mehr zu seyn, sondern sich völlig aufzulösen, bewegt sie zu der Unternehmung." Der Turmbau, der intentional dazu bestimmt ist, die drohende Zerstreuung zu verhindern, wird deshalb für Schelling in höchst dialektischer Weise geradezu zum Anfang und Anlaß der Völkertrennung'.7 In ganz ähnlicher Weise hat auch der Theologe Reinhold Niebuhr den Turmbau heils- und universalgeschichtlich gedeutet. Jede Kultur und Zivilisation sei im Grunde ein Turmbau zu Babel, mit dem man einer untergründigen 6 7
E. Bloch, Das Prinzip Hoffiiung, 1970, Bd. 2, S. 832. F.W.J. Schelling, Philosophische Mythologie, 1. Bd., 1856/1966, S. 116-117.
Die Turmbauerzählung und die Idee des mehrfachen Schriftsinns
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Angst begegnen wolle. Das Mittelalter habe am Turmbau des Feudalismus gearbeitet, das Bürgertum am Turmbau des Kapitalismus und der Marxismus am Turmbau der klassenlosen Gesellschaft. Aber alle diese Versuche seien zum Scheitern verurteilt gewesen. Typisch sei in diesem Zusammenhang, dass eine Kultur bzw. Zivilisation gerade vor ihrem Sturz danach strebe, sich Denkmäler zu setzen, seien es nun Pyramiden oder Wolkenkratzer. Solche verfehlten Großanstrengungen führten uns eindrucksvoll .vor Augen, dass die Menschen keine werdenden Engel seien.8 Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist ihm deshalb auch weniger ein Mythos zum Thema Sprache, sondern eher einer zum Thema Geschichte, weil in ihm die Spannung thematisiert werde, in der der Mensch zwischen Gott und Welt stehe. Auch für Eugen Drewermann ist die Geschichte vom Turmbau „mitnichten eine Geschichte der menschlichen Selbstüberhebung, — sie ist im Gegenteil ein äußerster Kulminationspunkt individueller und kollektiver Angst."9 Motiv des Stadt- und Turmbaus sei es eigentlich gewesen, „sich an Stelle des verlorenen ein künstliches Paradies zu schaffen. " 10 Die Sprachverwirrung sei eine notwendige Folge der Angst vor der Gottesferne, die immer auch eine wachsende Sprachzertrümmerung impliziere, da durch sie auch Affekte und Triebe verwirrt würden. Den Turmbau deutet Drewermann tiefenpsychologisch als einen verzweifelten Versuch, gegen die eigene Ohnmacht und Nichtigkeit anzukämpfen. „Eben weil man glaubt, ein Niemand zu sein, muß man alles machen, um durch die eigene turmhohe Leistung doch noch ein Jemand zu werden. 'Sich einen Namen zu machen' nennt der Jahwist dieses Programm der Verzweiflung... Im Grunde macht man auf diese Weise nicht sich selbst, sondern das Publikum zum Gott: der andere Zuschauer wird zum absoluten Richter über den eigenen Wert oder Unwert. " n Der Turmbau habe das Ziel gehabt, der Gefahr der Aufsplitterung und Zerstreuung entgegenzuwirken, aber es gehöre zu dem quasi neurotischen Hintergrund der angestrebten Übersteigerung aller Bemühungen, eine undurchschaubare Gegenfinalität auszulösen, die schließlich dazu führe, dass nicht Einheit, sondern vielmehr Chaos erreicht werde. Der Versuch, den anagogischen bzw. heilsgeschichtlichen Sinn der Turmbaugeschichte herauszuarbeiten, stellt naturgemäß nicht die Sprache und die Sprachverwirrung in den Mittelpunkt des Interesses, sondern den bildlichen Sinn des Turmbaus im Rahmen einer universalistisch angelegten Geschichtsinterpretation. Die Verwirrung der Sprache wird in diesem Denkhorizont immer zu einem Symptom für eine viel umfassendere Verwirrung von Normen, Proportionen und Zielen menschlichen Lebens. Die religiöse bzw. anagogische 8 9
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Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 3, 1960, S. 1775. E. Drewermann, Sprachverwirrung und Zerstreuung - Der Turmbau zu Babel, Werkstattpredigt, 9, 1981, S. 29. E. Drewermann, a.a.O., S. 30. E. Drewermann, a.a.O., S. 35.
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Wahrnehmungsperspektive für die Erzählung vom Turmbau zu Babel lässt sich recht gut durch eine andere, eher pragmatisch orientierte ergänzen, in der das Verhältnis von Sprache, Arbeit und Mensch in einem anthropologischen und kulturhistorisch orientierten Denkhorizont ins Auge gefasst wird.
3. Das Verhältnis von Sprache und Arbeit Die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Arbeit schafft für das Verständnis der Geschichte vom Turmbau zu Babel eine ganz andere Wahrnehmungsperspektive als die nach den verschiedenen Sinnebenen. Jetzt geht es nicht mehr um die methodische Erschließung von kategorial trennbaren Informationsschichten im Gesamtsinn der Geschichte, sondern vielmehr darum zu prüfen, inwieweit diese Geschichte auf übersichtliche Weise das komplexe Korrelationsverhältnis von Sprache und Arbeit exemplifiziert und strukturiert. Die Turmbaugeschichte bekommt auf diese Weise eine heuristische Funktion, die sich weit von dem Anspruch auf die Berichterstattung über ein historisches Einzelereignis entfernt, die aber durchaus mit der kognitiven Funktion von Mythen vereinbar ist, die sich ja immer bemühen, den Korrelationszusammenhang von anthropologisch wichtigen Faktoren und Kräften sinnbildlich zu veranschaulichen. Wenn man nach der strukturellen Interdependenz von Sprache und Arbeit fragt, dann verbietet sich eigentlich die Annahme von selbst, die Sprache als ein Phänomen anzusehen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne evolutionären Entstehungsprozess punktuell in Erscheinung getreten ist und das sich auch punktuell verwirren lässt. Vielmehr müssen wir von der Annahme ausgehen, dass das Phänomen Sprache sowohl im Sinne der Sprachfähigkeit als auch im Sinne des Sprachsystems eine lange Evolutionsgeschichte hinter sich hat, in der auch das Phänomen Arbeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Und eben diese Entstehungsgeschichte wird im Turmbaumythos sehr eindrucksvoll narrativ dargestellt. Um die Turmbaugeschichte auf diese Weise verstehen zu können, sind ein paar grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Welt sicher hilfreich.
Sprache und Welt Solange man die Sprache primär als ein Mittel ansieht, um die Welt der Dinge und Sachverhalte auf der Ebene der Wörter und Aussagen abzubilden oder gar widerzuspiegeln, solange ist die Frage nach der Funktion der Arbeit für die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Sprache bzw. der Sprachen ziemlich uninteressant. Wenn durch sprachliche Formen die Welt faktisch oder potenziell abgebildet wird und wenn man sich das Wesen der Welt stabil
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denkt, dann gibt es eigentlich keine wirkliche Sprachgeschichte, und zwar weder im Sinne einer Entwicklungsgeschichte noch im Sinne einer Verwirrungsgeschichte von sprachlichen Denkmustern. Allenfalls könnte man sich eine Sprachgeschichte als Benennungsgeschichte vorstellen, nämlich als eine Geschichte der lautlichen Umetikettierungen von Denkmustern, von denen man annimmt, dass sie direkt mit Seinsmustern korrespondieren. Eine solche Wahrnehmung von Sprache schafft prinzipiell ein großes Sprachvertrauen und ergibt keine Schwierigkeiten, sein Denken vertrauensvoll am Leitfaden der gegebenen sprachlichen Differenzierungs- und Objektivierungsmuster zu organisieren. Unter diesen Denkvoraussetzungen wäre die Sprachverwirrung von Babel weitgehend nur als Benennungsverwirrung zu verstehen bzw. als eine Verwirrung der Korrelation von Signifikanten und Signifikaten, aber nicht als eine Verwirrung von sprachlichen Denkmustern bzw. von Signifikaten. Die Kategorie Arbeit könnte unter diesen Denkprämissen kaum als Faktor der Sprachentfaltung und der Sprachgeschichte in Erscheinung treten bzw. heuristisch fruchtbar gemacht werden. Die philosophische Idee einer Universalsprache, deren Ordnungs- und Denkmuster symmetrisch auf die Welt passen, exemplifiziert die Sehnsucht nach einer absolut verlässlichen Sprache, die keinen historischen Verwandlungs- und Verwirrungsprozessen ausgesetzt ist. Unerheblich ist in diesem Denkzusammenhang dann, ob diese Universalsprache als adamitische Ursprache verstanden wird oder als rational konstruierte wissenschaftliche Idealsprache, in der alle Ungenauigkeiten und Fehlentwicklungen konkreter Volkssprachen beseitigt sind. Im Kontext der Idee einer Universalsprache hätte dann die Kategorie der Arbeit keine fundamentale sprachtheoretische Relevanz, weil die Universalsprache primär immer als Abbildungs- und nicht als Interpretationsund Handlungsinstrument angesehen würde. Sprachtheoretisch wird die Kategorie der Arbeit erst dann wirklich interessant, wenn man die Ordnung der Dinge bzw. der Welt im Prinzip von der Ordnung der Sprache trennt und wenn man die sprachlichen Ordnungsmuster als pragmatisch motivierte Ordnungshypothesen für die perspektivische Erfassung der Welt im Rahmen bestimmter Handlungsintentionen betrachtet. Dieses Verständnis des Zusammenhangs von Sprache und Welt hat sich seit dem mittelalterlichen Nominalismus immer nachhaltiger als sprachtheoretisches Grundkonzept etabliert. Es erlaubt, dem Begriff der Arbeit einen fundamentalen sprachtheoretischen Stellenwert zuzubilligen und das Phänomen Sprache nicht nur kommunikationstheoretisch, sondern auch entstehungsgeschichtlich und strukturell als soziales Phänomen ernst zu nehmen. In dieser Wahrnehmungsperspektive ließe sich die Sprache als ein System von Schematisierungsmustern begreifen, die sich beim praktischen und theoretischen Umgang mit der physischen, sozialen und geistigen Welt herausgebildet haben. Diese würden dann je nach den aktuellen historischen Differenzierungs-, Handlungs- und Mitteilungsbedürfnissen einem ständigen Verände-
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rungsprozess unterliegen, in welchem dann die Phänomene der Tradition und der Beharrung in ein Fließgleichgewicht mit denen der Innovation und der Veränderung gebracht werden müssten. Das entscheidende Kriterium für die Güte von sprachlichen Ordnungsmustern ist so gesehen nicht ihr Anspruch auf Kongruenz mit ontischen Ordnungsformen, die uns nach Kant sowieso nicht vollständig zugänglich sind, sondern vielmehr ihre Verlässlichkeit und Fruchtbarkeit in praktischen und theoretischen Handlungsprozessen bzw. in der täglichen Arbeit. Die Arbeit an der Welt impliziert dann zugleich eine Arbeit an der Sprache. Sprachliche Ordnungsformen, die sich pragmatisch nicht bewähren oder die wegen der Veränderung der faktischen und geistigen Welt unbrauchbar werden, müssen sich verändern oder neu konzipiert werden. Dabei ist immer zu beachten, dass sich sprachliche Muster nicht nur bei der kognitiven und deskriptiven Erfassung der Welt bewähren müssen, sondern auch bei der sozialen Bewertung der Dinge sowie beim Austausch von Informationen und Meinungen über die Welt in den einzelnen Gruppen. Die Verschränkung und Interdependenz von Arbeit und Sprache ist auch gut mit einer Denkperspektive in Verbindung zu bringen, der Goethes Faust Ausdruck gegeben hat, als er in Bezug auf den Anfang des Johannesevangeliums den griechischen Terminus logos weder mit Wort noch mit Sinn noch mit Kraft zu übersetzen versucht, sondern vielmehr mit Tat: „Im Anfang war die Tat."12 Diese Übersetzungsentscheidung legt es nahe, nicht das Denken, sondern das Handeln zur Antriebsfeder von Schöpfungsprozessen bzw. von geistigen und sprachlichen Differenzierungsprozessen zu machen.
Arbeitsprozesse und Sprachbildungsprozesse Die anthropologische Relevanz des Arbeitsbegriffs ist wohl am nachdrücklichsten im Rahmen des marxistischen Denkens akzentuiert worden, da sich dabei zugleich die Chance eröffnete, die Sprachtheorie auf ein materialistisches Fundament zu stellen. So hat Friedrich Engels ganz ausdrücklich betont, dass die Arbeit nicht nur „Quelle alles Reichtums" sei, sondern dass sie sogar erst den Menschen als Menschen hervorgebracht habe. „Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinne sagen müssen: sie hat den Menschen selbst geschaffen,"13 Für ihn hat die Arbeit bzw. die Arbeitsteilung einerseits zur Herrschaft über die Natur und andererseits zur Ausbildung des Gehirns, der 12 13
J.W. v. Goethe, Faust, Vers 1037, Hamburger Ausgabe, Bd. 3, S. 44. F. Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: K. Marx/F. Engels, Werke (MEW), Bd. 20, S. 693. Zur anthropologischen Relevanz des Arbeitsbegriffs vgl. auch: F. Hermanns, Arbeit, Zur Semantik eines kulturellen Schlüsselwortes, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 19, 1993, S. 43-62.
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Sprachorgane und der Sprache geführt bzw. zur Ausbildung von differenzierten Sozial- und Kommunikationsgemeinschaften. Durch die Arbeit sei der Mensch gleichsam aus dem Reich der Tiere hinausgetreten. Franz Fühmann hat in der Nachfolge dieses Denkansatzes den Turmbau zu Babel zum Anlass genommen, in einem Kinderbuch seine Märchenfigur Küslübürtün die These vertreten zu lassen, dass die „Fähigkeit zur Arbeit, die Fähigkeit zum Denken und die Fähigkeit zur Sprache" eine Dreiheit sei, die die Einheit des Menschseins ausmache. Seine Gesprächspartner, die Kinder, entwickeln dann sehr schnell eine These, die er ihnen gleichsam durch seine eigenen Ausfuhrungen auf sokratische Manier mehr oder weniger in den Mund gelegt hat: „Mit der Arbeit ist die Sprache geschaffen worden, und durch die Arbeit wurde sie auch verwirrt." Die so formulierte Einsicht gibt Küslübürtün dann die Gelegenheit, den Kindern seine dialektisch-materialistische Grundthese zu präsentieren: „Und eben das, ... daß die Arbeit sowohl eint wie auch trennt, ist einer der großen Widersprüche des menschlichen Lebens, die im Mythos abgebildet sind. Ich wußte, daß ihr draufkommen würdet. Erwachsene bemerken so was viel schwer er. "14 Wenn wir die Geschichte vom Turmbau zu Babel im Lichte eines solchen Arbeitsbegriffs sehen, dann lässt sich dieser Mythos in der Tat als ein frühes Zeugnis verstehen, in dem auf narrative Weise die Relevanz von Arbeit und Arbeitsteilung für die Evolution der Sprache bzw. der Sprachen thematisiert worden ist. Der Bau der Stadt und des Turmes kann nicht nur als Übergang der Sammler und Jäger zur Sesshaftigkeit verstanden werden, sondern auch als ein Vorgang, der zur Ausbildung einer städtischen Zivilisation führt, für die immer eine konsequente Arbeitsteilung konstitutiv ist. Ein so großes Bauvorhaben lässt sich nicht ohne die Ausbildung von Einzelberufen, ohne eine durchstrukturierte Planung und ohne die Entwicklung einer differenzierten Sprache bzw. einer differenzierten Sprachverwendung realisieren. Jede Arbeitsteilung führt zwangsläufig dazu, die Welt bzw. einzelne Phänomene in ihr in unterschiedlichen Denkperspektiven wahrzunehmen, auf unterschiedliche Weise sprachlich zu differenzieren und zu objektivieren und die Ergebnisse der jeweiligen Wissensmanifestationen auf unterschiedliche Weise zu bewerten sowie in Handlungsprozessen aufeinander zu beziehen. Aus dem Prozess der Arbeit und der Arbeitsteilung ergeben sich dementsprechend zwei unterschiedliche Konsequenzen, die sprachtheoretisch berücksichtigt werden müssen. Zum einen manifestiert sich in Arbeitsprozessen ein unaufhebbarer interner Zwang, spezifische Fachsprachen auszubilden, die den jeweiligen Differenzierungs- und Informationsbedilrfnissen der einzelnen Berufe optimal angepasst sind, die aber zugleich auch immer Gefahr laufen, von den Mitgliedern anderer Berufsgruppen nicht mehr verstanden zu werden. Weiterhin ist zu 14
F. Fühmann, Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel, 1981, S. 103 u. 107.
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beachten, dass Arbeitsteilungsprozesse natürlich immer zur Ausbildung von sozialen Gruppen fuhren, die eigene Denkweisen und Sprachen ausbilden, um sich dadurch kontrastiv von anderen Gruppen abzusetzen und ihre Gruppenidentität zu stabilisieren. Das fuhrt dann wiederum zu Verständigungsproblemen zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Berufs- und Sozialgruppen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass alle Arbeitsteilungsprozesse die Ausbildung von Schriftsystemen fördern bzw. die Fixierung von Wissen in Form von Texten, die oft nur spezifischen Gruppen zugänglich sind. Daraus resultieren dann wiederum erhebliche Unterschiede im Wissensbestand der einzelnen Gruppen, die eine reibungslose Kommunikation erschweren können. Zum anderen ist nun aber auch zu beachten, dass es in arbeitsteiligen Gesellschaften einen gegenläufigen inneren Zwang gibt, eine flexible Allgemeinsprache lebendig zu halten, die einerseits die Verständigung zwischen den Mitgliedern der einzelnen sozialen Gruppen über gemeinsame Gegenstandsbereiche ermöglichen soll und die andererseits als interne Meta- oder Dolmetschersprache fur die einzelnen Gruppen- und Fachsprachen eingesetzt werden kann. Wenn es eine solche polyfunktionale Allgemeinsprache nicht mehr gibt, dann zerfallen Gesellschaften. Damit verschwinden dann auch zugleich die Vorteile einer konsequenten Arbeitsteilung. Arbeitsteilige Gesellschaften, die nicht zugleich auch Kultur- und Wertegemeinschaften bzw. Sprachgemeinschaften sind, stehen immer in der Gefahr, sich in sozialen und sprachlichen Konflikten zu lähmen, wenn nicht aufzulösen. Umgekehrt kann eine lebendige Allgemeinsprache und das mit ihr meist verbundene kulturelle Ethos und Pathos auch eine hohe Handlungseffizienz nach innen und außen garantieren.
Die religiöse und die säkulare Interpretation der Sprachverwirrung Aus den prinzipiellen sprachlichen Implikationen von Arbeitsteilungsprozessen ergeben sich gegenläufige Tendenzen für die Verstehensmöglichkeiten der Turmbaugeschichte, die in der Rezeptionsgeschichte dieses Mythos sehr gut zum Ausdruck gekommen sind. Durch die Ambivalenz der sprachlichen Konsequenzen der Arbeitsteilung gewinnt die Geschichte vom Turmbau zu Babel ihren besonderen Reiz, weil sie zur Exemplifizierung und Rechtfertigung ganz unterschiedlicher Denkpositionen herangezogen werden kann. Im Rahmen eines hierarchisch-religiösen Denkens kann man den Turmbau, der eine große soziale Integrationskraft entwickelt, der vielerlei Kräfte entbindet und der ein Gefühl der Selbstmächtigkeit fordert, als Hybris und als Grenzüberschreitung deuten oder gar als prometheische Rebellion gegen eine normgebende transzendente Instanz. Gott sieht, dass die Menschen sich als „einerlei Volk' mit „einerlei Sprache" verstehen und dass sie nicht davon ablassen werden, ihre selbst gewählten Ziele zu verwirklichen. Deshalb greift er als strafender Gott ein, der mit Hilfe der Sprachverwirrung dafür sorgt, dass
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die Voraussetzungen zur Arbeitsteilung und zur effektiven Koordination von Handlungen zerstört werden. Außerdem zerstreut er die Menschen in alle Länder und verhindert auch dadurch, dass sie neue Großprojekte in Angriff nehmen können. Diese Wahrnehmungsweise der Turmbaugeschichte, die sich eng an dem Wortlaut der Geschichte orientiert und die das Handeln Gottes soziomorph als Handeln eines besorgten Hausvaters versteht, der Vorstöße gegen gegebene Ordnungssysteme direkt ahndet, lässt sich durch eine andere Wahrnehmungsweise relativieren oder zumindest ergänzen, die allerdings Ausdruck einer ganz anderen Denkperspektive ist. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihr die besonderen Sinnbildungsstrategien des Textmusters Mythos stärker berücksichtigt werden. Diese bestehen vor allem darin, dass komplexe Korrelationsverhältnisse in Form von individuellen Fällen exemplifiziert werden, dass evolutionäre Umstrukturierungsprozesse als punktuelle Ereignisse objektiviert werden und dass immanente Kräfte in Form von Handlungen konkreter Handlungssubjekte zur Erscheinung gebracht werden. Das bedeutet, dass Entwicklungsprozesse, denen wir im Rahmen unseres gegenwärtigen Wissens- und Bewusstseinsstandes eigentlich keine geplanten Intentionen unterstellen, im Mythos als zielgerichtete Handlungen von spezifischen Handlungssubjekten dargestellt werden. Dementsprechend würde dann der Mythos vom Turmbau zu Babel die folgenden Struktur- und Interaktionszusammenhänge von Arbeit und Sprache in einem sehr säkularisierten Sinne folgendermaßen thematisieren. Der Übergang von einem Leben als Sammler und Jäger zu einem sesshaften Leben als Ackerbauer und insbesondere als Städter fuhrt zwangsläufig zur Arbeitsteilung und zu einer spezifischen Vorsorge fur die Zukunft. Diese Vorsorge besteht nicht nur in der materiellen Vorsorge für das künftige Leben, sondern auch in der ideellen Vorsorge für die Ausbildung einer kulturellen Identität und fur die Manifestation geschichtlicher Traditionen. Man will sich als Volk von anderen Völkern abgrenzen, sich einen Namen machen und seinen Nachkommen in Erinnerung bleiben. Das kann im Prinzip nur dann gelingen, wenn man gemeinsame Denkinhalte und Denkformen hat, die sich in einer gemeinsamen Sprache objektivieren lassen. Dieses kulturelle Integrationsstreben wird nun aber durch die Arbeitsteilung bzw. durch zivilisatorische Differenzierungsprozesse gestört, insofern sich darin auf unbeabsichtigte Weise die Einheit des Denkens und der Sprache auflösen kann. Aus diesem Umstand kann man ableiten, dass faktisch eigentlich kein Gott als Sprachverwirrer in Erscheinung treten muss, weil der sprachliche Verwirrungsprozess schon immanent in zivilisatorischen Differenzierungsprozessen angelegt ist. Der eingreifende Gott in unserem Mythos könnte so gesehen dann als personale Manifestation einer internen Kraft in geschichtlichen Entwicklungsprozessen angesehen werden bzw. als eine Art Weltgeist im Sinne von Hegel. Menschen, die unterschiedliche Aufgaben zu lösen haben
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und damit auch in unterschiedliche Kontexte eingebunden sind, denken und sprechen notwendigerweise auch anders. Sprachdifferenzierungen sind deshalb auch nicht als punktuelle Ereignisse anzusehen, sondern als unabwendbare Implikationen zivilisatorischer Prozesse, gegen die kein Kraut gewachsen ist und gegen die auch zentrale Sprachregulierungen oder die Etablierung von Ideologien nicht viel ausrichten. Die Frage ist nur, ob die zentrifugalen Kräfte von Zivilisationsprozessen durch gegenläufige zentripedale Kräfte ausbalanciert werden können bzw. durch eine lebendige polyfunktionale Allgemeinsprache, die auch eine Kommunikation zwischen verschiedenen Berufs- und Funktionsgruppen ermöglicht. Der Hinweis auf die Zerstreuung des Volkes von Babel kann dementsprechend nicht nur als Hinweis darauf verstanden werden, dass das Projekt einer Großzivilisation gescheitert ist, sondern auch als Hinweis darauf, dass sich in den provinziellen Lebensformen wieder neue Chancen auf eine sprachliche und kulturelle Einheitlichkeit ergeben können. Die Pflege von Dialekten und Mundarten in der heutigen Zeit lässt sich dementsprechend auch als ein Vorhaben verstehen, die immanenten Sprachverwirrungen von Großzivilisationen zu kompensieren.
4. Die Ambivalenz von sprachlichen Differenzierungsprozessen Im Laufe der Kulturgeschichte ist die Einheit und die Vielfalt von Lebensformen, Denkgebäuden und Sprachen sehr unterschiedlich beurteilt worden. Dementsprechend hat sich dann auch immer wieder eine große Sehnsucht nach einer Einheitssprache ergeben oder ein Lobpreis der Vielfalt von Sprachen. Wenn man die Frage nach dem Wert bzw. Unwert der Ausdifferenzierung von Sprachen stellt, dann ist es vorteilhaft, sich Rechenschaft über die Implikationen der Vorstellung von einer Spracheinheit und einer Sprachvielfalt abzulegen.
Die Spracheinheit Sofern man grundsätzlich der Meinung ist, dass die kognitive Funktion der Sprache letztlich darin besteht, dass sie die Welt so abbildet, wie sie ist, und dass sprachliche Formen im Prinzip eine Kongruenz mit den ontischen Formen aufzuweisen haben, dann ist der Wunsch nach einer Einheitssprache für alle Menschen ein sehr verständlicher Wunsch und die Vielfalt von Sprachen ein ziemlich ärgerlicher Zustand. Die Vielfalt von Sprachen kann unter diesen Umständen nur als Abweichung von einer ursprünglichen Norm oder als Strafe verstanden werden bzw. als Ausschluss von einem Idealzustand.
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Die retrospektive Sehnsucht nach einer adamitischen Ursprache bzw. die prospektive Sehnsucht nach einer wissenschaftlichen Idealsprache sind dann Reflexe auf die Erfahrung der chaotischen Vielfalt von Sprachen und Denkmöglichkeiten, die keinen verlässlichen Kontakt zur faktischen Welt, zur geistigen Sinnordnung oder gar zu Gott ermöglichen. Die Mystiker versuchten deshalb, die Defizite aller Wortsprachen mit Hilfe des Schweigens und der mystischen Versenkung bzw. durch einen möglichst paradoxen Gebrauch der etablierten Sprachformen zu überwinden. Sie hofften auf die Weise, das Denken aus der verwirrenden Schwerkraft der konventionalisierten Einzelsprachen herauszulösen und verlässliche Kontaktmöglichkeiten zur transzendenten Welt zu finden. Auch die Philosophen haben immer wieder versucht, die gegebenen Sprachen von problematischen Formen zu reinigen bzw. sich durch die Konstruktion von philosophisch-wissenschaftlichen Idealsprachen vor der Verwirrung des Denkens durch die verwirrenden Einzelsprachen zu schützen. Beide Gruppen haben die Vielfalt von Sprachen und Ausdrucksvarianten immer wieder aus ganz unterschiedlichen Gründen als eine Last empfunden und waren bestrebt, die zentrifugalen Kräfte des Denkens und der Sprachentwicklung zu Gunsten der Stärkung von zentripedalen zu schwächen. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass sprachliche Aufgliederungs- und Differenzierungsprozesse immer wieder als problematisch betrachtet worden sind, wenn nicht sogar als Strafen. Dahinter steht in der Regel ein Denken, das die Geschichte eher als einen Raum zur Bewährung ansieht denn als einen Raum zur Gestaltung, eher als ein Feld zur Manifestation von Verwirrung denn als eine Möglichkeit zur Erzeugung von Neuem. Der Gedanke des Ursprungs bzw. der ursprünglichen Ordnung ist in diesem Denken immer positiv konnotiert worden, weil mit der Nähe zum Ursprung immer auch eine Nähe zur Wahrheit gegeben zu sein schien. Dabei ist nun allerdings zu berücksichtigen, dass mit den Begriffen Ursprung und ursprünglich nicht immer nur die Nähe zu einem zeitlichen Anfang gemeint ist, sondern auch die Nähe zu etwas, was außerhalb der verändernden Wirksamkeit der Geschichte steht, was also von den Veränderungsmöglichkeiten in der Zeit gar nicht betroffen wird. Deshalb ist die Sehnsucht nach dem Ursprung bzw. nach der Erfahrung der Einheitlichkeit und Eindeutigkeit von Phänomenen zugleich immer wieder eine Art Abwehrstrategie gegenüber der Erfahrung des Neuen oder der verwirrenden Vielfalt gewesen. Die Nähe zum Ursprünglichen ist daher auch oft im Sinne einer Nähe zu Gott verstanden worden bzw. zum Wesensgrund der Welt oder zu den Phänomenen in der Welt. Aus diesem Grunde ist die Idee der Ursprache auch nicht nur als Idee der adamitischen Ursprache in Erscheinung getreten, sondern auch als Idee der wissenschaftlichen Idealsprache, die einen ungetrübten Kontakt zu der Substanz der Phänomene in der Welt garantiert. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang dann allerdings auch, ob das Streben nach einer universalen Idealsprache nicht als ein neuer Turmbau ange-
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sehen werden müsste. Einerseits würden durch dieses Großprojekt sicherlich umfassende Reflexionsprozesse angeregt und vielfaltige Kräfte freigesetzt werden. Andererseits wären mit einem solchen Vorhaben aber auch immer endlose theoretische Grundsatzdebatten bzw. Denk- und Sprachverwirrungen verbunden, die ein effektives Handeln lähmen würden.
Die Sprachvielfalt Während in traditionellen Gesellschaften die Ausdifferenzierung des Gegebenen tendenziell eher negativ als Abkehr von einem normgebenden Ursprung angesehen wird, hat sich im neuzeitlichen Denken eine positive Beurteilung von Ausdifferenzierungsprozessen und Vielfalt entwickelt, die auch mit anderen Einschätzungen der Funktion von Arbeit einhergeht. Der Städter ist in seinen Denk- und Handlungsweisen im Prinzip beweglicher als der Bauer. Der Kaufmann findet seine Identität in seiner Flexibilität, sich neuen Umständen anzupassen bzw. neue Lebensumstände zu ermöglichen. Die Stadt macht nicht nur von den Strukturen feudalistischer Sozialordnungen frei, sondern auch frei zur Entwicklung neuer Sozialstrukturen und Ordnungsgestalten. Das Ursprüngliche bzw. die Einheitlichkeit des Denkens wird unter diesen Rahmenbedingungen nicht mehr automatisch positiv konnotiert, sondern auch als potenzielle Einengung der eigenen Individualität verstanden. Die Existenz vieler Sprachen erzeugt dementsprechend weniger Angst als Neugier. Sie wird nicht mehr als gleichbedeutend mit Chaos bzw. als Trennung von einer ursprünglichen Einheit und Wahrheit verstanden, sondern vielmehr als Ergebnis von Kreativität und als Chance für die Erschließung neuer Erfahrungen. Deshalb treten zumindest in der von der Aufklärung geprägten Neuzeit weder die Arbeitsteilung noch kulturelle Differenzierungsprozesse als Gefahr bringende Phänomene in Erscheinung. Ebenso wie man die Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten positiv verstehen konnte, so bewertete man in der Regel auch die Vielfalt von Sprachen als positiv. Das Andersartige wurde nicht automatisch als eine Bedrohung empfunden, sondern eher als ein Gegenstand des Interesses. Das hatte zur Folge, dass mit der Sprache zunehmend der Gedanke der Interpretation und der perspektivischen Wahrnehmung der Welt verbunden wurde. Dadurch entstand ein Denkklima, in dem der Reichtum an Sprachen zugleich auch als ein Reichtum an Weltansichten verstanden wurde bzw. als eine Möglichkeit, die individuellen Denk- und Erfahrungsmöglichkeiten auszuweiten. Als Humboldt das Phänomen Sprache nicht in der Perspektive von verfestigten Sprachmustern (Ergon) zu erfassen versuchte, sondern in der Perspektive von Sinnbildungsanstrengungen beim konkreten Sprechen (Energeia), da hat er implizit zugleich die These bekräftigt, dass zur Idee der Sprache auch die Vorstellung der Vielfalt und Differenz gehört. Die Vorstellung von einer
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Einheitssprache entspricht seiner Meinung nach weder der anthropologischen Funktion der Sprache noch den sinnbildenden Aufgaben des konkreten Sprachgebrauchs.15 Gerade die Vielfalt der Sprachen und des konkreten Sprachgebrauchs garantiert seiner Meinung nach, dass das Denken nicht in vorgegebenen Bahnen zu verlaufen hat, sondern dass es sich die Sprache immer wieder für seine Bedürfnisse herrichten muss und herrichten kann. Diese Vielfalt impliziert natürlich das Problem, dass „alles Verstehen ... daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen" ist.16 Das ist für ihn nun allerdings nichts Nachteiliges, sondern eher etwas Anregendes, weil das Denken und Sprechen auf diese Weise immer wieder auf seine eigenen Manifestationsweisen zurückverwiesen wird und damit auch auf die Notwendigkeit, sich in die Sichtweise anderer Sprecher hineinzuversetzen bzw. sich selbst metareflexiv zu kontrollieren, um anderen und sich selbst verständlich werden zu können. Nun ist sicherlich einzuräumen, dass mit dem Begriff der Sprache zugleich immer auch der Wunsch nach einer verlässlichen Repräsentation des Wissens und einer gelingenden Kommunikation verbunden ist und damit natürlich auch die Sehnsucht nach einer vollkommenen Sprache.17 Aber dieses Wunschbild kann wohl nur die Funktion eines regulativen Postulats haben. Es wäre für das Denken ziemlich kontraproduktiv, wenn es real würde, da eine solche Sprache das Denken auf mechanisch simulierbare Prozesse verkürzen würde. Die Vielfalt von Sprachen und die Gefahr des möglichen Missverstehens ermöglicht dem Denken dagegen eine große Flexibilität und stellt sicher, dass es sich letztlich nicht monologisch, sondern dialogisch zu konkretisieren hat. Das gelingt allerdings nur, wenn man Verstehensvorgänge im Prinzip als Übersetzungsvorgänge versteht, seien es Übersetzungsvorgänge aus einem kollektiven oder individuellen Sprachsystem in ein anderes, seien es Übersetzungsvorgänge aus einer Fach- und Sondersprache in die Allgemeinsprache. Erst wenn diese Prozesse des Dolmetschens und Interpretierens gescheut werden oder versiegen, dann gibt es eine wirkliche Sprachverwirrung, da sich das Denken isoliert und keine Vernetzung mehr mit anderem Denken sucht. Der Mythos von der Verwirrung der Sprachen zu Babel ist so gesehen sicher nicht nur ein Mythos zum Problem der Sprache, sondern darüber hinaus auch einer zum Problem von geschichtlichen Differenzierungsprozessen aller Art. Diese sind historisch immer dann problematisch geworden, wenn sie nicht mehr von gegenläufigen interpretativen Anstrengungen und von einer umfassenden Wissensneugier ausbalanciert werden konnten. Solche Differenzierungsprozesse bieten zwar große Chancen im Hinblick auf die Entfaltung von Kreativität und Vielfalt, aber auch große Gefahren, wenn dabei Lebens-, Ar15
16
17
T. Borsche, Von Babylon nach Tegel, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 19, 1993, S. 194202. W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 183; Werke, Bd. 3, S. 228. Vgl. U. Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 1994.
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beits- und Sprachwelten entstehen, die sich nicht mehr dialogisch vernetzten lassen, sondern zu isolierten fensterlosen Welten werden. So gesehen stellt die Geschichte vom Turmbau zu Babel einen Mythos dar, der auf narrative Weise die condition humaine versinnbildlicht.
5. Die Sprache als soziales Phänomen Die Kennzeichnung der Sprache als soziales Phänomen lässt sich in zwei Hinsichten näher bestimmen. Zum einen kann die Sprache als intersubjektiv wirksames Steuerungsmittel für kooperative Handlungen betrachtet werden, was die Geschichte vom Turmbau zu Babel ja recht gut versinnbildlicht. Zum anderen kann die Sprache aber auch als eine konstitutive Voraussetzung der menschlichen Existenzform angesehen werden, ohne die der Mensch als soziales Lebewesen gar nicht überlebensfähig wäre, weil durch die Sprache bestimmte Defizite an genetisch programmierten Verhaltensweisen kompensiert werden. Die Verwendung der Sprache zu kooperativen Handlungen bzw. zu zivilisatorischen Großtaten wäre dann nur eine pragmatische Oberflächenfunktion der Sprache, die anthropologisch noch tiefer verankert werden müsste. Das soll im Folgenden nun etwas ausführlicher erläutert werden.
Der Mensch als Mängelwesen und als Lernwesen In der Anthropologie hat man immer wieder betont, dass der Mensch im deutlichen Kontrast zum Tier durch seine Instinktunsicherheit und Weltoffenheit gekennzeichnet werden könne. Im Anschluss an Herder, der in seiner Sprachursprungstheorie betont hatte, dass die Reduktion seiner Instinkte den Menschen geradezu gezwungen hätte, sich eine Sprache zu entwickeln, um überleben zu können, spricht Arnold Gehlen vom Menschen sogar als einem „Mängelwesen,"18 Den Verlust an Instinktsicherheit könne man allerdings auch positiv sehen. Dann lasse sich der Mensch als ,£ernwesen" näher kennzeichnen. Aus beiden Bestimmungen lässt sich schließen, dass der Mensch von Natur aus eigentlich ein halbfertiges Wesen ist, das sich in Form der Kultur eine Art zweiter Natur schaffen muss, um existieren zu können. Landmann hat deshalb den Menschen als ein ausgesprochenes Kulturwesen gekennzeichnet, das sich erst im Rahmen der Kultur selbst vollende und das deshalb auf fast paradoxe Weise sowohl als Schöpfer als auch als Geschöpf der Kultur zu betrachten sei.19 Wie man den Fisch nur als Wasserwesen und den Vogel nur als Luftwesen verstehen könne, so könne man den Men18 19
A. Gehlen, Der Mensch, 1978 12 , S. 83. Vgl. M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S. 16ff.
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sehen nur als Kulturwesen verstehen. Als Kulturwesen spiele die Sprache für den Menschen eine fundamentale Rolle, weil sich in ihren Formen und in den durch sie herstellbaren Texten eine von den jeweiligen Vorfahren vorgetane Arbeit konkretisiere, auf die in konkreten Denk- und Handlungsprozessen ständig zurückgegriffen werden könne. 20 Aus seinen Überlegungen zur Instinktreduktion, Weltoffenheit und Lernfähigkeit des Menschen hat Gehlen außerdem den Schluss gezogen, dass der Mensch immanent dazu gezwungen sei, sich soziale Institutionen im Sinne von Sprache, Recht, Familie, Staat usw. zu schaffen, die dazu bestimmt seien, ihm ständig Entscheidungshilfen für die Gestaltung seines Lebens zu geben und die deshalb auch als Schutzvorkehrungen zu bewerten seien. Ihre Entlastungsfunktion könnten die sozialen Institutionen aber nur dann erfüllen, wenn sie eine gewisse Stabilität hätten und nicht ständig zur Disposition stünden. Wenn sie leicht veränderbar seien, könnten sie ihre Schutz- und Orientierungsfunktionen nicht mehr ausüben. Prinzipiell kann nun festgestellt werden, dass solche sozialen und kulturellen Institutionen wie beispielsweise die Sprache nicht Ergebnisse bewusster Planungen sind, sondern eher Nebenprodukte von erfolgreichen Handlungsprozessen, die sich konventionell verfestigt haben, um in ähnlichen Handlungsprozessen wieder eingesetzt werden zu können. Solche komplexen sozialen Institutionen lassen sich kaum rational planen und herstellen, weil sie auf eine fast undurchschaubare Weise unterschiedliche Funktionen gleichzeitig ausüben können und müssen. Unser bewusstes Wahrnehmen, Denken und Handeln wird von ihnen auf einer sehr fundamentalen Ebene immer schon vorstrukturiert. Einerseits entlasten sie alle menschlichen Entscheidungsprozeduren, aber sie zwingen andererseits auch ständig dazu, Entscheidungen nur in dem von ihnen vorgegebenen Rahmen zu treffen. Wegen ihrer Polyfunktionalität können sie sich durch Härte aber auch durch Plastizität auszeichnen. 21
Vielfalt und Einheit in der Kultur Wenn man die Geschichte vom Turmbau zu Babel im Kontext der These von der Angewiesenheit des Menschen auf Kultur und soziale Institutionen betrachtet, dann lässt sich festhalten, dass sowohl die Fähigkeit zum Turmbau als auch zur Entwicklung von Sprache eine Konsequenz der Weltoffenheit und Lernfähigkeit des Menschen ist. Sowohl die Sprachentfaltung als auch die Sprachdifferenzierung resultieren aus der biologischen Verfasstheit und Existenzform des Menschen, weil sie zu seiner Lebenssicherung und Lebensentfal-
20 21
Vgl. M. Landmann, Fundamental-Anthropologie, 1984, S. 70, 114, 131. Vgl. U. Baltzer, Ansatzpunkte für eine Semiotik der Institutionen, Zeitschrift für Semiotik, 23, 2001, S. 123-136.
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tung unabdingbar sind. In den sprachlichen Formen kann sich ein differenziertes und rasch umstrukturierbares Wissen zur Steuerung von Handlungsmöglichkeiten ansammeln, das in so umfassender Weise genetisch gar nicht verankert werden könnte. Wenn man die These akzeptiert, dass der Mensch biologisch auf vielfaltige Handlungsmöglichkeiten angelegt ist bzw. sich evolutionär darauf hinentwickelt hat, dann gehört die Fähigkeit zur Sprachentwicklung gleichsam zu seiner genetischen Grundausstattung. Die Chance zur Vielfalt von Lebensformen, die den Menschen erst ihre geschichtliche Existenzform erlaubt, trägt nun natürlich auch immer Keime zur Verwirrung und zum Chaos in sich, sei es, dass die Tendenz zur Vielfalt nicht durch eine Tendenz zur Beharrung ausbalanciert werden kann, sei es, dass sich die jeweils neu entwickelten Lebens-, Denk- und Sprachformen nicht mehr auf konstruktive Weise zu umfassenden Ordnungsgestalten vernetzen lassen. Die Sprache verliert ihre Ordnungsfunktion als soziale Institution, wenn sie zur Partial- oder gar Privatsprache wird und damit als intersubjektiv wirksames Objektivierungs-, Interpretations- und Kommunikationsmittel ausfällt. In einer säkularen Interpretation des Mythos vom Turmbau zu Babel, die auf den Hybrisgedanken verzichtet, kann deshalb die Sprachverwirrung in Babel als eine Disziplinlosigkeit in der Kulturentwicklung gedeutet werden bzw. als ein Mangel als Integrations- und Korrelationsanstrengungen. Kulturen leben vom Fließgleichgewicht zwischen Tendenzen zur Veränderung und zur Differenzierung von Ordnungen auf der einen Seite und von Tendenzen zur Stabilisierung und Vereinheitlichung von Ordnungen auf der anderen Seite. Deshalb gehören sowohl Utopien als auch Ursprungssehnsüchte zu lebendigen Kulturen. Utopien sind als Abwehrstrategien gegen die Erstarrung von Lebens- und Denkformen zu betrachten und Ursprungssehnsüchte als Abwehrstrategien gegen allzu rasante Differenzierungs- und Umgestaltungsprozesse. In monotheistischen Religionen wird die Tendenz zur Vielfalt im Gegensatz zu polytheistischen Religionen in der Regel als unerwünscht angesehen, weshalb in ihnen auch die moralische Interpretation des Turmbaumythos als Ausdrucksform menschlicher Hybris nahe liegt. Der Monotheismus neigt zu dogmatischen Lehren und stabilen Institutionen und sieht in der Vielfalt meist eine Abkehr vom Ursprünglichen bzw. vom Gesetz. Deshalb ist es auch verständlich, dass das Pfingstwunder der allgemeinen Verständigung auch immer wieder als Gegenbild zur Sprachverwirrung von Babel verstanden worden ist bzw. als Rückkehr zu einem ursprünglichen Zustand. Auch im Bereich der Sprachtheorie wird das Phänomen der sprachlichen Vielfalt oft negativ gesehen. Die Vielfalt von Nationalsprachen störe die globale Kommunikation und die Vielfalt von innersprachlichen Varietäten störe die präzise Informationsvermittlung. Immer wenn man die Sprache als Medium einer präzisen Informationsübertragung oder als ein durchstrukturiertes Ordnungssystem beschreiben will, dann ist der Mangel an systematischer grammatischer Ordnung oder die semantische Vagheit von lexikalischen und
Die Sprache als soziales Phänomen
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grammatischen Zeichen ein großes Ärgernis. Deshalb hat die Idee einer durchstrukturierten Universalsprache, die eine optimale Wissensfixierung und optimale Verständigung garantiert, die Menschen immer wieder entzückt. Im Gegensatz dazu hat die Idee einer Idealsprache im Bereich der Kunst niemanden begeistert, weil in ihrem Rahmen eigentlich kein Raum mehr für einen kreativen, spielerischen oder metaphorischen Sprachgebrauch gegeben ist.
Sprachvielfalt als Denkvielfalt Mit der Vielfalt von Einzelsprachen und der Vielfalt von Sprachformen wächst natürlich auch die Vielfalt der perspektivischen Wahrnehmungen und Interpretationen von Welt, was sowohl als anregend als auch als bedrohlich empfunden werden kann, weil in diesem Zusammenhang immer das Problem aktuell wird, wo man denn seinen eigenen Sehepunkt für die Weltwahrnehmung lokalisieren soll. Im Rahmen einer Einheitskultur und einer Einheitssprache ist das eigentlich kein Thema, weil es keine Alternativen und damit auch keine Wahlentscheidungen gibt. Die Sprache erscheint eher als ein Werkzeug zur Abbildung als zur Interpretation der Welt. Die einzelnen Zeichen erscheinen eher als Stellvertreter für Dinge bzw. Begriffe und weniger als Etiketten oder Überschriften für spezifische Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozesse. Allenfalls kann man bei sprachlichen Ausdrücken verschiedene Sinnebenen unterscheiden, was beispielsweise die Theorie des mehrfachen Schriftsinns als ein kanonisch institutionalisiertes Interpretationsverfahrens deutlich exemplifiziert. Im Denkrahmen einer Einheitskultur und einer Einzelsprache ist die Existenz unterschiedlicher Sprachen eigentlich eine unheimliche Tatsache, sofern man die anderen Sprachen als Sprachen überhaupt ernst nimmt und nicht als bloße Geräuschphänomene ansieht. Die neuzeitliche Neigung, in der Vielfalt von Sprachen als Vielfalt von Wahrnehmungsperspektiven und Denkweisen einen Vorteil zu sehen, ist dem Erzähler der Geschichte vom Turmbau zu Babel sicherlich noch fremd. Ihm fehlt das Sprachbewusstsein, das es Humboldt ermöglicht hat, die Sprache als Tätigkeitsform (Energeia) zu verstehen, bzw. die Idee einer inneren Sprachform im Sinne einer forma formans. Deshalb versteht der Erzähler der Turmbaugeschichte die babylonische Sprachverwirrung wohl auch eher als eine Verwirrung von Benennungen und weniger als eine Verwirrung von sprachlichen Denkmustern oder gar als eine Verwirrung der Verfahren zur Herstellung von Sprach- und Objektivierungsmustern. Gleichwohl hat er aber die Turmbaugeschichte so strukturiert, dass wir auch diesen Problemzusammenhang in ihr gespiegelt finden. Steinthal, der erste große Interpret Humboldts, hat schon früh den Gedanken der inneren Sprachform mit dem Turmbaumythos in Verbindung gebracht. Dabei stellt er allerdings nicht den Verwirrungsgedanken in den Mittelpunkt
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Der Turmbau zu Babel
seines Interesses, sondern vielmehr den Gedanken der Bündelung aller Kräfte bei der Entwicklung der Sprache bzw. der Grammatik. „Die innere Sprachform (die Grammatik) ist der eigentliche babylonische Thurm: denn bei ihrer Bildung sind alle Kräfte des Gemüths, Gefühl, Phantasie und Verstand thätig"22 Der Turmbaumythos ist in dieser Denkperspektive auch fur die Übersetzungsproblematik sehr aufschlussreich. Wenn wir die Verschiedenheit von Sprachen nur an der Oberflächenstruktur der Sprache verankern bzw. nur darin sehen, dass unterschiedliche Signifikanten für die gleichen Signifikate verwendet werden, dann sind Übersetzungen im Prinzip unproblematisch und ließen sich auch maschinell ausführen. Wenn aber der Unterschied zwischen den einzelnen Sprachen in der Differenz der jeweiligen kulturspezifischen Objektivierungsmuster liegt bzw. in den unterschiedlichen inneren Formen dieser Sprachen und wenn die einzelnen Oberflächenformen nicht auf gemeinsame Tiefenformen aller Sprachen zurückgeführt werden können, dann ist nicht nur die Idee einer omnipotenten Universalsprache gegenstandslos, sondern auch die Vorstellung einer deckungsgleichen Übersetzung von Sinngebilden aus der einen Sprache in die einer anderen. Allenfalls ließe sich annehmen, dass es bei Übersetzungen zu kongenialen Nachschöpfungen kommen kann, die allerdings umso schwieriger werden, je weiter die jeweiligen Kulturen und Sprachen auseinander liegen. Dabei würde dann nur das Energeia-Konzept Humboldts einen gewissen Trost spenden. Die Pluralität von Sprachen, die im Mythos vom babylonischen Turmbau als Verwirrung einer ursprünglichen Einheitssprache negativ gekennzeichnet worden ist, lässt sich im Hinblick auf die geschichtliche und kulturelle Konkretisierung von Individualitäten auch positiv als eine Sprachvermehrung werten, weil dadurch die Entfaltung von unterschiedlichen Kulturen und die Möglichkeit zum Denken in Alternativen entscheidend gefördert wird. Die Erfahrung von sprachlicher Fremdheit bzw. von Unverständlichkeit zwingt nämlich immanent dazu, sich auf die Denkweisen anderer Menschen einzustellen, die Welt in unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen und die eigenen Sehepunkte für die Wahrnehmung von Welt zu variieren. Deshalb hat George Steiner die so genannte babylonische Sprachverwirrung auch grundsätzlich positiv beurteilt. „Die Menschheit ist durch die Zerstreuung der Sprachen nicht vernichtet worden, sondern im Gegenteil lebendig und schöpferisch geblieben. "n Kulturgeschichtlich kann die Vielfalt von Sprachen in der Tat als eine das Denken stimulierende Kraft angesehen werden, weil die Menschen dadurch immer wieder dazu gezwungen werden, sich selbst geistig zu bewegen, um Fremdes als Anderes wahrnehmen zu können und ihr perspektivisches Denken
22
23
H. Steinthal, Die Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldt's und die Hegel'sche Philosophie, 1948/1985, S. 111. G. Steiner, Nach Babel, 1981, S. 243-244.
Alternative Turmbaukonzepte
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zu schulen. Psychologisch gesehen bedeutet das, dass Wahrnehmungsprozesse sich nicht nur als Assimilationsprozesse strukturieren dürfen, in denen etwas in schon vorhandene Denkmuster eingeordnet wird, sondern dass sie sich auch als Akkommodationsprozesse gestalten müssen, in denen man seine eigenen Denkmuster zu variieren hat, damit man geistig mit neuen Erfahrungen fertig werden kann. Eine Einheitssprache verführt demgegenüber dazu, alles für nebensächlich zu erklären bzw. sogar zu übersehen, was nicht in die gegebenen Wahrnehmungs- und Sprachmuster passt, während eine Vielheit von Sprachen von vornherein das hermeneutische Denken anregt. Wenn man von Vielsprachigkeit spricht, dann sollte man nicht nur an unterschiedliche Volkssprachen denken, sondern auch daran, dass die natürliche Muttersprache kein geschlossenes Monosystem ist, sondern in sich konkurrierende Ausdrucksweisen zulässt. Wandruszka spricht deshalb sogar von einer „muttersprachlichen Mehrsprachigkeit insofern es in der Muttersprache recht unterschiedliche regionale, soziale, funktionale und kulturelle Gebrauchsweisen der Sprache gibt, deren zweckdienliche Verwendung wir ebenso wie eine andere Sprache erlernen müssten. „Eine menschliche Sprache ist kein in sich geschlossenes und schlüssiges homogenes Monosystem. Sie ist ein einzigartig komplexes, flexibles, dynamisches Polysystem, ein Konglomerat von Sprachen, die nach innen in unablässiger Bewegung ineinandergreifen und nach außen auf andere Sprachen übergreifen,"24
6. Alternative Turmbaukonzepte Da die Geschichte vom Turmbau zu Babel ein ganz zentrales Problem der Kulturgeschichte anspricht, ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur immer wieder direkt oder indirekt auf diese Geschichte angespielt wird, sondern dass auch alternative Entwürfe dazu konzipiert worden sind. So hat beispielsweise schon in der Spätantike der Bischof Filarius von Brescia das übliche Verständnis der Turmbaugeschichte auf den Kopf gestellt. Seiner Meinung nach gab es schon vor dem Turmbau eine Vielfalt von Sprachen. Nach dem Turmbau hätten aber die Menschen das Vermögen verloren, alle Sprachen zu verstehen und zu sprechen.25 Die alternativen Turmbaukonzepte sind insbesondere deshalb so aufschlussreich und interessant, weil sie uns dazu zwingen, unsere eigenen Rezeptionstraditionen zu suspendieren und die Sprachproblematik in anderen Perspektiven wahrzunehmen. Das soll an zwei Beispielen näher veranschaulicht werden.
24 25
M. Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen, 1979, S. 39. Vgl. W. P. Klein, Die ursprüngliche Einheit der Sprachen in der philologisch-grammatischen Sicht der frühen Neuzeit, in: A. P. Coudert (Hrsg.), The language of Adam / Die Sprache Adams 1999, S. 27f.)
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Der Turmbau zu Babel
Kafkas Reflexionen zur Turmbaugeschichte In seiner Erzählung Beim Bau der Chinesischen Mauer lässt Kafka einen Gelehrten zu Wort kommen, der die These vertritt, dass der Turmbau zu Babel nicht wegen der vorgetragenen Gründe gescheitert sei, sondern vielmehr wegen der Schwäche der vorgesehenen Fundamente. Ein neuer Turmbau könne nur dann realisiert werden, wenn man sehr viel größere Aufmerksamkeit auf dieses Problem richte.26 Damit will er offenbar auf sinnbildliche Weise sagen, dass bei großen Werken zunächst alle Aufmerksamkeit auf die Prämissen und Vorarbeiten zu richten sei. Deshalb hat Kafka auch in anderen Zusammenhängen den etwas paradoxen Aphorismus formuliert: „ Wir graben den Schacht von Babel." 27 Darüber hinaus hat Kafka in der Erzählung Das Stadtwappen den Gedanken entwickelt, dass der babylonische Turmbau letztlich an Selbstreflexionsprozessen gescheitert sei. Zunächst habe man sich ganz auf die Voraussetzungen des Turmbaus konzentriert, also auf Wegweiser, Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte, Verbindungswege usw. Außerdem habe man den Turmbau auch nicht besonders beschleunigt, da man ja gewusst habe, dass das Wissen für die Baukunst ständig Fortschritte mache. Deshalb sei man zurückhaltend gewesen, um nicht Gefahr zu laufen, dass die nachwachsende Generation das schon Gebaute wieder einreißen müsse, da es nicht dem Stande der Baukunst entspreche. So habe man sich vorerst auf den Bau der Arbeiterstadt konzentriert und nicht auf den Turmbau selbst. Im Laufe der Zeit habe sich die Kunstfertigkeit beim Bauen ständig gesteigert, aber leider auch die Streitsucht der dabei Beteiligten. In der zweiten und der dritten Generation seien außerdem Zweifel an dem Sinn des ganzen Bauvorhabens aufgekommen. Durch die Organisation des Turmbaus sei man aber schon so miteinander verbunden gewesen, dass man die Stadt weder habe verlassen noch den Turmbau habe aufgeben können. Gleichwohl sei allmählich die geheime Sehnsucht entstanden, dass alles in einer äußeren Katastrophe enden möge. „Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinanderfolgenden Schlägen zerschmettert wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen. " 28 Wenn man diese Erzählung über das Scheitern des Turmbaus sinnbildlich deutet, dann wird in ihr darauf aufmerksam gemacht, dass die Umwendung des Denkens von der Sachthematik auf die Reflexion der Prämissen und Implikationen der Sachthematik auch immer eine gewisse Handlungslähmung bzw. eine
26
F. Kafka, Die Erzählungen, 1961, S. 281-282. ' F. Kafka, Gesammelte Werke, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, 1953, S. 387. 28 F. Kafka, Die Erzählungen, 1961, S. 305. 2
Alternative Turmbaukonzepte
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Verzettelung von Handlungsenergien beinhalten kann. Wenn man das vorhandene Wissen nicht einfach anwendet bzw. wenn man die gegebene Sprache nicht einfach nutzt, sondern beides zum Gegenstand von Reflexionen macht, dann können Wissen und Sprache ihre unmittelbaren pragmatischen Funktionen verlieren. Aus diesen Überlegungen lässt sich außerdem der Schluss ziehen, dass derjenige, der die Sprache zu analysieren weiß und der die Prämissen ihres Funktionierens kennt, diese keineswegs immer zweckdienlicher verwenden kann als derjenige, der ihren Gebrauch nicht metareflexiv begleiten kann. Diejenigen, die über die Struktur und über die Funktion eines Werkzeugs reflektieren können, entwickeln zwar nicht so schnell Wahnvorstellungen über dieses Werkzeug und über das, was mit ihm bewirkt werden kann. Das besagt dann allerdings noch nicht viel darüber, ob sie dieses Werkzeug auch zweckdienlich gebrauchen können. Ein Übermaß an Sprachreflexion kann den Sprachgebrauch durchaus lähmen, wie Hugo von Hofmannsthal in dem fiktiven Brief des Lord Chandos an Francis Bacon eindrücklich beschrieben hat.29
Salomons Gegenmythos Einen sehr aparten Gegenmythos zum biblischen Turmbaumythos hat der amerikanische Anglistikprofessor Louis B. Salomon 1954 konzipiert.30 Danach gab es in der Welt und damit auch in Babel anfangs die Situation, dass jeder seine individuelle Sprache mit einem sehr reichhaltigen Vokabular hatte, welches aber kommunikativ eigentlich recht nutzlos war, weil man sich durch Mimik und Gestik über alle praktischen Lebensprobleme zureichend genau verständigen konnte. Im Zusammenleben und bei der alltäglichen Arbeit gab es zwar kleinere Reibereien wegen der mangelnden Übereinstimmung von Zeichen und Wünschen, aber keine grundsätzlichen Missverständnisse und keine gänzlich auseinander laufenden Zielvorstellungen. Als man eines Tages begann, den Turm zu bauen, konnte man sich mühelos durch Gesten verständigen. Der Bau machte gute Fortschritte, weil die Effizienz der Arbeit nicht durch metareflexive Grundsatzdispute beeinträchtig wurde. Als Gott das sah, wurde er ärgerlich, weil er zu der Einsicht gelangte, dass die Menschenkinder wohl alles verwirklichen könnten, was sie sich einmal vorgenommen hätten. Um das zu verhindern entschloss er sich, den Menschen eine gemeinsame Sprache zu geben. Das hatte zur Folge, dass sofort Diskussionen darüber ausbrachen, was man mit den einzelnen Ausdrücken jeweils meine und zu welchem Zweck man den Turm überhaupt baue. Durch diese 29
30
H. v. Hofmannsthal, Ein Brief, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa, Bd. II, 1959, S. 720. Vgl. auch J. Börners, Der Chandosbrief - Die Nova Poetica Hofmannsthals, 1991. L. B. Salomon, Gospel-true-fable, in: J. S. Hayakawa (ed.), Selections from ETC 1953-1958, 1971, S. 3-11.
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Der Turmbau zu Babel
Grundsatzdiskussionen, die immer wieder auch zu Handgreiflichkeiten führten, kam der ganze Turmbau dann schließlich zum Erliegen. Diese Gegengeschichte zum biblischen Turmbaumythos macht auf aparte Weise darauf aufmerksam, dass nicht nur die vielen Einzelsprachen das kooperative Handeln von Menschen erschweren, sondern auch die extensiven Metareflexionen über den Sinn sprachlicher Ausdrücke und den Sinn von Zielsetzungen. Denkprozesse, die nicht sachthematisch konkrete Probleme lösen wollen, sondern sich reflexionsthematisch mit Sinnzuschreibungen für Zeichen und für Handlungsziele beschäftigen, können die Realisierung von Großprojekten ebenso verhindern wie der mangelnde Informationsaustausch bei der Koordinierung von Arbeitsprozessen. Auf die Sprache bezogen bedeutet das, dass wir uns in Handlungsprozessen nur dann effektiv miteinander verständigen können, wenn wir zu umfassenden Metareflexionen nicht viel Zeit haben bzw. wenn wir die sprachliche Äußerungen kontextnah genau so schnell verstehen müssen, wie sie faktisch gesprochen werden. Als handlungserleichternde soziale Institution kann die Sprache nur dann wirksam werden, wenn wir sprachliche Vagheiten und Ambivalenzen im Verstehensprozess nicht extensiv auskosten, sondern in spontanen Interpretationsentscheidungen beseitigen. Metareflexionen können zwar verhindern, möglichen Wegen blind zu folgen, sie können es aber auch erschweren, Wege als Wege wirklich zu benutzen. In der poetisch verwendeten Sprache stellt sich diese Situation allerdings etwas anders dar als in der praktisch verwendeten. Für diese ist immer wieder postuliert worden, dass sie eigentlich nicht als soziale Institution im üblichen Sinne anzusehen sei, weil sie prinzipiell widerständig und widerborstig sein müsse, um ihre spracherneuernden Funktionen erfüllen zu können. Das schließt dann allerdings keineswegs aus, dass ein ursprünglich poetischer Sprachgebrauch für den alltäglichen auch wieder kanonisch werden kann, was insbesondere Metaphern ja sehr gut veranschaulichen. Paul Valery hat auf erhellende Weise darauf aufmerksam gemacht, dass jedes Wort für das Denken und Verstehen zu einem Problem werden kann, wenn wir metareflexiv auf ihm herumtanzen. „Jedes Wort ... erscheint mir als eine jener leichten Planken, die über einen Graben geschlagen werden oder über einen Bergspalt und die den Menschen tragen, wenn er sie in rascher Bewegung passiert. Aber er muß hinübergehen, ohne darauf zu lasten, muß hinübergehen ohne stehenzubleiben - und vor allem darf er sich nicht das Vergnügen erlauben, auf dem dünnen Brett zu tanzen, um dessen Widerstand auf die Probe zu stellen! ... Sie werden finden, daß wir die anderen nur verstehen und daß wir uns selbst nur verstehen dank der Schnelligkeit, mit der wir über die Worte hinweggehen."3I
31
P. Valery, Dichtkunst und abstraktes Denken, in: F. R. Hausmann u.a. (Hrsg.), Französische Poetiken, Teil II, 1978, S. 364.
III Das Sprachexperiment von Psammetichos Herodots Bericht 2. Bis zur Regierungszeit des Psammetichos hielten sich die Ägypter für das älteste Volk der Erde. Als aber Psammetichos König wurde, forschte er nach, welches das älteste Volk sei, und seitdem glauben sie, daß die Phryger noch älter seien als sie. Denn als Psammetichos gar kein Mittel fand, diese Frage, welches die ältesten Menschen auf Erden seien, zu entscheiden, kam ihm folgender Gedanke. Er gab einem Hirten zwei neugeborene Kinder von beliebigen Eltern, der sollte sie mit seiner Herde auf folgende Weise aufziehen. Niemand sollte in ihrer Gegenwart ein Wort sprechen, in einem leeren Raum sollten sie ganz allein liegen, zur rechten Zeit sollte er Ziegen hineinführen und, wenn die Kinder getrunken, sie mit dem anderen Notwendigen versorgen. Psammetichos tat und ordnete dies alles deshalb an, weil er gern wissen wollte, was für ein Wort die Kinder wohl zuerst aussprechen würden, wenn sie das Alter des Schreiens und undeutlichen Lallens hinter sich hätten. Die Sache wurde auch ins Werk gesetzt, und als der Hirt die Kinder zwei Jahre auf diese Weise versorgt hatte, riefen sie ihm, als er eines Tages die Tür öffnete und her eintrat, bitten das Wort 'Bekos' entgegen, wobei sie die Hände emporstreckten. Der Hirte hörte das Wort anfangs schweigend an; da es aber jedesmal, wenn er kam, von neuem ertönte, teilte er es seinem Herrn mit und führte ihm auf dessen Befehl die Kinder vor. Psammetichos hörte nun das Wort gleichfalls und forschte nach, in welcher Sprache dies Wort Bekos vorkäme. Da fand er, daß die Phryger das Brot Bekos nennen. Hieraus schlossen denn die Ägypter, daß die Phryger noch älter seien als sie und räumten ihnen den ersten Platz ein. So haben mir die Priester des Hephaistos in Memphis erzählt. Die Hellenen schmücken die Geschichte mit vielen törichten Irrtümern aus und erzählen, Psammetichos habe einigen Weibern die Zunge ausgeschnitten, die dann mit diesen Kindern zusammenleben mußten.1
1
Herodot, Historien, II. Buch Kap. 2, Stuttgart 1963 3 , S. 99-100.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
Bericht über ein Nachfolgeexperiment von Kaiser Friedrich II. aus der Chronik von Salimbene Seine zweite Wahnidee war, daß er ein Experiment machen wollte, welche Art Sprache und Sprechweise Knaben nach ihrem Heranwachsen hätten, wenn sie (vorher) mit niemandem sprächen. Und deshalb befahl er den Ammen und Pflegerinnen, sie sollten den Kindern Milch geben, daß sie an den Brüsten saugen möchten, sie baden und waschen, aber in keiner Weise mit ihnen schöntun und zu ihnen sprechen. Er wollte nämlich erforschen, ob sie die hebräische Sprache sprächen, als die älteste, oder griechisch oder lateinisch oder arabisch oder aber die Sprache ihrer Eltern, die sie geboren hatten. Aber er mühte sich vergebens, weil die Kinder alle starben. Denn sie vermöchten nicht zu leben ohne das Händepatschen und das fröhliche Gesichterschneiden und die Koseworte ihrer Ammen und Nährerinnen. Und so heißen „ Windellieder" die Lieder, die die Frau beim Bewegen der Wiege singt, um ein Kind einzuschläfern, ohne die ein Kind schlecht schlafen und Ruhe finden kann.2
2
Heinisch, Klaus J. (Hrsg.), Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit, 1968, S. 85.
Herodots Mitteilungsinteressen
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1. Herodots Mitteilungsinteressen In seinen Historien erzählt Herodot (485-424 v. Chr.) die Geschichte eines Experiments, das der ägyptische König Psammetichos II. in seiner Regierungszeit von 594-588 v. Chr. vorgenommen haben soll, um zu klären, welches Volk das älteste sei bzw. welche Sprache als Ursprache anzusehen sei. Er merkt zwar an, dass er sich für die Wahrheit dieser Geschichte nicht voll verbürgen könne, da er sie auf seiner Ägyptenreise nur von Priestern in Memphis gehört habe, aber er hält sie gleichwohl für interessant genug, um sie in sein Werk aufzunehmen. Das bedarf der Erläuterung, um sowohl den kulturhistorischen als auch den sprachtheoretischen Stellenwert dieser Geschichte adäquat beurteilen zu können. Zunächst ist festzuhalten, dass der griechische Terminus historia die Grundbedeutung Erkundung hat und deshalb keineswegs unserem Terminus Geschichte entspricht. Historien im Sinne von Erkundungen können sich sowohl auf Erkundungen im Bereich der Natur (Physik, Geographie, Astronomie usw.) beziehen als auch auf den Bereich der Kultur und Geschichte. Insofern liegt auch der Bericht über das Sprachexperiment von Psammetichos keineswegs außerhalb des Erwartungshorizontes, den man in Griechenland ursprünglich mit einer Historie verband. Alles, was irgendwie zum Staunen und Nachdenken Anlass gab und was vor dem Vergessen bewahrt werden sollte, konnte zu einem legitimen Gegenstand einer Historie werden. Darin dokumentiert sich zugleich, dass auch die Geschichtsschreibung im Prinzip philosophische Wurzeln gehabt hat, insofern sie nämlich ihren Ursprung dem Staunen darüber verdankt, dass sich etwas ereignet hat bzw. dass etwas so ist oder geworden ist, wie es ist. Nun hat sich Herodot zwar vorwiegend auf Erkundungen im politischgeschichtlichen Bereich konzentriert, aber sich dennoch auch immer wieder Themen zugewandt, die nur mittelbar politische Implikationen gehabt haben, was beispielsweise für unsere Geschichte zutrifft. Außerdem ist zu beachten, dass sowohl die Geschichtsschreibung als auch die Naturphilosophie bei den Griechen eine gemeinsame Wurzel darin haben, dass sie aus aufklärerischen Bemühungen hervorgegangen sind. Beide wollten die verborgenen Ursachen von Gegebenheiten aufdecken und gaben sich nicht mit dem zufrieden, was man traditionell über bestimmte Phänomene gedacht hatte. Deshalb gab es in beiden Bereichen auch eine große Aufgeschlossenheit für das hypothetische Denken, das naturgemäß immer in einer Spannung zu vorgegebenen Autoritäten und Denktraditionen steht. Die Neigung Herodots, seine geschichtlichen Darstellungen mit anekdotischen Erzählungen von zweifelhaftem faktischen Wahrheitsgehalt anzureichern, ist schon in der Antike von Aristoteles und Cicero scharf kritisiert worden. Deshalb gilt auch nicht Herodot, sondern Thukydides als der eigentliche
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
Vater der Geschichtsschreibung, weil dieser sich konsequent dem Problem der Quellenkritik gestellt hatte und deutlich zwischen Anlässen und Ursachen für Ereignisse zu unterscheiden versuchte. Gleichwohl darf man aber bei aller berechtigten Kritik an Herodots Geschichtsschreibung nicht vergessen, dass seine Leidenschaft fur Geschichten in der Geschichte auch eine didaktische Zielsetzung gehabt hat. Er will Problemstrukturen auf exemplarische Weise narrativ darstellen, damit sie psychisch klar präsent und gut memorierbar werden. Das impliziert dann natürlich eine immanente Tendenz zu mythischen und fiktionalen Erzählungen, die einen Wahrheitsanspruch auf einer anderen Ebene stellen als historische Darstellungen in unserem heutigen Verständnis. Herodots Bericht über das Sprachexperiment von Psammetichos thematisiert ein sehr komplexes anthropologisches Problem auf narrative Weise und damit scheint er es auch etwas oberflächlich abzuhandeln. Allerdings darf man dabei nicht nicht vergessen, dass diese Darstellungsweise durch ihre Form auch dazu provoziert, sich mit den Prämissen, Implikationen und Konsequenzen des Erzählten zu beschäftigen, die allenfalls angedeutet, aber nicht explizit thematisiert werden. Dadurch ergibt sich dann die Chance, ein sprachtheoretisches Grundproblem auf eine Weise zu durchdenken, bei der man nicht nur sachthematischen, sondern auch kulturhistorischen Erkenntnissinteressen nachgehen kann. Wenn man Herodots Bericht nicht mit der Frage konfrontiert, ob alles tatsächlich so abgelaufen ist, wie es von ihm dargestellt worden ist, sondern vielmehr mit der Frage danach, für welches politische und sprachtheoretische Denken diese Geschichte symptomatisch ist und warum Herodot den geschilderten Fall so interessant gefunden hat, dann ergibt sich eine ganz andere Rezeptionsperspektive für das Erzählte. Nun steht nicht mehr das Ergebnis dieses sonderbaren Experiments im Mittelpunkt des Interesses bzw. die Fragestellung, ob es überhaupt geeignet ist, das ins Auge gefasste Problem zu lösen, sondern vielmehr die Antwort auf die Frage danach, welche Vorstellungen von Sprache hinter dem Experiment gestanden haben und warum es überhaupt zur Lösung einer Sachfrage in Betracht gezogen worden ist.
2. Der historische und geistige Hintergrund des Experiments Herodot berichtet uns nichts darüber, warum in Ägypten die Frage nach dem ältesten Volk überhaupt virulent geworden ist, die Psammetichos mit der Identifizierung der Ursprache zu entscheiden versuchte. Diese Grundfrage muss aber beantwortet werden, wenn man klären will, welche Motive seinem Sprachexperiment zu Grunde lagen und in welche Sprachvorstellungen es eingebettet war. In diesem Zusammenhang sollte man sich Folgendes vergegenwärtigen.
Der historische und geistige Hintergrund des Experiments
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In isolierten Kulturen bzw. in Hochkulturen wie Ägypten, die auf eine lange Geschichte zurückblicken, stellt sich normalerweise nicht die Frage, welches das älteste Volk sei. Es herrscht üblicherweise die ungebrochene Selbstgewissheit, dass man selbst das älteste und bedeutendste Volk sei. Und falls sich die Frage dennoch stellen sollte, so wird sie in der Regel durch den Rückgriff auf eigene Mythen oder auf die sakralen Traditionen des Herrscherhauses autoritativ beantwortet, aber keineswegs durch Überlegungen und Experimente des Typs, wie sie Psammetichos ins Spiel gebracht hat. Daraus lässt sich folgern, dass sein Experiment im Prinzip das Symptom eines erschütterten kulturellen Selbstbewusstseins war, wenn nicht das einer tiefen Legitimationskrise. Das Experiment von Psammetichos war kein spontaner Einfall, sondern stellt einen strategischen Versuch dar, das erschütterte ägyptische Selbstbewusstsein neu zu festigen. Ein Blick auf die ägyptische Geschichte bestätigt diese Einschätzung.3 Um 666 v. Chr. waren die Assyrer in Ägypten eingefallen und hatten die Vertreter der 25. Dynastie verjagt. Sie setzten Gaufursten als ihre Statthalter ein, darunter auch den Großvater unseres Experimentators, der sich mit Hilfe von griechischen Söldnern gegen die anderen Gaufürsten und die Assyrer durchsetzte und als Psammetichos I. 664 v. Chr. die 26. Dynastie begründete. Er brach die Macht der Priester, unterhielt eine griechische Flotte und öffnete das Land den Griechen. Dadurch geriet er allerdings politisch in eine sehr heikle Lage. Einerseits musste er sich auf die Griechen stützen, um sich innenpolitisch und außenpolitisch zu behaupten, andererseits musste er seine Herrschaft legitimieren, was er durch die Anknüpfung an alte Traditionen und durch die Förderung von archaisierenden Tendenzen in der Kunst zu erreichen versuchte. Als sein Enkel Psammetichos II. 595 v. Chr. an die Macht kam, hatte auch er noch mit Legitimationsproblemen zu kämpfen. Zum einen musste auch er die ägyptische Identität gegenüber assyrischen und griechischen Macht- und Kultureinflüssen stärken. Deshalb war es auch verständlich, dass die Frage nach dem ältesten Volk sehr virulent wurde, weil sie eng mit dem gestörten Selbstwertgefühl der Ägypter zusammenhing. Zum anderen war aber offenbar der griechische Kultureinfluss schon so stark geworden, dass sich diese Frage für Psammetichos II. nicht mehr einfach durch den Rückgriff auf irgendwelche Mythen oder priesterliche Autoritäten beantworten ließ. Der Gedanke lag ihm offenbar nicht fern, dieses Problem durch ein Experiment zu lösen. Dieses Vorgehen war nun allerdings kulturgeschichtlich höchst brisant, weil es als Bruch mit den bisherigen Denktraditionen gewertet werden muss. Selbst wenn sich bei diesem Experiment die wohl bestehende Hoffnung der Ägypter bestätigt hätte, dass sie das älteste Volk seien, muss es dennoch als ein Zeugnis für eine revolutionäre neue Denkweise angesehen werden, die 3
Vgl. E. Otto, Ägypten, Der Weg des Pharaonenreiches, 19664, S. 227ff.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
eher griechischen als ägyptischen Geist atmet. Ein Sachproblem wird nämlich nicht durch Hinweise auf traditionelle Autoritäten gelöst, sondern soll mit Hilfe von deduktiver Rationalität und empirischer Verifikation aus der Welt geschafft werden. Insofern muss dem Experiment als Ausdruck einer neuen Denkstrategie ganz unabhängig von seinem Ausgang eine kulturelle Explosivkraft zugeschrieben werden. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass es Herodot so berichtenswert empfunden hat. Er konnte annehmen, dass es seine griechischen Leser interessierte, weil es eine aufklärerische Denkweise repräsentierte, die sich auch in Griechenland erst gegen Widerstände kämpferisch durchsetzen musste. Nicht zufällig ist das Experiment bzw. der Geist des Experimentierens in der Neuzeit zum Hauptinstrument der Wissenschaften gegen alle Formen der Scholastik und der Legitimierung von Wissen durch traditionelle Autoritäten geworden. Das bezeugen nicht nur die Naturwissenschaften in ihrem Kampf gegen kirchliche Dogmen, sondern auch Kants Postulate in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Hier hat er betont, dass die Vernunft mit ihren Prinzipien in der einen Hand und mit dem Experiment in der anderen Hand sich der Natur zu nähern habe, um in der Rolle „eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt', Auskünfte von ihr zu erzwingen.4 Das theoretische Denken sucht eine Distanz von seinen Gegenständen und eben dabei hilft ihm das Experimentieren bzw. das hypothetische Denken. Die Langzeitwirkung der Entscheidung, Fragen mit Hilfe von Experimenten zu beantworten, ist strukturell gesehen mit der Entscheidung bzw. mit dem politischen Experiment von Psammetichos I. vergleichbar, griechische Söldner zur Machtgewinnung und Machterhaltung einzusetzen. Dadurch konnte er ein konkretes politisches Problem lösen, aber das politische Leben ließ sich danach nicht mehr so gestalten, wie es früher üblich gewesen war, weil sich dadurch Denk- und Ordnungsstrukturen grundlegend gewandelt hatten. Mit neuen Verfahren lassen sich nämlich alte Ordnungen nur sehr selten restaurieren und stabilisieren. Der Hinweis von Herodot, dass die Ägypter im Anschluss an das Ergebnis des Experiments von Psammetichos die Phryger in Kleinasien nun für das älteste Volk gehalten hätten, ist insofern besonders aufschlussreich, weil sich darin dokumentiert, dass nach Herodot das experimentelle Denken zumindest in bestimmten Kreisen der Ägypter Akzeptanz gefunden hat. Selbst wenn dieses Denken in Ägypten faktisch noch keine großen Auswirkungen gehabt haben sollte, so hat die Entstehungsgeschichte dieser neuen Meinung zumindest Herodot selbst außerordentlich fasziniert, weil er darin wohl ein Stück modernen griechischen Denkens widergespiegelt gefunden hat.
4
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β XIV, Werke, Bd. 3, S. 23.
Die Prämissen des Experiments
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Für unser heutiges sprachtheoretisches Denken ist das Ergebnis des Experiments von Psammetichos eigentlich von keiner sachlichen Relevanz, da es wohl kaum in der geschilderten Weise ausgegangen ist und da die entscheidenden Daten wohl nicht zutreffend erfasst und interpretiert worden sind. Möglicherweise hat das Experiment in dieser Weise nicht einmal stattgefunden, sondern ist nur gut erfunden oder typisiert worden. Gleichwohl ist es theoretisch sehr interessant, weil es uns dazu zwingt, die Denkprämissen näher zu untersuchen, die ihm zu Grunde liegen. Diese geben uns nämlich nicht nur Aufschluss darüber, wie man zu Herodots Zeiten über das Problem der Ursprache bzw. des Ursprungs der Sprache gedacht hat, sondern ermuntern uns auch dazu, unsere eigenen Grundannahmen zu diesem Problem zu präzisieren und argumentativ zu rechtfertigen.5
3. Die Prämissen des Experiments Über die theoretischen Prämissen des Sprachexperiments hat uns der Erzähler Herodot verständlicherweise keine Angaben gemacht. Auch Psammetichos selbst wird sich darüber wohl kaum Rechenschaft abgelegt haben, da die Handelnden ihre eigenen Denkvoraussetzungen meist nicht zum Gegenstand des Interesses machen. In unserem heutigen historischen Abstand zu dem Experiment können wir aber dessen Prämissen recht gut herausarbeiten und damit natürlich auch die Vorstellungen von Sprache, die Psammetichos selbst für mehr oder weniger selbstverständlich gehalten haben muss.
Identität von Volk und Sprache Das Experiment von Psammetichos hat im Rahmen der Ausgangsfrage nur dann einen Sinn, wenn man voraussetzt, dass Völker und Sprachen genuin zusammengehören, also gleichsam nur zwei Seiten einer Medaille sind. Ein Volk wird offenbar als eine genealogische und sprachliche Einheit im Sinne einer Großfamilie angesehen und nicht als eine politische Organisationseinheit. Dieses Konzept ist allerdings von Psammetichos noch nicht klar durchdacht worden. Er geht zwar von der Vorstellung einer angeborenen Ursprache aus, die zugleich auch einen Hinweis auf das älteste Volk liefern soll, aber er stellt sich nicht die Frage, warum denn überhaupt verschiedene Völker und Sprachen vorhanden sind, wenn es tatsächlich eine angeborene Ursprache gibt. Die Vorstellung der Identität von Volk und Sprache hat in der politischen und kulturellen Geschichte nicht immer dieselbe Bedeutsamkeit und Durch5
Vgl. A. Sulek, The experiment of Psammetichos: fact, fiction, and model to follow, Journal of the History of Ideas, 1989, S. 645-651.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
schlagskraft gehabt. Offenbar hat sie immer dann eine besondere Rolle gespielt, wenn Völker in der Auseinandersetzung mit anderen Völkern bzw. Kulturgruppen und Staatsformationen Identitätsprobleme bekommen haben. Dieses Problem war wohl zu Zeiten von Psammetichos und Herodot ebenso aktuell wie in der Phase der Bildung von Nationalstaaten in Europa oder in der Phase der Staatsbildungen in den nachkolonialen Zeiten in Afrika und Asien. Keine große Rolle hat demgegenüber die Vorstellung einer Korrelation oder gar Identität von Volk und Sprache im Mittelalter gespielt, wo die jeweiligen Herrschaftsverbände ganz unterschiedliche Sprachgemeinschaften umfasst haben. Hier ergab sich aus den jeweiligen sozialen Standesgemeinschaften in der Regel ein sehr viel stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl als aus den jeweiligen Sprachgemeinschaften. Nur insofern die jeweiligen Standesgemeinschaften zugleich auch ausgeprägte Kulturgemeinschaften waren, trug die gemeinsame Sprache auch zu einem besonderen Zusammengehörigkeitsgefühl bei. Generell lässt sich aber sagen, dass ständische Gliederungsvorstellungen immer als gegenläufig zu der Idee angesehen werden können, dass Volk und Sprache sich wechselseitig konstituieren.
Die Idee des reinen Ursprungs Dem Experiment von Psammetichos liegt außerdem weitgehend die Vorstellung zu Grunde, dass das Ursprüngliche zugleich auch das Unverfälschte, Eigentliche und Natürliche sei und dass es gegenüber dem Späteren einen besonderen Wert bzw. eine besondere Legitimität habe. Die Abweichung vom Ursprünglichen ist deshalb auch immer wieder als eine Abweichung von einer normativen Urform bzw. als eine Art Verwässerung, wenn nicht gar Degeneration angesehen worden. Einem solchen Denken liegt die Vorstellung meist ganz fern, dass das ursprünglich Gegebene eine Primitivform sein kann, die darauf angelegt ist, fortentwickelt zu werden bzw. eine neue Qualität zu bekommen, die der Anfangsform überlegen ist. Geschichtliche Entwicklungsprozesse werden deshalb auch selten mit einem Fortschrittsoptimismus in Zusammenhang gebracht, sondern eher mit einem Fortschrittspessimismus, in dem das Frühere im Prinzip nicht nur als das Ursprüngliche, sondern zugleich auch als das Bessere angesehen wird. Diese Grundeinstellung hat im Bereich des Sprachdenkens insbesondere die Anfänge der Etymologie geprägt. Die ursprüngliche Wortbedeutung wurde vielfach als die eigentliche Wortbedeutung angesehen und die semantischen Veränderungsprozesse als Abweichungen von natürlichen Normen. Daraus hat sich dann oft auch die Vorstellung entwickelt, dass die Aufklärung der ursprünglichen Wortbedeutungen zugleich auch als ein Beitrag zur Sachaufklärung der jeweils bezeichneten Phänomene zu werten sei, weil man glaubte, aus der Struktur der jeweiligen Wortbildungen zugleich so etwas wie eine Realde-
Die Prämissen des Experiments
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finition der bezeichneten Phänomene ableiten zu können bzw. Wörter als redende Namen zu verstehen. Das dokumentiert sich beispielsweise darin, dass in der Antike bzw. in dem Mittelalter das lateinische Wort verbum spekulativ aus verum boare (die Wahrheit wiedergeben) abgeleitet worden ist bzw. das Wort amicus (Freund) nicht minder spekulativ aus animi custos (Wächter der Seele).6 Solche Denkstrukturen haben sich bis heute lebendig erhalten, insofern man nicht selten glaubt, den Streit um die Bedeutung eines Wortes dadurch lösen zu können, dass man auf die ursprüngliche Bedeutung als die eigentliche Bedeutung verweist und dabei ganz unberücksichtigt lässt, dass die verschiedenen Wörter zu unterschiedlichen Zeiten auch ganz unterschiedliche Differenzierungsfunktionen haben können. Wenn wir heute beispielsweise den Begriffsinhalt des Terminus Demokratie durch den Rückgriff auf die griechischen Wurzeln dieses Terminus als Volksherrschaft zu bestimmten versuchen, dann wird nicht bedacht, dass die Entscheidungsstrukturen in den Stadtstaaten Griechenlands anders waren als in denen der parlamentarisch organisierten Großstaaten der Gegenwart. Infolgedessen wäre es sicher angemessener, Bestimmungskriterien wie Herrschaft auf Zeit oder geregelter Machtwechsel für die Begriffsbestimmung des Terminus Demokratie heranzuziehen.
Sprache als angeborenes Sprachsystem Die Vorstellung von einer angeborenen Ursprache impliziert bei Psammetichos die Vorstellung, dass es sich dabei um ein komplexes angeborenes Sprachsystem handelt. Die Unterscheidung zwischen einer angeborenen Sprachfähigkeit und einem durchstrukturierten Sprachsystem, das auf der Grundlage dieser Fähigkeit entwickelt werden kann, liegt außerhalb des Denkrahmens seines Experiments. Unsere heutige Vorstellung, dass die Menschen bei ihrer Geburt genetisch mit bestimmten Dispositionen zur Entwicklung und zum Erwerb von Sprach- und Zeichensystemen ausgestattet sind und dass später Außenreize hinzukommen müssen, um diese Disposition zu aktivieren, überschreitet das Vorstellungsvermögen von Psammetichos und seiner Zeit. Außerhalb der damaligen Vorstellungskraft liegt natürlich auch die Hypothese, dass sich sowohl die Sprachfähigkeit auf der biologischen Ebene als auch die konkreten Volkssprachen auf der kulturellen Ebene auf evolutionäre Weise aus sehr einfachen Grundformen allmählich entwickelt haben könnten. Ein geschichtliches Denken, das solche Hypothesenbildungen möglich macht, beginnt erst im 18. Jahrhundert. Wenn man bedenkt, dass sich das evolutionäre Denken gegen erhebliche Widerstände erst allmählich im 19. Jahrhundert 6
Vgl. W. Sanders, Grundzüge und Wandlungen der Etymologie, Wirkendes Wort, 17, 1967, S. 365 u. 374.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
durchgesetzt hat, dann muss man einräumen, dass Psammetichos mit der Entwicklung diesbezüglicher Vorstellungen auch völlig überfordert gewesen wäre.
Sprache als Naturphänomen Für Psammetichos und seine Zeit war es offenbar völlig selbstverständlich, die Sprache nicht als Kulturphänomen, sondern als Naturphänomen anzusehen, und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen ging man davon aus, dass die Ausstattung des Menschen mit einer bestimmten Sprache ebenso natürlich sei wie die Ausstattung mit bestimmten Sinnesorganen. Zum anderen war man der Überzeugung, dass die Sprache bzw. ihre lexikalischen und grammatischen Formen in natürlicher Weise deckungsgleich auf die Welt der vorgegebenen Phänomene passen. Der Gedanke, dass sprachliche Formen Denkmuster sind, mit denen man sich die Welt mehr oder weniger hypothetisch nach bestimmten pragmatisch motivierten Unterscheidungsinteressen repräsentieren kann, war Psammetichos und seinen Zeitgenossen offenbar noch ganz fremd. Diese Sichtweise auf die Sprache hat eine lange kulturelle Entwicklungsgeschichte und kann auch heute noch nicht als allgemeine, selbstverständliche Grundlage unserer Sprachvorstellung gelten. Wenn Psammetichos den Gedanken hätte fassen können, dass Volkssprachen bzw. konkrete Sprachsysteme keine Naturphänomene, sondern Kulturphänomene sind, dann hätte er sich sein Sprachexperiment natürlich sparen können. Dieses hat nur unter der Denkprämisse einen Sinn, dass es ein angeborenes Sprachsystem gibt, das sich unabhängig von äußeren Einflüssen und Anregungen entfalten kann.
4. Die ungelösten Probleme Herodots Bericht über das Experiment von Psammetichos lässt eine Reihe von sehr relevanten sprachtheoretischen Fragen offen. Das spricht nun allerdings keineswegs gegen die sprachtheoretische Bedeutsamkeit dieser Geschichte, da es generell zum Charme narrativer Sinnobjektivierungen gehört, nicht nur erzählerische, sondern auch theoretische Leerstellen zu eröffnen, welche die Rezipienten zu ergänzenden Überlegungen zu den jeweiligen Aspektwahrnehmungen provozieren. Die von der Geschichte eröffneten Leerstellen bzw. Probleme lassen sich in zwei Klassen einteilen. Einerseits handelt es sich um Probleme, die sich innerhalb des für das Experiment maßgeblichen Denkrahmens ergeben, andererseits handelt es sich um Probleme, die erst im Denkrahmen unseres heutigen Wissensstandes und unserer heutigen Erkenntnisinteressen an Gestalt gewinnen.
Die ungelösten Probleme
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Diese Unterscheidung ist theoretisch leicht zu treffen, sie ist aber praktisch nicht leicht zu handhaben, weil wir nicht eindeutig rekonstruieren können, wie Psammetichos oder Herodot tatsächlich gedacht haben bzw. denken konnten. Auch heute ist nicht völlig selbstverständlich, welches sprachtheoretische Wissen wir aktivieren können bzw. objektivieren müssen, um die ungelösten sprachtheoretischen Probleme dieses Experiments sichtbar machen zu können. Deshalb soll in den folgenden Überlegungen darauf verzichtet werden, methodisch ganz stringent zwischen einer historischen und einer systematischen Betrachtungsweise zu unterscheiden. Es soll statt dessen eine Darstellungsweise bevorzugt werden, in der beide Denkperspektiven integrativ zur Herstellung eines komplexen Problembewusstseins miteinander verbunden werden.
Die angeborene Ursprache und die gegebenen Volkssprachen Falls es eine angeborene Ursprache gäbe, dann müsste man gute Gründe dafür finden, warum sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Volkssprachen herausgebildet haben und warum sich die angeborene natürliche Ursprache nicht erhalten hat. Zwar könnte man annehmen, dass jedes Volk seine eigene Schöpfungsgeschichte und seine eigene angeborene Sprache hätte, aber diese Hypothese passt nicht zum Untersuchungsverfahren von Psammetichos, da dieser ja für sein Experiment Kinder von ganz beliebigen Eltern ausgewählt hatte und dennoch annahm, dass sie nicht über eine angeborene volksspezifische Sprache, sondern über eine angeborene allgemeine Ursprache verfügten. Die Frage nach der historischen Stabilität der angeborenen Ursprache ist insbesondere dann besonders wichtig, wenn man zugleich auch annimmt, dass die angeborene Ursprache optimal auf die Welt passe. Dann müsste man nämlich weiterhin annehmen, dass die faktisch vorhandenen Volkssprachen, abgesehen von dem Phrygischen, eigentlich deformierte Sprachen seien. Zwar könnte man im Prinzip auch die Auffassung vertreten, dass die gegebenen Volkssprachen verbesserte Weiterentwicklungen der Ursprache seien, aber diese Hypothese würde dann nicht mehr gut zu dem Motivationshintergrund des ganzen Experiments passen. Eine Antwort auf die Frage nach der Herkunft und dem Stellenwert der einzelnen Volkssprachen hätte auch fur Psammetichos dringlich sein müssen, da sie ja unmittelbar mit dem Problem des gestörten ägyptischen Selbstbewusstseins zusammenhängt. Sie hätte aber auch für Herodot und die Griechen aktuell sein müssen, da diese mit einem großen Selbstbewusstsein die Anderssprechenden als Barbaren d.h. als Plapperer bezeichnet haben.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
Die angeborene Ursprache und die Kultur- und Zivilisationsgeschichte Wenn es ein komplettes angeborenes Sprachsystem geben sollte, dann ergäbe sich sofort das Problem, ob auch schon das Vokabular für diejenigen Phänomene angeboren ist, die erst in geschichtlich fortgeschrittenen Epochen in Erscheinung getreten sind oder die man erst in späteren Zeiten auf Grund ganz bestimmter kultureller Differenzierungsinteressen voneinander unterschieden hat. Beispielsweise gab es in frühen geschichtlichen Epochen sicher keine Notwendigkeit, die Phänomene Auto, Demokratie oder Sauerstoff zu benennen, weil es diese Phänomene entweder noch gar nicht gab oder weil der kulturgeschichtliche Denkrahmen fehlte, in dem man sie sinnvoll von anderen unterscheiden konnte. Es wäre schon merkwürdig, wenn man annähme, dass es ein angeborenes Vokabular für alle noch zu erfindenden oder zu unterscheidenden Phänomene geben müsste. Schon bei dem Wort Bekos müsste man sich fragen, ob es tatsächlich zu den natürlichen Urwörtern gehören könnte, da es kein Natur-, sondern ein Kulturphänomen benennt, welches es nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben hat. In der Vorstellung einer angeborenen Ursprache dokumentiert sich ein extrem unhistorisches Denken, das nicht in Betracht zieht, dass sich sowohl die faktische Erfahrungswelt als auch die kulturellen Differenzierungsbedürfnisse ständig ändern. Kein angeborenes Sprachsystem könnte diesem Wandel und den Unterscheidungsintentionen in diesem Wandel gerecht werden. Wenn man außerdem seinen Blick nicht nur auf die Allgemeinsprache richtet, sondern auch auf die Fach- und Sondersprachen, dann wird dieses Konzept der angeborenen Ursprache vollends absurd. Verständlich wird die Idee einer angeborenen Ursprache nur vor dem Hintergrund einer sehr reduzierten Erfahrung von geschichtlichem Wandel, die in der damaligen Zeit im Prinzip wohl gegeben war, die aber gerade bei Psammetichos und Herodot, welche selbst Zeugen großer historischer Veränderungsprozesse waren, eigentlich nicht mehr sehr prägend gewesen sein dürften. Insbesondere in oralen Kulturen ist das Bewusstsein für geschichtlichen Wandel relativ reduziert, weil sich der konkrete Erfahrungsraum der einzelnen Menschen während ihrer Lebensspanne kaum ändert und weil sich die Sprache den jeweiligen Veränderungsprozessen kontinuierlich anpasst. Erst in literalen Kulturen ergeben sich historische Räume von großer Differenz sowie sprachliche Fremdheitserlebnisse. Gerade in literalen Kulturen müsste deshalb die Vorstellung einer angeborenen funktionskräftigen Ursprache eigentlich ziemlich problematisch werden.
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Die Motive für den Sprachwandel Ungestellt und damit natürlich auch unbeantwortet bleibt bei dem Experiment von Psammetichos auch die Frage nach den Ursachen und Motiven für innersprachliche Entwicklungs- und Wandlungsprozesse. Eine solche Frage lässt sich sowohl auf die Ebene der Laute bzw. der Benennungen beziehen als auch auf die Ebene des semantischen Wandels von lexikalischen und grammatischen Ordnungsmustern. Dieser Problemzusammenhang ist heute natürlich auch noch im Hinblick auf das sprachtheoretische Konzept der Unterscheidung von sprachspezifischer Oberflächenstruktur und universaler Tiefenstruktur interessant. In einem solchen Denkrahmen müsste man nämlich eine Antwort auf die Frage finden, warum sich überhaupt historisch so unterschiedliche sprachliche Formen für die Oberflächenstrukturen von Sprachen herausgebildet haben, wenn allen doch eine einheitliche Tiefenstruktur zu Grunde liegt. In diesem Zusammenhang nur die Kategorie des Zufalls zu bemühen, wäre sicher etwas zu einfach. Man müsste sich auch die Frage stellen, ob die Annahme von universalen sprachlichen Tiefenstrukturen nicht als ein etwas naiver Versuch gekennzeichnet werden muss, ganz bestimmten ontologischen Grundüberzeugungen Ausdruck zu geben. Auf der Betrachtungsebene der Benennungen kommt der Frage nach den Ursachen des Sprachwandels insbesondere im Hinblick auf etymologische Überlegungen ganz besondere Brisanz zu. Wenn man von der plausiblen Prämisse ausgeht, dass die Benennung von Phänomenen ursprünglich nicht eine willkürliche lautliche Etikettierung gewesen ist, sondern vielmehr durch metaphorische Übertragungen von schon genutzten Namen (Der Strom fließt.), durch Zusammensetzungen (Viehschuppen = Schuppen für Vieh) oder durch Ableitungen (Lehr-er = Person, die lehrt) motiviert ist, dann kann man die These vertreten, dass vielen Benennungen eine verdeckte prädikative Grundstruktur eigen ist, die eigentlich auf eine rudimentäre Erklärung oder Kurzdefinition der jeweils benannten Phänomene abzielt. Sprachgenetisch gesehen haben die meisten Wörter dann eine gewisse Durchsichtigkeit in Bezug auf die von ihnen benannten Phänomene, selbst wenn sich diese Aussagefunktion bzw. diese Motiviertheit von sprachlichen Benennungen für den Sprachbenutzer im Laufe der Sprachgeschichte ziemlich verflüchtigt hat. Beispielsweise wird keinem Sprachbenutzer heute bewusst sein, dass das nhd. Wort Messer auf das westgerm. Wort *mati-sahs zurückgeht, das soviel wie kleines Schwert für die Speise bedeutet hat. In der Gegenwart wird keiner mehr ernsthaft die Auffassung vertreten können, dass die ursprüngliche Benennung als sprechende Benennung diejenige ist, die sachlich richtig ist und die uns auf ganz natürliche Weise auch einen Zuwachs an Sachkenntnis bringt. In diesem Fall müssten wir nämlich heute
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
jeden Marschall als Pferdeknecht wahrnehmen. Gleichwohl spiegelt sich in unserem Interesse an der ursprünglichen Bedeutung von Wörtern nicht nur ein historisches Interesse wider, sondern auch eine geheime Sehnsucht nach einer durch und durch motivierten Sprache bzw. nach Wörtern, die uns eine Durchsicht auf das Wesen der mit ihnen benannten Phänomene ermöglichen. Diese Sehnsucht impliziert dann aber auch immer eine gewisse Notwendigkeit zu erklären, warum sich die Benennungsfunktion von Wörtern bzw. ihre Bedeutung historisch gewandelt hat. In diesem Wahrnehmungszusammenhang wird sehr schnell klar, dass die Idee einer angeborenen Ursprache eigentlich absurd ist, da es dann nämlich kaum noch Raum mehr fur eine Kulturgeschichte gibt. Zugleich wird auch klar, dass uns etymologische Analysen weder zu einer allgemeinen Ursprache zurückfuhren können noch zu einer besonders gut legitimierten Erkenntnis über die jeweils benannten Phänomene. Etymologische Analysen können uns allerdings recht gute Hinweise darauf geben, in welchen Perspektiven man in früheren Zeiten bestimmte Phänomene wahrgenommen hat und wie diese Wahrnehmungsweisen mit den heutigen kontrastieren. Unsere verborgene Sehnsucht nach einer durch und durch motivierten Sprache bzw. nach durchsichtigen Wörtern, die einen belastbaren Kontakt mit der Welt ermöglichen, dokumentiert sich auch in den so genannten volksetymologischen Anstrengungen, durch die aus unverständlich gewordenen Benennungen wieder sprechende Namen gemacht werden. So wurde beispielsweise aus dem ahd. Wort sintvlout (große Flut) das spätmhd. Wort süntvlout, da das ahd. Wort sin (gewaltig) ausgestorben war und man Bezüge zur Sündenproblematik als nahe liegend ansah. Erst im 20. Jahrhundert ist durch ein verbessertes sprachhistorisches Wissen dann wieder aus der Sündflut eine Sintflut geworden.
Bedingungsfaktoren fur Spracherwerbsprozesse Die Versuchsanordnung von Psammetichos provoziert zumindest aus heutiger Sicht auch die Frage, ob zwei Kinder, die isoliert von äußeren Spracheinflüssen aufwachsen, sich auf der Basis ihrer Sprachfähigkeit und ihrer kognitiven und kommunikativen Bedürfnisse eine eigene Sprache entwickeln können. Daran lässt sich auch noch die Frage anschließen, welche Besonderheiten solche selbst entwickelten Sprachen in Lexik und Grammatik aufweisen. In diesem Zusammenhang sind die so genannten Kreolensprachen interessant. Als solche bezeichnet man Sprachen, die Kinder von Arbeitssklaven auf kolonialen Plantagen zur gemeinsamen Verständigung entwickelt haben, deren Eltern sehr unterschiedliche Muttersprachen hatten. Diese von Kindern aus sehr punktuellen Vorgegebenheiten neu entwickelten Sprachsysteme, die auf keinem vorgegebenen Sprachsystem fußen, weisen insbesondere in ihren
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grammatischen Ordnungsstrukturen überall in der Welt verblüffende Ähnlichkeiten auf. Diese müssen nun allerdings nicht unbedingt auf angeborene grammatische Ordnungsmuster zurückgeführt werden, sondern können auch über die pragmatischen Differenzierungsbedürfnisse der Kinder und über systemtheoretische Ordnungspostulate ganz gut erklärt werden.7 Aus der Beobachtung der Sprachentwicklung von Zwillingen weiß man, dass diese in ihrem Sprachvermögen erheblich zurückbleiben, wenn sie sich selbst überlassen bleiben und keine Gesprächspartner mit einem höheren Sprachniveau haben.8 Bei stark reduzierten äußeren Sprachkontakten können Zwillinge allerdings untereinander eine Art primitiver Privatsprache ausbilden, die sowohl aus gehörten und umgeformten Ausdrücken der allgemeinen Umgangssprache, als auch aus selbst entwickelten Ausdrücken besteht. Solche Privatsprachen weisen allerdings keine sehr differenzierten lexikalischen und grammatischen Ordnungsmuster auf. Das ist natürlich verständlich, weil Zwillinge nicht in wenigen Jahren ein Sprachsystem entwickeln können, für das Völker Jahrtausende benötigt haben. An die Frage nach den Möglichkeiten für die Entwicklung eigener Sprachsysteme durch Kinder schließt sich normalerweise auch die Frage an, welche Konsequenzen es für die geistige Entwicklung von Kindern hat, wenn sie in ihren ersten Lebensjahren keinen oder nur einen reduzierten Kontakt zu sprechenden Menschen bzw. zur Wahrnehmung und Verarbeitung von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen gehabt haben. Diese Problematik hat unter dem Stichwort Wolfskinder, wilde Kinder oder vernachlässigte Kinder seit der Aufklärung ein großes Interesse gefunden. Anfangs hat es sogar Diskussionen darüber gegeben, ob solche Kinder, die ganz offensichtlich geistige Defizite hatten, überhaupt der Klasse der Menschen zugeordnet werden könnten, wenn man den Menschen normativ als vernünftiges Lebewesen (animal rationale) definiert. Gleichzeitig gab es dann natürlich auch ein großes Interesse daran, ob solche geistigen Defizite durch geeignete Erziehungsmaßnahmen bzw. durch einen intensiven Sprachunterricht wieder ausgeglichen werden könnten. Die Reihe dieser Kinder, die mit einem fehlenden oder sehr reduzierten Sprachvermögen aufgefunden wurden und an deren Schicksal die Öffentlichkeit aus humanitären und politischen Gründen einen regen Anteil genommen hat, reicht von Peter von Hameln, Victor von Aveyron, Kaspar Hauser über die Mädchen von Midnapore, die angeblich aus einer Wolfshöhle gerettet wurden, bis zu den vernachlässigten unehelichen Kindern, die von ihren Müttern versteckt gehalten wurden und sehr reduzierte soziale Kontakte hatten.9 All diese 7
8
9
Vgl. D. Bickerton, Roots of language, 1981. D. Bickerton, Kreolensprachen, Spektrum der Wissenschaft, 1983, H. 3, S. 110-118. W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 150ff. Vgl. A.R. Lurija/F.I. Judowitsch, Die Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes, 1972 2 , S. 63ff. Vgl. L. Malson u.a., Die wilden Kinder, 1972. H. Lane, Das wilde Kind von Aveyron, 1985.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
Kinder wiesen große geistige und sprachliche Defizite auf, die durch ein intensives Sprachtraining nur minimal reduziert werden konnten. Heute wissen wir, dass Kinder in ihrer sprachlichen und geistigen Entwicklung irreversibel geschädigt werden, wenn ihre grundsätzliche Anlage zur Aneignung und Verwendung von Sprache bzw. von komplexen Zeichensystemen nicht in den ersten Lebensjahren von außen angeregt wird. Die fur den Erwerb und den Gebrauch eines komplexen Zeichensystems notwendige synaptische Verschaltung von einzelnen Nervenzellen im Gehirn erfolgt nur, wenn sich dafür frühzeitig die geeigneten Außenreize ergeben. In späteren Lebensphasen können diese synaptischen Verbindungen nicht mehr zureichend hergestellt werden, was irreversible geistige Schäden zur Folge hat. Dabei spielen allerdings nicht nur sprachliche Anregungen und Reize eine Rolle, sondern Zeichenreize aller Art bis hin zu motorischen Reizen. Erstaunlich ist auch, dass das eigentliche Sprachzentrum im Gehirn anfangs noch nicht sehr fest lokalisiert ist und sich bis zur Pubertät sogar noch verlagern kann, wie Beobachtungen an hirnverletzten Kindern ergeben haben. Einen besonders interessanten Fall stellt in diesem Zusammenhang die Lebensgeschichte von Helen Keller dar, die im Alter von 18 Monaten, also schon nach entscheidenden Kontakten mit der Verbalsprache und mit anderen Zeichensystemen, nach einer Krankheit 1882 unheilbar taub und blind geworden war.10 Im Alter von fast sieben Jahren begann die Lehrerin Anne Sullivan 1887 damit, Helen Keller mit Hilfe eines Fingeralphabets Namen für einzelne Gegenstände und Erfahrungssachverhalte in die Hand zu buchstabieren und sich allmählich mit Hilfe dieses Verfahrens immer umfassender mit ihr zu verständigen. Dieser Lernprozess war so erfolgreich und der Lerneifer von Helen Keller so groß, dass sie auch die Braille-Schrift für Blinde erlernte. Mit 20 Jahren nahm sie ein Studium auf und schrieb später sogar eigene Bücher. Der späte Spracherwerb von Helen Keller, bei dem das akustische und visuelle Repräsentationsmedium lediglich durch ein taktiles ersetzt worden ist, war offenbar nur deshalb so außerordentlich erfolgreich, weil sie schon in ihrer frühen Kindheit mit Sprache und mit komplexen gestischen und mimischen Zeichen konfrontiert worden war, wodurch sich die fundamentalen synaptischen Strukturen zur Handhabung von Sprache bzw. von komplexen Zeichensystemen schon ausgebildet hatten. Das war offenbar die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sie später die Verbalsprache mit Hilfe eines anderen Repräsentationsverfahrens optimal erwerben und verwenden konnte und in der Lage war, ihre kognitiven Fähigkeiten voll zu entwickeln.
10
Vgl. A. Schmitt, Helen Keller und die Sprache, 1954.
Das Nachfolgeexperiment von Kaiser Friedrich II.
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Zeichenkontakte Die Versuchsanordnung von Psammetichos wirft auch die Frage auf, welche Konsequenzen die soziale Vernachlässigung von Kindern fur ihre geistige Entwicklung hat. Dieser Problemzusammenhang ist unter dem Stichwort Hospitalismus bekannt geworden. Kinder, deren körperliche Bedürfiiisse befriedigt werden, deren soziale, emotionale und kognitive Bedürfnisse aber nicht zureichend erfüllt oder angeregt werden, weisen in der Regel erhebliche psychische und geistige Störungen auf, die auch negative körperliche Auswirkungen haben können. Kinder müssen frühzeitig an die Koordination von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen gewöhnt werden, damit sich bei ihnen komplex strukturierte Gesamtvorstellungen ausbilden können und damit sie die jeweiligen Zeichensysteme auf differenzierte Weise zur Kontaktaufnahme mit ihrer Umwelt verwenden können. Eine reduzierte Zeichennutzung kann zu irreparablen Schäden bei den Synapsen von Gehirnzellen führen. Wir wissen heute, dass es neben einer verbal fundierten Intelligenz auch noch Intelligenzformen gibt, die auf anderen Zeichensystemen bzw. auf anderen geistigen Strukturierungsmöglichkeiten aufbauen. Zur normalen geistigen Entwicklung von Kindern gehört neben dem Umgang mit Sprache auch der Umgang mit Gestik, Mimik, Tasteindrücken, Gerüchen, Bildern usw. Wenn Kinder solche Zeichenformen gar nicht oder nur in sehr reduzierter Weise kennen lernen, dann können sich ihre geistigen Fähigkeiten nicht optimal entwickeln. Oft sterben sie sogar frühzeitig. Das belegt beispielsweise das Nachfolgeexperiment, das der Stauferkaiser Friedrich II. zur Identifizierung einer vermeintlichen Ursprache vorgenommen hat.
5. Das Nachfolgeexperiment von Kaiser Friedrich II. Das Experiment von Psammetichos und das dahinter liegende Problem, ob es eine angeborene Ursprache gibt und wie sich Menschen entwickeln, die ohne Sprachkontakt aufwachsen und leben, ist kulturgeschichtlich nicht vergessen worden. Der persische Gelehrte Avicinna (980-1037) hat sich mit dieser Thematik beschäftigt. Unter seinem Einfluss ist im 12. Jahrhundert in der arabischen Welt ein Roman bekannt geworden, in dem davon berichtet wird, dass ein Mensch 50 Jahre ganz allein auf einer Insel gelebt habe und dass er in dieser Zeit die Zeichengebung der Tiere erlernte. Auf diese Weise habe er sich eine Begriffswelt schaffen können, durch die „die Bilder der Dinge auch nach ihrer Abwesenheit seiner Seele gegenwärtig bliebenEin direktes Nachfol11
Zit. nach E. Seidler, Der Neugeborenenversuch Friedrich II. von Hohenstaufen, Deutsches Ärzteblatt, 61, 1964, S. 2031.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
geexperiment hat dann Kaiser Friedrich II., der Enkel Barbarossas, im 13. Jahrhundert unternommen. Dieser Versuch geht zwar von derselben Leitfrage aus, aber er steht doch in recht anderen Kontexten.
Die Hintergründe des Nachfolgeexperiments Friedrich II., an dessen Hof in Sizilien griechische und arabische Kultureinflüsse eine große Wirksamkeit entfalteten, war im Kontext seiner Zeit eine fast anachronistische Gestalt. Er soll neun Sprachen beherrscht haben, darunter Griechisch, Hebräisch und Arabisch. Über den Kontakt mit arabischen Gelehrten hatte er Kenntnis von den naturwissenschaftlichen Schriften der Griechen. Bei seinen Zeitgenossen erregte er wegen seiner grenzenlosen Wissbegier und seiner Neigung zu naturwissenschaftlichen Experimenten großes Befremden und großen Argwohn. So soll er beispielsweise Fischen Kupferringe in die Kiemen gezogen haben, um ihre Lebensdauer zu erforschen. Raubvögeln soll er die Augen vernäht haben, um experimentell zu klären, ob sie ihre Beute mit dem Gesichts- oder dem Geruchssinn wahrnehmen. Er hat nicht nur ein berühmtes Buch über die Falkenjagd geschrieben, sondern sich auch intensiv mit der Struktur des Gefieders von Vögeln beschäftigt, um physikalisch zu klären, in welcher Korrelation die artspezifischen Formen der Schwungfedern von Vögeln zu der Frequenz ihres Flügelschlags stehen.12 Die Neugier des Kaisers nach dem faktisch Gegebenen und nach den immanenten Kausalitäten in der Welt der Natur war seinen Zeitgenossen und insbesondere der Kirche ganz unheimlich. In einem Gutachten charakterisiert ihn ein päpstlicher Agent 1245 folgendermaßen: „Fürst der Tyrannei, Zerstörer der kirchlichen Lehre und Verderber der Geistlichkeit, Umstürzer des Glaubens, Lehrer der Grausamkeit, Erneuerer der Zeiten, Zersplitterer des Erdkreises und Hammer der ganzen Welt!"13 Im Zusammenhang mit der Auflistung einer Reihe seiner angeblichen Wahnideen hat uns dann der Franziskanermönch Salimbene von Parma über das Sprachexperiment des Kaisers berichtet, wobei ihm wohl im Gegensatz zu Friedrich II. nicht bekannt war, dass es sich um ein Nachfolgeexperiment gehandelt hat.
Die neuen Aspekte des Experiments Im Kontext des mittelalterlichen Denkens lag es nahe, die hebräische, die griechische oder die lateinische Sprache als angeborene Ursprache anzusehen.
12 13
Vgl. E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, 193l 3 , S. 330ff. Zit. nach K.J. Heinisch (Hrsg.), Kaiser Friedrich II., in Briefen und Berichten seiner Zeit, 1968, S. 525.
Das Nachfolgeexperiment von Kaiser Friedrich II.
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Gar nicht nahe lag allerdings die Hypothese, dass dafür auch die arabische Sprache in Betracht kommen könnte. Diese Annahme resultiert wohl aus der großen Aufgeschlossenheit von Friedrich II. für die arabische Kultur und Wissenschaft. Von besonderem Interesse ist nun, dass nach Salimbenes Bericht Friedrich II. in Betracht gezogen hat, dass die Kinder auch die Sprache der leiblichen Eltern sprechen könnten. Daraus wird deutlich, dass sich sein Augenmerk nicht nur auf die Sprachen richtet, in denen heilige und bedeutsame Bücher geschrieben worden sind, sondern dass er prinzipiell auch in Betracht zieht, dass gleichsam jede existierende Volkssprache eine angeborene Sprache sein könnte. In dieser Hypothese dokumentiert sich eine bezeichnende Distanz des Kaisers zu den gegebenen Sprachursprungsideologien seiner Zeit und eine sehr nüchterne Grundeinstellung zu der ganzen Problematik. Zwar wird man Friedrich II. nicht die Annahme unterstellen dürfen, dass er schon an eine Vererbung von erworbenen Eigenschaften im Sinne von Lamarck gedacht haben könnte, aber seine Hypothese zeigt doch seinen sehr unvoreingenommenen Blick auf die ganze Sachproblematik, da er keineswegs ausschließt, dass mehrere angeborene Sprachen nebeneinander existieren könnten. Offen bleibt nach unserem Bericht allerdings, wie sich Friedrich II. die Herkunft, die Zahl und die Ausdifferenzierung solcher Volkssprachen gedacht hat und mit welcher Rigorosität sich diese faktisch vererben konnten. Bei diesem Denkansatz würde sich ja beispielsweise das Problem ergeben, welche Volkssprache vererbt wird, wenn die Elternteile unterschiedliche Muttersprachen haben. Möglicherweise hat auch Friedrich II. Überlegungen dieser Art angestellt, aber dafür zeigt Salimbene kein spezifisches Interesse. Aufschlussreich ist allerdings, dass Salimbene das Hospitalismusproblem bei dem Experiment durchaus gesehen hat, das von Herodot gar nicht thematisiert worden ist. Er zieht nämlich in Betracht, dass die Versuchskinder das Experiment deshalb nicht überlebt hätten, weil es ihnen an emotionaler Zuwendung gefehlt habe. Er ist also aufgeschlossen für die Vorstellung, dass Kinder zur gesunden Entwicklung nicht nur soziale Kontakte benötigen, sondern auch Anreize zur Verarbeitung von Zeichen aus ganz unterschiedlichen Zeichenklassen (Hände patschen, Gesichter schneiden, Lieder usw.). Solche Fragestellungen scheinen Friedrich II. bei seinen methodisch reduzierten Erkenntnisinteressen ebenso fern gelegen zu haben wie die ethischen Implikationen seines ganzen Experiments. Neben Friedrich II. soll auch der schottische König Jakob IV. (1473-1513) das Psammetichos-Experiment wiederholt haben. Von ihm wird berichtet, dass er zwei Kinder mit taubstummen Wächtern auf einer Hebrideninsel ausgesetzt habe. Die von den Kindern produzierten Laute soll er dann aber eigenartigerweise nicht als irisch-gälische, sondern als hebräische Sprachlaute gedeutet haben.14 Auch der indische Kaiser Akbar der Große (1556-1605) soll ein ver14
Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 3, 1960, S. 1010.
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Das Sprachexperiment von Psammetichos
gleichbares Experiment vorgenommen haben, wobei die Kinder aber stumm geblieben sein sollen.15 Friedrich der Große soll Gelehrten untersagt haben, den Versuch von Psammetichos zur Ermittlung der Ursprache zu wiederholen.16 Auch in der Debatte über den Ursprung der Sprache im 18. Jahrhundert ist immer wieder auf das Psammetichos-Experiment Bezug genommen worden.17
6. Die Variation des Experiments bei Marivaux In einer ganz besonderen Weise hat Marivaux das Experiment von Psammetichos in seiner Komödie Der Streit variiert.18 Diese erlebte 1744 ihre Uraufführung und wurde in den letzten Jahren auch in Köln und Kassel inszeniert. In ihr geht es um die Streitfrage, ob die Untreue durch den Mann oder die Frau in die Welt gekommen sei. Da sich ein Fürst und seine Geliebte in diesem Streit nicht einigen können, soll das Problem experimentell gelöst werden, wobei es dann zu einem aparten Theater im Theater kommt. Der Fürst lässt jeweils zwei Mädchen und zwei Jungen ohne Kontakt zu Gleichaltrigen aufziehen. Als sie ins geschlechtsreife Alter kommen, werden zwei Paare gebildet. Die jeweiligen jungen Frauen verlieben sich auch sofort in die jeweiligen jungen Männer. Dann werden die beiden Paare miteinander bekannt gemacht. Nun zeigt sich, dass die beiden Frauen sich den neuen Männern zuwenden und gegeneinander rivalisieren. Der Fürst findet dadurch seine Ausgangshypothese über die besondere Wetterwendigkeit der Frauen bestätigt. Dieser Laborversuch des Fürsten basiert natürlich ebenso wie der von Psammetichos auf höchst problematischen allgemeinen und verfahrenstechnischen Prämissen. Kulturhistorisch ist aber sehr aufschlussreich, dass in beiden Fällen mit der Hypothese von angeborenen festen Wesenseigenschaften gearbeitet wird. Psammetichos geht dabei soweit, dass er sogar angeborene Wissenstatbestände annimmt bzw. ein angeborenes konkretes Sprachsystem. Der Fürst bei Marivaux ist in dieser Hinsicht schon etwas zurückhaltender, insofern er bei den Frauen nur eine angeborene Disposition zur Untreue vermutet, also nicht ein faktisches Einzelwissen, sondern nur eine angeborene Veranlagung für bestimmte Handlungsweisen. Die Hypothese von angeborenen Dispositionen ließe sich natürlich ganz gut mit der These von der angeborenen Sprachfahigkeit des Menschen vereinbaren. Die Zusatzhypothese des Fürsten, dass angeborene Dispositionen keine übergeschlechtliche Gültigkeit beanspruchen
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16 17 18
Vgl. A. Sulek, The experiment of Psammetiehus: fact, fiction , and model to follow, Journal of the History of Ideas, 1989, S. 647. Vgl. Α. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 3, 1960, S. 1485. Vgl. C. Neis, Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts, 2003, S. 260-273. P. Marivaux, La Dispute, Theatre complet, Tome second, 1981, S. 593-627.
Die Variation des Experiments bei Marivaux
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dürften, sondern noch einmal geschlechtsspezifisch zu differenzieren seien, ist allerdings ein Problem für sich, mit dessen ideologischen und komödiantischen Implikationen Marivaux variantenreich spielt. Heute wird das Problem, ob sich die allgemeine angeborene Sprachfähigkeit noch einmal geschlechtsspezifisch differenzieren lässt, im Kontext der Theorie von der funktionellen Spezialisierung der rechten und der linken Großhirnhälfte diskutiert.19 Dieses Konzept geht davon aus, dass die linke Großhirnhälfte sich bei Rechtshändern (bei Linkshändern umgekehrt) auf das begriffliche, analytische, sequenzielle und bewusst kontrollierbare Denken spezialisiert habe und die rechte Großhirnhälfte auf das ganzheitliche, analogisierende und intuitive Denken. Das sprachlich fundierte Denken bzw. die Sprachfähigkeit wird dementsprechend meist der linken Großhirnhälfte zugeordnet. Diese Lokalisierung ist sicher solange gut zu vertreten, wie man bei der Sprache bzw. der Sprachfähigkeit nur an den begrifflichen Sprachgebrauch denkt und nicht an den metaphorischen und bildlichen, der sicherlich sehr viel mit den operativen Fähigkeiten der rechten Großhirnhälfte zu tun hat. Auch dasjenige Sprachwissen, das wir mit dem Terminus Sprachgefühl zu erfassen versuchen, hat sicher Verbindungen zu der rechten Großhirnhälfte. Im Zusammenhang mit der Diskussion der operativen Fähigkeiten der beiden Großhirnhälften ist dann auch die Frage aufgetaucht, ob Frauen, denen immer wieder eine bessere Fähigkeit zum intuitiven Lernen von Fremdsprachen nachgesagt worden ist, nicht doch eine etwas anders akzentuierte angeborene Sprachfähigkeit haben als Männer. Diese Diskussion hat sich dann auch auf das Problem ausgeweitet, ob es genetisch oder kulturspezifisch anders akzentuierte Fähigkeiten zum Erwerb von Fremdsprachen bzw. zum begrifflichen und bildlichen Gebrauch von Sprache geben könnte. Solche Fragestellungen sind kaum schlüssig zu beantworten, weil nicht schlüssig geklärt werden kann, ob faktisch vorliegende Unterschiede auf diesem Gebiet genetisch vorprogrammiert sind oder ob sie Resultate von frühen Kultureinflüssen auf den spezifischen Gebrauch von Sprache bzw. von Zeichensystemen sind. Im letzteren Fall wären solche Unterschiede dann eher Prägungsphänomene aus der frühen Kindheit als angeborene Unterschiede. Ganz unabhängig davon, dass die Experimente von Psammetichos, Friedrich II. und dem Fürsten bei Marivaux natürlich keine validen Antworten auf die sehr komplexen Ausgangsfragen geben können, so haben sie doch eine wichtige heuristische Funktion. Sie zwingen uns dazu, uns Rechenschaft über die Grundlagen und Zielsetzungen unseres sprachtheoretischen und kulturgeschichtlichen Denkens abzulegen und Überlegungen dazu anzustellen, wie dieses Problemfeld angemessen zu strukturieren und zu befragen ist.
19
Vgl. S.P. Springer/G. Deutsch, Linkes und rechtes Gehirn, 1987. J.E. Eccles/D.H. Robinson, Das Wunder des Menschseins - Gehirn und Geist, 1984. V.V. Ivanov, Gerade und ungerade, 1983.
IV Der Brief der Skythen an Dareios Herodots Bericht 130. Eine kurze Zeit also waren die Perser im Vorteil. Nun aber kamen die Skythen, als sie die wachsende Unruhe bei den Persern sahen, auf folgenden Gedanken. Um die Perser noch länger in ihrem Lande festzuhalten und durch Mangel und Not zugrunde zu richten, ließen sie ihnen Viehherden samt deren Hirten zurück und zogen dann fort nach einem anderen Orte. Die Perser kamen heran, nahmen das Vieh und waren dann stolz auf solch einen Erfolg. 131. Das geschah oft; aber endlich war doch die Not im Heere des Dareios groß, und die Könige der Skythen, die das wußten, schickten einen Herold mit Geschenken an Dareios: mit einem Vogel, einer Maus, einem Frosch und fünf Pfeilen. Die Perser fragten den Boten, was diese Geschenke bedeuteten. Er aber sagte, er habe keinen weiteren Auftrag, als die Geschenke zu übergeben und schleunigst zurückzukehren. Die Perser sollten nur, wenn sie klug genug seien, den Sinn der Geschenke selber erraten. Da hielten denn die Perser Rat. 132. Die Meinung des Dareios war, die Skythen ergäben sich und brächten sinnbildlich Erde und Wasser; denn die Maus wohne in der Erde und nähre sich von Getreide wie der Mensch, der Frosch lebe im Wasser, der Vogel gleiche dem Roß und mit den Pfeilen übergäben sie ihre Kriegsmacht. Diese Erklärung gab Dareios. Gobryas aber ... war anderer Meinung und erklärte die Geschenke folgendermaßen: »Wenn ihr euch nicht als Vögel zum Himmel erhebt, ihr Perser, oder wenn ihr euch nicht als Mäuse in die Erde verkriecht, oder wenn ihr nicht als Frösche in die Sümpfe springt, so treffen euch diese Pfeile, und ihr seht die Heimat nicht wieder.«1
1
Herodot, Historien, IV. Buch, Kap. 130ff., 1963 3 , S. 299-300.
Die sprachtheoretischen Implikationen des Textes
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1. Die sprachtheoretischen Implikationen des Textes Im Zusammenhang mit seinem allgemeinen Bericht über den Guerilla-Krieg der Skythen gegen die Perser erzählt Herodot eine kleine Episode, die auf den ersten Blick etwas skurril wirkt und keinerlei sprachtheoretische Implikationen zu haben scheint. Eine genauere Prüfung zeigt dann aber, dass in dieser Geschichte auf kommunikationstheoretische Probleme aufmerksam gemacht wird, die sehr aufschlussreiche zeichen- und sprachtheoretische Implikationen haben. Wenn man sich einmal von der vordergründigen Harmlosigkeit, wenn nicht Banalität dieser Geschichte gelöst hat, dann lassen sich insbesondere drei indirekt in ihr angesprochene Problembereiche näher untersuchen. Erstens kann man sich die Frage stellen, wie man ohne die Hilfe von Bericht erstattenden Personen Botschaften über Raum- und Zeitgrenzen hinweg in die Ferne vermitteln kann. In dieser Denkperspektive kann man dann die These vertreten, dass die an Dareios übergebenen Geschenke im Prinzip die Funktionen eines Briefes erfüllen, da sie ja eine bestimmte Botschaft übermitteln sollen. Das haben offensichtlich auch die Perser gleich verstanden, da sie sofort danach fragen, was denn die Geschenke zu bedeuten hätten. Die Interpretation der übermittelten Geschenke als Brief fuhrt uns dann zu der Frage nach den Vorformen, den Formen und den Funktionen der Schrift, die ja weitreichende sprachtheoretische Implikationen hat.2 Zweitens ergibt sich im Kontext dieser Geschichte die Frage nach den spezifischen Erscheinungsformen und Leistungsprofilen von Zeichen und insbesondere die Frage nach der Differenz zwischen den sprachlichen und den nicht-sprachlichen Zeichen bei der Konstitution von Vorstellungen und der Vermittlung von Informationen. Dabei wird dann insbesondere das Problem der semantischen Autonomie von Zeichen aktuell. Dieses semiotische Problem wird zwar in unserer Geschichte nicht explizit zur Debatte gestellt, aber es ergibt sich von selbst, wenn wir uns die Frage stellen, warum die Skythen gerade diese Mitteilungsform fur ihre Botschaft gewählt haben und keine andere. Drittens stoßen wir im Rahmen dieser Geschichte auf die Frage, welche prinzipiellen Verstehensprobleme sich zeigen, wenn man bestimmte Typen bzw. bestimmte Konstellationen von Zeichen zu interpretieren versucht. Dieses hermeneutische Problem wird in unserer Geschichte durch die gegenläufigen Interpretationen der Zeichenfunktionen der Geschenke durch Dareios und durch Gobryas thematisiert. Verständlicherweise werden in der Geschichte aber natürlich keine theoretischen Hinweise darauf gegeben, wie aus Daten Informationen abgeleitet werden können.
2
Vgl. Ch. Dürscheid, Einführung in die Schriftlinguistik, 2002.
144
Der Brief der Skythen an Dareios
Im Folgenden soll nun versucht werden, diese drei großen Problembereiche systematisch zu erörtern, um den Blick dafür zu schärfen, welche grundsätzlichen sprach- und zeichentheoretischen Probleme in dieser Geschichte direkt oder indirekt angesprochen werden. Dabei wird natürlich nicht vorausgesetzt, dass sich Herodot als Erzähler der Geschichte dieser Problemzusammenhänge schon ganz bewusst gewesen ist. Es wird lediglich davon ausgegangen, dass in dieser Geschichte ein sprach- und kommunikationstheoretisches Problem gut versinnbildlicht worden ist und dass diese Geschichte deshalb zum Anlass genommen werden kann, einen Problemzusammenhang auch theoretisch genauer zu durchdenken.
2. Die Formen der Schrift Wenn man die von den Skythen an Dareios übergebenen Geschenke {Vogel, Maus, Frosch, fünf Pfeile) im Kontext der Gesamtsituation funktionell als eine Art Brief versteht, dann hat man sich eigentlich auch schon dafür entschieden, diese Geschenke irgendwie als Vorformen der Schrift anzusehen. Für diese Hypothese lassen sich im Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der Schrift sehr gute Gründe ins Feld führen. Es ist sicher ziemlich unsinnig, den Begriff der Schrift so auszuweiten, dass alle visuellen Mitteilungs- und Zeichenformen darunter fallen. Es ist aber keineswegs unsinnig, die von den Skythen praktizierte Mitteilungsform mit den historischen Vorformen unserer Schrift in Verbindung zu bringen, da es diesbezüglich verblüffende Parallelen gibt. Unsere heutige Buchstabenschrift weist nämlich eine lange Evolutionsgeschichte auf, die über die Silbenschriften und Begriffsschriften bis zu den so genannten Inhaltsschriften zurückführt. Und diese Inhaltsschriften weisen nun eine sehr große strukturelle Ähnlichkeit mit dem informationellen Übermittlungsverfahren auf, das die Skythen durch die Übergabe ihrer Geschenke an Dareios praktiziert haben. Zwei ineinander greifende Motive haben die Evolutionsgeschichte der Schrift maßgeblich bestimmt. Zum einen hat man Verfahren zu entwickeln versucht, durch die man mit Hilfe sichtbarer Phänomene die Erinnerung an bestimmte Vorstellungen oder Erlebnisinhalte über lange Zeit hinweg lebendig halten konnte und durch die man zugleich auch das individuelle und kollektive Gedächtnis zu entlasten vermochte. Zum anderen hat man mit diesem Verfahren zugleich auch Strategien zu verknüpfen versucht, Adressaten, die in ganz anderen Räumen und Zeiten lebten und möglicherweise ganz andere Sprachen verwendeten, bestimmte Vorstellungsinhalte bzw. Informationen zu übermitteln. Dieser komplexe Motivationszusammenhang macht plausibel, warum es in den Anfangen der Schriftentwicklung nie darum gegangen ist, die faktisch
Die Formen der Schrift
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gesprochene Sprache schriftlich zu repräsentieren bzw. ein konkretes akustisches Zeichensystem in ein visuelles zu transformieren, sondern vielmehr immer darum, bestimmte Denkinhalte durch visuell fassbare Zeichen intersubjektiv verfugbar zu machen. Es hat dann eines sehr langen Weges bedurft, um die Schrift so auszugestalten, dass sie nicht allgemeine Gedankeninhalte objektivierte, sondern vielmehr Gedankeninhalte in einer ganz bestimmten konkreten sprachlichen Fassung. Deshalb lässt sich zunächst einmal ganz grob zwischen den so genannten Inhaltsschriften und den so genannten Wortlautschriften unterscheiden.
Die Inhaltsschriften Die ersten Manifestationsformen von Schrift lassen sich mit dem Terminus Inhaltsschrift erfassen. Mit leichten Bedeutungsverschiebungen sind auch die Termini Ideenschrift, Bilderschrift, Semasiographie oder Piktographie in Umlauf gekommen. All diese Termini bezeichnen ein Verfahren, bei dem über einen sichtbaren Gegenstand bzw. über einen visuell fassbaren Zeichenträger ein komplexer Vorstellungsinhalt vergegenwärtigt werden soll, der in der Regel nicht mit einer bestimmten sprachlichen Ausdrucksform korrespondiert, sondern mit einem Denkinhalt, der durch unterschiedliche sprachliche Formulierungen objektiviert werden kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die so repräsentierten Inhalte eine enge Verflechtung mit bestimmten Handlungsbereichen des menschlichen Lebens aufweisen. Bei den einzelnen Zeichen der Inhaltsschriften geht es also nicht um die Repräsentation von isolierten Phänomenen, statischen Begriffen oder begrifflichen Aussagen, sondern um die Beseitigung von Informationsunsicherheiten in einem bestimmten Lebens- und Handlungsbereich. Das hängt kulturgeschichtlich auch damit zusammen, dass in frühen Kulturen nur diejenigen Vorstellungsinhalte relevant sind, die einen bestimmten pragmatischen Stellenwert in Handlungsprozessen haben, aber nicht Wissensinhalte, die nur als theoretische Denkkonstrukte ohne direkte praktische Implikationen anzusehen sind. Zu solchen Inhaltsschriften oder Semasiographien lassen sich beispielsweise die Vorstufen der sumerischen Keilschrift zählen, die sich wahrscheinlich aus Gedächtnis unterstützenden graphischen Notizzeichen bei der 'Buchfuhrung' über Besitzverhältnisse und Handelsbeziehungen ergeben haben, wenn etwa durch bestimmte Zeichen vermerkt wurde, wie viele Tiere jemand besaß oder welche Waren verschickt worden waren.3 Auch die Anfänge der ägyptischen Hieroglyphenschrift, die Bilderschriften der Indianer, die Kerb3
Vgl. D. Schmandt-Besserat, Vom Ursprung der Schrift, Spektrum der Wissenschaft, 12, 1978, S. 5-12. A. Reiss, Schriftgeschichte und Denkentwicklung, 1986, S. 28ff.
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Der Brief der Skythen an Dareios
hölzer, die Gaunerzeichen und die modernen Piktrogramme lassen sich den Inhaltsschriften zuordnen.4 Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie mit Hilfe graphischer Zeichen komplexe, situationsintegrierte Sachverhalte und Handlungsvorstellungen vergegenwärtigen wollen, die nur denjenigen verständlich sind, die ein Wissen von der Struktur der Situationen haben, auf die sie bezogen sind. Zu den Vorformen oder Varianten der Inhaltsschriften gehören sicher auch Bilder, die als ikonische Zeichen eine Ähnlichkeit zu den von ihnen repräsentierten Gegenständen aufweisen und insofern natürlich auch als unmittelbare Erinnerungszeichen für diese dienen können. In dieser Funktion unterliegen Bilder natürlich immer einer Tendenz, vereinfacht und stilisiert zu werden, was dann dazu fuhrt, dass sie nicht immer spontan 'gelesen' werden können, sondern oft nur in Kenntnis der jeweiligen Stilisierungskonventionen. Als Vorläufer der Inhaltsschriften bzw. Semasiographien setzt Jensen die so genannten „Gegenstandsschriften" an, bei denen als Erinnerungs- und Assoziationsmittel nicht künstlich hergestellte graphische Zeichen dienen, sondern faktische Gegenstände, die dann als Zeichenträger einen ikonischen Ähnlichkeitsbezug oder einen indexikalischen Implikationsbezug zu dem haben, was sie in Erinnerung rufen sollen.5 Die Funktionsweise der Gegenstandsschriften lässt sich durch folgendes Beispiel recht gut erläutern. Ein YerubaNeger soll seiner Frau einen Stein, ein Stück Holzkohle, Pfeffer, einige trockene Maiskörner sowie einen Kleiderfetzen geschickt haben. Damit habe er folgende Botschaft übermitteln wollen: „Mein Körper ist so hart wie Stein, meine Zukunftsaussichten so schwarz wie Kohle, mein Geist so erregt wie Pfeffer, mein Körper so ausgedörrt wie Maiskorn, meine Kleidung so zerlumpt wie der Fetzen."6 Dieser Brief in Gegenstandsschrift weist eine große strukturelle Analogie zu dem Gegenstandsbrief auf, den die Skythen mit Hilfe ihrer Geschenke an Dareios übermittelt haben. Allen Beteiligten ist klar, dass mit den übersandten Gegenständen eine Botschaft übermittelt werden soll. Unklar ist aber, welche konkrete Botschaft mit den Geschenken verbunden ist bzw. wie man diese sprachlich formulieren kann. Darüber lassen sich je nach Denk- und Erwartungsperspektiven unterschiedliche Hypothesen entwickeln. Deshalb haben solche Gegenstandsschriften und die aus ihnen hervorgegangenen Inhaltsschriften eine sehr unpräzise Informationskraft. Sie eröffnen große Assoziationsräume, weil sowohl auf Struktur- als auch auf Funktionsähnlichkeiten der Gegenstände und graphischen Bilder mit der jeweils intendierten Botschaft Bezug genommen werden kann.
4
5 6
Vgl. H. Jensen, Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart, 19693, S. 33ff. A. Schmitt, Entstehung und Entwicklung von Schriften, 1980, S. 7ff. Vgl. H. Jensen, a.a.O., 19693, S. 17ff. Vgl. J. Friedrich, Geschichte der Schrift, 1966, S. 17.
Die Formen der Schrift
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Der spezifische Informationswert der Dinge bzw. Zeichenträger steigert sich allerdings, wenn diese mit präzisierenden Zusatzfaktoren kombiniert werden. Das bedeutet, dass alle Gegenstands- bzw. Inhaltsschriften außerordentlich kontextsensitiv sind und nur unter klar strukturierten Rahmenbedingungen als Vermittlungsmedien für präzise Informationen angesehen werden können.
Die Wortlautschriften Während die Inhaltsschriften gleichsam auf ganz natürliche Weise mit Hilfe von Bildern entstehen und eben deshalb auch einen ikonischen Grundcharakter haben, bauen Wortlautschriften auf ganz anderen Grundlagen und Zielsetzungen auf. Zwar können auch Wortlautschriften wie etwa Begriffsschriften (chinesische Schrift, ägyptische Hieroglyphenschrift) insbesondere in ihren Anfangen große ikonische Implikationen haben, aber im Prinzip stellen Wortlautschriften doch ganz entscheidende Neuanfänge bzw. Mutationen in der Evolution der Schriftentwicklung dar. Wenn von Wortlautschriften oder Glottographien gesprochen wird, dann darf man primär nicht an Phonographien denken bzw. an Anstrengungen, die phonetische Gestalt einer Äußerung wiederzugeben, sondern vielmehr nur daran, dass durch graphische Mittel die konkrete lexikalisch-grammatische Gestalt einer Äußerung repräsentiert werden soll. Das bedeutet, dass durch die Schrift ein Sachinhalt objektiviert wird, der vorab schon durch ganz bestimmte sprachliche Formen perspektiviert, konkretisiert und interpretiert worden ist. Dadurch gewinnen schriftliche Objektivierungen von Botschaften natürlich einen verhältnismäßig präzisen Informationswert, weil die jeweiligen Assoziations- und Interpretationsfreiheiten bei der Rezeption von Zeichenträgern entscheidend eingeschränkt werden und weil die Kontextsensitivität von Zeichen erheblich vermindert wird. Die Entwicklung ist dabei so verlaufen, dass nach den Gegenstands- bzw. Inhaltsschriften zunächst Begriffsschriften entwickelt worden sind, bei denen ganz bestimmte graphische Konfigurationen mit ganz bestimmten Wörtern bzw. Begriffen einer Sprache korrespondierten. Dann wurden Silbenschriften und Buchstabenschriften entwickelt, bei denen mit einem ganz erheblich reduzierten Inventar graphischer Zeichen versucht wurde, nicht nur die lexikalischgrammatische Form einer Äußerung wiederzugeben, sondern möglichst auch ihre Klangform, sodass der Terminus Wortlautschrift auch in einem engeren Sinne verstanden werden kann. Wortlautschriften müssen aber nicht unbedingt die faktische Klangform einer Äußerung wiedergeben, sondern im Prinzip nur ihren faktischen semantischen Gehalt. So repräsentieren beispielsweise die chinesischen Schriftzeichen Wortzeichen, die in den verschiedenen Regionen Chinas phonetisch ganz anders artikuliert werden, aber die überregional den
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Der Brief der Skythen an Dareios
gleichen Begriffsinhalt repräsentieren, sodass die schriftliche Objektivierungsform von Äußerungen mühelos alle Dialektgrenzen überwinden kann. Da Wortlautschriften sprachgebundene Denkinhalte repräsentieren wollen, ergeben sich durch sie große Fortschritte bei der Genauigkeit der Informationsvermittlung. Ihr Gebrauch ist nicht mehr nur als mnemotechnisches Verfahren anzusehen, durch das die Erinnerung an persönlich erlebte oder sozial typisierte Erlebnisse und Vorstellungen erleichtert wird, sondern vielmehr auch als ein Verfahren, durch das ein sprachlich schon perspektivierter und klassifizierter Sachverhalt dauerhaft als solcher fixiert wird. Die Verstehens- und Assoziationsspielräume der Rezipienten werden dadurch entscheidend reduziert bzw. entsprechen nun im Prinzip nur noch den Freiheitsgraden, die auch für die sprachlichen Formen gegeben sind, welche durch die Schrift repräsentiert werden sollen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass beim Gebrauch von Wortlautschriften ein immanenter Zwang dazu besteht, die schriftlich fixierten Aussagen grammatisch noch klarer durchzustrukturieren als die mündlich realisierten Aussagen, weil situativ gebundene Verständnishilfen und Zeichen (Sprechsituation, Intonationen, Gestik, Mimik usw.) wegfallen. Das kann dann bis zu einem gewissen Grade den Schluss rechtfertigen, die mündlich und schriftlich verwendete Sprache als zwei unterschiedliche Realisationsweisen von Sprache anzusehen, da die schriftlich realisierte Sprache so gestaltet werden muss, dass in ihr auch die Informationen fassbar werden, die in der mündlich realisierten Sprache durch zusätzliche Zeichensysteme wirksam werden.
Die Geschenke als Inhaltsschrift Im Lichte dieser grundsätzlichen Überlegungen zur Schriftproblematik lässt sich die Übersendung der Geschenke an Dareios durchaus als ein Brief in Inhalts- bzw. Gegenstandsschrift ansehen. Mit den übermittelten Gegenständen soll mittels visuell fassbarer Zeichen eine Botschaft über eine Raum- und Zeitgrenze hinweg übermittelt werden. Diese Botschaft konkretisiert sich allerdings nicht in Form eines sprachlich fixierbaren Textes, sondern vielmehr in Form von recht unspezifischen Hinweisen, aus denen sich keine präzise situationsunabhängige Nachricht ergibt. Die Wahl dieser Mitteilungsform durch die Skythen kann man nun dadurch erklären, dass diese noch über keine einsetzbare Wortlautschrift verfugt haben, bzw. dadurch, dass sie eine solche Schrift nicht verwenden konnten, da eine solche j a immer sprachspezifisch orientiert ist und sich deshalb nicht ohne weiteres zur Informationsvermittlung zwischen Völkern unterschiedlicher Sprache verwenden lässt. Inhaltsschriften eignen sich dagegen durchaus zum Austausch von Informationen über volkssprachliche Grenzen hinweg, sofern
Die Zeichenproblematik
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ähnliche Erfahrungen und Denktraditionen vorliegen bzw. ähnliche Vorstellungen über den Zweck der jeweiligen Informationsübermittlung. In unserem Fall stellt sich die Grundsituation aber wohl etwas anders dar. Wenn es den Skythen tatsächlich um eine klare Nachricht an Dareios gegangen wäre, dann hätten sie diese ja auch durch ihren Boten direkt ausrichten können, mit dem die Perser mündlich ja offensichtlich direkt kommunizieren konnten. Deshalb ist anzunehmen, dass die Skythen diese Form der Nachrichtenübermittlung ganz bewusst als Verwirrungsmittel eingesetzt haben. Die Vagheit des Gegenstandsbriefes kam den Skythen gerade recht, um die Perser in entzweiende Interpretationsverfahren zu verwickeln und eben dadurch deren Entschluss- und Handlungskraft zu lähmen. Das hätten sie prinzipiell zwar auch durch eine allegorische oder metaphorische sprachliche Mitteilungsform tun können, aber der gewählte Gegenstandsbrief war in dieser Hinsicht sicher noch effektiver. Diese Deutung des pragmatischen Sinns der gewählten Mitteilungsform passt recht gut zum Fortgang der von Herodot berichteten Geschichte. Bald darauf stellten sich die Skythen nämlich in Schlachtordnung auf, aber dann liefen sie mit großem Geschrei hinter einem Hasen her, der durch ihre Schlachtreihen gehoppelt sein soll. Als Dareios davon erfuhr, lässt ihn Herodot ziemlich resigniert zu seinen Vertrauten sagen: „O, dies Volk verachtet uns tief. Jetzt wird mir klar, daß Gobryas die Geschenke der Skythen richtig gedeutet hat; ich sehe nun wohl, wie unsere Sache steht. Wer gibt uns einen guten Rat, wie wir unversehrt den Rückzug ins Werk setzen?"1
3. Die Zeichenproblematik Herodots Geschichte über die informativen Funktionen der skythischen Geschenke macht uns nicht nur auf etwas verdeckte Weise auf die Schriftproblematik aufmerksam, sondern in viel offensichtlicherer Form natürlich auch auf die Zeichenproblematik in einem sehr umfassenden Sinne. Es werden zwar keine direkten Aussagen über das Phänomen Zeichen gemacht, aber es wird narrativ dargestellt, unter welchen Umständen etwas als Zeichen in Erscheinung treten kann und welche Probleme sich beim Gebrauch von Zeichen stellen. Auf die Problematik sprachlicher Zeichen wird in dieser Geschichte kein Bezug genommen, aber die angesprochenen Zeichenprobleme bieten genügend Ansatzpunkte, um die Struktur und die Funktionsmöglichkeiten sprachlicher Zeichen kontrastiv von der nicht-sprachlicher abzugrenzen.
7
Herodot, Historien, IV. Buch, Kap. 134, 1963 3 , S. 301.
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Der Brief der Skythen an Dareios
Der Seinsstatus von Zeichen In Herodots Erzählung wird unmissverständlich verdeutlicht, dass Zeichen keine vorgegebene Klasse von ontischen Gegenständen sind, sondern dass sie vielmehr als Phänomene anzusehen sind, die aus der spezifischen Wahrnehmungsweise von bestimmten Gegenständen bzw. Gegebenheiten resultieren. Das bedeutet, dass potenziell jedes sinnlich fassbare Phänomen bzw. jede Vorstellung von einem Gegenstand, Sachverhalt oder Handlungszusammenhang, also jedes abgrenzbare und identifizierbare Etwas den Status eines Zeichens bekommen kann, wenn dieses jeweilige Etwas von den Rezipienten als Hinweis auf etwas von ihm unterscheidbares Anderes wahrgenommen werden kann und nicht nur als eine bloße Gegebenheit bzw. als factum brutum. Das wird in unserer Geschichte nicht nur dadurch unmissverständlich verdeutlich, dass die übergebenen Gegenstände {Vogel, Maus, Frosch, Pfeile) von den Persera nicht nur als bloße Gegenstände wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Manifestations formen von Zeichen, die etwas bedeuten, und dass Dareios die Verhaltensweisen der Skythen als Zeichen der Verachtung versteht. Aus diesen Strukturverhältnissen ist deshalb mehr oder weniger deutlich immer wieder der Schluss gezogen worden, dass Zeichen ontologisch gesehen als abstrakte relationale Gebilde zu betrachten sind. Deshalb lässt sich dann auch ein Zeichen nicht mit der Größe identifizieren, die als sinnlich fassbare oder geistig vorstellbare Größe Ausgangspunkt und Grundlage einer Zeichenrelation ist. Diese Größe kann vielmehr nur als Zeichenträger verstanden werden. Das Zeichen selbst konstituiert sich immer nur als aus der Korrelation von dem, das als Zeichenträger eine Repräsentationsfunktion hat, und dem, das als Inhaltsvorstellung repräsentiert wird. Nur wenn etwas als etwas wahrgenommen wird, das auf etwas anderes verweist, dann können wir von einem Zeichen sprechen. Diese Auffassung kommt auch in der bekannten mittelalterlichen Zeichenformel zum Ausdruck: aliquid statpro aliquo. Strukturell gesehen ist in diesem Zusammenhang zunächst nicht so wichtig, ob man weiß oder erkennt, worauf etwas konkret verweist, sondern nur, dass man etwas als Zeichenträger mit einer Verweisfunktion auf etwas von ihm selbst Unterschiedenes wahrnimmt. Und genau das trifft ja bei den Persern zu, die von vornherein die überbrachten Gegenstände nicht bloß als physische Gegenstände wahrnehmen, sondern als Zeichenträger, deren Verweisinhalt ihnen allerdings noch etwas schleierhaft bleibt. Wenn sie diese Geschenke nur als physische Objekte wahrgenommen hätten, dann wären sie kognitiv nicht beunruhigt. Schon die Wahrnehmung der Gegenstände als Geschenke gibt ihnen aber eine Zeichenträgerfunktion. Die ontologische Kennzeichnung von Zeichen als relationalen Gebilden hat erhebliche Konsequenzen für die Qualifizierung ihres Stellenwerts in Kul-
Die Zeichenproblematik
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turen und für die Beschreibung ihrer Funktionsmöglichkeiten in Kommunikationsprozessen. Wenn prinzipiell alle sinnlich oder geistig abgrenzbaren Phänomene die Funktion eines Zeichenträgers bzw. eines Verweismittels übernehmen können und wenn prinzipiell alles, was repräsentiert werden kann, selbst eine repräsentierende Funktion für etwas anderes übernehmen kann, dann kann auch das Repertoire von Zeichen von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sein und sich geschichtlich erheblich verändern. Beispielsweise beurteilen wir heute den Flug eines Vogels über ein bestimmtes Areal in der Regel nur als bloßes Faktum, während ein römischer Augur diesen spezifischen Flug immer als Zeichenträger eines göttlichen Zeichens zu deuten versucht hat. Außerdem ist zu beachten, dass dieselben Phänomene in bestimmten Situationen als bloße Fakten und in anderen Situationen als Manifestationen von Zeichen wahrgenommen werden können. So sind beispielsweise die Perser in der Frage einig, dass die übergebenen Gegenstände nicht nur als physische Objekte wahrzunehmen sind bzw. als Geschenke, aber sie sind sich nicht darüber einig, wie sie in der aktuellen Situation als Zeichen zu verstehen sind. Die Interpretation von Zeichen ist davon abhängig, wie die Beteiligten die jeweilige Mitteilungssituation einschätzen und welche Informationsunsicherheiten die jeweiligen Zeichen in ihrer Sicht beseitigen sollen. Die unterschiedlichen Interpretationen der Geschenke durch Dareios und Gobryas dokumentieren sehr schön, dass das Verständnis von Zeichen von dem Wissen, den Wünschen und der Hypothesefähigkeit der jeweiligen Zeichenverwender abhängt und dass jede Zeicheninterpretation in eine spezifische Wahrnehmungsperspektive eingebunden ist.
Die Funktionsmöglichkeiten sprachlicher Zeichen Für die Bestimmung des Funktionsprofils von sprachlichen Zeichen bzw. für die Beschreibung ihrer potenziellen Sinnbildungsfunktionen ist eine semiotische Grundthese fundamental, die insbesondere die Zeichenlehre von Peirce prägt: Alles, was sich durch Zeichen objektivieren und repräsentieren lässt, das kann auch selbst wieder etwas anderes repräsentieren. Diese These hat zur Konsequenz, dass jedes Zeichen in ein anderes Zeichen übergehen kann, dass es für die Identifizierung und das Verständnis von Zeichen keine festen sozialen Konventionen geben muss und dass jeder objektivierbare Zeicheninhalt wieder zum Ausgangspunkt bzw. zum Zeichenträger einer neuen Zeichenrelation werden kann, in der dann neue Zeicheninhalte Gestalt gewinnen können. Diesen unabschließbaren Zeichenprozess, der zugleich einen unendlichen Sinnbildungsprozess impliziert, nennt Peirce Semiose. Solche Semioseprozesse, die sich natürlich nicht nur auf die Erfassung der Welt durch Zeichen be-
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Der Brief der Skythen an Dareios
ziehen lassen, sondern sich auch auf die Erfassung der Wahrnehmungsprämissen und der Wahmehmungsziele der jeweiligen Zeichenbenutzer erstrecken können, lassen sich nie faktisch, sondern allenfalls methodisch beenden. Sei es, dass bei der konkreten Zeicheninterpretation ein als befriedigend angesehenes Ergebnis erzielt wird, sei es, dass die Sinnbildungsenergie oder die Wissensbestände fehlen, um den jeweiligen Semioseprozess als Interpretationsprozess sinnvoll fortzusetzen. Die These, dass Zeichen prinzipiell relationale Gebilde sind und dass der Prozess der Korrelationsbildung kein natürliches, sondern nur ein methodisches Ende finden kann, ist nun für die Beurteilung der Funktionsmöglichkeiten von sprachlichen Zeichen von außerordentlicher Bedeutung, weil dadurch auf das Problem der abgeleiteten Zeichen im Sinne von Peirce aufmerksam gemacht werden kann. Bei sprachlichen Zeichen haben wir es auf einer ersten Wahrnehmungsebene zunächst immer nur mit akustischen oder visuell wahrnehmbaren Zeichenträgern zu tun, die wir als Repräsentanten für bestimmte ihnen konventionell zugeordnete Zeicheninhalte wahrnehmen. Für diese Korrelationsverhältnisse bestehen gesellschaftliche Konventionen, die die Sprache zu einer sozialen Institution machen, welche das menschliche Denken und Kommunizieren sehr erleichtert. In der These von de Saussure, dass sprachliche Zeichen Relationsgebilde sind, bei denen die Zuordnung von Bezeichnendem (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifikat) idealiter so fest ist wie die Korrelation der Vorderseite und der Rückseite eines Blattes Papier, wird diese Grundauffassung von sprachlichen Zeichen sehr prägnant versinnbildlicht. Wir müssen nun aber in Betracht ziehen, dass die natürliche Umgangssprache im Gegensatz zu den formalisierten Fachsprachen auf eine Weise gebraucht wird, bei der wir mit dieser sprachtheoretischen Modellvorstellung nicht recht weiterkommen. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn wir die Sprache ironisch benutzen, sondern auch dann, wenn wir sie sinnbildlich verwenden. Beim sinnbildlichen Sprachgebrauch geht es im Prinzip ja nicht direkt darum, außersprachliche Tatbestände zu objektivieren bzw. durch spezifische sprachliche Ausdrücke zu repräsentieren, sondern vielmehr darum, auf Gegenstände und Vorstellungen zu verweisen, die dann ihrerseits wieder die Funktion eines Zeichenträgers für die Repräsentation von etwas anderem übernehmen. Diese Ableitung von Zeichen aus Zeichen lässt sich in unserer Geschichte gut demonstrieren. Wenn wir heute den Text von Herodot lesen, dann bilden wir uns auf einer ersten Verstehensebene mit Hilfe der sprachlichen Ausdrücke bzw. Zeichenträger Vogel, Maus, Frosch, fünf Pfeile zunächst bestimmte Sachvorstellungen. Auf einer daraus abgeleiteten zweiten Verstehens- und Sinnbildungsebene geht es uns als Lesern dann nicht anders als den Persern nach der visuellen Wahrnehmung der überbrachten Gegenstände. Wir müssen Hypothesen darüber entwickeln, worauf diese Gegenstände als Zeichenträger verweisen. Dabei helfen uns keine sozialen Konventionen mehr, sondern allenfalls Sachkennt-
Die Zeichenproblematik
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nisse zu den Ordnungsstrukturen bzw. zu den Funktionsmöglichkeiten der benannten Gegenstände und zu kulturellen Denktraditionen sowie kreative Vermutungen darüber, welche Mitteilungsintentionen mit Hilfe dieser Gegenstände als Zeichenträger realisiert werden sollen. Die hier skizzierte Zeichenproblematik hat Peirce in seiner Theorie des ikonischen Zeichens bzw. des abgeleiteten ikonischen Zeichens dargestellt. 8 Während nach seiner Terminologie bei einem Symbol der Zeichenträger mit seinem Zeichenobjekt kraft Konvention verbunden ist (das Wort 'Haus' weist kraft Konvention auf das Objekt Haus) und bei einem Index der Zeichenträger kraft natürlicher Implikation oder Kausalrelation mit einem Zeichenobjekt verbunden ist {Rauch verweist auf natürliche Weise auf Feuer), so ist bei einem Ikon der Zeichenträger kraft Ähnlichkeit mit seinem Zeichenobjekt verbunden. Das bedeutet, dass wir die Repräsentationsfunktion eines Ikons für einen Gegenstand oder Sachverhalt in der Regel über Form- und Funktionsanalogien mehr oder weniger spontan erschließen können, wenn wir die entsprechenden Sachkenntnisse besitzen. Ein Verstehensproblem ergibt sich nur aus dem Umstand, dass es Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen bzw. Sachverhalten auf ganz unterschiedlichen Ebenen und hinsichtlich ganz unterschiedlicher Aspekte geben kann, sodass das Verstehen von ikonischen Zeichen auch mit kulturellen Wahrnehmungstraditionen verknüpft ist. In unserem Fall können wir uns zunächst kraft sprachlicher Konventionen eine ziemlich klare Vorstellung von den Gegenständen machen, die mit den Wörtern Vogel, Maus, Frosch und Pfeil ins Bewusstsein gerufen werden sollen. In einem zweiten Schritt müssen wir dann diese Vorstellungen als Zeichenträger für abgeleitete Ikons im Hinblick auf neue Zeicheninhalte deuten, wobei wir uns nicht auf stabile Konventionen verlassen können, sondern nur auf Struktur- und Funktionsähnlichkeiten der jeweiligen Vorstellungsinhalte mit anderen. Dabei können neben den phänomenalen Ähnlichkeiten auch natürliche Implikationen eine Rolle spielen, da wir in Betracht zu ziehen haben, dass die ins Bewusstsein gerufenen Vorstellungen zeichentheoretisch auch als abgeleitete Indizes verstanden werden können. Dareios und Gobryas haben für die ikonische Deutung der Geschenke unterschiedliche Hypothesen vorgelegt. Wir können uns nun für eine der beiden entscheiden oder ggfs. auch neue Hypothesen entwickeln, die uns im Hinblick auf die Struktur der Gegenstände oder im Hinblick auf die potenziellen Informationsintentionen der Skythen plausibler erscheinen. Auf jeden Fall wird deutlich, dass genuine ikonische Zeichen oder abgeleitete ikonische Zeichen in der Sprache immer einen großen Interpretationsspielraum haben, weil wir bei deren Verständnis auf vielerlei Analogien Bezug nehmen können. Auf diese
8
Vgl. Ch. S. Peirce, Collected Papers, 2.247ff., 2.287, 2.290, 2.299ff„ 2.306, 4.531, 5.73.
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Der Brief der Skythen an Dareios
Weise bekommt jedes konkrete Verständnis eines ikonischen Zeichens auch immer kulturhistorische und dezisionistische Implikationen. Mit dem Problem ikonischer bzw. abgeleiteter ikonischer Zeichen werden wir in den formalisierten Fachsprachen in der Regel nicht konfrontiert, aber ständig in der natürlichen bzw. in der poetischen Sprache. Hier treffen wir immer wieder auf sprachliche Ausdrücke, bei denen wir sofort merken, dass ein konventionelles wortwörtliches Verständnis nicht ausreicht, sondern nur die notwendige Vorbedingung dafür ist, um zu Sinninhalten vorzustoßen, die hinter den Vorstellungsinhalten auf der ersten Verstehensebene liegen. Interpretationsprobleme ergeben sich dabei nicht nur im Hinblick auf die Frage, was die jeweils abgeleiteten ikonischen Zeichen konkret bedeuten sollen, sondern auch im Hinblick darauf, welche sprachlich erzeugten Vorstellungen überhaupt als ikonische Zeichen zu deuten sind und welche nicht.
4. Die Denkoperationen beim Verstehen von Zeichen Wenn wir uns mit der Frage nach den Sinnbildungsfunktionen von sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen beschäftigen, dann können wir uns nicht nur mit inhaltlichen Interpretationsproblemen beschäftigen, sondern müssen unsere Aufmerksamkeit auch auf die Strukturprobleme richten, die den Verstehensprozessen von Zeichen zu Grunde liegen. Nur dann wird verständlich, warum Dareios und Gobryas zu so unterschiedlichen Interpretationen der Zeichenfunktion der überbrachten Gegenstände gekommen sind bzw. warum unterschiedliche Menschen dieselben Texte so unterschiedlich verstehen können. Hier bietet insbesondere die Zeichentheorie von Peirce eine große Hilfe, insofern sie sich im Gegensatz zu der von de Saussure nicht nur auf sprachliche Zeichen konzentriert, sondern auf Zeichen aller Art. Peirce interessiert sich im Gegensatz zu de Saussure primär nicht dafür, welche sozialen Konventionen dem Verstehen von Zeichen zu Grunde liegen, sondern vielmehr dafür, wie mit Hilfe von Zeichen Sinn gebildet und intersubjektiv vermittelt werden kann.
Das dreistellige Zeichenmodell von Peirce Peirce hat sein Zeichenverständnis in einem dreistelligen Zeichenmodell konkretisiert, in dem die drei Faktoren Zeichenträger, Zeichenobjekt und Zeicheninterpretant in ein dynamisches Interaktionsverhältnis zueinander gebracht worden sind. 9 Als Zeichenträger (representamen) kann dabei diejenige Größe 9
Ch. S. Peirce, Collected Papers 2.228, 8.343. Vgl. auch W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K.H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 36ff.
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bei einem Zeichen gelten, die als Repräsentationsmittel in Erscheinung tritt, als Zeichenobjekt diejenige Größe, die durch das jeweilige Zeichen als individuelle oder begriffliche Einheit aus dem Kontinuum der realen oder der geistigen Welt herausdifferenziert wird oder werden soll, und als Zeicheninterpretant diejenige Größe, die als Interpretationsperspektive für diese Objektivierungsanstrengung bzw. für diesen Repräsentationsprozess dienstbar gemacht wird. Das Peircesche Zeichenkonzept ist dadurch charakterisiert, dass jede konkrete Vorstellungsbildung als zeichenvermittelt angesehen wird, sodass Zeichen sowohl als Denkmittel als auch als Wissensspeicher für geistige Operationen angesehen werden können. Es impliziert weiterhin, dass Zeichen nicht als statische, sondern als dynamische Relationsgebilde zu verstehen sind. Dementsprechend ist dann der Zeichenbegriff weniger auf den Kodegedanken bzw. auf starre soziale Konventionen zurückzuführen, sondern eher auf den Gedanken der Interaktion zwischen Teilgrößen. Es muss berücksichtigt werden, dass jede Veränderung einer Teilgröße des Zeichens bzw. einer Teilgröße des Kommunikationsprozesses Rückwirkungen auf das Profil und die Funktionen der übrigen Größen hat. Daraus ergibt sich dann, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht von vornherein feststeht, sondern sich aus dem Zusammenspiel von unterschiedlichen Faktoren ergibt, was konventionalisierte Zuordnungsund ritualisierte Interaktionsprozesse natürlich nicht ausschließt. Für unsere Fragestellungen und für die innere Dynamik von Zeichen ist insbesondere das Peircesche Konzept des Zeicheninterpretanten interessant, weil mit Hilfe dieses Konzeptes die flexible Rolle von Zeichen in Sinnbildungsanstrengungen gut zu beschreiben ist. Zeicheninterpretanten liegen als Wahrnehmungsperspektiven nicht konventionell fest, sondern allenfalls traditionell nahe. Sie können in Form von kulturellen Denktraditionen, ontologischen Grundüberzeugungen, pragmatischen Erfahrungen oder habituellen Verhaltensweisen eine relativ stabile Gestalt gewinnen. Dann tragen sie dazu bei, dass mit bestimmten Zeichenträgern intersubjektiv stabile Zeichenobjekte verbunden werden, was durch Fachsprachen ja sehr klar exemplifiziert wird. Zeicheninterpretanten können auch sehr variabel sein, weil sie im Prinzip als operative Verstehenshypothesen zu betrachten sind, durch die ein Verständnisrahmen hergestellt wird, in dem Zeichenträger erst eine Repräsentationsfunktion für Zeichenobjekte übernehmen können. Sie gehen deshalb letztlich immer auf irgendwie motivierte Entscheidungen der Zeichenverwender zurück, die mehr oder weniger kreativ sind bzw. pragmatisch brauchbar. Ein intersubjektiv ähnliches Verständnis von Zeichen kann sich nur dann ergeben, wenn die Zeichenproduzenten und Zeichenrezipienten ihrem Zeichenverständnis ähnliche Zeicheninterpretanten zu Grunde legen bzw. wenn es bei ihnen ähnliche Hypothesen darüber gibt, zu welchen Zwecken Zeichen gebildet und verwendet werden.
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Der Brief der Skythen an Dareios
Die Interpretanten bei der Deutung der Geschenke Bei der Verwendung bzw. bei der Wahrnehmung der Gegenstände als Zeichen in unserer Geschichte kommt es bei den Beteiligten zu recht unterschiedlichen Interpretantenbildungen. Die Skythen schaffen Rahmenbedingungen, in denen die Perser die Gegenstände als Zeichenträger wahrnehmen müssen. Sie verweigern den Persern aber alle Informationen, die ihnen die Interpretanten- und Objektbildung erleichtern könnten und damit die Rekonstruktion der mit den Geschenken verbundenen Botschaft. Möglicherweise haben auch die Skythen selbst keinen inhaltlich fixierbaren Interpretanten, sondern nur einen formalen. Dieser würde dann darin bestehen, dass sie für die inhaltliche Konkretisierung der Zeichenobjekte bzw. der mit den Geschenken verbundenen Botschaft nur eine Leerstelle anbieten, über deren inhaltliche Füllung die Perser in Streit und Unruhe geraten sollen. So gesehen spielen die Skythen dann mit der Erfahrung, dass Menschen ungedeutete Zeichenträger psychisch nicht ertragen können, sondern auf abenteuerliche Zeicheninterpretationen verfallen, wenn plausible nicht mehr nahe liegen. Der experimentelle Psychologe Bartlett hat in diesem Zusammenhang von einem konstruktiven Sinnbildungswillen in allen kognitiven Prozessen gesprochen bzw. von einem „ e f f o r t after meaning",10 Dareios offenbart in seinem Verstehensprozess bzw. bei seiner Interpretanten- und Objektbildung, dass er die überbrachten Gegenstände als Zeichen nur im Lichte seiner eigenen Wunschvorstellungen wahrzunehmen vermag. Er wählt für das Verständnis der Zeichenfunktion der Geschenke eine Denkperspektive, in der grundsätzlich ein Kapitulationsangebot der Skythen unterstellt wird. Diese Vorstellung versucht er dadurch zu legitimieren, dass die Geschenke insgesamt auf etwas verklausulierte Weise die Übergabe von Erde und Wasser als Sinnbilder der Unterwerfung repräsentieren würden. Diese Interpretationshypothese stützt er dadurch, dass er ganz bestimmte Lebensumstände und Handlungsmöglichkeiten der Tiere sowie bestimmte Implikationen von Pfeilen betont. Über dieses Wissen stellt er dann ikonische und indexikalische Verweise auf die Phänomene Erde, Wasser und Macht her. Dadurch liegt es für ihn dann auch nahe, die Übergabe der Geschenke als Übergabe von Erde und Wasser zu verstehen bzw. als Hinweis auf ein Kapitulationsangebot. Dareios verschwendet keinen Gedanken darauf, ob seine Interpretantenbildung fur die Zeichenfunktion der Geschenke mit der der Skythen übereinstimmt. Er liest aus der Übergabe der Geschenke nur die Botschaft heraus, die seinen eigenen Wunschvorstellungen am besten entspricht. Damit dokumen10
F.C. Bartlett, Remembering, 1932/1967, S. 227. "Hence it is legitimate to say that all the cognitive processes which we have been considered, from perceiving to thinking, are ways in which some fundamental 'effort after meaning' seeks expression. Speaking very broadly, such effort is simply the attempt to connect something that is given to something other than itself."
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tiert er, dass seine Wahrnehmungsprozesse im Prinzip nur Assimilationsprozesse sind, in denen diejenigen möglichen Einzelwahrnehmungen unter den Tisch fallen, die nicht zu seiner Ausgangshypothese passen bzw. in seinen Denkrahmen fallen. Zu Akkommodationsprozessen, in denen er sich zumindest hypothetisch oder heuristisch auf die möglichen Denkperspektiven der Skythen einlässt und in denen er die überbrachten Geschenke im Lichte dieser Interpretationsperspektiven als Zeichen interpretiert, ist er weder fähig noch auf Grund seiner Machtposition willens. Erst nach weiteren Erfahrungen mit den Skythen lernt er, sein eigenes Denken umzustellen und die Einsicht zu gewinnen, dass die Geschenke auch als Zeichen des Spotts zu verstehen sein könnten. Gobryas geht dagegen bei seiner Interpretantenbildung bzw. bei seiner Interpretation der Zeichenfunktion der Geschenke wesentlich differenzierter vor. Da er sich methodisch auf die Denkperspektiven der Skythen einstellt, werden bei seiner ikonischen und indexikalischen Interpretation der Geschenke ganz andere Eigenschaften und Aktionsimplikationen der jeweils überbrachten Phänomene wichtig als bei Dareios. Außerdem kann er die potenziellen Zeichenfunktionen der einzelnen Gegenstände auf sehr viel kohärentere Weise hermeneutisch deuten und miteinander verknüpfen als der persische König. Offen bleibt gleichwohl, ob die von ihm herausgearbeitete Botschaft der Geschenke tatsächlich dem entspricht, was die Skythen mit ihrem Gegenstandsbrief den Persern übermitteln wollten.
V Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift Piatons Darstellung SOKRATES: Ich habe also gehört, zu Naukratis in Ägypten sei einer von den dortigen alten Göttern gewesen, dem auch der Vogel, welcher Ibis heißt, geheiligt war, der Gott selbst aber habe Theuth geheißen. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, dann die Meßkunst und die Sternkunde, ferner das Brett- und Würfelspiel, und so auch die Buchstaben. Als König von ganz Ägypten habe damals Thamus geherrscht in der großen Stadt des oberen Landes, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, den Gott selbst aber Ammon. Zu dem sei Theuth gegangen, habe ihm seine Künste gewiesen und begehrt, sie möchten den andern Ägyptern mitgeteilt werden. Jener fragte, was doch eine jede für Nutzen gewähre, und je nachdem ihm, was Theuth darüber vorbrachte, richtig oder unrichtig dünkte, tadelte er oder lobte. Vieles nun soll Thamus dem Theuth über jede Kunst dafür und dawider gesagt haben, welches weitläufig wäre alles anzuführen. Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe Theuth gesagt: Diese Kunst, ο König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für Erinnerung und Weisheit ist sie erfunden. Jener aber habe erwidert: Ο kunstreichster Theuth, einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu bringen; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie größtenteils unwissend sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise. PHAIDROS: Ο Sokrates, leicht erdichtest du uns ägyptische und was sonst für ausländische Reden du willst.
Piatons Darstellung
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SOKRATES: ... Dir aber macht es vielleicht einen Unterschied, wer der Redende ist und woher. Denn nicht darauf allein siehst du, ob sich so oder anders die Sache verhält. PHAIDROS: Mit Recht hast du mich gescholten. Auch dünkt mich mit den Buchstaben es sich so zu verhalten, wie der Thebaner sagt. SOKRATES: Wer also eine Kunst in Schriften hinterläßt, und auch wer sie aufnimmt, in der Meinung, daß etwas Deutliches und Sicheres durch die Buchstaben kommen könne, der ist einfältig genug und weiß in Wahrheit nichts von der Weissagung des Ammon, wenn er glaubt, geschriebene Reden wären noch sonst etwas als nur demjenigen zur Erinnerung, der schon das weiß, worüber sie geschrieben sind. PHAIDROS: Sehr richtig. SOKRATES: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich: denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande. PHAIDROS: Auch hierin hast du ganz recht gesprochen. SOKRATES: Wie aber? Wollen wir nicht nach einer anderen Rede sehen, der echtbürtigen Schwester von dieser, wie sie entsteht und wieviel besser und kräftiger als jene sie gedeiht? PHAIDROS: Welche doch meinst du, und wie soll sie entstehen? SOKRATES: Welche mit Einsicht geschrieben wird in des Lernenden Seele, wohl imstande, sich selbst zu helfen, und wohl wissend zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll. PHAIDROS: Du meinst die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könnte. SOKRATES: Allerdings eben sie. Sage mir aber dieses, ob ein verständiger Landmann den Samen, den er vor andern pflegen und Früchte von ihm haben möchte, recht eigens im heißen Sommer in einem Adonisgärtchen bauen und sich freuen wird, ihn in acht Tagen schön in die Höhe geschossen zu sehen, oder ob er dieses nur als ein Spiel und bei festlichen Gelegenheiten tun wird, wenn er es denn tut; jenen aber, womit es ihm Ernst ist, nach den Vorschriften der Kunst des Landbaues in den gehörigen Boden säen und zufrieden sein, wenn, was er gesäet, im achten Monat seine Vollkommenheit erlangt?
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Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift
PHAIDROS: Gewiß so, ο Sokrates, würde er dieses im Ernst, jenes, wie du sagtest, nur anders tun. SOKRA TES: Und sollen wir sagen, daß, wer vom Gerechten, Schönen und Guten Erkenntnis besitzt, weniger verständig als der Landmann verfahren werde mit seinem Samen? PHAIDROS: Keineswegs wohl. SOKRATES: Nicht zum Ernst also wird er sie ins Wasser schreiben, mit Tinte sie durch das Rohr aussäend, mit Worten, die doch unvermögend sind, sich selbst durch Rede zu helfen, unvermögend aber auch, die Wahrheit hinreichend zu lehren? PHAIDROS: Wohl nicht, wie zu vermuten. SOKRATES: Freilich nicht; sondern die Schriftgärtchen wird er nur des Spieles wegen, wie es scheint, besäen und beschreiben. Wenn er aber schreibt, um für sich selbst einen Vorrat von Erinnerungen zu sammeln auf das vergeßliche Alter, wenn er es etwa erreicht, und für jeden, welcher derselben Spur nachgeht: so wird er sich freuen, wenn er sie zart und schön gedeihen sieht...; PHAIDROS: Ein gar herrliches, ο Sokrates, nennst du neben den geringeren Spielen: das Spiel dessen, der von der Gerechtigkeit, und was du sonst erwähntest, dichtend mit Reden zu spielen weiß. SOKRATES: So ist es allerdings, Phaidros. Weit herrlicher aber, denke ich, ist der Ernst mit diesen Dingen, wenn jemand nach den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehörige Seele dazu wählend, mit Einsicht Reden säet und pflanzt, welche sich selbst und dem, der sie gepflanzt, zu helfen imstande und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, vermittels dessen einige in diesen, anderen in anderen Seelen gedeihend, eben dieses unsterblich zu erhalten vermögen und den, der sie besitzt, so glückselig machen, als einem Menschen nur möglich ist.1
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Piaton, Phaidros 274c-277a, Werke, Bd. 4, S. 54-57
Die Thematik des Phaidros-Dialogs
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1. Die Thematik des Phaidros-Dialogs Inhaltlich geht es im Phaidros-Dialog um das Problem, wodurch sich eine gute Rede auszeichnet. Im Verlaufe der diesbezüglichen Erörterungen erzählt Sokrates dann seinem Gesprächspartner Phaidros die Geschichte über die Erfindung der Buchstaben bzw. der Schrift durch den ägyptischen Lokalgott Theuth, die ihm allerdings nur vom Hörensagen her bekannt geworden sei. Auf den Einwand von Phaidros, dass er sich je nach Bedarf allerlei Geschichten erdichte, macht Sokrates geltend, dass nicht die Herkunft den Wert einer Geschichte bestimme, sondern allein ihre sachliche Plausibilität und Kohärenz. Dadurch stellt er unmissverständlich klar, dass es ihm bei seiner Geschichte nicht auf den faktischen historischen Wahrheitsgehalt selbst ankommt, sondern vielmehr allein auf ihre Erläuterungsfunktion für einen ganz bestimmten Problemzusammenhang. Mit dieser Erklärung ordnet Sokrates seinem Mythos eine ganz bestimmte didaktische und heuristische Funktion zu. Einerseits soll er einen sehr komplexen Strukturzusammenhang auf eine übersichtliche Weise versinnbildlichen und memorierbar machen. Andererseits soll er die bisher auf einer begrifflichen Ebene geführte Argumentation auf einer narrativen fortsetzen, um eben dadurch auf die dynamischen, genetischen und medialen Aspekte und Implikationen des ganzen Problemzusammenhangs aufmerksam zu machen. Das schließt dann allerdings nicht aus, dass die geistige Objektivierungsfunktion des Mythos auch wieder zum Gegenstand einer begrifflichen Auseinandersetzung gemacht wird, da es sich Sokrates natürlich nicht nehmen lässt, seine eigene Geschichte zu interpretieren. Um den Stellenwert des Theuthmythos über die Erfindung der Schrift sprachtheoretisch qualifizieren zu können, ist es sicherlich vorteilhaft, sich zunächst einmal die Thematik des Phaidros-Dialogs zu vergegenwärtigen. Diese ist grundsätzlich durch die Frage nach den Funktionsmöglichkeiten der Sprache im rhetorischen Sprachgebrauch bestimmt.
Der Ansatzpunkt des Dialogs Das Gespräch von Sokrates und Phaidros über die Struktur guter Reden entzündet sich an einer konkreten Rede, die Phaidros gerade zu der Frage gehört hat, auf welche Weise man am besten die Gunst eines Knaben gewinnen könne. Bei der Erörterung der Inhalts- und Formaspekte von Reden stößt man dann natürlich auch auf das Problem, welches spezifische Leistungsprofil dem mündlichen und dem schriftlichen Sprachgebrauch zugeordnet werden kann
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Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift
und ob sich wahres Wissen am besten mündlich oder schriftlich vermitteln lässt. Im Rahmen dieser Fragestellungen ist es nun von fundamentaler sprachtheoretischer Bedeutung, dass Sokrates die Redekunst mit der Heilkunst parallelisiert. „Es hat dieselbe Bewandtnis mit der Redekunst wie mit der Heilkunst."2 Die Heilkunst müsse die Natur des Leibes kennen, um auf diesen einwirken zu können. Die Redekunst müsse die Natur der Seele kennen, um diese beeinflussen zu können. Mit dieser These stellt Sokrates klar, dass es ihm bei der Beurteilung der Güte einer Rede nicht darum geht, wie man den Wissensstand der Hörer am besten vergrößern kann, sondern vielmehr darum, wie der Redende am besten Einfluss auf das Denken seiner Zuhörer nehmen kann. Das Ziel einer guten Rede besteht für Sokrates dementsprechend weniger darin, bestimmte Wissensdefizite zu beseitigen, sondern vielmehr darin, die Denkstrukturen und Handlungsdispositionen von Zuhörern zu beeinflussen. Wenn man in dieser Weise die Rede als ein Mittel der Seelenleitung ansieht, dann sind damit ganz bestimmte sprachtheoretische Implikationen verbunden. Die Sprache wird primär nicht als ein Mittel zur sprachlichen Objektivierung und geistigen Repräsentation von Welt angesehen, sondern eher als ein Mittel zur Einwirkung auf das Denken und Handeln von Menschen. Diese pragmatisch orientierte Sprachauffassung impliziert, dass immer damit gerechnet werden muss, dass dieselben sprachlichen Formen in unterschiedlichen Gebrauchssituationen ganz unterschiedliche Wirkungen entfalten können. Wie ein guter Arzt seine Heilmittel individuell auf seine Patienten abstimmen muss, so muss auch ein guter Redner seine Sprachmittel bzw. seine Verwendungsformen von Sprache sehr sorgfältig auf seine jeweiligen Adressaten abstimmen. In diesem Zusammenhang spielt dann natürlich auch eine große Rolle, ob die Sprache in mündlicher oder schriftlicher Form als Handlungswerkzeug verwendet wird.
Die Hintergrundsprobleme Wenn man die Frage nach den Merkmalen einer guten Rede in diesem Denkrahmen zu beantworten versucht, dann ergeben sich eine Reihe von grundsätzlichen Problemen. Beispielsweise wird ein kommunikationstheoretisches Grundproblem aktuell, das die Hermeneutik seit ihren Anfängen bis heute geprägt hat. Gehören zum Sinn eines Textes nur diejenigen Informationen, die wortwörtlich in ihm mitgeteilt werden, oder auch diejenigen, welche durch die direkt gegebenen Informationen bei den jeweiligen Rezipienten induziert werden. Theoretisch lassen sich diese unterschiedlichen Informationskategorien möglicherweise noch gut voneinander trennen, aber in konkreten Verstehens2
Piaton, Phaidros, 270b, Werke, Bd. 4, S. 50.
Die Thematik des Phaidros-Dialogs
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prozessen verschmelzen sie in der Regel zu einer sehr komplexen einheitlichen Sinngestalt. Ein anderes kommunikationstheoretisches Grundproblem zeigt sich dann, wenn man danach fragt, welche Einflüsse die konkreten Realisationsformen einer sprachlichen Äußerung (schriftlich/mündlich, begrifflich/sinnbildlich, monologisch/dialogisch, Texttypen usw.) auf sprachliche Sinnbildungsprozesse und Lenkungsstrategien ausüben. Wenn man die von einem Text zusätzlich induzierten Vorstellungen auch zum Textsinn rechnet, dann wird der Begriff des Textinhaltes natürlich sehr schillernd, weil die jeweils gegebenen Informationen bei den verschiedenen Rezipienten natürlich sehr unterschiedliche Gesamtvorstellungen aktivieren können. Der Sinngehalt eines Textes wird relativ auf den Wissenstand, die Wahrnehmungssituation und die Denkflexibilität der jeweiligen Rezipienten. Derselbe faktische Text kann für die einzelnen Rezipienten eine ganz unterschiedliche Sinngestalt bekommen bzw. in ganz unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen werden. Die Korrelation der Rhetorik mit dem Gedanken der Seelenleitung und der Wirksamkeit verknüpft die Frage nach der Struktur einer guten Rede natürlich auch mit dem Problem der Wahrheit und der Täuschung. Am Beispiel einer Rede vor Gericht verdeutlicht Sokrates, dass die Erzeugung eines glaubwürdigen Scheins durchaus wirksamer sein könne als die Mitteilung dessen, was faktisch geschehen ist. Wenn beispielsweise ein körperlich schwacher, aber mutiger Mann einem körperlich starken, aber feigen Mann einen Mantel entwendet habe, dann dürften beide vor Gericht eigentlich nicht die Wahrheit sagen, wenn sie dort erfolgreich sein wollten. Der Mutige müsse verschweigen, dass er mutig sei, der Feige, dass er feige sei.3 Unter diesen Umständen müssten sie dann die einzelnen Tatbestände so miteinander verknüpfen, dass ihre Version der Geschichte den Richtern glaubwürdig erschiene (Fund, Geschenk, Heimtücke usw.). Mit diesem Beispiel wird verdeutlicht, dass jede konkret gegebene Information nur im Kontext von Erwartungen und Vorinformationen wirksam wird und dass sie nur dann als glaubwürdig angesehen wird, wenn sie sich in das schon vorhandene Wissen einordnen lässt bzw. zu den jeweiligen Informationserwartungen passt. Mit seinen grundsätzlichen Überlegungen zum Problem der Analogie von Redekunst und Heilkunst sowie zum Problem von Wahrheit und Schein hat Sokrates den Boden dafür vorbereitet, die Frage nach der Kunst des Schreibens zu stellen und diese von der Kunst des Redens abzugrenzen. Diese Vorbereitungsstrategie verdeutlicht, dass Sokrates die Schrift keineswegs nur als eine neutrale Technik ansieht, um die gesprochene Rede dauerhaft zu fixieren. Er geht vielmehr davon aus, dass der schriftliche Gebrauch der Sprache eine eigenständige mediale Realisationsform von Sprache neben dem mündlichen Gebrauch darstellt und dass uns beide Erscheinungsformen der Sprache mit 3
Piaton, Phaidros, 273b-c, Werke, Bd. 4, S. 53.
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Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift
ganz unterschiedlichen sprachtheoretischen und kommunikationstheoretischen Problemen konfrontieren. 4 Typisch für die Darstellungsstrategie Piatons ist nun, dass er Sokrates über den Unterschied zwischen dem mündlichen und dem schriftlichen Sprachgebrauch nicht begrifflich reflektieren lässt, sondern ihm zunächst einen Mythos über die Erfindung der Schrift in den Mund legt, um das ganze Problemfeld anschaulich vorzustrukturieren, über das anschließend begrifflich diskutiert werden soll. Piaton bzw. Sokrates instrumentalisieren den Mythos ganz bewusst für das Ziel, den mündlichen und den schriftlichen Sprachgebrauch als zwei ganz unterschiedliche Erscheinungs- und Funktionsweisen von Sprache zu thematisieren. Im Rahmen dieser rein funktional orientierten Erkenntnisinteressen braucht man sich auch nicht mit dem lang andauernden Prozess der Schriftentwicklung zu beschäftigen, der beiden sicher nicht ganz unbekannt war, sondern kann diesen auf eine punktuelle Erfindung reduzieren.
2. Der Theuthmythos Der Mythos von der Erfindung der Schrift durch Theuth gehört wohl zu den Geschichten, von denen in der Politeia gesagt wird, dass sie im Ganzen falsch seien, dass „aber auch Wahres darin" sei.5 Als wahr will Sokrates in dem Theuthmythos sicher nicht die einzelnen Details gewertet wissen, sondern wohl nur den allgemeinen Strukturzusammenhang, der mit Hilfe dieser fiktiven Geschichte objektiviert wird. Es ist wohl anzunehmen, dass Sokrates sehr wohl wusste, dass die Erfindung der Buchstabenschrift keine punktuelle Erfindung der Ägypter gewesen ist. Zwar wird Theuth auch im Philebos von Sokrates als derjenige benannt, der die Buchstaben entsprechend ihrer jeweiligen Repräsentationsfunktion für bestimmte Laute unterschieden habe, aber das ist sicherlich nicht sehr ernst zu nehmen, da in Griechenland seit Herodot wohl recht bekannt war, dass die Ägypter ein anderes Schriftsystem hatten und dass die Griechen ihre Buchstabenschrift von den Phöniziern übernommen haben. 6 Die fiktive Zuschreibung der Erfindung der Buchstabenschrift an Theuth ist wohl einer allgemeinen Bewunderung Piatons für die kulturellen Leistungen der Ägypter zuzurechnen bzw. einer Ägypten-Romantik, die nach Gadamer Piaton dazu animiert haben könnte, Theuth alles zuzuschreiben, was „die griechische Mythologie in der aischyleischen Variante auf den Erfindergott Prometheus gehäuft hat."7 4
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Diese Sichtweise bestimmt auch die moderne Sprachwissenschaft. Vgl. Ch. Dürscheid, Einführung in die Schriftlinguistik, 2002. Piaton, Politeia, 377a, Werke, Bd. 3, S. 113. Vgl. Piaton, Philebos, 18b, Werke, Bd. 5, S. 81-82. Herodot, Historien, V. Buch, Kap. 58, S. 350-351. H.-G. Gadamer, Unterwegs zur Schrift?, Gesammelte Werke, 1999, Bd. 7, S. 263-264.
Der Theuthmythos
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Theuth als Erfinder Zu dieser Bewunderung für alles Ägyptische gehört wohl auch der Hinweis von Sokrates, dass Theuth zuerst Zahl und Rechnung erfunden habe, dann die Messkunst, die Steraenkunde, das Brett- und Würfelspiel und zuletzt, gleichsam als Krönung seines Einfallsreichtums, die Buchstaben. Diese narrative Aufzählung von Einzelerfindungen erscheint auf den ersten Blick nur als eine Art ornamentaler Ausschmückung. Auf den zweiten Blick ergibt sich dann allerdings eine etwas andere Bewertung. Durch die Auflistung der Erfindungen werden wir nämlich indirekt auf eine ganz wesentliche Struktur der Schriftproblematik aufmerksam gemacht, denn Theuth wird uns auf diese Weise als Experte für Abstraktionen vorgestellt. Alle Erfindungen von Theuth haben gemeinsam, dass durch sie Phänomene in die Welt gesetzt werden, die abstraktiv aus natürlichen Primärerfahrungen abgeleitet worden sind und bei denen ganz bestimmte empirische Kontexte weggefiltert werden. Beispielsweise ist die Zahl 5 keine empirische Erfahrungsgröße, sondern nur eine abstraktiv gewonnene geistige Größe, die es uns ermöglicht, ein bestimmte Menge einander ähnlicher Erfahrungsgrößen {Äpfel, Pferde oder Häuser) nur hinsichtlich ihrer Quantität wahrzunehmen und dabei methodisch von allen Qualitätsmerkmalen (Farbe, Größe, Gewicht usw.) zu abstrahieren. Wenn wir mit Zahlen rechnen, dann interessieren uns die jeweiligen Bezugsgegenstände nur noch als abstrakte Größen, die mit anderen Größen in einer ganz bestimmten Relation stehen. Auch die Messkunst und die Sternenkunde interessieren sich im Prinzip nicht für die empirisch fassbaren Einzelgegenstände, sondern nur noch für die Relationsverhältnisse in ihnen oder zwischen ihnen. Auch Spiele abstrahieren von der natürlich gegebenen Welt. Sie etablieren eine fiktive Welt mit eigenen Gesetzen, in die man eintreten und auch wieder austreten kann. Über die Hinweise auf seine Erfindungen wird Theuth als jemand charakterisiert, der sich nicht mit dem Gegebenen zufrieden gibt, sondern der etwas erfindet, das einerseits neben das Vorgefundene gestellt werden kann, das andererseits aber auch dazu genutzt werden kann, sich das Gegebene besser dienstbar zu machen. Theuth ordnet sich ganz ähnlich wie Prometheus nicht in das Vorgefundene ein, sondern versucht, die empirisch gegebene Welt durch sein perspektivierendes Abstraktionsvermögen zu transzendieren und zu beherrschen. Dafür muss er dann allerdings auch einen Preis zahlen, der ihm in seinem anfänglichen Enthusiasmus aber als bedeutungslos erscheint. Dieses Abstraktionsvermögen wird von Sokrates bzw. Piaton weder pauschal gelobt noch verdammt. Aber die so in die Welt gesetzten Erzeugnisse werden im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen positiven und negativen Konsequenzen sorgfältig geprüft. Eine Verdammung wäre auch schon deshalb
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nicht zu erwarten, weil das Abstraktionsvermögen die Grundlage aller philosophischen Begriffsbildungen ist und weil fur Piaton die Mathematik mit ihrem Interesse für abstrakte Strukturordnungen nach der Philosophie als die zweithöchste Form aller geistigen Betätigung angesehen wird. Piaton und Sokrates geht es also eher um eine kritische Würdigung der Schrifterfindung und des Schriftgebrauchs als um deren pauschale Abwertung. Auf diese Sachlage wird in dem Mythos kompositioneil dadurch aufmerksam gemacht, dass Thamus, dem Theuth die Vorteile der Schrifterfmdung enthusiastisch anpreist, recht kühl mit der These kontert, dass nicht die Erfinder ihr Werk adäquat beurteilen könnten, sondern nur ihre Nutzer. Damit stellt er klar, dass die Gesamtbeurteilung einer Erfindung sich nicht nur in denjenigen Denkperspektiven bewegen darf, die der jeweiligen Erfindung zu Grunde lagen, sondern dass dabei alle Konsequenzen zu berücksichtigen sind, die sich aus dem praktischen Gebrauch der Erfindung ergeben. Seinen Part bei der Bewertung der Schrifterfindung sieht Thamus in gut dialektischer Manier gerade darin, auf all das aufmerksam zu machen, was Theuth in seiner Euphorie, die menschliche Erinnerung und Weisheit zu verbessern, übersehen hat. Bevor man sich mit den kritischen Einwänden von Thamus gegen die Schrifterfindung auseinandersetzt, ist es vorteilhaft, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wovon bei der Umsetzung einer mündlichen Rede in eine schriftlich fixierte Rede abstrahiert wird. In der Regel sind wir uns nämlich kaum dessen bewusst, was alles beim schriftlichen Gebrauch der Sprache unter den Tisch fällt, weil wir bei der schriftlichen Nutzung von Sprache unser Wahrnehmungsinteresse von vornherein ganz anders fokussieren als beim mündlichen Gebrauch.
Abstraktionen beim schriftlichen Sprachgebrauch Die Abstraktionen, die beim schriftlichen Gebrauch der Sprache wirksam werden, lassen sich im Wesentlichen vier verschiedenen Ebenen zuordnen. Dabei können sie einerseits negativ als Defizite des Schreibens gegenüber dem Sprechen qualifiziert werden, aber andererseits auch positiv als eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Informationen. Erstens fallen beim schriftlichen Sprachgebrauch weitgehend alle Informationen weg, die beim mündlichen Sprachgebrauch aus den gestischen, mimischen und intonatorischen Begleitzeichen resultieren. 8 Diese Zusatzzeichen zu den verbalen Zeichen tragen zwar in der Regel nichts zum begrifflichen Gehalt bzw. zum sachlichen Inhalt von Äußerungen bei, aber sie helfen gleichwohl, die pragmatische Funktion von Äußerungen richtig einzuschätzen, 8
Vgl. H.-M. Gauger, Zur Frage des Stils, in: W. Erzgräber/H.-M. Gauger, Stilfragen, 1992, S. 23ff. H.-M. Gauger, Der Autor und sein Stil, 1988, S. 20ff.
Der Theuthmythos
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weil sie den Rezipienten Hinweise darüber geben, welchen funktionalen Stellenwert die verbal vermittelten Teilinformationen haben, ob Äußerungen als Mitteilungen, Behauptungen, Fragen oder Ausrufe zu verstehen sind, ob Informationen wortwörtlich oder ironisch zu rezipieren sind, wie wir den jeweiligen Sprachproduzenten einzuschätzen haben, warum etwas überhaupt mitgeteilt wird usw. Strukturell gesehen lassen sich die Informationen, die aus diesen Begleitzeichen resultieren, als interpretierende Metainformationen zu den verbalen Basisinformationen verstehen, weil sie deren pragmatischen Wert kommentieren oder qualifizieren. Diese metainformativen Leistungen lassen sich im schriftlichen Sprachgebrauch nur sehr eingeschränkt durch Interpunktionszeichen oder durch den Wechsel von Schriftarten erbringen. Oft können sie nur durch zusätzliche metainformative Interpretationssätze konkretisiert und vermittelt werden (Ich möchte nachdrücklich betonen, dass ... Diese Aussage ist ironisch zu verstehen.). Zweitens kann beim schriftlichen Sprachgebrauch nicht mehr auf die Verstehenshilfen zurückgegriffen werden, die im mündlichen Sprachgebrauch aus den zeitlichen und räumlichen Redekontexten resultieren. In der mündlichen Rede muss man nicht alles verbalisieren, sondern nur das, was situative Informationsunsicherheiten beseitigt. Wenn beispielsweise die jeweiligen Gesprächspartner einen Baum sehen und gefragt wird, wo die Katze sei, dann genügt die Mitteilung, dass sie auf dem Baum sitze. Überflüssig wäre die Information darüber, dass es einen Baum gibt und wo sich dieser befindet. Im schriftlichen Sprachgebrauch müssen dagegen mit sprachlichen Mitteln in sich geschlossene autonome Vorstellungsbilder erzeugt werden. Drittens fehlt beim schriftlichen Sprachgebrauch, abgesehen von persönlichen Briefen, der konkrete individuelle Adressat. Der Schreiber kann sich nicht auf das spezifische Vorwissen und die individuellen Informationserwartungen eines konkreten Rezipienten einstellen, sondern nur auf mehr oder weniger anonyme Adressaten mit einem durchschnittlichen Sach- und Sprachwissen. Das hat zur Folge, dass sich für den schriftlichen Sprachgebrauch sehr viel stärker konventionalisierte lexikalische, grammatische und stilistische Normen ausbilden müssen als für den mündlichen Sprachgebrauch. Viertens hat der schriftliche Sprachgebrauch eine sehr ausgeprägte monologische Grundstruktur, da alle dialogischen Rückkopplungsmöglichkeiten entfallen. Der Schreiber kann seine konkrete Sprachverwendung weder auf die sprachlichen noch auf die nicht-sprachlichen Reaktionen seiner Rezipienten abstimmen. Das fuhrt dazu, dass er tendenziell gar nicht mehr zu anderen spricht, sondern nur noch zu sich selbst, bzw. dass er die Sprache weniger als ein Handlungsmittel zur Steuerung des Verhaltens von anderen einsetzt, sondern eher als ein Darstellungsmittel zum Aufbau von relativ autonomen Vorstellungswelten. Daraus resultiert dann nicht nur eine Vorliebe für die Wahl von bestimmten Sprachformen, sondern auch ein Impuls für die Weiterentwicklung bestimmter Sprachstrukturen.
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Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift
Die mit dem monologischen schriftlichen Sprachgebrauch immer verbundenen Abstraktionen kann man angesichts der Komplexität des dialogischen mündlichen Sprachgebrauchs als eine Verarmung der Sprachverwendung ansehen oder als eine Tendenz zur Künstlichkeit, wenn nicht zur Erstarrung und zum Tod. Paradoxerweise garantiert aber gerade der formalisierte schriftliche Sprachgebrauch, dass die durch ihn objektivierten Inhalte historisch eine sehr gute Überlebenschance haben und sich in der Überlieferungsgeschichte nicht dauernd wandeln. Die abstraktiven Tendenzen des monologischen schriftlichen Sprachgebrauchs kann man nun allerdings positiv auch als eine spezifische Konzentration auf ganz bestimmte sprachliche Sinnbildungsfunktionen bewerten. Die besondere Qualität der Schriftsprache würde dann darin bestehen, dass durch sie die sprachhistorische Entwicklungstendenz nachhaltig verstärkt wird, die Sprache zu einem autonomen Sinnbildungsmittel auszugestalten, das sich von der Hilfestellung anderer Zeichensysteme, der konkreten Sprechsituation und der Rückkopplung mit spezifischen Adressaten weitgehend emanzipiert. Streit kann es dann allerdings darüber geben, ob dieser Emanzipationsprozess nur positiv zu beurteilen ist bzw. welche Funktionsmöglichkeiten der Sprache dabei verkümmern können.
Die Einwände von Thamus Als Theuth seine Erfindung der Schrift enthusiastisch als Mittel zur Stärkung der Erinnerung und Weisheit der Ägypter anpreist, nimmt Thamus dazu nicht nur in seiner Rolle als Individuum und Sachwalter des gesunden Menschenverstandes Stellung, sondern auch in der als König. Als König und als Sachwalter der Tradition muss er prüfen, mit welchem Nutzen und mit welchen Problemen bei Neuerungen zu rechnen ist. Ihm ist dabei von Anfang an klar, dass die Schrifterfindung von Theuth keine harmlose technische Neuerung zur Fixierung der mündlichen Rede ist, sondern vielmehr eine Art Kulturrevolution, die weitreichende Folgen für den Gebrauch von Sprache und für das Verständnis von Wissen und Weisheit hat. Als Sachwalter des gesunden Menschenverstandes hat Thamus eine natürliche Skepsis gegenüber theoretischen Hypothesen, die mit dem Glauben verbunden sind, komplexe Probleme auf einen Schlag lösen zu können. Er weiß einerseits, dass alle Theorien von Abstraktionen leben und dass sich nur durch Abstraktionen verdeckte Ordnungsstrukturen der Welt aufdecken lassen. Er weiß aber auch, dass Theorien immer Gefahr laufen können, den realen Stellenwert von Ordnungsstrukturen falsch einzuschätzen, weil sie die komplexen Vernetzungen und Interdependenzen von Phänomenen übersehen oder falsch einschätzen. Deshalb betont er nachdrücklich, dass der Wert einer Neuerung sich letztlich nicht theoretisch begründen lässt, sondern sich nur im Rahmen
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der praktischen Erfahrung ergibt. Thamus kann nach unserer heutigen Terminologie als Pragmatiker qualifiziert werden, da er im Prinzip schon die so genannte pragmatische Maxime von Peirce befolgt. Diese besagt, dass wir etwas nur an seinen Früchten erkennen bzw. durch die Kenntnis seiner Wirkungen. 9 Thamus scheut sich nicht, eine Gegenhypothese zu den Vorstellungen von Theuth zu entwickeln, durch die die ganze Spannweite der Schriftproblematik verdeutlicht wird. Er betont, dass der Gebrauch der Schrift das Gegenteil dessen bewirke, was Theuth erwarte. Der Schriftgebrauch werde zur Vergesslichkeit fuhren, weil man im Vertrauen auf das schriftlich Fixierte sein Gedächtnis nicht mehr übe und keine Entscheidungen mehr darüber treffe, was wirklich erinnernswert sei und was nicht. Das Problem der Erinnerung würde allenfalls quantitativ, aber nicht qualitativ gelöst. Dadurch ergebe sich das Problem des Scheinwissens. Die Schrift sei kein Mittel für die Verbesserung der inhaltlichen Erinnerungen, sondern allenfalls ein technisches Mittel für die Verbesserung des Erinnerns als eines rein formalen Vorgangs. 10 Der Einwand, dass die Schrift nicht der Erinnerung, sondern allenfalls dem Erinnern diene, ist als eine ganz zentrale Schriftkritik zu werten, die Thamus gleichsam zum Sprachrohr einer Denkposition macht, der Sokrates und Piaton sehr nahe stehen. Durch diese These wird nämlich im Prinzip die Frage aufgeworfen, wie man Wissen erwerben kann bzw. ob das eigentliche Wissen letztlich auf eine Art Wiedererinnerung bzw. Anamnesis zurückgeführt werden muss. All das wird von Thamus natürlich nicht explizit thematisiert, aber für alle Kenner der platonischen Philosophie doch sehr gut nachvollziehbar angedeutet.
3. Die Interpretation des Theuthmythos durch Sokrates Obwohl Sokrates betont, dass er den Theuthmythos nur so wiedergebe, wie er ihn von anderen gehört habe, so ist doch offensichtlich, dass er ihn im Hinblick auf seine eigenen Argumentationsziele zur Beurteilung der Schrift strukturiert und akzentuiert hat. Das, was er von den Reaktionen des Thamus berichtet, geht über das hinaus, was von einem traditionellen Mythos zu erwarten gewesen wäre, denn Thamus reagiert nicht mit praktischen Handlungen, sondern mit theoretischen Überlegungen auf die Ausführungen von Theuth. Er beginnt nämlich, ganz im Stile von Sokrates, eine argumentative Auseinandersetzung mit Theuth.
9 10
Vgl. Ch. S. Peirce, Collected Papers, 5.402. Vgl. zu dieser Problematik auch das Kap. XI dieses Buches. In ihm wird darauf Bezug genommen, wie die Einwohner eines Dorfes mit Hilfe der Schrift gegen die Krankheit des Vergessens anzukämpfen versuchen.
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Der Theuthmythos über die Erfindung der Schrift
Dadurch wird deutlich, dass Sokrates den Theuthmythos als Vorspann für seine eigenen Überlegungen zur Schriftproblematik konzipiert und strukturiert hat. Der Mythos bekommt auf diese Weise die didaktische Funktion, uns den Einstieg in den hermeneutischen Zirkel der Interpretation des Phänomens Schrift zu erleichtern. In der Interpretation des Mythos greift Sokrates auf Stichworte zurück, die er bei der Darstellung des Theuthmythos schon in die Welt gesetzt hat. Dabei ist auffällig, dass Sokrates keine rein theoretische und begriffliche Auseinandersetzung mit der Schriftproblematik anstrebt, denn er arbeitet sehr offensichtlich mit Bildern und Analogien. Insofern haben seine Stellungnahmen auch schon wieder einen fast narrativen Charakter. Diese Strategie passt natürlich sehr gut zu der dialogischen Form seines Philosophierens. Sokrates konfrontiert seinen Partner nicht gleich mit Behauptungen, sondern versucht, ihn über Ähnlichkeitshinweise in einen ganz bestimmten Denkprozess hineinzuziehen, in dem Erkenntnisse angestrebt werden, die sich möglicherweise gar nicht in Form von Aussagen oder Feststellungen repräsentieren lassen. Insbesondere zwei Denkbilder werden in diesem Zusammenhang wichtig, nämlich der Vergleich des schriftlichen Sprachgebrauchs mit der Malerei und der Vergleich des Sprachgebrauchs mit der Sätätigkeit eines verantwortungsvollen Landmannes.
Malerei und Schrift Für Sokrates weisen die schriftlich fixierten Texte dieselben Mängel auf wie gemalte Bilder. Sie träten als formal eigenständige Werke hervor, die ohne die Kontrolle ihrer Urheber in der Welt herumvagabundieren könnten. Ihre Eigenständigkeit sei aber in Wahrheit ein bloßer Schein, da sie auf Fragen nicht antworten könnten und somit als wirkliche Dialogpartner ausfielen. Wenn sie angegriffen würden, brauchten sie die Hilfe ihrer Väter, da sie sich nicht selbst verteidigen könnten. Dieser Aufzählung von Mängeln stimmt Phaidros zu. Ganz im Sinne von Sokrates zieht er das Fazit, dass die geschriebene Rede als ein abstraktives Schattenbild der gesprochenen Rede anzusehen sei. Bemerkenswert an dieser Sichtweise von Sokrates und Phaidros ist, dass die geschriebene Rede methodisch nur über ihre Schwächen und Probleme charakterisiert wird und auf diese Weise nur als ein defizientes Schattenbild eines komplexeren und vitaleren Originals wahrgenommen wird. Es werden keine Anstrengungen unternommen, die spezifischen Leistungen und Stärken einer schriftlich fixierten Rede zu erfassen und diese damit als eigenständiges Sinngebilde in den Blick zu bekommen. Diese Sichtweise impliziert, dass es prinzipiell nicht gut sei, wenn sich das Gesagte vom Vorgang des Sagens ablöst und sich so zu einer eigenständigen Größe bzw. zu einem Gebilde mit eigenem Sinnrelief verselbstständigt. Dadurch gerät außer Sicht, dass ein schriftlich fixierter Text im Vergleich zu einer mündlichen Rede durch seine
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materialisierte Form eine große Dauerhaftigkeit bekommt, dass er eine relativ große semantische Autonomie besitzt, dass er Verstehensprozessen eine Widerständigkeit entgegensetzen kann und dass er durch all diese Besonderheiten auch wieder zu einem Dialogpartner besonderen Typs zu werden vermag. Sicherlich ist die These akzeptabel, dass sich die sinnbildende Kraft der Sprache in Dialogen umfassender als in Monologen entfalten kann, da das Sprechen im dialogischen Sprachgebrauch sowohl auf eine Sache als auch auf einen Partner ausgerichtet werden muss und eben deshalb neben ihren kognitiven auch ihre sozialen Funktionen zur Geltung bringen muss. Darüber sollte nun aber nicht vergessen werden, dass sowohl gemalte Bilder als auch schriftliche Texte als hermeneutische Provokationen wahrgenommen werden können und eben dadurch auch eine spezifische dialogische Dimension bekommen. Wenn man einen Dialog nicht nur als einen Vorgang versteht, in dem ein bestimmter Vorstellungsinhalt von Α nach Β transportiert wird, sondern als eine Situation, in der ein Sprecher einem Angesprochenen etwas zu verstehen geben will und eben in diesem Prozess das jeweils Thematisierte auch selbst besser verstehen möchte, dann verlieren schriftlich fixierte Texte den Charakter von Schattenbildern und werden trotz oder gerade wegen ihrer Abstraktionen zu potenziell widerständigen Größen, auf die sich die jeweiligen Rezipienten einstellen müssen. In diesem Zusammenhang ist kulturhistorisch wohl auch zu bedenken, dass Sokrates und Piaton bei ihrer Beurteilung der Schrift die alphabetische Schrift im Auge hatten, bei der die Differenz zwischen Form und Inhalt sehr viel ausgeprägter ist als bei Bilderschriften oder Begriffsschriften. In den Buchstabenschriften löst sich das Gesagte bzw. der Inhalt auf sehr viel radikalere Weise abstraktiv vom Vorgang des Sagens bzw. von den dafür verwendeten Zeichen als in Begriffsschriften oder gar in Bilderschriften. Gerade weil die Buchstabenschrift die Autonomie von Texten und die Funktionsprinzipien der Schrift auf sehr radikale Weise zum Ausdruck bringt, ist sie natürlich auch ein sehr dankbares Objekt der Schriftkritik. 11
Die mündliche Rede als Sävorgang Zu der besonderen Hochschätzung des dialogischen Sprachgebrauchs passt auch, dass Sokrates die mündliche Rede mit dem Vorgang des Säens bei einem verständigen Landmann parallelisiert. Dieser müsse sorgsam prüfen, wohin er seinen Samen gebe, wenn dieser später gute Frucht bringen solle. Er dürfe seinen Samen nicht so verwenden, dass etwas zu spielerischen oder festlichen Zwecken kurzfristig und effektvoll aufschieße. Der Vergleich des Sprechens
" Vgl. A. Assmann, Schriftkritik und Schriftfaszination, in: S. Kotzinger/G. Rippl (Hrsg.), Zeichen zwischen Kontrast und Arabeske, 1994, S. 327ff.
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mit dem Säen verdeutlicht uns sehr klar, dass Sokrates die Sprache primär nicht als ein Mittel ansehen möchte, um ein bestimmtes Wissen in Form von Sätzen zu fixieren und anderen mitzuteilen, sondern vielmehr als ein Mittel, um auf die Denkvorgänge anderer langfristig einen fruchtbaren Einfluss zu nehmen. Durch diesen Vergleich soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Mitteilungen von den Rezipienten nicht einfach als fest vorgegebene Inhalte übernommen werden sollten, sondern dass sie vielmehr als Samenkörner zu betrachten seien, die langfristig gute Früchte zu erbringen haben. Deshalb sieht es Sokrates auch nicht als tunlich an, wenn sich Mitteilungen in schriftlicher Form unkontrolliert verbreiten, weil der Mitteilende seine Aussagen dann nicht mehr auf einen bestimmten Partner abstimmen kann. Ein solches Sprachverständnis ist natürlich in einem hohen Grade gegenüber allen Tendenzen skeptisch, sprachliche Objektivierungen von den Denkprozessen und Situationen abzulösen, in denen sie manifest geworden sind. Deshalb pocht Sokrates so nachdrücklich auf das dialogische Prinzip beim Gebrauch der Sprache und misstraut allen monologischen Verwendungsformen, da diese tendenziell den jeweiligen Inhalten eine Endgültigkeitsfarbe geben und deren Entstehungsgeschichte unberücksichtigt lassen. Sokrates räumt zwar ein, dass die Verwendung der Schrift kurzfristig ebenso effektvoll sein könne wie die Anlage eines künstlichen Adonisgärtchens für festliche Zwecke und dass die Schrift einen gewissen Funktionswert habe, um sich für das vergessliche Alter einen bestimmten Vorrat von Erinnerungen anzulegen, aber all diese Funktionen der Schrift haben seiner Meinung nach nicht viel mit dem Erwerb und der Vermittlung wahren Wissens zu tun. Sokrates begründet zwar nicht explizit, warum die Schrift die Kunst der Dialektik und den Erwerb wahren Wissens nicht fördere, aber seine Vergleiche geben doch deutliche Hinweise darauf, warum das nicht anzunehmen ist. Auch Piaton scheint es nicht für angemessen zu halten, diese Frage mit einer expliziten Lehre zu beantworten, da er offenbar furchtet, dass dadurch bestimmte Denkprozesse beendet würden, die eigentlich nicht auf diese Weise beendet werden sollten. Gleichwohl ist es aber in diesem Zusammenhang nützlich, nach anderen Stellen Ausschau zu halten, wo Piaton diesen Problembereich angesprochen hat, um umfassender zu klären, welchen Stellenwert seine Schriftreflexion im Rahmen seiner Sprach- und Wissensreflexion hat.
4. Die Schriftkritik im Politikos und im Siebenten Brief Während Piaton sich im Phaidros mit der Schriftproblematik im Kontext der Rhetorik beschäftigt, thematisiert er sie im Politikos im Zusammenhang mit der Frage nach dem Gültigkeitsanspruch schriftlich fixierter Gesetze und im Siebenten Brief im Hinblick auf die Frage nach den Vermittlungsmöglichkei-
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ten wahren Wissens. In allen drei Fällen wird die schriftlich verwendete Sprache als eine ganz spezifische mediale Ausprägungsform von Sprache betrachtet, die im Vergleich mit der mündlich verwendeten eher negativ als positiv beurteilt wird. Das mag insgesamt etwas ungerecht erscheinen, aber diese Sichtweise ist vielleicht dialektisch zu rechtfertigen, da uns in unserem Alltagsverständnis der Gebrauch der Schrift eher vorteilhaft als problematisch erscheint und eben deshalb auch einmal einer anderen perspektivischen Wahrnehmung bedarf.
Schriftlich fixierte Gesetze Es ist kein Zufall, dass Piaton im Politikos seine Schriftkritik gerade am Beispiel von schriftlich fixierten Gesetzen erörtert, da die Schrift gerade in diesem Zusammenhang eine frühe und sehr große pragmatische Relevanz bekommen hat. Das dokumentieren die in Stein gemeißelten Straf-, Zivil- und Handelsgesetze Hammurabis, die Zehn Gebote des Alten Testaments, die schriftlich fixierte Gesetzgebung von Drakon und Solon in Griechenland, die ZwölfTafelgesetze in Rom, die Magna Charta in England sowie die Gesetzesbücher und Verfassungen der Neuzeit. All diese schriftlich fixierten Gesetzestexte wollen bestimmte Handlungsnormen für potenzielle Konfliktbereiche so stabilisieren, dass sie situativen Variationen entzogen werden und somit gleichsam einen Ewigkeitswert bekommen. Und genau diese Intentionen werden nun im Politikos zum Gegenstand der Kritik gemacht. Der Fremde entwickelt in diesem Dialog die These, dass es das Beste sei, „wenn nicht die Gesetze Macht haben, sondern der mit Einsicht königliche Mann."12 Diese These kommt uns heute im Kontext der Idee der Gewaltenteilung, der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, der individuellen Freiheitsrechte und der Rechtssicherheit ziemlich problematisch vor. Sie gewinnt aber eine gewisse Plausibilität, wenn man bedenkt, dass jedes formulierte Gesetz in einem meist unformulierten, hierarchisch höher angesiedelten Rahmenkonsens eingebettet sein muss, um seine konkreten Regulationsfunktionen erfüllen zu können. Deshalb ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im § 20.3 auch festgelegt worden, dass sich jede Anwendung von Gesetzen nicht nur an den formulierten Gesetzen zu orientieren habe, sondern auch an dem unformulierten Recht. „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden." Wenn man postuliert, dass das Handeln nicht nur an formulierte Gesetze bzw. an das Prinzip der Legalität gebunden ist, sondern auch an das Recht bzw. an das Prinzip der Legitimität, dann ergibt sich natürlich sofort die Frage, 12
Piaton, Politikos, 294a, Werke, Bd. 5, S. 52.
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wie uns das unformulierte Recht (ius), das als allgemeine Rechtsidee hinter allen formulierten Gesetzen (leges) steht, eigentlich faktisch zugänglich ist bzw. wie wir uns das Recht als Geist der Gesetze beim Verständnis von individuellen Gesetzen überhaupt zugänglich machen können. Hier muss man sich dann entweder auf ein unformuliertes Naturrecht berufen, das hinter den konkreten Gesetzen als positivem Recht steht, oder auf ein angeborenes bzw. historisch im sozialen Zusammenleben entwickeltes Rechtsgefühl, das uns tendenziell sagt, welche Handlungsweisen angemessen sind und welche nicht. Diesem Problem kann hier aus verständlichen Gründen nicht weiter nachgegangen werden, wohl aber der Frage, wo die Grenzen der Regulationsfunktion von schriftlich fixierten Gesetzen liegen und welche Einschränkungen sich dadurch für die Anwendbarkeit schriftlich fixierter Gesetze ergeben. Diese Frage, die von Sokrates und dem Fremden im Politikos diskutiert wird, ist zugleich von einem transjuristischen allgemeinen Interesse, insofern sie auch das schon von Thamus angesprochene Problem betrifft, welchen Wert das schriftlich fixierte Wissen hat.13 Schriftlich formulierte Gesetze haben strukturell mit zwei großen Problemen zu kämpfen, an denen zugleich generelle Probleme der sprachlichen Begriffsbildung und der verschriftlichten Sprache in Erscheinung treten. Einerseits können Gesetze prinzipiell nicht auf die spezifischen Besonderheiten von Einzelfallen Rücksicht nehmen, weil sie dazu bestimmt sind, Einzelfälle einem bestimmten Fallmuster zuzuordnen, wodurch die jeweiligen Einzelfälle natürlich nur im Hinblick auf ganz bestimmte Einzelaspekte erfasst werden. Andererseits beanspruchen Gesetze immer eine überzeitliche Geltung und müssen deshalb vom Wandel der Phänomene in der Zeit abstrahieren. Aus diesen Besonderheiten ergibt sich eine strukturelle Grundschwäche von Gesetzen, da sie immer schematisieren müssen und deswegen den jeweiligen Einzelfällen nicht immer gerecht werden können. Allerdings kann diese strukturelle Schwäche von fixierten Gesetzen, die durch keinerlei Formulierungskünste aufgehoben werden kann, auch als eine strukturelle Stärke verstanden werden, wenn man nämlich in Betracht zieht, dass die Reduktion von unübersichtlicher Komplexität nicht nur eine pragmatisch-anthropologische Notwendigkeit ist, sondern auch ein Hauptmotiv für geistige Strukturierungsprozesse. Vor dem Hintergrund dieser Problematik kommt der Fremde zu dem Schluss, dass die Macht eines einsichtigen königlichen Herrschers über der Macht der fixierten Gesetze stehen müsse, weil er ja eine Entscheidung über die sinnvolle Anwendung von Gesetzen zu treffen habe, die gesetzlich nicht geregelt werden könne. Am Beispiel des Entscheidungsfeldes eines Arztes und eines Steuermanns erläutert der Fremde dann seine These genauer. Arzt und Steuermann könnten nicht an starre Handlungsschemata gebunden werden, da sie dann ihre situationsbezogenen Handlungsfunktionen nicht mehr erfüllen 13
Vgl. W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982, S. 27ff.
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können. Das bedeutet für ihn, dass nicht das formulierte Gesetz das letzte Wort haben dürfe, sondern nur die „Kunst", die dazu befähige, Gesetze zu machen und anzuwenden. Dementsprechend formuliert er dann auch die rhetorische Frage, ob nicht diejenige Staatsverfassung zu favorisieren sei, „welche die Kraft der Kunst höher stellt als die Gesetze."14 Das Problem der Starrheit von schriftlich fixierten Gesetzen, das sich insbesondere im kontinentalen Kodexrecht stellt, hat eine juristische Hermeneutik ins Leben gerufen, die sich bemüht, den Sinn von schriftlich formulierten Gesetzen durch eine grammatisch-sprachliche, eine historisch-genetische und eine teleologisch-finale Interpretation anwendungsorientiert zu präzisieren. Im angelsächsischen Präzedenzrecht tritt dieses Problem nicht so deutlich in Erscheinung, weil hier der individuelle Rechtsfall keinem schriftlich fixierten Fallschema zugeordnet werden muss, sondern nur im Lichte von vergleichbaren Fällen zu beurteilen ist, wobei der Richter durch seine jeweilige Entscheidung auch einen neuen Präzedenzfall schaffen kann. Das bedeutet, dass der Richter das Recht im Rahmen seiner richterlichen Kunst auch zeit- und sachgemäß fortentwickeln kann bzw. dass er keineswegs nur die Aufgabe hat, Gesetze sinngemäß auszulegen. Im angelsächsischen Präzedenzrecht tritt deshalb die Spannung zwischen Fall und Fallschema nicht so deutlich in Erscheinung wie im kontinentalen Kodexrecht. Der Fremde will im Politikos darauf aufmerksam machen, dass alles Wissen hierarchisch geordnet werden muss, weil es in ihm nicht nur um ein konkretes Sachwissen geht, sondern auch um ein Metawissen zum richtigen Gebrauch des Sachwissens. Dieses operativ orientierte Metawissen wird von dem Fremden und Sokrates als Kunst bezeichnet. Im Hinblick auf dieses Wissen stellt sich dann die Frage, ob es sich in Form von schriftlich fixierbaren Sätzen formulieren lässt oder ob es nur in ganz anderen Manifestationsformen in Erscheinung treten kann. Die Position Piatons in dieser Hinsicht ist wohl die, dass er einerseits natürlich zugesteht, dass sich ein bestimmtes Sachwissen in Form von spezifischen Aussagen schriftlich formulieren lässt, dass er andererseits aber einen erheblichen Zweifel daran hat, ob das auch im Hinblick auf das Metawissen möglich ist, das man zum rechten Gebrauch und zur adäquaten Beurteilung des Stellenwertes von Sachwissen benötigt. Zwar ist einzuräumen, dass man jedes Metawissen eine Reflexionsstufe höher wieder zu einem formulierbaren Sachwissen erklären kann, aber dann benötigt man wieder ein Metawissen zur Qualifizierung dieses neuen Sachwissens. In keinem formulierten Sachwissen kann zugleich mitformuliert werden, wie es vernünftig zu verwenden ist. Deshalb versteht Piaton dieses Metawissen als eine Kunst bzw. als eine Fertigkeit, die man sich nach und nach im Umgang mit den Phänomenen in der Welt bzw. im Umgang mit dem diesbezüglichen Sachwissen erwirbt. In diesem Zusam14
Piaton, Politikos, 297a, Werke, Bd. 5, S. 55.
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menhang stellt sich dann nicht nur das Problem, ob oder inwieweit man diese Kunst in eine formulierbare Lehre überführen kann, sondern auch das noch grundsätzlichere Problem, ob das überhaupt wünschenswert ist. Das Denken läuft dabei nämlich Gefahr, immer neue abstraktive Metaebenen zu konstruieren und dabei den Kontakt zur ursprünglichen Sachebene immer mehr zu verlieren.
Schriftlich fixiertes philosophisches Wissen In dem erkenntnistheoretischen Diskurs des Siebenten Briefes, der auf den Versuch des Dionysios von Syrakus reagiert, die platonische Lehre in schriftlicher Form zusammenzufassen, wird das Problem der Schrift im Hinblick darauf thematisiert, ob es überhaupt möglich ist, philosophisches Wissen in Form von Lehrsätzen zu objektivieren und zu vermitteln. 15 Es wird betont, dass es eine zusammenfassende Lehre über philosophische Einsichten gar nicht geben könne, weil diese eine Struktur hätten, die sich einer solchen Repräsentationsform entzöge. Philosophisches Wissen ließe sich nicht wie anderes Wissen in Worte und Lehrsätze fassen, sondern erzeuge sich nach intensiver Beschäftigung mit den jeweiligen Denkgegenständen gleichsam „wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele ,.."16 Dieses Verständnis von philosophischem Wissen, das vordergründig betrachtet einer mystischen Illuminationsvorstellung sehr nahe zu kommen scheint, verliert den Anschein des Irrationalen, wenn man sich mit den Hintergründen und Motiven dieser sinnbildlichen Redeweise beschäftigt. Diese soll nämlich kenntlich machen, dass philosophische Einsicht in das Wesen der Dinge nur als Resultante von dialektischen Anstrengungen zu gewinnen sei und dass ein einzelner Lehrsatz nichts dem Menschen Ersprießliches enthalte. So gesehen enthält der Exkurs auch keine Erkenntnistheorie als philosophische Lehre, sondern thematisiert vielmehr, mit welchen Bedingungsfaktoren in Lern- und Einsichtsprozessen zu rechnen ist. 17 In Piatons Ausführungen wird herausgestellt, dass in philosophischen Erkenntnisprozessen vier Faktoren eine prägende Rolle spielen, nämlich die drei Hilfsmittel Name (onoma), Begriff/Satz (logos) und Abbild (eidolon) sowie die Erkenntnis selbst. Als fünfter Faktor kann dann noch die Sache genannt wer-
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Die Echtheit dieses Briefes ist umstritten. Im Rahmen der hier verfolgten Intentionen ist das aber von sekundärer Bedeutung, weil es primär nicht um die Rekonstruktion platonischer Auffassungen geht, sondern um die Denkperspektiven, in denen man die Schriftproblematik ins Auge fassen kann. Piaton, Siebenter Brief, 441c-d, Werke, Bd. 1, S. 317. Vgl. H.-G. Gadamer, Dialektik und Sophistik im Siebenten Platonischen Brief, Werke, Bd. 6, S. 95ff. A. Gundert, Piatonstudien, 1977, S. 99-119. W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982, S. 35.
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den, auf die sich das Streben nach Wissen richtet, weil sie den Widerstand repräsentiert, der in allen Erkenntnisprozessen zu überwinden ist. Weder die drei Hilfsmittel noch die Erkenntnis selbst repräsentieren das Wesen des Erkenntnisgegenstandes, weil sie nur notwendige Schritte zu ihm darstellen, ohne die wir keinen Kontakt zu ihm finden können. Nur wenn diese Faktoren im Sinne einer noetischen Zusammenschau dialektisch aufeinander bezogen werden, kann daraus eine Einsicht in das Wesen der Dinge resultieren. Diese lässt sich dann allerdings nicht in einem konkreten Satz oder Begriff repräsentieren, sondern flammt gleichsam als eine Funktion von intensiven Erkenntnisanstrengungen auf. Aus dieser Argumentation lässt sich ableiten, dass schriftlich fixierte Aussagen nie das Wissen repräsentieren können, welches nach Piaton der Philosoph anzustreben hat, sondern dass sie allenfalls dazu beitragen können, zu diesem Wissen zu gelangen. Alle Hilfsmittel der Erkenntnis und die damit objektivierbare Erkenntnis erleichtern den Zugang zu den Dingen, weshalb diese Mittel auch unentbehrlich für den Prozess des Erkennens sind, aber durch sie wird letztlich nicht dasjenige Wissen verkörpert, das der Philosoph anstreben soll, weil sie immer nur einen Verweischarakter haben. ,/ille vier nämlich sind in die Dialektik des Bildes verstrickt. Sofern sich in ihnen die Sache darstellen soll, unterliegen sie alle der Notwendigkeit, etwas für sich zu sein. Was etwas darstellen will, darf das nicht selbst sein, was es darstellt. Es liegt im Wesen dieser Mittel der Erkenntnis, daß sie, um solche Mittel sein zu können, ein eigenes Unwesen besitzen müssen. Es ist gleichsam ihr Wesen, das Unwesen des Dargestellten zu sein. Darin entspringt nach Plato die Beirrung, daß wir immer wieder verführt sind, das Unwesentliche dennoch für das Wesen zu nehmen." Von hier aus wird nun auch verständlich, warum Piaton so große Vorbehalte gegen schriftlich fixierte philosophische Lehrsätze hat. Diese laufen immer Gefahr, Wissen in Form einer festen und fertigen Wissensgestalt zu präsentieren und dabei zu unterschlagen, dass sich die Phänomene, um die es geht, nur in dialektischen Prozessen offenbaren, in denen mit Hilfe von Erkenntnismitteln um Einsicht gerungen wird. Schriftlich fixierte Sätze lassen für Piaton allzu leicht vergessen, dass Sätze nicht etwas Gegebenes abbilden können, sondern nur auf etwas zu verweisen vermögen. Das Problem des schriftlichen Sprachgebrauchs für Erkenntnisprozesse liegt für ihn deshalb darin, dass dieser Sprachgebrauch leicht übersieht, dass alle sprachlichen Objektivierungsanstrengungen nur dialektische Durchgangsprozesse sind.
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H.-G. Gadamer, Dialektik und Sophistik im Siebenten Platonischen Brief, Werke, Bd. 6, S. 107.
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5. Schriftkritik als Sprach- und Sprachgebrauchskritik Wenn man den Terminus Kritik nicht im Sinne von Verdammung oder Abwertung versteht, sondern im ursprünglichen Wortsinne als Kunst der abwägenden Beurteilung von Phänomenen hinsichtlich ihrer spezifischen Eigenschaften, dann kann man Piatons Schriftkritik auch in einem umfassenderen Betrachtungsrahmen erörtern. Man versteht sie sicher zu einseitig, wenn man sie nur als Kritik der Schrift als eines technischen Verfahrens zur Fixierung gesprochener Sprache versteht und nicht zugleich auch als einen exemplarischen Fall für eine Kritik der Sprache bzw. als eine Kritik der Formen, in denen sich Wissen objektivieren und vermitteln lässt. Das würde bedeuten, dass sich Piatons Schriftkritik zugleich auch als eine Kritik der Medien des Denkens, des Repräsentierens und des Mitteilens am Beispiel der schriftlich verwendeten Sprache deuten lässt und damit natürlich auch als einen Beitrag zur Wissens- und Erkenntnistheorie. Der zunächst so harmlos erscheinende Mythos über die Erfindung der Schrift würde dann als ein Überschneidungsfeld von sprachtheoretischen, erkenntnistheoretischen und kulturhistorischen Problemkreisen wahrnehmbar werden, die unser geistiges Leben auf sehr fundamentale Weise prägen. Sehr nachdrücklich hat Wieland darauf verwiesen, dass die Schriftkritik Piatons als Sprachkritik zu verstehen sei, weil sich am Beispiel der Verschriftlichung von Sprache besonders deutlich ablesen ließe, „was mit einem sprachlichen Gebilde geschieht, das man aus dem pragmatischen Zusammenhang, dem es entstammt, herausnimmt und so betrachtet, als wäre es ein selbständiges Ding eigener Art und eigenen Rechts."19 So gesehen zielt die Schriftkritik Piatons dann auch nicht darauf ab, eine umfassende Theorie der Schrift und ihrer Implikation zu entwickeln, sondern vielmehr darauf, Hinweise auf den richtigen Umgang mit schriftlich formulierten Texten zu geben bzw. dafür zu sensibilisieren, dass die Formen der sprachlichen Objektivierung und Mitteilung von Inhalten einen prägenden Einfluss darauf hat, wie Inhalte in Erscheinung treten und Gestalt gewinnen.
Schriftkritik und Sprachkritik Die Überlegungen von Sokrates bzw. Piaton zu den Schwächen der schriftlichen Verwendungsweise der Sprache zentrieren sich in dem Vorwurf, dass die 19
W. Wieland, Piatons Schriftkritik und die Grenzen der Mitteilbarkeit, in: V. Bohn (Hrsg.), Romantik - Literatur und Philosophie, 1987, S. 30. Vgl. auch W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982. H.-G. Gadamer, Unterwegs zur Schrift?, 1983, Werke, Bd. 7, S. 258259.
Schriftkritik als Sprach- und Sprachgebrauchskritik
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schriftlich fixierte Rede das Gesagte aus der Bindung an den Sprecher, den Angesprochenen und die Situation löse und zu einem Inhalt verselbstständige, der als Wissen an sich in Erscheinung trete und der in dieser Form unkontrolliert in der Welt herumvagabundiere. Das sehen beide als gefahrlich an, weil dadurch leicht dem Glauben Vorschub geleistet werde, dass man Wissensinhalte von ihrer Entstehungs- und Verwendungsgeschichte ablösen könne. Es wird geltend gemacht, dass jedes Wissen personale Bezüge habe, die es verbieten würden, zumindest das philosophische Wissen als frei fluktuierende Handelsware oder als Besitz anzusehen. Etwas einem anderen zu sagen, heißt für sie eher, einem anderen etwas zu verstehen geben als ihm etwas zu übergeben. Der schriftliche Sprachgebrauch birgt für sie die Gefahr, dass sich das Wissen verdinglicht und dass dabei übersehen wird, dass eine Wissenskonstitution eigentlich an die dialogische Struktur von Frage und Antwort gebunden ist. Von diesen Gefahren ist natürlich auch der mündliche Sprachgebrauch nicht geschützt. Die Sprache hat als soziale Institution eine natürliche Tendenz zur Fixierung und zur Verselbstständigung von Wissen, da schon jede Begriffsbildung aus einem abstrahierenden Schematisierungsprozess hervorgeht, in dem Ungleiches für gleich erklärt wird. Wenn das nicht so wäre, dann würden wir in der Vielheit des Individuellen ertrinken und könnten Komplexität nicht sinnvoll reduzieren. Wir müssten alle uns begegnenden Phänomene mit einem Eigennamen versehen und darauf verzichten, sie mit einem Kategoriennamen zu belegen. So gesehen verschärft der schriftliche Sprachgebrauch eigentlich nur eine Tendenz, die prinzipiell auch schon im mündlichen Sprachgebrauch angelegt ist. Begriffe typisieren Erfahrungen nämlich so, dass diese in einen bestimmten Denkrahmen eingeordnet werden können und verdinglichen eben dadurch das Wissen so, dass es zum intersubjektiven Gebrauch dienlich ist. Diese Verselbstständigung von Wissen tritt allerdings im situationsgebundenen mündlichen Gebrauch nicht so deutlich hervor wie im schriftlichen Sprachgebrauch oder beim Gebrauch von formalisierten Fachsprachen. Die Kritik der schriftlich verwendeten Sprache kann so gesehen auch als eine Kritik der Sprache als Speicher von sozialem und kulturellem Wissen beurteilt werden. Allerdings lässt sich diese Leistung der Sprache auch positiv bewerten, weil durch sie Erfahrungen intersubjektiv stabilisiert werden und weil dadurch alle Tendenzen zur Entwicklung von Privatsprachen entscheidend geschwächt werden. Ebenso wie sich in den lexikalischen und grammatischen Formen der Sprache ein Wissensschatz konkretisiert hat, der den Verwendern der Sprache abrufbereit zur Verfügung steht, so manifestiert sich in schriftlich fixierten Texten ein Wissensschatz, der tradiert und genutzt werden kann. Die Frage ist nur, ob das Wissen, das sich in sprachlichen Formen und in Texten angesammelt hat, als Wissen schlechthin anzusehen ist oder nur als ein bestimmter Typ von Wissen. Die Kritik der Schrift durch Thamus, Sokrates und Piaton wäre dann nicht als eine generelle Negation des Wertes von schriftlich verwendeter Sprache zu
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verstehen, sondern nur als ein Hinweis auf die Gefahren, die insbesondere mit dem schriftlichen Sprachgebrauch verbunden sein können. Zwar lässt Piaton durch Thamus und Sokrates die Schrift nur als ein Hilfsmittel des Erinnerns würdigen und nicht als eine Speichermöglichkeit fur Erinnerungen, aber er wäre selbst sicher nicht bereit gewesen, generell auf den Gebrauch der Schrift zu verzichten und eine Rückkehr zu einer rein oralen Kultur anzustreben.
Die Formen des Sprachgebrauchs Die Schriftkritik Piatons ist zugleich eine Medienkritik, insofern sie das Problem aufwirft, in welchen Manifestationsformen philosophisches Denken und Wissen am besten in Erscheinung treten kann und wie sich am besten gewährleisten lässt, das Wissensinhalte sich nicht von ihrem Entstehungsprozess ablösen. Gerade wenn man die mediale Funktion der Sprache in den Mittelpunkt des Interesses stellt, dann wird man nicht vergessen können, dass nicht die sprachliche Formulierung selbst etwas sagt, sondern dass jemand in einer bestimmten Situation und mit einer bestimmten Zielsetzung mit ihrer Hilfe etwas zu verstehen geben will. Deshalb muss man auch eine besondere Aufmerksamkeit auf das Problem richten, in welchen Gebrauchsweisen man sich die Sprache für bestimmte Sinnbildungsstrategien am besten nutzbar machen kann. Wenn man einmal von dem grundsätzlichen Problem absieht, dass jeder Sprachgebrauch auf die konventionalisierten lexikalischen und grammatischen Ordnungsmuster einer spezifischen Sprache zurückgreifen muss, dann fällt zunächst der bildliche, der narrative und der begriffliche Sprachgebrauch als je eigene mediale Gebrauchsform der Sprache ins Auge. Der bildliche Sprachgebrauch ist dadurch geprägt, dass mit Hilfe von konventionalisierten Sprachformen ganz bestimmte Vorstellungsbilder erzeugt werden, die dann ihrerseits als Zeichenträger fungieren, welche kraft Analogie ikonisch auf etwas anderes verweisen, wobei der jeweilige Bezugsbereich nicht scharf abgegrenzt werden kann. Diese Form des Sprachgebrauchs exemplifiziert besonders klar die These, dass man mit Sprache nicht klar abgrenzbare Inhalte fixieren und mitteilen kann, sondern dass man mit ihr sich und anderen etwas zu verstehen geben kann, dessen Sinn sich nur dann erschließt, wenn man nicht nur auf Sprachkenntnisse zurückgreift, sondern auch auf Kenntnisse anderer Art. Der narrative Sprachgebrauch ist dadurch charakterisiert, dass in ihm Sachverhalte im Rahmen ihres Entstehungsprozesses bzw. ihrer Verschränkung mit Handlungen zur Erscheinung gebracht werden und nicht nur als bloße Gegebenheiten thematisiert werden. Auch bei diesem Sprachgebrauch soll etwas objektiviert und vermittelt werden, was über das vordergründig Gesagte hinausgeht, insofern die jeweils erzählte Geschichte auch noch als Exempel fur etwas anderes dienen kann. Auf den narrativen Sprachgebrauch lässt Piaton
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Sokrates immer wieder zurückgreifen, wenn er ihm Gleichnisse und Mythen in den Mund legt, um Zugang zu komplexen Sachverhalten zu finden oder um diese über ihre Genese verständlich zu machen. Dafür ist gerade der Theuthmythos ein sehr gutes Beispiel. Der begriffliche Sprachgebrauch ist nun dadurch bestimmt, dass er nicht auf die sinnbildende Kraft von Bildern und Erzählungen setzt, sondern auf die von Propositionen. Als Proposition lässt sich das Ergebnis einer Prädikation bzw. Aussage bezeichnen, bei der einem Gegenstandsbegriff (grammatisches Subjekt) ein Bestimmungsbegriff (grammatisches Prädikat) auf determinierende Weise zugeordnet wird (Der Hund bellt.). Dadurch ergibt sich dann eine Feststellung, die sich als wahr oder als falsch qualifizieren lässt. Dieser Sprachgebrauch will nicht anderen etwas mehr oder weniger indirekt zu verstehen geben, sondern gleichsam auf der Ebene der Sprache einen gegebenen Tatbestand abbilden bzw. bewusstseinsmäßig präsent machen. Einen solchen Sprachgebrauch erwarten wir insbesondere in der Textsorte Abhandlung oder argumentative Rede. Er gilt üblicherweise als derjenige Sprachgebrauch, der das höchste kognitive Prestige besitzt, weil er in der Wissenschaft verwendet wird und weil er Grundlage von Schlussfolgerungen nach den Prinzipien der formalen Logik ist. Im Rahmen seiner Überlegung zur Schrift stellt sich für Piaton nun natürlich auch das Problem, ob die auf Propositionen abzielende begriffliche Redeweise, die beim schriftlichen Sprachgebrauch besonders deutlich in Erscheinung tritt, die genuine philosophische Redeweise ist. Piaton meldet gegen eine solche Vorstellung prinzipielle Vorbehalte an, insofern diese Form der Verwendung von Sprache die jeweiligen Wissensinhalte weitgehend von ihren Entstehungsbedingungen und Urhebern ablöst sowie von ihrer Orientierung auf ganz bestimmte Adressaten. Propositionen treten gleichsam als autonome Wahrheiten in Erscheinung und erfüllen im besonderen Maße alle Merkmale, die Piaton in Bezug auf schriftlich fixierte Äußerungen für problematisch hält. Nun ist Piaton sicher nicht als Verächter einer begrifflichen Redeweise anzusehen. Er lässt Sokrates immer wieder darauf insistieren, den Inhalt von Begriffen klar zu bestimmten und damit auch ihre Verwendungsweise in Aussagen. Ihm kommt es vielmehr allein darauf an, über die Schriftkritik den Stellenwert der begrifflichen Redeweise für Sinnbildungsprozesse herauszuarbeiten und die Sprache als Medium der Welterfassung und des Denkens so zu verwenden, dass sie den Zielen des philosophischen Denkens und der philosophischen Wissensbildung nicht im Wege steht. Deshalb haben sowohl Sokrates als auch Piaton ganz spezifische Konsequenzen für ihren philosophischen Sprachgebrauch gezogen. Sokrates selbst hat gar keine schriftlich fixierten Texte hinterlassen, durch die seine Redeinhalte den Anschein autonomer Wissensobjektivierungen bekommen könnten, welche als geistige Handelsware dann zu vertreiben sind. Piaton selbst hat nicht auf den Gebrauch der Schrift verzichtet, aber er hat
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dabei eine Form der Sprachverwendung gewählt, bei der die Gefahren des schriftlichen Sprachgebrauchs minimiert werden, und das ist die Darstellungsform Dialog. Dadurch, dass er für die schriftliche Repräsentation seiner Denkanstrengungen nicht die monologische, sondern die dialogische Darstellungsform wählt, stellt Piaton einerseits sicher, dass er sein Denken sprachlich objektivieren und tradieren kann, und andererseits sicher, dass die Gefahren, die mit der schriftlichen Repräsentation von Gedanken verbunden sind, auf ein Mindestmaß reduziert werden. In Dialogen bekommen Propositionen einen ganz spezifischen Stellenwert in einer situativ gebundenen Denkanstrengung und treten nicht als ewige Wahrheiten in Erscheinung. Es lohnt sich deshalb auch, die dialogische Objektivierungsform von philosophischen Denkanstrengungen bzw. von philosophischem Wissen noch etwas genauer als eine spezifische Strukturform des Sprachgebrauchs zu betrachten.
Der Dialog als Darstellungsform Wenn nicht der monologische, sondern der dialogische Gebrauch der Sprache diejenige Verwendungsform von Sprache ist, bei der sich die mit dem schriftlichen Sprachgebrauch verbundenen Gefahren am besten reduzieren lassen, dann kann Wieland zu Recht feststellen, dass die Dialogform im Werk Piatons kein bloßes Inszenierungsmittel ist, „mit dessen Hilfe lediglich eingekleidet wird, was sich im Grundsatz auch ohne eine derartige Einkleidung darstellen ließe."20 Die dialogische Darstellungsform ist so betrachtet nämlich ein genuines Mittel, um einer bestimmten Form des Denkens und Wissens, die üblicherweise als dialektische Form bezeichnet wird, adäquaten sprachlichen Ausdruck zu geben. Der monologische Sprachgebrauch in Abhandlungen suggeriert nämlich leicht die Vorstellung, dass man es unmittelbar mit den jeweils thematisierten Sachverhalten zu tun hat und dass die sprachliche Objektivierungsform keinen Einfluss auf den mitgeteilten Inhalt hat. Dialogische Darstellungsformen machen dagegen von vornherein deutlich, dass die jeweils geäußerten Sätze nicht als isolierbare Lehrsätze verstanden werden dürfen, sondern vielmehr als perspektivierende Hypothesen bzw. als Züge in kommunikativen Handlungen und Denkanstrengungen zu werten sind. In einem Dialog ist jede Aussage nicht nur auf einen Sachverhalt, sondern auch auf eine bestimmte Person und einen bestimmten Argumentationsschritt bezogen. Das bedeutet, dass das Objektivierungs-, Differenzierungs- und Mitteilungsziel einer Aussage sehr kontextsensitiv ist und dass derselbe Satz in verschiedenen Gesprächsphasen einen ganz unterschiedlichen Sinn haben kann. Einzelne Sätze sollen ja nicht nur einen Sachverhalt repräsentieren, son20
W. Wieland, Piatons Schriftkritik und die Grenzen der Mitteilbarkeit, in: V. Bohn (Hrsg.), Romantik - Literatur und Philosophie, 1987, S. 35.
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dem sie sollen zugleich auch verdeutlichen, wie die jeweiligen Gesprächspartner auf die Sache und aufeinander eingehen können. Im Dialog kann jede Antwort eine Frage sein und jede Frage eine Antwort, insofern einzelne Äußerungen Zwischenschritte in einem Prozess sind und deshalb sowohl als Ergebnisse als auch als Ausgangspunkte einer Denkbewegung verstanden werden können. Im Dialog wird die Sprache so genutzt, dass vieles auch indirekt zu verstehen gegeben wird. Es geht in ihm nicht nur um die Sachen selbst, sondern auch um die Zugangswege zu ihnen und die Sichtweise auf sie. Im Gegensatz dazu ist der monologische Sprachgebrauch von anderen Prämissen geprägt. Hier wird der Anschein erweckt, als ob die Denkgegenstände als konturierte Gegebenheiten schon vorgegeben sind und nur noch darauf warten, sprachlich angemessen repräsentiert zu werden. Deshalb lassen sich Sätze aus Abhandlungen auch relativ leicht als autonome Sinngestalten bzw. als Wahrheiten verstehen, die dann als geistige Handelsware in Umlauf gebracht werden können. Piaton wählt offenbar ganz bewusst den Dialog als Darstellungsform für sein philosophisches Denken, weil er nicht Lehrsätze formulieren will, sondern vielmehr Denkstrukturen und Denkwege objektivieren möchte. Und eben darin unterscheidet sich das von ihm angestrebte dialektische Wissen von dem Wissen, das die Sophisten anzubieten versuchen. „Die Käuflichkeit des sophistischen Wissens dient bei Piaton nur als Indikator, der auf einen Irrtum über die Struktur des Wissens hinweist. Wer mit Wissensinhalten wie mit Handelsware umgeht, behandelt sie als objektivierbare und identifizierbare Gegenstände. Der Sophist befindet sich in einer ähnlichen Selbsttäuschung wie derjenige, der einem geschriebenen Text auf unmittelbare Weise Wissen entnehmen zu können glaubt."21 Texte in Dialogform verdeutlichen für Piaton am besten, dass hinter dem Wissen, das sich in der Proposition eines Satzes manifestiert, eine personale Instanz bzw. eine kognitive Strategie verbirgt, durch die dieses Wissen erst eine konkrete Gestalt bekommt. Deshalb ist auch immer wieder betont worden, dass der Dialog diejenige Darstellungsform sei, die am besten mit Piatons Anamnesisvorstellung harmoniere. Diese beinhaltet, dass ein Lern- bzw. Erkenntnisprozess nicht als Übernahme von bestimmten Wissensinhalten zu verstehen sei, sondern vielmehr als ein Prozess der Wiedererinnerung an ein ursprüngliches, aber inzwischen verschüttetes Grundwissen. Im Denkrahmen der Anamnesishypothese ist klar, dass sich mit Sätzen zunächst nur Meinungen transferieren lassen, aber nicht wirkliche Einsichten in das Wesen der Dinge. Deshalb stellt Piaton Sokrates in seinen Dialogen auch nicht als denjenigen dar, der durch ein überlegenes Sachwissen glänzt, sondern vielmehr als denjenigen, der in Gesprächen wichtige Hilfestellungen für diesen Wiedererinne21
W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982, S. 65.
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rungsprozess zu geben vermag bzw. als denjenigen, der ein Handlungswissen vorfuhrt, das sich nicht in Form von Lehrsätzen über Sachverhalte konkretisieren lässt.
6. Die Erscheinungsformen von Wissen Die Schriftkritik von Thamus und Sokrates läuft letztlich sicherlich nicht auf eine generelle Verdammung des Schriftgebrauchs hinaus, sondern eher auf die Forderung nach einer differenzierten Nutzung der Schrift bzw. auf die Notwendigkeit, sich Rechenschaft darüber abzulegen, welche Wissensformen es gibt und wie sich die einzelnen Wissensformen sprachlich repräsentieren lassen. Üblicherweise identifizieren wir unsere Vorstellung von Wissen wohl mit dem Typus von Wissen, der sich über die Propositionen von feststellenden Sätzen objektivieren lässt und der über Lehrbücher in Umlauf gebracht werden kann. So betrachtet gehören dann Schrift und Wissen auf ganz genuine Weise zusammen. Ohne schriftliche Fixierung lässt sich dieses Wissen weder auf präzise Weise formulieren noch verfugbar halten noch vermitteln. Ohne schriftliche Fixierung dieses Wissens wäre unsere heutige Kultur und Wissenschaft undenkbar. Gleichwohl sollte man aber nicht vergessen, dass die Form des Wissens, die sich mit Hilfe von schriftlich fixierten Sätzen objektivieren und tradieren lässt, nur eine Form von Wissen unter anderen Formen ist. Für die hier verfolgten Zielsetzungen ist es vielleicht hilfreich, eine idealtypische Kontrastierung von zwei unterschiedlichen Wissensformen vorzunehmen, die in der gegenwärtigen Psychologie und Philosophie terminologisch als deklaratives Wissen und prozedurales Wissen, als knowing that und knowing how oder als propositionales Wissen und nicht-propositionales Wissen bezeichnet werden. Die letzte Unterscheidung hat insbesondere Wieland verwendet, um die spezifischen Intentionen der platonischen Schrift- und Sprachkritik herauszuarbeiten.
Das propositionale Wissen Wie schon herausgestellt wurde, ist das so genannte propositionale Wissen strukturell dadurch geprägt, dass es sich in Form von Aussagesätzen objektivieren und transferieren lässt. Es ist das Resultat der kognitiven Verarbeitung von Wahrnehmungen mit Hilfe von konventionell gefestigten Begriffen und Denkstrategien, deren Verlässlichkeit unproblematisiert vorausgesetzt wird. Nur in besonderen Denkakten mit einer anderen intentionalen Ausrichtung können diese Denkmuster metareflexiv zur Debatte gestellt werden.
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Obwohl das propositionale Wissen letztlich durch bestimmte Personen formuliert worden ist, schreibt man ihm meist eine transsubjektive objektive Qualität zu. Es wird in der Regel sogar als ein Wissen angesehen, das weder von der Struktur der sprachlichen Mittel abhängig ist, mit denen es formuliert worden ist, noch von den methodischen Verfahren, durch die es objektiviert worden ist. Es wird gemeinhin als ein Wissen betrachtet, das realitätsförmig ist und das sich deshalb problemlos bei der Beschreibung und bei der Einwirkung auf die Welt einsetzen lässt. Dieses Verständnis des propositionalen Wissens impliziert, dass es irrtumsfahig ist, dass es aber den Bezugsrahmen von wahr und falsch nicht transzendiert. Diese Bivalenz des propositionalen Wissens erlaubt es, dass es zum Gegenstand von Wahrheitsdebatten gemacht werden kann, dass es sich argumentativ nutzen lässt und dass es in Schlussfolgerungsprozessen verwendet bzw. erzeugt werden kann. Es legitimiert sich weder durch seine personale noch durch seine institutionelle Herkunft, sondern allein durch seine Evidenz bzw. durch seine Stimmigkeit im Hinblick auf empirische Erfahrungen und auf die formale Logik. Es ist ein Wissen, das sich in Lexika und Fachbüchern akkumulieren lässt und das ständig verbessert und vermehrt werden kann. Wenn die Philosophie diese Form des Wissens als dasjenige Wissen ansieht, das auch sie letztlich anzustreben hat, dann macht sie sich zu einer Fachwissenschaft für ganz bestimmte Sachgebiete (Logik, Ästhetik, Ethik usw.). Ihr Anspruch verflüchtigt sich, den Stellenwert von fachwissenschaftlichem Wissen metareflexiv zu qualifizieren und das Denken über sich selbst aufzuklären. Gegen ein solches Verständnis von Philosophie bzw. philosophischem Wissen hat es immer wieder erhebliche Widerstände gegeben. Ein solcher manifestiert sich auch in der Schriftkritik von Piaton. Solange man Sokrates als den Prototypen des Philosophen im Sinne eines Liebhabers von Weisheit ansieht, solange muss es als absurd gelten, das propositionale Wissen als Wissen schlechthin bzw. als Ziel philosophischer Anstrengungen anzusehen. Sokrates imponiert nicht als wandelnde Enzyklopädie, sondern als jemand, der einen Typ von Wissen anstrebt bzw. über einen Typ von Wissen verfugt, das Wieland folgendermaßen charakterisiert hat: „Das Wissen, um das es Sokrates geht, ist nicht von der Art des Wassers, das an einem Wollfaden aus einem vollen in ein leeres Gefäß fließt."22
Das nicht-propositionale Wissen Schon die verwendete Terminologie zeigt, dass es sehr schwer ist, diese Form des Wissens auf positive Weise zu beschreiben. Es ist leichter zu sagen, was es nicht ist, als zu sagen, was es ist. Diese negative Kennzeichnung ist auch inso22
W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982, S. 237.
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fern misslich, da man unter diesen Umständen das propositionale Wissen als Norm ansieht, von der das nicht-propositionale Wissen abweicht. Wir müssen aber prinzipiell in Betracht ziehen, dass das nicht-propositionale Wissen zumindest in genetischer Hinsicht als ein primäres Grundwissen angesehen werden kann, von dem sich das propositionale Wissen als Spezialwissen abgespalten hat, und dass das propositionale Wissen ohne den Hintergrund und den Nährboden des nicht-propositionalen Wissens vielleicht gar keine rechte Lebenschance mehr hätte. Wenn Thamus und Sokrates gegen die Gläubigkeit an den überlegenen Wert der schriftlich verwendeten Sprache polemisieren, dann tun sie das, um sowohl fur das historische als auch fur das systematische Erstgeburtsrecht der mündlich verwendeten Sprache und des nicht-propositionalen Wissens eine Lanze zu brechen. Beide wollen darauf aufmerksam machen, dass das Denken verödet, wenn man nur das schriftlich fixierbare propositionale Sachwissen als Wissen anerkennt. Kulimann hat in diesem Zusammenhang geltend gemacht, dass bei Piaton eigentlich zwei unterschiedliche Argumente gegen den Schriftgebrauch ins Feld geführt würden. Das dialektische Argument besage, dass sich das philosophische Denken erst im Gespräch wirklich entfalten könne, dass sich nicht alles direkt sagen lasse und dass sich philosophische Weisheit nicht in Lehrsätzen fixieren lasse. Das esoterische Argument besage, dass das philosophische Wissen substanziell unter einer unkontrollierbaren Verbreitung leide und dass nicht alles, was prinzipiell formuliert werden könne, auch schriftlich fixiert werden müsse. 23 Das letzte Argument hat dann auch die Vorstellung gefördert, dass es eine ungeschriebene Philosophie Piatons gebe, die nur mündlich vorgetragen und tradiert worden sei. Wenn wir versuchen, das nicht-propositionale Wissen, das Piaton im Zusammenhang mit der Gestalt des Sokrates zu exemplifizieren trachtet, auf positive Weise zu beschreiben, dann ergibt sich die folgende Möglichkeit. Das nicht-propositionale Wissen lässt sich idealtypisch als Handlungswissen von dem propositionalen Wissen als Gegenstandswissen abgrenzen. Es bezeichnet die Disposition, Gegenstandswissen zu erzeugen und angemessen mit ihm umzugehen. Deswegen ist es sowohl genetisch als auch funktional auf einer viel fundamentaleren Ebene anzusiedeln als das propositionale Gegenstandswissen. Es kann nicht in Form von Lehrsätzen objektiviert und fixiert werden, sondern lässt sich allenfalls an bestimmten Denkgegenständen demonstrieren. Es ist unmittelbar mit den Personen verwachsen, die es verwenden. Es kann nicht sinnvoll mit der Wahrheitsfrage konfrontiert werden, sondern allenfalls mit der Frage nach seiner Fruchtbarkeit oder seiner Effizienz. 24 23
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Vgl. W. Kulimann, Piaton Schriftkritik, Hermes, 119, 1991, S. 3. W. Kullmann, Hintergründe und Motive der platonischen Schriftkritik, in: W. Kullmann/M. Reichel (Hrsg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, 1990, S. 325ff. Vgl. W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982, S. 230.
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Das nicht-propositionale Handlungswissen tritt in Form von Fähigkeiten, Fertigkeiten sowie in der Urteilskraft bei der Nutzung von Erfahrungen in Erscheinung. Es zeigt sich in Handlungsfähigkeiten, von denen sich eine Person nicht auf dieselbe Weise distanzieren kann, wie sie sich von einzelnen Aussagen distanzieren kann, weil diese Handlungsfähigkeiten gleichsam erst die jeweilige Person als Person konstituieren. Üblicherweise reicht diese Erscheinungsform von Wissen nicht in das helle Feld unseres Bewusstseins, da unser bewusstes Denken erst durch die konkrete Nutzung dieser Handlungsfähigkeiten Gestalt gewinnt. Erst in metareflexiven analytischen Denkakten werden wir auf diese fundamentalen Prämissen unseres gegenständlichen Denkens und Wissens aufmerksam. Wenn im Phaidros am Beispiel der Schriftkritik auch auf die Gefahren bzw. auf die Relativität des propositionalen Gegenstandswissens aufmerksam gemacht wird, dann soll dadurch sicherlich auf eine indirekte Weise auch auf den Wert des nicht-propositionalen Handlungswissens hingewiesen werden, das sowohl in praktischen als auch in kognitiven Handlungen in Erscheinung treten kann. Deshalb betonen sowohl Thamus als auch Sokrates, dass der schriftliche Sprachgebrauch zwar ein Hilfsmittel für das Erinnern sein könne, aber weder ein Mittel für den Erwerb von philosophischer Weisheit als eines Wissens vom rechten Gebrauch des Gegenstandswissens noch ein Mittel für die Konkretisierung von Erinnerungen im Sinne einer wirklichen Anamnesis. Während das propositionale Gegenstandswissen tendenziell apersonalen Charakter hat, braucht das nicht-propositionale Handlungswissen eine Person, um sich manifestieren und entfalten zu können. Diese Instanz wird bei Piaton auf eine etwas altertümliche Weise Seele genannt. Die Schrift wird als ein Gefährdungspotenzial für diese Instanz angesehen. Deshalb spricht Thamus davon, dass Theuths Schrifterfindung der Seele Vergessenheit einflößen werde bzw. eine Vernachlässigung der Erinnerung impliziere, weil man sich nun im Vertrauen auf die Schrift „nur noch von außen vermittels fremder Zeichen" aber nicht mehr innerlich durch eigene Denkanstrengungen erinnern werde.
Die anthropologische Relevanz der Wissensformen Das propositionale Gegenstandswissen, das im schriftlichen Sprachgebrauch seine dominante Erscheinungsform findet, kann je nach Umständen des Erwerbs eine unterschiedliche pragmatische Qualität haben. Wenn es von einer individuellen Person im direkten Umgang mit widerständigen Gegebenheiten und Bezugsbereichen erarbeitet worden ist, dann wurzelt es sich bei dieser Person auf eine andere Art und Weise ein und ist von ihr auf eine andere Weise fruchtbar zu verwerten, als wenn es als vorgefertigtes Wissen aus Texten übernommen worden ist. Im letzteren Fall wird es von seiner Entstehungsgeschichte abgeschnitten und verliert seine Tiefendimension bzw. seine unmit-
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telbare Verbindung zum Handlungswissen. Das beeinträchtigt seine innere Stabilität, seine Memorierbarkeit, seine Präsenz und seine Verwertbarkeit in Handlungsprozessen, da es eine gelockerte personale Bindung hat. Daraus ergeben sich dann wiederum zwei wichtige kulturhistorische Konsequenzen, die einerseits kindliche Lernprozesse im Kontext des schulischen Schrift- und Wissenserwerbs betreffen und andererseits den Umgang von Kulturen mit dem in Büchern niedergelegten Gegenstandswissen. Die Psychologen Bruner und Olson haben betont, dass mit der Verschriftlichung der Sprache für die Menschen eine zweite Form der Praxis entstehe, die sie „Deuteropraxis" nennen.25 Wissen bilde sich nicht mehr im konkreten Umgang mit den Phänomenen in der Welt heraus, sondern werde weitgehend aus Büchern entnommen, wodurch eine Informationsverarbeitung eigenen Typs entstehe. Mit dieser Deuteropraxis werden Kinder in literalen Kulturen schon sehr früh in der Schule konfrontiert. Über ihre Lehrbücher erfahren sie eine ungeheure Ausweitung der möglichen Bezugsfelder ihres Denkens, aber zugleich ist mit dieser Erfahrungsform auch eine sehr reduzierte, weitgehend schon vorstrukturierte Gegenstandserfahrung verbunden. Das Wissen der Schüler weitet sich quantitativ gewaltig aus, aber es geht kaum noch aus dem persönlichen Umgang mit den Bezugsphänomenen bzw. aus persönlichen Handlungserfahrungen hervor und verwurzelt sich deshalb auch nicht mehr so in ihnen wie dasjenige Wissen, das sie über eigene Erfahrungen und Strukturierungsanstrengungen erworben haben. Kulturhistorisch fuhrt die Entstehung und Wahrnehmung von Buchwelten neben den realen Erfahrungswelten auch dazu, dass sich das Denken nicht mehr nur auf die Phänomene der empirischen Welt richtet, sondern auch auf die Phänomene, die über Texte in Erscheinung treten. Dabei können die Primärobjekte ganz in den Hintergrund treten und die Sekundärobjekte der Buchwelten dominant werden. Ein typisches Beispiel dafür ist Don Quichotte, bei dem die angelesene Welt wichtiger wird als die real gegebene. Bei der Übernahme von Wissen aus schriftlich fixierten Texten besteht immer die Gefahr, dass das Bewusstsein für die Differenz zwischen dem Gegenstand der Erkenntnis und der sprachlich objektivierten Erkenntnis verloren geht. Eine solche Gefahr besteht natürlich auch in oralen Kulturen, die in Form von Mythen und Epen ja auch eine bestimmte Deuteropraxis haben. Aber das Ausmaß des Wissens, das hier mit Hilfe von Erzählungen übernommen wird, hat längst nicht das Ausmaß des Wissens, das in literalen Kulturen aus fiktionalen Texten und aus Sachtexten übernommen wird. In literalen Kulturen bilden sich ganze Berufsgruppen heraus, die ihre Erfahrungen nicht aus der empirisch gegebenen Welt, sondern aus Büchern gewinnen. Für sie kann die reale Weltbegegnung dann eine Art Deuteropraxis zu der Primärpraxis aus der 25
J. Bruner/D.R. Olson, Symbole und Texte als Werkzeuge des Denkens, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. VII, 1978, S. 311.
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Texterfahrung werden. Die reale Welt hat dann Pech, wenn sie nicht zu der in Büchern objektivierten Welt passt. Die Tendenz, sich die Welt nicht durch die Verarbeitung eigener Erfahrungen zu erschließen, sondern durch die Aneignung der in Texten niedergelegten Wahrnehmungsweisen von Welt, hat Schopenhauer zu der bissigen Bemerkung inspiriert: ,J,esen ist ein bloßes Surrogat des eigenen Denkens."26 In literalen Kulturen haben sich nicht selten im Kontext aufklärerischer Bestrebungen Stilideale für die Wissenschaftssprachen bzw. für die Sprache der Philosophie entwickelt, deren Pointe darin besteht, dass die Sprache nur noch als so genannte Protokollsprache genutzt werden soll. 27 Durch einen solchen Sprachgebrauch sollen mit sprachlichen Mitteln außersprachliche Sachverhalte gleichsam direkt abfotografiert werden. Das bedeutet, dass beim Gebrauch einer solchen Protokollsprache alle Elemente und Strukturen eliminiert werden müssen, die einen personalen Bezug haben, die spezifische Denkweisen repräsentieren oder mit denen eine bestimmte heuristische Funktion verbunden ist. In ihr wären nur noch solche Sprachmittel akzeptabel, die der Darstellungsfunktion der Sprache im Sinne einer Widerspiegelungsfunktion dienlich sind. Es ist offensichtlich, dass Sokrates und Piaton im Rahmen ihrer Vorstellung von einem anzustrebenden philosophischen Wissen und ihrer Einwände gegen den Vorbildcharakter der schriftlich verwendeten Sprache das Wunschbild einer Protokollsprache konsequent abgelehnt hätten. In einer solchen hätten nämlich weder die dialogische Objektivierungs- und Mitteilungsform einen Platz noch dialektische Denkformen noch die heuristische Nutzung von Mythen und Gleichnissen. Im Rahmen einer Protokollsprache ließen sich zwar sehr klare Propositionen herstellen, aber beide würden die semantische Präzision dieser Propositionen wohl eher negativ als positiv bewerten. In den Sätzen der Protokollsprache würden die sprachlich hergestellten Schattenbilder nicht einen höheren Grad von Lebendigkeit bekommen, sondern vielmehr einen höheren Grad an Abstraktivität, der verhinderte, dass aus ihnen der Erkenntnisfunke überspringt, der das Licht der Erkenntnis in der Seele entzünden soll.
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A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Bd. 2, § 260, Werke, Bd. 5, S. 436. Vgl. R. Carnap, Über Protokollsätze, Erkenntnis, 3, 1932/33, S. 215-228. O. Neurath, Protokollsätze, Erkenntnis, 3, 1932/33, S. 204-214.
VI Das platonische Höhlengleichnis Piatons Darstellung [1. Das Höhlengleichnis. Beschreibung der Lage der Gefangenen] Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. - Ich sehe, sagte er. - Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. - Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. - Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? — Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! — Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? - Was sonst? - Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? - Notwendig. - Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meist du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? -Nein, beim Zeus, sagte er. - Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? - Ganz unmöglich. - Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstände, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde,
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sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? - Bei weitem, antwortete er. — [2. Der Vorgang des Hinaufsteigens zum Licht und das Wiederherabkommen in die Höhle] Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte? - Allerdings. - Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgangs schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. - Freilich nicht, sagte er, wenigsten nicht sogleich. - Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. - Wie sollte er nicht! - Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. - Notwendig, sagte er. Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Räume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. - Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. - Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen? - Ganz gewiß. - Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden?
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Das platonische Höhlengleichnis
Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben? — So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben. - Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte, würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? Ganz gewiß. - Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen? - So sprächen sie ganz gewiß, sagte er.
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Piaton, Politeia, 7. Buch, 514a-517a, Werke, Bd. 3, S. 224-226.
Rezeptionsmöglichkeiten für das Höhlengleichnis
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1. Rezeptionsmöglichkeiten für das Höhlengleichnis Aus mindestens zwei Gründen ist es recht problematisch, das platonische Höhlengleichnis als ein Zeugnis für eine narrative Sprachreflexion zu betrachten. Zum einen gibt es in dem Gleichnis selbst und in seiner kontextuellen Einbettung keine klar fassbaren Hinweise darauf, dass Piaton damit einen Beitrag zur Sprachreflexion leisten wollte. Zum anderen gibt es zwei sehr gefestigte Rezeptionstraditionen, die das Höhlengleichnis als Beitrag zur Veranschaulichung des platonischen Erziehungsgedankens (paideia) bzw. zur Veranschaulichung der so genannten platonischen Ideenlehre betrachten. Gleichwohl soll hier versucht werden, das Höhlengleichnis vor dem Hintergrund dieser beiden traditionellen Rezeptionsweisen auch als einen Beitrag zur Sprachreflexion anzusehen. Dafür lassen sich insbesondere zwei Gesichtspunkte geltend machen. Einerseits zeichnen sich gute Gleichnisse gerade dadurch aus, dass sie ein umfassendes Analogiepotenzial haben, das sich nicht auf diejenigen Bereiche begrenzen lässt, die ursprünglich von ihnen erläutert werden sollten bzw. die in ihrer Rezeptionsgeschichte dominant gewesen sind. Andererseits sind pädagogische und erkenntnistheoretische Problemzusammenhänge auf immanente Weise immer sehr eng mit sprachtheoretischen verknüpft, weshalb es nahe liegt, auch nach den sprachlichen Implikationen zu fragen, die mit den pädagogischen und philosophischen Intentionen des Höhlengleichnisses verbunden sind. So betrachtet kann dann das Höhlengleichnis deshalb auch als ein Wahrnehmungsgleichnis oder Mediengleichnis verstanden werden, das uns Aufschluss über die Grundbedingungen unserer Wahrnehmungsprozesse gibt. Beide Gesichtspunkte lassen sich in der Frage zusammenführen, ob das von Piaton entwickelte Bild der Höhle auch als eine Sprachhöhle zu verstehen ist. Dementsprechend wäre dann auch zu prüfen, ob die Einschränkungen des Wahrnehmens, des Wissens und Handelns, die das Leben der Gefangenen in der Höhle prägen, auch als Einschränkungen zu verstehen sind, die das Leben und das Wahrnehmen derjenigen prägen, die eine bestimmte Sprache benutzen. Weiterhin wäre zu fragen, welche Chancen es gibt, die jeweiligen Sprachhöhlen zu verlassen und welche Konsequenzen damit jeweils verbunden sind.
2. Der Erziehungs- und Bildungsgedanke Es liegt nahe, das Höhlengleichnis als Erziehungs- und Bildungsgleichnis zu verstehen, weil in der ganzen Politeia nicht nur Überlegungen zur optimalen Strukturierung eines Staatswesens und zur optimalen Ausbildung seiner Funktionsträger angestellt werden, sondern weil auch Sokrates selbst dieses Gleich-
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Das platonische Höhlengleichnis
nis als einen Beitrag zur Strukturierung der Bildungsproblematik gekennzeichnet hat. In ihm werde gezeigt, dass man die Erziehung nicht bloß als Anpassung an vorgegebene Normen verstehen dürfe oder als Vermittlung von Sachwissen, sondern vielmehr als eine Kunst, die die Umlenkung bzw. die Um· wendung der ganzen Seele bzw. des ganzen Denkens zum Ziele habe.2 Das Erziehungsgeschehen wird im Höhlengleichnis als ein Aufklärungsgeschehen dargestellt, das sich über mehrere Stufen erstreckt und das das Ziel verfolgt, Menschen aus der Gefangenschaft in einer inadäquaten Weltwahrnehmimg zu befreien. Deshalb ist der Erziehungsvorgang auch als ein entscheidender Erkenntnisvorgang zu betrachten, der zu einer umfassenden und tieferen Einsicht in die Struktur der Welt fuhren soll bzw. zur Aufdeckung von Wahrheit im Sinne der Erfassung des Gegebenen in seiner Unverborgenheit (aletheia). Gar nicht zur Debatte steht im Höhlengleichnis allerdings das Erziehungsziel, die Neugier der Gefangenen zu erregen oder ihnen Hilfen zu einer Selbstentfesselung zu geben. Es werden auch keinerlei Überlegungen dazu angestellt, wie man auch unter eingeschränkten Wahrnehmungsbedingungen die Erfassung der Welt optimieren und seinen Weltbezug adäquater und fruchtbarer gestalten kann.
Die Struktur der Höhlensituation Die Lebenssituation der Höhleninsassen ist durch eine doppelte Gefangenschaft geprägt. Die räumliche Beweglichkeit der Gefangenen ist durch die Art ihrer Fesselung so extrem eingeschränkt, dass sie nur über eine einzige räumliche Wahrnehmungsperspektive verfugen. Das, was sie in diesem Blickwinkel erfassen, müssen sie für die gegebene Realität halten, obwohl es formal nur ein Teil der Realität ist und inhaltlich nur eine abgeleitete Realität aus Schattenbildern. Aus der räumlichen Gefangenschaft resultiert eine geistige, da die Gefangenen keine Chance haben, durch eine Variation ihrer räumlichen Wahrnehmungsperspektiven den Stellenwert und die Bedingungszusammenhänge ihrer aktuellen Wahrnehmungsinhalte zu qualifizieren. Deshalb bleibt ihnen das Verhältnis von Original und Schatten, von Ursache und Wirkung sowie von originärer und abgeleiteter Realität verborgen. Sie erfassen auch nicht, was es heißt, die Welt mittels Zeichen zu objektivieren und medial gebrochen wahrzunehmen. Ein neuerer Interpret hat deshalb die Wahrnehmungssituation der Gefangenen auch mit der Wahrnehmungssituation von modernen Fernsehkonsumenten verglichen, die die im Fernsehen repräsentierte Welt ebenfalls nicht als abgeleitete Welt wahrnähmen.3 Kennzeichnend für die Situation der
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Piaton, Politeia, 518d, 521e, Werke, Bd. 3, S. 227, S. 229. Vgl. auch Th. Ballauff, Die Idee der Paideia, 1952. P. Kauder, Der Gedanke der Bildung in Piatons Höhlengleichnis, 2001. Vgl. U. Marquardt, Spaziergänge mit Sokrates, 2000, S. 27ff.
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Gefangenen ist weiter, dass sie offenbar gar kein genuines Bedürfiiis haben, ihre räumliche und damit auch ihre geistige Beweglichkeit zu vergrößern und das Gegebene in unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen und zu interpretieren und eben dadurch auch ihre eigene Lebenssituation adäquater zu verstehen. Insofern ließe sich dann das Höhlengleichnis auch als Perspektivitätsgleichnis betrachten.4 Die Wahrnehmungsbedingungen und Wahrnehmungsdispositionen der Höhleninsassen sind so, dass sie die von ihnen wahrgenommene Welt nicht als eine abgeleitete Welt wahrnehmen können bzw. ihre Lebenswelt nicht als eine Höhlenwelt. Nur derjenige, der sich in der Höhlenwelt bewegen kann und der die Außenwelt kennt, kann die Höhlenwelt als eine reduzierte Welt erkennen und wissen, dass die Wahrnehmungswelt der Gefangenen eine artifiziell erzeugte Schattenwelt ist, die dadurch entsteht, dass künstlich hergestellte Gegenstände (Gerätschaften, Bildsäulen) von einer künstlichen Lichtquelle beleuchtet und auf künstliche Weise durch das Vorbeitragen an der Mauer zur Erscheinung gebracht werden. Die Gefangenen haben es deshalb faktisch mit Erscheinungen von Originalen zu tun bzw. sogar nur von Erscheinungen von Erscheinungen von Originalen, ohne das allerdings durchschauen zu können. Bei dieser Konstellation stellt sich dem Kenner des platonischen Denkens dann natürlich gleich die Frage, ob nicht auch die Originale, die den Gefangenen nur mittelbar in Form von Schattenbildern zugänglich gemacht werden, auch ihrerseits wieder defizitäre Abbilder einer höheren Welt sind, die als Welt der Ideen nicht sinnlich, sondern nur geistig erfasst werden kann. Die Welt der Erscheinungen würde sich dann um eine weitere Stufe erhöhen. Die Schattenbilder an der Felswand wären dann Abbilder von Abbildern von Abbildern der ursprünglichen Ideen. So gesehen ließe sich dann der ganze Erziehungsprozess als ein desillusionierender Aufklärungsprozess verstehen, in dem stufenweise Zugang von der Welt der Schatten über die Welt der Abbilder zu der Welt der eigentlichen Realität gewonnen wird. Strukturell sind in diesem Aufklärungsprozess zwei Umstände von Bedeutung. Zum einen sind in der Höhle Scharlatane tätig, die den Gefangenen eine Schattenwelt als reale Welt vorgaukeln und die außerdem auch noch an der intellektuellen Niederhaltung der Gefesselten interessiert sind. Zum anderen gehen von den Betroffenen keinerlei eigenständige Anstrengungen aus, die den eigenen Aufklärungsprozess befördern. Alle Impulse dazu müssen von außen an sie herangetragen werden, denn sie müssen gewaltsam gezwungen werden, neue Erfahrungen zu machen und diese kognitiv zu bearbeiten. Die Gefangenen haben sich mit ihrer Gefangenschaft so arrangiert, dass sie ihren Zustand subjektiv gar nicht als defizitär wahrnehmen, sondern vielmehr als Normalzustand betrachten.
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Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 169-175.
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Die Entfesselung und der Aufstieg aus der Höhle Bezeichnend für die Struktur des Höhlengleichnisses ist nun, dass nicht in Erwägung gezogen wird, den Erziehungs- und Aufklärungsprozess mit Hilfe sprachlicher Mittel zu verwirklichen. Vielmehr wird so vorgegangen, dass der Aufzuklärende mit Hilfe eines gewissen Zwangs in eine neue Wahrnehmungssituation versetzt wird, die von ihm als Entfremdungssituation empfunden wird und die ihn immanent dazu zwingt, den einzelnen Wahrnehmungsinhalten einen neuen kognitiven Stellenwert zu geben. Er wird also praktisch dazu gezwungen, seine Situation metareflexiv zu interpretieren. Die erste Erziehungsmaßnahme ist also die, den Betroffenen aus seinen vertrauten Wahrnehmungsweisen herauszureißen und ihm den Glauben an die Stabilität und Vertrauenswürdigkeit seiner bisherigen Wissensinhalte und seiner bisherigen Sozialisation zu nehmen. Wenn Sokrates davon spricht, dass das Erziehungsgeschehen eine Umwendung der ganzen Seele impliziere, dann will er damit darauf aufmerksam machen, dass das bisherige Wissen und die bisherige Weltwahrnehmung keineswegs nur ergänzt werden kann, sondern dass beides gänzlich umstrukturiert werden muss. Um das kenntlich zu machen, wird sehr nachdrücklich darauf verwiesen, dass der mehr oder weniger gewaltsam in eine neue Wahrnehmungssituation gebrachte Gefangene sehr irritiert auf seine neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten reagiert. Er empfindet die neue Situation eher als belastend denn als befreiend, weil sein bisheriges Wissen seine innere Kohärenz verliert und er sich nicht mehr auskennt. Was er bisher für real gehalten hat, das stellt sich für ihn in der neuen Wahrnehmungsperspektive nun als abgeleitet und als defizitär heraus. Die zweite Stufe der pädagogischen Zwangsmaßnahmen besteht nun darin, dass der Entfesselte zwangsweise aus der Höhle geschleppt wird. Dadurch eröffnet sich ihm nicht nur ein neuer Interpretationsspielraum für Wahrnehmungen, sondern auch ein neuer Erfahrungsraum. Er wird dadurch in eine neue Welt gestellt, die nicht nur neue Wahrnehmungsgegenstände beinhaltet, sondern die auch durch ein neues Beleuchtungslicht für diese Gegenstände geprägt wird. Das stiftet dann natürlich eine weitere Verwirrung, weil neue Korrelationen hergestellt werden müssen. Zunächst kann der Entfesselte nur das wahrnehmen, was ihn am meisten an seine alte Erfahrungswelt erinnert, nämlich Schatten und Bilder. Erst allmählich lernt er es, auch die entsprechenden Originale wahrzunehmen und schließlich auch die Sonne, die als natürliche Lichtquelle alles sichtbar macht bzw. erzeugt. Der Prozess der Erziehung erscheint so als ein Vorgang, in dem der davon Betroffene mehr oder weniger zwangsweise in neue Situationen gestellt wird, die sich als Metasituationen zu den jeweils vorangehenden erweisen, weil die ersteren erst durch die folgenden überschaubar und interpretierbar werden. In
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den jeweiligen Metasituationen enthüllen sich die Wahrnehmungsinhalte der Ausgangssituationen in ganz bestimmten Hinsichten als vorläufig, defizitär und interpretationsbedürftig. Der Erziehungs- bzw. Entfesselungsvorgang erweist sich so gesehen als ein Ent-täuschungsvorgang in einem doppelten Sinne. Einerseits werden bestimmte Vorstellungsinhalte als Täuschungen erkannt. Andererseits werden die notwendigen Umorientierungsprozesse subjektiv aber nicht sofort als Befreiungsprozesse erlebt, sondern zunächst nur als Verwirrungsprozesse, die Sehnsüchte nach den alten Orientierungen und Geborgenheiten auslösen. In den jeweiligen Desillusionierungsprozessen muss zunächst nur der Kopf umgewendet werden, dann muss die Höhle verlassen werden und schließlich muss im Lichte der Sonne eine neue Welt wahrgenommen werden. Das ganze Bildungsgeschehen stellt sich damit als ein Geschehen gesteigerter Zumutungen dar, bei dem alles, was vorher fest und verlässlich erschien, nun zur Disposition gestellt wird oder zumindest in neuen Perspektiven wahrgenommen werden muss. Der Bildungsvorgang tritt deswegen als ein Geschehen progressiv gestaffelter Schwierigkeiten in Erscheinung, die subjektiv zunächst nur als Zumutungen erlebt werden können. Eigenartigerweise wird in diesem Zusammenhang gar nicht angedeutet, dass der Vollzug des Bildungsgeschehens auch als ein Befreiungsvorgang wahrgenommen werden könnte bzw. als ein Vorgang, der möglicherweise mit der Vorstellung einer Wiedererinnerung an ein ursprüngliches Wissen (anamnesis) in Verbindung steht. Ein solches Erlebnis könnte sich allenfalls retrospektiv ergeben.
Die Rückkehr in die Höhle Sokrates ist sich mit seinem Gesprächspartner einig, dass derjenige, der einmal eine höhere Stufe des Wissens erreicht hat, nicht mehr danach streben kann, auf seine alte Wissensstufe zurückzukehren, selbst wenn er für den Verbleib auf seiner neuen Wissensstufe Opfer bringen muss. Außerdem wird erwogen, was geschehen würde, wenn der Befreite zu seinen früheren Mitgefangenen in die Höhle zurückkehrte und diesen von seinen neuen Erfahrungen berichtete. Diese Erwägungen sind nun allerdings pragmatisch gesehen gar nicht so hypothetisch, wie sie im Höhlengleichnis theoretisch in Betracht gezogen werden, denn mit den diesbezüglichen Überlegungen wird zugleich die soziale Rolle der Wissenden in einer Gesellschaft von Unwissenden angesprochen. Wenn sich im Bildungsgeschehen jemand nicht nur neues Wissen angeeignet hat, sondern zugleich auch seine ganze Seele umgewendet hat, dann kann er nicht mehr in der alten Weise leben, sofern er seine innere Kohärenz und Identität nicht verlieren will. Sokrates selbst ist das beste Beispiel dafür, dass der Aufrichtige auch nicht durch den drohenden Tod zur Verleugnung seiner Einsichten gebracht werden kann. Die Überlegungen zu der möglichen
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Rückkehr des Wissenden in die Höhle sowie zu den Chancen, die Unwissenden an den neuen Einsichten teilhaben zu lassen, können deshalb auch als illustrierende Vorgriffe auf das Schicksal von Sokrates verstanden werden. Bemerkenswert an den hypothetischen Überlegungen zu den Chancen, die ehemaligen Mitgefangenen über ihre Höhlensituation und ihren Wissensstand aufzuklären, ist, dass diese von vornherein als sehr gering eingeschätzt werden. Die Zurückgebliebenen wollen sich nicht von ihren habituellen Wahrnehmungsweisen lösen, sie wollen nicht aus der Welt ihrer bloßen Meinungen herauskommen und sie wollen auch nicht von dem Rückkehrer medienkritisch aufgeklärt werden. Ihnen wird sogar eine aggressive Reaktion unterstellt. Sie würden den Rückkehrer nicht nur auslachen und glauben, dass dieser sich bei seinem Ausflug die Augen verdorben hätte, sondern würden ihn sogar umzubringen versuchen, wenn sie nur könnten. In ihrer räumlichen und geistigen Unbeweglichkeit erscheint den Gefesselten der Bewegliche im wortwörtlichen Sinne als ein Ver-rückter. Diese erwogenen Reaktionen sind nun auch insofern aufschlussreich, als das aufklärerische Erziehungsgeschehen doch eine etwas pessimistische Einfärbung bekommt, von der dann auch die Sprache als mögliches Aufklärungsmittel mit betroffen würde. Die Gefangenen kennen kein genuines Neugierverhalten und wollen von sich aus ihre Wahrnehmungssituation nicht transzendieren und ihr Wissen nicht verbessern. Dem aufklärerischen Gespräch mit den Gefangenen wird deshalb keine große Chance gegeben. An der Borniertheit und der Lernunlust der Gefangenen sowie an der Unumkehrbarkeit ihrer Höhlensozialisation scheint jede sprachlich fundierte Lehrkunst zu scheitern. Es wird nicht einmal erwogen, ob der Rückkehrer einen erfolgreichen aufklärerischen Dialog mit den Höhlenbewohnern hätte aufnehmen können bzw. ob er seine eigene Geschichte als aufklärerische Parabel didaktisch hätte einsetzen können.5 Dadurch wird der allgemeine Schluss nahe gelegt, dass die Lernunwilligen nur durch eine nicht-sprachliche Einflussnahme bzw. durch die Herstellung neuer Situationen zu einer anderen Weltwahrnehmung gebracht werden können. Allenfalls wäre vielleicht noch einzuräumen, dass diejenigen, die schon bereit sind, platonische Texte zu lesen, mit sprachlichen Mitteln zu einer neuen Weltsicht gebracht werden könnten. Die im Höhlengleichnis durch die Gefangenen exemplifizierte menschliche Neigung, das einmal erworbene Wissen nicht mehr in Frage zu stellen und für sakrosankt zu erklären, um sich nicht immer wieder neu umorientieren zu müssen, hat den Konstruktivisten Heinz von Foerster dazu inspiriert, ein altes Sprichwort zu korrigieren. Es dürfe nicht mehr heißen, dass unter den Blinden
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Vgl. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 1996, S. 88ff.
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der Einäugige König sei, sondern vielmehr „unter den Blinden komme der Einäugige ins Irrenhaus."6
Die Struktur des Bildungsgeschehens Im Höhlengleichnis wird die hierarchische Stufung des Wissens bzw. die Hierarchie von Original, Bild und Schattenbild sehr klar akzentuiert. Allerdings gibt sich diese Stufung nur für den Außenstehenden klar zu erkennen. Für die Betroffenen handelt es sich bei dem, was sie auf den einzelnen Stufen wahrnehmen, immer um das ganze Wissen bzw. um die Wahrnehmung der ganzen Realität. Erst auf der nächst höheren Stufe können sie den Stellenwert ihres früheren Wissens richtig einschätzen. Wenn man sich in die Wahrnehmungsperspektive des Entfesselten versetzt, dann lässt sich dessen Verwirrung recht gut verstehen. Er muss nämlich immer wieder neu lernen, dass das, was er bisher für das Ganze angesehen hat, gar nicht das Ganze ist. Eine solche Erfahrung macht dann auch verständlich, dass die Zerstörung von Gewissheiten Aggressionen auslösen kann. Von den Betroffenen wird der Eintritt in eine andere Welt zunächst immer als ein Eintritt in eine fremde Welt erfahren und damit auch als eine Verlustgeschichte im Hinblick auf die vertraute Welt. Als eine Bereicherungsgeschichte kann der Eintritt in eine neue Welt erst dann empfunden werden, wenn die neue Welt als eine hierarchisch höhere Welt erfasst werden kann, in der auch die alte Welt noch einen bestimmten Stellenwert bekommt. Das Problem ist nur, dass die neue Welt zunächst immer nur als eine andere Welt in Erscheinung tritt, die im Höhlengleichnis z.B. erst nach und nach als eine höhere Welt wahrgenommen werden kann. Außerdem ist im Prinzip natürlich auch nicht ausgemacht, dass die Erfahrung einer anderen Welt immer die Erfahrung einer höheren Welt sein muss und nicht die einer konkurrierenden Welt. Solange es klare Vorstellungen darüber gibt, welches Wissen hierarchisch höher oder niedriger einzustufen ist, solange ist es leicht, bestimmte Meinungen als zutreffende Urteile oder als Vorurteile zu qualifizieren. Die Frage, wie man erkennen kann, dass anderes Wissen auch ein hierarchisch höheres Wissen ist, wird im Höhlengleichnis weder problematisiert noch beantwortet. Das Bild der Höhle wirkt so suggestiv, dass diese Frage eigentlich gar nicht aufkommen kann. Nur indirekt wird auf diesen Problemzusammenhang aufmerksam gemacht, da Überlegungen angestellt werden, welche Konflikte sich ergeben, wenn der Belehrte die Rolle des Belehrenden übernehmen würde. Popper hat sehr nachdrücklich auf das Problem der Legitimierung von Wissen, Wissensstufen und Belehrungspostulaten aufmerksam gemacht und 6
H. v. Foerster, Entdecken oder erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen?, in: H. Gumin (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, 1985, S. 39.
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Platon sogar zu einer Art Vorläufer von modernen Ideologen und totalitären Dogmatikern gemacht. Er sieht in Piatons Ideenlehre und seinem Erziehungskonzept die Gefahr eines Essentialismus, in dem das Ziel des Aufklärungsgeschehens immer schon feststeht und nicht mehr in das Aufklärungsgeschehen selbst mit einbezogen wird.7 Wenn man sein Denken so orientiert, dann kommen Fragen auf, denen im Höhlengleichnis selbst keine explizite Aufmerksamkeit geschenkt worden ist: Von wem und warum sind die Höhlenbewohner gefesselt bzw. in ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten eingeschränkt worden? Zu welchem Zweck wird das Projektionstheater für die Gefangenen aufgeführt? Darf, soll oder muss man Menschen befreien, die sich gar nicht gefangen fühlen? Wer legt fest, was als höchstes Wissen bzw. als oberstes Ziel der Erkenntnis anzusehen ist? Welche Rollen spielen das situative Moment und die sprachliche Einflussnahme im Bildungsgeschehen? Wie müssen die Betroffenen auf Lernprozesse vorbereitet und in ihnen unterstützt werden? Im Denkrahmen dieser Fragestellungen wird die Rolle der Sprache bei der Realisierung von Aufklärungsprozessen natürlich sehr viel wichtiger als in dem Denkrahmen, in dem das Höhlengleichnis wohl ursprünglich konzipiert worden ist. In einer solchen Wahrnehmungsperspektive erscheint das Höhlengleichnis als ein Text, in dem zwar keine expliziten Sprachreflexionen angestellt werden, aber durch den in hohem Maße Anlass gegeben wird, die Funktion der Sprache in Aufklärungs- und Wissenserwerbsprozessen zu bedenken. Um solche Überlegungen auf fruchtbare Weise anstellen zu können, ist es vorteilhaft, sich vorab genaue Rechenschaft darüber abzulegen, welche Erhellungsfunktionen das Höhlengleichnis für die Erläuterung der Erkenntnis- und Ideenproblematik hat.
3. Die Erkenntnis- und Ideenproblematik Wenn man das Höhlengleichnis als eine Exemplifizierung der platonischen Erziehungs- und Bildungsvorstellung ansieht, dann liegt es natürlich auch nahe, es als eine Veranschaulichung des platonischen Erkenntniskonzeptes anzusehen, in der die Ideenfrage eine ganz zentrale Rolle spielt. Nun ist es allerdings ein Problem, dass die so genannten Ideen in den Überlegungen von Sokrates und Platon immer wieder eine zentrale Rolle spielen, dass es aber keine ausgearbeitete Ideenlehre bei ihnen gibt und nach Lage der Dinge auch nicht geben kann. Ideen gehören für Platon zu den Prämissen von Erkenntnissen und werden in allen Denkprozessen immer schon vorausgesetzt, weshalb sie auch nur in einem sehr begrenzten Sinne theoriefähig sind. Gleichwohl hat
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K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1980 6 , Bd. 1, S. 43ff.
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er aber in Form von Bildern, Vergleichen und Beispielen immer wieder sein Ideenkonzept zu verdeutlichen versucht.
Das Ideenkonzept Eine Idee ist für Piaton kein Gegenstand sinnlicher Erfahrung, sondern vielmehr die Voraussetzung dafür, über Gegenstände der Erfahrung sinnvoll nachdenken zu können. Ideen ermöglichen es, Einzelgegenstände kraft Ähnlichkeit als zusammengehörig zu betrachten und damit über sie auch allgemein gültige Aussagen machen zu können. Man kann es natürlich ablehnen, Ideen eine selbstständige ontische Existenz zuzubilligen, aber man kann es nicht ablehnen, ihre Ordnungsfunktionen im Denken und Sprechen zu nutzen. Wenn wir auf Ideen verzichteten, dann könnten wir die uns begegnende Welt nicht mehr kategorial ordnen und zum Gegenstand von Aussagen bzw. von propositionalem Wissen machen. In einem ersten Orientierungsversuch lässt sich deshalb sagen, dass Ideen funktional gesehen ungefähr dem entsprechen, was wir heute auch mit dem Terminus Begriff zu objektivieren versuchen. Als Begriffe bezeichnen wir kognitive Denkmuster, mit deren Hilfe wir individuelle Einzelphänomene, die bestimmte Ähnlichkeiten zueinander aufweisen, nach Mengen zu ordnen, die jeweils einen bestimmten Umfang und Inhalt haben. In den nominalistischen Denktraditionen hat man deshalb Ideen auch als bloße Vorstellungen oder Denkhypothesen verstanden, die man aus bestimmten methodischen Gründen setzt, um die uns begegnende Welt kategorial zu ordnen und dadurch auch besser beherrschbar zu machen. Diese rein funktionale Sichtweise, die Ideen mehr oder weniger zu hypothetischen menschlichen Konstrukten macht, kann Ideen deshalb auch zu rein sprachlichen Phänomenen erklären, nämlich zu Ordnungsmustern, die sich in einem Sprachsystem als konventionalisierte Begriffsmuster verfestigt haben, die sich aber im Prinzip methodisch variieren lassen, weil sie aus ganz bestimmten pragmatischen Differenzierungsbedürfnissen hervorgegangen sind. Ein solches Verständnis von Ideen als methodischen Konstrukten für pragmatische Zwecke entspricht aber nicht dem platonischen Denkansatz. Hier werden Ideen vielmehr zu den genuinen Bestandteilen der faktisch gegebenen Welt gerechnet, obgleich sie natürlich auf einer anderen ontischen Ebene anzusiedeln sind als die sinnlich fassbaren Einzelgegenstände. Seit Aristoteles ist das Ideenkonzept Piatons deshalb immer wieder mit Hilfe der so genannten Zweiweltenlehre veranschaulicht worden. Danach würden dann die Ideen als rein geistige Entitäten das eigentliche Sein bzw. die eigentliche Welt repräsentieren, aus der die sinnlich direkt erfahrbaren Dinge als Welt zweiter Ordnung bzw. als sinnliche Erfahrungswelt hervorgingen. Wenn man im Rahmen dieses Konzeptes Ideen mit Begriffen parallelisiert,
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dann ist es ausgeschlossen, Begriffe als historisch entstandene einzelsprachliche Denkmuster anzusehen. Allenfalls wäre es denkbar, Begriffe als universalsprachliche Kategorien zu betrachten, die als ideale Denkmuster quer durch alle Einzelsprachen Gültigkeit haben müssten, oder als Ordnungsmuster einer idealen Wissenschaftssprache, deren Struktur direkt mit der des Seins korrespondierte. Während sich funktional und pragmatisch verstandene Begriffe problemlos auf normative oder deskriptive Weise definieren lassen, ist das bei universalistisch verstandenen Begriffen kaum möglich. Man würde dann nämlich zugleich auch den Anspruch erheben, Ideen definieren zu können, was wiederum implizierte, Ideen zu einem Erfahrungsgegenstand unter anderen Erfahrungsgegenständen zu machen. Gerade das aber entspräche wohl nicht dem Ideenkonzept Piatons, insofern bei ihm die Ideen die grundlegende Funktion haben, die Erfahrungsgegenstände des Denkens allererst zu konstituieren.
Das Höhlengleichnis als Ideengleichnis Immer wieder ist geltend gemacht worden, dass Piaton mit Hilfe des Höhlengleichnisses sein Ideenkonzept habe veranschaulichen wollen. Wenn man diese Rezeptionsperspektive einnimmt, dann ist festzuhalten, dass durch das Höhlengleichnis sehr nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht wird, dass man die sinnlich fassbaren Wahrnehmungsinhalte nicht vorschnell als originäre Realität bzw. als die eigentliche Welt betrachten darf. Denn diese Wahrnehmungsinhalte sind möglicherweise nur abgeleitete Inhalte, deren Entstehungsgeschichte man wegen seiner eigenen Wahrnehmungsbedingungen noch nicht vollständig überblicken kann. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Einschränkung der räumlichen Beweglichkeit von Menschen zugleich auch zu einer Einschränkung ihrer geistigen Beweglichkeit führt, da die Inhalte aus einer Wahrnehmungsperspektive nicht mit denen aus anderen verglichen werden können. Nur derjenige, der sich räumlich frei bewegen kann, hat die Chance, den ontischen Stellenwert von sinnlichen Wahrnehmungen kognitiv zu qualifizieren und die Welt der Schatten, der Bilder und der Originale voneinander zu unterscheiden. Da Ideen nun von Piaton nicht als sinnlich wahrnehmbare Phänomene angesehen werden, kann er nur kraft Analogie auf sie aufmerksam machen. Wie die Schatten auf die Schatten werfenden Gegenstände und wie Bilder auf Originale zurückverweisen, so verweisen vergängliche konkrete Gegebenheiten in der realen Welt auch auf die sie bedingenden ewigen Primärgegebenheiten zurück bzw. auf die Ideen oder die Erstursachen. Da Piaton Ideen als Entitäten der nicht-sinnlichen Welt betrachtet, können sie natürlich auch nicht direkt sinnlich erfasst, sondern nur über die Brücke von Analogien geistig erschlossen werden. Das bedeutet, dass alle empirisch fassbaren Gegebenheiten letzt-
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lieh nur Zeichen der unsinnlichen Ideen sind. Im christlich gewendeten Platonismus hat man deshalb auch die Ideen als Gedanken Gottes vor der Schöpfung von konkret fassbaren Gegenständen verstanden. Wenn es nun die Aufgabe von menschlichen Erkenntnisbemühungen ist, die Erscheinungswelt im Hinblick auf die hinter ihr liegende Ideenwelt zu durchschauen, dann stellt sich natürlich die Frage, wer oder was die Macht besitzt, die Menschen von ihrer natürlichen Bindung an die Sinnenwelt und die Erscheinungswelt zu lösen. Der Zugang zur Ideenwelt setzt eine geistige Beweglichkeit voraus, die sich nicht immer in Form des philosophischen Staunens von selbst einstellt, sondern die zuweilen auch in Form von schmerzhaften Eingriffen von außen provoziert werden muss. Durch das Höhlengleichnis wird exemplifiziert, dass Menschen die Schutzhöhle ihrer sinnlichen Gewissheit nicht gerne verlassen, dass sie diesen Weg aber gehen müssen, wenn sie Kontakt zu der dahinter liegenden eigentlichen Welt bekommen sollen bzw. wenn sie wissen wollen, was das Bedingende und was das Bedingte ist. Die Deutung des Höhlengleichnisses als Aufstieg aus der sinnlichen Welt in die Ideenwelt erscheint plausibel, aber sie lässt das Problem noch offen, wer oder was die Macht und die Berechtigung dazu hat, den Menschen die Fesseln der Sinneserfahrungen abzunehmen und sie aus der Höhle der Erscheinungen in die eigentliche Welt hinauszufuhren. Der Rolle eines solchen Katalysators im Erkenntnisprozess kann man natürlich einem konkreten Erzieher oder Philosophen zuordnen. Bei der Suche nach einer solchen katalytischen Instanz und Kraft lässt sich aber auch auf eine Vorstellung verweisen, auf die im Zusammenhang mit der Schriftkritik Piatons und der Frage nach den Objektivierungsformen wahren Wissens schon einmal aufmerksam gemacht worden ist. Im Siebenten Brief verweist Piaton etwas optimistisch darauf, dass wahre Erkenntnis nach einer intensiven Anstrengung „wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele sich erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung erhält. " 8 Eine katalytische Funktion für die Gewinnung von wahrem Wissen kann neben der individuellen Denkanstrengung vielleicht auch die Idee des Guten haben, welche in der Welt der platonischen Ideen offenbar eine gewisse Sonderrolle spielt.
Die Idee des Guten Die Idee des Guten wird im Vor- und Nachfeld des Höhlengleichnisses intensiv diskutiert. Deshalb geht Wieland auch davon aus, dass das Höhlengleichnis ebenso wie das vorangehende Sonnen- und Liniengleichnis hauptsächlich dazu bestimmt sei, die Sonderstellung der Idee des Guten mit den Mitteln bildhafter 8
Piaton, Siebenter Brief, 3 4 l d , Werke, Bd. 1, S. 317.
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Rede darzustellen. 9 Dafür spricht auch, dass die Lichtmetaphorik, die im Höhlengleichnis eine ganz besondere Rolle spielt, immer wieder mit der Idee des Guten verbunden worden ist. Die Korrelation der Idee des Guten mit der Licht-, aber auch mit der Fruchtbarkeitsmetaphorik soll verdeutlichen, dass die Idee des Guten nicht nur eine Idee unter anderen Ideen ist, sondern eine Idee, der eine besondere Erschließungsfunktion für andere Ideen zukommt. Deshalb wird sie im Kontext des Höhlengleichnisses auch durch das Bild der Sonne exemplifiziert. Die Sonne hat nämlich ähnlich wie die Idee des Guten eine Doppelnatur. Einerseits ist die Sonne ein sichtbares Phänomen unter anderen sichtbaren Phänomenen. Andererseits ist sie aber auch ein Licht gebendes Phänomen, durch das andere Phänomene erst sichtbar werden bzw. durch dessen Licht und Wärme andere Phänomene sich erst entfalten können. Und eben diese Funktion kann nun auch der Idee des Guten zugebilligt werden. Die Doppelnatur der Sonne und der Idee des Guten wird im Höhlengleichnis auf sehr subtile Weise stufenweise enthüllt. Es wird verdeutlicht, dass Wahrnehmungsprozesse nicht adäquat beschrieben werden können, wenn man sie nur als zweistellige Relationsverhältnisse zwischen den Wahrnehmungssubjekten auf der einen Seite und den Wahrnehmungsobjekten auf der anderen Seite betrachtet. Vielmehr sind sie als dreistellige Relationsverhältnisse anzusehen, in denen ein dritter Faktor, eben die Sonne oder die Idee des Guten, sicherstellt, dass die Wahrnehmungssubjekte nur unter erhellten bzw. erhellenden Bedingungen einen adäquaten Kontakt zu ihren jeweiligen Wahrnehmungsobjekten bekommen. Diese Relationsstruktur wird im Höhlengleichnis in verschiedenen Verfahrensschritten exemplifiziert. Zunächst gibt es in Form des Höhlenfeuers eine künstliche Sonne. Diese macht für die Höhleninsassen etwas sichtbar, aber das sind nicht die Phänomene selbst, sondern nur deren Fähigkeit, bestimmte Schatten zu werfen. Zwar kann im Prinzip aus der Gestalt der Schatten auf die Gestalt der Schattengeber zurück geschlossen werden, aber es ist offensichtlich, dass bei diesen Rekonstruktionen zwangsläufig bestimmte Eigenschaften der Schattengeber unter den Tisch fallen müssen. Als der Gefangene entfesselt wird und nun neben den Schatten auch die Schatten werfenden Gegenstände im Lichte des Höhlenfeuers sieht, weiten sich seine Wahrnehmungsmöglichkeiten natürlich gewaltig aus. Gleichwohl bleibt seine Realitätswahrnehmung aber immer noch sehr beschränkt. Das Höhlenfeuer beleuchtet Artefakte, aber keine Originale. Es selbst ist ein künstliches Licht, das im Gegensatz zum natürlichen Licht der Sonne nicht dazu beitragen kann, natürliche Dinge entstehen und wachsen zu lassen.
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Vgl. Piaton, Politeia, 504a ff., 517b ff., Werke, Bd. 3, S. 117, S. 226. W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982, S. 159ff., S. 197f.
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Diese Situation ändert sich grundlegend, als der Gefangene in die Außenwelt kommt. Dort sieht er zunächst gar nichts, nämlich weder die von der Sonne erhellte Welt noch die Sonne als erhellendes Phänomen. Erst allmählich lernt er es, nicht nur die von der Sonne erzeugten Schattenbilder zu sehen, sondern auch die von der Sonne erhellten und bedingten Dinge sowie die Sonne selbst. Wenn man die Sonne mit der Idee des Guten analogisiert, dann ergibt sich, dass die Sonne und die Idee des Guten einerseits Phänomene unter anderen Phänomenen sind, dass sie andererseits aber auch die Prämissen dafür sind, dass andere Phänomene überhaupt in Erscheinung treten können. Der Aufstieg des Gefangenen aus der Höhle der Artefakte und Schattenbilder in die Welt der natürlichen Dinge im Lichte der Sonne ist deshalb auch nicht als ein Vorgang der sukzessiven Präzisierung von schon vorhandenen Erkenntnissen zu verstehen, sondern vielmehr als ein Sprung in eine qualitativ andere Welt von Erkenntnisinhalten. Dieser Sprung ist gleichsam ein Sprung in ein anderes Leben, in dem Denkhorizonte eröffnet werden, die nicht wieder vergessen werden können. Der Aufstieg aus der Höhlenwelt in die Sonnenwelt impliziert auch ein ganz besonderes Wahrheitsverständnis. Heidegger hat das Höhlengleichnis deshalb auch zum Anlass genommen, das traditionelle abendländische Wahrheitsverständnis zu relativieren, das von der Vorstellung der Korrespondenz des Seins mit den Aussagen über das Sein geprägt ist. Er möchte auf ein anderes Verständnis des Phänomens Wahrheit aufmerksam machen, das er mit dem Begriff der Unverborgenheit (aletheia) thematisiert. Für ihn erzählt das Höhlengleichnis die Geschichte einer stufenweisen Aufhebung von Verschleierungen des eigentlichen Seins. In dem vorgeführten Bildungsgang (paideia) werde nach und nach die Essenz der Dinge hinter ihrer vordergründigen Erscheinungsweise sichtbar gemacht. Die Sonne als Repräsentation des Guten sei der Garant dafür, dass das in der Höhle noch verborgene Sein als Unverborgenes oder als Wahrheit sichtbar werde bzw. als „Ur-Sache",10 Auf diese Weise löst Heidegger den Wahrheitsbegriff sehr konsequent von sprachlichen Aussagen und bezieht ihn stattdessen auf Wahrnehmungen und Einsichten, die nicht unbedingt einer bestimmten sprachlichen Repräsentation bedürfen. Wenn man das Verlassen der Höhle zugleich als den Übergang in eine höhere Welt ansieht, dann hat das natürlich auch Rückwirkungen auf die Interpretation der Überlegungen zu der möglichen Rückkehr des Gefangenen in die Höhle. Die Diskussion darüber kann eigentlich nur noch in einem ethischen Denkhorizont geführt werden, da eine Rückkehr in die Welt der Täuschungen in der Regel nicht als ein erstrebenswertes Ziel angesehen wird. Hinter den Spekulationen über die Rückkehr des Gefangenen in die Höhle steht ein relevantes Problem. Darf der Philosoph, der sich mit fremder Hilfe und eigener Anstrengung zu der Welt der Ideen emporgearbeitet hat und der gelernt hat, 10
Vgl. M. Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit, 1954 2 , S. 39.
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die Welt mit Hilfe der Idee des Guten zu sehen, als Staatsmann und Erzieher wieder in die defizitäre Höhlenwelt herabsteigen, um denjenigen die Fesseln abzunehmen, die sich gar nicht gefesselt fühlen und die keinerlei Bedürfnisse haben, in die Welt der Sonne bzw. in die Welt Ideen aufzusteigen? Die dynamische Grundstruktur des Höhlengleichnisses macht deutlich, dass die Welt adäquaten Wissens nicht direkt erreichbar ist, sondern nur auf dem Wege der Überwindung eines inadäquaten Vorwissens und dass das eigentliche Wissen nicht in reiner Kontemplation zu erreichen ist, sondern nur durch katalytisch wirksame Erfahrungen und durch subjektive Anstrengungen bei der Überwindung von Schwierigkeiten. Die Sehkraft bzw. die Erkenntniskraft des Menschen wird in dem Höhlengleichnis immer schon vorausgesetzt. Alles konzentriert sich auf die Frage, wie diese Disposition durch fremde Hilfe und durch eigene Anstrengungen bei der Überwindung von inadäquatem Vorwissen zu nutzen ist. Das unzulängliche und verzerrte Vorwissen wird dann aber nicht in der Weise eliminiert, dass es später einfach von dem adäquaten Wissen abgezogen wird, sondern so, dass es auf kontrollierte Weise einen bestimmten Stellenwert in dem späteren Wissen bekommt.
4. Das Höhlengleichnis als Sprachgleichnis Obwohl Piaton das Höhlengleichnis sicherlich nicht als Sprachgleichnis konzipiert hat, macht es seine Struktur und Thematik doch möglich, es als ein solches zu verstehen. Dabei darf allerdings auch nicht vergessen werden, dass Gleichnisse wie schon erwähnt immer eine gewisse Ambivalenz haben. Einerseits erschließen und strukturieren uns Gleichnisse Aspekte von Sachverhalten, die uns sonst nicht so klar ins Auge fallen. Andererseits können sie über ihre Analogieangebote unser Denken aber auch so kanalisieren, dass wir aus den von ihnen eröffneten Wahrnehmungsperspektiven nicht mehr leicht herauskommen. Anders ausgedrückt: Gleichnisse können uns aus der Höhle unserer bisherigen Wahrnehmungsweisen herausführen, aber sie können uns auch durch die Sogwirkungen der von ihnen angebotenen Analogien in neue Wahrnehmungshöhlen hineinführen. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir das Höhlengleichnis Piatons als Sprachgleichnis rezipieren. Welche offensichtlichen und verdeckten Analogien gibt es nun zwischen der Gefangenschaft der Menschen in der Höhle Piatons und der Gefangenschaft der Menschen in der Höhle der Sprache bzw. in der Höhle einer bestimmten Sprache? Wie lässt sich die sprachliche Höhlensituation in der Außen- und in der Binnenperspektive beschreiben? Welche theoretischen Konzepte lassen sich verwenden, um solche Höhlensituationen überhaupt erfassen, strukturieren und beurteilen zu können? Welchen Sinn kann die Rede von einer sprachlichen Gefangenschaft überhaupt haben? Welche Spielräume haben wir beim Gebrauch der Muttersprache und wie verändern sich Spielräume
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beim Erlernen von Fremdsprachen? All diese Fragen lassen sich natürlich nicht erschöpfend beantworten, aber sie zeigen doch an, auf welche Problemzusammenhänge man stößt, wenn man das Höhlengleichnis als Sprachgleichnis betrachtet.
Die Gefangenschaft in der Sprache Im Denkhorizont der neuzeitlichen Erkenntnis- und Sprachkritik, in dem immer wieder vom Anrennen des Denkens gegen die Grenzen der Sprache die Rede ist und in dem die Philosophie oft nur als Sprachkritik verstanden worden ist, liegt es natürlich nahe, von der Gefangenschaft des Menschen in der Höhle der Sprache zu sprechen. Dabei kann man dann sowohl an die Gefangenschaft des menschlichen Wahrnehmens und Denkens in einer bestimmten Einzelsprache denken als auch an die Gefangenschaft von Denkprozessen in konventionalisierten Zeichensystemen aller Art. Das ist durch bestimmte Bilder immer wieder auf fast suggestive Weise thematisiert und exemplifiziert worden. So kann man beispielsweise die Sprache als eine Art Brille ansehen, die alle Wahrnehmungsinhalte einfarbe bzw. mit einem bestimmten Brechungsindex versehe. Solche Sprachbrillen ließen sich dann zwar austauschen, aber auf sie könne nur um den Preis der Diffusität oder gar der Blindheit verzichtet werden. Oft ist auch das Leben in einer Sprache mit dem Leben in einer Gefängniszelle verglichen worden. Die einzelnen Gefängniszellen ließen sich zwar wechseln, aber aus dem Gefängnis selbst könnten wir dennoch nicht hinauskommen. Die Bindung des Wahrnehmens und Denkens an die Leine oder die Fesseln einer Sprache könne zwar im Prinzip mit großen Freiheitsspielräumen verbunden sein, aber immer wieder ist bezweifelt worden, dass man eine solche Bindung grundsätzlich beseitigen könne. Da unser begriffliches Denken immer an sprachliche Formen gebunden sei, fänden wir offenbar keinen archimedischen Punkt, von dem aus wir das Verhältnis von Denken und Sprache unvoreingenommen beschreiben könnten. Als Menschen vermöchten wir die Funktionen der Sprache für das Denken nicht in einer göttlichen Perspektive vom Sehepunkt Nirgendwo sprach- und zeichenfrei ins Auge zu fassen. Die Frage nach der Gefangenschaft des Denkens und Wahrnehmens in der Sprache hat eine lange kulturhistorische Vorgeschichte, die deutlich macht, dass dieses Problem nicht immer aktuell war und dass es dementsprechend auch nicht zu allen Zeiten nahe lag, das Höhlengleichnis als Sprachgleichnis zu verstehen. Eine solche Rezeption wird erst aktuell, wenn man sensibel dafür geworden ist, dass die Mittel des Denkens eine vorstrukturierende Wirkung auf die Inhalte und Ergebnisse des Denkens bzw. auf die Vorstellungsbildung haben. Da dieses mediale Bewusstsein bzw. diese sprachtheoretische Sensibili-
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tät dem antiken Denken noch recht fremd war, lag es diesem sicher auch noch recht fern, das Höhlengleichnis als Sprachgleichnis zu verstehen. Zumindest das klassische griechische Denken war durch ein großes Sprachvertrauen geprägt, das nicht dazu motivierte, die Sprache als eine eigenständige, Erkenntnis hemmende oder gar Erkenntnis verfälschende Macht zu problematisieren. Die Sprachkritik beschränkte sich in der Regel auf die Kritik des unangemessenen Gebrauchs sprachlicher Formen, aber richtete sich nicht auf das Problem, dass die Sprache ein Medium sein kann, das dem Wahrnehmen und Denken Fesseln auch anzulegen vermag. Als sich in der Neuzeit die Erkenntniskritik auf die Sprachkritik ausgedehnt hatte, wurde insbesondere Aristoteles von Steinthal der Vorwurf der Sprachvergessenheit gemacht. Er habe bedenkenlos am Leitfaden der Sprache philosophiert und nicht stringent zwischen Sachebene und Sprachebene unterschieden. „Indem nun Aristoteles mit seinem Denken so völlig unter der Herrschaft der Sprache steht, dass er meint, in jedem Worte müsse nicht nur ein Begriff, sondern auch eine Sache sein: hat er von der Sprache als solcher kein Bewusstsein; und es begegnet ihm wol, dass er meint, bei den Sachen Metaphysiker zu sein, während er wie ein Lexikograph Wortbedeutungen bestimmt'." Es sei nun dahingestellt, ob diese scharfe Kritik, die Aristoteles zu einem Gefangenen des grammatischen und lexikalischen Systems der griechischen Sprache deklariert, berechtigt ist oder nicht. Man kann nämlich im Rahmen des hermeneutischen und phänomenologischen Bewusstseins der Neuzeit auch mit Wieland die These vertreten, dass es methodisch durchaus zulässig ist, philosophische Reflexionen am Leitfaden praktisch bewährter Sprachmuster beginnen zu lassen und von hier aus den Einstieg in den hermeneutischen Zirkel der Weltinterpretation zu suchen, weil es im Prinzip einen sprachfreien Ausgangspunkt der Reflexion bzw. eines zeichenfreien Zugangs zur Welt der Dinge ohnehin gar nicht gibt.12 Dennoch lässt sich aber wohl grundsätzlich an der These festhalten, dass trotz der Schrift- und Sprachreflexion Piatons, die Sprache als Medium des Denkens noch kein Thema der klassischen griechischen Philosophie war. Die Ausklammerung des Themas Sprache aus erkenntnistheoretischen Überlegungen ist kulturhistorisch durchaus verständlich. Die klassischen griechischen Philosophen lebten im System der griechischen Sprache wie die Fische im Wasser und mussten dieses System mangels konkreter Kenntnisse anderer Sprachen für ein geistiges Objektivierungssystem halten, das im Prinzip der Natur der Dinge völlig entsprach. Diese Höhlensituation bzw. diese Unfähigkeit, die griechische Sprache perspektivisch von außen zu betrachten
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H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, Bd. 1, 1863/1971, S. 212-213. Vgl. W. Wieland, Die aristotelische Physik, 1970 2 , S. 141ff.
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und mit einem anderen Sprachsystem zu kontrastieren, änderte sich erst, als im Zeitalter der Stoa Philosophen auf den Plan traten, die ursprünglich eine semitische Muttersprache hatten und die das Griechische erst als Bildungssprache erlerat hatten. Diesen lag es naturgemäß nahe, philosophische Sachfragen auch im Kontext von Sprachfragen zu erörtern und die Sprache als vorstrukturierendes Medium des Denkens wahrzunehmen. Das hatte dann nicht nur Auswirkungen auf die Entfaltung von spezifischen Zeichentheorien, sondern auch auf die Auseinandersetzung der Grammatiker, ob das sprachliche Ordnungssystem eine immanente Sachlogik habe (Analogisten) oder ob alle sprachlichen Gegebenheiten das Ergebnis von mehr oder weniger zufalligen Konventionen seien (Anomalisten). 13 Eine gestiegene Sprachsensibilität gab es auch bei den mittelalterlichen Nominalisten. Sie haben sehr konsequent in Frage gestellt, dass die sprachlichen Ordnungsmuster direkt mit ontischen korrespondierten und dass es nicht sehr sinnvoll sei, eine Universalgrammatik für alle Sprachen auf der Basis der lateinischen Sprache zu entwickeln. Auch die Nominalisten hatten nicht von Anfang an in der Höhle der lateinischen Sprache gelebt und verfügten über unterschiedliche Muttersprachen, die ihnen kontrastive Vergleiche zur lateinischen Sprache ermöglichten. Deshalb lag es ihnen auch durchaus nahe, sprachliche Ordnungsmuster als mehr oder weniger willkürliche Setzungen zu betrachten, in denen sich Vorurteile manifestieren und überliefern konnten. Die mittelalterliche Lehre von der Differenz der Seinsformen (modi essendi), der Wahrnehmungsformen (modi intelligendi) und der Bedeutungsformen (modi significandi) dokumentiert schon ein sehr hohes mediales Bewusstsein von der Sprache. 14 Auf die mögliche Gefangenschaft der Menschen in sprachlichen und nicht-sprachlichen Vorurteilen hat dann sehr nachdrücklich Francis Bacon in seiner so genannten Idolenlehre von 1620 aufmerksam gemacht. Er unterscheidet Vorurteile der Gattung, die aus der biologischen Natur der Menschen resultierten, Vorurteile des Standpunktes bzw. der Höhle, die aus der jeweiligen Wahrnehmungssituation der Menschen resultierten, Vorurteile der Bühne, die aus den jeweils herrschenden Lehrmeinungen resultierten, und Vorurteile der Gesellschaft, die aus den jeweilig verwendeten Sprachsystemen resultierten. 15
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Vgl. H. Steinthal, Die Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, Bd. 1, 1863/1971, S. 121, S. 377. W. Köller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 20, S. 146. Vgl. M. Grabmann, Die Entwicklung der mittelalterlichen Sprachlogik (Tractatus de modi significandi), Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, 35, 1922, S. 121-135. G.L. Bursill-Hall, The Middle Ages, Current Trends in Linguistics, 13, 1975, S. 211. Vgl. F. Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, 1830/1981, 1. Buch, § 39, S. 32f. R. Brandt, Über die vielfältige Bedeutung der Baconschen Idole, Philosophisches Jahrbuch, 83, 1976, S. 42-70.
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Den wohl prägnantesten Ausdruck hat die Vorstellung von der Gefangenschaft des Wahrnehmens und Denkens in der Sprache wohl in Whorfs Konzept der sprachlichen Relativität gefunden. Seiner Meinung nach sitzen die Menschen in der Höhle ihrer jeweiligen Sprache und erfassen von der Welt nur das, was die jeweilige Sprache ihnen wahrzunehmen ermöglicht. „Aus der Tatsache der Strukturverschiedenheit der Sprachen folgt, was ich das 'linguistische Relativitätsprinzip' genannt habe. Es besagt, grob gesprochen, folgendes: Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt. Sie sind daher als Beobachter einander nicht äquivalent, sondern gelangen zu irgendwie verschiedenen Ansichten von der Welt."16 Obwohl manche Formulierungen Whorfs nahe legen, dass er das Prinzip der sprachlichen Relativität im Sinne einer hermeneutisch-heuristischen Hypothese verstanden haben könnte, deuten andere aber wieder darauf hin, dass er eher einen recht mechanisch wirkenden Bedingungszusammenhang zwischen Sprachstrukturen und Wahrnehmungsmöglichkeiten angenommen hat. Das wird insbesondere auch dadurch nahe gelegt, dass Whorf terminologisch an Einsteins Relativitätstheorie anknüpft und davon spricht, dass „das Denken ein Netzwerk von Geleisen, die in der jeweiligen Sprache festgelegt sind', folge. 17 Außerdem betont Whorf, dass sich die Menschen der Abhängigkeit ihrer Wahrnehmungen von dem jeweiligen Sprachsystem ebenso wenig bewusst seien wie der Abhängigkeit ihrer Bewegungen von dem „Gesetz der Schwerkraft.19 Gerade weil Whorf als ehemaliger Naturwissenschaftler eine immanente Neigung hat, Ordnungszusammenhänge eher als Gesetzeszusammenhänge denn als interpretationsbedürftige interdependente Strukturzusammenhänge zu sehen, liegt ihm nahe, die Gebundenheit des menschlichen Denkens an die verwendete Sprache eher als eine Gefangenschaft denn als eine variable heuristische Hilfe zu beurteilen. Obwohl Whorf nicht auf Piatons Höhlengleichnis Bezug genommen hat, hätte er sicher kein Problem darin gesehen, dieses als eine gute Veranschaulichung seiner Grundannahmen anzusehen bzw. als ein Sprachgleichnis. Allerdings muss wohl bezweifelt werden, ob Whorf es für möglich gehalten hätte, dass jemand aus der Höhle seiner Sprache wirklich herauskommen kann. Ihm hätte wohl eher der Gedanke nahe gelegen, dass man allenfalls von einer Sprachhöhle in eine andere wechseln kann.
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B.L. Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit, 1965, S. 20. Ähnlich wie Whorf argumentiert auch Korzybski im Rahmen eines Konzeptes, das als 'General Semantics' bekannt geworden ist. Vgl. A. Korzybski, Science and sanity, 1973 3 . B.L. Whorf, a.a.O., S. 58. B.L. Whorf, a.a.O., S. 9.
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Die Interdependenz von Sprache und Denken Obwohl das Verständnis des Höhlengleichnisses als Sprachgleichnis natürlich nahe legt, das Wahrnehmen und Denken in der Gefangenschaft der Sprache zu sehen, ermöglicht es die Struktur des Gleichnisses aber auch, das Verhältnis von Denken und Sprache im Sinne eines Interdependenzverhältnisses zu verstehen, bei dem es zu wechselseitigen Beeinflussungen kommen kann. Im Rahmen einer solchen Rezeptionsweise müssen wir unsere Aufmerksamkeit dann allerdings aspektuell etwas anders ausrichten. Im Höhlengleichnis führt die Lösung von den Fesseln dazu, dass sich dem Betroffenen neue Wahrnehmungsperspektiven eröffnen und dass er den alten Wahrnehmungsinhalten einen ganz neuen Stellenwert zuordnen kann. Dementsprechend wäre nun zu fragen, ob die Lösung von den Fesseln einer bestimmten Sprache bzw. von den Fesseln der begrifflich orientierten Verbalsprache neue Wahrnehmungsweisen ermöglichen kann. Dabei ließe sich einerseits daran denken, dass man sich durch das Erlernen einer neuen Sprache aus den Fesseln der alten Sprache lösen kann, andererseits aber auch daran, dass man innerhalb einer Sprache seine Fesseln dadurch lockern oder gar aufheben kann, dass man die gegebenen Sprachformen umgestaltet oder von ihnen auf eine unorthodoxe Weise Gebrauch macht. Beispielsweise legt uns die Existenz von Tempusformen in den indogermanischen Sprachen habituell immer nahe, Vorgänge einer bestimmten chronologischen Ebene (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) zuzuordnen bzw. in ganz bestimmten Formen psychischer Anspannung (Erinnerung, Unmittelbarkeit, Erwartung) zu rezipieren. Wenn wir nun in Sprachen überwechseln, die keine Tempusformen besitzen, dann werden wir von diesem immanenten Zuordnungs- bzw. Interpretationszwang befreit und können Vorgänge auch hinsichtlich ganz anderer Aspekte wahrnehmen. Die neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten werden allerdings nicht immer problemlos verwirklicht, weil wir die muttersprachlich gewohnten Wahrnehmungsraster sehr leicht in die neu erlernte Sprache hineinprojizieren. Das gilt sowohl für grammatische als auch für lexikalische Ordnungsmuster. Sprachen, die beispielsweise das Farbspektrum sehr fein aufgliedern, zwingen ihre Benutzer von Anfang an dazu, Farben sehr differenziert zu benennen und wahrzunehmen. Damit sind dann allerdings nicht nur Vorteile verbunden, sondern durchaus auch Nachteile, insofern dadurch grobe Anfangsorientierungen erschwert werden, die zuweilen pragmatisch sehr nützlich sind. Umgekehrt können bestimmte äußere Gegebenheiten, Handlungsverpflichtungen und Erkenntnisnotwendigkeiten die Menschen auch dazu motivieren, differenziertere oder gar neuartige grammatische und lexikalische Formen zu entwickeln bzw. von den vorhandenen Formen einen neuartigen Gebrauch zu machen, um den jeweiligen kognitiven und kommunikativen
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Aufgaben gerecht werden zu können. In solchen Fällen würden die Betroffenen dann ihre sprachlichen Fesselungen selbst lösen oder zumindest lockern, um die neuen Herausforderungen zu bestehen. Im Höhlengleichnis wird uns zwar nichts von einer Selbstentfesselung der Gefangenen erzählt, aber es wird von einer anonymen Macht gesprochen, die einem der Gefangenen die Fesseln löst, ihm den Kopf umwendet und ihn aus der Höhle hinausschleppt. Diese anonyme Macht ließe sich vielleicht mit den pragmatischen Notwendigkeiten oder gar Erkenntnisinteressen analogisieren, die die Menschen in bestimmten Situationen dazu zwingen, sich von einem gegebenen Sprachsystem ganz oder partiell zu lösen, dieses zu verändern oder gar in ein ganz anderes Sprach- und Zeichensystem überzuwechseln. Das Denken wäre dann nicht mechanisch von der jeweils genutzten Sprache abhängig, sondern könnte sich die Sprache auf evolutionäre Weise so herrichten, dass sie den jeweiligen kognitiven und kommunikativen Zielsetzungen und Notwendigkeiten besser entspricht. Auf eine solche Situation treffen wir beispielsweise, wenn neue Fachsprachen entwickelt werden, wenn soziale Gruppen sich durch ihren spezifischen Sprachgebrauch von anderen abzusetzen versuchen, wenn grobe grammatische Differenzierungsmuster verfeinert werden, wenn in einer Benennungsnot neue Metaphern gebildet werden, wenn in einer kulturellen Umbruchssituation neue Textmuster geschaffen werden, wenn angesichts sehr komplexer sprachlicher Objektivierungs- und Gestaltungsaufgaben die begriffliche Redeweise zu Gunsten einer bildlichen aufgehoben wird usw. Insbesondere der ästhetische und der religiöse Sprachgebrauch stehen immer wieder vor der Notwendigkeit, sich von den Fesseln traditioneller Redeweisen zu lösen, weil diese den jeweiligen Gestaltungs- und Mitteilungsintentionen nicht gerecht werden können. Einer derjenigen, der auf sehr intensive Weise auf die Interdependenz von Denken und Sprache aufmerksam gemacht hat und der die Bindung an eine Sprache nicht nur als Fesselung empfunden hat, sondern auch als Hilfestellung dafür, sich die kognitiven Objektivierungsanstrengungen seiner Vorfahren dienstbar zu machen, ist sicher Humboldt gewesen. Wenn er das Höhlengleichnis konzipiert hätte, dann hätte der den Entfesselungsvorgang sicher nicht so sehr einer äußeren anonymen Macht zugeordnet, sondern wohl eher dem Befreiungsbedürfnis der Gefangenen selbst. Diesbezüglich kann auf folgendes verwiesen werden. Auf der einen Seite ist Humboldt nicht müde geworden, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass man durch den Gebrauch einer bestimmten Sprache zugleich auch in die Weltsicht hineingezogen werde, die sich in deren Formen konkretisiert hat, und dass man aus der Bindung an eine Sprache sich nur dadurch befreien kann, dass man eine andere erlernt. „Durch denselben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher
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sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren Sprache hinübertritt,"19 Auf der anderen Seite ist er aber auch nicht müde geworden, immer wieder zu betonen, dass wir unsere Vorstellungen von Sprache nicht an die Vorstellung eines vorfindbaren stabilen Sprachsystems binden sollten, sondern vielmehr an die Vorstellung der sinnbildenden Kraft, die hinter der Ausbildung von konkreten Sprachformen steht. „Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen."20 Wenn man wie Humboldt eine dynamisch orientierte Sprachauffassung favorisiert, dann kann es letztlich keine Sprachgefangenschaft der Sprachbenutzer geben, wohl aber eine mehr oder weniger starke Führung des Denkens durch die jeweils genutzte Sprache. Die sprachlichen Fesseln haben dann immer erhebliche Freiräume und sind außerdem als selbst auferlegte Bindungen zu betrachten, die durchaus veränderbar sind. Die Führung des Wahrnehmens und Denkens durch bestimmte Sprachmuster (formae formatae) tritt dabei weniger nachhaltig in Erscheinung als die Führung durch das Formbildungsprinzip (forma formans), das den jeweiligen konkreten Sprachformen zu Grunde liegt. Von dieser inneren Form einer Sprache gewinnt das Denken naturgemäß viel weniger leicht Distanz und Freiheit als von den konkret fassbaren Einzelformen. Außerdem ist zu beachten, dass es innerhalb einer Muttersprache immer sehr verschiedene soziale und funktionale Ausprägungsformen von Sprache gibt, sodass jeder Sprachteilnehmer in gewisser Weise immer mehrsprachig ist.21 Das bedeutet, dass man sich immer in Sprachhöhlen unterschiedlicher Struktur aufhält und dass deshalb das Wahrnehmen und Denken sprachlich nicht so stringent vordeterminiert ist, wie es zunächst erscheint. Am Beispiel der idealtypischen Kontrastierung von natürlicher Sprache und formalisierter Fachsprache kann sehr gut illustriert werden, welche Freiheitsspielräume es innerhalb einer Sprache geben kann und wie sich Sprachen funktional ausdifferenzieren können.
" W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 180, Werke, Bd. 3, S. 224-225. 20 W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 46, Werke, Bd. 3, S. 418. 21 Vgl. M. Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen, 1979.
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Natürliche Sprache und formalisierte Fachsprache Formalisierte Fachsprachen sind entstanden, weil die natürliche Umgangssprache für bestimmte kognitive und kommunikative Zwecke viel zu vage und mehrdeutig ist. Die semantische Vagheit der natürlichen Sprache ist unaufhebbar dadurch bedingt, dass sie nicht nur einem einzigen Zweck dienen muss, sondern vielen (z.B. Darstellung, Ausdruck, Appell), die oft sogar zugleich realisiert werden sollen. Deshalb müssen ihre konventionalisierten Formen eine große kontextsensitive semantische Flexibilität haben, die sich erst im konkreten Sprachgebrauch durch zusätzliche sinnbildende Faktoren einschränken lässt. Das hat zur Folge, dass auch die Vorstrukturierung des Wahrnehmens und Denkens durch die Sprache nicht sehr rigide ausfallen kann, da die jeweiligen Sprachmuster recht große Spielräume eröffnen. Demgegenüber sind die formalisierten Fachsprachen für ganz spezifische kognitive und kommunikative Zwecke ausgearbeitet worden. Da sie im Rahmen von bestimmten Denkprämissen spezifische Tatbestände sprachlich sehr eindeutig objektivieren sollen, sind ihre Begriffe nach Umfang und Inhalt in der Regel sehr trennscharf definiert. Beispielsweise wir das Wort Mord in der natürlichen Umgangssprache sehr unscharf für alle möglichen Tötungsdelikte verwendet, während es in der juristischen Fachsprache sehr klar von den Nachbarbegriffen Totschlag und fahrlässige Tötung abgegrenzt werden muss, um angemessene strafrechtliche Sanktionen verhängen zu können. In der natürlichen Sprache hat auch das Wort Wasser eine recht vage Bedeutung, insofern damit auf eine Flüssigkeit, ein Lebensmittel, einen Lebensspender, ein Naturphänomen, eine Gefahr usw. hingewiesen werden kann. In der Fachsprache der Chemie stellt dagegen die Bezeichnung von Wasser mit dem Terminus H20 von vornherein klar, dass wir uns für das Phänomen Wasser nur im Hinblick auf die atomare Zusammensetzung seiner Moleküle zu interessieren haben. Dadurch werden unsere Denkmöglichkeiten natürlich von Anfang an sehr viel rigider kanalisiert. Insbesondere in ihrer Funktion als Wissenschaftssprachen haben die formalisierten Fachsprachen meist ein sehr viel höheres Prestige als die natürliche Sprache. An sie knüpft sich oft die Erwartung, dass mit ihrer Hilfe die Welt frei von subjektiven Einfarbungen so abgebildet werden könne, wie sie tatsächlich ist, und dass sie uns aus der Höhle inadäquater Wahrnehmungen und Vorstellung herausfuhren können. Nur mit ihrer Hilfe scheinen Sätze formulierbar zu sein, die den Anspruch auf Wahrheit erheben können. Eine solche Auffassung ist nun aber in mehrfacher Hinsicht sehr problematisch. Die präzisen kognitiven Perspektivierungen und Objektivierungen, die zweifellos mit den formalisierten Fachsprachen verbunden sind, garantieren aber noch keinen absolut verlässlichen Realitätsbezug, sondern allenfalls einen intersubjektiv gut nachvollziehbaren normierten Weltbezug, der sein Interesse
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auf ganz bestimmte Sachaspekte konzentriert und dabei alle anderen methodisch auszublenden versucht. Beim vorbehaltlosen Gebrauch normierter Fachsprachen besteht immer die Gefahr, dass sich das Denken selbst einschränkt und nur noch das für relevant und existent erklärt, was durch die Brille seiner jeweiligen Denkmuster wahrnehmbar gemacht werden kann. Wenn sich das Denken vorbehaltlos ganz an die Mittel bindet, mit denen es jeweils arbeitet, dann steht es hierarchisch nicht mehr eine Stufe höher als die Medien, die es sich dienstbar gemacht hat, sondern nur auf derselben Stufe. Unter diesen Umständen kann von einem Interaktionsverhältnis zwischen Denken und Sprache keine Rede mehr sein, sondern nur noch von einem Abhängigkeitsbzw. Fesselungsverhältnis. Die formalisierten Fachsprachen sind informationell sehr präzise, aber diese Präzision bezahlen sie durch ihre perspektivische Enge und durch ihre semantische Einschichtigkeit. Sie funktionieren eigentlich nur deshalb, weil hinter ihnen die natürliche Sprache als logisch höherrangige Metasprache steht, mit der sie konstruiert und interpretiert werden können. „Die ganz in Information verwandelte Sprache ist die gehärtete Spitze einer nicht gehärteten Masse. Daß es Sprache als Information gibt, darf niemand vergessen, der über Sprache redet. Daß Sprache als Information uns nur möglich ist auf dem Hintergrund einer Sprache, die nicht in eindeutige Information verwandelt ist, darf niemand vergessen, der über Information redet."22 Da die natürliche Sprache zugleich vielen Zwecken dient und dienen muss, ist ihre semantische Vagheit auch positiv zu beurteilen. Gerade dadurch werden ihre Benutzer dazu gezwungen, sie kontextsensitiv zu verwenden und zu verstehen und eben dadurch ein hermeneutisches Begleitbewusstsein für ihren Gebrauch auszubilden, das eine mechanische Verwendung von vornherein verbietet. Der sinnbildliche, der andeutende und der wertende Sprachgebrauch gehört deshalb zu den genuinen Sinnbildungsmöglichkeiten aller natürlichen Sprachen, der in den formalisierten Fachsprachen kein Existenzrecht hat. Deshalb wird in den natürlichen Sprachen das Wahrnehmen und Denken auch nicht in dem Ausmaße vorstrukturiert wie in den formalisierten Fachsprachen. Die Formen der natürlichen Sprache gleichen optischen Linsen, deren Schärfe bei jedem Gebrauch neu eingestellt werden muss und auch neu eingestellt werden kann. Wenn man im Rahmen der natürlichen Sprache von einer Fesselung des Denkens durch die Sprache sprechen möchte, dann muss man sich immer bewusst sein, das alle diese Fesselungen immer noch große Bewegungsspielräume lassen und dass die vielfältigen Sprachbindungen des Denkens auch als Hilfen im Sinne von vorgebahnten Wegen in einem unübersichtlichen Gelände verstanden werden können.
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C.F. v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 1981 2 , S. 60.
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5. Die Sprache als soziale Institution Solange man für das individuelle Denken den Anspruch auf höchstmögliche Freiheit und Kreativität erhebt, solange liegt es nahe, die Bindung des Denkens an Sprachformen zugleich als eine Gefangenschaft des Denkens in der Sprache zu verstehen. Humboldt hat durch seine dynamische Sprachauffassung dieses SprachVerständnis zwar schon relativiert, insofern er diese Bindung eher als einen hilfreichen Leitfaden denn als eine einschränkende Fessel ansah, aber möglicherweise kann man noch einen Schritt weiter gehen und diese Bindung prinzipiell positiv bewerten. Dazu haben insbesondere konservativ gestimmte Kulturkritiker immer wieder geneigt, insofern sie in allen vorgegebenen Ordnungsformen auch eine Schutzfunktion fur den Menschen sehen. Wenn wir das Höhlengleichnis in dieser Denkperspektive als Sprachgleichnis verstehen, dann ist es hilfreich, auf die Ambivalenz unserer allgemeinen Höhlenvorstellung Bezug zu nehmen. Diese kommt bei Piaton zwar nicht klar zum Ausdruck, dennoch darf sie bei der Qualifizierung des Sinnpotenzials seines Gleichnisses nicht unterschlagen werden. Das Phänomen Höhle ist insofern ambivalent, als eine Höhle sowohl als ein Ort der Abschließung von der Vielfalt der Welt als auch als ein Ort der Zuflucht vor den Gefahren der Welt verstanden werden kann. Bei Piaton wird die Höhle sehr eindeutig als ein Ort des Exils, aber nicht als ein Ort des Asyls beschrieben. In seiner Höhle haben es die Menschen nur mit den Erscheinungen von den Erscheinungen zu tun und nicht mit der eigentlichen Welt im Lichte der Sonne. Allerdings hat das Höhlengleichnis bei Piaton eine besondere Pointe darin, dass auch die Welt außerhalb der Höhle letztlich als eine Erscheinungswelt angesehen werden kann bzw. als eine Höhlenwelt höherer Stufe, die auf die eigentliche Welt als Welt der Ideen verweist. In Piatons Gleichnis machen die Gefangenen keinerlei Anstrengungen, die Höhle zu verlassen. Der Grund dafür liegt aber nicht darin, dass sie sich in ihr geborgen fühlen, sondern vielmehr darin, dass sie geistig zu träge sind, um den Erscheinungen auf den Grund zu gehen und sich alternative Wahrnehmungsweisen auszudenken, und dass sie sich mit dem Zustand abgefunden haben, in dem sie sich vorfinden. Diese Beharrungstendenz bzw. konservative Grundorientierung beurteilt man allerdings etwas zu einseitig, wenn man darin nur individuelle Defizite an geistiger Beweglichkeit und Kreativität sieht und nicht auch einen relevanten anthropologischen Sicherheitsfaktor. Um das besser zu verstehen, ist es vorteilhaft, auf das Konzept der sozialen Institutionen Bezug zu nehmen, das der Anthropologe und Soziologe Arnold Gehlen ausgearbeitet hat, um zu zeigen, dass Menschen der Hilfe von Traditionen bedürfen, damit sie von den täglichen Entscheidungen nicht überfordert werden.
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Soziale Institutionen Gehlen hat im Anschluss an die Überlegungen Herders zum Ursprung der Sprache betont, dass der Mensch im Vergleich zu den Tieren ein Mängelwesen sei, da bei ihm die Reduktion von Instinkten zu gravierenden Unsicherheiten in der Steuerung seines Verhaltens gefuhrt habe. Dieser Tatbestand lasse sich allerdings auch positiv deuten, wenn man den Menschen als Lernwesen definiere, das nach Scheler durch seine Weltoffenheit bestimmt sei. Unter diesen Rahmenbedingungen sei der Mensch nur dann überlebensfähig, wenn er seine Verhaltensunsicherheiten dadurch ausgleiche, dass er sich selbst in Form von Sitten, Staat, Recht, Familie, Sprache usw. soziale Institutionen schaffe, die ihm Verhaltensnormen zur Handlungssteuerung und Wahrnehmungsmuster zur Reduktion von Komplexität zur Verfügung stellten. 23 Soziale Institutionen machen nach Gehlen die Menschen trotz der Reduktion ihrer Instinkte überlebensfähig, weil sie nachhaltig vor einer Reizüberflutung schützen. Sie stellen Ordnungsmuster zur Verfügung, mit denen sich die Menschen die Komplexität ihrer Wahrnehmungswelt so vereinfachen können, dass sie Verhaltensstile auszuarbeiten vermögen, die ihnen Erleichterungen in Entscheidungsprozessen geben. Wenn sich soziale Institutionen auflösen oder wenn sie zerschlagen werden, dann führt das nach Gehlen leicht zum Chaos, insofern dadurch wichtige Entscheidungshilfen und Entlastungsfunktionen wegbrechen. Obwohl solche sozialen Institutionen im Prinzip natürlich Menschenwerk sind, können sie ihre sozialen Steuerungs- und anthropologischen Entlastungsfunktionen nur dann voll erfüllen, wenn sie für die Beteiligten als subjektunabhängige objektive Ordnungsfaktoren in Erscheinung treten, die nicht zur subjektiven Disposition stehen. Die Denkmuster sozialer Institutionen schematisieren zwar unsere Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse, aber eben dadurch kommt es dann auch zur Bildung von Energiereserven und zur Kanalisierung von Handlungskräften. Jede Schwächung von sozialen Institutionen erhöht natürlich die individuellen Freiheitsspielräume, aber führt zugleich auch zu einem Verlust an Sicherheits- und Geborgenheitsgefuhlen sowie zu spezifischen Überforderungssyndromen. Die ambivalente Beurteilung der Höhle als Exil und Asyl lässt sich nun gut mit der Ambivalenz der Sprache als einer sozialen Institution parallelisieren. Als soziale Institution stellt die Sprache ihren Benutzern auf der einen Seite ein Inventar grammatischer und lexikalischer Muster zur Verfugung, die verwendet werden müssen, wenn die einzelnen Menschen sich im sozialen Raum nicht isolieren wollen. Diese Bindung an vorgegebene Muster kann 23
Vgl. A. Gehlen, Der Mensch, 1978 12 , S. 26, S. 83. Α Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, 1986, S. 23, S. 69ff.
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dann natürlich sehr leicht als eine Fesselung der individuellen geistigen Beweglichkeit verstanden werden. Wer diese Form benutzen muss, kann sich subjektiv sehr schnell im Kerker der Sprache eingeschlossen bzw. von bestimmten Denk- und Erfahrungsmöglichkeiten ausgeschlossen fühlen. Auf der anderen Seite ist nun aber auch zu beachten, dass die Sprache als Inventar von historisch erarbeiteten Sprachmustern durchaus die Funktion einer Schutzhöhle haben kann. Sie stellt pragmatisch bewährte Ordnungsstrategien zur Verfügung, die die Verarbeitung von Einzeleindrücken erleichtern und die es den Sprachteilnehmern erspart, das Rad immer wieder neu erfinden zu müssen. Deshalb ist die Weigerung der Gefangenen, sich von ihren Fesseln befreien zu lassen bzw. die Höhle zu verlassen, nicht nur als Symptom geistiger Trägheit und Borniertheit zu werten, sondern auch als ein Symptom der Angst, vertraute Weltwahrnehmungsstrategien zu verlieren und sich neue Wahrnehmungsmuster erarbeiten zu müssen. Soziale Institutionen können ihre Schutzfunktionen langfristig nur dann erfüllen, wenn sie sich eine innere Flexibilität bzw. ein Fließgleichgewicht bewahren und sich partiell ständig wandeln. Wenn sie verholzen, werden sie für ihre Nutzer eher zu Fesseln als zu Hilfen. Diese dynamische Komponente von sozialen Institutionen wird durch das platonische Höhlengleichnis nicht versinnbildlicht, da die Strukturverhältnisse in der Höhle sehr statisch konzipiert worden sind. Die Art der Fesselung gibt dem einzelnen Gefangenen zwar einen festen Platz im System der Höhle, aber keinerlei Bewegungsspielräume, um ihre einzelnen Wahrnehmungen variabel zu interpretieren. Alle Neu- und Umorientierungen müssen den Gefangenen von außen auferlegt werden. Wenn sich soziale Institutionen nicht evolutionär fortentwickeln, verlieren sie ihre positiven Schutzfunktionen und werden zu unfruchtbaren Fesseln, die nur durch revolutionäre Eingriffe von außen beseitigt werden können. Die Grenze des Höhlengleichnisses als Sprachgleichnis liegt darin, dass es zwar die Determination des Denkens und Wahrnehmens durch die Sprache versinnbildlichen kann, dass es aber nicht auf die innere Wandlungs- und Erneuerungsfahigkeit der Sprache aufmerksam zu machen vermag. Das Problem der Bindung wird nur im Rahmen der Opposition von Fesselung und Befreiung gesehen, aber nicht im Rahmen der Spannung von Führung und Einschränkung durch sich selbst transformierende Ordnungssysteme bzw. soziale Institutionen. Deshalb taugt das Höhlengleichnis als Sprachgleichnis vielleicht eher dazu, die Strukturverhältnisse beim Gebrauch formalisierter Fachsprachen zu veranschaulichen als diejenigen beim Gebrauch von natürlichen Sprachen.
Die Sprachreflexion als Problem Der Begriff der Sprachreflexion ist im heutigen Denken sicherlich ein wertbesetzter Begriff. Es gilt als vorbildlich, sich Rechenschaft über die Sprache als
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Medium des Denkens und Wissens abzulegen, um nicht Opfer, sondern Herr der Sprache zu werden. Im Kontext der Überlegungen zu den Schutzfunktionen von sozialen Institutionen ergibt sich nun allerdings die Frage, ob Sprachreflexionen nicht auch problematische Auswirkungen haben können bzw. ob sie nicht auch einen ambivalenten Wert haben. Generell ist nämlich zu beachten, dass soziale Institutionen bzw. die in ihrem Rahmen entwickelten Denkschemata und Verhaltensweisen ihre Schutzfiinktionen verlieren können, wenn sie ständig auf ihren Wert und ihre Berechtigung geprüft werden. Bei solchen Überprüfungen geraten wir zwangsläufig in metareflexive Denkprozesse, die durchaus eine handlungslähmende Wirkung haben können, weil sie verhindern, die jeweiligen Schemata pragmatisch einfach zu nutzen. Wenn über schematisierende Vereinfachungen nachgedacht wird, kommt es in der Regel nicht zu einer Reduktion, sondern zu einer Steigerung von Komplexität, weil nun zu klären ist, ob sich solche Vereinfachungen überhaupt rechtfertigen lassen. Problematisierte soziale Institutionen können ihre handlungserleichternden Funktionen nicht mehr optimal erfüllen, weil sie Orientierungen erschweren. Wenn man nach der Berechtigung der vereinfachenden Schemata sozialer Institutionen fragt, gerät man auf eine ganz andere Denkebene, weil man nun die jeweiligen Schemata nicht mehr zur Lösung von Sachproblemen verwendet, sondern vielmehr darüber nachdenkt, wie sie entstanden sind, unter welchen Prämissen man sie gebrauchen kann, wo ihre Gefahren liegen usw. Es geht einem wie dem Knaben in Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater, der seine Bewegungsanmut verliert, als er sie zum Reflexionsgegenstand macht, oder wie einem Sportler, dessen Bewegungssicherheit dahin ist, wenn er im Vollzug einer ganzheitlichen Bewegung einzelne Bewegungsteile zum Gegenstand einer Selbstbeobachtung macht. Die Problematisierung von Denkund Verhaltensschemata kann zwar zu deren differenziertem Gebrauch beitragen, weil wir dadurch eine Distanz zu ihnen bekommen, die eine Einschätzung ihrer Funktionsmöglichkeiten erleichtert. Aber darüber darf nicht vergessen werden, dass es in konkreten Handlungsprozessen Schwierigkeiten geben kann, von der reflexionsthematischen Handlungsebene wieder auf die sachthematische zurückzukehren. Ein eindrucksvolles Beispiel für die handlungslähmenden Konsequenzen einer großen Sprachbewusstheit ist der fiktive Brief, den Hugo von Hofmannsthal den jungen Lord Chandos an Francis Bacon schreiben lässt. In diesem bekennt Lord Chandos, dass er seine literarischen Betätigungen ganz eingestellt habe, weil er das Vertrauen in die Ordnungskraft der Sprache verloren habe. Insbesondere die abstrakten Begriffsbildungen bzw. Worte, die sehr unterschiedliche Einzelerfahrungen unter einem einzigen Denkschema zusammenfassen, seien ihm unbenutzbar geworden. „... die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze ... Es
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Das platonische Höhlengleichnis
zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß,"24 In seinen sprachtheoretischen Reflexionen gewinnt die Sprache für Lord Chandos eine eigentümliche Ambivalenz. Einerseits zerfällt sie ihm in Einzelteile, weil er sie als menschliches Konstrukt durchschaut, andererseits verselbstständigt sie sich fur ihn zu einer eigenständigen Gewalt, die ihn anstarrt und die er wieder anstarren muss. Gerade weil er sich die Sprache als soziale Institution metareflexiv vergegenständlicht und nicht mehr einfach Gebrauch von ihr macht, wird sie für ihn zu einer eigenständigen Macht, die er nicht mehr in den Griff bekommt. Unter diesen Bedingungen kann er die Sprache nicht mehr für seine Bedürfhisse so unbeschwert benutzen wie der Fisch das Wasser und der Vogel die Luft. Auf eine interessante zeichentheoretische Implikation des Höhlengleichnisses hat Cassirer hingewiesen. Im Anschluss an Herders Überlegungen zu den Denkfreiheiten, die der Mensch auf Grund seiner Reflexionsfahigkeit hat, und im Hinblick auf die Erfahrungen zu Sprachausfällen bei bestimmten Formen von Hirnverletzungen hat er betont, dass die Verwendung von Zeichen bzw. die Fähigkeit zum Symbolismus es dem Menschen ermögliche, aus dem Reiche der Natur in das des Geistes und der Kultur überzutreten. „Ohne Symbolik gliche das Leben des Menschen dem der Gefangenen in der Höhle aus Piatons berühmtem Gleichnis. Er wäre auf die Grenzen seiner biologischen Bedürfnisse und praktischen Interessen beschränkt; er könnte keinen Zugang zur 'Ideenwelt' finden, die sich ihm durch Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft nach verschiedenen Seiten hin öffnet. " 25 Mit dieser Stellungnahme will Cassirer darauf aufmerksam machen, dass der Mensch erst über die Welt der Zeichen bzw. über die Welt der symbolischen Formen als besonderen Strategien der Zeichenbildung und des Zeichengebrauchs in die Lage versetzt wird, die Welt in unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. Solange der Mensch sich nicht kulturell entwickelter Zeichen bedient, solange bleibt er für ihn als ein Naturwesen in der Höhle seiner biologischen Existenz eingeschlossen und kann sich nicht zu einem Kulturwesen entwickeln. Blumenberg hat zu diesen Ausfuhrungen bemerkt, dass Cassirer es versäumt habe, seinen eigenen neukantianischen Denkansatz radikal zum Ausdruck zu bringen. Gerade das Höhlengleichnis hätte theoretisch die Chance geboten zu zeigen, dass die einzelnen symbolischen Formen als spezifische Wahrnehmungsstrategien zu geschlossenen Welten führten, in denen keine Bedürfnisse aufkämen, entfesselt zu werden. „Erstaunt bemerkt man, wie weit sich der Neukantianer von seinem Ausgangspunkt entfernt hat, da er am Höh24 25
H. v. Hofmannsthal, Ein Brief, Werke in Einzelausgaben, Prosa II, 1952, S. 12-13. E. Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 70.
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lengleichnis nicht die Chance wahrnimmt, den Verzicht seiner Schule auf das 'Ding an sich' zu demonstrieren und dafür die Ausschließlichkeit der symbolischen Realität einzusetzen."26 Zu fragen ist in diesem Zusammenhang dann allerdings, ob Blumenberg Cassirers Anliegen nicht überinterpretiert hat. Für Cassirer fuhren die Objektivierungsstrategien der einzelnen symbolischen Formen zwar zu relativ geschlossenen Welten, aber gleichwohl nicht zu geschlossenen Höhlen, sondern vielmehr zu sich ergänzenden Welten.
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H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 1996, S. 167.
VII Der Hase des Physiologus Vom Hasen Des Hasen hat David gedacht: Der Felsen ist den Hasen ein Zuflucht. Der Physiologus sagt von ihm: Er ist ein guter Läufer. Wenn er gejagt wird, flieht er in felsiges und ansteigendes Gelände, und dann werden die Hunde samt dem Jäger müde und haben nicht die Kraft ihn zu erjagen, und so kommt er heil davon. Wenn er sich aber zu abschüssigem Gelände wendet, kann er nicht so gut rennen, weil seine Vorderbeine zu kurz sind, und im Nu faßt ihn der Hund. Und deshalb sucht er die Stellen, wo es nach oben geht. So auch du, Mensch, so du verfolgt wirst von den feindlichen Mächten samt dem Jäger, dem Teufel, der Tag für Tag darnach trachtet dem Menschen nach dem Leben zu stellen: suche den Felsen und die Höhen, von welchen auch David sagt: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher mir Hilfe kommen wird. Denn wenn der Böse sieht, daß der Mensch nach abwärts läuft und auf das Irdische bedacht ist und auf das, was dieses Leben zu bieten hat, dann kommt er ihm nur um so eifriger nahe mit seinen Schlichen! Wenn er aber sieht, daß der Mensch läuft nach dem Willen Gottes und aufsucht den wahren Felsen, unseren Herrn Jesus Christus, und daß er die Anstiege der Tugenden hinangeht, dann wendet er sich um wie ein Hund nach dem Worte Davids: Abwenden sollen sich nach rückwärts und in Schmach und Schande fallen sollen die, so mit Böses wollen.1
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Der Physiologus, Obertragen und erläutert von Otto Seel, Stuttgart 1960, S. 47-48.
Zur Wahl des Textes
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1. Zur Wahl des Textes Auf den ersten Blick erscheint es höchst befremdlich, die Ausfuhrungen des so genannten Physiologus über den Hasen als einen Beitrag zur narrativen Sprachreflexion präsentiert zu bekommen. In diesem Text ist weder auf klar fassbare Weise von der Sprache die Rede, noch wird eine Geschichte über ein besonderes Ereignis erzählt. Es werden vielmehr sehr allgemeine Aussagen über die körperlichen Besonderheiten und die Verhaltensweisen des Hasen gemacht und mit religiösen Spekulationen verbunden, die uns heute ziemlich absonderlich erscheinen. Allenfalls scheint man den Text als ein etwas kurioses historisches Zeugnis einer überwundenen religiös-magischen Weltwahrnehmung rezipieren zu können, die unter einem recht merkwürdigen Sinnbildungszwang gestanden zu haben scheint, der offenbar sowohl eine realistische Naturwahrnehmung als auch einen sachorientierten deskriptiven Sprachgebrauch unmöglich gemacht hat. Deshalb bedarf es einer expliziten Begründung, warum dieser Text den hier thematisierten Problemzusammenhängen zugeordnet wird und warum er möglicherweise als ein etwas verdeckter Beitrag zur Sprach- oder zumindest zur Zeichenreflexion angesehen werden kann.
Herkunft und Status des Textes Unter dem Titel'Physiologus' wurde wahrscheinlich um 200 n. Chr. in Alexandria eine Reihe von belehrenden Texten über Steine, Pflanzen und insbesondere Tiere zusammengestellt, die ursprünglich aus sehr unterschiedlichen Quellen stammten. Gemeinsam ist all diesen Texten, dass bestimmte Sachaussagen auf den so genannten Physiologus (Naturforscher) als naturkundliche Autorität zurückgeführt wurden. Seine Aussagen über Steine, Pflanzen und Tiere wurden dann von einer anonymen Instanz im Hinblick auf Christus, die Gläubigen, den Teufel usw. allegorisch ausgedeutet. Wenn heute vom Physiologus gesprochen wird, dann ist vor allem diese religiöse Kommentierung der ursprünglichen naturkundlichen Beschreibungen gemeint. Allerdings ist es auch möglich, dass sowohl die naturkundlichen Berichte als auch die christlichreligiösen Auslegungen der jeweils thematisierten Sachverhalte von ein und demselben Verfasser stammen.2 Bis ins späte Mittelalter sind die Physiologus-Texte nicht nur in lateinischer Sprache, sondern auch in vielen Volkssprachen sowohl schriftlich als auch mündlich auf lebendige Weise tradiert worden, weshalb sie durchaus als relevante Bestandteile des allgemeinen kulturellen Wissensschatzes dieser Zeit 2
Vgl. N. Henkel, Studien zum Physiologus im Mittelalter, 1976, S. 12ff.
Der Hase des Physiologus
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anzusehen sind. Wenn im Mittelalter von bestimmten Steinen, Pflanzen oder Tieren die Rede war, dann assoziierte man habituell die Aussagen und Deutungen, die im Physiologus über sie fixiert waren und konkretisierte eben dadurch eine ganz bestimmte Wahrnehmungsperspektive für sie. Aufschlussreich für die Einordnung des Physiologus in die Kulturgeschichte ist auch, dass eine seiner Fassungen (Physiologus Theobaldi) im Katalog des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440-1515) den naturwissenschaftlichen Schriften zugeordnet worden ist.3 Dennoch geht die zuweilen vertretene These sicher etwas zu weit, dass der Physiologus gleichsam als zoologisches Sachbuch des Mittelalters anzusehen sei. Dieser Text ist wohl weniger wegen seiner naturkundlichen Relevanz überliefert worden, sondern eher wegen seiner Funktion, die Natur im Rahmen spiritueller und moralischer Zielsetzungen allegorisch auszudeuten. In diesem Zusammenhang ist dann zu berücksichtigen, dass auch in der Antike die natürlich gegebenen Phänomene nicht nur hinsichtlich ihrer reinen Physis wahrgenommen worden sind, sondern zugleich auch als Hinweise auf eine umfassende kosmische Harmonie. Die von Descartes akzentuierte Opposition von Natur (res extensa) und Geist (res cogitans) war sowohl der Antike als auch dem Mittelalter recht fremd. Das in den Physiologus-Texten konkretisierte Sach- und Interpretationswissen entspricht sicher nicht den Formen von Wissen, die wir heute für relevant halten. Für das Mittelalter ist es aber gleichwohl als ein perspektivierendes Basiswissen für die Welt- und Textwahrnehmung anzusehen. Deshalb lohnt es sich, den zeichentheoretischen Implikationen des Physiologus-Textes etwas genauer nachzugehen, weil wir dabei auch Strukturanalogien zu sinnbildlichen Redeweisen bzw. zum ästhetischen Sprachgebrauch aufdecken können. Von der Verbalsprache ist in den Physiologus-Texten zwar keine Rede, aber es ist ganz offensichtlich, dass in ihnen von der Existenz einer Art Natursprache ausgegangen wird, die es zu verstehen gilt bzw. die in die Verbalsprache übersetzt werden kann. Die narrativen Charakteristika unseres Physiologus-Textes sind nicht sehr ausgeprägt, aber dennoch ist nicht zu leugnen, dass in ihm nicht nur natürliche Phänomene als statische Gegebenheiten beschrieben werden sollen, sondern dass wir mit diesen Phänomenen auch im Kontext von Handlungszusammenhängen bekannt gemacht werden.
Die sprachtheoretischen Implikationen des Textes Der Physiologus-Text über den Hasen ist darum bemüht, uns eine plastische Gesamtvorstellung von einem Hasen zu vermitteln, da er die körperlichen Charakteristika des Hasen im Zusammenhang mit seinen dadurch ermöglich3
Vgl. N. Henkel, a.a.O., S. 139.
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ten Verhaltensweisen thematisiert. Wir können uns auf diese Weise gut konkrete Handlungssituationen vorstellen, in die ein Hase prinzipiell verstrickt sein kann. Die so erzeugten plastischen Vorstellungen von einem Hasen können dann problemlos zum Ansatzpunkt weiterer Reflexionen gemacht werden, insofern es nahe liegt, danach zu fragen, ob das vom Hasen Berichtete als ein Hinweis auf etwas dahinter Liegendes zu verstehen ist. Die Sachbeschreibung des Hasen lässt sich als ein spezifisches Sprachspiel im Sinne Wittgensteins verstehen, das der Kommentator dazu nutzt, es mit einem religiös orientierten Interpretationssprachspiel zu beantworten. Diese beiden unterschiedlichen Sprachverwendungsweisen bzw. Sinnbildungsstrategien können heute wiederum einen zeichentheoretisch sensibilisierten Rezipienten dazu provozieren, den Gesamttext seinerseits mit einem semiotisch orientierten Interpretationssprachspiel zu beantworten. In diesem wäre dann zu klären, welche ontologischen und zeichentheoretischen Prämissen dafür maßgeblich sind, die Gestalt und die Handlungsweisen des Hasen nicht nur als bloße Fakten hinzunehmen, sondern darin auch Hinweise bzw. Zeichenträger für etwas anderes zu sehen. Der Verfasser des Hasentextes hat sicherlich nicht die Intention verfolgt, mit diesem Text semiotische Grundprobleme aufzuwerfen oder gar direkt oder indirekt die verschiedenen Sinnbildungsmöglichkeiten der Verbalsprache zu thematisieren. Das schließt aber natürlich nicht aus, dass wir heute diesen Text zum Anlass nehmen können, sprach- und zeichentheoretische Grundprobleme zur Debatte zu stellen und uns mit der Frage zu beschäftigen, warum uns die in dem Text repräsentierten Formen des Denkens und des Sprachgebrauchs inzwischen so fremd geworden sind und warum wir spontan dazu neigen, diesen Text unter die kuriosen Texte einzuordnen. Obwohl der Text nicht explizit auf die Sprachthematik Bezug nimmt, exemplifiziert er doch zeichen- und sprachtheoretische Probleme, die wir in allen sinnbildlichen Gebrauchsweisen von Sprache antreffen. Wenn wir den Text auf metareflexive Weise nach seinen semiotischen Prämissen und Implikationen befragen, dann stoßen wir mindestens auf drei fundamentale sprachtheoretische Problemzusammenhänge, die sich im Rahmen einer begrifflichen Analyse nicht so eindrücklich vor Augen führen lassen wie durch das in diesem Text exemplifizierte Sprachspiel. Erstens kann man am Beispiel dieses Textes sehr gut der Frage nachgehen, nach welchen Kriterien wir die Bedeutung von Wörtern wie beispielsweise Hase festlegen oder beschreiben können. Bei der Beantwortung dieser Frage zeigt sich, dass man die Bedeutung von Wörtern nicht erklären kann, ohne auf ontologische Hintergrundskonzepte Bezug zu nehmen. Diese sind den Sprachbenutzern und auch den Lexikographen meist nicht bewusst bzw. werden von diesen oft als ganz selbstverständlich und natürlich hingenommen, obwohl eine genauere Betrachtung zeigt, dass sie Ergebnisse von kulturellen Sinnbildungsanstrengungen sind und eben deshalb auch einem historischen Wandel unterliegen. Die Zuordnung von Bedeutungen zu Wörtern ist weder synchro-
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Der Hase des Physiologus
nisch noch diachronisch betrachtet eine schlichte deskriptive und empirische Aufgabe, sondern ist immer mit normativen, konzeptionellen oder ideologischen Implikationen verknüpft. Zweitens kann man am Beispiel des Hasentextes danach fragen, wie unser empirisches Wissen von der Welt in metaphysisches Wissen eingebettet ist und mit Hilfe welcher methodischen Verfahren wir uns ein umfassendes Wissen aus einem empirischen Detailwissen erarbeiten. In diesem Zusammenhang stoßen wir dann auf das analogisierende Denken bzw. auf die Sinnbildungsform der Allegorie sowie auf die Frage nach den sprachlichen Erscheinungsformen, mit deren Hilfe sich das analogisierende Denken manifestieren kann bzw. wie sich dieses Denken vom begrifflichen und argumentierenden Denken absetzen lässt. Dabei kann sich dann herausstellen, dass das analogisierende Denken im Mittelalter ein Gewicht hatte, das uns heute kaum noch vorstellbar ist. Drittens kann man im Hinblick auf den Hasentext sehr gut die Frage stellen, welchen Phänomenen in der Welt wir potenziell einen Zeichencharakter zubilligen können und welche Leistungskraft sprachliche Zeichen im Vergleich zu nicht-sprachlichen haben. In diesem Zusammenhang ist dann auch zu erörtern, welche Rolle Konventionen beim Identifizieren und beim Verstehen von Zeichen spielen bzw. inwieweit bestimmte Zeichen auch spontan verständlich sind. Dabei kann dann auch auf das mittelalterliche Konzept vom Buch der Natur (liber naturae) eingegangen werden, in dem man genauso lesen könne, wie in der Bibel als Buch der Schrift (liber scripturae). Es ist offensichtlich, dass diese drei Fragestellungen sehr bedeutsame sprach- und zeichentheoretische Dimensionen haben. Weniger offensichtlich ist, wie sich die damit angesprochenen Problembereiche mit Hilfe des Physiologus-Textes vom Hasen exemplifizieren und strukturieren lassen. Das ist natürlich nur möglich, wenn wir den Begriff Sprache nicht nur auf den Begriff der Verbalsprache einengen, sondern hypothetisch auf alle Zeichensysteme ausweiten, mit deren Hilfe man Wissen objektivieren, strukturieren und vermitteln kann. Darin liegt zwar die Gefahr, den Gegenstandsbereich seiner Überlegungen so auszuweiten, dass er unübersichtlich wird, aber auch die Chance, die kognitive und kommunikative Leistungskraft der Verbalsprache gegenüber anderen Sprach- bzw. Zeichensystemen abzugrenzen (Sprache der Kunst, der Gesten, der Mathematik usw.).
2. Das Problem der Wortbedeutungen Wenn wir danach fragen, welche Bedeutung mit dem Wort Hase verbunden ist, dann können sich mit dieser Frage ganz unterschiedliche Beantwortungserwartungen verbinden. Kinder und praktisch denkende Menschen sind in der
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Regel damit zufrieden, wenn gestisch auf einen realen oder abgebildeten Hasen verwiesen wird, der prototypisch die Klasse der Hasen repräsentiert, die mit dem Wort Hase bezeichnet wird. Neben dieser deiktischen werden meist auch aktional orientierte Bedeutungserklärungen akzeptiert, in denen die Semantik des Wortes Hase dadurch bestimmt wird, dass die Verhaltensweisen und Aktionsmöglichkeiten von Hasen beschrieben werden oder dass kurze Geschichten erzählt werden, in die ein Hase verstrickt sein kann: Der Hase lebt auf dem Feld und frisst gerne Kohl. Wenn er von Hunden verfolgt wird, schlägt er Haken. Anspruchsvollere Bedeutungserklärungen streben dagegen Begriffserklärungen an. Sie sind strukturell dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Reihe von konstitutiven Merkmalen auflisten, die alle einzelnen Erfahrungsgegenstände aufweisen müssen, die unter den von dem jeweiligen Wort benannten Begriff fallen sollen bzw. in die von dem Wort bezeichnete Klasse von Gegenständen. Außerdem verweisen solche Bedeutungserklärungen in der Regel auf einen Begriff von größerem Umfang, um eine grobe Grundorientierung zu erleichtern. Wenn beispielsweise das Universalwörterbuch des Dudens die Bedeutung des Wortes Hase wie folgt festlegt, dann erfüllt es mit seiner Wortbzw. Begriffserklärung die üblichen Erwartungen: „ Wild lebendes Nagetier mit langen Ohren, einem dichten, weichen, bräunlichen Fell u. langen Hinterbeinen. " Bedeutungserklärungen dieser Art orientieren sich im Prinzip an den klassischen Anforderungen fur philosophische oder wissenschaftliche Begriffsdefinitionen. Für diese wird nämlich gefordert, dass jede Begriffsdefinition die nächst höhere Art bzw. Begriffsklasse (genus proximum) anzugeben hat, unter welche die mit dem jeweiligen Wort benannten Objekte auch fallen, und außerdem die spezifische Besonderheit (differentia specifica) aller Objekte, die unter den jeweils thematisierten Subbegriff zusammengefasst werden (Mensch = Lebewesen, vernünftiges/animal rationale).
Ansätze für Bedeutungserklärungen Aus diesen kurzen Hinweisen kann man entnehmen, dass die individuellen Erwartungen an Bedeutungserklärungen sehr unterschiedlich sein können und dass das klassische Definitionsschema fur die Bestimmung der Semantik von Wörtern der natürlichen Umgangssprache aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht problemlos anwendbar ist. Das klassische Definitionsschema setzt nämlich eigentlich schon ein vollständig durchgliedertes, deskriptiv orientiertes Wissenssystem voraus, das einem vorgegebenen Sachsystem zu entsprechen hat. Diese Strukturverhältnisse können für den Operationsbereich von Fachsprachen möglicherweise idealiter zutreffen, aber nicht fur den der natürlichen Umgangssprache. Die Objektivierungs- und Differenzierungsleistungen der
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Wörter der natürlichen Sprache lassen sich nicht auf die Ebenen einer reinen Sachdeskription reduzieren, da ihre Bedeutung immer auch wertende, expressive, historische, soziale, assoziative usw. Implikationen hat, für die das klassische Definitionsschema kein Interesse zeigt. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Bedeutungsprofil fachsprachlich und umgangssprachlich gebrauchter Wörter macht deutlich, dass jede Bedeutungszuweisung an Wörter nur auf der Basis von ganz bestimmten ontologischen Ordnungskonzepten möglich ist. Es ist offensichtlich, dass ein Kind, ein Dichter, ein Tierliebhaber oder ein Zoologe das Wort Hase semantisch ganz unterschiedlich bestimmen würden, weil für diese Personen jeweils ganz andere Wahrnehmungs- und Mitteilungsintentionen aktuell sind. Es ist deshalb auch verständlich, dass die Semantik der in der natürlichen Sprache verwendeten Wörter immer recht vage ist, weil diese zur sprachlichen Manifestation von ganz unterschiedlich strukturierten Sinnobjektivierungen dienen sollen. Deshalb haben die Wörter der natürlichen Sprache auch keine scharfen Grenzen zu ihren Nachbarn in den jeweiligen Wortfeldern, sondern überlappen sich mit diesen in vielen Hinsichten. Die einzelnen Wortbedeutungen wandeln sich in der natürlichen Sprache nicht nur historisch, sondern auch situativ. Sie weisen von Sprachteilnehmer zu Sprachteilnehmer oft erhebliche Unterschiede auf. Ihr spezifisches semantisches Profil gewinnen Wörter erst im Rahmen bestimmter sprachlicher und sachlicher Kontexte bzw. im Rahmen von ganz bestimmten Objektivierungsund Mitteilungsintentionen. Die Frage nach der Bedeutung von Wörtern ist so gesehen immer auch eine Frage nach den Denkprämissen und Denkzielen der jeweiligen Wortbenutzer bzw. nach denen der jeweiligen Textsorte oder des jeweiligen Sprachspiels, in denen das Wort verwendet wird. Deshalb ist auch ganz offensichtlich, dass das Wort Hase im Physiologus eine ganz andere Bedeutungsfunktion hat als etwa in einem zoologischen Fachbuch der Gegenwart. Wenn wir heute in einem wissenschaftlich geprägten Denkklima Wortbedeutungen zu bestimmen versuchen, dann genügen uns weder hinweisende Gesten auf mögliche Referenzobjekte der Wörter noch Hinweise auf Sätze und Geschichten, in denen das Wort auf prototypische Weise verwendet wird. Wir gehen in der Regel immer davon aus, dass Wörter Begriffe bezeichnen, die als kognitive Ordnungsmuster zu verstehen sind, die vorgegebenen ontischen Ordnungsmustern entsprechen oder zumindest entsprechen sollen. Abgesehen von fiktiven Begriffen ohne ontische Referenzobjekte (Einhorn, Kobold, Elfe usw.) erwarten wir, dass Begriffe die Struktur der Realität wenn nicht widerspiegeln, so doch verlässlich repräsentieren. Wort- bzw. Begriffskenntnisse sollen uns nicht nur ein Sprachwissen, sondern zugleich auch ein vertrauenswürdiges Weltwissen garantieren und damit einen adäquaten Weltkontakt. Dieses Denkmodell ist nun aber keineswegs so problemlos, wie es auf den ersten Blick erscheint, da es erkenntnistheoretische Implikationen hat, die
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sowohl beim praktischen Gebrauch der Wörter als auch bei der theoretischen Bewältigung der Bedeutungsproblematik eine wichtige Rolle spielen. So stellt sich beispielsweise das grundsätzliche Problem, was wir unter dem Phänomen Realität verstehen wollen, das durch das Wort bzw. durch den Begriff Realität bezeichnet wird. Ist unter dem Phänomen Realität das zu verstehen, was wir uns mit Hilfe unserer Sinne zugänglich machen können, also etwa ein einzelner Hase namens Friedolin, oder ist unter Realität das zu verstehen, was an sinnlich nicht direkt wahrnehmbarer Ordnung hinter den einzelnen Hasen steht und was wir uns nur mit Hilfe kognitiver Denkschemata bzw. Begriffe vergegenwärtigen können? Im ersteren Fall käme nur dem individuellen Hasen Friedolin wirkliche Realität zu. Der Begriff Hase wäre nur ein mehr oder weniger gut motiviertes Denkschema, mit dessen Hilfe wir im Hinblick auf bestimmte Differenzierungsinteressen einander irgendwie ähnliche Phänomene zu einer Klasse zusammenfassen. Deren Mitglieder würden wir dann für identisch erklären, obwohl sie sich in vielen Hinsichten faktisch voneinander unterscheiden. Im zweiten Fall würden wir nicht den einzelnen sinnlich fassbaren Erfahrungsphänomenen wirkliche Realität zuschreiben, sondern nur den Begriffen bzw. den platonischen Ideen, die durch die sinnlich fassbaren Einzelphänomene exemplifiziert werden. In diesem Fall wäre die sinnlich fassbare Realität nur eine abgeleitete Realität, die auf die eigentliche Realität verweist. Es ist nun offensichtlich, dass in unserem Text mit dem Wort Hase weder auf einen individuellen Hasen Bezug genommen wird noch auf die zoologische Klasse, den Begriff oder die Idee des Hasen. Das Wort Hase wird vielmehr so verwendet, dass wir uns in einem ersten Verstehensschritt eine bestimmte prototypische Sachvorstellung von dem Aussehen und dem Verhalten eines Hasen machen sollen. In einem zweiten Verstehensschritt sollen wir diese Vorstellung von einem Hasen dann als Zeichenträger für die Repräsentation eines komplexen religiösen Sinnzusammenhangs verstehen. Im Denkrahmen des zeichentheoretischen Modells von de Saussure ließe sich sagen, dass das Wort Hase als Signifikant zunächst nur dazu dient, den Vorstellungsinhalt bzw. das Signifikat Hase zu repräsentieren. In einem zweiten Verstehensschritt bzw. im Rahmen eines zweiten Zeichenkodes würde dann das Signifikat Hase zu einem neuen Signifikanten, der auf ein sehr komplexes religiöses Signifikat verweist, das sich nur dem erschließt, der über entsprechende Kodekenntnisse von religiösen Zeichen verfügt bzw. der sich aus dem Interpretationskommentar des Textes solche Kodekenntnisse aneignet. Im Rahmen des semiotischen Denkmodells von Peirce ließe sich sagen, dass mit dem Wort bzw. Zeichenträger Hase in einer ersten Zeichenrelation auf ein Zeichenobjekt verwiesen wird, das als Hase in einem alltäglichen oder zoologischen Sinne identifiziert werden kann. In einer zweiten abgeleiteten Zeichenrelation würde dann die so erzeugte Sachvorstellung von einem Hasen
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als neuer Zeichenträger verwendet, durch den mit Hilfe religiöser Vorstellungen und Sinnbildungsziele als Zeicheninterpretanten auf ein neues Zeichenobjekt verwiesen wird. Da diese neue Zeichenbildung in der Regel nicht auf gefestigte Konventionen zurückgreifen kann und da das neue Zeichenobjekt sehr komplex ist, wird nun beim Wortverständnis auf charakteristische Gestaltund Verhaltensmerkmale von Hasen zurückgegriffen, um mit Hilfe von Analogien auf ikonische Weise die Vorstellung eines neuen Zeichenobjekts zu konkretisieren, das einen sehr komplexen religiösen Relationszusammenhang beinhaltet. Diese abgeleitete ikonische Interpretation des Wortes Hase im Physiologus-Text kann sich durch häufige Wiederholung und durch die Suggestionskraft der thematisierten Analogien habituell so festigen, dass sie fur die Beteiligten nicht mehr als eine Verstehenshypothese in Erscheinung tritt, sondern als ein natürliches, wenn nicht zwingendes Wort- und Zeichenverständnis. Die ikonische Interpretation von sprachlich benannten Phänomenen, die uns in den dem Physiologus-Text über den Hasen zunächst auf eine etwas befremdliche Weise entgegentritt, weil wir heute in ganz anderen Denk- und Wahrnehmungstraditionen stehen, ist rein strukturell gesehen im religiösen und literarischen Sprachgebrauch eigentlich gar keine exzeptionelle Erscheinung. Wenn in diesen Sprachverwendungsweisen von einem Hirten oder einer Rose gesprochen wird, dann ist in der Regel völlig klar, dass mit diesen Wörtern nicht auf einen faktischen Hirten oder eine konkrete Rose Bezug genommen wird, sondern auf komplexe Sinnzusammenhänge, die sich ikonisch auf diese Weise am besten objektivieren und repräsentieren lassen. Solche Gebrauchsweisen von Wörtern müssen nicht als bloße Verschleierungsspiele angesehen werden, sondern können durchaus als genuine, durch andere Ausdrucksweisen nicht ersetzbare Objektivierungsformen für sehr komplexe Sinngehalte betrachtet werden. Gerade der religiöse und literarische Sprachgebrauch muss immer wieder mit dem Prinzip der Analogie bzw. mit abgeleiteten ikonischen Zeichen arbeiten, weil die zu objektivierenden Sachverhalte entweder jenseits aller sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten liegen oder so komplex sind, dass sie mit einer an die alltäglichen Differenzierungsbedürfnisse angepassten Sprache nicht zureichend zu bewältigen sind.
Realdefinitionen und Nominaldefinitionen Das Problem der Bedeutungszuweisung an Wörter wie etwa Hase lässt sich auch noch in einem anderen Argumentationszusammenhang veranschaulichen, den man mit den Stichwörtern Realdefinition und Nominaldefinition konkretisieren kann. In diesem Denkrahmen geht es darum, ob man die Bedeutung von Wörtern primär aus der Sachstruktur der von ihnen bezeichneten Phänomene
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ableiten soll oder primär aus den Differenzierungsinteressen und Interpretationsmustern der jeweiligen Sprach Verwender. Von Realdefinitionen können wir bei der Festlegung von Wortbedeutungen immer dann sprechen, wenn in den Definitionen angestrebt wird, die faktisch gegebenen Phänomene inhaltlich zu bestimmen, die mit dem jeweiligen Wort konventionell bezeichnet werden. In diesem Fall müssten wir alle Merkmale aufzählen, die beispielsweise für einen Hasen konstitutiv sind. Realdefinitionen beinhalten so gesehen immer ein Stück deskriptiver Ontologie, insofern durch sie präzisiert werden soll, was zum Wesen der jeweiligen Phänomene gehört und was nicht. Selbst wenn sich Realdefinitionen deskriptiv geben, so haben sie doch immer einen normativen Gehalt, insofern sie festlegen, was für das jeweilige Phänomen als konstitutiv und was als akzidentiell angesehen wird. Eine solche Entscheidung kann aber nur dann getroffen werden, wenn man eine klare Vorstellung davon hat, was als vorgegebene Realität anzusehen ist und was nicht bzw. mit Hilfe welcher Kategorien die zu repräsentierende Realität beschrieben werden kann. Es ist offensichtlich, dass je nach den bewusst oder unbewusst favorisierten Realitätskonzepten die jeweiligen Realdefmitionen anders ausfallen können. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, welchen körperlichen Sinnen wir bei der Wahrnehmung von Realität besonders vertrauen (Sehsinn, Tastsinn, Hörsinn) bzw. welchen Methoden der Realitätserfassung wir den Vorzug geben. Von Nominaldefinitionen können wir bei der Festlegung von Wortbedeutungen immer dann sprechen, wenn diese so gestaltet sind, dass sie primär Hinweise auf den faktischen Wortgebrauch bzw. auf die konventionalisierten Denkmuster beinhalten, die mit den jeweiligen Wörtern verbunden sind, und wenn sie auf alle Ansprüche verzichten, die faktische Realität abzubilden. Gerade im Hinblick auf die Festlegung der Bedeutung von Wörtern in der natürlichen Umgangssprache wird zweierlei deutlich. Einerseits wird sehr klar, dass alle Wortdefinitionen im Prinzip als Nominaldefinitionen anzusehen sind, da sie kulturell entwickelte Begriffe bzw. Denkmuster repräsentieren, was fachsprachliche Termini allerdings meist zu vertuschen versuchen. Andererseits wird aber auch sehr klar, dass sich Nominaldefinitionen im Hinblick auf die Wörter der natürlichen Sprache sehr schwer formulieren lassen, weil diese Wörter keinen stabilen Wortgebrauch aufweisen, sondern je nach Situation unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen übernehmen können. Deshalb haben Nominaldefinitionen auch immer normative Implikationen, insofern in ihnen festgelegt wird, welcher Sprachgebrauch als vorbildlich gelten soll und welche Differenzierungsinteressen als notwendig oder nützlich anzusehen sind und welche nicht. Nominaldefinitionen müssen deshalb historisch, textsortenspezifisch und personell differenziert werden. Das sollte ja auch die These verdeutlichen, dass Dinge und Wörter immer in Geschichten verstrickt sind und dass die einzelnen Wörter nur über die Ähnlichkeit dieser Geschichten eine gewisse Bedeutungsstabilität gewinnen.
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In unserem Fall ist ganz offensichtlich, dass die Einbettung des Wortes Hase in zoologische, fiktionale oder religiöse Geschichten zu jeweils ganz unterschiedlich strukturierten Nominaldefinitionen fuhren würde. Zoologen, Jäger, Spaziergänger, Fabelliebhaber oder Physiologus-Kenner würden ganz andere Geschichten über den Hasen erzählen bzw. das Wort Hase in ganz unterschiedlichen Kontexten verwenden. In erkenntnistheoretischer Hinsicht können wir festhalten, dass alle Wortbestimmungen prinzipiell als Nominaldefinitionen anzusehen sind, weil uns die Dinge an sich gar nicht unabhängig von bestimmten Erfassungsstrategien und Erfassungsperspektiven zugänglich sind. Auch die Definitionen wissenschaftlicher Fachbegriffe sind im Prinzip als Nominaldefinitionen zu bewerten, weil auch sie Sprachgebrauchsregulationen im Rahmen von spezifischen ontologischen Konzepten und Wahrnehmungsstrategien sind. Zwar werden wissenschaftliche Wortbestimmungen bzw. Begriffsdefinitionen oft in einer Haltung vorgetragen, als seien sie Realdefmitionen, aber dieser Umstand ändert nichts an der Tatsache, dass auch sie letztlich Bestimmungen des Wortgebrauchs im Rahmen bestimmter Objektivierungsperspektiven sind, denen wiederum ganz bestimmte ontologische Denkprämissen zu Grunde liegen. Diese Prämissen erscheinen den Beteiligten zwar oft als so selbstverständlich, dass sie diese gar nicht mehr als ontologische Hypothesen begreifen. Der Umstand, dass wir heute wissenschaftlichen Begriffsbildungen eine größere Verlässlichkeit und Realitätsnähe zuschreiben als alltagssprachlichen oder gar religiösen, ändert aber nichts an der Strukturtatsache, dass alle sich in Wörtern manifestierenden Sinnbildungsanstrengungen perspektivischer Natur sind und keiner unbedingten göttlichen Wahrnehmungsweise entsprechen. Das Wort Hase kann dementsprechend natürlich ganz unterschiedlichen Erfahrungs- und Wirklichkeitskonzepten Ausdruck geben bzw. in ganz unterschiedlichen Sinnbildungsanstrengungen verwendet werden.
Die soziale Dimension von Wortbedeutungen Nun ist allerdings auch zu beachten, dass die Beurteilung aller Wortdefinitionen als Nominaldefinitionen keineswegs dazu fuhren darf, alle Wortbestimmungen als gleichermaßen gültig anzusehen und es für ungerechtfertigt zu halten, von verpflichtenden konventionalisierten Wortbedeutungen zu sprechen. Es gibt im Gebrauch der Sprache immer einen immanenten pragmatischen und sozialen Zwang, Wortbedeutungen zu normieren, um eine intersubjektive Verständigung sicherstellen zu können. Die Idee einer Privatsprache ist im Prinzip paradox, weil dann die Sprache ihre fundamentalen anthropologischen Funktionen einbüßen würde. Humboldt hat das auf folgende Weise sehr eindringlich thematisiert: „Denn der Mensch versteht sich selbst nur, indem er
Das Problem der Wortbedeutungen
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die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat."4 Der unbegrenzten Ausdifferenzierung von Wortbedeutungen und ontologischen Hintergrundskonzepten im Sinne einer Tendenz zur Etablierung von Privatsprachen sind deshalb natürliche Grenzen gesetzt. Diese schließen allerdings nicht aus, dass es historisch, kulturell, situativ oder personell bedingte Konflikte beim Verstehen von Wörtern und Äußerungen gibt. Außerdem ist zu beachten, dass es unabhängig von kulturell geprägten Realitätskonzepten immer auch eine relativ ähnliche pragmatische Alltagserfahrung der Menschen fur die von den jeweiligen Wörtern bezeichneten Phänomene gibt. Diese Alltagserfahrung stellt nicht nur ein gemeinsames Basiswissen über die Welt sicher, sondern auch recht ähnlich strukturierte Wortbedeutungen zumindest bei solchen Wörtern, die sich auf empirisch fassbare Sachverhalte beziehen. Gerade weil Menschen auf Grund ihrer sinnlichen und kognitiven Ausstattung recht ähnliche Handlungserfahrungen haben, können sie auch ein recht ähnliches Basisverständnis fur das Phänomen entwickeln, das beispielsweise mit dem Wort Hase ins Bewusstsein gerufen werden soll. Als sehr viel komplizierter stellt sich das Bedeutungsproblem bei denjenigen Wörtern heraus, die Begriffe von hoher Abstraktion bezeichnen. Diese repräsentieren nämlich Denkmuster, die in einem sehr hohen Maße als interpretierende Ordnungshypothesen anzusehen sind, weil sie sich von lebenspraktisch motivierten Ordnungsbedürfnissen sehr weit entfernt haben und eher metaphysischen Ordnungsbedürfnissen Ausdruck zu geben versuchen. Das trifft dann beispielsweise auf Wörter wie Gerechtigkeit, Schönheit oder Hass zu, die hinsichtlich ihrer referenziellen Bezüge durch sehr unterschiedliche Erfahrungsphänomene exemplifiziert werden können. Probleme bei der Bedeutungsbestimmung ergeben sich auch bei den Wörtern, die ursprünglich eine konkrete Bedeutung gehabt haben, die aber dann durch einen metaphorischen Gebrauch auch noch eine abstrakte Bedeutung bekommen haben wie etwa die Wörter Fuchs, begreifen, fassbar bzw. bei solchen Wörtern, die als abgeleitete ikonische Zeichen klassifiziert werden können. Bei Wörtern mit sehr komplexen Repräsentationsfunktionen und einer großen Interpretationsbreite ist es vielleicht vorteilhaft, statt von einer Wortbedeutung von einem Wortsinn zu sprechen. Das rechtfertigt sich insofern, als das Wort Sinn stammverwandt mit dem ahd. Wort sind ist, das soviel wie Weg oder Richtung bedeutet, was sich in dem Wort Uhrzeigersinn noch heute dokumentiert. Das Wort Sinn macht nachdrücklicher als das Wort Bedeutung darauf aufmerksam, dass in der natürlichen Sprache die Wörter weniger dazu dienen, Sachverhalte und Dinge auf der Ebene der Sprache abzubilden, sondern eher dazu, unser Vorstellungsvermögen anzuregen und zu steuern. Wörter und Sätze wollen uns hier eher etwas zu verstehen geben als uns einen festen 4
W. v. Humboldt, S. 377.
Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus,
Gesammelte Schriften, Bd. V,
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Der Hase des Physiologus
Denkinhalt übermitteln. Demgegenüber geht das Wort Bedeutung auf das Wort deuten zurück, mit dem ursprünglich wohl die Aufgabe des Priesters bezeichnet worden ist, die Zeichen der Götter für das Volk (diot) kraft seiner Kenntnis der göttlichen Zeichensprache zu übersetzen.
3. Das Analogieprinzip in Verstehensprozessen Die Wirksamkeit des Analogie- bzw. Ähnlichkeitsprinzips in alltäglichen oder wissenschaftlichen Wahrnehmungs-, Verstehens- und Erkenntnisprozessen ist kaum zu überschätzen. Es hat einerseits mit dem anthropologischen Grundbedürfnis nach einer übersichtlichen Orientierung in einer komplexen Erfahrungswelt zu tun und andererseits mit der methodischen Notwendigkeit des Denkens, das Unbekannte mit Hilfe des Bekannten erschließen zu müssen, bzw. mit dem Bedürfnis, im Unbekannten auch etwas Bekanntes wiedererkennen zu wollen. Bertrand Russell hat im Kontext nominalistischer Denktraditionen in sehr aufschlussreicher Weise die Auffassung vertreten, dass wir alle Arten von Universalien im Denken bzw. alle für das Denken universal gültigen Denkprämissen als bloße menschliche Konstrukte wegdisputieren könnten bis auf eine - die Ähnlichkeit (similiarity).5 Auch Nietzsche hat ganz nachdrücklich betont, dass alle vereinfachenden Schematisierungsprozesse im Denken und in der Ausbildung von Sprachmustern darauf angewiesen seien, etwas für ähnlich oder gleich zu erklären, was faktisch ganz unterschiedlich sei. „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das 'Blatt' wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre." 6
Wenn wir diese Auffassungen von Russell und Nietzsche ernst nehmen, dann müssen wir einräumen, dass das Verstehen von Welt und das Verstehen von Sprache sicher immer auf Ähnlichkeitshypothesen gründen bzw. in das Verstehen von Ähnlichkeiten eingebettet sind und dass wir zu kurz greifen, wenn wir das Verstehen von Sprache auf ein Kodekonzept gründen. Wenn man sprachliche Begriffe und Aussagen verstehen will, muss man immer mehr als Sprache verstehen. Man muss in der Lage sein, seine Erfahrungen und Vorstellungen nach dem Analogieprinzip zu strukturieren. 5
B. Russell, An inquiry into meaning and truth, 1980, S. 344. F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Werke, Bd. 3, 1973', S. 313.
Das Analogieprinzip in Verstehensprozessen
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Die Grundlagen des analogischen Denkens Das Analogieprinzip wird als heuristisches und ordnendes Prinzip insbesondere dann interessant, wenn man sich eine Vorstellung von der Struktur derjenigen Phänomene und Sachverhalte zu machen versucht, die jenseits aller möglichen empirischen Erfahrung liegen oder die so komplex sind, dass wir sie mit Hilfe unserer sinnlichen Erfahrungen nur hinsichtlich ihrer Oberflächenaspekte erfassen. Transzendente bzw. religiöse Vorstellungen konkretisieren wir uns deshalb gerne nach anthropomorphen, soziomorphen oder sinnlichen Erfahrungseinheiten (Vater, Schöpfer, Himmelreich). Über komplexe Vorstellungen (Liebe, Hass, Neugier), die eine sinnlich nicht vollständig erfassbare Ordnungsstruktur haben, erzählen wir uns gerne Geschichten, durch die dann diese Phänomene exemplarisch repräsentiert werden sollen. Das Problem ist nun aber, dass man leicht vergisst, dass diese Hilfskonstruktionen nur vereinfachende Modelle bzw. heuristische Hypothesen sind, die die ins Auge gefassten Phänomene nicht abbilden, sondern die nur helfen, einen ersten, vereinfachenden Zugang zu ihnen zu finden. Wir stehen dabei immer in der Gefahr, etwas als identisch anzusehen, was einander nur in gewissen Hinsichten ähnlich ist, aber in anderen Hinsichten durchaus unähnlich sein kann. Das Denken in Analogien ist kulturgeschichtlich nicht nur früh praktiziert worden, sondern hat auch schon früh theoretische Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Empedokles hat schon ein Prinzip formuliert, in dem darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Möglichkeit des Erkennens darauf beruhe, dass das Erkenntnissubjekt bzw. die von ihm verwendeten Erkenntnismittel eine Ähnlichkeit oder einen Passungscharakter zu dem aufweisen müssten, was erkannt werden solle. „Die Erkenntnis des Gleichen erfolgt [nach Empedokles] durch das Gleiche."7 Goethe hat dieses Prinzip so fasziniert, dass er ihm in seiner Farbenlehre folgenden Ausdruck gegeben hat: „ War nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt nicht in uns Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?"8 Den heuristischen Wert des Analogieprinzips im Denken sieht Goethe darin, dass es im Gegensatz zum Induktionsprinzip nicht zu einem endgültigen Abschluss des Erkenntnisprozesses tendiert, sondern diesen ständig fortzuzeugen versucht. Dabei ist er zugleich davon überzeugt, dass das Analogieprinzip nicht nur ein methodisches Prinzip ist bzw. Ausdruck einer spekulativen Methode, sondern dass es eine ontische bzw. metaphysische Grundlage hat.
7
8
W. Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, 1968, S. 236. Vgl. auch A. Schneider, Der Gedanke der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches in antiker und patristischer Zeit, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1923, Supplement II, S. 65-76. J.W. v. Goethe, Zur Farbenlehre, Hamburger Ausgabe, 1965 7 , Bd. 13, S. 324.
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Der Hase des Physiologus „Jedes Existierende ist ein Analogem alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet." 9
In dem Physiologus-Text vom Hasen ist ganz offensichtlich, dass der Hase hinsichtlich seiner körperlichen Eigenschaften (guter Läufer, kurze Vorderbeine, lange Hinterbeine) und seiner Verhaltensweisen (bei Gefahr Fluchtweg nach oben, bei der Fluchtrichtung nach unten drohendes Verderben) ein sinnfälliges Modell für die Situation des Menschen bei der Bedrohung durch das Böse sein soll. Die Naivität der Analogisierung der Hasensituation mit der Lebenssituation des Menschen in religiöser und moralischer Hinsicht verblüfft uns heute natürlich vielmehr als sie die mittelalterlichen Menschen verblüfft hat. Die Analogisierung der Verhaltensweisen von Tieren in der empirischen Welt mit denen von Menschen in der spirituellen und moralischen Welt erscheint uns heute trotz aller Gewöhnung an Fabeln und Parabeln doch als sehr gewagt, wenn nicht als kritikwürdig. Diese Einschätzung ist aber zu relativieren, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine solche Analogisierung im Denkrahmen der scholastischen Lehre von der Analogie des Seins (analogia entis), die auch bei Goethe noch durchschimmert, ontologisch keineswegs als ungewöhnlich oder gar problematisch angesehen wurde.
Die Analogie des Seins Der Grundgedanke der Lehre von der Analogie des Seins, die ihre Wurzeln in der aristotelischen Metaphysik, in dem christlichen Schöpfungsglauben und in der Emanationslehre Plotins hat und die von Thomas von Aquin und seinem Kommentator Cajetan systematisch ausgestaltet worden ist, besteht darin, dass das Sein als ein steigerungsfahiges Phänomen angesehen wird, bzw. darin, dass postuliert wird, alles Seiende habe in unterschiedlicher Intensität an einem absoluten Sein bzw. an Gott teil. In religiöser Hinsicht bedeutet das, dass alles Geschaffene auf seinen Schöpfer verweist, aus dessen Sein es hervorgegangen ist. Die Seinsstufen des Mineralischen, Animalischen, Humanen und Geistigen werden dementsprechend als Steigerungsstufen zu Gott als dem Sein schlechthin angesehen. Gott teilt sich so gesehen allem Geschaffenen in unterschiedlicher Intensität mit (communicatio) und alles Geschaffene hat in unterschiedlicher Intensität an seinem Sein teil (partieipatio). Daraus folgt, dass alles Existierende vertikal und horizontal aufeinander verweisen kann. Sinnliches ver-
9
J.W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, a.a.O., Bd. 12, S. 368.
Das Analogieprinzip in Verstehensprozessen
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mag auf anderes Sinnliche oder auch auf Geistiges zu verweisen und Geistiges auf anderes Geistige oder auch auf Sinnliches. 10 Im Kontext eines solchen ontologischen Denkens ist die Analogisierung der Welt des Hasen mit der des Menschen nicht mehr so spekulativ, wie sie uns auf den ersten Blick erscheint. Was uns heute eher als ein bloßes mediales und heuristisches Spiel erscheint, kann im Rahmen der Vorstellung von der Analogie des Seins durchaus als eine mehr oder weniger substanzielle Abbildungsrelation erscheinen. Während wir heutzutage durch die Erkenntniskritik und die Wissenschaftstheorie im hohen Maße dafür sensibilisiert sind, Analogien allenfalls bei der Genese des eigentlichen Wissens eine Erkenntnisfunktion zuzubilligen und Ähnlichkeiten meist auf die Analogie von formalen Strukturen und Proportionen zu beschränken versuchen, sah man im Rahmen des Konzeptes von der Analogie des Seins die jeweiligen Ähnlichkeiten eher als substanzielle Familienähnlichkeiten an. In diesem Denken haben Analogien dann nicht nur einen heuristischen Wert, sondern können als Phänomene betrachtet werden, die zur Seinsstruktur der Welt selbst gehören. Während uns heute direkte oder indirekte Analogieschlüsse höchst problematisch erscheinen und allenfalls als heuristische Hypothesen akzeptiert werden, stellen sie im Rahmen des Denkens nach dem Konzept der Analogie des Seins gesicherte Wege zur Erkenntnis und zum Wissen dar, wobei man neben der Analogie natürlich auch die Differenz zwischen den verschiedenen Seinsebenen zu berücksichtigen hat. Für alle Formen des analogischen Denkens und Sprechens ist es deshalb ein fundamentales Problem, Entscheidungen darüber zu treffen, wo die Identitäten und Analogien aufhören und wo die Differenzen beginnen. Aus dem gleichen Grunde hat Goethe deshalb auch betont, dass das analogische Denken im Gegensatz zum begrifflichen eigentlich nie zu abschließenden Ergebnissen und Gewissheiten kommen kann, sondern sich vielmehr ständig fortzeugt. Anschauliche Vorstellungen ließen sich begrifflich nicht vollständig schematisieren. Das Feld der potenziellen Ähnlichkeitsbeziehungen sei nicht abschließend fixierbar, sondern eine Funktion der menschlichen Einbildungskräfte. Und eben das sichere auch der Literatur ihr Existenzrecht gegenüber der Philosophie und der Wissenschaft. ,JDenken ist interessanter als Wissen, aber nicht als Anschauend
10
11
Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 1, 1965, S. 57-75. E. Heintel, Transzendenz und Analogie, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion, 1963, S. 267-290. W. Pannenberg, Grundfragen der systematischen Theologie, 1971, S. 181 ff. E. Przywara, Analogia entis, Schriften, Bd. 3, 1962. J.W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 398.
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Der Hase des Physiologus
4. Die Konstitution von Zeichen Wenn man den Physiologus-Text über den Hasen im Rahmen des ontologischen Konzeptes von der Analogie des Seins rezipiert, dann kann man, wie schon erwähnt, nicht mehr scharf zwischen der Welt der natürlichen faktischen Gegebenheiten (res extensa) und der Welt des Geistes (res cogitans) im Sinne von Descartes unterscheiden, weil alle empirisch fassbaren Dinge auch zugleich eine geistige bzw. spirituelle Dimension haben. Die Dinge sind nicht bloß faktische Gegebenheiten (facta bruta), sondern immer auch natürliche Zeichen für eine spirituelle Welt. Diese ontologische Grundeinstellung ist uns heute recht fremd. Unsere Vorstellung von Zeichen verbinden wir in der Regel mit der Vorstellung von künstlichen Zeichen, bei denen ein bestimmter Signifikant bzw. Zeichenträger kraft sozialer Konventionen mit einem bestimmten Signifikat bzw. Zeichenobjekt verbunden ist. Weiterhin denken wir daran, dass Zeichen auch als Symptome bzw. Indices in Erscheinung treten können, wenn nämlich ein bestimmtes Phänomen auf natürliche bzw. kausal bedingte Weise auf ein anderes Phänomen verweist wie etwa der Rauch auf ein Feuer. Weniger selbstverständlich ist für unser heutiges Zeichenverständnis, dass ein sinnlich fassbares oder vorstellbares Phänomen kraft einer bestimmten Analogie (Eigenschaftsanalogie, Formanalogie, Wertanalogie, Herkunftsanalogie, Funktionsanalogie usw.) als Zeichenträger auf etwas anderes verweist, wozu es eine Art innerer Verwandtschaft oder Familienähnlichkeit hat. Allenfalls akzeptieren wir noch kulturell stilisierte Bilder, Skizzen und Piktogramme als Zeichen, bei deren Verständnis das Prinzip der Analogie natürlich eine wichtige Rolle spielt. Ikonische Zeichen, die auf dem Analogieprinzip aufbauen, sind uns suspekt, weil sie ziemlich unpräzise Informationen vermitteln und der Phantasie sehr große Spielräume eröffnen, wofür gerade der Physiologus-Text vom Hasen ein deutliches Beispiel ist. Unser heutiges Zeichenbewusstsein ist sehr offen für eine Wort- und Textsemiotik, aber kaum für eine Ding- und Weltsemiotik. Als gute Zeichen gelten die gemachten Zeichen, aber nicht die natürlich vorfindbaren Dinge und Verhaltensweisen. Als Zeichenproduzenten kommen für uns meist nur Menschen in Frage, aber nicht die Natur. Wenn wir uns der Zeichenproblematik nun eher in einer deskriptiven als in einer normativen Haltung nähern und wenn wir ihre historischen und kulturellen Dimensionen und Implikationen ernst nehmen, dann können wir unseren Zeichenbegriff nicht auf die konventionell etablierten Zeichen reduzieren. Wir müssen akzeptieren, dass andere Zeiten und Kulturen das Zeichenproblem in einem ganz anderen ontologischen Denkrahmen wahrgenommen haben und dass die Zeichenauffassung, die hinter unserem Physiologus-Text steht, kei-
Die Konstitution von Zeichen
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neswegs zu exzeptionell ist, wie sie uns heute auf den ersten Blick erscheint. Um die diesen Text prägende Zeichenkonzeption zu erfassen, ist es vorteilhaft, etwas näher auf die Zeichentheorie von Peirce einzugehen. Sie eignet sich nämlich sehr gut dazu, das Zeichenkonzept zu verstehen, das unausgesprochen dem Physiologus-Text zu Grunde liegt, bzw. die ontologischen Prämissen herauszuarbeiten, die die mittelalterliche Vorstellung vom Buch der Natur prägen. Das Zeichenkonzept von Peirce Für das ontologische Denken von Peirce ist der Gedanke der Relationalität (relationship), der Vermittlung (mediation) sowie der Kontinuität (continuity) von fundamentaler Bedeutsamkeit. Deshalb kann es fur ihn auch keine prinzipielle Opposition von Geist und Materie, von Denken und Sein oder von Kultur und Natur geben, sondern allenfalls eine fruchtbare Spannung. Für ihn sind Dinge nur als gedachte bzw. als durch Zeichen repräsentierbare Dinge vorstellbar, aber nicht als Dinge an sich. Deshalb spielt für ihn auch der Gedanke des Synechismus als ontologisches und semiotisches Konzept eine so zentrale Rolle. Der Begriff Synechismus dient Peirce vor allem dazu, das ontologische Prinzip der Kontinuität und der Relationalität näher zu erläutern. Mit ihm will er die strukturelle Verschlungenheit, wenn nicht Verwachsenheit jedes einzelnen Phänomens mit anderen Phänomenen betonen. Das geht bei ihm sogar soweit, dass er die Materie als in Gewohnheiten eingebundenen Geist versteht bzw. als eine ganz bestimmte Interpretationsform von Erfahrungen.12 Der Synechismusgedanke impliziert, dass man die Vorstellung von letzten Teilen aufgeben muss, insofern fur Peirce Phänomene erst in Relationen zu anderen Phänomenen als Phänomene bzw. als Teile in Erscheinung treten können und nicht an sich. Den Synechismusgedanke will Peirce dabei allerdings nicht als eine absolute und abschließende metaphysische Doktrin aufgefasst wissen, sondern vielmehr als ein unverzichtbares regulatives Prinzip der Logik, welche er als allgemeine Lehre von der Struktur des Denkens versteht.13 Als regulatives Prinzip soll der Synechismusgedanke insbesondere darauf aufmerksam machen, dass alle Erfahrungsphänomene für uns in andere übergehen und dass sich physische und psychische Phänomene nicht trennscharf voneinander unterscheiden lassen.14 Der Synechismusgedanke hat nun weit reichende Konsequenzen im Hinblick darauf, was Peirce potenziell als Zeichen ansehen kann und wie sich der Sinn von Zeichen ermitteln lässt. Für ihn ist es sehr wichtig, dass man Zeichen 12
13 14
Ch.S. Peirce, Collected Papers (CP), 6.158: „... what we call matter is not completely dead, but is merely mind hidebound with habits." Ch.S. Peirce, CP, 6.173. Vgl. Ch.S. Peirce, CP, 7.565, 7.570.
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Der Hase des Physiologus
nicht als eine abgeschlossene Klasse bestimmter Phänomene betrachtet, sondern vielmehr als eine prinzipiell offene Klasse. Wir greifen in Denkprozessen zwar immer wieder auf habituell stabilisierte Zeichen zurück, aber im Prinzip können wir in ihnen nicht nur vorhandene Zeichen variieren, sondern auch neue konstituieren. Potenziell kann jeder Erfahrungsgegenstand für Peirce zum Zeichen werden, wenn wir ihn als Hinweis auf etwas von ihm Unterscheidbares wahrnehmen. Zeichen sind so gesehen Ergebnisse von Interpretationen bzw. Phänomene, die aus Sinnbildungsanstrengungen bzw. aus der Verarbeitung von Erfahrungen hervorgehen. Alles, was durch Zeichen repräsentierbar ist, das ist fur Peirce auch fähig, Ausgangspunkt einer neuen Zeichenbildung zu werden.15 Da für Peirce prinzipiell alles zum Zeichen werden kann, was sich als Zeichen wahrnehmen lässt, stellen sich fur ihn Verstehensprozesse immer als Prozesse der Zeichenidentifizierung, der Zeicheninterpretation und der Zeichenableitung dar. Zeichenbasierte Sinnbildungsprozesse (Semioseprozesse) zeugen sich ständig fort. Deshalb lassen sie sich auch nur methodisch beenden, aber nicht sachlich. Jedes irgendwie abgrenzbare und identifizierbare Phänomen kann für Peirce Ausgangspunkt einer Zeichenbildung werden, sofern ein Interpret es nicht nur als bloße Gegebenheit (factum brutum) hinnimmt, sondern als einen Repräsentanten für etwas von ihm Unterschiedenes. Jedes Erfahrungsphänomen, dem interpretierende Zeichen, also Zeicheninterpretanten, zugeordnet werden können, wird demgemäß zu einem Zeichenträger, durch den ein spezifisches Zeichenobjekt aus dem Kontinuum der physischen oder geistigen Welt herausdifferenziert wird. Da Peirce seine Zeichenlehre nicht normativ, sondern deskriptiv und operativ orientiert hat, ist er weit davon entfernt, doktrinär festzulegen, was als Zeichenträger dienstbar gemacht werden kann und was als Zeichenobjekt zulässig ist. Solche Festlegungen würden nämlich ein vorab gegebenes Gesamtwissen über die Welt voraussetzen, über das niemand verfügt und das im Prinzip auch nur über die Interpretation der Welt mittels Zeichen zu erlangen wäre. Wenn nun aber weder normativ festzulegen ist, was als Zeichen anzusehen ist, noch welche Zeicheninhalte als zulässig betrachtet werden können, dann wird das Problem sehr brisant, wie sich die jeweiligen Sinnzuweisungen rechtfertigen lassen und wie eine intersubjektive Verständigung mit Hilfe von Zeichen möglich ist. Hier greift nun ein Konzept von Peirce, das unter dem Namen pragmatische Maxime bekannt geworden ist. Es besagt, dass die Vorstellung von dem, was durch ein Zeichen als Inhalt repräsentiert werden soll, letztlich mit den Wirkungen zusammenfällt, die der von dem jeweiligen Zei-
15
Ch.S. Peirce, CP, 8.268: „Whatever is capable of being represented is itself of a representative nature. The idea of representation involves infinity, since a representation is not really such unless it be interpreted in another representation." Vgl. auch CP, 2.308.
Die Konstitution von Zeichen
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chen objektivierte Vorstellungsinhalt auf uns ausübt. Zur Erläuterung dieser pragmatischen Maxime verweist Peirce deshalb ausdrücklich auf das JesusWort, dass man etwas an seinen Früchten erkennen könne und solle.16 Aus der pragmatischen Maxime folgt, dass die Bedeutung oder der Sinn von Zeichen bzw. von Erfahrungsphänomenen, die als Zeichen wahrgenommen werden, letztlich aus den Denkoperationen hervorgeht, die man mit ihrer Hilfe realisiert. Die Bedeutung von Zeichen ist deshalb nicht mit vorgegebenen geistigen Entitäten zu identifizieren, die von den jeweiligen Zeichenträgern bzw. Zeichen nur ins Bewusstsein gerufen werden. Zeichen sind für Peirce keine Abbildungsmittel für präexistente Gegebenheiten, sondern vielmehr Sinnbildungswerkzeuge, mit denen wir uns eine intersubjektiv nachvollziehbare Vorstellung von etwas machen sollen, das in der jeweiligen Wahrnehmungssituation nicht direkt fassbar ist. Bedeutungszuweisungen an einzelne Zeichen schließen für Peirce deshalb auch Sinnbildungsprozesse nicht ab, sondern stabilisieren allenfalls Zwischenergebnisse, die im Denken genutzt werden können, um neue Erfahrungen machen zu können. Dementsprechend stellen sich für Peirce kognitive Probleme auch immer als Probleme der Zeichenbildung und der Zeicheninterpretation dar bzw. als Probleme semiotischer Interaktionen. So gesehen muss der Bedeutungsbegriff bei Peirce prinzipiell als ein funktionaler und sozialer Begriff verstanden werden, insofern Zeichen dazu dienen sollen, sich eine sinnvolle, intersubjektiv nachvollziehbare Meinung über etwas zu bilden. Diese Hinweise könnten die Vorstellung nahe legen, Peirce wäre ein Idealist in dem Sinne, dass er die Realität als ein reines Konstrukt des Denkens ansehen würde, aber nicht als etwas, was dem Denken als eigenständige Größe gegenübersteht und was Verstehensprozessen harten Widerstand leisten kann. Mit einer solchen Einordnung würde man die erkenntnistheoretische Position von Peirce aber völlig missverstehen, da es ihm gerade um die Aufhebung der unfruchtbaren Opposition von Idealismus und Realismus im Rahmen einer Zeichentheorie geht. Peirce leugnet keineswegs die Existenz einer vom denkenden Subjekt unabhängigen Realität. Er will nur nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass diese Realität uns nicht zeichenfrei, sondern immer nur zeichenvermittelt zugänglich ist. Seiner Meinung nach können wir nur das als Realität betrachten, worüber wir uns mit Hilfe von Zeichen eine intersubjektiv nachvollziehbare Meinung bilden können, die sich in Handlungsprozessen pragmatisch bewährt. Deshalb betont er in seiner Zeichentheorie einerseits sehr nachdrücklich die Notwendigkeit der Ausbildung von kreativen Interpretationsperspektiven (abduktive Interpretantenbildung) und andererseits die Notwendigkeit, dass sich die jeweiligen Ergebnisse von semiotischen Objektbildungen im pragmatischen Handeln und im intersubjektiven Meinungsaustausch als fruchtbar 16
Ch.S. Peirce, CP, 5.402^103. Vgl. auch CP, 8.191.
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Der Hase des Physiologus
erweisen müssen, weil sich nur so ihr Passungscharakter zur Welt bestätigen bzw. sukzessiv erhöhen kann. Auf diese Weise sollen Zeichen auf evolutionäre Weise (in the long run) zu verlässlichen Repräsentationen der Welt im Denken bzw. zur Objektivierung von Wahrheit fuhren.17 Ob die jeweiligen Zeichenbildungen adäquat sind oder nicht, das lässt sich für Peirce nicht von einem Standpunkt außerhalb des Zeichengebrauchs in Handlungsprozessen beurteilen, sondern nur im Vollzug des Gebrauchs von Zeichen bei der Bewältigung der empirischen, geistigen und sozialen Welt. Was ein Zeichen ist und was es objektivieren und repräsentieren kann, das lässt sich nicht apodiktisch festlegen, sondern nur im Kontext von Objektivierungs- und Differenzierungsprozessen konkretisieren.
Die ikonische Struktur des Physiologus-Textes In dem Physiologus-Text über den Hasen stoßen wir auf Zeichenformen und Zeicheninterpretationen, die uns heute ziemlich fremdartig und merkwürdig erscheinen, die aber im Denkrahmen der Vorstellung von der Analogie des Seins und des Zeichenkonzeptes von Peirce strukturell durchaus nachvollziehbar sind. Ob diese Zeichenwahrnehmungen uns auch inhaltlich zufrieden stellen, ist dann allerdings noch eine andere Frage. Strukturanalytisch gesehen stellt sich die Konstitution von Zeichen in unserem Text folgendermaßen dar. Zunächst werden uns mit Hilfe konventionalisierter sprachlicher Zeichen bestimmte Vorstellungen über die Gestalt des Hasen, seine Lebensumstände und seine Verhaltensweisen ins Bewusstsein gerufen. Diese Vorstellungsbilder können dann in einer zweiten abgeleiteten Zeichenrelation als Zeichenträger wahrgenommen werden, die kraft Analogie auf ikonische Weise wiederum auf religiöse Vorstellungsinhalte verweisen bzw. diese objektivieren und konkretisieren. Dabei wird besonderer Wert darauf gelegt, die Aktionsmöglichkeiten des Hasen in der realen Welt mit den Aktionsmöglichkeiten des Menschen in der religiösen und moralischen Welt zu parallelisieren. Auf diese Weise kann dann die Lebenssituation des Hasen zu einem Sinnbild der Lebenssituation des Menschen gemacht werden. Diese ikonische Zeichenbildung bzw. Zeicheninterpretation ist uns heute formal durchaus nachvollziehbar, aber inhaltlich wohl nicht immer unmittelbar plausibel, weil sich unsere Sinnbildungsinteressen bei der Wahrnehmung der real gegebenen Welt seit dem Mittelalter historisch sehr gewandelt haben. Unter der Wahrnehmung von Realität verstehen wir heute etwas ganz anderes als das, was uns im Physiologus-Text nahe gelegt wird. Deshalb kann man sich dann auch fragen, ob sich diese Form der Zeichenkonstitution und Zeicheninterpretation historisch und pragmatisch bewährt hat. 17
Vgl. Ch.S. Peirce, CP, 1.171, 5.257, 8.12.
Das Buch der Natur und die Allegorese
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Eine solche Frage lässt sich allerdings nicht leicht beantworten, weil sich die Zeichenbildungen, die wir heute für brauchbar halten, weitgehend an den Wahrnehmungsinteressen der Naturwissenschaften orientieren und nicht an denen einer Religion. Im Prinzip müssen wir aber sicherlich einräumen, dass auch die Erkenntnisinteressen der Naturwissenschaften einem historischen Wandel unterliegen und keine absolut gültigen Normen zu setzen vermögen. Während es im Mittelalter völlig selbstverständlich war, Naturphänomene ikonisch als Zeichen für metaphysische und religiöse Ordnungszusammenhänge zu interpretieren, sind wir es heute gewohnt, Naturphänomene als bloße Fakten wahrzunehmen oder als Resultate von Naturgesetzen bzw. Evolutionsprozessen. Natürliche Gegebenheiten als Sinnbilder für kosmologische und spirituelle Ordnungen zu verstehen, akzeptieren wir heute allenfalls im Bereich des poetischen Sprachgebrauchs. Auf die Zeichentheorie von Peirce wurde deshalb etwas ausführlicher eingegangen, weil sie als Strukturtheorie primär bestrebt ist, die Prämissen, Formen und Zielsetzungen der Zeichenbildung aufzudecken und damit natürlich auch die Rahmenbedingungen für Prozesse der Sinnkonstitution und der Sinnzirkulation. In Verbindung mit der Idee der Analogie des Seins erweist sich seine Zeichentheorie und insbesondere seine Theorie der abgeleiteten ikonischen Zeichen als sehr hilfreich, um das Sprachspiel besser zu verstehen, das in dem Physiologus-Text über den Hasen konkretisiert wird. Dieses Sprachspiel lässt sich außerdem auch noch durch ein anderes Konzept erläutern, das unter dem Namen Buch der Natur bzw. unter dem Namen Allegorese bekannt geworden ist. Dieses Konzept macht ganz nachdrücklich darauf aufmerksam, dass sich im Mittelalter die semiotische Praxis nicht nur auf die Welt der Sprache und der Bilder bezogen hat, sondern auch auf die Welt der Dinge und dass in dieser Zeit der Materialität von Zeichen die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wurde wie deren geistigen Repräsentationsinhalten. Historisch gesehen müssen wir uns immer bewusst sein, dass sich das Problem der Zeichenerfassung und des Zeichenverstehens geschichtlich natürlich früher am Verstehen von dinglichen Zeichen entzündet hat als am Verstehen von sprachlichen Zeichen.18
5. Das Buch der Natur und die Allegorese Das ontologische Konzept der Analogie des Seins bzw. das analogisierende Denken hat eine besonders klare Ausprägungsform in der Vorstellung vom Buch der Natur gefunden, über das Gott ebenso wie über die Bibel als Buch
18
Vgl. A. Assmann, Probleme der Erfassung von Zeichenkonzeptionen im Abendland, in: R. Posner u.a. (Hrsg.), Semiotik, 1. Teilband, 1997, S. 712ff.
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Der Hase des Physiologus
der Schrift zu den Menschen spreche.19 Die Vorstellung, dass sich Gott über zwei Bücher den Menschen offenbare, ist wohl zuerst von Augustin entwickelt worden und hat dazu geführt, semiotisch zwischen den Wortzeichen (voces, signa data) und den Dingzeichen (res, signa naturalia) zu unterscheiden. In seinem Kommentar zur Schöpfungsgeschichte hat Augustin die Dinge in der geschaffenen Welt dann in einer sehr umfassenden Weise als Sinnbilder für etwas Geistiges bzw. für eine spirituelle Welt ausgelegt und auf diese Weise versucht, die Schöpfung als Buch zu lesen.20 Aus diesem Denkansatz hat sich dann eine Tradition der allegorischen Dinginterpretation entwickelt, in der auch der Physiologus eine wichtige Rolle gespielt hat.
Die Sprache der Dinge Die Sprache der Dinge wurde als natürlich gegebene Sprache vielfach sogar als noch verlässlicher angesehen als die Sprache der Wörter als eine künstlich entwickelte Sprache. Hugo von St. Victor hat im 12. Jh. ausdrücklich betont, dass die Bedeutung des Wortes auf eine menschliche Einrichtung zurückzuführen sei und die der Dinge auf eine göttliche.21 Er ist der festen Überzeugung, dass die ganze Natur von Gott spreche, dass sie den Menschen belehre, dass sie sinnträchtig sei und dass nichts im Weltall unfruchtbar sei.22 Auch Alain von Lille hat diese Auffassung in einem Gedicht ganz ähnlich konkretisiert. Alles Geschaffene in der Welt sei für uns ein Buch, ein Bild und Spiegel, ein getreues Abbild unseres Lebens, unseres Todes, unseres Zustandes, unseres Schicksals.23 Obwohl das Buch der Natur als ein Buch verstanden wurde, das aus natürlichen Zeichen besteht, so musste man dennoch lernen, darin zu lesen. Die Aufgabe der Allegorese war es deshalb, dabei zu helfen, die empirisch fassbaren Phänomene in der Welt (Dinge, Farben, Gesten, Verhaltensweisen, Ereignisse usw.) spirituell auszulegen bzw. als eine besondere Mitteilungsform Gottes zu verstehen. Ebenso wie der des Lesens Unkundige in einem Buch nur die materielle Schriftform der Wörter wahrnehmen könne, so könne auch der geistig nicht sensibilisierte Mensch in der Natur nur die materielle Seite der 19
20 21
22
23
Vgl. H.M. Nobis, Buch der Natur, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, Sp. 957-959. E. Rothacker, Das „Buch der Natur", 1979. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 1981. A. Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, 1966 3 , Buch 11-13, S. 601ff. „Voces ex humana, res ex divina institutione significant." Zit. nach F. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 1977, S. 12. „Omnis natura Deum loquitur. Omnis natura hominem docet. Omnis natura rationem parit, et nihil in universitate infecundum est." Zit. nach F. Ohly, a.a.O., S. 6. „Omnis mundi creatura / Quasi liber etpictura / Nobis est et speculum; / Nostrae vitae, nostrae mortis, /Nostri status, nostrae sortis/Fidele signaculum." Zit. nach F. Ohly, a.a.O., S. 17.
Das Buch der Natur und die Allegorese
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Dinge wahrnehmen, aber nicht ihren spirituellen Sinn. Die Allegorese vollzog sich deshalb so, dass die Aufmerksamkeit zunächst auf die Besonderheiten und empirischen Eigenschaften (proprietates) der einzelnen Phänomene gerichtet wurde und dass dann in einem zweiten Verstehensschritt diese Eigenschaften bzw. der Verbund dieser Eigenschaften kraft Analogie im Hinblick auf einen spirituellen Sinn ausgedeutet wurden. Das für uns heute Verblüffende besteht nun darin, dass dieselben Dinge, je nach den besonderen Eigenschaften, die an ihnen empirisch fassbar waren oder die man ihnen kulturell zuschrieb, einen ganz unterschiedlichen spirituellen Sinn bekommen konnten. Beispielsweise konnte der Löwe auf Christus verweisen, insofern ihm zugeschrieben wurde, mit offenen Augen zu schlafen. Damit ähnele er Christus, der hinsichtlich seiner menschlichen Natur zwar gestorben sei, aber hinsichtlich seiner göttlichen Natur weiterlebe. Der Löwe konnte aber auch auf den Teufel verweisen, insofern dieser brüllend umherlaufe und jemanden suche, den er verschlingen könne. Der Löwe konnte aber auch auf einen Häretiker verweisen, insofern ihm üble Gerüche aus dem Maule kämen und dem Häretiker blasphemische Worte.24 Die spirituelle Interpretation natürlich gegebener Sachverhalte erscheint uns heute nicht nur ziemlich fremdartig, sondern auch sehr problematisch, da sie eine realistische Naturwahrnehmung im empirischen Sinne ganz zu verhindern scheint. In diesem Zusammenhang hat man nun allerdings auch zu berücksichtigen, dass unsere heutige Naturwahrnehmung im Mittelalter sehr befremdlich und unrealistisch erschienen wäre. Im Rahmen des analogisierenden mittelalterlichen Denkens galt es als realistisch, die materielle Welt als Hinweis auf eine spirituelle Welt wahrzunehmen, und als unrealistisch, die Dinge nur hinsichtlich ihrer faktischen Existenz zu betrachten und nicht hinsichtlich ihrer dahinter liegenden geistigen Essenz. Die allegorische Interpretation natürlicher Gegebenheiten wurde dementsprechend als eine genuine Ausdrucksform eines realistischen Denkens verstanden und nicht als eine hypothetische oder ästhetische Form von Sinnbildungsanstrengungen. Deshalb war es dem mittelalterlichen Denken auch gar nicht fremd, bei Textinterpretationen die Interpretationen von Wörtern immer auf die Interpretation von Dingen und Verhaltensweisen auszudehnen. Johan Huizinga hat das so beschrieben: „Im symbolischen Denken ist Raum für eine unermeßliche Vielfältigkeit von Beziehungen der Dinge zueinander. Denn jedes Ding kann mit seinen verschiedenen Eigenschaften gleichzeitig Symbol für vielerlei sein, es kann auch mit ein und derselben Eigenschaft verschiedenes bezeichnen; die höchsten Dinge haben tausenderlei Symbole. Kein Dings ist zu niedrig, als daß es nicht das Höchste bedeuten und zu seiner Verherrlichung dienen könnte. Die Walnuß bedeutet Christus: Der süße Kern ist die göttliche Natur, die fleischige äußere Schale die menschliche und
24
Vgl. F. Ohly, a.a.O., S. 9ff. Ch. Meier, Das Problem der Qualitätenallegorese, Frühmittelalterliche Studien, 8, 1974, S. 384-435.
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Der Hase des Physiologus d i e h o l z i g e S c h a l e d a z w i s c h e n ist d a s K r e u z . A l l e D i n g e b i e t e n d e m E m p o r s t e i g e n des G e d a n k e n z u m E w i g e n Stütze und Halt."25
Die Vorstellung, dass man in der Natur wie in einem Buch lesen könne, endet nicht mit dem Mittelalter, sondern findet später nur andere Manifestationsformen, die im Einklang mit der neuen Naturauffassung stehen. Wenn man als Natur nicht mehr das ansieht, was einem sinnlich vor Augen liegt, sondern das, was Naturgesetze objektivieren, dann ist klar, dass das Buch der Natur anders gelesen werden muss. So ist es nicht erstaunlich, dass sich Kepler bei seinen Bemühungen um die Erfassung von astronomischen Gesetzlichkeiten als Priester Gottes am Buch der Natur verstanden hat.26 Auch Galilei hat vom Buch der Natur gesprochen und ist zu dem Schluss gekommen, dass es in der Sprache der Mathematik geschrieben sei und erst dann gelesen werden könne, wenn man „zwvor die Chiffern, in denen es verfaßt ist, d.h. die mathematischen Figuren und deren notwendige Verknüpfung zu verstehen gelernt hat."27 Auch Lichtenberg hat die Vorstellung vom Buch der Natur aufgenommen und ihr folgende Fassung gegeben: „Wir sehen in der Natur nicht Wörter, sondern immer nur Anfangsbuchstaben von Wörtern, und wenn wir alsdann lesen wollen, so finden wir, daß die neuen sogenannten Wörter wiederum bloß Anfangsbuchstaben von andern sind.u2S Die Idee vom Buch der Natur wirkt natürlich auch in der poetischen Bildersprache weiter. Wenn in ihr Dinge und Verhaltensweisen benannt und beschrieben werden, dann geht es natürlich nicht nur darum, uns empirische Gegebenheiten ins Bewusstsein zu rufen, sondern immer auch darum, diese Gegebenheiten als Mittel zu benutzen, um ikonisch auf etwas zu verweisen, was sich begrifflich nicht direkt objektivieren lässt bzw. objektiviert werden soll. Ohne die Sprache der Dinge hinter der Sprache der Wörter ist Poesie nach Hamann schlechterdings nicht vorstellbar. „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, als Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse: Tausch, — als Handel... Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseligkeit."29
25 26
27
28 29
J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, 1975", S. 291. Vgl. H.M. Nobis, Buch der Natur, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, Sp. 958. Galilei, II saggiatore, Ed. Naz. VI, 232. Zit. nach E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 198 7 6 , S. 165. Vgl. auch: H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 1981, S. 74ff. E. Rothacker, Das „Buch der Natur", 1979, S. 45. G.Ch. Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 1, 1983, S. 455, J 1346. J.G. Hamann, Aestetica in nuce, in: Schriften zur Sprache, 1967, S. 107.
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Satirische Überdehnungen des allegorisierenden Denkens Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass das analogische Denken eine unverzichtbare Grundform geistiger Aktivitäten ist. Davon zeugen nicht zuletzt unsere Vorlieben für Metaphern, Fabeln, Parabeln und Gleichnissen. Das Problem ist nur, welchen ontologischen und erkenntnistheoretischen Wert wir Analogien bzw. ikonischen Sprachverwendungsformen zubilligen können. Sehen wir in der Analogie zwischen zwei Bereichen einen substanziellen Hinweis auf eine innere Wesensverwandtschaft des einen Phänomens mit einem anderen oder nur eine partielle formale Strukturähnlichkeit, die uns allein dazu berechtigt, etwas sinnlich Vorstellbares als Erschließungsmittel für etwas sinnlich nicht gut Vorstellbares zu betrachten. Im letzteren Fall hätten Analogien allenfalls einen hypothetischen, heuristischen oder hermeneutischen Wert. Sie würden nur dazu dienen, unsere Wahrnehmungen auf bestimmte Aspekte von Phänomenen zu fokussieren und diese eben dadurch als eigenständige Denkgrößen zu isolieren und zu akzentuieren. Wie alle unverzichtbaren Formen des Denkens und Mitteilens steht deshalb auch das analogisierende Denken und Sprechen in der Gefahr, überdehnt zu werden oder so gebraucht zu werden, dass es einen immanenten Zwang darauf ausübt, Phänomene nur in der Denkperspektive wahrzunehmen, die durch die gegebenen oder postulierten Analogien nahe gelegt wird. Alle analogisierenden Denkweisen und Gestaltungsformen führen zu selektiven Wahrnehmungsweisen, die sowohl aufklärende als auch verschleiernde Wirkungen haben können, weil sie unseren Blick auf die Welt sowohl aspektuell konzentrieren als auch vereinfachend pauschalisieren können. Dieses Spannungsverhältnis ist wohl auch der Grund dafür, dass analogisierende Denk- und Sprechweisen beliebte Mittel von ironischen und satirischen Darstellungsverfahren sind. Das mag ein Beispiel illustrieren, in dem auch ein Hase zum Gegenstand einer spirituellen Auslegung gemacht wird. Es handelt sich um eine Passage aus einem dialogisch gestalteten Text mit dem Titel „Der Weihnachtshase" von Robert Gernhardt, Bernd Ellert und Peter Knorr, der auch als Hörbild gesendet worden ist.30 In diesem satirisch gestalteten Text geht es darum, dass der reiche Kaufmann Fugger bei dem armen Maler Dürer ein Bild von weihnachtlicher Prägung in Auftrag gegeben hat. Als Fugger dieses Bild am 24. Dezember 1502 abholen will, präsentiert ihm Dürer erstaunlicherweise ein Hasenbild. Fugger ist sehr enttäuscht, weil es dieses nicht im Sinne seiner Erwartung wahrnehmen kann. Doch dann interpretiert ihm Dürer sein Werk auf allegorische Wei-
30
R. Gernhardt/B. Eilert/P. Knorr, Es ist ein Has' entsprungen und andere schöne Geschichten zum Fest, Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt 2004, S. 12-15.
Der Hase des Physiologus
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se als ein sehr sixmträchtiges Weihnachtsbild. Fugger ist hoch erfreut und honoriert Dürer großzügig. FUGGER
Ein Hase ist kein
Weihnachtsbild!
DÜRER Ein Hase ist kein Weihnachtsbild? Ja, glaubt Ihr denn ... Ja, meint Ihr gar... Potztausend, nein! Ergo versteh ich wohl von Bildern nichts! FUGGER Nein, nicht doch, Meister Albrecht! Solch Eifern ist allhier ganz fehl am Platze! Beruhigt Euch doch! DÜRER
Nun, bitte, wie Ihr meint.
FUGGER Es geht doch bloß um Folgendes: Ich hatt' bei Euch ein Bild bestellt von weihnachtlicher Prägung, mit froher Botschaft und so fort... DÜRER Ja, und was glaubt Ihr denn, warum mein Hase seine Löffel spitzt? ... Nun, worauf lauscht er wohl? ... Auf eben diese Botschaft - worauf sonst!? FUGGER
Ach, Ihr
meint...
DÜRER Nun schaut doch bloß einmal, wie sich mein Hase kauert! Weshalb tut er das wohl? ... Weil es ihm Spaß macht? ... Nein! Weil Weihnachten im Winter ist! Ihn friert ... Und achtet auch der Schnurrbarthaare! Sind sie nicht wie die Hirten auf dem Felde? ... Zitternd und zagend zwar - doch festgewachsen! Und spitz ... spitz auf das Unerhörte, was zu Weihnachten geschah! FUGGER DÜRER FUGGER
Spitz ... in der Tat... Und seine Nase ... Nun, Ihr wißt ja
selbst...
Was ist denn mit der Nase?
DÜRER Die Hasennase ist seit altersher das gängigste Symbol für neugebor 'nes Leben. FUGGER
Ach so...
DÜRER Der Mund, Ihr seht, er schweigt ... Weil er vor Freude nichts zu sagen hat... FUGGER DÜRER FUGGER
Und die Augen? Die Augen ... die Augen sind die Spiegel uns 'rer Seele. Hmm ...
DÜRER Tretet nur näher hin, dann könnt Ihr ja das sei 'ge überird 'sehe Glimmen gar nicht übersehen ... Ja, so ist's recht ... (FUGGER ten) FUGGER
ist ehrfurchtig vor das Bild getreten und bestaunt die Einzelhei-
Ich glaub, jetzt seh ich 's auch ...
DÜRER Und schließlich die vier Hasenpfoten ... Nun, worauf fußet unser Glaube denn? FUGGER
Worauf?
(DÜRER zählt an vier Fingern ab.) DÜRER
Gott, Vater, Sohn
und...
Das Buch der Natur und die Allegorese
FUGGER DÜRER FUGGER DÜRER FUGGER
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Heil 'ger Geist! Die Heilige Vierfaltigkeit! Ihr habt sie wohl erkannt. Ja, und die vielen Haare: Das sind am Ende gar wir selbst! fast sprachlos Wer? Wir? Die ganze Christenheit!
DÜRER Ach, die ... jawohl, so ist es. FUGGER
Ach, Meister Albrecht, ich bin ja so froh!
DÜRER Ich doch auch. Es ist mir Ehr' und Freud' zugleich, für Euch und Euresgleichen von Zeit zu Zeit ein kleines Meisterwerk zu schaffen ... FUGGER Das ist es! Ohne Frage: Ein Meisterwerk! Und allegorisch obendrein ... War ich denn blind? DÜRER
ein wenig ...
(FUGGER zieht eine Börse aus der Tasche und seinen Ring vom Finger.) FUGGER Nehmt, Meister Albrecht, nehmt! Dies Säckchen Gold - und mehr als das: Nehmt diesen Diamantring! Zum Zeichen, daß Ihr meine Blendung mir verzeiht... (DÜRER betrachtet den funkelnden Ring.) (FUGGER nimmt sein Bild und geht zur Tür.) DÜRER
Schönes Stück ... Ich danke Euch, Herr Fugger, und geht recht sorgsam
um mit Eurem Weihnachtsbild! FUGGER DÜRER FUGGER
Ach, lieber Dürer, das versprech' ich Euch! Es war mir ein Vergnügen, lieber Fugger. Und mir war's ein Erlebnis, unvergesslich ...
VIII Die Erkenntnismaschine von Lagado Gullivers Bericht über ein Forschungsprojekt an der Akademie von Lagado Wir gingen über einen Weg zum anderen Teil der Akademie hinüber, wo, wie ich bereits sagte, die Projektemacher auf dem Gebiet der spekulativen Wissenschaften ansässig waren. Der erste Professor, den ich sah, befand sich in einem sehr großen Zimmer und war von vierzig Schülern umgeben. Nach der Begrüßung bemerkte er, daß ich angelegentlich einen Rahmen betrachtete, der den größten Teil der Länge und Breite des Zimmers einnahm, und sagte, ich wundere mich vielleicht, ihn mit einem Projekt zur Förderung der spekulativen Erkenntnis durch praktische und technische Verfahren beschäftigt zu sehen. Die Welt werde sich aber bald ihrer Nützlichkeit bewußt werden, und er schmeichle sich, daß nie ein edlerer, erhabenerer Gedanke dem Kopf irgendeines anderen Menschen entsprungen sei. Jedermann wisse, wie mühevoll die gewöhnliche Methode sei, Kenntnisse auf dem Gebiet der Geistes- und Naturwissenschaften zu erwerben; dagegen könne durch seine Erfindung auch die unwissendste Person mit mäßigem Kostenaufwand und ein bißchen körperlicher Arbeit auch ohne die geringste Hilfe von Begabung oder Studium Bücher über Philosophie, Poesie, Politik, Recht, Mathematik und Theologie schreiben. Dann führte er mich zu dem Rahmen, um dessen Seiten alle seine Schüler in Reihen standen. Er war zwanzig Fuß im Quadrat und stand in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche setzte sich aus verschiedenen Holzstücken von etwa der Größe eines Würfels zusammen, aber einige waren größer als andere. Sie waren alle durch dünne Drähte miteinander verbunden. Diese Holzstücke waren an jeder Seite mit Papier beklebt, und auf diese Papiere waren alle Wörter ihrer Sprache in ihren verschiedenen Modi, Tempora und Deklinationen geschrieben, aber ohne jede Ordnung. Der Professor bat mich dann achtzugeben, denn er wolle seinen Apparat in Betrieb setzen. Die Schüler ergriffen auf seinen Befehl alle je eine eiserne Kurbel, von denen vierzig rundherum an den Kanten des Rahmens befestigt waren, und dadurch, daß sie sie plötzlich drehten, wurde die ganze Anordnung der Wörter völlig verändert. Dann befahl er sechsunddreißig von den Burschen, leise die verschiedenen Zeilen zu lesen, wie sie auf dem Rahmen erschienen. Und wo sie drei oder vier Wörter beisammen fanden, die einen Teil eines Satzes bilden konnten, diktierten sie diese den vier übrigen Knaben, die Schreiber
Gullivers Bericht über ein Forschungsprojekt an der Akademie von Lagado
251
-waren. Diese Arbeit wurde drei- oder viermal wiederholt, und der Apparat war so eingerichtet, daß sich die Wörter bei jeder Drehung an neue Stellen schoben, wenn sich die viereckigen Holzstücke herumdrehten.
Sechs Stunden am Tag waren die jungen Studenten mit dieser Arbeit beschäftigt, und der Professor zeigte mir mehrere Bände in gi-oßem Folioformat mit unvollständigen Sätzen, die sie bereits gesammelt hatten. Er hatte die Absicht,
252
Die Erkenntnismaschine von Lagado
sie zusammenzusetzen und der Welt aus diesem reichen Material ein vollständiges System aller Geistes- und Naturwissenschaften zu liefern, das sich jedoch noch verbessern und viel schneller aufstellen ließe, wenn die Öffentlichkeit einen Fonds zur Herstellung und Inbetriebnahme von fünfhundert solcher Rahmen in Lagado aufbringen und die Leiter verpflichten würde, ihre verschiedenen Sammlungen zu einer gemeinschaftlichen beizusteuern. Er versicherte mir, diese Erfindung habe all seine Gedanken seit seiner Jugend in Anspruch genommen; er habe den gesamten Wortschatz für seinen Rahmen ausgeschöpft und eine sehr genaue Berechnung des gewöhnlichen Verhältnisses vorgenommen, das in Büchern zwischen der Anzahl der Partikel, Substantive, Verben und anderen Wortklassen bestehe. Ich bezeigte dieser ausgezeichneten Persönlichkeit meinen untertänigsten Dank für ihre große Mitteilsamkeit und versprach, falls ich je das Glück hätte, in mein Vaterland zurückzukehren, ihm Gerechtigkeit als dem einzigen Erfinder dieses wunderbaren Apparats widerfahren zu lassen; ich bat um Erlaubnis, dessen Form und Einrichtung auf Papier zu skizzieren, wie in der Abbildung, die hier beigefügt ist. Ich sagte ihm, obgleich es die Gewohnheit unserer Gelehrten in Europa sei, Erfindungen voneinander zu stehlen, wobei sie wenigstens den Vorteil hätten, daß ein Streit daraus entstehe, wer der rechtmäßige Besitzer sei, so wolle ich doch solche Vorsichtsmaßregeln ergreifen, daß er ohne einen Nebenbuhler die Ehre ungeteilt haben sollte.'
'
Jonathan Swift, Gullivers Reisen, Insel Taschenbuch 58, Frankfurt, 1975, S. 259-262.
Die Hintergründe des Textes
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1. Die Hintergründe des Textes Swifts 1726 erschienener fantastischer Reisebericht Gulliver's Travels wird wegen seiner vielen vereinfachenden Bearbeitungen oft als Kinderbuch angesehen. In seiner authentischen Fassung ist dieses Werk aber sicherlich als eine kulturgeschichtlich sehr aufschlussreiche Satire anzusehen, in der Swift seine Zeitgenossen in exotisch verfremdeter und sachlich überspitzter Weise mit Problemen der eigenen Zeit konfrontiert, deren Dimensionen uns heutzutage kaum noch direkt fassbar sind. Deshalb erweist es sich als notwendig, kulturgeschichtliche Rekonstruktionsarbeit zu leisten, um die Zielrichtung der satirischen Kritik von Swift auszumachen, die hinter den merkwürdigen Erlebnisberichten Gullivers stehen. Auch der vorgelegte Bericht Gullivers über seinen Besuch der Akademie von Lagado im Rahmen seiner Reise nach Laputa hat sehr deutliche satirische Implikationen. Offenbar wollte Swift mit Gullivers Bericht über die Forschungsprojekte an der Akademie von Lagado den Forschungsbetrieb im Umkreis der Royal Society verspotten, die sich 1660 endgültig etabliert hatte und in deren Statuten eine ausgesprochen utilitaristische Programmatik fixiert worden war.2 Swift spart in diesem Zusammenhang nicht mit Spott über die neuen Experimentalwissenschaften, die in England in dieser Zeit in Mode gekommen waren, und bemüht sich, die Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit in diesem neuen wissenschaftlichen Denkansatz zu enthüllen bzw. in aggressiver Weise lächerlich zu machen. Das zeigt sich insbesondere in den Berichten Gullivers über die Forschungsprojekte der Akademie in der Abteilung für praktische Wissenschaften. Hier beschäftigt man sich beispielsweise mit dem Projekt, die angeblich in Gurken konzentrierten Sonnenstrahlen zurückzugewinnen und in speziellen Gläsern aufzubewahren, um sie in unfreundlichen Sommern zu nutzen. In einem anderen Projekt versucht man, den Hausbau zu revolutionieren, insofern man erprobt, ob es nicht vorteilhaft sein könne, beim Bau eines Hauses statt mit den Fundamenten mit dem Dach zu beginnen. Ein weiteres Forschungsprojekt widmet sich dem Ziel, das Wachsen der Wolle bei Lämmern zu verhindern, um letztlich nackte Schafe zu züchten. All diese Forschungsprojekte wirken im Kontext des gesunden Menschenverstandes von vornherein sehr abstrus und lächerlich. Etwas schwieriger wird es dagegen, die Forschungsprojekte in der Abteilung für die spekulativen Wissenschaften zu beurteilen, zu denen auch der Bau und die Nutzung der Erkenntnismaschine gehört, weil hier die Prämissen und die möglichen Ergeb-
2
Vgl. H.J. Real/H.J. Vienken, Jonathan Swift: Gulliver's Travels, 1984, S. 9Iff.
254
Die Erkenntnismaschine von Lagado
nisse der jeweiligen Forschungsansätze nicht so gut überschaubar und beurteilbar sind. Grundsätzlich ist im Zusammenhang mit Satiren immer zweierlei zu beachten. Einerseits wollen sie natürlich immer etwas auf mehr oder weniger aggressive Weise lächerlich machen, indem sie die Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit schonungslos aufzudecken versuchen. Andererseits ist aber auch zu beachten, dass die Aggressionslust von Satiren sehr oft aus der Frustration über enttäuschte Erwartungen entspringt und dass derjenige, der eine Satire verfasst, nicht selten mit dem Gegenstand der Satire emotional sehr eng verbunden ist. Wenn er seinem Gegenstande gleichgültig gegenüberstünde, dann würde er nicht angreifen und nicht versuchen, die Leser zu Komplizen seiner eigenen Wahrnehmungsweise zu machen. Tucholsky hat deshalb die psychologischen Hintergründe von Satiren folgendermaßen beschrieben: „Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist; er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an."3 Zu fragen ist in diesem Zusammenhang nun, ob die Idee der Erkenntnismaschine für Swift und seine Zeitgenossen tatsächlich so abstrus war, wie es uns heute auf den ersten Blick erscheint, und warum sie Swift überhaupt zum Gegenstand einer Satire gemacht hat. Eine genauere Betrachtung der kulturhistorischen Kontexte zeigt nämlich, dass die Idee der mechanischen Erzeugung von Wissen die Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts sehr intensiv beschäftigt hat und dass dahinter ganz fundamentale erkenntnistheoretische und sprachtheoretische Grundsatzprobleme stehen, die wohl auch Swift beschäftigt haben und die er als geborener Skeptiker indirekt auf satirische Weise zu thematisieren versucht. Das Projekt zur maschinellen Erzeugung von Wissen verweist auf das erkenntnistheoretische Grundsatzproblem, ob sich unser Gesamtwissen letztlich auf elementare Wissensatome zurückführen lässt, die sich nach bestimmten Verfahren zu Wissensmolekülen bzw. zu komplexen Wissensgestalten kombinieren lassen. Dieses Problem hat die Wissenschaftstheorie und das Sprachdenken in der Epoche Swifts in einer Intensität beschäftigt, die uns heute kaum noch nachvollziehbar ist, weil sich das ganze Denkklima inzwischen sehr verändert hat. Um die satirische Zuspitzung dieser ganzen Problematik in der Idee der Erkenntnismaschine angemessen verstehen zu können, ist es hilfreich, die diesbezüglichen zeitgenössischen Diskussionen etwas ausfuhrlicher darzustellen, um kenntlich zu machen, worauf in der Satire Swifts angespielt wird. Bei diesen Rekonstruktionen soll es primär nicht darum gehen, den konkreten Kenntnisstand Swifts zu diesem Problembereich herauszuarbeiten bzw. die Personen und Theorien zu identifizieren, die Swift in seiner Satire möglicherweise angegriffen hat. Vielmehr soll verdeutlicht werden, welche erkenntnis- und sprachtheoretischen Grundsatzprobleme in Swifts Satire direkt oder 3
K. Tucholsky, Was darf die Satire? Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 43.
Das Problem der Universalsprache
255
indirekt angesprochen werden und wie man sie zum Anknüpfungspunkt von kulturhistorischen oder sachsystematisch orientierten Sprachreflexionen machen kann. Das gelingt vielleicht am besten, wenn man sich zunächst einmal mit dem Konzept der Universalsprache beschäftigt, das im 17. und 18. Jahrhundert das sprachtheoretische Denken sehr intensiv beschäftigt hat.
2. Das Problem der Universalsprache Die Idee einer Universalsprache, die als vollkommene Sprache sowohl philosophisch-wissenschaftlichen als auch unmittelbar praktischen Zwecken dienlich sein sollte, war im 17. Jahrhundert aus mindestens vier Gründen immer mehr in den Mittelpunkt des sprachtheoretischen Interesses gerückt.4 Da die Gründe sehr heterogen sind, hat sich die Diskussion dieser Problematik auf sehr unterschiedlichen Ebenen abgespielt. 1. Die Entstehung und Konsolidierung von Nationalstaaten hatte zu einer Stärkung der nationalen Volkssprachen und damit zugleich zu einer Schwächung des Lateins als allgemeiner Wissenschaftssprache geführt. Mit den sich vergrößernden wissenschaftlichen Aktivitäten wuchs zu dieser Zeit dann aber zugleich auch das Bedürfnis nach einer exakten Wissenschaftssprache zur Objektivierung und internationaler Vermittlung von Erkenntnissen. Deshalb lag dann natürlich auch der Wunsch nahe, eine wissenschaftliche Universalsprache zu entwickeln, die die Objektivierungs- und Vermittlungsprobleme der Wissenschaften optimal lösen konnte. 2. Das wachsende Methodenbewusstsein in den Einzelwissenschaften hatte außerdem zu einer verstärkten Reflexion auf die sprachlichen bzw. semiotischen Grundlagen der Wissenschaften gefuhrt. Insbesondere die Mathematik hatte auf diese Weise eine besondere Vorbildfunktion für alle Wissenschaften bekommen. Man versuchte nicht nur, mathematische Methoden in die Einzelwissenschaften einzuführen, sondern auch, nur das für relevant zu erklären, was sich mit solchen Methoden erfassen und darstellen ließ. Das Verfahren, Größen klar zu isolieren und nach bestimmten Regeln aufeinander zu beziehen, wurde nach und nach zu einem normativen Leitbild für alle Einzelwissenschaften. 3. Der sich ausweitende internationale Handel hatte das Bedürfnis nach einer leicht erlernbaren und exakten übernationalen Verkehrssprache anwachsen lassen. Aus der Verquickung von wissenschaftlichen und praktischen Zwecken bei der zu entwickelnden Universalsprache ergaben sich dann allerdings sehr diffizile konzeptuelle Probleme. Diese führten dann wiederum zu 4
Vgl. V. Salmon, The universal language problem, in: Μ. Dascal u.a. (Hrsg.), Sprachphilosophie, 2. Halbband, 1996, S. 916-928. R. Nate, Natursprachenmodelle des 17. Jahrhunderts, 1993, S. 133ff.
256
Die Erkenntnismaschine von Lagado
einer gesteigerten Sensibilität für den Funktions- und Relationsgedanken im Hinblick auf Zeichen- und Sprachsysteine. 4. Das wachsende Interesse an dem Funktionsspektrum von Sprache hatte außerdem dazu geführt, dass die Frage nach dem Ursprung der Sprache immer intensiver gestellt wurde. Dabei stand dann allerdings weniger die Frage nach dem zeitlichen Ursprung der Sprache im Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die Frage nach den Voraussetzungen, den Grundelementen und den Grundstrukturen der Sprache. Die Aufmerksamkeit richtete sich in diesem Zusammenhang insbesondere darauf, ob es eine adamitische Ursprache gegeben habe, die sich dann im Laufe der Zeit verflüchtigt habe, ob sich die Menschen ihre Sprache frei erfinden könnten und ob die Sprache das entscheidende Kriterium sei, um die Menschen von den Tieren zu unterscheiden. Diese kurzen Hinweise verdeutlichen vielleicht, dass Gullivers Bericht über die Erkenntnismaschine von Lagado mit einem großen allgemeinen Interesse rechnen konnte, weil die Frage nach der Rolle der Sprache für die Objektivierung und Vermittlung von Wissen im 17. und 18. Jahrhundert eine immer größere Aufmerksamkeit gefunden hatte. In England waren die diesbezüglichen Probleme insbesondere im Umkreis der Royal Society intensiv diskutiert worden, nachdem Seth Ward 1654, George Dalgarno 1661 und John Wilkins 1668 konkrete Überlegungen zur Struktur einer Universalsprache vorgelegt hatten.5 Das Interesse an der Idee einer Universalsprache beschränkte sich dabei keineswegs auf England, da auch Comenius, Descartes und Leibniz diesbezügliche Überlegungen angestellt hatten. Bei allen Überlegungen zur Universalsprache stand die Abbildungs- bzw. Darstellungsfunktion der Sprache im Mittelpunkt des Interesses. Ihre Handlungsfunktion bzw. Ausdrucks- und Appellfunktion wurden dagegen ganz vernachlässigt. Die Abbildungsfiinktion der Sprache wurde dabei so verstanden, dass sprachliche Einheiten direkt mit Seinseinheiten korrespondieren sollten, sodass aus der Struktur sprachlicher Gebilde direkte Rückschlüsse auf die Struktur ontischer Gebilde getätigt werden konnten. Es gab einen großen Optimismus, dass die Struktur der Welt in der Struktur einer idealen Sprache abgebildet werden könne. Die Vorstellung, dass sprachliche Formen bloß Hypothesen sein könnten, die bei der theoretischen und praktischen Bewältigung der Welt nur mehr oder weniger nützlich seien, lag allen Theoretikern von Universalsprachen naturgemäß sehr fern.
5
Vgl. W. Hüllen, "Their manner of discourse". Nachdenken über Sprache im Umkreis der Royal Society, 1989.
Das Problem der Universalsprache
257
Die frühen Entwürfe Die Anfänge der Spekulationen über die Möglichkeit und die Struktur einer Universalsprache werden gemeinhin auf den Katalanen Raimundus Lullus (1235-1316) zurückgeführt. Seine Kombinationslehre (ars magna) baute auf der Grundvorstellung auf, dass sich aus einer begrenzten Zahl von Grundtermini, die gleichsam als elementare kognitive Bausteine anzusehen sind, auf geregelte Weise komplexe Vorstellungsinhalte erzeugen lassen, die wiederum komplexe Gegebenheiten in der Welt abbilden. Er hatte eine Liste von 54 Grundtermini aufgestellt, die er bezeichnenderweise alphabetum nannte, da er hoffte, aus diesen kognitiven Bausteinen über eine geregelte Kombinatorik komplexe Denkinhalte aufbauen zu können. Ja, er hatte sogar versucht, eine Maschine mit einer fixierten und zwei beweglichen Scheiben, auf welchen die Grundtermini verzeichnet waren, zu entwickeln, die in der Lage sein sollte, auf mechanische Weise alle möglichen Kombinationen der Grundtermini herzustellen. Aus diesem Denkansatz konnte dann leicht die Auffassung abgeleitet werden, dass die Logik letztlich als Kunst der Kombination bzw. als Kunst der regelgeleiteten Erkenntnis (ars invediendi) zu verstehen sei. Dieses Verständnis der Logik hat die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts fasziniert und den zwanzigjährigen Leibniz zu seiner Dissertation von 1666 über die Kunst der Kombination angeregt (dissertatio de arte combinatoria).6 In England hatte George Dalgarno 1661 einen Entwurf fur eine Universalsprache vorgelegt (ars signorum), die sowohl als philosophische Fachsprache als auch als internationale Gelehrten- und Verkehrssprache dienen sollte. Dabei hatte er sein Hauptinteresse darauf ausgerichtet, Elementarbegriffe auszuarbeiten, die dazu dienen sollten, Erklärungsphänomene klar nach Gattung, nach Art und nach spezifischen Eigenschaften mit Hilfe von normierten Zeichen einzuordnen. Die jeweilige Namengebung sollte dabei so organisiert werden, dass sich aus den Bestandteilen des Namens zugleich eine Sachbestimmung, wenn nicht eine Wesensdefinition des jeweils Benannten ergeben würde. Die sprachliche Benennung eines Phänomens musste sich deshalb aus Subzeichen konstituieren, die die Gattung, die Art und die spezifischen Besonderheiten des jeweils Benannten bezeichneten. Beispielsweise sollte das Kamel den Namen nekJbraf/pfar bekommen, aus dem sich dann die Sachbestimmung Vierbeiner mit gespaltenen Hufen + Höcker + Rücken ergab. Ein Königs-
6
Vgl. S. Kramer, Symbolische Maschinen, 1988, S. 88ff. U. Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 1994, S. 65ff. A. Gardt, Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung, 1994,
S. 213fr.
258
Die Erkenntnismaschine von Lagado
schloss sollte den Namen fan/kan bekommen, der soviel wie Haus + König bedeutete.7 Das Konzept von Dalgarno setzte voraus, dass bei der sprachlichen Fixierung von Namen im Prinzip schon ein vollständiges und kategorial geordnetes Sachwissen über die jeweils benannten Gegenstände vorliegen musste bzw. dass man sich schon vorab darüber zu verständigen hatte, welche Ordnungskategorien man bei der Namengebung überhaupt verwenden durfte und welche Sachaspekte von Phänomenen man für wesentlich hielt. Außerdem erwies es sich natürlich als notwendig, Regeln für die Reihenfolge von Namensbestandteilen festzulegen bzw. für die Reihenfolge von Wörtern in Aussagen, was nicht nur eine ausgearbeitete Theorie der Wortarten, sondern auch eine der Syntax voraussetzte. Dabei ergab sich dann natürlich insbesondere das Problem, dass man die Relationen zwischen den einzelnen Zeichen nicht nur als reine Additionsrelationen verstehen durfte, sondern vielmehr als Konstruktionsrelationen sehr unterschiedlichen Typs anzusehen hatte. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die von Dalgarno konzipierte Universalsprache nur auf der Basis eines schon klar vorgegebenen Wissens entwerfen ließ bzw. auf der Basis einer schon ausgearbeiteten Ontologie. Unbeachtet blieb, dass die Ausbildung von sprachlichen Formen im Prinzip auch immer ein Beitrag zur Ausbildung ontologischer Ordnungshypothesen darstellt. Auch Bischof John Wilkins, der zugleich auch erster Vorsitzender der Royal Society war, setzte in seinem Universalsprachenentwurf von 1668 (Essay towards a real character, and a philosophical language) so an, dass er zunächst eine Tafel von Elementarbegriffen bzw. Grundkategorien aufstellte (17 bei Dalgarno, 40 bei Wilkins), die gleichsam die Grundbausteine der Welt bezeichnen sollten.8 Dabei bestand zugleich die Überzeugung, dass alle konkreten Gegebenheiten in der Welt sich mit Hilfe einer bestimmten Kombination von Basiszeichen und weiteren Zusatzzeichen erfassen ließen. Die jeweiligen Begriffe und Kombinationsbegriffe mussten dabei aber keineswegs immer durch konkrete Wörter bezeichnet werden, sondern konnten auch durch graphische Kunstzeichen repräsentiert werden. Auch seine Konzeption einer Universalsprache sollte es prinzipiell ermöglichen, aus der Morphologie der Zeichen auf die Morphologie der bezeichneten Phänomene zurückzuschließen bzw. aus der Ordnungsstruktur der Benennungen auf die Wesensstruktur der
7
8
Vgl. U. Eeo, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 1994, S. 242. O. Funke, Zum Weltsprachenproblem in England im 17. Jahrhundert, 1929, S. 5ff. Vgl. A. Göbels, Die Tradition der Universalgrammatik im England des 17. und 18. Jahrhunderts, 1999, S. 5Iff.
Das Problem der Universalsprache
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benannten Phänomene.9 Hüllen spricht in diesem Zusammenhang sogar von der Suche nach einem „onomasiologischen Alphabet.10 Es ist offensichtlich, dass sich Wilkins Universalsprachenkonzept ebenso wie das von Dalgarno nur auf der Grundlage einer durchstrukturierten Ontotogie bzw. Metaphysik realisieren ließ. Beide Konzepte setzten ein kategorial geordnetes Wissen voraus, das gleichsam schon in die verwendeten Zeichen eingeschrieben war. Die Universalsprachen konnten im Prinzip nur dabei helfen, das vorgegebene Wissen klarer zu fixieren, effektiver mit ihm zu operieren und hinsichtlich seiner Implikationen besser zu verstehen. Die Hauptprobleme mussten sich dementsprechend bei der Konzipierung der Grundbegriffe und bei der Formulierung der Kombinationsregeln ergeben, da es dabei notwendigerweise zu mehr oder weniger willkürlichen Setzungen kommen musste. Beispielsweise ergab sich das Problem, ob man Elementarbegriffe sprachlich nur in Form von Substantiven konkretisieren durfte, ob andere Wortarten im Prinzip als Ableitungen aus Substantiven zu betrachten waren und auf welche Weise man Inhaltszeichen bzw. lexikalische Zeichen von Funktionszeichen bzw. grammatischen Zeichen abgrenzen sollte. Außerdem stellte sich natürlich auch die Frage, wie man kulturspezifische Begriffsbildungen wie etwa Titel, Berufsbezeichnungen, Kleidernamen in ihre ontisch fundierten Basiselemente zerlegen sollte.11
Die universalsprachlichen Überlegungen von Leibniz Die vielfältigen Spekulationen des 17. Jahrhunderts zu einer philosophisch und wissenschaftlich verwendbaren Universalsprache sind bei Leibniz zusammengelaufen. Zwar ist auch ihm nicht gelungen, eine praktikable Universalsprache zu entwickeln, aber seine Überlegungen zu einer begriffsorientierten allgemeinen Zeichenlehre (characteristica universalis) geben uns doch einen guten Aufschluss über die Prämissen und Implikationen von Universalsprachen. Obgleich wohl nicht anzunehmen ist, dass Swift die Überlegungen von Leibniz im Detail kannte, so helfen sie uns doch, Swifts satirische Idee einer Erkenntnismaschine strukturell besser zu verstehen. Wie viele seiner Zeitgenossen war auch Leibniz von der Vorstellung fasziniert, dass sich einerseits komplexe Vorstellungsinhalte mit Hilfe eines kontrollierten analytischen Verfahrens in einfachere zerlegen lassen müssten und 9
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Vgl. U. Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 1994, S. 245ff. A. Gardt, Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung, 1994, S. 309ff. O. Funke, Zum Weltsprachenproblem in England im 17. Jahrhundert, 1929, S. 5. W. Hullen, "Their manner of discourse", Nachdenken über die Sprache im Umkreis der Royal Society, 1989, S. 195. Vgl. W. Hüllen, a.a.O., S. 228f.
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dass sich andererseits einfache Vorstellungsinhalte mit Hilfe eines kontrollierten synthetischen Verfahrens zu komplexeren verbinden lassen könnten. Deshalb hat er sich auch immer wieder mit den zeichentheoretischen Implikationen von Analyse- und Syntheseprozessen beschäftigt. Da für ihn feststand, dass das Denken immer an das Operieren mit Zeichen gebunden ist, stellte sich für ihn auch zwangsläufig die Frage, wie aus atomaren Zeichen molekulare entstehen. Als Zeichen bzw. als Charaktere sieht er dabei alle Repräsentationen von einfachen oder zusammengesetzten Begriffen an, die sich ihrerseits wieder auf einfache oder zusammengesetzte Phänomene beziehen. Zur Illustration der Analyse- und Syntheseproblematik hat Leibniz die Vorstellung der Zerlegung großer Zahlen in ihre Primzahlfaktoren herangezogen sowie die Vorstellung der Zerlegung von Wörtern in Buchstaben. „Es müßte sich, meinte ich, eine Art Alphabet der menschlichen Gedanken ersinnen und durch die Verknüpfung seiner Buchstaben und die Analysis der Worte, die sich aus ihnen zusammensetzen, alles andere entdecken und beurteilen lassen. Dieser Einfall machte mir nun ganz außerordentliche Freude, die freilich nur kindlich war, da ich die wahre Wichtigkeit der Sache damals noch nicht begriff. Später aber kräftigte sich mit jedem weiteren Fortschritt meiner Erkenntnis in mir zugleich der Entschluß, einen Gegenstand von solcher Bedeutung weiter zu verfolgen. Der Zufall fugte es sodann, daß ich als Jüngling von 20 Jahren eine akademische Abhandlung abzufassen hatte. So schrieb ich die Dissertation über die 'ars combinatoria 1 , die 1666 in Buchform veröffentlicht worden ist, und in der ich meine erstaunliche Entdeckung öffentlich darlegte. Freilich merkt man dieser Abhandlung an, daß sie das Werk eines Jünglings ist, der eben erst die Schule verlassen hatte und noch nicht mit den realen Wissenschaften vertraut war; - denn dort wo ich mich befand, wurde Mathematik nicht gepflegt - hätte ich dagegen, wie Pascal, meine Kindheit in Paris verlebt, so wäre ich vielleicht früher dazu gelangt, die Wissenschaft zu fordern. Aus zwei Gründen jedoch bedauere ich nicht, diese Abhandlung geschrieben zu haben: erstens, weil sie bei vielen, höchst scharfsinnigen Männern außerordentlichen Beifall fand, dann aber, weil ich schon in ihr eine Andeutung meiner Entdeckung machte und somit nicht in den Verdacht geraten kann, dies alles erst kürzlich ersonnen zu haben."' 2
Für seine erkenntnistheoretischen Überlegungen ist Leibniz die Mathematik immer besonders vorbildlich gewesen, weil er sie als die Wissenschaft von den Größen und den Relationen zwischen den Größen verstanden hat. Der Umgang mit Zahlen ist deshalb für ihn immer exemplarisch und vorbildlich für den Umgang mit Wörtern bzw. mit Begriffen gewesen. „Die Zahl ist daher gewissermaßen eine metaphysische Grundgestalt, und die Arithmetik eine Art Statik des Universums, in der sich die Kräfte der Dinge enthüllen,"13 Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass sich die Relationen zwischen den Dingen durch die Relationen zwischen den Wörtern bzw. Begriffen repräsentieren lassen und 12 13
G.W. Leibniz, Zur allgemeinen Charakteristik, Philosophische Werke, Bd. 1, S. 18. G.W. Leibniz, a.a.O., Bd. 1, S. 16.
Das Problem der Universalsprache
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dass man mit Wörtern im Prinzip ganz ähnlich wie mit Zahlen operieren könne. „Daher braucht man oft die Wort als Ziffern, oder als Rechen-Pfennige, an statt der Bildnisse und Sachen, bis man stufenweise zum Facit schreitet, und beym Vernunft-Schluß zur Sache selbst gelanget"14 Die Vorstellung, dass man das Wissen in ein Inventar von Grundbausteinen bzw. Wissensbuchstaben zerlegen könne und dass sich komplexe Denkinhalte auf geregelte Weise aus einfachen herstellen ließen, hat das Zeitalter des Rationalismus natürlich besonders fasziniert. Daraus schien sich nämlich die Hoffnung zu ergeben, dass das Wissen über die Sachen letztlich auf das Wissen über die Zeichen und deren Kombinationsregeln zurückgeführt werden könne. Das bedeutete dann, dass das Wissen um den richtigen Gebrauch von Zeichen gleichsam die Funktion eines Ariadnefadens für die Wissenschaften bekommen konnte. In dieser Euphorie trat dann das Problem ganz in den Hintergrund, wie man auf gesicherte Weise zu den Elementarbegriffen kommen konnte, in denen sich ja schon ein absolut verlässliches ontologisches Basiswissen zu manifestieren hatte. Während die Universalsprache bei Dalgarno und Wilkins im Prinzip nur dazu dienen sollte, Gegenstände und Sachverhalte exakt zu objektivieren, um aus den Formen der Zeichen zugleich ein exaktes Wissen über das von ihnen Bezeichnete entnehmen zu können, hatte Leibniz sehr viel ehrgeizigere Zielsetzungen. Durch die Ausweitung seines Interesses an der Universalsprache von der Bezeichnungsfunktion von Zeichen auf die Regeln des operativen Gebrauchs von Zeichen nach dem Vorbild der Mathematik verstärkte sich seine Hoffnung, dass die Universalsprache auch dazu dienen könne, noch unerkannte Wahrheiten zu entdecken. Allerdings dachte Leibniz in diesem Zusammenhang weder an die Aufdeckung von Glaubenswahrheiten, die für ihn mit einem unanalysierbaren Mysterium zusammenhängen, noch an die Aufdeckung von Tatsachenwahrheiten, die sich für ihn auf Erfahrungen beziehen, sondern allein auf die Aufdeckung von Vernunftwahrheiten. Nur fur diesen Typ von Wahrheiten lässt sich nach Leibniz das Denken in ein Kalkül nach dem Vorbild der Mathematik überfuhren, bei dem man nur dann irren kann, wenn man einen Rechen- bzw. Denkfehler begeht.15 Grundsätzliche Vorbehalte gegenüber dem Glauben, Sachkenntnisse über die Kalkülisierung des Zeichengebrauchs zu erreichen, waren bei Leibniz und seinen Zeitgenossen nicht sehr ausgeprägt, weil man keine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Hoffnung hatte, Begriffe ausarbeiten zu können, die mit vorgegebenen Seinseinheiten direkt korrespondieren. Die Ausarbeitung von philosophisch-wissenschaftlichen Begriffen konnte es allerdings erforderlich
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G.W. Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache, § 7, Philosophische Werke, Bd. 2, S. 674. Vgl. St. Meier-Oeser, Die Spur des Zeichens, 1997, S. 412ff.
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machen, sich von den Begriffsbildungen der natürlichen Sprachen zu lösen und ein eigenes philosophisch-wissenschaftliches Begriffssystem zu entwickeln. In der Euphorie, das Denken nach dem Vorbild mathematischer Operationen strukturieren zu können, übersah man die Schwierigkeiten, ein Alphabet kognitiver Grundbausteine zu entwickeln, wie es die characteristica universalis natürlich letztlich anstrebte.
Ein satirischer Kommentar zur Idee der Universalsprache Der mit dem Konzept der Universalsprache verbundene Enthusiasmus, dass sich das menschliche Wissen bzw. die menschlichen Aussagemöglichkeiten letztlich auf eine überschaubare Anzahl von Wissensatomen zurückfuhren ließe, die sich nach einem geregelten Verfahren zu immer komplexeren Wissens· und Denkeinheiten kombinieren lassen, hat natürlich immer wieder Anlass zu satirischen Zuspitzungen und Übertreibungen gegeben. Dafür ist nicht nur Swifts Idee einer Erkenntnismaschine ein gutes Beispiel, sondern auch eine witzige Anmerkung des barocken Dichters Moscherosch zum Ritual des Gebets. In seinem Buch Gesichte Philanders von Sittenwald, das ab 1642 mehrfach in Straßburg gedruckt worden ist, findet sich folgende Variante dieses Konzepts bzw. ein aparter Vorgriff auf die Idee eines Gedankenalphabets. Ein Soldat, dem das lange Beten am Morgen zu aufwendig und umständlich geworden war, hatte folgenden aparten Einfall: „Wann ich Morgens auffstehe, sprach Grschwbtt, so spreche ich ein gantz A.B.C., darinen sind alle Gebett auff der Welt begriffen, unser Herr Gott mag sich darnach die Buchstaben selbst zusamen lesen und Gebette drauß machen, wie er will, ich könts so wol nicht, er kan es noch besser. Und wann ich mein abc gesagt hab, so bin ich gewischt und getrenckt, und denselben Tag so fest wie ein Maur."16
3. Die Implikationen des Relationsgedankens Es ist offensichtlich, dass bei allen Überlegungen zur Universalsprache und zum kalkülmäßig organisierten Wissenserwerb der Relationsgedanke eine zentrale Rolle spielt und spielen muss. Die Kunst der richtigen Kombination von Elementen (ars combinatoria) soll ja Grundlage der Kunst des Erkennens (ars inveniendi) und der Kunst des Urteilens (ars iudicandi) sein. Deshalb ist natürlich danach zu fragen, welche Prämissen, Ausprägungen und Konsequenzen der Relationsgedanke hat und in welcher Gestalt er in der Satire über die Erkenntnismaschine von Lagado in Erscheinung tritt. 16
H.M. Moscherosch, Gesichte Philanders von Sittenwaid, 6. Gesichte, S. 305.
Die Implikationen des Relationsgedankens
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Das klassische Verständnis von Relationen Für unser alltägliches Denken ist charakteristisch, dass der Relationsgedanke dem Elementgedanken untergeordnet ist bzw. dass syntaktische Überlegungen den semantischen subordiniert werden. Man geht in der Regel von der Grundüberzeugung aus, dass die Gegenstände des Denkens ein bestimmtes Wesen haben, das vorherbestimmt, in welchen Relationen sie zu anderen Gegenständen stehen können bzw. in welche sprachlichen Strukturen man die Wörter einordnen kann, durch die wir uns diese Gegenstände repräsentieren. Dementsprechend haben sich die Überlegungen zum Problem der Universalsprache zunächst auch immer auf die Ausarbeitung und Präzisierung ihrer Grundzeichen bzw. Grundbegriffe gerichtet, da dabei zugleich ja auch mit entschieden wurde, wie man diese Grundbegriffe syntaktisch verwenden durfte. Die Vorstellung einer allgemein gültigen Erkenntnis wurde mehr oder weniger gleichgesetzt mit dem Wissen über die Zeichen, die zur Objektivierung dieser Erkenntnis dienen. Dieses Verständnis des Relationsgedankens prägt sicher auch die Praxis der normalen Fachwissenschaften, die im Rahmen eines festen Paradigmas von unbezweifelten Grundannahmen Fortschritte erzielen wollen. Auch ihnen geht es vornehmlich um die Ausarbeitung und Präzisierung von Begriffen, mit denen sich Phänomene exakt objektivieren und kategorial einordnen lassen. Deshalb kommen sie natürlich auch nicht ohne eine terminologisch präzisierte und weiter zu präzisierende Fachsprache aus, selbst wenn sich die Hoffnungen auf eine einzige, universal zu verwendende Wissenschaftssprache inzwischen verflüchtigt haben. Revolutionäre Umbrüche innerhalb der einzelnen Wissenschaften ergeben sich deshalb auch immer dann, wenn in ihr die bisherigen Grundbegriffe verworfen bzw. durch neue ersetzt werden, weil dadurch auch immer zugleich das Geflecht von Relationen geändert werden muss, in denen man die jeweiligen Gegenstände der Erkenntnis eingebettet sieht bzw. in denen die sie bezeichnenden Begriffe verwendet werden können. Beispielsweise mussten nach dem Paradigmawechsel in der Astronomie, der mit dem Namen Kopernikus verknüpft ist, die Termini Erde und Sonne begrifflich neu bestimmt werden. Das hatte zur Folge, dass nun der Satz - Die Sonne dreht sich um die Erde - , der lange Zeit gesichertes Wissen repräsentierte, nun sachlich und syntaktisch unzulässig geworden war. Das neue Verständnis der jeweiligen Elemente von Relationen erzwang nun auch ganz andere Kombinationsregeln für die Wörter, mit denen man diese Elemente üblicherweise bezeichnete. Das Alltagsdenken und das klassische ontologische Denken ist substanzorientiert, insofern es den Gegenständen bzw. Elementen des Denkens ein stabiles Wesen zuordnet, das vorab bestimmt, welche Funktionen sie potenziell ausüben können bzw. in welchen Relationszusammenhängen wir sie wahrzu-
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nehmen haben. Diese Grundüberzeugung wurde im Rahmen des nominalistischen, hypothetischen und experimentellen Denkens zu Beginn der Neuzeit zunehmend als einengend empfunden und von einem Denken abgelöst, das dem Relations- und Funktionsgedanken eine Vorrangstellung gegenüber dem Substanzgedanken zu geben versuchte.17 Dieser Umschwung hatte auch Rückwirkungen auf die Idee einer philosophisch-wissenschaftlichen Universalsprache. Einerseits wurde die Hoffnung auf eine einzige Universalsprache immer unrealistischer, weil alle Einzelwissenschaften sich ihre eigenen Fachsprachen entwickelten. Andererseits musste dem Relationsgedanken nun eine sehr viel größere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil sich die Vorstellung von einem stabilen, begrifflich adäquat objektivierbaren Wesen der jeweiligen Denkgegenstände mehr und mehr verflüchtigte. Je nach Erkenntnisinteresse bzw. relationaler Einbettung konnte man nun nämlich den jeweiligen Denkgegenständen ganz unterschiedliche Hauptcharakteristika zuschreiben.
Das moderne Verständnis von Relationen Das moderne Verständnis von Relationen ist dadurch geprägt, dass die Relationen nach und nach als interessanter, wenn nicht als wichtiger angesehen wurden als die Elemente, die durch sie verbunden werden. Das hatte zur Folge, dass die Elemente im Prinzip nicht mehr als stabile Wesenheiten betrachtet wurden, die man kategorial klar einordnen und erschöpfend beschreiben kann, sondern dass sie vielmehr als Relata wahrgenommen wurden bzw. als Konstitute derjenigen Relationen, in denen sie für uns in Erscheinung treten bzw. in die wir sie potenziell einbetten können. Diese Vorrangstellung der Relationen gegenüber den Elementen ist nicht so zu verstehen, dass die Relationen die durch sie verbundenen Elemente faktisch erzeugen, sondern nur so, dass uns diese Elemente erst im Kontext von Relationen als Elemente mit spezifischen Eigenschaften fassbar werden und dass wir sie in einer isolierten Kontemplation überhaupt nicht zureichend erfassen können. Hinter diesem neuen Verständnis von Relationen steht natürlich auch ein neues ontologisches Denken. Die Gegenstände der Erkenntnis werden im Prinzip als so vielschichtig und aspektreich verstanden, dass sich der Glaube verflüchtigt, man könne sie in einer einzigen begrifflichen Objektivierung zureichend oder gar erschöpfend erkennen. Nach und nach entwickelte sich ein Methodenbewusstsein, das dadurch geprägt ist, dass dieselben Phänomene je nach der gewählten Wahrnehmungsperspektive für uns auf ganz unterschiedliche Weise in Erscheinung treten können. So gesehen bestimmen dann also nicht mehr die Elemente, in welche Relationen wir sie bringen können, sondern die gewählten Wahrnehmungsperspektiven bzw. Einbettungsrelationen 17
Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, 2 Bde., 1965/66.
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bestimmen, wie etwas für uns als Element Gestalt gewinnt bzw. für uns ins Bewusstsein tritt. Dieses neue ontologische Denken hat zur Folge, dass wir Phänomene kognitiv nicht dadurch erfassen, dass wir sie unter einen Begriff bringen und nach den syntaktischen Implikationen der jeweiligen Begriffsbildungen fragen, sondern vielmehr dadurch, dass wir erproben, in welche Relationsgeflechte wir sie einordnen können und in welchen Wahrnehmungsperspektiven sie welche ihrer vielfaltigen Aspekte offenbaren. In einem solchen Denken haben fachsprachliche Begriffe und Zuordnungen von Phänomenen zu diesen Begriffen natürlich einen Erkenntniswert, aber dieser ist immer nur als hypothetisch, methodisch und vorläufig anzusehen und darf keine Endgültigkeitsfarbe bekommen. Die Vorstellung von atomaren kognitiven Bausteinen wird in einem solchen Denken natürlich unhaltbar bzw. kann nur im Rahmen von ganz bestimmten methodischen Objektivierungsstrategien toleriert werden. Im 17. Jahrhundert hat sich die Neigung zum relationalen Denken entscheidend verstärkt, wobei die Mathematisierung der Wissenschaften eine wichtige Rolle gespielt hat. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Vieta Ende des 16. Jahrhunderts die Buchstabenalgebra entwickelt hat, in der nicht mehr mit Zahlen als festen Größen gerechnet wurde, sondern mit Buchstaben als variablen Größen, wodurch sich das Verständnis von Größen als Relata natürlich sehr deutlich exemplifiziert. Für die Idee der Universalsprache ergab sich aus dem relationalen Denken ein bezeichnendes Spannungsverhältnis. Einerseits lebte dieses Konzept von der Vorstellung, dass ihre Größen bzw. ihre Begriffe stabile kognitive Bausteine seien, andererseits musste es aber auch mehr oder weniger berücksichtigen, dass Größen erst im Kontext von Relationen ihr spezifisches inhaltliches Relief bekommen und dass sich deshalb die Aufmerksamkeit auch auf die Aufklärung und Typologisierung von Relationen zu richten hat. Deswegen hat die mechanische Erzeugung von Relationen zwischen Größen bei der Erkenntnismaschine von Lagado auch einen sehr bezeichnenden ironischen Unterton. Die Relationen treten als Grundlage für die semantische bzw. begriffliche Profilierung von Wörtern in den natürlichen Sprachen deutlicher hervor als in den formalisierten Fachsprachen. Während wissenschaftliche Fachsprachen eine natürliche Neigung zu einer festen Terminologie haben, weil dadurch deduktive und induktive Schlüsse sehr erleichtert werden, haben natürliche Sprachen eine immanente Neigung zu Wörtern mit einer vagen Semantik, die sich erst in konkreten Kontexten und in konkreten syntaktischen Relationen präzisieren. Dadurch kann sich die natürliche Sprache sehr viel leichter unterschiedlichen Differenzierungs- und Objektivierungsbedürfnissen anpassen bzw. dem relationalen Denken sehr viel leichter Ausdruck geben. Das beste Beispiel für die relationale Flexibilität der semantischen Größen in natürlichen Sprachen sind metaphorische Redeweisen. Diese sind in formalisierten Fachsprachen wegen ihrer unpräzisen Informationsleistung sehr ver-
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pönt, aber in den natürlichen Sprachen absolut notwendig, wenn diese ihre vielfältigen Objektivierungs- und Vermittlungsfunktionen erfüllen wollen. Der metaphorische Sprachgebrauch muss im Prinzip als Verstoß gegen die Kombinationsregeln von begrifflich und kategorial eigentlich klar bestimmten Wörtern verstanden werden (scharfer Ton, der Modergeruch des Untergangs, in Bildern sprechen). Im Rahmen der Gebrauchsbedingungen der natürlichen Sprache empfinden wir in der Regel neu gebildete Metaphern allerdings nicht als Verstöße gegen sprachliche Kombinationsregeln, sondern vielmehr als Manifestationen aufschlussreicher neuer Wahrnehmungsperspektiven, weil wir den semantischen Gehalt der verwendeten Wörter mit Hilfe von Analogievorstellungen so umbilden, dass sich für uns schließlich sinnvolle Einzelvorstellungen bzw. Aussagen ergeben. Gerade bei Metaphern wird sehr deutlich, dass die Wörter nicht feste vorgegebene semantische Größen sind, sondern variable Relata. Allerdings zeigt sich in metaphorischen Redeweisen auch, dass die einzelnen Wörter nicht in beliebige Relationen zueinander gesetzt werden können, sondern nur in Relationen, die konventionell bzw. grammatisch schon irgendwie typisiert sind (Subjekt-Prädikat-Relation, Prädikat-Objekt-Relation, Attribut-Relation usw.). Rein zufälligen Wortkombinationen, bei denen weder syntaktische Muster noch syntaktische Rollenfunktionen zu erkennen sind (Fenster wegrennen hoffentlich Honig), kann man wohl selbst in einem sehr flexiblen relationalen Denken keine sinnvolle Gesamtinterpretation zuordnen.
4. Der Bericht über die Erkenntnismaschine als Satire Wie schon eingangs betont wurde, ist der Verfasser einer Satire mit dem Gegenstand seiner Darstellung nicht nur negativ, sondern auch positiv verbunden, insofern die aggressive Grundtendenz der Satire eigentlich aus einer enttäuschten Hoffnung resultiert. Die entlarvende Funktion satirischer Texte bzw. die Aufdeckung der Differenz von Anspruch und Wirklichkeit gründet sich bei Satiren keineswegs bloß auf eine private Irritation oder eine individuelle Bosheit, sondern hat in der Regel aufklärerische Beweggründe. Mängel und Defizite werden aufgedeckt, um dadurch eine tragfahigere Vorstellung von den jeweils thematisierten Gegenstands- und Problembereichen zu bekommen. Wenn man Gullivers Bericht über den Besuch der Akademie von Lagado und über die Erkenntnismaschine nicht als fiktive exotische Erlebniserzählung rezipiert, sondern als eine Satire auf den Wissenschaftsbetrieb der damaligen Zeit, dann muss man seine Aufmerksamkeit auch auf die Textsorte Satire richten, die in unserem Fall zu einer spezifischen Erscheinungsform der narrativen Sprachreflexion gemacht worden ist.
Der Bericht über die Erkenntnismaschine als Satire
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Die Struktur von Satiren Die pragmatische Grundfunktion von Satiren besteht darin, uns die Differenz oder zumindest die Spannung zwischen Sein und Schein pointiert vor Augen zu fuhren. Das bedeutet, dass uns Satiren immer mit Normenkonflikten konfrontieren. Sie leben von aggressiven Polarisierungen und stilisierten Vereinfachungen. Diese sind allerdings weniger als psychische Ventile für individuelle Frustrationen anzusehen, sondern eher als strategische Mittel für eine fokussierende Lenkung unserer Aufmerksamkeit, was natürlich individuelle Enttäuschung, Wut oder gar Hass nicht gänzlich ausschließt. Die polarisierenden und ästhetisierenden Funktionen satirischer Darstellungen hat Swift nach einem Urteil von Jean Paul besonders gut zum Ausdruck gebracht. „Swift besaß die Kunst, eine Ehrenpforte zierlich mit Nesseln zu verhängen und zu verkleiden, am besten." Die psychischen Implikationen, die hinter satirischen Aggressionen auf Personen, Institutionen oder Denkvorstellungen stehen können, offenbaren, dass der jeweils thematisierte Gegenstandsbereich einen hohen emotionalen Stellenwert für den Autor bzw. für das von ihm ins Auge gefasste Rezeptionspublikum hat. Brummack hat deshalb die Satire als „ästhetisch-sozialisierte Aggression" bestimmt und ihr drei konstitutive Merkmale zugewiesen. Erstens entspringe sie individuell aus Irritation, Hass, Wut und Aggressionslust, zweitens diene sie einem guten Zweck, da sie abschrecken und bessern wolle, und drittens sei sie ein ästhetisches Gebilde, insofern sie sorgfältig strukturiere und stilisiere.19 Weiß möchte sogar die aggressiven Tendenzen der Satire nicht nur auf die psychische Empörung des Satirikers über bestimmte gesellschaftliche Zustände oder individuelle Verhaltensweisen und Vorstellungen zurückführen, sondern auf einen basalen menschlichen Aggressionstrieb, der eigentlich auf Tötung ausgerichtet sei. In der Satire komme es zu einer „Sozialisation dieses Tötungstriebes", insofern dieser in eine „Kulturhandlung'' überführt werde, die seine gesellschaftliche Gefährlichkeit abmildere.20 Zur ästhetischen Struktur bzw. zum ästhetischen Charme von Satiren als stilisierten Formen der Aggression gehört es, dass das, was als kritikwürdig angesehen wird, bzw. das, was als Beurteilungsnorm verwendet wird, in der Regel nicht explizit thematisiert wird, sondern nur über die jeweils erzählten Inhalte erschlossen werden kann. Da die Satire nicht argumentativ, sondern narrativ angreifen will, verzichtet sie darauf, das Kritisierte begrifflich zu benennen. Stattdessen konzentriert sie sich darauf, das Kritisierte plastisch in 18 19
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Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, § 38, Werke, Bd. 9, S. 155. Vgl. J. Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 45, 1971, S. 282. W. Weiß, Swift und die Satire des 18. Jahrhunderts, 1992, S. 20.
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Die Erkenntnismaschine von Lagado
Form eines Exempels darzustellen. Sie setzt deshalb beim Rezipienten auch eine anspruchsvolle kognitive Mitarbeit voraus, insofern sie diesen indirekt dazu auffordert, das vor Augen geführte Exempel kategorial einzuordnen und begrifflich zu analysieren. Aus dieser Struktur ergibt sich, dass bei Satiren der Autor und seine Rezipienten eigentlich immer schon in einer geheimen Komplizenschaft miteinander stehen. Der Autor greift in der Regel Probleme auf, die die Rezipienten entweder schon in derselben Perspektive sehen wie er selbst oder die sie bei einer gewissen intellektuellen Beweglichkeit leicht in derselben Perspektive wahrnehmen können. Diese geheime Komplizenschaft zwischen Autor und Rezipienten wird allerdings erschwert, wenn eine große historische oder kulturelle Distanz zwischen beiden liegt bzw. wenn das Anspielungspotenzial von Satiren nicht mehr spontan fassbar ist, sondern erst rekonstruktiv erschlossen werden muss. Satirische Texte sind in höherem Maße als ironische und komische Texte mit einer polarisierenden Wirkung verbunden. Sie neigen nicht dazu, sich selbst metareflexiv zu kommentieren oder gar in Frage zu stellen. Deshalb lässt sich auch sehr gut von einer Selbstironie sprechen, aber wohl kaum von einer Selbstsatire. Wenn satirische Texte nicht bestimmte Vorstellungen holzschnittartig vereinfachen würden, dann könnten sie nicht so eindeutig zur Entrüstung auffordern. Da die Satire ihre eigenen Normen nicht explizit benennt, ist es notwendig, dass die Rezipienten genügend sachliche und historische Kenntnisse aktivieren, um nicht nur die Oberflächen-, sondern auch die Tiefenstrukturen der satirischen Aggression zu verstehen. Die polarisierende Grundtendenz von Satiren verfuhrt leicht dazu, vorbehaltlos in das Verlachen des Kritisierten einzustimmen und darüber zu vergessen, dass es auch zu den pragmatischen Funktionen von Satiren gehört, indirekt dazu aufzufordern, sich Rechenschaft darüber abzulegen, auf der Basis welcher Hintergrundsnormen dieser Angriff sich rechtfertigen lässt. Gute Satiren entlasten den Rezipienten nicht von kognitiven Anstrengungen. Sie führen uns etwas Kritikwürdiges vor Augen, aber sie sagen uns nicht, wo und wie eine argumentative und begriffliche Kritik anzusetzen hat. Sie exemplifizieren etwas Untragbares, aber sie entwickeln kein akzeptables Gegenmodell dazu. Diese Leerstelle muss der Rezipient selber ausfüllen, ohne dass ihm dafür theoretische oder ideologische Konzepte angeboten werden. Die aufklärerische Funktion von Satiren liegt darin, dass sie Abstruses vorführen, um eben dadurch die heilende Kraft des diskursiven Denkens anzustacheln. Eine verkehrte Welt wird präsentiert, um die Rezipienten provokativ dazu aufzufordern, nach den Ursachen ihrer Verkehrtheit zu suchen.
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Die Ziele der Swifitschen Satire Die Stoßrichtung der Satire über die Erkenntnismaschine von Lagado gewinnt eine erste Kontur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in dem Konzept dieser Maschine Vorstellungsinhalte miteinander verknüpft worden sind, die man vorher ganz unterschiedlichen Ebenen zugeordnet hat. Den Zeitgenossen Swifts musste es eigentlich sehr befremdlich erscheinen, wenn in der Abteilung für spekulative Wissenschaften ein Projekt zur Förderung der spekulativen Erkenntnis durch praktische und technische Verfahren'''' angestrebt wurde. Bei einem solchen Projekt musste nämlich vorausgesetzt werden, dass es im Prinzip keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen dem Phänomen Spekulation auf der einen Seite und dem Phänomen Maschine oder Mechanik auf der anderen Seite gibt. Seit dem Mittelalter war man aber eigentlich daran gewöhnt, mit dem Begriff der Spekulation eine Art der Gewinnung von Erkenntnissen zu bezeichnen, welche über die sinnlichen und praktischen Erfahrungsmöglichkeiten weit hinausreichen und die deshalb auch durch keinerlei empirische oder gar mechanische Verfahren erzeugt oder legitimiert werden konnten. Die Begriffe der Spekulation und der Mechanik waren dementsprechend Begriffe, die man ganz unterschiedlichen Welten zuordnete. Auch dem klassischen Rationalismus cartesianischer Prägung musste eine solche Korrelation absurd erscheinen, da in ihm konsequent zwischen der Welt des Geistes bzw. des Bewusstseins (res cogitans) auf der einen Seite und der Welt der Dinge (res extensa) auf der anderen Seite unterschieden wurde. Wenn nun Swift die Vorstellung entwickelte, dass durch ein technisches Verfahren dieser Art Erkenntnis erzeugt werden könne, dann musste das zumindest denjenigen als völlig absurd erscheinen, die von dem prinzipiellen Gegensatz von Geist und Materie ausgingen und die sichere Erkenntnis nur auf schlussfolgernde bzw. deduktive Weise suchten. Allerdings ist in diesem Zusammenhang nun aber auch zu berücksichtigen, dass sich im Zeitalter des Rationalismus das Methodenbewusstsein entscheidend verstärkt hatte und dass in ihm eine Formalisierung und Mathematisierung von Erkenntnisprozessen angestrebt wurde. Wenn man die Erkenntnismaschine von Lagado nun als einen Beitrag zur Formalisierung des Erkenntnisverfahrens ansieht, dann entschärft sich natürlich das Spannungsverhältnis von Geist und Maschine erheblich. Die Maschine muss dann nämlich nicht unbedingt als ein Stück Materie im Sinne einer res extensa gedeutet werden, sondern lässt sich durchaus als ein technisches Hilfsmittel zur Realisierung einer Erkenntnismethode verstehen, die durch den denkenden Geist entworfen worden ist. Nicht die Maschine erzeugt dann die Erkenntnis, sondern die Methode, die mit Hilfe der Maschine angewandt wird. Die Maschine ist dann nicht mehr als ein rein mechanisches Gebilde interessant, sondern
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Die Erkenntnismaschine von Lagado
vielmehr als eine Möglichkeit, operative Verfahren nach bestimmten Regeln auf ganz stringente Weise durchzuführen. Bei einer solchen Betrachtungsweise verschiebt sich der satirisch thematisierte Konflikt dann von dem Problem, ob die Welt des Geistes und der Erkenntnis über die Welt der Materie bzw. Mechanik zugänglich gemacht werden kann, zu dem Problem, ob die mit Hilfe einer Maschine angewandte Methode eine adäquate Methode der Erkenntnisgewinnung ist. Gleichzeitig ergibt sich aber natürlich auch das Problem, ob die neu angewandte Methode der Erkenntnisgewinnung im Prinzip als eine mathematische Methode angesehen werden kann, die unter die regelbasierte Zeichenkombinatorik (ars combinatoria) im Sinne von Leibniz fällt. Die Struktur der ganzen Erzählung legt nahe, dass Swift die zuletzt erwähnte Problematik satirisch thematisieren wollte, da die Erkenntnismaschine so konstruiert ist, dass sie nur einen sehr reduzierten Typ von Kombinationsprozessen erlaubt. Die Erkenntnismaschine von Lagado ist weit davon entfernt, mathematische Operationsverfahren bzw. die Anwendung algorithmischer Regeln zu simulieren. Sie erlaubt eigentlich nur die additive bzw. lineare Verknüpfung von vorgegebenen semantischen Einheiten nach dem Zufallsprinzip. Die Verknüpfimgsergebnisse sind nicht durch die jeweils angewandte Verknüpfungsmethode legitimiert, sondern müssen in einem zusätzlichen Denkschritt von den Experimentatoren selbst qualifiziert werden, da diese auf der Basis ihrer jeweiligen Sprachkenntnisse zu entscheiden haben, ob ein sinnvoller Satz oder ein Teil eines sinnvollen Satzes vorliegt oder nicht. Aus diesem Umstand ergibt sich dann natürlich die Frage, nach welchen Kriterien die jeweilige Qualifikation vorgenommen werden kann. Soll man dabei die sprachspezifischen grammatischen und semantischen Konventionen zu Grunde legen, die Denkmöglichkeiten und Erfahrungshintergründe des gesunden Menschenverstandes, die Kreativität unseres Einbildungsvermögens oder noch andere Kriterien. Offensichtlich ist, dass die Akzeptanz bzw. die Verwerfung bestimmter Kombinationsergebnisse eigentlich nach Maßstäben erfolgt, die nicht als sakrosankt oder axiomatisch gelten können, sondern die selbst in hohem Maße interpretationsbedürftig sind. Um die satirischen Implikationen der Idee der Erkenntnismaschine erfassen zu können, erweist es sich deshalb als hilfreich, sich etwas genauer mit den sprachtheoretischen Prämissen der Konstruktion und des Operationsprogramms dieser Maschine zu beschäftigen. Diese Prämissen werden in dem narrativen Bericht Gullivers natürlich nicht explizit thematisiert und müssen deshalb aus den Konstruktionsmerkmalen der Maschine, aus ihren Produkten und aus der Verwendungsweise dieser Produkte rekonstruiert werden. Dabei wird dann natürlich auch zu fragen sein, ob die durch die Maschine realisierten Kombinationsverfahren von semantischen Einheiten überhaupt eine Ähnlichkeit mit sprachlichen Kombinationsverfahren haben. Intuitiv wird man das vermutlich spontan verneinen, aber es fällt sicherlich nicht ganz leicht, ein
Prämissen der Erkenntnismaschine
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solches Urteil auch argumentativ zu begründen. Ein solcher Versuch bietet aber die Chance, die Differenzen zwischen den syntaktischen Verfahren der Maschine und den syntaktischen Verfahren des natürlichen Sprachgebrauchs herauszuarbeiten. Insofern bietet Gullivers Bericht über die Erkenntnismaschine von Lagado dann einen guten Ausgangspunkt, um allgemeine Reflexionen über die Struktur und die Funktionen der Sprache anzustellen.
5. Prämissen der Erkenntnismaschine Das Konzept und die Operationsmöglichkeiten der Erkenntnismaschine von Lagado wirft eine Reihe von grundsätzlichen erkenntnis- und sprachtheoretischen Problemen auf, die erörtert werden müssen, um den potenziellen Nutzen dieser Maschine beurteilen zu können. Dieser soll nach der euphorischen Meinung ihrer Erfinder darin bestehen, Fortschritte in den Geistes- und Naturwissenschaften zu erzielen, ohne auf kenntnisreiche, begabte und kreative Forscher zurückgreifen zu müssen. Man glaubt, den Prozess der Erkenntnisgewinnung so methodisiert zu haben, dass er gleichsam narrensicher geworden sei und dass er nun auch mit Hilfe der Maschine und mäßigem Kostenaufwand durch Menschen von bescheidenem Wissen und Intellekt realisiert werden könne. Wenn wir nun aber nach den zeichentheoretischen, semantischen und den syntaktischen Prämissen des Operationsprogramms der Erkenntnismaschine fragen, dann wird sehr schnell deutlich, dass diesem Abstraktionen zu Grunde liegen, die den Erkenntnisprozess nicht nur vereinfachen und methodisieren, sondern zugleich auch so verzerren, dass die dabei erzielten Ergebnisse unbrauchbar werden.
Die zeichentheoretischen Prämissen Ohne es ausdrücklich zu thematisieren, wird bei dem Konzept der Erkenntnismaschine vorausgesetzt, dass der gegebene Wortschatz der Sprache identisch mit dem Inventar von elementaren Bausteinen menschlichen Wissens ist. Das Lexikon einer Sprache gilt gleichsam als Reservoir von einfachen Wissensatomen, aus denen sich alle Wissensmoleküle bzw. komplexen Wissensgestalten herstellen lassen. Die Wörter fungieren demgemäß als eine Art Alphabet menschlicher Gedanken im Sinne von Leibniz. Bezeichnenderweise wird nicht danach gefragt, wer die einzelnen Wörter gebildet bzw. begrifflich geprägt hat, welche kulturgeschichtlichen Implikationen mit ihnen verbunden sind, ob sich in ihnen ein vertrauenswürdiges Wissen repräsentiert, ob sie sich selbst aus noch elementareren kognitiven Bausteinen konstituieren, ob das Reservoir von gegebenen Wörtern als abgeschlossen oder als offen zu gelten hat, welche
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Konsequenzen die Einführung neuer Wörter auf den semantischen Gehalt der vorhandenen Wörter hat, wie das Inventar von Wissensbausteinen hierarchisch zu ordnen ist, wer die Macht hat, dieses Inventar quantitativ und qualitativ zu ändern, ob semantische Veränderungen intentional erfolgen oder nichtintentional durch ein spontanes Ausprobieren neuartiger Kombinationen usw. Der leitende Professor des Projektes hat zwar versichert, dass er für den Bau der Erkenntnismaschine den gesamten Wortschatz seiner Sprache in den verschiedenen Modi, Tempora und Deklinationen berücksichtigt habe und dass er genaue Berechnungen angestellt habe, in welcher Frequenz die einzelnen Wortklassen vorkämen, aber über ein ganz entscheidendes Strukturphänomen des Sprachgebrauchs hat er sich offenbar überhaupt keine Gedanken gemacht. Er hat weder bedacht, dass die einzelnen Wortklassen ganz unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen bei der Strukturierung von Sätzen übernehmen, noch bedacht, dass zwischen den Wörtern und Sätzen noch Satzglieder eine spezifische Sinnbildungsrolle wahrnehmen, noch bedacht, welche Konsequenzen sich aus diesen Umständen für den Bau der Erkenntnismaschine und die Anordnung der Wörter auf den jeweiligen Klötzen ergeben. Da die einzelnen Wörter kombinatorisch im Prinzip als gleichwertig angesehen werden und nicht berücksichtigt worden ist, dass sich in Wörtern und Satzgliedern lexikalische Inhaltsinformationen und grammatische Interpretationsinformationen überlagern, steht die Erkenntnismaschine zeichentheoretisch auf völlig unbrauchbaren Fundamenten. Semiotisch wäre nämlich zu berücksichtigen, dass alle komplexen Zeichensysteme mindestens zwei unterschiedliche Klassen von Zeichen haben müssen, um funktionsfähig zu sein. Lambert hat diesbezüglich zwischen den Zeichen für „Größen" und den Zeichen für „Operationen" unterschieden21 und Humboldt zwischen Wörtern, „welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen"}1 In der Mathematik dokumentiert sich das darin, dass wir Zeichen für Zahlen benötigen und Zeichen für Anweisungen, wie man mit den Zahlen jeweils umzugehen hat. In der Sprache manifestiert sich dieses semiotische Strukturpostulat darin, dass wir lexikalische Zeichen haben müssen, um uns bestimmte Sachvorstellungen zu vergegenwärtigen, und grammatische Zeichen (selbstständige und unselbstständige grammatische Morpheme), die uns Anweisungen geben, welche sinnbildende Rolle die jeweiligen lexikalischen Zeichen beim Aufbau komplexer Vorstellungen spielen sollen bzw. in welche Denkoperationen wir die jeweiligen Vorstellungsinhalte einzuordnen haben. Diese fundamentale Typisierung der Funktionsrollen von Zeichen, die sich natürlich noch weiter subdifferenzieren lässt, indem man unterschiedliche lexikalische Wortarten
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J.H. Lambert, Neues Organon, 1764/1990, Bd. 2, S. 489, § 54. W. v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, 1906, Bd. 5, S. 438-439.
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(Substantive, Adjektive, Verben) unterscheidet bzw. unterschiedliche Vorstellungsweisen von Sachverhalten {Wärme, warm, erwärmen) und unterschiedliche grammatische Zeichen mit unterschiedlichen Instruktionsaufgaben (Konjunktionen, Kasusmorpheme, Tempusmorpheme usw.), ist bei der Konzeption und Konstruktion der Erkenntnismaschine überhaupt nicht berücksichtigt worden. Das Problem der Unterscheidung und Beschreibung der lexikalischen und der grammatischen Ebene der Sprache scheint für die Konstrukteure der Erkenntnismaschine gar nicht zu existieren. Zwar wird darauf verwiesen, dass Wörter in ihren verschiedenen Modi, Tempora und Deklinationsformen auf den Klötzchen verzeichnet worden sind, aber die Unterscheidung von lexikalischen Inhaltszeichen und grammatischen Funktionszeichen und das Problem der sinngebenden Korrelation beider Zeichentypen spielt für das Konzept der Erkenntnismaschine gar keine Rolle. Dieses Problem tritt allenfalls bei der Auswertung der Kombinationsergebnisse der Maschine in Erscheinung, insofern unvollständige Wortkombinationen bzw. Sätze in besonderen Büchern als sprachliche Versatzstücke gesammelt werden, um sie später mit anderen unvollständigen Wortkombinationen verbinden zu können. Keine Aussagen werden darüber gemacht, nach welchen Kriterien diese Kombinationen von semantischen Einheiten erfolgen. Typisch und entscheidend fur das Konzept der Erkenntnismaschine ist, dass sie selbst nicht identifizieren kann, welche Wortkombinationen sinnlos und unvollständig sind, bzw. dass sie über keine Regeln verfügt, mit deren Hilfe die Bildung sinnloser Wortkombinationen verhindert werden kann. Das ganze Regelwerk der Spracherzeugung, das in unserer Zeit die generative Transformationsgrammatik in ihrer Anfangseuphorie formulieren wollte, bleibt theoretisch und praktisch unberücksichtigt. Die Entscheidung über die Zuverlässigkeit von Wortkombinationen müssen die menschlichen Hilfskräfte auf der Basis ihres intuitiven Sprachgefühls bzw. auf der Basis ihres konventionellen Sprach- und Weltwissens fällen. Damit werden nun doch individuelle Menschen zu den entscheidenden Instanzen, die bestimmte Wortkombinationen als Erkenntnisse akzeptieren oder als Unsinn verwerfen. Die Nutzung des Sprachgefühls als Prüfinstanz ist sicher bei groben Verstößen gegen grammatische Kombinationsregeln pragmatisch noch akzeptabel. Aber im Hinblick auf metaphorische Redeweisen, die ja auch Verstöße gegen bestimmte Kombinationskonventionen darstellen, wird dieses Verfahren schon problematisch. Metaphorische Redeweisen können nämlich im Prinzip einen großen Erkenntnisgewinn beinhalten, gerade weil sie gegen konventionelle Kombinationsregeln verstoßen. Festzuhalten ist deshalb, dass bei der Erkenntnismaschine von Lagado von einer Maschine zur subjektfreien Erzeugung von Erkenntnis und Wissen keine Rede sein kann. Die Erkenntnismaschine kann allenfalls als ein Zufallsgenerator betrachtet werden, dessen Kombinationsergebnisse metareflexiv von Menschen mit einem großen Weltwissen, mit einem
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Die Erkenntnismaschine von Lagado
großen Sprachwissen und mit einer großen Einbildungskraft geprüft werden müssen. Wenn die Erkenntnismaschine von Lagado nun aber doch nicht auf geregelte Weise subjektfrei Wissen erzeugen kann, dann stellt sich natürlich die Frage, ob die kognitive Energie, die zur Sonderung der unsinnigen von den potenziell sinnvollen Wortkombinationen aufgewendet werden muss, nicht größer als die kognitive Energie ist, die zur Formulierung neuartiger sinnvoller Sätze eingesetzt werden müsste. Zwar ließe sich einwenden, dass Menschen, vielleicht mit Ausnahme von Kindern und Dichtern, in ihrem traditionellen Weltwissen und ihrem usuellen Sprachgebrauch so vordeterminiert sind, dass sie bestimmte Wortkombinationen nie herstellen würden und dass das Zufälligkeitsprinzip der Maschine diese die Erkenntnis einschränkenden Denkgewohnheiten aufheben könnte. Aber damit ist das Problem nicht ausgeräumt, dass bei neuartigen Wortkombinationen immer wieder der Erkenntnisertrag von Menschen geprüft werden müsste, die selbst in bestimmten Denk- und Sprachgewohnheiten stehen oder gar gefangen sind. Auch die quantitative Ausweitung des Forschungsprojektes in Lagado durch das Aufstellen zusätzlicher Maschinen und durch die Einstellung weiterer Hilfskräfte würde das Problem nicht lösen, dass alle Wortkombinationen von Subjekten mit einem bestimmten Wissen und einer bestimmten Denkfähigkeit nach Plausibilitätskriterien überprüft werden müssen und dass es keinen methodisch gesicherten kontinuierlichen Erkenntnisfortschritt geben kann. Die Vorstellung, dass die einzelnen Wörter der Sprache als objektive atomare Bausteine des Wissens angesehen werden könnten, aus denen sich jeweils komplexere Wissensformen nach subjektfreien Regeln bilden ließen, erweist sich letztlich als eine unfruchtbare Illusion. Die erkenntnis- und zeichentheoretischen Grundlagen der Erkenntnismaschine von Lagado sind so unrealistisch, dass sie von der Mühsamkeit des Denkens nicht entbinden und entlasten kann, geschweige denn geistige Tätigkeiten zu ersetzen vermag.23
Die semantischen Prämissen Der Vorstellung von atomaren Grundbegriffen bzw. semantischen Einheiten liegt ein recht statisches Konzept von Wortbedeutungen bzw. ein recht mechanisches Konzept von sprachlichen Sinnbildungsprozessen zu Grunde. Es wird davon ausgegangen, dass Wörter einen in sich stabilen Inhalt objektivieren bzw. eine stabile Semantik haben, durch die im Prinzip immer schon festgelegt ist, mit welchen anderen Wörtern sie syntaktisch korreliert werden können. 23
Vgl. St. Meier-Oeser, Die Entlastung von der Mühsamkeit des Denkens, in: J.F. Maas, Das sichtbare Denken, 1993, S. 27. B.J. Dotzler, die Swifl-Maschine. Zur Poesie der Kombinatorik im 17. und 18. Jahrhundert, in: P. Gendolla/Th. Kamphusmann, Die Künste des Zufalls, 1999, S. 244-262.
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Die Bedeutung von Wörtern wird dementsprechend dann letztlich nicht aus variablen Gebrauchskonventionen abgeleitet, sondern aus einer kategorial gegliederten Ontologie, die determiniert, welchen Referenzbereich die einzelnen Wörter haben bzw. welchen Umfang und Inhalt die von den Wörtern repräsentierten Begriffsbildungen besitzen. Dabei wird außerdem nicht daran gezweifelt, dass eine klare und feste Korrespondenz zwischen Seinseinheiten und Spracheinheiten besteht und dass dementsprechend die Systemordnungen des Seins problemlos durch die Systemordnungen der Sprache abgebildet werden können. In einem solchen Denkansatz besteht wenig Raum für die Auffassung, dass die Wörter erst im konkreten Gebrauch ihre semantische Prägnanz bekommen, dass Wörter als Relata ihre besondere semantische Charakteristik und Aspektualität erst durch die Relationen bekommen, in denen sie fassbar werden, und dass alle Begriffsbildungen eigentlich als variable ontologische Ordnungshypothesen zu betrachten sind, aber nicht als Reproduktionen ontischer Gegebenheiten. Die Vorstellung Lennebergs, dass Wörter gleichsam Etiketten für Begriffsbildungsprozesse sind, die wir im konkreten Umgang mit der Realität variabel ausgestalten können, ist mit dem Konzept der Erkenntnismaschine von Lagado nicht zu vereinbaren. Diese kann potenziell nur dann funktionieren, wenn sie mit stabilen Bausteinen des Wissens arbeitet, die von aktuellen Korrelationen unabhängig sind. Der Relationsgedanke spielt zwar für die Erkenntnismaschine eine Rolle, da ja die Relationen zwischen den Elementen ständig variiert werden können, aber die Relationierung von Elementen erfolgt rein mechanisch nach dem Prinzip der additiven Reihung. Sie unterliegt nicht einem spezifischen operativen Programm bzw. einem Algorithmus. Außerdem gilt für das Konzept der Erkenntnismaschine natürlich die im Prinzip verständliche Prämisse, dass die einzelnen Inhaltswörter nur hinsichtlich ihrer denotativen Bedeutung relevant sind, aber nicht hinsichtlich ihrer konnotativen. Sprachliche Einheiten sind nur hinsichtlich ihrer Darstellungsfunktion bzw. ihres propositionalen Gehaltes aktuell, aber nicht hinsichtlich ihrer Ausdrucks- und Appellfunktion bzw. ihrer illokutiven Handlungsfunktion. Pragmatisch gesehen haben wir es also mit einem reduktiven Sprachverständnis zu tun, das sich allerdings methodisch rechtfertigen lässt, weil die Erkenntnismaschine j a nur einen rein deskriptiven wissenschaftlichen Gebrauch der Sprache anstrebt und alle anderen sprachlichen Sinnbildungsmöglichkeiten konsequent auszuklammern versucht. Handlungstheoretisch betrachtet lässt sich sagen, dass die von der Maschine produzierten Sätze nur mit deklarativen oder konstativen Sprechakten verbunden sind. Die Erzeugung von Sätzen, in denen Grundinformationen metainformativ mit einem bestimmten pragmatischen Stellenwert versehen werden, wie es etwa ironische Redeweisen implizieren, gehört nicht zum Leistungsprofil der Erkenntnismaschine von Lagado.
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Die Grenzen der Erkenntnismaschine in kognitiver Hinsicht treten deutlich hervor, wenn man danach fragt, welchen Stellenwert der sinnbildliche Sprachgebrauch möglicherweise für sie hätte. Wenn beispielsweise die Maschine zufällig folgende Wortkombinationen erzeugen würde, dann wäre nicht selbstverständlich, welche Sachverhalte diese Aussagen objektivierten: Junges Holz ist biegsam. Alter Fels ist brüchig. Sind das Aussagen über junge Baumtriebe und geologische Sachverhalte oder Aussagen über junge und alte Menschen? Mit rein begriffslogisch orientierten Überlegungen erschließt man sich nur eine Sinnebene dieser Sätze. Erst mit ikonisch bzw. analogisch orientierten Überlegungen lässt sich eine zweite Sinnebene von ihnen zugänglich machen. In Kulturen, die ihren Kaffee ohne Sahne trinken, wird der Inhalt des folgenden Satzes sicher anders verstanden als in Kulturen, die ihn mit Sahne trinken: Claudia ist die Sahne in seinem Kaffee. Nun könnte man natürlich geltend machen, dass der metaphorische Sprachgebrauch in den Wissenschaften bzw. bei der sprachlichen Objektivierung von Erkenntnissen ohnehin keine Rolle spielen dürfe, weil er semantisch unpräzise sei, und dass die Möglichkeit zum metaphorischen Sprechen deshalb auch nicht als Argument gegen das Konzept einer Erkenntnismaschine ins Feld gefuhrt werden könne. Mit einer solchen Argumentation hätte man sich aber zugleich darauf festgelegt, dass Wissenschaften im Prinzip rein analytische Aufgaben hätten, insofern sie nur die Implikationen von Begriffen und Erfahrungen aufzuklären haben bzw. nur dazu bestimmt sind, Begriffe zu präzisieren. Der hypothetische Entwurf neuer Begriffe, der in der Regel durch den abweichenden bzw. übertragenden Gebrauch alter Begriffe bewerkstelligt wird {schwarze Löcher, das Licht ist der Schatten Gottes, in das Schwert seiner eigenen Wahrheiten fallen), würde dann in das Vorfeld der eigentlichen Erkenntnis gehören und nicht mehr als genuine Erkenntnisleistung gewertet werden können. Dem analogisierenden Denken, das sich im sinnbildlichen und metaphorischen Sprachgebrauch Raum verschafft, würde dann kaum noch eine kognitive Qualität zugesprochen werden können. Die Erkenntnismaschine von Lagado könnte auf der Basis von Zufallskombinationen zwar potenziell Metaphern erzeugen, aber die protokollführenden Hilfskräfte müssten auf Grund ihres Wissens und ihrer Denkperspektiven immer entscheiden, ob sie unübliche Wortkombinationen als kognitiv brauchbar in ihre Folianten aufnehmen oder sofort als offenkundigen Unsinn ausscheiden. Aber auch diese Entscheidungen würden ihnen schwer fallen, weil sie ja immer nur mit isolierten Wortkombinationen bzw. Sätzen konfrontiert werden, aber nicht mit Texten, in denen die einzelnen Sinneinheiten eine spezifische kognitive und kommunikative Intention bekommen. Wenn man nun einmal unterstellt, dass die Erkenntnismaschine nur solche Sätze produziert, die den konventionellen syntaktischen und begrifflichen Kombinationsregeln für semantische Einheiten entsprechen, dann würde sie nur analytische Sätze (Der Schimmel ist weiß.) und synthetische Sätze (Der
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Schimmel ist alt.) konstituieren. Schon kontradiktorische Sätze (Der Schimmel ist schwarz.) wären ausgeschlossen. Das bedeutete, dass sie nur solche Sätze erzeugt, die als Vernunftwahrheiten immer wahr sind (analytische Sätze) oder die als Tatsachenwahrheiten einer zusätzlichen empirischen Überprüfung bedürfen, da sie nur potenziell wahr sein können (synthetische Sätze). Insofern sich die Sätze der Erkenntnismaschine nun aber nicht deskriptiv auf eine ganz bestimmte empirische Realität beziehen, sondern nur auf allgemeine ontische Ordnungsstrukturen der Welt, könnte ihr praktischer Nutzen allenfalls darin bestehen, definitorische analytische Sätze zu produzieren. Diese hätten dann allerdings nur für diejenigen Menschen einen Sinn bzw. einen spezifischen Erkenntniswert, die die jeweils verwendeten Begriffe noch nicht oder nicht genau kennen. Für diejenigen, die die verwendeten Begriffe schon genau kennen, wären sie völlig überflüssig. Selbst wenn man annähme, dass die Erkenntnismaschine nach und nach alle möglichen Sätze einer Sprache produzieren könnte, was bei der Vielzahl der kombinierbaren Einzelelemente natürlich faktisch unmöglich ist, dann wäre damit noch nicht das gesamte mögliche Wissen sprachlich formuliert, sondern nur ein bestimmter Typ von Wissen. Mit der Erkenntnismaschine kann nur ein sehr allgemeines Strukturwissen über die Welt konkretisiert werden, aber noch nicht das empirische und historische Wissen über konkrete Zustände oder Ereignisse in der Welt. Die Erkenntnismaschine könnte den folgenden synthetischen Satz produzieren: In Berlin schien am 1. Mai 2005 die Sonne. Damit wäre aber keineswegs vollkommen sichergestellt, dass diese Tatsachenbehauptung auch faktisch wahr ist. Aus diesem Umstand muss der Schluss gezogen werden, dass die Erkenntnismaschine allenfalls eine Hilfe für diejenigen Wissenschaften sein könnte, die allgemeine ontische Ordnungsstrukturen der Welt objektivieren wollen, aber nicht für diejenigen, die empirische Gegebenheiten feststellen und sprachlich formulieren wollen. Das bedeutet, dass die Erkenntnismaschine beispielsweise fur historisch und deskriptiv orientierte Wissenschaften überhaupt keine Hilfe bieten könnte, weil sie keine Sätze liefert, die zur Feststellung empirischer Gegebenheiten dienlich wären.
Die syntaktischen Prämissen Die syntaktischen Prämissen, die dem operativen Kombinationsprogramm der Erkenntnismaschine zu Grunde liegen, sind außerordentlich simpel, aber eben dadurch auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen recht klar zu beschreiben. Die Konstruktion der Maschine lässt bei der Kombination von einzelnen Wörtern zu komplexeren semantischen Einheiten nur eine lineare Addition zu. Es sind keine Verfahren vorgesehen, durch die die Korrelation von semantischen Einheiten so geregelt wird, dass durch bestimmte Kombinationsregeln bestimmte
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syntaktische Ordnungsmuster hergestellt werden wie beispielsweise Satzglieder, Sätze, Gliedsätze oder Satzgefüge. Die Maschine kennt kein Verfahren, mit dessen Hilfe den jeweiligen Wörtern bzw. semantischen Einheiten die Rolle eines Subjekts, eines Objekts, eines Adverbials oder eines Attributs zugewiesen werden könnte, oder Regeln, über die die lineare Ordnung der Wörter durch eine hierarchische Ordnung der Wörter ergänzt würde. Allenfalls könnte die Stellungsposition eines Wortes in einer Wortkette als vager Hinweis auf eine grammatische Funktionsrolle interpretiert werden. So steht beispielsweise im Englischen wegen des Mangels an Kasusmorphemen ja das Subjekt immer vor den Objekten. Nun wird zwar in dem Bericht über die Erkenntnismaschine betont, dass die jeweils verwendeten Wörter immer in bestimmten Kasus-, Modus- und Tempusformen auf den Klötzen verzeichnet worden sind und dass deshalb ihre lexikalischen Grundinformationen schon grammatisch angereichert sind. Aber diese interpretative Zusatzinformation bleibt immer mit der lexikalischen Grundinformation fest verkettet und wird nicht auf der Basis eines eigenständigen grammatischen Strukturierungsprogrammes vergeben. Auf diese Weise wird ausgeschlossen, dass über grammatische Ordnungsprogramme bestimmte sprachliche Ordnungsmuster mit bestimmten Funktionen wie etwa Satztypen, Aussageweisen, Textsorten usw. hergestellt werden. Eine Maschine, bei der die Kunst der Kombination von Zeichen (ars combinatoria) wirklich ernst genommen würde, müsste mit einem differenzierten syntaktischen Kombinationsprogramm arbeiten und dürfte sich nicht auf zufällige additive Fügungen beschränken. Die Chance, dass sich aus der zufälligen Addition von Wörtern sinnvolle Aussagen bzw. sprachliche Sinngestalten ergeben, ist äußerst gering, da der Aufbau von komplexen Zeichen aus einfachen Zeichen immer durch vielfältige, ineinander greifende und hierarchisch gestufte Regeln organisiert wird. Die Konzipierung solcher Kombinationsregeln, die sich natürlich nicht nur an den Kombinationsregeln einer ganz bestimmten spezifischen Einzelsprache zu orientieren hätten, und ihre Umsetzung in ein maschinell handhabbares Operationsprogramm ist dann allerdings ein Problem für sich. Die von Gulliver beschriebene Erkenntnismaschine kann nicht als eine maschinelle Exemplifikation der ars combinatoria betrachtet werden, sondern allenfalls als eine Karikatur derselben. Ihre Kombinationsregeln sind so gestaltet, dass es absurd wäre anzunehmen, dass die Maschine Denkfunktionen imitieren oder gar perfektionieren könnte bzw. dass sie die Erkenntnisgewinnung auf eine gesicherte methodische Grundlage stellen könnte. Bei ihr werden die Einzelgrößen bzw. Charaktere nicht nach bestimmten mathematischen Ordnungsprinzipien so verknüpft, dass es dadurch zur Objektivierung von allgemeinen Vernunftwahrheiten kommen kann, die möglicherweise hinter den empirischen Tatsachenwahrheiten liegen. Die Idee einer verlässlichen cognitio symbolica bzw. die Vorstellung, dass sich die Erkenntnis der Welt (cognitio
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rei) auf die Erkenntnis der Zeichen für die Welt (cognitio verbi) verlagern ließe, die das Zeitalter des Rationalismus so fasziniert hat, wird durch die Konstruktion und die Nutzung der Erkenntnismaschine von Lagado ad absurdum gefuhrt.
6. Der zeichentheoretische Wert der Satire Die satirische Ignorierung und Simplifizierung von erkenntnis- und sprachtheoretischen Grundsatzproblemen im Konzept der Erkenntnismaschine hat dialektisch betrachtet durchaus positive Konsequenzen. Wir werden dadurch nämlich auf indirekte Weise dazu aufgefordert, uns Rechenschaft über die zeichentheoretischen Implikationen von Erkenntnisprozessen bzw. über den Erwerb von Wissen abzulegen und dabei auch die Chancen zu beurteilen, kognitive Prozesse mit Maschinen zu organisieren oder gar zu simulieren.
Offene Grundsatzfragen Die Swiftsche Satire über die Erkenntnismaschine von Lagado kann sich aus nahe liegenden Gründen natürlich nicht mit allen relevanten Aspekten von Erkenntnisprozessen beschäftigen, die bei der maschinellen Simulation dieser Prozesse eventuell wichtig sein könnten. Einige dieser Aspekte sollen hier kurz in Form von Fragen aufgelistet werden, damit deutlich wird, welche strukturbildenden Funktionen der Sprache in Erkenntnisprozessen zukommen. Wer legt fest, welche Wörter überhaupt als Wissensatome gelten sollen und welche nicht? Sollen zusammengesetzte und abgeleitete Wörter als Wissensatome gelten oder bereits als Wissensmoleküle? Durch welche Mittel und Verfahren lassen sich die möglichen syntaktischen Funktionsrollen von Wörtern kennzeichnen? Welche kognitiven Vorteile erbringen konstruktive syntaktische Relationierungen von Wörtern im Vergleich zu additiven Reihungen? Bleiben die verbalen Relata in den unterschiedlichen Relationen semantisch stabil oder werden sie variable Funktionsgrößen von Relationen? Wie müssen Kombinationsregeln hierarchisch gestuft und funktional aufeinander bezogen werden, um aus einfachen Größen komplexe Größen herstellen zu können? Lässt sich das menschliche Denken durch die Anwendung algorithmischer Regeln simulieren? Kann Zufallskombinationen eine kognitive Kraft zugebilligt werden? Lassen sich menschliche Denkergebnisse nach dem Vorbild des evolutionären Konzeptes von Mutation und Selektion beschreiben? Nach welchen Kriterien wird entschieden, welche Wortkombinationen als kognitiv sinnvoll anzusehen sind und welche nicht? Welche Kombinationen von Wörtern sind konventionsbedingt unüblich (blondes Bier) und welche sachbedingt unsinnig (abstraktes Bier)! Können Menschen auf neue Gedanken oder zu
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neuem Wissen kommen, wenn sie mit metaphorischen Wortkombinationen konfrontiert werden, die auf der begrifflichen Ebene eigentlich absurd sind, denen wir aber aus pragmatischen Gründen einen bestimmten Sinn unterstellen, weil wir glauben, dass sie uns etwas mitteilen wollen? Müssen wir nicht zu ungewöhnlichen Wortkombinationen greifen, wenn wir neuartige Erfahrungen oder Einsichten sprachlich objektivieren wollen? Welche Rolle spielt das analogisierende Denken in Erkenntnisprozessen bzw. in sprachlichen Objektivierungsprozessen? Auf Strukturverhältnisse der zuletzt thematisierten Art stoßen wir insbesondere im metaphorischen Sprachgebrauch. Hier werden Wörter in eine syntaktische Relation zueinander gebracht, bei der es zu einer absurden Vorstellungsbildung kommen muss, wenn wir den jeweils verwendeten Wörtern die übliche Bedeutung zuordnen (die scharfe Zuge, die Stimme der Wahrheit). Deshalb versuchen wir, die Semantik der verwendeten Wörter so zu verändern, dass sich schließlich ein plausibler Gesamtsinn der Äußerung ergibt. Auf ähnliche Strukturverhältnisse stoßen wir auch, wenn Mystiker in ihrem Sprachgebrauch ganz bewusst auf paradoxe Formulierungen zurückgreifen, um kenntlich zu machen, dass sie Denkinhalte sprachlich objektiveren wollen, die mit den konventionalisierten Sprachmitteln eigentlich nicht objektivierbar sind, weil diese ursprünglich für ganz andere Objektivierungszwecke entwickelt worden sind (dickdunkler Glanz, klarlichte Dunkelheiten). Durch solch paradoxe Redeweisen wollen die Mystiker indirekt darauf aufmerksam machen, dass es ihnen um Inhalte geht, die mit dem alltäglichen Vokabular und den alltäglichen Kombinationsregularitäten eigentlich nicht konkretisierbar sind. Sie wollen etwas zur Sprache bringen, von dem sie wissen, dass es mit den üblichen Verfahren eigentlich nicht versprachlicht werden kann. Solche Sprachverwendungssituationen ergeben sich nun aber keineswegs nur im Bereich der mystischen oder religiösen Rede, sondern auch im poetischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch, wenn die konventionellen sprachlichen Begriffsbildungen und grammatischen Muster nicht für das verwendbar sind, was eigentlich sprachlich objektiviert werden soll. Dann muss ein unorthodoxer Gebrauch von den üblichen Sprachmitteln gemacht werden bzw. die Sprache den eigenen Objektivierungsintentionen angepasst werden. Da der Erkenntnismaschine schwerlich bestimmte kognitive und kommunikative Intentionen zugeschrieben werden können, auf die sich die Rezipienten einfühlend einstellen könnten, fällt es ihnen natürlich auch schwer, den von der Maschine produzierten unorthodoxen Wortkombinationen einen spezifischen kognitiven und kommunikativen Sinn zuzuordnen. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die Protokollanten der Produkte dieser Maschine alle Wortkombinationen verwerfen, die nicht den gängigeren Normen entsprechen. Erkenntnistheoretisch gesehen ist es aber höchst bedenklich, davon auszugehen, dass das, was nicht den gängigen Normen entspricht, bzw. dass das, was nicht von den gängigen Objektivierungsmustern erfasst wird, sinnlos bzw.
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inexistent ist. Wenn ein Fischer mit einem Netz mit einer Maschengröße von fünf Zentimetern nur Fische fangt, die einen größeren Durchmesser als fünf Zentimeter haben, so kann er daraus nicht folgern, dass es kleinere Fische gar nicht gibt, sondern nur, dass ihm sein Fangnetz nur Fische einer bestimmten Größe einfangbar macht. In Analogie dazu kann man wohl annehmen, dass nicht nur das existiert, was mit den gängigen Sprachmustern eingefangen werden kann, und dass eine Veränderung der Sprachmuster auch zu einer Veränderung der sprachlichen Fangergebnisse zu führen vermag.
Zur Typologie von Erkenntnisverfahren Mit seiner Satire über die Erkenntnismaschine von Lagado macht Swift sich offensichtlich über die Vorstellung lustig, dass sich Erkenntnis maschinell erzeugen lasse. Ja, vielleicht macht er sich sogar über die Hoffnung lustig, dass es überhaupt ein geregeltes methodisches Verfahren geben könne, das als Königsweg zum wahren Wissen anzusehen sei. Swifts Satire wirft daher die Frage auf, welche Wege es denn überhaupt geben kann, verlässliches Wissen zu gewinnen. In diesem Zusammenhang können Überlegungen des Semiotikers Charles Sanders Peirce interessant werden, der beim Prozess der Wissensgewinnung typologisch drei sich ergänzende Verfahren unterschieden hat, nämlich Deduktion, Induktion und Abduktion}4 Für diese drei Verfahren hat er Strukturbedingungen thematisiert, durch die auf erhellende Weise die Defizite der Erkenntnismaschine von Lagado verdeutlicht werden können, wobei insbesondere das Verfahren der Abduktion sehr aufschlussreich ist. Das Verfahren der Deduktion hat für Peirce einen analytischen Grundcharakter. Es dient dazu, die logischen Konsequenzen aus Begriffen, Denkprämissen und Hypothesen zu ziehen. Es führt im Prinzip zu keinem neuen, sondern nur zu einem exakteren Wissen. Es exemplifiziert, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, seine eigenen Vorstellungen durchzustrukturieren und vagem Wissen eine klarere Gestalt zu geben. Die Erkenntnismaschine von Lagado ist konzeptionell nicht darauf ausgelegt, deduktive Erkenntnisverfahren methodisch zu realisieren oder zu unterstützten, sondern allenfalls zufällige Begriffsbestimmungen zu erzeugen. Der Begriff der Induktion wird üblicherweise dazu verwendet, Verfahren zu benennen, bei denen man Einzelerfahrungen unter einem allgemeinen Ordnungsbegriff zusammenfasst bzw. bei dem man aus singulären Erfahrungen allgemeine Schlüsse zieht. Bei Peirce hat der Begriff der Induktion allerdings eine etwas andere Bedeutung. Er dient ihm nämlich dazu, ein Verfahren zu benennen, bei dem Begriffe, Hypothesen und Konzepte der Erfahrungskontrolle unterworfen werden, um auf diese Weise ihre Verlässlichkeit und ihren 24
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 2.642, 5.145, 5.171, 6.474.
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Anwendungsbereich genauer bestimmen zu können. Auch für dieses Erkenntnisverfahren ist die Erkenntnismaschine von Lagado unbrauchbar, da sie für keinerlei empirische Verifikationsverfahren verwendet werden kann. Der Begriff der Abduktion ist nun von besonderem Interesse, um die kognitive Qualität der Erkenntnismaschine von Lagado zu beurteilen, weil Peirce mit ihm die kreativen Aspekte von Erkenntnisprozessen aufzuklären versucht. Während in deduktiven Denkoperationen ermittelt werden soll, was im Rahmen von bestimmten Prämissen sein muss, und in induktiven, wie sich Wissen faktisch nutzen lässt, dienen abduktive Denkoperationen dazu, die Begriffe, Konzepte und Hypothesen auszubilden, die deduktive und induktive Denkprozesse benötigen. In Abduktionsprozessen werden keine Denkoperationen nach bestimmten methodischen Regeln durchgeführt, sondern hypothetisch die Basishypothesen und Ordnungsmuster für den Aufbau komplexer Relationsgeflechte entworfen, deren soziale Geltung und operative Fruchtbarkeit noch zu sichern sind. Alle drei Denkoperationen dienen dazu, Wissen zu strukturieren und Komplexität zu reduzieren, aber nur die Abduktionsprozesse sind im eigentlichen Sinne des Wortes kreative Denkprozesse. In Abduktionsprozessen konkretisiert sich für Peirce die Freiheit des Geistes, jede seiner schon gegebenen Manifestationsformen zu transzendieren, sich nach neuen Prinzipien zu organisieren und alle traditionellen Korrelationen zu Gunsten von neuen aufzuheben. Die Fähigkeit des Menschen zu Abduktionsprozessen bzw. zur abduktiven Sinnkonstitution mit Hilfe neuartiger Zeichenbildungen und Zeichenkorrelationen ist für Peirce die Grundlage und der Anfang aller Erkenntnis und Wissenschaft, wobei es im Prinzip ohne Belang ist, ob sich die jeweiligen Sinnbildungsprozesse auf die physische oder die geistige Welt richten. Die Fähigkeit der Menschen zu abduktiven Denkprozessen, die trotz aller Fehlbarkeit doch immer wieder zu neuen fruchtbaren Ordnungskonzepten führt, verankert Peirce in einer gewissen Einsicht (insight) des Geistes in die natürliche und geistige Welt, die dem Instinkt von Tieren vergleichbar sei. Letztlich beruhe sie auf einer Affinität der menschlichen Seele bzw. des menschlichen Erkenntnisvermögens zum Universum bzw. auf einer divinatorischen Kraft. Abduktive Erkenntnisprozesse sind für Peirce nicht stringent methodisch zu organisieren, sondern realisieren sich blitzartig (like a flash). Sie sind für ihn die eigentlichen Manifestationsformen der ars inveniendi, da sie nach erklärenden Theorien und Konzepten für Einzelwahrnehmungen suchen.25 Es ist offensichtlich, dass die Erkenntnismaschine von Lagado, die oberflächlich betrachtet etwas mit dem Begriff der Abduktion zu tun zu haben scheint, weil sie die möglichen Korrelationen von Vorstellungsinhalten aufzudecken versucht, genau betrachtet doch in einer ganz anderen Welt angesiedelt 25
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.47, 5.145, 5.171, 5.173, 5.181, 5.196, 7.218.
Der zeichentheoretische Wert der Satire
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ist als die, die Peirce mit dem Begriff der Abduktion zu thematisieren versucht. Die Arbeit mit fest vorgegebenen Begriffen, mit additiven Korrelationen und Zufallskombinationen gehört nicht in die Welt der abduktiven Sinnbildungsprozesse im Sinne von Peirce. Mit dem Abduktionsbegriff verbindet sich nämlich für ihn ein metaphysisch orientiertes Denkkonzept, das nichts mit dem zu tun hat, was in der Akademie von Lagado praktiziert wird. Für Peirce gibt es keine atomaren Begriffsbausteine mit direkten ontischen Bezügen, aus denen sich auf mechanische Weise immer komplexere Gebilde zusammensetzen ließen, sondern vielmehr nur Zeichen, die in Sinnbildungsprozessen je nach den aktuellen Zielsetzungen immer wieder neu konstituiert und korreliert werden müssen. Erkenntnisprozesse sind für ihn keine Abbildungsprozesse von Realität, sondern Interpretationsprozesse für Realität, die einerseits faktischer Bewährung in Handlungen und andererseits sozialer Konsensbildung bedürfen. Über den Begriff der Abduktion lässt sich auch gut auf zwei andere grundlegende Denkkonzepte von Peirce aufmerksam machen, die ebenfalls geeignet sind, die faktische und semiotische Absurdität der Erkenntnismaschine von Lagado zu verdeutlichen. Diese Konzepte sind unter dem Namen Synechismus und pragmatische Maxime bekannt geworden und spielen in der Erkenntnistheorie und Semiotik von Peirce eine ganz fundamentale Rolle. Mit dem Synechismuskonzept, das Peirce nicht als metaphysische Doktrin, sondern vielmehr als regulatives Prinzip des Denkens verstanden wissen will, wendet er sich gegen alle Formen des dualistischen Denkens.26 Es besagt, dass sich die Welt der physischen und psychischen Phänomene nicht oppositiv im Sinne von res extensa und res cogitans gegenüberstehen, sondern in vielfältigen Formen ineinander verwachsen sind. Mit dem Synechismusgedanken wendet er sich gegen alle Formen des elementaristischen Denkens, um stattdessen herauszustellen, dass das Prinzip der Kontinuität (continuity), der Relation (relationship) und der Vermittlung (mediation) eine grundlegende Bedeutsamkeit für alle Formen von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen hat. Die Relevanz des Synechismusgedankens exemplifiziert sich auch im Zeichenkonzept von Peirce. Für ihn können grundsätzlich alle Phänomene als Zeichen verstanden werden, wenn sie kraft Natur oder Konvention auf etwas anderes verweisen bzw. wenn sie als Hinweisphänomene bzw. Zeichenträger für etwas von ihnen Unterscheidbares interpretiert werden können. Im Zeichen prägt sich für Peirce der Relationsgedanke am intensivsten aus, insofern Zeichen dreistellige Relationsverhältnisse repräsentieren (Zeichenträger, Zeichenobjekt, Zeicheninterpretant). Da Peirce die Phänomene in der Welt hierarchisch danach ordnen möchte, welche Rolle die Intensität von Relationen für ihre Konstitution spielt, ordnet er Zeichen der Seinskategorie der Drittheit zu, die für ihn die oberste aller Seinskategorien ist. Zur Kategorie der Erstheit gehört für ihn alles, was unabhängig von einer Beziehung zu etwas anderem in 26
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 6.169-173, 7.565, 7.570, 8.328-332.
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Die Erkenntnismaschine von Lagado
Erscheinung tritt, zur Kategorie der Zweitheit alles, was nur in der Relation zu etwas anderem fassbar wird, und zur Kategorie der Drittheit alles, was dadurch bestimmt ist, dass ein Erstes über ein Zweites mit einem Dritten in Beziehung gesetzt wird.27 Es ist nun offensichtlich, dass der Synechimusgedanke im Konzept der Erkenntnismaschine von Lagado keine Rolle spielt und auch keine Rolle spielen kann, weil in diesem Konzept der Zeichen-, Relations- und Vermittlungsgedanke im Sinne von Peirce nur in einer ganz verstümmelten Weise in Erscheinung tritt. Das Konzept der Erkenntnismaschine baut auf einem elementaristischen Denken auf, dem Peirce keine wirkliche Erkenntnisfunktion zubilligen würde. Das Konzept, das Peirce als pragmatische Maxime bezeichnet, besagt, dass der kognitive Sinn von Begriffen bzw. dass unsere Vorstellung von Objekten aus der Summe der Wirkungen der jeweiligen Objekte abzuleiten sei bzw. aus unseren Erfahrungen mit den jeweiligen Objekten. In diesem Zusammenhang verweist Peirce dann wie schon erwähnt auch auf das JesusWort, dass man etwas an seinen Früchten erkennen solle.28 In einem erkenntnistheoretischen Denkrahmen, der durch die pragmatische Maxime von Peirce bestimmt wird, wäre die Erwartung natürlich völlig unsinnig, dass man Wissen durch die bloße Relationierung von vorgegebenen Begriffen maschinell erzeugen könnte. Erkenntnis und Wissen kann sich entsprechend der pragmatischen Maxime letztlich nur aus Handlungserfahrungen ergeben, bei denen abduktive Hypothesenbildungen nur eine aufschließende, aber keineswegs eine abschließende Funktion haben können.
27 28
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 8.328-332, 5.44ff., 5.66ff. Vgl. Ch.S. Peirce, 5.402.
IX Der Akademieplan zur Abschaffung der Verbalsprache Gullivers Bericht über ein revolutionäres Projekt Darauf gingen wir in die Fakultät für Sprachen, wo drei Professoren darüber berieten, die Sprache ihres eigenen Landes zu verbessern. Das erste Projekt bestand darin, die Rede dadurch abzukürzen, daß man vielsilbige Wörter zu einsilbigen beschneidet und Verben und Partizipien ausläßt, da alle vorstellbaren Dinge in Wirklichkeit ja doch nur Hauptwörter seien. Das zweite Projekt war ein Plan zur völligen Abschaffung aller Wörter überhaupt, und man machte geltend, daß das außerordentlich gesundheitsfördernd und zeitsparend wäre. Denn es ist klar, daß jedes Wort, das wir sprechen, in gewissem Maße eine Verkleinerung unserer Lungen durch Abnutzung bedeutet und folglich zur Verkürzung unseres Lebens beiträgt. Es wurde deshalb folgender Ausweg vorgeschlagen: da Wörter nur Bezeichnungen für Dinge sind, sei es zweckdienlicher, wenn alle Menschen die Dinge bei sich führten, die zur Beschreibung der besonderen Angelegenheit, über die sie sich unterhalten wollen, notwendig seien. Und zur großen Bequemlichkeit und zur Erhaltung der Gesundheit der Untertanen hätte diese Erfindung sicherlich Eingang gefunden, wenn nicht die Weiber im Verein mit dem Pöbel und den Analphabeten gedroht hätten, einen Aufstand anzuzetteln, falls man ihnen nicht erlaubte, nach Art ihrer Vorfahren mit ihren Zungen zu reden. Solch ein beharrlicher, unversöhnlicher Feind der Wissenschaft ist das gemeine Volk! Viele der Gelehrtesten und Weisesten sind jedoch Anhänger des neuen Projekts, sich mittels Dingen zu äußern; das bringt nur die eine Unbequemlichkeit mit sich, daß jemand, dessen Angelegenheiten sehr umfangreich und von verschiedener Art sind, ein entsprechend größeres Bündel von Dingen auf dem Rücken tragen muß, falls er es sich nicht leisten kann, daß ein oder zwei starke Diener ihn begleiten. Ich habe oft gesehen, wie zwei dieser Weisen unter der Last ihrer Bündel fast zusammenbrachen, wie bei uns Hausierer. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, legten sie ihre Lasten nieder, öffneten ihre Säcke und unterhielten sich eine Stunde lang; dann packten sie ihre Utensilien wieder ein, halfen einander, ihre Bürden wieder auf den Rücken zu nehmen, und verabschiedeten sich.
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Für kurze Gespräche aber kann man das Zubehör, um sich hinlänglich auszustatten, in den Taschen und unter den Armen tragen, und zu Hause kann man nicht in Verlegenheit kommen. Deshalb ist auch das Zimmer, wo Leute zusammenkommen, die diese Kunst ausüben, voll von allen griffbereit daliegenden Dingen, die erforderlich sind, um Material für diese Art künstliche Unterhaltung zu liefern. Ein weiterer großer Vorteil, den diese Erfindung haben sollte, war der, daß sie als Universalsprache dienen würde, die man bei allen zivilisierten Nationen verstehen könnte, deren Waren und Gerätschaften im allgemeinen von gleicher Art oder so sehr ähnlich sind, daß man ihren Gebrauch leicht begreifen könnte. Und dementsprechend wären Gesandte dazu befähigt, mit fremden Fürsten oder Staatsministern zu verhandeln, deren Sprache ihnen vollkommen unbekannt ist.1
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Jonathan Swift, Gullivers Reisen, Inseltaschenbuch 58, Frankfurt 1975, S. 262-263.
Der Ansatz der Swiftschen Satire
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1. Der Ansatz der Swiftschen Satire Auch mit dem Einfall, ausgerechnet die Professoren der Fakultät für Sprachen an der Akademie von Lagado den Plan vertreten zu lassen, die Kommunikation mittels Wörtern durch die Kommunikation mittels Dingen zu ersetzen, nimmt Swift in etwas verdeckter Weise auf die erkenntnis- und zeichentheoretischen Diskussionen seiner Zeit Bezug. In der Tradition des nominalistischen Denkens hatte sich in England insbesondere durch John Locke im philosophischen und wissenschaftlichen Denken der so genannte Empirismus gefestigt. Dieser war erkenntnistheoretisch durch die Auffassung geprägt, dass reale Existenz nur den individuellen, konkret beobachtbaren Einzeldingen zugeschrieben werden dürfe und dass Begriffe nicht als an sich existierende abstrakte Wesenheiten anzusehen seien, sondern vielmehr nur als menschliche Denkmuster, die aus variablen pragmatischen Ordnungs- und Differenzierungsinteressen resultieren. So gesehen bilden Begriffe nichts Vorgegebenes ab, sondern stabilisieren nur menschliche Denkschemata. Diese antiplatonische und auch antiaristotelische und antirationalistische Denkposition lehnte alle Annahmen über die ontische Existenz vorgegebener abstrakter Ideen, über die Existenz eines in den Dingen inkarnierten Wesens und über die Existenz angeborener Ordnungskategorien scharf ab. Stattdessen postulierte sie, dass alle menschliche Erkenntnis auf konkrete sinnliche Einzelerfahrungen und auf deren pragmatische Interpretation zurückgeführt werden müsse. Das implizierte, dass der Empirismus natürlich für zeichentheoretische Überlegungen sehr aufgeschlossen war, denn für ihn war selbstverständlich, dass sich über die Wahrheit von Aussagen erst dann sinnvoll sprechen ließe, wenn man sich zuvor über den Realitätsbezug der in den Aussagen verwendeten Wörter verständigt hatte. Die Ausgangsthese der Sprachforscher von Lagado, dass „Wörter nur Bezeichnungen für Dinge sind", erscheint für das alltägliche Denken auf den ersten Blick vielleicht plausibel. Auf den zweiten Blick zeigt sich dann aber, dass diese These natürlich viel zu simpel ist und dass sie auch dem empiristischen Denken bzw. den sprachtheoretischen Überlegungen Lockes keineswegs entspricht. Gleichwohl ist es nicht ganz leicht, die Unzulänglichkeit dieser These aufzudecken und ihre theoretischen Defizite herauszuarbeiten. Für diese Aufgabe bieten aber die satirischen Zuspitzungen dieser These durch Swift gute Hilfen. Über das Projekt zur Abschaffung der Verbalsprache macht sich Swift auf zwei unterschiedlichen Ebenen lustig. Einerseits verhöhnt er dieses Projekt dadurch, dass er dafür ein sehr abstruses pragmatisches Motiv vortragen lässt und dass er ausgerechnet wissenschaftsferne Personen (Weiber, Pöbel, Analphabeten) die Rettung der Verbalsprache übernehmen lässt. Andererseits
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macht er sich über die zeichen- und sprachtheoretischen Denkprämissen dieses Projektes lustig. Obwohl hier natürlich die zweite Ebene der satirischen Kritik im Mittelpunkt des Interesses stehen soll, ist auch die erste Ebene interessant, weil durch sie auf wichtige Hintergründe seiner satirischen Aggression und Kritik aufmerksam gemacht werden kann.
Das Motiv zur Abschaffung der Verbalsprache Für die offizielle Begründung des revolutionären Projekts, bei der Kommunikation auf den Gebrauch von Wörtern zu verzichten, muss die Besorgnis herhalten, dass das Sprechen zur Abnutzung der Lungen und damit zu einer Verkürzung des Lebens führe. Diese Begründung ist sicher auch als eine satirische Attacke gegen die Statuten der Royal Society zu werten, in denen festgelegt worden war, insbesondere solche Forschungsprojekte zu fördern, die einen unmittelbaren praktischen Nutzen versprechen. Solche Zielsetzungen sind im Prinzip natürlich sinnvoll, sie bergen aber immer die Gefahr, die Antragsteller dazu zu bringen, sich Begründungen für Forschungsprojekte auszudenken, die nur den Anschein eines praktischen Nutzens erwecken. In dem vorliegenden Fall wird der praktische Nutzen des Forschungsprojektes auf eine so jämmerliche Weise begründet, dass sich eigentlich jeder verhöhnt vorkommen muss, der über ein Minimum an gesundem Menschenverstand verfugt. Pikanterweise lässt Swift den Widerstand gegen das Projekt deshalb auch nicht aus dem Kreis der Wissenschaftler selbst hervorgehen, sondern aus dem Kreis der Weiber, des Pöbels und der Analphabeten, deren gesunder Menschenverstand die Wissenschaftler dann letztlich vor der vollkommenen Blamage rettet. Allerdings ist in diesem Zusammenhang ein ironischer Unterton nicht zu überhören, denn der Kampf gegen die Abschaffung der Verbalsprache wird mit einem problematischen Argument geführt. Man lehnt die Neuerung ab, weil es eine Neuerung ist bzw. weil man sich weiterhin so verständigen will, wie man sich bisher immer verständigt hat. Man verweist weder auf die empirische Erfahrung, dass die Stummen keine höhere Lebenserwartung als die Sprechenden haben, noch auf die praktischen Probleme, die sich bei der Realisierung der neuen Kommunikationsweise ergeben, noch auf die Frage, ob man sich bei der schriftlichen Kommunikation weiterhin der traditionellen Verbalsprache bedienen darf. Da der Widerstand der Weiber, des Pöbels und der Analphabeten gegen die Abschaffung der Verbalsprache sachlich und pragmatisch sehr sinnvoll ist, aber theoretisch mit dem Traditionsargument äußerst dürftig begründet wird, provoziert Swift uns natürlich zu Gedanken für eine stichhaltigere Begründung. Das schließt dann allerdings nicht aus, auch Überlegungen dazu anzustellen, ob das Traditionsargument nicht doch einen gewissen Wert hat.
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Die Manifestationsformen von Wissen Das Pochen des gemeinen Volkes auf die Beibehaltung ihrer traditionellen Kommunikationsformen auf der einen Seite und die theoretische Aufgeschlossenheit der Wissenschaftler für neue Kommunikationsformen auf der anderen Seite wirft eine sehr wichtige Grundsatzfrage auf. Haben Verhaltensweisen und Ordnungsformen, die sich über sehr lange Zeit hinweg evolutionär entwickelt und dann traditionell stabilisiert haben, schon eine immanente Sinnhaftigkeit, selbst wenn man diese theoretisch nicht ganz durchschauen und rechtfertigen kann? Theoretiker und Aufklärer neigen in der Regel nicht dazu, vorgefundene Traditionen a priori für sinnvoll oder gar für gerechtfertigt anzusehen. Sie halten das traditionell Gegebene eher für zufällig oder für Resultate von bestimmten Machtstrukturen. Sie möchten nur das als sinnvoll anerkennen, was sich auch argumentativ begründen und rechtfertigen lässt. Gegen Traditionsbegründungen haben sie von vornherein eine tiefe Abneigung. Historisch gewachsene Kulturordnungen haben für sie eher einen problematischen als einen hilfreichen und wertvollen Charakter. Gegen ein so akzentuiertes Verständnis von Rationalität könnte man nun allerdings ein komplexeres Verständnis von rationalem Denken geltend machen, in dem auch Argumente zulässig sind, die sich nicht problemlos in logische Schlussverfahren einordnen lassen. In diesem Fall könnte man beispielsweise darauf verweisen, dass die Verbalsprache, die sich über Jahrtausende evolutionär entwickelt und stabilisiert hat, durch ihre bloße Existenz schon verbürgt, dass mit ihr sinnvoll und effektiv kommuniziert werden kann, selbst wenn man das nicht stringent begründen kann. Evolutionär betrachtet garantiert nämlich die Tatsache, dass sich ein bestimmtes Ordnungs- oder Zeichensystem herausgebildet und in Handlungsprozessen historisch behauptet hat, dass es zumindest im Rahmen von bestimmten Prämissen als pragmatisch sinnvoll zu beurteilen ist. Das gilt auch dann, wenn man einzelne Aspekte von solchen Ordnungssystemen theoretisch nicht befriedigend erklären und rechtfertigen kann. Dieses Unvermögen kann nämlich auch daran liegen, dass die verwendeten theoretischen Erklärungsansätze zu einseitig sind, um der Komplexität der zu erfassenden Phänomene wirklich gerecht werden zu können. Wenn man nicht nur im Bereich der Natur, sondern auch in dem der Kultur evolutionär denkt, dann wird man sicherlich einräumen müssen, dass es in beiden Bereichen Beobachtungsphänomene gibt, die so komplex sind, dass man sie nicht vollständig auf den Begriff bringen kann, weil man ihre Relationszusammenhänge und Funktionsmöglichkeiten nicht zureichend überschaut. Dem evolutionären Denken sind alle Formen der Theoriegläubigkeit suspekt, und deshalb vertraut es eher praktischen Prüfungsverfahren als theoretischen
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Analysen. Wenn Swift einerseits die Frauen, den Pöbel und die Analphabeten durch Gulliver als unversöhnliche Feinde der Wissenschaft anprangern lässt und andererseits als Repräsentanten des gesunden Menschenverstandes herausstellt, dann ist das sicher auch eine satirische Aggression gegen die Theoriegläubigkeit des rationalistischen Zeitalters. Gerade diejenigen, die der Ratio am fernsten zu stehen scheinen, sind diejenigen, die faktisch den besten Durchblick haben und über das tragfahigste Wissen verfügen. Gerade diejenigen, die der Ratio am nächsten zu stehen scheinen, sind diejenigen, die faktisch am unvernünftigsten sind und nur über ein unbrauchbares Wissen verfügen. Gerade diejenigen, die nicht argumentieren können und nicht argumentieren wollen, sondern die sich nur auf Traditionen und Gewohnheiten berufen, haben letztlich Recht. Im Gegensatz dazu verstricken sich gerade die Theoretiker in die absurdesten Theorien. Die stilisierte Überzeichnung des Konflikts zwischen dem gemeinen Volk mit Durchblick und den Wissenschaftlern ohne Durchblick zwingt die Rezipienten der Satire dazu, Überlegungen anzustellen, von welchen Sehepunkten und in welchen Denkperspektiven sich die offenkundige Absurdität des neuen Kommunikationsverfahrens überhaupt sinnvoll kritisieren lässt. Mit seiner Satire will Swift ganz offensichtlich sowohl diejenigen provozieren, die sich bestimmten Denkpositionen des Empirismus verpflichtet fühlen, als auch diejenigen, die die Denkpositionen des Rationalismus übernommen haben. Eine Kritik an dem revolutionären Akademieprojekt lässt sich im Prinzip von zwei ganz unterschiedlichen Positionen aus führen. Zum einen lässt sich die Absurdität des ganzen Projektes auf pragmatische Weise dadurch aufdecken, dass man seine faktischen Konsequenzen herauszuarbeiten versucht. Zum anderen lässt sich die Absurdität des Projektes dadurch kenntlich machen, dass man seine theoretischen Ausgangsprämissen bzw. seine zeichentheoretische Naivität herauszuarbeiten versucht.
2. Die pragmatischen Ansatzpunkte der Kritik Für einen pragmatisch orientierten Kritiker von Neuerungen ist es in der Regel ziemlich uninteressant, sich mit der Stichhaltigkeit der dafür maßgeblichen Denkprämissen zu beschäftigen bzw. die theoretische Kohärenz des ganzen Konzeptes zu erörtern. Da er sich grundsätzlich am Kriterium der Lebensdienlichkeit und der Fruchtbarkeit von Theorien zu orientieren versucht, interessiert er sich vor allem für die positiven und negativen Konsequenzen bei der praktischen Umsetzung eines theoretischen Konzeptes. Meist ist er von einer grundsätzlichen Skepsis gegen umfassende Wahrheitsansprüche von Theorien geprägt, weil er immer die Gefahr wittert, dass Theorien den jeweiligen Zusammenhang so vereinfachen und verkürzen, dass er in das Prokrustesbett der
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jeweiligen Bezugstheorie passt. Deshalb wird er sich vornehmlich um eine empirische Überprüfung des Nutzens von vorgeschlagenen Neuerungen bemühen und versuchen, die Probleme vorauszusehen, die bei der praktischen Umsetzung von theoretischen Konzepten auftreten können. Unter diesen Umständen beeindrucken ihn weder die Eleganz von Theorien noch die Stringenz von Schlussfolgerungen, da er den Wert von Neuerungen an ihren Früchten erkennen möchte. Pragmatiker stehen deshalb auch in einer tendenziellen Opposition zu allen Ausprägungsformen des Rationalismus, weil sie prinzipiell der Meinung sind, dass Theorien und Konzepte der Komplexität von Phänomenen nur selten gerecht werden können. Deshalb möchten sie Theorien am Maßstab ihrer praktischen Bewährung und operativen Fruchtbarkeit beurteilen.
Die praktischen Konsequenzen der neuen Kommunikationsform Wenn man seine Aufmerksamkeit einmal ganz darauf konzentriert, welche praktischen Konsequenzen sich aus dem neuen Kommunikationsverfahren für die intersubjektive Objektivierung von Denkinhalten und fur den intersubjektiven Austausch von Informationen ergeben, dann kann man mindestens auf fünf große Problemzusammenhänge verweisen. 1. Alle Mitteilungsprozesse müssen sich auf solche Gegenstände beschränken, die sich im visuellen Wahrnehmungsraum des jeweiligen Kommunikanten befinden bzw. die sich potenziell in diesen bringen lassen. Die Zeit- und Raumschranke, die sich in wortgestützten Kommunikationsprozessen mühelos überwinden lässt, kann in dinggestützten Kommunikationsprozessen nicht überwunden werden. Die Person Sokrates könnte man heute nicht mehr zum Gegenstand einer Mitteilung machen, über Schnee ließe sich schlecht im Hochsommer reden und über die Alpen nicht im Wohnzimmer. Der Verzicht auf die verbale Repräsentation von Denkinhalten hätte gravierende Folgen fur die Wahl und das Ausmaß der Themen von Kommunikationsprozessen. Auf Gegenstände, die in eine andere Zeit oder in einen anderen Raum gehören, könnte man nur dann Bezug nehmen, wenn man sich diese mit Hilfe von Bildern repräsentierte. Auf verbale Zeichen könnte man vielleicht partiell verzichten, aber nicht auf Zeichen schlechthin, weil sich nur mit ihrer Hilfe die Zeit- und Raumschranke in Kommunikationsprozessen überwinden lässt. 2. In der Kommunikation mittels Dingen können wir nur solche Vorstellungsinhalte ins Bewusstsein rufen, die wir uns in der Verbalsprache mit Hilfe von Substantiven repräsentieren, die sich referenziell auf visuell sichtbare konkrete Gegenstände beziehen können (Steine, Tiere, Münzen). Schon Vorstellungsinhalte, die wir uns durch abstrakte Substantive {Freiheit, Demokratie, Schwerkraft) ins Bewusstsein rufen, wären in der Dingkommunikation
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unrepräsentierbar. Auch Denkinhalte, die wir uns über Verben als Prozesse und über Adjektive als Eigenschaften vergegenwärtigen, ließen sich in der Dingkommunikation nicht ins Bewusstsein rufen. Dasselbe würde für alle Informationsinhalte gelten, die wir uns üblicherweise mit Hilfe grammatischer Funktionswörter wie etwa Konjunktionen, Negationswörter oder Artikel repräsentieren. Lediglich die räumliche Konstellation von Dingen, die wir uns verbal mit Hilfe von bestimmten Präpositionen objektivieren, ließe sich ansatzweise durch die spezifische räumliche Anordnung von Dingen veranschaulichen. Die zeitliche und modale Korrelation von einzelnen Vorstellungsinhalten könnte aber nicht konkretisiert werden. 3. Da sich in dinggestützten Kommunikationsprozessen auch unselbstständige grammatische Zeichen wie etwa Kasusmorpheme nicht repräsentieren ließen, könnte man in Aussagen bestimmten Sachvorstellungen auch nicht spezifische syntaktische Funktionsrollen zuordnen wie beispielsweise die Funktion eines Subjektes, eines Objektes oder eines Attributs. Einzelvorstellungen könnten nur additiv, aber nicht konstruktiv aufeinander bezogen werden, was dann den Aufbau von durchstrukturierten Prädikationen bzw. komplexen Sinngestalten unmöglich machte. Da sich auch Tempus-, Genus- und Modusmorpheme nicht mit Hilfe von Dingen repräsentieren ließen, entfielen alle Möglichkeiten, Aussageinhalte in eine ganz bestimmte Denkperspektive einzuordnen bzw. mit einem spezifischen Relevanzanspruch zu versehen. 4. Das neue Kommunikationsverfahren würde metakommunikative Verständigungsprozesse völlig unmöglich machen. Mit der Verbalsprache kann man sich nicht nur über die außersprachliche Welt verständigen, sondern auch über den Geltungsanspruch von sprachlichen Zeichen. Wie man sich mit Dingen über Dinge verständigen kann, ist schwer vorstellbar. Der Ausfall von metakommunikativen Verständigungsmöglichkeiten über die jeweiligen Ziele von Mitteilungen und über die jeweilige Leistungsfähigkeit von Mitteilungsmitteln würde zu einer enormen Einschränkung unserer kommunikativen Aktivitäten führen. 5. Eine intersubjektive Verständigung mit Dingen statt mit Wörtern wäre in sehr reduzierter Form nur dann denkbar, wenn man die Kommunikation mittels Dingen durch metainformative Gesten ergänzen dürfte. Gesten könnten zwar den Ausfall grammatischer Instruktionen nicht ersetzen, aber doch dabei helfen, den sinnbildenden Stellenwert von Dingen in Verständigungsprozessen zu präzisieren. Aber eine solche metainformative Hilfsfunktion von Gesten ist in dem alternativen Kommunikationskonzept von Lagado nicht vorgesehen. Über all diese Implikationen und Probleme haben sich die Erfinder des neuen Kommunikationskonzeptes keine Gedanken gemacht. Das einzige Problem, dem sie eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt haben, besteht darin, dass man Vorsorge dafür treffen muss, quantitativ genügend Dinge zur Hand zu haben, um sich anspruchsvoll miteinander verständigen zu können. Aus dem neuen Kommunikationsverfahren resultieren für ihre Propagandisten nur
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zwei wirkliche Probleme. Einerseits sehen sie ein Gesundheitsproblem, weil insbesondere die Gelehrten immer einen großen Sack mit Gegenständen herumtragen müssen, um sich anspruchsvoll unterhalten zu können. Andererseits sehen sie ein soziales Problem, insofern man eventuell Diener braucht, die die jeweiligen Kommunikationsutensilien herumschleppen müssen, bzw. insofern man ein großes Haus benötigt, um alle Utensilien für eine differenzierte Kommunikation aufbewahren zu können.
Der verkürzte Sprach- und Kommunikationsbegriff Zur Struktur aller Wissenschaften gehört, dass man in ihnen mit Abstraktionen arbeiten muss bzw. dass die Komplexität der jeweiligen Untersuchungsgegenstände so vereinfacht werden muss, dass nur noch diejenigen Aspekte hervortreten, die im Rahmen der jeweiligen Erkenntnisinteressen aktuell sind. Solche Vereinfachungen sind prinzipiell nicht zu tadeln, weil sie zur Pragmatik wissenschaftlicher Analysen und Theorien gehören. Sie werden aber höchst problematisch, wenn die jeweiligen selektiven Wahrnehmungen für ganzheitliche Wahrnehmungen gehalten werden und wenn man daraus allgemeine Handlungspostulate abzuleiten versucht. Das führt Swift auf sehr eindrucksvolle Weise in seiner Satire vor. Aus der richtigen Beobachtung, dass Wörter eine Stellvertreterfunktion haben, wird die Globalthese abgeleitet, dass „Wörter nur Bezeichnungen für Dinge sind." Diese Globalthese exemplifiziert sehr schön die Neigung aller Wissenschaften, ihre methodisch zu rechtfertigenden Spezialperspektiven auf bestimmte Beobachtungsphänomene so zu verabsolutieren, dass schließlich dabei der Glaube herauskommt, etwas sei nichts anderes als das und das. Diese Tendenz aller Wissenschaften, die Komplexität eines Phänomens methodisch so zu reduzieren, dass ihre Aussagen über das jeweilige Phänomen dann irgendwie plausibel erscheinen, nimmt Swift satirisch aufs Korn. Das gelingt ihm insbesondere dadurch, dass er das gemeine Volk als Sachwalter eines realistischen Denkens darstellt und die Wissenschaftler als Repräsentanten eines unrealistischen Denkens. Die Professoren für Sprache übersehen, dass Wörter auch noch ganz andere Funktionen haben als die, einzelne Dinge zu bezeichnen. Sie übersehen, dass es in der Sprache verschiedene Typen von Wörtern mit sehr unterschiedlichen Repräsentations- bzw. Sinnbildungsfunktionen gibt. Sie übersehen, dass die Sprache sich nicht auf ihre Darstellungsfunktion für außersprachliche Dinge und Sachverhalte reduzieren lässt, sondern dass ihr zusätzlich auch noch eine Ausdrucks- und Appellfunktion zukommt sowie eine argumentative Funktion und eine selbstreflexive Interpretationsfunktion. Sie übersehen, dass mit Sprache nicht nur Vorgegebenes bezeichnet und vergegenwärtigt werden kann, sondern dass mit ihr auch fiktive Vorstellungen und Welten entworfen
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werden können. Gerade weil die Professoren für Sprache ihre Sicht auf die Sprache so extrem vereinfachen und verabsolutieren, werden wir aber indirekt dazu gezwungen, uns Rechenschaft darüber abzulegen, wovon sie bei ihren sprachtheoretischen Überlegungen abstrahieren. Das gelingt vielleicht am besten, wenn man sich die Frage stellt, welche Defizite die zeichentheoretischen Denkprämissen des ganzen Projektes haben.
3. Die zeichentheoretischen Ansatzpunkte der Kritik Die These, dass Wörter nur Bezeichnungen für Dinge seien und somit auch als Stellvertreter für Dinge dienen könnten, wirkt auf den ersten Blick gar nicht so problematisch, wie sie tatsächlich ist. Seit der Antike gibt es eine lange Tradition, nach der Zeichen und damit auch Wörter als Stellvertreter betrachtet werden können. Im Mittelalter hat man dafür die Formel gefunden, dass ein Zeichen immer dann vorliege, wenn etwas für etwas anderes stehe (aliquid stat pro aliquo). Der Stellvertretungsgedanke wird aber in der Satire von Swift so vereinfacht, dass er absurd wird und dass er uns dazu zwingt, sich genauer über seinen semiotischen Sinn zu verständigen.
Der Stellvertretungsgedanke Zweifellos sind Wörter Phänomene, deren pragmatische Funktion darin besteht, auf etwas zu verweisen, was von ihnen selbst klar unterscheidbar ist. Aber worauf können Wörter nun verweisen? Wofür können Wörter eine Stellvertretungsfunktion übernehmen? Welche Konsequenzen sind mit der Stellvertretungsfunktion von Wörtern verbunden? In dem Projekt von Lagado wird suggeriert, dass Wörter Stellvertreter für Einzeldinge seien. Das ist eine prinzipiell unzutreffende ontologische und sprachtheoretische Denkprämisse, da sie allenfalls für Eigennamen (nomina propria) zutrifft, aber keineswegs für Begriffsnamen (nomina appellativa), die ja die Masse unseres Wortschatzes ausmachen. Eigennamen sind in der Tat Stellvertreter für Einzeldinge, da sie sich idealiter nur auf ein einzelnes Erfahrungsphänomen beziehen und nicht auf eine mehr oder weniger große Menge ähnlicher Erfahrungsphänomene. Das bedeutet, dass Begriffsnamen wie etwa die Wörter Pferd, laufen oder braun Stellvertreter für Begriffe sind, also für Denkmuster, mit deren Hilfe wir singulare Wahrnehmungsphänomene, die eine bestimmte Ähnlichkeit miteinander aufweisen, kategorial zu Klassen oder Mengen zusammenfassen. Das hat dann eine ganz fundamentale pragmatische Konsequenz, insofern wir die klassenmäßig zusammengefassten Einzelphänomene in kognitiver Hinsicht als
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identisch betrachten, obwohl es sich um Phänomene handelt, die faktisch ganz beträchtliche Unterschiede zueinander aufweisen können und meist nur ganz bestimmte Merkmale gemeinsam haben. Beispielsweise unterscheidet sich eine einzelne Tanne beträchtlich von einer Buche oder einem Kirschbaum, dennoch ordnen wir alle drei Erfahrungsphänomene unter dem Begriff bzw. unter dem Denkmuster Baum zusammen, weil sie alle einen Stamm und davon abzweigende Äste haben. Wörter, die als Begriffsnamen verwendet werden, können also im Prinzip nicht als Stellvertreter für individuelle Dinge oder Erfahrungsphänomene angesehen werden, sondern nur als Stellvertreter für kognitive Ordnungsmuster. Als Denkmuster lassen sich Begriffe natürlich nicht wie individuelle Erfahrungsphänomene sinnlich wahrnehmen. Sie können nur durch einzelne Erfahrungsphänomene auf mehr oder weniger überzeugende Weise prototypisch exemplifiziert werden. Außerdem ist zu beachten, dass wir Begriffe in ontologischer Hinsicht heute wohl nicht mehr als an sich existierende abstrakte ontische Phänomene im Sinne von platonischen Ideen ansehen können, sondern vielmehr nur als kulturbedingte Ordnungsmuster, die ganz bestimmten pragmatischen Differenzierungsinteressen entspringen. Beispielsweise wird man sich schwer tun, allen Pflanzen eine substanziell gegebene ontische Wesensähnlichkeit zuzuschreiben, die wir unter dem Begriff Unkraut zusammenfassen. Es fällt sicher viel leichter, nur solche Pflanzen unter dem Begriff Unkraut zusammenzufassen, denen wir unter bestimmten Rahmenbedingungen keinen direkten pragmatischen Nutzen zuordnen können. Die Frage nach der Stellvertretungsfunktion von Wörtern ist außerdem danach zu differenzieren, ob wir diese im Hinblick auf die konkrete Verwendung eines Wortes in einer Äußerung stellen oder im Hinblick auf die Existenz eines Wortes in einem gegebenen Sprachsystem. In einer konkreten Äußerung kann sich ein Wort referenziell durchaus auf ein individuelles Erfahrungsobjekt beziehen und kann dementsprechend dann auch als dessen verbaler Stellvertreter angesehen werden. Das zeigt sich insbesondere dann, wenn ein Substantiv mit einem Demonstrativpronomen verbunden wird (Dieses Pferd hat das Rennen gewonnen.). Gleichwohl ist aber auch bei einem solchen Wortgebrauch zu beachten, dass das jeweils verwendete Wort nicht als neutraler Stellvertreter des jeweiligen Referenzobjektes fungiert, sondern vielmehr als ein qualifizierender Stellvertreter. Durch die Wahl des Wortes wird nämlich zugleich festgelegt, im Rahmen welches Begriffsmusters das jeweilige Referenzobjekt wahrgenommen werden soll bzw. hinsichtlich welcher Aspekte es von Interesse ist (Dieses Pferd/dieser Hengst/dieser Araber/dieser Schimmel hat das Rennen gewonnen.). Jede sprachliche Objektivierung eines Phänomens impliziert eine kategoriale Zuordnung und damit eine Interpretation, die nicht nur etwas über das Phänomen selbst besagt, sondern auch über die Denkweise des Sprechers, der das jeweilige Wort ausgewählt hat. Das bedeutet, dass die Frage nach der
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Stellvertretungsfunktion von Wörtern nicht losgelöst von den Differenzierungs- und Wahrnehmungsinteressen der jeweiligen Kommunikanten erörtert werden kann, da jeder Benennung bzw. jeder kategorialen Zuordnung eines Phänomens bestimmte pragmatische und intentionale Motive zu Grunde liegen. Außerdem ist bei der Diskussion der Stellvertretungsproblematik in der Sprache zu beachten, welcher Typ von Wörtern jeweils zur Debatte steht. Sprachlogisch und systemtheoretisch gesehen lässt sich nämlich zwischen den so genannten Inhaltswörtern oder autosemantischen Wörtern (Substantive, Adjektive, Verben) auf der einen Seite und den so genannten Funktionswörtern oder synsemantischen Wörtern (Konjunktionen, Negationswörtern, Partikeln) auf der anderen Seite unterscheiden. Diese sprachlogische und funktionale Typisierung von Wörtern ist fur die Diskussion der Stellvertretungsproblematik von fundamentaler Bedeutung, weil dadurch darauf aufmerksam gemacht werden kann, dass alle komplexen, operativ verwendbaren Zeichensysteme mindestens zwei Klassen von Zeichen benötigen, nämlich Zeichen für Vorstellungsinhalte und Zeichen für die Relationierung von Vorstellungsinhalten. In der Mathematik dokumentiert sich das in der Unterscheidung von Zahlzeichen und Operationszeichen und in der Sprache in der Unterscheidung zwischen Inhaltszeichen bzw. lexikalischen Zeichen und Funktionszeichen bzw. grammatischen Zeichen. Wie schon im Zusammenhang mit der Erkenntnismaschine von Lagdo erwähnt wurde, hat deshalb Humboldt zwischen den Wörtern unterschieden, „welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen,"2 In der Sprache sind Inhaltswörter dazu bestimmt, Erfahrungsinhalte bzw. Denkinhalte kategorial zu ordnen, und Funktionswörter dazu, Korrelationsformen für Inhaltswörter bzw. Denkinhalte zu objektivieren und zu typisieren. Beide Klassen von Wörtern haben eine Bedeutung bzw. eine Stellvertreterfunktion für bestimmte Denkmuster, aber eine je unterschiedliche. Während Inhaltswörter die pragmatische Aufgabe haben, typisierte Denkkategorien ins Bewusstsein zu rufen, denen dann einzelne Erfahrungsphänomene zugeordnet werden können, haben Funktionswörter die pragmatische Aufgabe, typisierte Handlungskategorien ins Bewusstsein zu rufen, mit deren Hilfe wir Denkinhalte interpretieren oder miteinander verknüpfen können. Deshalb ist es auch von vornherein unmöglich, Funktionswörter durch Dinge zu ersetzen, weil sich Funktionswörter referenziell nicht auf bestimmte Dinge oder Dingklassen beziehen lassen, sondern nur auf Handlungen oder Handlungstypen, für welche Einzeldinge natürlich keine Exemplifizierungsfunktionen übernehmen können. So gesehen wäre das Programm, die Kommunikation mittels Wörtern durch die Kommunikation mittels Dingen zu erset2
W. v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, 1906, Bd. V S. 438-439.
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zen, a priori zum Scheitern verurteilt, weil ihm eine völlig unbrauchbare Vorstellung über die semiotischen Prämissen von operativ nutzbaren Zeichensystemen zu Grunde liegt. Wörter können zwar zur Bezeichnung von Einzeldingen dienen, aber darin erschöpft sich ihr Funktionspotenzial noch nicht.
Der Repräsentationsgedanke Der Repräsentationsgedanke überschneidet sich in vielen Hinsichten mit dem Stellvertretungsgedanken. Mit ihm lässt sich aber viel besser als mit dem Stellvertretungsgedanken auf die psychologischen und kognitiven Implikationen des Zeichengebrauchs aufmerksam machen, die in dem Kommunikationskonzept von Lagado ganz übersehen worden sind. Schon das Wort Repräsentation macht darauf aufmerksam, dass etwas nicht nur vergegenwärtigt, sondern wieder vergegenwärtigt werden soll. Dabei kann man sich dann natürlich darüber streiten, ob es sich bei einer solchen Wiedervergegenwärtigung von etwas faktisch schon Bekanntem handelt oder um die Vergegenwärtigung von etwas Neuem im Rahmen von schon bekannten Denkmustern. Mit dem Repräsentationsgedanken lässt sich besser als mit dem Stellvertretungsgedanken darauf aufmerksam machen, dass die mit Wörtern objektivierten Vorstellungsinhalte nicht nur von der Objektseite her ins Auge zu fassen sind, sondern auch von der Subjektseite her, da es ja Sachverhaltsvorstellungen von individuellen Subjekten in bestimmten Wahrnehmungssituationen sind. Wörter haben als Objektivierungszeichen eine Vermittlungsfunktion zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre. Schon deshalb dürfen sie keineswegs nur als rein technische Ersatzformen für Dinge angesehen werden. Wörter verdoppeln nicht Phänomene auf der Ebene der Sprache, sondern vergegenwärtigen uns Phänomene in einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive im Hinblick auf ganz bestimmte Aspekte. Der Begriff der Repräsentation lenkt unsere Aufmerksamkeit sehr viel stärker als der der Stellvertretung auf das Spannungsverhältnis zwischen den jeweiligen Repräsentationsmitteln und den jeweiligen Repräsentationsinhalten. Dadurch wird auch die Eigenständigkeit der Wörter und Begriffe gegenüber den jeweiligen Phänomenen hervorgehoben, durch die diese bewusstseinsmäßig präsent gemacht werden sollen. Wenn wir bei der Kommunikation mittels Dingen nur mit sinnlich fassbaren Phänomenen konfrontiert werden, aber nicht mit kulturell entwickelten Zeichen fur die Repräsentation dieser Phänomene, dann verflüchtigt sich dieses Spannungsverhältnis ganz und damit zugleich auch das mögliche Bewusstsein fur die Interpretations- und Perspektivierungsfunktion der konkreten Repräsentanten für das jeweils zu Repräsentierende. Das lässt sich sehr schön an der politischen Repräsentationsfunktion eines Abgeordneten im bundesrepublikanischen Demokratieverständnis demonstrieren.
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Ein Abgeordneter ist von der Verfassungsidee her nicht Stellvertreter für seine Wähler. Deshalb soll er auch nicht im Sinne eines imperativen Mandats als Sprachrohr von bestimmten Interessensgruppen auftreten. Er wird vielmehr als ein eigenständiges Organ der politischen Willensbildung verstanden, weshalb er sich bei seinen Entscheidungen letztlich nur am Allgemeinwohl und an seinem eigenen Gewissen zu orientieren hat. In ähnlicher Weise sind auch Wörter nicht Stellvertreter der Phänomene, denen sie ihre Existenz verdanken. Auch die Wörter sind Organe von allgemeinen Sinnbildungsanstrengungen, insofern sie als kulturell legitimierte Medien anzusehen sind, mit denen sich Kommunikationsgemeinschaften Erfahrungsphänomene in einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive vergegenwärtigen, um pragmatisch sinnvoll mit ihnen umgehen zu können. Mit der Vorstellung einer mehr oder weniger technisch zu verstehenden Stellvertretungsfunktion kommen wir weder bei der Funktionsbestimmung von Abgeordneten noch bei der von Wörtern weiter. Abgeordnete wie Wörter haben eine Brückenfunktion zwischen zwei Welten wahrzunehmen bzw. zwischen der Welt des Gegebenen und der Welt des Umgangs mit dem Gegebenen zu vermitteln. Wenn Abgeordnete nur als Stellvertreter ihrer Wähler und Wörter nur als Stellvertreter der von ihnen benannten Dinge angesehen würden, dann wird unterschlagen, dass sie Organe der Willensbildung bzw. Organe der Sinnbildung sind. Der Verzicht auf Abgeordnete würde zu einem Chaos bei bestimmten Formen der demokratischen Willensbildung führen und der Verzicht von Wörtern bzw. Begriffen zu einem Chaos bei der geistigen Strukturierung von sinnlichen Wahrnehmungsprozessen und bei der intersubjektiven Vermittlung von Vorstellungen. Wenn wir uns selbst und anderen ein Phänomen mit Hilfe eines Wortes bzw. eines Begriffs repräsentieren, dann interpretieren wir es zugleich kategorial. Wir legen damit für uns und andere fest, in welcher Hinsicht es für uns interessant ist und welchen Stellenwert wir ihm in unseren Denk- und Handlungsprozessen zuordnen möchten. Wenn wir das Phänomen selbst nur vorzeigen, auf das wir im Denken Bezug zu nehmen gedenken, dann ist immer unklar, auf welcher Betrachtungsebene es für uns aktuell sein soll. Wenn wir beispielsweise in einem Mitteilungsprozess eine einzelne Kartoffel vorzeigen, dann ist unklar, ob wir auf dieses Ding als Knollengewächs, als Salatkartoffel, als Lebensmittel, als Handelsware oder als Rohstoff Bezug nehmen wollen. Eine kategoriale Perspektivierung des Denkens ist bei der Kommunikation mittels Dingen unmöglich, aber in einer Kommunikation mittels Wörter sehr leicht. In faktischen Kommunikationsprozessen geht es aber nicht um die Objektivierung von Phänomenen an sich, sondern vielmehr um die Objektivierung von Phänomenen für uns, also um die Einbettung von Phänomenen in pragmatisch perspektivierte Denk- und Handlungsprozesse. Die Kommunikation mittels Dingen erinnert in gewisser Weise an die Vorformen unserer heutigen Wortlautschriften. In den so genannten Ideen- und
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Inhaltsschriften dienen ja auch die Abbildungen von Dingen als sehr grobe Erinnerungsmarken an bestimmte Wissensinhalte.3 Die konkrete Information der jeweiligen Bilder bzw. der abgebildeten Gegenstände ergab sich nicht aus diesen selbst, sondern musste mühsam mit Hilfe der situativen Umstände und mit Hilfe von Hypothesen über die denkbaren Mitteilungsintentionen des jeweiligen Zeichengebers entschlüsselt werden. Kommunikationsprozesse mittels Bildern bzw. mittels Dingen können nur dann gelingen, wenn der Kommunikationsrahmen thematisch sehr begrenzt ist, wenn die beteiligten Kommunikanten von relativ identischen Denkprämissen geprägt sind und wenn sie ganz spezifische Informationserwartungen haben. Nur dann können Bilder und Dinge im Sinne einer Wiedervergegenwärtigung von vorgegebenen Vorstellungsinhalten kommunikativ wirksam werden.
4. Die möglichen Vorteile einer Kommunikation mittels Dingen Die Verfechter des neuen Kommunikationsverfahrens haben neben dem Gesichtspunkt der Verlängerung der Lebenserwartung auch geltend gemacht, dass sich das neue Mitteilungsverfahren gut als internationale Universalsprache im Handel und in der Diplomatie nutzen ließe. Wohlweislich haben sie aber nicht in Betracht gezogen, das neue Verfahren auch für wissenschaftliche und philosophische Objektivierungs- und Mitteilungszwecke einzusetzen. Obwohl eine solche Nutzungsmöglichkeit natürlich von vornherein als ziemlich absurd erscheinen mag, so ließen sich doch Überlegungen dazu anstellen, ob oder inwieweit die Kommunikation mittels Dingen dem Denken nicht einen besseren Realitätskontakt sichern könnte bzw. eine Absicherung gegen rein fiktive Vorstellungsinhalte.
Die Sprache der Dinge als Universalsprache Mit der Idee der Professoren von Lagado, dass sich das neue Kommunikationsverfahren auch als Universalsprache für den Handel und die Diplomatie verwenden ließe, macht sich Swift auch über die intensiven zeitgenössischen Bemühungen zur Entwicklung einer internationalen Verkehrssprache lustig. Eine genauere Untersuchung zeigt nämlich, dass das neue Mitteilungsverfahren gerade für das pragmatische Funktionsspektrum einer Handels- und Diplomatiesprache denkbar ungeeignet ist. Während man die Repräsentationsfunktionen der Wörter in der Verbalsprache in einem sehr bescheidenen Maße noch durch das Vorzeigen derjenigen Dinge kompensieren könnte, welche man durch die jeweiligen Wörter 3
Vgl. H. Jensen, Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart, 1969 3 , S. 33ff.
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benennen kann, ist das hinsichtlich der Handlungsfunktionen der Sprache, die im Handel und in der Diplomatie eine große Rolle spielen, gerade nicht möglich. Sobald man die Sprache dazu benutzt, um Handlungen zu realisieren, also anderen etwas anzupreisen, andere zu etwas zu überreden, andere zu überzeugen oder anderen zu drohen usw. ist es ziemlich unmöglich, auf Dinge als Informationsmittel zurückzugreifen. Gerade im Handel und in der Diplomatie wird ja offensichtlich, dass die Sprache nicht nur eine Darstellungs- und Repräsentationsfunktion hat, sondern auch eine Ausdrucks-, Appell- und Argumentationsfunktion. Gerade weil es im Handel und in der Diplomatie primär nicht um die Repräsentation von Dingen und Sachverhalten geht, sondern um die Beeinflussung von Menschen, die Auslösung von Handlungen und die Veränderung des Gegebenen, sind Dinge denkbar unbrauchbare Kommunikationsmittel. Sprechakte, welcher Art auch immer, lassen sich schwerlich durch das Vorzeigen von Dingen realisieren, sondern allenfalls durch die Integration von Dingen in Gesten und Handlungen. Auch der beiläufige Hinweis, dass die Waren und Gerätschaften bei den verschiedenen Völkern im Prinzip sehr ähnlich seien und dass sie sich deshalb recht gut als international verständliche Mitteilungsmittel verwenden ließen, muss als höchst ironisch verstanden werden. Gerade im 18. Jahrhundert hatte sich das allgemeine Bewusstsein der Menschen für die Unterschiede von Kulturen und von Zivilisationsprodukten durch die vielen Entdeckungen und durch den internationalen Handel enorm gesteigert. Ein solcher Hinweis konnte also nur als ein ziemlich weltfremder Hinweis verstanden werden.
Der Realitätskontakt der Kommunikation mittels Dingen Vorsichtshalber haben die Wissenschaftler von Lagado nicht ins Feld geführt, dass sich die Verständigung mittels Dingen auch als wissenschaftliche Universalsprache eignen könnte. Dennoch ist es aber vielleicht aufschlussreich, diesen Gesichtspunkt zu diskutieren, um bestimmte sprachtheoretische Implikationen dieses Projektes herauszuarbeiten. Man könnte nämlich hypothetisch die Auffassung vertreten, dass die Kommunikation mittels Dingen das Denken davor schütze, den Realitätskontakt zu verlieren und bloße gedankliche Konstrukte bzw. Fiktionen für etwas real Existierendes zu halten. Diese Hypothese ist zwar im Prinzip abstrus, aber mit ihr kann dennoch ganz gut auf bestimmte Implikationen der Verbalsprache aufmerksam gemacht werden, die man unter dem Stichwort Protokollsprache thematisieren kann. In der Kommunikation mittels Dingen kann man nicht über Elfen, Einhörner oder Klabautermänner sprechen, weil man diese nicht vorzeigen kann. Das neue Kommunikationsverfahren würde somit von vornherein die Gefahr bannen, dass man etwas schon deswegen für real existent hält, weil es ein Wort
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dafür gibt. Wenn man den Teufel nicht vorzeigen kann, dann ist es auch müßig, sich Gedanken über seine Existenz zu machen. Das Kriterium der Vorzeigbarke it von Referenzobjekten für einzelne Wörter wäre so gesehen dann ein brauchbares operatives Verfahren, um Wörter mit einem realen und mit einem fiktiven Realitätsbezug zu unterscheiden bzw. auf dieser Basis die Existenzberechtigung von einzelnen Wörtern zu diskutieren. Als man im Rahmen des Neopositivismus die Idee einer rein deskriptiven philosophischen Wissenschaftssprache entwickelte, die von allen metaphysischen und spekulativen Hypothesen und Implikationen freigehalten werden sollte, wurde auch das Konzept von so genannten Protokollsätzen ins Auge gefasst. Als Protokollsätze sollten solche Sätze gelten, die real existierende Sachverhalte gleichsam im Sinne einer sprachlichen Fotografie dergestalt abbildeten, dass jedes Element und jede Relation in einem Satz mit einem Element und einer Relation in der Realität korrespondierte. Ein so gestalteter Sprachgebrauch sollte sicherstellen, dass man Sätze nur zur Darstellung von existierenden Sachverhalten verwendete und nicht zur sprachlichen Repräsentation eines Lebensgefühls. Im Rahmen eines solchen Denkens und Sprachgebrauchs musste deshalb großer Wert darauf gelegt werden, alle Inhaltswörter ohne empirisch nachprüfbaren referenziellen Bezug zu vermeiden, um die Sprache nicht zu metaphysischen Sinnspekulationen zu missbrauchen bzw. um letztlich keine Scheinsätze zu produzieren. Auf dieser Grundlage hatte der frühe Carnap dann gefordert, im wissenschaftlich-philosophischen Sprachgebrauch Termini wie Gott, das Absolute, das Unendliche, das Nicht-Seiende, das Ding an sich, das Ich usw. als spezifisch-metaphysische Termini ohne Bedeutung" konsequent zu eliminieren, um keine Scheinsätze zu produzieren.4 Er witterte in der Metaphysik eine Ersatzform der Theologie, die eher dazu diene, einer Gefühlslage Ausdruck zu geben als einer validen Erkenntnis. „Die (Schein-)Sätze der Metaphysik dienen nicht zur Darstellung von Sachverhalten, weder von bestehenden (dann wären es wahre Sätze) noch von nicht bestehenden (dann wären es wenigstens falsche Sätze); sie dienen zum Ausdruck des Lebensgefühls ,"5 Den eigenwilligen Sprachgebrauch Heideggers kann er deshalb auch nicht als eine ganz bestimmte phänomenologische Interpretationsanstrengung würdigen, die dadurch bestimmt ist, dass neue Sprachformen für neue sprachliche Objektivierungsziele geprägt werden. Diesen Sprachgebrauch sieht er vielmehr als eine spezifische Erscheinungsform philosophischer Scharlatanerie an, die mit wissenschaftlicher Philosophie nichts zu tun habe. Insbesondere der folgende Satz Heideggers aus dessen Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 ist
4
5
R. Carnap, Oberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis, 2, 1931, S. 227. R. Carnap, a.a.O., S. 238.
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ihm ein Dorn im Auge, weil in ihm Wörter benutzt werden, die keine faktische Referenz haben bzw. die aus einem unzulässigen und logisch nicht zu tolerierenden Wortartwechsel resultieren: "Das Nichts selbst richtet."6 Nun kann man natürlich mit sehr guten und durchschlagenden Gründen bezweifeln, dass die Vorzeigbarkeit von möglichen Referenzobjekten ein Kriterium für die Existenzberechtigung von Wörtern bzw. Begriffen in der alltäglichen und in der philosophischen Sprachverwendung ist, weil damit alle Abstrakta aus dem Sprachgebrauch eliminiert werden müssten, also Wörter, die sinnlich nicht direkt fassbare Korrelationsverhältnisse repräsentieren sollen {Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit usw.). Dennoch kann man sicher nicht in Abrede stellen, dass Wörter, für die wir keinen direkt überprüfbaren referenziellen Bezug in der sinnlichen Wahrnehmungswelt ausmachen können, mögliche Einfallstore für fiktive oder ideologische Denkinhalte sein können. Wir werden sicher einräumen müssen, dass Wörter, die etwas begrifflich zu objektivieren versuchen, was der sinnlichen Erfahrung nicht zugänglich ist und was sich auch nicht durch gute Geschichten plausibel exemplifizieren lässt, immer einer besonderen Plausibilitätsprüfung bedürfen. Wir kommen im Denken und Sprechen nicht ohne Abstrakta bzw. ohne Begriffsbildungen mit einem sehr hohen Abstraktionsgrad aus. Aber mit eben diesen Wörtern bzw. mit den von ihnen repräsentierten Begriffsbildungen sollten wir sparsam umgehen und uns immer bewusst sein, dass wir mit ihnen sehr viel weiter in die Welt der Hypothesen vorstoßen als mit den Wörtern bzw. Begriffen, mit denen wir uns empirisch und pragmatisch leicht überprüfbare Denkinhalte objektivieren. Unbeantwortet bleibt aber auch von den neopositivistischen Sprachkritikern bzw. von den Verfechtern eines rein deskriptiven wissenschaftlichen Sprachgebrauchs im Sinne von Protokollsätzen die Frage, wie sich der referenzielle Bezug von Wörtern bzw. Begriffen zur außersprachlichen Realität verifizieren lässt. Auch sie können natürlich nicht ernsthaft die These vertreten, dass der Realitätsbezug von Wörtern durch das Vorzeigen ihrer potenziellen Referenzobjekte gesichert werden kann, oder gar in Betracht ziehen, dass eine Kommunikation mittels Dingen denkbar ist. Gleichwohl protestieren sie natürlich mit einem gewissen Recht dagegen, dass alle vorhandenen und alle neuen Begriffsbildungen sinnvoll sind und ein Existenzrecht haben. Sie wittern verständlicherweise die Gefahr, dass insbesondere Metaphysiker dazu neigen, sich in Gestalt neuer Wort- und Begriffsbildungen Seile in die Luft zu werfen, an denen sie dann hochzuklettern versuchen bzw. denen sie einen faktischen Realitätskontakt zuschreiben. Sprachtheoretisch zwingt uns die Satire von Swift über die Abschaffung der Verbalsprache dazu, grundsätzliche Überlegungen zu den kognitiven Funktionen bzw. zu dem kognitiven Wert von sprachlichen Formen bzw. Begriffen anzustellen. Gerade in England war diese Problematik angesichts nominalisti6
R. Carnap, a.a.O., S. 229. Vgl. M. Heidegger, Was ist Metaphysik? I960 8 , S. 34.
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scher und empirischer Denktraditionen besonders aktuell. Deshalb wird man wohl auch annehmen dürfen, dass Swift mit seiner Satire auch zu ideologiekritischen Überlegungen provozieren wollte, die in England seit der Idolenlehre von Francis Bacon besonders nahe lagen.7
5. Der Status und die Funktion von Begriffen Die unhaltbare sprachtheoretische Denkprämisse, dass Wörter nur Bezeichnungen bzw. Stellvertreter für Dinge seien, verhindert einen klaren Blick auf die medialen Funktionen der Verbalsprache. Deshalb lohnt es, sich etwas ausführlicher mit dem ontologischen Status und den pragmatischen Funktionen von Begriffen zu beschäftigen, um insbesondere die mediale Leistungsfähigkeit der Verbalsprache gegenüber allen anderen Zeichensystemen herauszuarbeiten. Diese Problematik lässt sich am besten am Beispiel von Substantiven erörtern, die ja auch bei Swift im Mittelpunkt des Interesses stehen. Im Prinzip kann sie aber auch im Hinblick auf alle anderen Formen sprachlicher Musterbildung diskutiert werden. Die Frage nach dem ontologischen, kognitiven und pragmatischen Profil von substantivisch repräsentierten Begriffen hat seit der Antike eine lange philosophische Tradition, die in vielfältigen Varianten auch sprachwissenschaftliche und sprachpsychologische Überlegungen geprägt hat.
Die Richtigkeit der Namen Trotz der vielfältigen Formen der Sprachkritik ist unser heutiges Sprachverständnis sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch durch ein sehr großes Sprachvertrauen geprägt.8 Zwar haben wir uns heute von der sprachmagischen Vorstellung gelöst, dass der Name Bestandteil der von ihm bezeichneten Sache sei, dass die Nennung des Namens das von ihm Benannte anwesend mache und dass das, was man mit dem Namen mache zugleich auch das betreffe, was der Name präsent mache. Gleichwohl tendieren wir aber dennoch zu einem gewissen Wortrealismus in dem Sinne, dass wir glauben, dass jeder Name direkt mit einem konkret oder abstrakt existierenden Sachverhalt korrespondiere bzw. dass Sprache und Welt symmetrische Systeme seien. Die Vorstellung von der natürlichen Richtigkeit der Namen hat im Prinzip zwei unterschiedliche Dimensionen bzw. Ausprägungen.
7 8
Vgl. F. Bacon, Neues Organon der Wissenschaften, 1620/1981. Vgl. A. Gardt, Sprachvertrauen. Die notwendige Illusion der „richtigen Bezeichnung" in der Wissenschaftssprache, in: H.E. Wiegand (Hrsg.), Sprache und Sprachen in den Wissenschaften, 1999, S. 462-486.
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Einerseits kann mit dieser Vorstellung der Glaube an die natürliche Richtigkeit der Benennung außersprachlicher Phänomene gemeint sein. Zwar räumt man heute sicher ein, dass die Relation des Bezeichnenden zum Bezeichneten im Prinzip arbiträr bzw. konventionell ist. Aber bei Wortzusammensetzungen (Kneifzange, Bärenfutter, Wolldecke) und bei Wortableitungen (Studentin, Bäckerei, Unendlichkeit), die zugleich eine Art Definition des jeweils Benannten implizieren, zweifeln wir nicht daran, dass es richtige und falsche Benennungsnamen gibt. Deshalb spricht man im Hinblick auf Kompositionen und Derivationen ja auch von sprechenden Namen bzw. von durchsichtigen Wörtern. Andererseits kann mit der Vorstellung von der natürlichen Richtigkeit der Namen aber auch der Glaube an die natürliche Richtigkeit der Begriffsbildungen gemeint sein, die von den jeweiligen Wörtern benannt werden. Im funktionierenden Sprachgebrauch zweifeln wir nicht an der natürlichen Richtigkeit der kognitiven Muster, die wir jeweils verwenden. Allenfalls stellt sich uns die Frage, ob wir für die jeweils aktuellen sprachlichen Objektivierungsaufgaben das richtige Begriffsmuster aus dem Repertoire der zur Verfügung stehenden Muster ausgewählt haben. Nur in Situationen extremer Sprachnot oder in Situationen des Vergleichs der Begriffsbildungen in unterschiedlichen Sprachen stellt sich uns das Problem, ob die jeweiligen Begriffsmuster überhaupt zutreffend gebildet sind bzw. auf Grund welcher Kriterien sie sich ontologisch rechtfertigen lassen. Das Sprachverständnis, das von einer prinzipiellen Symmetrie und Harmonie von Sprache und Welt ausgeht und das voraussetzt, dass sprachliche Ordnungsformen mit ontischen Ordnungsformen direkt korrespondieren, wird meist als Sprachrealismus bezeichnet. Diesem Sprachrealismus liegen nun allerdings eine Reihe von Denkprämissen zu Grunde, die sich im Verlaufe der Erkenntniskritik und Sprachreflexion als höchst problematisch erwiesen haben, die man aber gleichwohl nicht einfach aufheben kann, wenn man die Sprache als kognitives und kommunikatives Werkzeug nutzen möchte. Der natürliche alltägliche Sprachrealismus wurde in sehr umfassender Weise schon im mittelalterlichen Universalienstreit in der Kontroverse zwischen den so genannten Realisten und Nominalisten zur Debatte gestellt. Diese Auseinandersetzungen zittern wohl auch noch in der vorliegenden Satire von Swift nach, insofern der englische Empirismus erkenntnistheoretisch weitgehend in der Tradition des so genannten Nominalismus stand, und der kontinentale Rationalismus in vielen Hinsichten dem so genannten Realismus verpflichtet war. Zwar hat sich heute in allen Formen der Sprachreflexion und der Sprachtheorie die Denkposition der Nominalisten durchgesetzt, aber im faktischen Sprachgebrauch orientieren wir uns gleichwohl immer noch weitgehend an den Grundvorstellungen der Realisten.
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Realismus und Nominalismus Im mittelalterlichen Streit um den Seinsstatus von Allgemeinbegriffen (Universalien) vertraten die so genannten Realisten die Auffassung, dass die Allgemeinbegriffe im Sinne von platonischen Ideen vor den beobachtbaren Einzeldingen existieren bzw. dass die Einzeldinge als abgeleitete Entitäten die Allgemeinbegriffe als ursprünglich gegebene geistige Entitäten lediglich exemplifizieren (universalia ante res). Eine eher an Aristoteles orientierte Variante des Realismus favorisierte dagegen die These, dass Allgemeinbegriffe gleichsam als substanzielle Wesensrepräsentationen in den Einzeldingen existieren (universalia in rebus), um sich nicht in die Probleme einer Zwei-WeltenLehre zu verstricken. Beide Varianten des Realismus rechtfertigen und fördern ein grundsätzliches Vertrauen in die Sprache. Man kann nämlich davon ausgehen, dass sprachliche Begriffe bzw. Differenzierungsmuster die Welt prinzipiell zutreffend objektivieren und repräsentieren können und dass man deshalb die Struktur der Welt auch zutreffend erfassen kann. Auf der Basis eines solchen Sprachrealismus hätte das Projekt einer Kommunikation mittels Dingen zunächst eine gewisse Teilplausibilität. Wenn man nämlich alle Einzeldinge problemlos einem ontisch vorgegebenen Begriffsmuster bzw. einer Universalie zuordnen kann, dann müssten auch umgekehrt alle Dinge problemlos das zu ihnen passende Begriffsmuster exemplifizieren können. Wort und Einzelding scheinen die gleiche Repräsentationsfunktion zu haben und müssten deshalb auch wechselseitig füreinander einspringen können. Man müsste nur einräumen, dass in einem solchen Fall das vorgezeigte Ding nicht als Einzelding aktuell ist, sondern nur als Zeichen des von ihm repräsentierten Begriffs. Eine ganz andere Situation ergibt sich nun allerdings, wenn man die vorgegebene ontische Existenz von Begriffen in Frage stellt und annimmt, dass nur Einzeldinge real existieren, aber weder vorgegebene Ideen bzw. Begriffsmuster noch vorgegebene Klassen von Gegenständen. Mit dem Terminus Nominalismus werden dann seit dem Universalienstreit Denkpositionen zusammengefasst, die davon ausgehen, dass alle Begriffe im Prinzip mehr oder weniger willkürliche kognitive Ordnungskonstrukte sind, die die Menschen nach ganz bestimmten pragmatischen Differenzierungsinteressen gebildet haben, um sich die beobachtbaren Einzelphänomene nachträglich in übersichtlichen Klassen zu ordnen (universalia post res). Das bedeutet, dass im Prinzip alle Begriffe als kultur- und sprachspezifische Ordnungshypothesen anzusehen sind, die als Menschenwerk keinen ontischen Realitätsanspruch stellen dürfen, sondern allenfalls einen Anspruch darauf, eine fruchtbare ontologische Ordnungs- und Orientierungsfunktion bei der kognitiven Bewältigung der Welt übernehmen zu können. Im Prinzip reduziert sich der ontologische Status von Begriffen dann darauf, die Funktion von
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Zeichen (nomina) für konventionelle Objektivierungsmuster bzw. Objektivierungsanstrengungen zu übernehmen. Für die Nominalisten führen uns die abstraktiv gebildeten Begriffe deshalb auch nicht zu der eigentlich existierenden Realität, die hinter oder in den empirisch fassbaren Einzeldingen liegt, sondern vielmehr in eine eigene, vom Menschen hergestellte Denkwelt, die keinen extramentalen Realitätsanspruch stellen darf. Begriffe betrachtet Ockham deshalb auch nicht als Repräsentanten von vorgegebenen Substanzen, sondern lediglich als Erzeugnisse kognitiver Ordnungsanstrengungen (intentiones animae), die als Menschenwerk eher in der Subjektsphäre als in der Objektsphäre verankert sind.9 Ein Begriff ist deshalb für die Nominalisten eine Ausdrucksform des Denkens (modus intelligendi) und keine Ausdrucksformen des Seins (modus essendi/subsistendi). Da Begriffe so gesehen kein vorgegebenes ontisches Fundament haben, muss ihre Tauglichkeit für Denk- und Wahrnehmungsprozesse deshalb auch ständig überprüft werden. Bei Bedarf kann ihre Struktur infolgedessen auch problemlos variiert werden. Natürlich ist auch den Nominalisten völlig klar, dass ein brauchbarer Begriff kein zufälliges und rein willkürlich gebildetes Denkmuster ist, sondern dass er eine Basis in der Struktur der Dinge haben muss (fundamentum in re), die mit ihm erfasst und geordnet werden sollen.10 Da nun aber dasselbe empirisch fassbare Einzelphänomen mit Hilfe von Begriffen ganz unterschiedlichen Umfangs bzw. ganz unterschiedlicher Abstraktivität erfasst werden kann (Eiche, Baum, Pflanze) ist es den Nominalisten ganz selbstverständlich, dass Begriffe nicht direkt mit vorgegebenen Seinseinheiten bzw. Substanzen korrespondieren können, sondern nur mit pragmatisch motivierten Ordnungsmustern. Für sie gibt es außerhalb des Denkens (extra mentem) nur Einzeldinge. Die Wörter dienen für sie somit dazu, um mit Hilfe der von ihnen thematisierten Konzepte auf die jeweiligen Einzeldinge in einer bestimmten Denkperspektive Bezug zu nehmen (voces significant res mediantibus conceptibus). Modern gesprochen ließe sich deshalb sagen, dass die Nominalisten Begriffe als geformte Mittler für die Wahrnehmung und Verarbeitung der Realität verstehen, aber nicht als Abbilder der Realität. Den Denkansatz der Nominalisten hat in England insbesondere John Locke in seiner Erkenntnis- und Sprachtheorie systematisch ausgestaltet. Wenn er von Ideen (ideas) spricht, die durch Wörter benannt werden, dann meint er damit keine platonischen Ideen, sondern ausschließlich menschliche Bewusstseinsinhalte bzw. pragmatisch motivierte Ordnungskonzepte des individuellen und kulturellen Denkens, die aus der Sinneserfahrung (sensation) und aus der Operation des Geistes (reflexion) hervorgehen.11 Die Ideen sind für Locke 9
10 11
Vgl. W. V. Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und Wissenschaft, 1984, S. 70ff. G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, 1992, S. 331ff. Vgl. G. Mensching, a.a.O., S. 149. Vgl. John Locke, Über den menschlichen Verstand, Bd. 1,2. Buch, Kap. 1, S. 107ff.
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ursprünglich ganz individuenbezogen und gewinnen erst über die Notwendigkeit des Informationsaustausches eine überindividuelle soziale Natur. Besonders eindrucksvoll tritt für Locke die Gemachtheit von Ideen bzw. die Differenz zwischen den ontisch existierenden Einzeldingen und den für sie entwickelten Erfassungsmustern bei denjenigen Wörtern hervor, die so genannte gemischte Modi und Privativa bezeichnen. Mit dem Terminus gemischte Modi benennt Locke diejenigen komplexen Ideen, die sich nicht aus einfachen Ideen eines einzigen Typs zusammensetzen, sondern aus der konstruktiven Kombination von Ideen ganz unterschiedlichen Typs bzw. aus deskriptiven und wertenden Einzelvorstellungen {Vatermord, Blutschande, Kirchenraub)}2 Als Privativa bezeichnet Locke diejenigen komplexen Ideen, die nicht etwas positiv Beschreibbares objektivieren wollen, sondern die Abwesenheit von etwas Erwartetem oder Erwartbarem {Geschmacklosigkeit, Stillschweigen, Nichts, Loch usw. ).13 Es ist offensichtlich, dass wir diejenigen Wörter, mit denen wir uns gemischte Modi und Privativa sprachlich objektivieren, auf keinerlei Weise durch vorzeigbare Dinge ersetzen können und dass solche Ideen nicht aus konkreten sinnlichen Erfahrungen hervorgehen können, sondern nur aus Reflexionsprozessen, denen ganz bestimmte Motive zu Grunde liegen. Wenn man den nominalistischen Denkansatz zu einem dynamischen Sprachverständnis im Sinne von Humboldt bzw. zu einem dynamischen Zeichenverständnis im Sinne von Peirce ausbaut, dann lässt sich sogar die folgende These formulieren. Im lebendigen Sprachgebrauch repräsentieren Wörter eigentlich nicht verfestigte kulturelle Denkmuster bzw. Begriffe, sondern vielmehr kulturell typisierte Begriffsbildungsprozesse. Deshalb hat Lenneberg Wörter ja auch nicht als Namen ,für früher einmal abgeschlossene und eingelagerte Begriffe" angesehen, sondern als Namen für einen „Kategorisierungsprozeß oder eine Familie solcher Prozesse."14
Begriffsbildungsprozesse als Perspektivierungsprozesse Für das moderne sprachtheoretische Denken steht außer Frage, dass Begriffe Kulturprodukte sind, die nicht direkt mit den Formen des Seins korrespondieren, sondern mit den menschlichen Erfassungsformen für dieses Sein. Deshalb hat Humboldt auch betont, dass selbst bei sinnlich gut fassbaren Gegenständen das Wort nicht die faktischen Gegenstände vertritt, sondern allenfalls die begriffenen Gegenstände. ,^4uch bei ihnen ist das Wort nicht das Aequivalent des den Sinnen vorschwebenden Gegenstandes, sondern die Auffassung desselben
12 13 14
J. Locke, a.a.O., Bd. 2,3. Buch, Kap. V, S. 38ff. J. Locke, a.a.O., Bd. 1,2. Buch, Kap. VIII, S. 144ff., Bd. 2, 3. Buch, Kap. I, S. 2. E.H. Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache, 1972, S. 407.
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durch die Spracherzeugung im bestimmten Augenblicke der Worterfindung ... Denn die Sprache stellt niemals die Gegenstände, sondern immer die durch den Geist in der Spracherzeugung selbstthätig von ihnen gebildeten Begriffe dar."15 Auch für Peirce steht außer Zweifel, dass Begriffsbildungsprozesse im Prinzip als Interpretationsprozesse anzusehen sind, die einerseits in der Objektsphäre zu verankern sind, insofern sie auf unsere Erfahrungswelt Bezug nehmen müssen, und die andererseits in der Subjektsphäre zu verankern sind, insofern sie die Erkenntnis- und Differenzierungsinteressen der jeweiligen Zeichen- und Sprachbenutzer zu berücksichtigen haben. In jedem Fall kommt es bei allen Formen der Begriffsbildung immer zu einer fokussierenden Konzentration der Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Aspekte der zu erfassenden Gegenstände und zu einer Vernachlässigung von anderen Aspekten. Dieser Tatbestand berechtigt uns, insbesondere sprachlich objektivierte Begriffe als Ergebnisse von kognitiven Perspektivierungsanstrengungen zu betrachten, die von ganz bestimmten Voraussetzungen bzw. Sehepunkten und von ganz bestimmten Erkenntniszielen bzw. kommunikativen Intentionen geprägt werden. Obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als ob das Projekt zur Abschaffung der Verbalsprache dem nominalistischen Denken nahe steht, insofern ja dabei die Eigenständigkeit der Dinge besonders hervorgehoben wird, ergibt sich bei genauerer Betrachtung doch ein etwas anderes Bild. Sowohl für das nominalistische als auch für das empiristische und semiotische Denken ist es absurd, Wörter durch Dinge ersetzen zu wollen. Mit dem Verzicht auf Wörter bzw. auf sprachlich fixierte Begriffe ginge nämlich zugleich auch unser Zugangswissen zu den Dingen verloren, das sich in sprachlich objektivierten Begriffen evolutionär angesammelt hat und das Begriffen eine unverzichtbare Rolle für die Weltwahrnehmung und Weltinterpretation sichert. Wenn man ein Einzelding vorzeigt, dann thematisiert man dieses im Prinzip nur hinsichtlich seiner faktischen Existenz bzw. seiner Vorhandenheit. Man muss es dem Partner überlassen, es in bestimmte Denkzusammenhänge einzuordnen und abstraktiv nach bestimmten Merkmalen zu klassifizieren. Wenn wir aber ein Einzelding über bestimmte Begriffsmuster thematisieren (Zimmermannshammer, Hammer, Werkzeug, Waffe), dann geben wir diesem Ding immer schon einen ganz bestimmten Stellenwert in einem umfassenderen Denkzusammenhang. Dementsprechend existiert es für uns dann auch nicht in seiner bloßen Vorhandenheit, sondern in seiner Dienlichkeit bzw. Zuhandenheit für faktische oder geistige Handlungsprozesse. Das Ding
15
W. v. Humboldt, Ober die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Gesammelte Schriften, Bd. VII, 1907, S. 90-91, Werke, Bd. 3, 1963 3 , S. 468.
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wird auf diese Weise gleichsam in reale oder potenzielle Geschichten verstrickt, die intersubjektiv nachvollziehbar sein sollen. Streit kann es natürlich darüber geben, ob die jeweiligen Begriffsbildungen pragmatisch sinnvoll sind und ob die Zuordnung der Dinge zu den jeweiligen Begriffsmustern vertretbar ist, aber keineswegs darüber, ob man fur kognitive und kommunikative Prozesse eventuell auf den Gebrauch von Begriffen verzichten kann. Fest steht, dass wir etwas gar nicht an sich und für sich wahrnehmen können, sondern immer nur als etwas. Ohne die Zuordnung von Erfahrungen und Vorstellungen zu typisierten und typisierenden Mustern sind kognitive Operationen undenkbar, weil wir uns nur dann in der Welt orientieren können, wenn wir Individuelles auf Allgemeines, Neues auf Bekanntes und Einmaliges auf Ähnliches zuordnen können. Deshalb ist jede Kommunikation mittels Wörtern bzw. sprachlich konventionalisierten Begriffen prinzipiell jeder Kommunikation mittels Dingen überlegen, weil letztere weder eine kognitive Konzentration noch eine informative Präzision zulässt und damit auch jeden Anspruch auf intersubjektive Relevanz. Das lässt sich auch verdeutlichen, wenn man der Frage nachgeht, welches Wissen sich in Begriffen evolutionär niedergeschlagen hat und inwiefern wir bei jedem Gebrauch von Sprache von den kognitiven Anstrengungen unserer Vorfahren profitieren.
6. Die sprachlichen Formen als Wissensspeicher Das Projekt zur Abschaffung der Verbalsprache lässt gänzlich außer Betracht, dass sich in unseren lexikalischen und grammatischen Formen ein Differenzierungswissen angesammelt hat, ohne das wir unsere kognitiven und kommunikativen Aufgaben bei der Bewältigung der physischen, geistigen und sozialen Welt gar nicht erfüllen könnten. Mit dem Verzicht auf die Verbalsprache würden die Menschen auf einen Status zurückfallen, der nicht einmal auf einer Höhe mit den Orientierungsmöglichkeiten der Tiere stünde. Im Laufe des Evolutionsprozesses ist die Verbalsprache nämlich ein integraler Bestandteil der menschlichen Existenzform geworden, ohne die die Menschen gar nicht mehr überlebensfahig wären. Deshalb ist die Verbalsprache auch nicht als ein Luxusphänomen für die Menschen anzusehen, sondern als eine Grundbedingung für ihre möglichen Lebensformen.16 Der Verlust der Verbalsprache würde zu einer Orientierungslosigkeit und geistigen Verdummung fuhren, deren Konsequenzen wir uns kaum ausmalen können.
16
Vgl. A. Gardt, Das Wort in der philosophischen Sprachreflexion: eine Übersicht, in: D.A. Cruse u.a. (Hrsg.), Lexikologie, 1. Halbband, 2002, S. 89-100.
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Die Funktion von kognitiven Mustern Kein Lebewesen hätte eine Überlebenschance, wenn es nicht in der Lage wäre, das, was es mit seinen Sinnen registrieren kann, bestimmten Mustern zuzuordnen. Wenn Lebewesen etwas wahrnehmen, dann nehmen sie es nicht als individuelles Phänomen wahr, sondern zugleich immer als Exempel eines bestimmten Typs von Phänomenen. Schon die Zellmembran muss eine 'Entscheidimg' darüber treffen, welche Stoffe sie passieren lässt und welche nicht. Tiere müssen bestimmte Reizkonfigurationen den Wahrnehmungsmustern fressbar oder nicht-fressbar bzw. Gefahr oder Nicht-Gefahr zuordnen können, wenn sie überleben wollen. Durch die Fähigkeit von Lebewesen, Sinnesreize Mustern zuzuordnen, verlieren singulare Wahrnehmungen ihren absoluten Neuigkeitscharakter, weil sie immer affirmierend oder negierend auf vorhandene Wahrnehmungsmuster zugeordnet werden. Wenn das nicht so wäre, dann würden Lebewesen die Menge der von ihnen registrierten Reize als Chaos erleben und unfähig sein, aus der Vielfalt der einzelnen Wahrnehmungsreize Wahrnehmungsgestalten herauszukristallisieren. Ordnungsmuster sind deshalb die unabdingbaren Voraussetzungen dafür, mit der Welt kognitiv und operativ fertig zu werden, weil nur sie die Chance bieten, Unbekanntes irgendwie auf Bekanntes zurückzuführen und sich eben dadurch zu orientieren. Die Zuordnung von Einzelreizen auf Wahrnehmungsmuster ist ein Interpretationsakt, der auf einem vereinfachenden Schematisierungsprozess beruht. Ein singuläres Phänomen wird nicht in seinem ganzen Reichtum von Aspekten wahrgenommen, sondern nur hinsichtlich derjenigen Aspekte, die eine Zuordnung auf ein bestimmtes Wahrnehmungsmuster ermöglichen. Alle anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten verschwinden dann aus dem Fokus der Aufmerksamkeit, weil sie kognitive Einordnungsprozesse stören und damit zugleich auch die Reaktions- und Handlungsfähigkeiten des wahrnehmenden Wesens. Die Fähigkeit zur Schematisierung von Wahrnehmungen bzw. zur abstraktiven Musterbildung ist ein biologisch fundiertes Überlebensprinzip fur alle Lebewesen, das sich im Laufe des Evolutionsprozesses bei ihnen allerdings unterschiedlich ausdifferenziert hat. Deshalb kann man auch von einer Koevolution der Ausbildung von Wahrnehmungsmustern und Sinnesorganen sprechen bzw. von einer Interdependenz zwischen beiden. Je weiter eine Gattung oder Art von Lebewesen im evolutionären Ausdifferenzierungsprozess vorangekommen ist, desto vielfältiger und spezifischer sind die jeweiligen Wahrnehmungsmuster und desto mehr werden angeborene durch erworbene Muster ergänzt. Angesichts dieser Grundgegebenheiten haben Biologen deshalb auch davon gesprochen, dass die einzelnen Lebewesen entsprechend ihrer artspezifischen Wahrnehmungsmuster in einer artspezifischen Welt bzw. in
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einer Eigenwelt leben. Das bedeutet, dass die Ameisen die uns allen gemeinsame Welt ameisenförmig, die Vögel vogelförmig, die Hunde hundeförmig und die Menschen menschenförmig wahrnehmen. Nun ist es sicherlich gerechtfertigt, dem Menschen hinsichtlich seiner Verarbeitung von Sinnesreizen mit Hilfe von Mustern eine Sonderstellung unter allen Lebewesen einzuräumen. Einerseits ist sein Wahrnehmungsvermögen und damit auch seine Fähigkeit zur Ausbildung von Mustern durch die angeborene Differenzierungskraft seiner Sinnesorgane entscheidend vorgeprägt. Beispielsweise kann er nicht soviel Gerüche unterscheiden wie ein Hund und sich im Raum nicht mit Hilfe von Ultraschall orientieren wie die Fledermaus. Andererseits kann er aber seine natürlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten durch die Nutzung von ergänzenden Hilfsmitteln wie etwa Mikroskopen, Fernrohren oder Röntgenapparaten ganz erheblich steigern und ausdifferenzieren. Noch viel wichtiger ist aber, dass der Mensch wie kein anderes Lebewesen seine biologisch angelegten Wahrnehmungs- und Objektivierungsmöglichkeiten durch kulturell entwickelte Wahrnehmungsmuster ausweiten und spezifizieren kann, insofern er diese mit Hilfe der Sprache ausdifferenzieren, stabilisieren, benennen und tradieren kann. Während angeborene Wahrnehmungsmuster auf sehr langwierige Weise in evolutionären Selektionsprozessen entwickelt werden müssen, lassen sich kulturell erzeugte Wahrnehmungsmuster in pragmatischen Siebungsprozessen nicht nur schneller erproben, sondern auch über sprachliche Fixierungen relativ problemlos von einer Generation auf die nächste weitergeben. Jede Generation kann im Prozess der Musterbildung dort weiterarbeiten, wo die vorherige aufgehört hat. Das betrifft nicht nur die Musterbildung und Mustertradierung auf der Ebene der Lexik, sondern auch diejenige auf der Ebene der Grammatik. Dieser Strukturzusammenhang erschließt sich sehr klar im Hinblick auf sprachgeschichtliche Entwicklungs- und auf individuelle Spracherwerbsprozesse. Während genetisch verankerte Muster historisch sehr stabil sind, sind kulturell erzeugte Muster historisch sehr instabil und können in kulturellen Traditionsbrüchen oft ganz verloren gehen. Die Unterbrechung der Sprachtradition, wie sie beispielsweise in dem Projekt von Lagado ins Auge gefasst worden ist, hätte deshalb fatale Folgen für die Denk- und Handlungsformen der Menschen, was sich am Beispiel der sprachlich vernachlässigten Kinder bzw. an dem der so genannten Wolfskinder eindrucksvoll belegen lässt.
Die Besonderheit sprachlicher Muster Schon Herder hat betont, dass der Mensch im Vergleich zum Tier eine geschwächte und zerstreute Sinnlichkeit habe bzw. reduzierte Instinkte für die Erfassung und Verarbeitung von Sinnesreizen. Diesen Mangel habe der
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Mensch aber durch die Entwicklung von kulturellen Ordnungsmustern und insbesondere durch die von Sprachmustern ausgeglichen. Dadurch sei ihm dann auch eine differenzierte und variable Welterfassung möglich, welche die der Tiere weit in den Schatten stelle.17 Gehlen hat diesen Gedanken dann aufgenommen und vom Menschen im Hinblick auf seine Ausstattung mit Instinkten als einem „Mängelwesen" gesprochen, das immanent dazu gezwungen werde, sich in Form von kulturellen Institutionen", zu denen insbesondere die Sprache gehöre, eine ,.zweite Natur" bzw. Kultur Sphäre" zu schaffen, ohne die er ansonsten nicht überleben könne.18 Landmaim hat in seinen anthropologischen Überlegungen den Menschen als Schöpfer und Geschöpf seiner jeweiligen Kultur bezeichnet, der sich selbst als „halbvollendete Schöpfung' durch die Entwicklung von Kultur erst vollenden müsse. Deshalb könne die Kultur gleichsam auch als „ein nach außen gelagertes Organ des Menschen" betrachtet werden, das dieser sich selbst geschaffen habe und in dem er so eingebettet sei wie der Fisch im Wasser und der Vogel in der Luft.19 Zu ganz ähnlichen Einschätzungen kommt auch Popper im Rahmen seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen. Seiner Meinung nach lebe der Mensch eigentlich in drei verschiedenen Welten bzw. werde mit drei unterschiedlichen Welten konfrontiert. Die Welt-1 ist für ihn die physikalisch gegebene Welt, die Welt-2 ist die Welt unserer subjektiven Erlebnisse und die Welt-3 die Welt der vorliegenden Kulturgebilde, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte erzeugt habe. Popper ist nun der festen Überzeugung, dass unser ganzes subjektives Wissen (Welt-2-Wissen) von demjenigen Wissen abhänge, was sich in der Welt-3 manifestiert und konkretisiert habe und dass wir uns in all unseren Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen ständig darum bemühten, die Erfahrungen in der Welt-1 in Harmonie mit den Wahrnehmungsmustern aus der Welt-3 zu bringen. Deshalb sei unser ganzes Wissen auch „theoriegetränkt",20 Da nun unsere Sprache sicherlich zu den ganz dominanten Kulturgebilden der Welt-3 gehört, kann man sicherlich sagen, dass unser ganzes individuelles Wissen und unsere ganzen Wahrnehmungen auch sprachgetränkt sind. Angesichts dieser anthropologischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen wird sehr deutlich, welche Implikationen die Abschaffung der Verbalsprache gehabt hätte. Die Menschen würden dadurch auf eine Existenzweise zurückgeworfen, für die sie biologisch-genetisch gar nicht zureichend ausgestattet wären und in der sie faktisch gar nicht überleben könnten. Falls die Abschaffung der Verbalsprache nicht nur auf die lautliche Artikulation der Verbalsprache beschränkt würde, sondern auch die generelle Abschaffung sprachlicher Muster beinhaltete, dann würde damit den Menschen gleichsam ihre Existenzgrundlage entzogen. 17 18 19 20
Vgl. J.G. Herder, Sprachphilosophische Schriften, 1964 2 , S. 15ff. A. Gehlen, Der Mensch, 1978 12 , S. 80ff. M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S. 16-22. K.R. Popper, Objektive Erkenntnis, 1974 2 , S. 85-89, S. 178-181.
Die sprachlichen Formen als Wissensspeicher
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Sprachtheoretisch gesehen ist das Projekt zur Abschaffung der Verbalsprache ganz undurchdacht, weil es die verschiedenen Typen sprachlicher Zeichen und Formen unberücksichtigt lässt und die kognitiven und kommunikativen Konsequenzen dieses Vorhabens gar nicht in Betracht zieht. Anthropologisch ist das Projekt ganz aberwitzig, weil es die fundamentalen Rahmenbedingungen der menschlichen Existenzweise ignoriert. Es beachtet nicht, dass schon durch die bloße Tradierung von sprachlichen Mustern ein Wissen überliefert wird, ohne das die Menschen die Welt weder differenziert erfassen noch sinnvoll in ihr handeln könnten. Ein Traditionsbruch bei der Nutzung verbaler Zeichen hätte Folgen, die durch die Nutzung anderer Zeichen nicht kompensiert werden könnten, da es kein anderes kulturelles Zeichensystem gibt, das so universal verwendet werden kann wie die Verbalsprache. Der große Vorteil des in sprachlichen Formen verankerten Wissens besteht darin, dass es sich schneller und differenzierter pragmatischen Bedürfnissen anpassen kann als das genetisch verankerte Wissen. Wenn sich das sprachlich manifestierte Wissen als unbrauchbar erweist, dann verschwinden die jeweiligen Sprachformen oder werden entsprechend umgestaltet. Wenn sich das genetisch manifestierte Wissen als unbrauchbar erweist, dann fuhrt es zum individuellen und kollektiven Tod derjenigen Organismen, in denen es sich genetisch konkretisiert hat. Außerdem ist zu beachten, dass sich kulturell erzeugtes und manifestiertes Wissen problemlos über kulturell entwickelte Zeichen weitergeben und akkumulieren lässt, während sich evolutionär erzeugtes und genetisch manifestiertes Wissen nur über sehr langwierige Mutationsprozesse ausbilden und stabilisieren kann. Das in sprachlichen Mustern konkretisierte Weltwissen lässt sich zumindest in der natürlichen Sprache recht leicht fur aktuelle Bedürfnisse umgestalten, wofür auf der lexikalischen Ebene die metaphorischen Redeweisen ein deutliches Zeugnis ablegen. Formalisierte Fachsprachen tun sich in dieser Hinsicht sehr viel schwerer. Hier sterben die Fachtermini in der Regel mit den Theorien aus, in denen sie entwickelt und verankert sind. Grammatische Sprachmuster sind in der Regel historisch stabiler als lexikalische, weil sich in ihnen ein sehr elementares und vielfaltig verwendbares Strukturierungswissen konkretisiert hat. Grammatische Zeichen bilden gleichsam den Stamm oder das stabilisierende Skelett unserer sprachlichen Sinnbildungsprozesse und lexikalische Zeichen die variable Krone bzw. das ins Auge fallende Fleisch. Es ist offensichtlich, dass das eine nie ohne das andere existieren kann. Wenn man lexikalische Wörter bzw. Substantive nur als Stellvertreter derjenigen Dinge ansieht, die man in aktuellen Denk- und Kommunikationsprozessen mit ihnen bezeichnen kann, dann übersieht man, dass Wörter bzw. die von ihnen repräsentierten Begriffe auch Wissensspeicher, Perspektivierungsmittel und Interpretationshypothesen sind, die nicht nur Bezüge zu konkret gegebenen Einzelobjekten herstellen können, sondern auch zu dem ganzen Wissenssystem, in dem diese einen spezifischen Stellenwert haben. Solange
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Der Akademieplan zur Abschaffung der Verbalsprache
Dinge als faktische Gegebenheiten betrachtet werden und nicht als Bestandteile von Ordnungszusammenhängen oder gar als Hinweiszeichen auf etwas anderes, solange beeindrucken sie nur durch ihre bloße Tatsächlichkeit. Solange Wörter nur als Schallereignisse oder visuelle Ereignisse betrachtet werden und nicht als sinnstiftende Zeichen bzw. als Manifestationsformen von Sinnbildungsanstrengungen und kulturellem Wissen, solange beeindrucken auch sie nur durch ihre physische Tatsächlichkeit. Erst wenn sinnlich fassbare Phänomene als Zeichen wahrgenommen werden, was bei Wörtern natürlich sehr viel leichter fallt als bei Dingen, dann treten sie als Mittel des Denkens und der Sinnbildung in Erscheinung. Die Spezifik des Projekts von Lagado, die Kommunikation mittels Wörtern auf die Kommunikation mittels Dingen umzustellen, besteht nun aber gerade nicht darin, die Dinge als Zeichen zu verwenden, sondern vielmehr darin, ihre bloße physische Faktizität herauszustellen.
X Humpty Dumpty als Sprachdenker Die Erlebnisse von Alice mit Goggelmoggel Das Ei wurde indessen nur immer größer und größer und mehr und mehr wie ein Mensch; als sie bis auf ein paar Schritte herangekommen war, sah sie, daß es auch Augen, Nase und Mund hatte; und als sie schließlich vor ihm stand, war es ihr ganz klar, daß das nur G ο ggelm ο gg el sein konnte. „ Er kann gar nicht anders heißen!" sagte sie sich. „Ich weiß es so genau, als stünde es ihm ins Gesicht geschrieben!" Und hineingepaßt hätte der Name hundertmal mit Leichtigkeit, ein so riesengroßes Gesicht hatte er. Goggelmoggel saß wie ein Türke mit überkreuzten Beinen auf einer hohen Wand — aber die war gleichzeitig so schmal, daß Alice ins Staunen kam, wie er sich da oben wohl im Gleichgewicht halten konnte. Seine Augen blickten starr in die entgegengesetzte Richtung, und er übersah sie so vollständig, daß sie glaubte, er müsse wohl ausgestopft sein. „Er sieht wirklich ganz genau wie ein Ei aus!" sagte sie laut und stellte sich mit ausgebreiteten Armen davor, denn sie wartete nur darauf daß er herunterfiel „Es mußte schmerzlich berühren", sagte Goggelmoggel nach langem Schweigen und sah dabei von Alice möglichst weit weg, „ als Ei bezeichnet zu werden — sehr schmerzlich." „Ich sagte, Sie sähen so a u s wie ein Ei, lieber Herr", erläuterte Alice sanft. „Manche Eier sind nämlich sehr hübsch", fügte sie in der Hoffnung hinzu, aus ihrer vorigen Bemerkung eine Art Kompliment zu machen. „Steh nicht herum und gackere vor dich hin ", sagte Goggelmoggel und blickte sie zum ersten Mal an, „sondern sag, wie du heißt und was du willst. " „Ich heiße Alice, aber-" „Albern genug für einen Namen!" unterbrach sie Goggelmoggel unwirsch. „ Was soll der denn bedeuten? " „ Muß denn ein Name etwas bedeuten?" fragte Alice zweifelnd. „Das ist doch klar", sagte Goggelmoggel, kurz auflachend; „mein Name zum Beispiel bedeutet meine Leibesform - eine sehr ansehnliche Form übrigens. Mit einem Namen, wie du ihn hast, könntest du jede x-beliebige Form haben, beinahe. "
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Humpty Dumpty als Sprachdenker
„ Was für einen schönen Gürtel Sie da anhaben!" bemerkte Alice plötzlich. ... „Oder wenigstens —", verbesserte sie sich nach einiger Überlegung, „eine schöne Krawatte, hätte ich vielleicht eher sagen sollen — nein, Gürtel vielmehr — ach bitte, entschuldigen Sie vielmals!" schloß sie mit großer Bestürzung, denn Goggelmoggel machte ein tiefbeleidigtes Gesicht, und sie wünschte langsam, sie hätte nicht gerade dieses Thema ausgesucht. „ Wenn ich bloß wüßte ", dachte sie im stillen, „ wo bei ihm der Hals ist und wo der Bauch!" Goggelmoggel war sichtlich erzürnt, wenn er auch eine ganze Zeitlang nichts sagte. Als er schließlich doch wieder sprach, war aus seiner Stimme ein tiefes Grollen geworden. „Es muß — überaus — schmerzlich — berühren", sagte er dann, „ wenn jemand eine Krawatte nicht von einem Gürtel unterscheiden kann. " „Das war sehr dumm von mir, ich weiß", erwiderte Alice so unterwürfig, daß Goggelmoggel sich davon rühren ließ. „Es ist eine Krawatte, mein Kind, und zwar, wie du sagst, eine sehr schöne. Ein Präsent vom Weißen König und der Weißen Königin. Was sagst du jetzt? " „Nein, wirklich? " sagte Alice und beglückwünschte sich im stillen, daß sie ihr Thema also doch gut gewählt hatte. „Sie haben sie mir", fuhr Goggelmoggel gedankenverloren fort, indem er die Beine übereinanderschlug und die Hände über ein Knie faltete, „zum Ungeburtstag geschenkt." „ Verzeihung? " sagte Alice verständnislos. „Es macht nichts", sagte Goggelmoggel. „Ich meine, was heißt das: zum Ungeburtstag geschenkt? " „Nun, ein Geschenk, das man bekommt, wenn man keinen Geburtstag hat, natürlich." Alice dachte eine Weile nach. „Geburtstagsgeschenke sind mir am liebsten", sagte sie zuletzt. „ Was faselst du da!" rief Goggelmoggel. „ Wie viele Tage hat das Jahr? " „Dreihundertfiinfundsechzig", sagte Alice. „ Und wie viele Geburtstage hast du? " „Einen." „ Und dreihundertfiinfundsechzig weniger eins gibt - ? " „Dreihundertvierundsechzig natürlich." Goggelmoggel sah zweifelnd drein. „Das möchte ich lieber schwarz auf weiß sehen ", sagte er. Alice mußte doch ein wenig lächeln, als sie ihr Notizbuch herauszog und die Rechnung für ihn aufschrieb: 365 L z 364. Goggelmoggel nahm das Büchlein an sich und betrachtete es ganz genau. „ Es sieht zwar aus, als sei es richtig - ", begann er.
Die Erlebnisse von Alice mit Goggelmoggel
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„Sie halten es ja verkehrt herum!" unterbrach ihn Alice. „Na, da hast du doch tatsächlich recht!" sagte Goggelmoggel aufgeräumt, und Alice gab es ihm richtig in die Hand. „ Mir kam es doch gleich ein wenig sonderbar vor. Also, wie gesagt, es sieht zwar aus, als sei es richtig — ich kann es jetzt freilich nicht im einzelnen durchgehen — und daraus geht hervor, daß du an dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr etwas zum Ungeburtstag geschenkt bekommen kannst—" „Schon", sagte Alice. „Aber zum Geburtstag nur an einem, nicht wahr. Wenn das keine Glocke ist!" „Ich verstehe nicht, was Sie mit 'Glocke' meinen ", sagte Alice. Goggelmoggel lächelte verächtlich. „ Wie sollst du auch - ich muß es dir doch zuerst sagen. Ich meinte: 'Wenn das kein einmalig schlagender Beweis ist!'" „Aber 'Glocke' heißt doch gar nicht ein 'einmalig schlagender Beweis'", wandte Alice ein. „ Wenn ich ein Wort gebrauche ", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, „ dann heißt es genau, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger." „Es fragt sich nur", sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann." „Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, „wer der Stärkere ist, weiter nichts." Alice war viel zu verwirrt, um darauf noch eine Antwort zu finden, und so sprach Goggelmoggel nach kurzem Stillschweigen weiter. „Sie sind ja recht widerspenstig, manchmal - besonders die Verben, die bilden sich am meisten ein — Adjektive lassen ja alles mit sich geschehen, aber die Verben haben ihre Zicken — bei mir allerdings muckst sich keins! UnUnterscheidbarkeit! Das ist meine Meinung!" „ Würden Sie bitte so gut sein und mir sagen ", bat Alice, „ was das heißt? " „So läßt sich schon eher mit dir reden", sagte Goggelmoggel mit sichtlicher Befriedigung. „Mit 'UnUnterscheidbarkeit' meine ich, daß wir nunmehr lange genug über das Thema gesprochen haben und daß es nicht verfrüht wäre, wenn du dich langsam über deine weiteren Absichten äußern wolltest, da kaum anzunehmen ist, daß du hier herumstehen willst bis an dein seliges Ende. " „Dieses Wort hat jetzt aber sehr viel auf einmal heißen müssen", sagte Alice nachdenklich. „ Wenn ich ein Wort so schwer arbeiten lasse wie jetzt eben ", sagte Goggelmoggel, „ dann gebe ich ihm auch eine Zulage. " „Ach!" sagte Alice, denn für eine längere Bemerkung war sie viel zu durcheinander. „Ja, am Samstag abend solltest du einmal sehen, wie sie da bei mir anstehen ", sagte Goggelmoggel und wiegte den Kopf gewichtig hin und her, „ weil — da haben sie nämlich Zahltag. "
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Humpty Dumpty als Sprachdenker
(Alice hatte nicht den Mut, zu fragen, womit er sie bezahlte; und deswegen, das versteht ihr schon, kann ich es euch auch nicht sagen.) „Sie sind doch so geschickt darin, Wörter zu erklären, Herr Goggelmoggel", sagte Alice. „Könnten Sie mir da freundlicherweise sagen, was das Gedicht 'Der Zipferlake' bedeutet? " „Nur heraus damit", sagte Goggelmoggel. „Ich kann alle Gedichte erklären, die jemals erdacht worden sind — und außerdem noch eine ganze Menge, bei denen das Erdenken erst noch kommt. " Das klang recht vielversprechend, und Alice sagte also die erste Strophe auf: Verdaustig wars, und glase Wieben Rotierten gorkicht im Gemank; Gar elump war der Pluckerwank, Und die gabben Schweisei frieben. „Das reicht fürs erste", unterbrauch sie Goggelmoggel; „da kommen schon recht viele schwere Wörter vor. 'Verdaustig' heißt vier Uhr nachmittags — wenn man nämlich noch verdaut, aber doch schon wieder durstig ist." „ Das paßt sehr gut", sagte Alice; „ und ' gl aß ' ? " „Nun, ' gl aß ' heißt 'glatt und naß'. Das ist wie eine Schachtel, verstehst du: zwei Bedeutungen werden dabei zu einem Wort zusammengesteckt. " „Jetzt versteh ichs schon ", sagte Alice nachdenklich. „ Und was sind 'Wieben ' ?" „Also, ' W i e b e η ' sind so etwas Ähnliches wie Dachse — und wie Eidechsen - und so etwas Ähnliches wie Korkenzieher. " „Das müssen aber sehr merkwürdige Geschöpfe sein. " „Das wohl", sagte Goggelmoggel; „sie bauen außerdem ihre Nester unter Sonnenuhren - und außerdem fressen sie nur Käse. " „ Und was ist ' r ο 11 e r η ' und 'gorkicht' ?" ,,'R O t t e r n ' ist das gleiche wie 'rotieren', das heißt: sich schnell drehen. 'Gorkicht' heißt alles, was sich in Kork einbohrt. " „ Und ein 'Gemank' ist dann wohl der freie Platz um eine Sonnenuhr von der Art, wie sie oft in einem Park stehen? " fragte Alice, über ihre eigene Scharfsinnigkeit verwundert. „Freilich. Dieser Platz heißt ein 'Gemank', denn man kann rechts darum herumgehen, m a n kann links darum herumgehen —" „Aber darunterweg kann man keineswegs ", schloß Alice. „ Genau das. Nun also: 'elump ' heißt 'elend und zerlumpt' (schon wieder ein Schachtelwort, wie du siehst). Ein 'Pluckerwank' ist ein magerer, unansehnlicher Vogel, bei dem die Feder kreuz und quer durcheinanderwachsen - er sieht etwa aus wie ein lebendiger Mop.
1
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, Insel Taschenbuch 97, Frankfurt 1980 4 S. 81-91.
Die Hintergründe des Textes
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1. Die Hintergründe des Textes Die Überlegungen und Thesen zur Sprache, die Lewis Carroll dem etwas absonderlichen Humpty Dumpty in den Mund gelegt hat, den der Übersetzer Christian Enzensberger dann allerdings zum Goggelmoggel gemacht hat, wirken auf den ersten Blick recht bizarr. Obwohl Humpty Dumpty unsere Alltagsvorstellungen von der Sprache erheblich durcheinander wirbelt, sind seine Ausführungen aber keineswegs so abstrus und realitätsfern, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Sofern man sich etwas näher auf seine Sichtweise einlässt, wird man bald erkennen, dass er uns auf sehr grundlegende Aspekte der Sprache aufmerksam zu machen versucht. Dabei gerät dann insbesondere das SpannungsVerhältnis von Konventionalität und Kreativität in der Sprache ins Blickfeld unserer Aufmerksamkeit sowie das Problem, ob Namen Phänomenen auf natürliche oder willkürliche Weise zugeordnet werden. Einerseits lernen wir nämlich die Sprache als eine institutionelle Tatsache kennen, die sich konventionell gefestigt hat und deren Strukturen wir zu respektieren haben, wenn wir nicht in eine soziale Isolierung geraten wollen. Andererseits lernen wir die Sprache aber auch als ein kreatives Sinnbildungswerkzeug kennen, das durch einen unorthodoxen Gebrauch vor Erstarrungstendenzen geschützt werden kann. Obwohl uns Lewis Carroll in seinen AliceBüchern in eine andere Welt zu fuhren scheint, können wir doch immer wieder feststellen, dass die von ihm entworfene Welt auch unsere Welt ist, die wir allerdings von ungewöhnlichen Sehepunkten und in ungewöhnlichen Perspektiven repräsentiert bekommen.2 Nicht unerheblich für das Verständnis der Alice-Bücher ist, dass ihr Verfasser Lewis Carroll unter dem bürgerlichen Namen Charles Lutwidge Dodgson (1832-1898) als etwas eigenbrötlerischer Dozent für Logik und Mathematik am Christ-Church-College in Oxford tätig war. In seinen Alice-Büchern bot sich ihm die Chance, die zeichentheoretischen Probleme, mit denen er sich in seinem Beruf begrifflich auseinanderzusetzen hatte, auf eine ganz andere Weise narrativ und szenisch zu thematisieren. Obwohl er uns in eine Märchenwelt zu entfuhren scheint, fuhrt er uns im Prinzip nur zu verdeckten Strukturen unserer realen Welt. Insbesondere die Humpty Dumpty in den Mund gelegten Behauptungen über die Sprache sind nicht ganz unabhängig von den Problemen, mit denen sich Carroll als Logiker auseinanderzusetzen hatte. Dazu gehörten sicher die Fragen danach, wie sich Eigennamen von Begriffsnamen unterscheiden, aus welchen Abstraktionsprozessen Begriffe hervorgehen, welcher Realitätsbezug Begriffen zukommt, welche Genese und Stabilität Begriffsbildungen bzw. 2
Vgl. W. Nöth, Literatursemiotische Analysen zu Lewis Carrolls Alice-Büchern, 1980, S. 66ff.
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Humpty Dumpty als Sprachdenker
Wortbildungen haben, welche Implikationen einzelne Zeichen und Aussagen besitzen usw. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich Carroll erst nach seinen beiden Alice-Büchern von 1865 und 1872, die er nach der Überlieferung fur eine der kleinen Töchter seines Dekans verfasst hat, daran gemacht hat, ein theoretisches Buch zur symbolischen Logik zu entwerfen. Den ersten Teil dieses Buches hat er 1896 veröffentlicht. Am zweiten Teil hat er bis zu seinem Tode 1898 gearbeitet.3 Die hier vorgelegten Textausschnitte sind so ausgewählt worden, dass sich das Hauptinteresse auf die Frage nach den Prämissen, Implikationen und Konsequenzen von Namen bzw. Namensgebungen konzentrieren kann. Die Namensproblematik hat sehr vielfältige Aspekte. Die Aufmerksamkeit kann sich von der lautlichen bzw. morphologischen Gestalt der Wörter bis zu der Struktur der von ihnen repräsentierten Inhalte, von der Funktionalität von Eigennamen bis zu der von Begriffsnamen, von der Konventionalität und Arbitrarität der Zuordnung von Signifikanten zu Signifikaten bis zur Motiviertheit dieser Zuordnungsrelationen und von der Darstellungsfunktion von Wörtern bis zu ihrer Ausdrucks- und Appellfunktion erstrecken. Seit Piaton sich in seinem Kratylos-Dialog mit der Richtigkeit der Namen beschäftigt hat, hat dieses Problem die Sprachtheorie immer wieder in ihren Bann geschlagen. In den vorgelegten Textausschnitten entfaltet Carroll die Namensproblematik naturgemäß nicht systematisch, sondern erzählt nur, wie sie sich für Alice und Humpty Dumpty aspektuell darstellt.4 Vorbereitet werden diese Überlegungen und Aussagen zur Namensproblematik in dem vorausgehenden Text. Hier wird Alice mit der Vorstellung eines Waldes konfrontiert, in dem nichts einen Namen hat und in dem man dementsprechend auch in eine allgemeine Orientierungslosigkeit gerät. Unmittelbar vor der Begegnung mit Humpty Dumpty macht Alice außerdem eine eigenartige Erfahrung. Als sie in einen Laden tritt, um ein Ei zu erwerben, wird ihr diese Ware nicht wie üblich nach der Bezahlung ausgehändigt. Sie wird vielmehr dazu aufgefordert, sich selbst darum zu bemühen, die erworbene Ware in Besitz zu nehmen. Dabei macht Alice die seltsame Erfahrung, dass sich das ins Auge gefasste Ei ständig ihrem Zugriff entzieht, je tiefer sie in den Laden eindringt, und dass sich „bei jedem Schritt alles in Bäume verwandelt, sobald sie daran vorbeikam, bis sie sich zuletzt schon darauf gefaßt machte, daß es mit dem Ei nicht anders gehen würde." 5 Diese kleine Episode ist sicherlich als eine indirekte Vorausdeutung auf die Thematik des Humpty-Dumpty-Kapitels zu verstehen. Durch den Kauf bzw. durch die Benennung eines Gegenstandes bekommt man noch keine Verfügungsgewalt über diesen. Wenn man ihn an sich bringen will, dann nützt
3 4 5
L. Carroll, Symbolic Logic, 1977 5 . Zu allgemeineren Fragestellungen vgl. R. D. Sutherland, Language and Lewis Carroll, 1970. L. Carroll, Alice hinter den Spiegeln, 1980 4 , S. 81.
Das Problem der Namen
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die Kenntnis seines Namens noch recht wenig. Man muss sich schon auf ihn zu bewegen. Wenn man sich ihm aber anzunähern versucht, dann weicht er nicht nur zurück, sondern verändert sich sogar. Dadurch beweist er nicht nur seine Eigenständigkeit und Macht, sondern auch eine Widerborstigkeit und Widerstandsfähigkeit dagegen, einfach in Besitz genommen zu werden. Diese Erzählung über die Erfahrung von Alice mit nicht-fassbaren Gegenständen kann sicherlich dazu motivieren, sich auch mit der Frage zu beschäftigen, ob Namen zu dem passen müssen, was sie benennen, und ob wir mit Hilfe von Namen und Begriffen Gegenstände in unsere kognitive Gewalt bringen können.
2. Das Problem der Namen In unserem Text wird das Problem der Richtigkeit von Namen zuerst im Hinblick auf die Richtigkeit von Eigennamen thematisiert und dann im Hinblick auf die von Begriffsnamen. Es ist auffallig, dass die beiden unterschiedlichen Ebenen der Namensproblematik, die heute in der Regel scharf voneinander getrennt werden, hier nicht klar voneinander abgegrenzt werden. Das ist insofern verständlich, als in unserer Geschichte Namen nicht als bloße Gedächtnismarken oder Etikettierungsmittel für vorgegebene Personen oder Begriffsmuster problematisiert werden, sondern vielmehr als perspektivierende Interpretations- und Zugangsmittel für das, was sie jeweils repräsentieren. Namen bzw. Wörter sollen nicht als bloße indexikalische Hilfsmittel in den Fokus unserer Aufmerksamkeit treten, sondern als kognitive Werkzeuge bzw. als Bestandteile von Sinnbildungsprozessen. Diese Sichtweise konkretisiert sich sehr offensichtlich in der Frage von Alice, ob denn auch Eigennamen etwas bedeuten müssten, was man üblicherweise ja nur von Begriffsnamen annimmt.
Die Eigennamen Im Rahmen unseres heutigen Sprachdenkens gelten Eigennamen in der Regel als typische Hinweiszeichen.6 Ihnen wird die pragmatische Funktion zugeordnet, auf ein Einzelobjekt zu verweisen bzw. Einzelobjekte im Feld anderer Objekte zu isolieren und zu benennen. In der Regel werden unter solchen singulären Objekten individuelle Personen verstanden, aber durchaus auch Tiere und Dinge, deren Individualität man über die Benennung mit einem Eigennamen besonders hervorheben will. In Bezug auf Eigennamen scheint man infolgedessen nicht sinnvoll mit dem Bedeutungsbegriff operieren zu können, weil sie nur dazu bestimmt sind, 6
Vgl. U. Wolf (Hrsg.), Eigennamen, 1985.
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Humpty Dumpty als Sprachdenker
individuelle Erfahrungsgegenstände ins Bewusstsein zu rufen. Sie sollen uns nicht Begriffsmuster repräsentieren, mit deren Hilfe wir uns singulare Objekte, die einander in bestimmten Hinsichten ähnlich sind, zu einer Klasse zusammenfassen. Sie sollen uns auch nicht singulare Objekte als Exempel einer bestimmten Ordnungskategorie vergegenwärtigen. Alice geht deshalb bei ihrer Frage, ob denn ihr eigener Name etwas bedeuten müsse, von der plausiblen Grundannahme aus, dass wir bei der Verwendung von Eigennamen nur die Instruktion bekommen, uns eine bestimmte Bezugsperson vorzustellen, aber nicht die Instruktion, uns diese Bezugsperson als Repräsentantin eines bestimmten Typs von Personen ins Bewusstsein zu rufen. Die Singularisierungs- und Identifizierungsfunktion von Eigennamen kann bei der Vielzahl von Personen in großen Sozialverbänden nur unvollkommen in Erscheinung treten. Staaten und Organisationen sind deshalb auch dazu übergegangen, Eigennamen durch Personennummern zu ersetzen, um Verwechselungsverfahren zu minimieren. Allerdings macht das Unbehagen, das sich bei der Nummerierung von Personen einstellt, schon deutlich, dass wir die pragmatische Funktion von Eigennamen offenbar doch nicht ganz auf ihre indexikalischen Funktionen reduzieren können und dass wir mit Eigennamen auch bestimmte inhaltliche Wahrnehmungsweisen von Personen verbinden und damit natürlich auch bestimmte Formen von Bedeutungen. Wenn wir eine Person mit einem Namen versehen, dann wollen wir damit nicht nur auf ihre bloße Existenz aufmerksam machen, sondern irgendwie auch auf ihre Essenz bzw. auf ihr Wesen. In dieser Denkperspektive wird dann auch die Frage nach der Richtigkeit von Eigennamen aktuell, insofern wir einen Eigennamen als ein Zeichen betrachten, durch das wir eine Person nicht nur benennen, sondern auch kennen lernen wollen. In unserer Geschichte wird auf diese Problematik dadurch aufmerksam gemacht, dass Alice sehr schnell zu der Überzeugung kommt, dass die eiförmige Gestalt, mit der sie sich konfrontiert sieht, nur Goggelmoggel bzw. Humpty Dumpty sein bzw. heißen könne und dass das so klar sei, „als stünde es ihm ins Gesicht geschrieben." Das impliziert, dass sie es nicht für abartig hält, dass auch ein Eigenname eine Wesensinformation über die von ihm benannte Gestalt vermittelt. Diese Auffassung steht allerdings in einem latenten Gegensatz zu ihrer späteren Frage, ob denn ein Name wie Alice etwas bedeuten müsse. Dieser Widerspruch entschärft sich nur, wenn man annimmt, dass Alice zumindest den Namen Goggelmogel bzw. Humpty Dumpty gar nicht als genuinen Eigennamen ansieht, sondern eher als einen kategorisierenden, wenn nicht sogar sprechenden Namen. Einen vergleichbaren Fall hätten wir, wenn wir eine singulare Stadt nicht mit dem Namen Paris versehen würden, sondern vielmehr mit dem Namen Hauptstadt Frankreichs. Alice ist spontan der Überzeugung, dass die eiförmige Gestalt, mit der sie spricht, nur Humpty Dumpty heißen könne, und der Übersetzer Christian Enzensberger unterstellt, dass im Rahmen der deutschen Sprache nur der Name
Das Problem der Namen
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Goggelmoggel für diese Gestalt in Betracht kommen könne. Kann man angesichts dieses Tatbestandes dann noch von einer natürlichen Richtigkeit der Namen für bestimmte Personen sprechen? Wie kann uns die Kenntnis einer Person zur Kenntnis ihres genuinen Namens fuhren bzw. die Kenntnis eines Namens zu einer Wesenserkenntnis der damit bezeichneten Person? In Bezug auf den englischen Namen Humpty Dumpty ist festzustellen, dass er eine gewisse Motiviertheit hat und nicht als ein rein willkürlicher Etikettenname zu verstehen ist. Er hat eine klangliche Ähnlichkeit mit englischen Wörtern, die als Begriffsnamen bestimmte Inhaltsvorstellungen wecken (hump = Buckel, humpy = buckelig, lump = Kloß, rump = Rumpf, dumpy = kurz/dick). Wenn man akzeptiert, dass es psychologisch gesehen tatsächlich nahe liegt, ähnlich klingende Wörter mit ähnlichen Sachvorstellungen in Verbindung zu bringen, dann wäre der Name Humpty Dumpty durchaus ein motivierter Name für eine eiförmige Gestalt. Da im Deutschen diese Assoziationszusammenhänge nicht sehr nahe liegen, hat Enzensberger sich für den Namen Goggelmoggel entschieden. Offenbar soll dabei der Buchstabe ο in seiner graphischen Gestalt bzw. hinsichtlich der Mundstellung bei seiner Artikulation als Brückenvorstellung dienen, um eine natürliche Richtigkeit des Namens anzunehmen. Bei diesem Assoziationsverfahren wird zwar nicht auf die Morphem- bzw. Semantikebene der Sprache Bezug genommen, sondern auf die Graphem- bzw. Artikulationsebene. Aber auch hier spielt eine bestimmte Analogie zwischen Name und Sache eine wichtige Rolle. Semantische Assoziationen liegen allerdings bei dem Wort Goggelmoggel eher fern. Es sei denn, man nimmt auf inzwischen ausgestorbene mittelhochdeutsche Wörter Bezug (gogel = ausgelassen/lustig, mocke = Klumpen/Brocken). Eine größere strukturelle Gemeinsamkeit mit dem ursprünglichen Namen Humpty Dumpty hat sicher der Name Humpelpumpel, den Lieselotte Remane bei ihrer Übersetzung gewählt hat.7 Auf eine andere Ebene der möglichen natürlichen Richtigkeit von Eigennamen stoßen wir, wenn die betreffenden Namen als Komposita in Erscheinung treten. In diesem Fall gibt es eine Determinationsrelation zwischen den jeweiligen Einzelelementen, die eine implizite Aussage bzw. eine bestimmte Programmatik zum Ausdruck bringt (Gottlieb, Fürchtegott). Diese Programmatik kann allerdings im Laufe der Zeit verblassen, weil die konstitutiven Elemente nicht mehr als eigenständige semantische Größen erfasst werden. So nehmen wir heute beispielsweise wohl nicht mehr wahr, dass in dem Vornamen Dietfried die Wörter Volk (diot) und Friede stecken und in dem Vornamen Gernot die Wörter Speer (ger) und Not/Gefahr. Auch bei Eigennamen, die aus anderen Sprachen übernommen worden sind, spielt die ursprüngliche oder programmatische Bedeutung von Namen wohl ebenfalls keine Rolle mehr (Beate = die Glückliche, Benjamin = Sohn der rechten Hand/Glückskind). 7
L. Carroll, Alice im Spiegelland, 1977, S. 103.
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Humpty Dumpty als Sprachdenker
Kulturhistorisch und psychologisch können wir sicher davon ausgehen, dass es immer eine starke Tendenz gegeben hat, Namen auf eine irgendwie motivierte Weise auf einzelne Personen zuzuordnen und nicht im Sinne von Registriernummern zu verstehen. Namen sollen auf Wesenseigentümlichkeiten aufmerksam machen bzw. solche postulieren oder gar produzieren. Wenn Kinder nach bestimmten Totemtieren oder Tiergattungen benannt werden {Björn = Bär), dann liegt dahinter sicher ursprünglich das Motiv, zugleich auch entsprechende Wesensähnlichkeiten herbeizuwünschen. Das gleiche gilt sicher auch, wenn Kinder nach großen Persönlichkeiten benannt werden. Unter diesen Denkvoraussetzungen wird außerdem verständlich, warum in archaischen Kulturepochen der Namenszauber immer wieder eine große Rolle gespielt hat. Wenn Namen die jeweiligen Personen nicht nur hinsichtlich ihrer bloßen Existenz repräsentieren, sondern auch hinsichtlich ihrer Essenz bzw. ihres Wesens, dann impliziert die Kenntnis der Namen auch schon eine Kenntnis der jeweiligen Namensträger und damit eine gewisse Macht über diese. Bezeichnend fur diese Denkweise ist, dass beispielsweise das Rumpelstilzchen seine Macht verliert, als sein Name der Königin bekannt geworden ist. Im Rahmen einer solchen Denkweise ist auch nicht verwunderlich, dass wir in der mythischen Tradition des alten Ägyptens auf die Vorstellung treffen, dass der Mensch aus drei Teilen bestehe, nämlich aus seinem Leib, seiner Seele und seinem Namen. 8 Wenn man so denkt, dann ist auch nachvollziehbar, warum in machen Kulturen die Kinder nach der Pubertät bzw. nach dem Vollzug von bestimmten Initiationsriten einen anderen Namen bekommen. Offenbar geht man davon aus, dass sie damit zugleich auch eine grundlegend neue Identität bekommen haben, die durch einen neuen Namen gefestigt werden muss. Golo Mann hat berichtet, dass sein Vater immer sehr große Sorgfalt darauf verwandt habe, seinen Figuren passende Namen zu geben. „Er erfand Namen, die denen der intendierten Figuren ähnlich waren, weil Person und Name ihm innerlich verbunden schienen. Etwa entsprach der Name Hofrat Behrens im 'Zauberberg' nur zu genau dem Rhythmus und Klang im Namen des wirklichen und lebenden Arztes zu Davos. Ein Detail, das ihm noch schwerer machen mußte, das Verhältnis zwischen Modell und Gestalt, über das eingeweihte Leser schmunzelten, zu bestreiten."9
Die Begriffsnamen Das Problem der Motiviertheit bzw. das der Kategorisierungstendenzen von Eigennamen ist so ausfuhrlich erörtert worden, weil sich dadurch ein besseres 8 9
Vgl. E. Lerch, Vom Wesen des sprachlichen Zeichens, Acta Linguistica, 1, 1939, S. 149. G. Mann, Mein Vater Thomas Mann, 1970, S. 12.
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Verständnis für die pragmatischen Funktionen und Implikationen von Begriffsnamen ableiten lässt. Faktisch kann nämlich die Grenze zwischen Eigennamen und Begriffsnamen gar nicht so sauber gezogen werden, wie es theoretisch auf den ersten Blick vielleicht denkbar erscheint. In der natürlichen Sprache haben wir es mit vielen Übergangsvarianten zu tun. Die kategorisierenden Tendenzen von Eigennamen zeigen sich deutlich, wenn wir einen Eigennamen als Verbindung von Vornamen und Familiennamen ansehen. In diesem Fall ordnen wir ein Individuum immer schon einer Gruppe zu, für deren Mitglieder wir eine wie auch immer geartete Familienähnlichkeit unterstellen. Die jeweilige Person wird infolgedessen dann nicht mehr als singulare Gestalt wahrgenommen, sondern als Repräsentantin eines bestimmten Typs von Personen bzw. einer Gruppe. Solche Eigennamen haben demzufolge dann ähnlich wie Begriffsnamen eine spezifische semantische Kategorisierungsfiinktion und damit nicht nur eine Identifizierungs-, sondern auch eine Bedeutungsfunktion. In bestimmten Gebrauchszusammenhängen können Eigennamen sogar zu Begriffsnamen mutieren. Wenn man jemanden als Napoleon der Literatur oder als Lichtenberg unserer Zeit bezeichnet, dann werden die ursprünglichen Eigennamen dazu benutzt, um einen bestimmten Typus von Menschen zu benennen, den Napoleon bzw. Lichtenberg jeweils exemplarisch repräsentieren. Auf diese Weise werden Eigennamen zu Begriffsnamen. Ähnliches dokumentiert sich auch darin, dass die ursprünglichen Eigennamen Zeppelin und Duden dazu benutzt worden sind, um eine Klasse von Dingen zu benennen, für deren Existenz die jeweiligen Personen eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Ausweitung des Interesses von der Richtigkeit der Eigennamen auf die der Begriffsnamen in unserer Geschichte gewinnt insbesondere dadurch an Brisanz, dass Humpty Dumpty behauptet, dass die Zuweisung von Bedeutungen an Wörter im Prinzip eine Machtfrage sei. Diese Behauptung ist nicht nur sprachtheoretisch sehr interessant, weshalb ihre Implikationen noch in einem eigenständigen Kapitel untersucht werden sollen, sondern auch argumentativ. Mit ihr setzt sich Humpty Dumpty nämlich in einen gewissen Widerspruch zu seiner anfänglichen Behauptung, dass sein eigener Name auf ganz natürliche Weise auf seine Leibesform Bezug nehme. Bedeutet das, dass seine anfängliche Behauptung nur auf Eigennamen gemünzt ist? Gibt es evtl. eine natürliche Richtigkeit der sprachlichen Repräsentation von Begriffen? Die letzte Frage hat dann sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine sprachtheoretische Dimension. Einerseits stellt sich das ontologische Problem, ob die jeweiligen Begriffsmuster so konzipiert sind, dass sie mit vorgegebenen Seinsmustern korrespondieren bzw. diese auf der Ebene der Sprache abbilden. Diese Frage ist im Rahmen sprachtheoretischer Überlegungen nicht zureichend oder gar abschließend zu beantworten. Eine Antwort setzte nämlich sowohl ein umfassendes Wissen über die ontische Ordnungsstruktur der Welt voraus, als auch eine
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Einigung über die pragmatischen Prämissen und Funktionen von sprachlich konkretisierten Begriffsbildungen. Andererseits stellt sich das sprachtheoretische Problem, ob bzw. inwiefern man annehmen kann, dass in den konkreten Benennungen der jeweiligen Begriffe schon Informationen und Determinationen oder gar verdeckte Aussagen und Definitionen über die jeweils benannten Begriffsinhalte verborgen liegen. Eine solche Annahme hätte zur Folge, dass man den Wahrheitsbegriff nicht mehr nur auf Aussagen bzw. sprachlich formulierte Sätze anwenden könnte, sondern zumindest auch auf solche Wörter, in denen man verdeckte Aussagen vermutet. Das würde dann aber die Logiker sehr beunruhigen, weil die Identifizierung von wahren Wörtern sehr schwierig wäre. Allenfalls ließe sich dann sagen, dass wahre Wörter pragmatisch verlässliche Wörter sind. Man könnte dann von wahren Wörtern in dem Sinne sprechen, wie man von wahrer Freundschaft oder wahrer Liebe spricht. Wenn man die Frage nach der Wahrheit bzw. Verlässlichkeit von Wörtern stellt und wenn man Begriffsbildungen zugleich auch als Interpretationsmittel und Wissensspeicher ansieht, dann ist es natürlich auch legitim, danach zu fragen, ob die von den Wörtern repräsentierten Begriffe die gegebene Realität kategorial richtig erfassen. Mit etwas bescheideneren Ansprüchen könnte man außerdem danach fragen, ob die jeweiligen Begriffsbildungen pragmatisch sinnvoll sind bzw. ob sie sich in unseren Handlungsprozessen als belastbar erweisen. Das ist eine uralte Frage der Sprachreflexion, die Piaton in seinem Kratylos-Dialog schon ausführlich entfaltet hat. Im ersten Teil dieses Dialogs macht sich Sokrates zum Anwalt der Auffassung, dass es so etwas wie eine natürliche Richtigkeit von Namen gebe, wobei unter dem Terminus Namen (onoma) nicht nur eine phonetische, sondern zugleich auch eine kognitive sprachliche Einheit verstanden wird. Sokrates betont, dass Begriffsbildungen nicht als Ergebnisse bloßer Konventionen angesehen werden könnten, da sie dazu bestimmt seien, die Phänomene in der Welt entsprechend ihrer inneren Natur voneinander abzusondern. Ebenso wie derjenige, der etwas zerschneiden wolle, nur dann erfolgreich sei, wenn er sich dabei an der Natur dessen orientiere, was er zerschneiden wolle, so müsse sich auch der gute Wortbildner an der Natur dessen orientieren, was er unterscheiden wolle. Nur dann, wenn man sich bei der Bildung von Wörtern bzw. Begriffen an der Struktur des jeweiligen Bezugsbereiches orientiere, könne das Wort seine Funktion erfüllen, ein „belehrendes Werkzeug" zu sein bzw. ein „das Wesen unterscheidendes und sonderndes" Deshalb ist für Sokrates das Bilden von Namen bzw. von Begriffen auch eine Kunst, die nicht jedermann beherrsche, sondern nur derjenige, der eine gute Kenntnis der Dinge habe.
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Piaton, Kratylos, 388b-c, Werke, Bd. 2, S. 131. Vgl. auch E. Coseriu, Der Physei-Thesei-Streit, 2004.
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Dementsprechend können dann natürlich auch so verstandene Namen eine natürliche Richtigkeit haben oder nicht. Diese sprachtheoretische Position, die seit der Stoa als Physei-These bekannt geworden ist, weil sie die Physis der Welt zur grundlegenden Orientierungsbasis der Bildung von Wörtern macht, radikalisiert Sokrates im Verlaufe des Dialogs auf eine sehr ironische Art. Er stellt nämlich Spekulationen darüber an, wie man schon aus der Lautsubstanz eines Namens Hinweise auf das Wesen dessen ableiten könne, was dieser jeweils bezeichne. Dadurch, dass Sokrates die Physei-These durch sehr merkwürdige etymologische und phonetische Spekulationen und Analogiepostulate auf die Spitze treibt, macht er indirekt auf die Schwäche dieses Denkansatzes aufmerksam und bereitet damit seine Argumentation für eine entgegengesetzte These im letzten Teil des Dialogs vor, die als Thesei-These bekannt geworden ist. Auch hier macht er wieder von der Handwerkeranalogie Gebrauch und betont, dass es ebenso wie es gute und schlechte Baumeister und Maler auch gute und schlechte Wortbildner geben könne. Deshalb müsse man dann auch mit einer graduell abstufbaren Richtigkeit von Namen rechnen. Gegenüber Namen sei eine grundsätzliche Skepsis angebracht, wenn man nicht von vornherein von einem göttlichen Namensgeber ausgehen wolle. Da wir uns nicht generell auf die Namen verlassen könnten, müssten wir beim Erwerb von Wissen deshalb immer wieder beim Studium der Dinge ansetzen. Das Studium der Wörter könne das Studium der Dinge nicht überflüssig machen. Wenn sich außerdem die Dinge ständig wandelten, wie es Heraklit gelehrt habe, dann könne man ohnehin nicht auf die absolute Richtigkeit von Namen vertrauen. Aus all dem ergibt sich dann für Sokrates die Konsequenz, das Problem der Richtigkeit von Namen mit dem Problem der Konventionen bzw. der Bildung von Hypothesen in Zusammenhang zu bringen. Jedenfalls stellt die Thesei-These nachhaltig in Abrede, dass es eine natürliche Richtigkeit der Namen geben könne. Vor dem Hintergrund dieser sprachtheoretischen Kontroversen im Kratylos-Dialog werden auch die Überlegungen de Saussures zur Arbitrarität bzw. Motiviertheit der Zuordnung von Bezeichnendem (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifikat) interessant. Sie haben nämlich einen unmittelbaren sprachtheoretischen Erklärungswert für den Anspruch von Humpty Dumpty, er könne frei festlegen, was Wörter zu bedeuten hätten. De Saussure hat nachdrücklich betont, dass die Zuordnung von Signifikant und Signifikat im Prinzip eine reine Frage von Konventionen sei, ja sogar sein müsse, wenn ein Sprachsystem seinen vielfaltigen Aufgaben gerecht werden wolle. Wenn es für die Ausbildungen von Signifikanten irgendeine bindende Vorgabe von Seiten der jeweiligen Signifikate geben würde bzw. wenn die Signifikanten aus einer onomatopoetischen Wortmalerei abgeleitet werden müssten, dann könnte die Verbalsprache natürlich nicht die vielfältigen kognitiven und kommunikativen Funktionen erfüllen, die sie faktisch realisiert. Es wäre nicht denkbar, dass im Rah-
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men der Sprache auf eine uneingeschränkte Weise Begriffe bzw. Denkmuster objektiviert und durch Wörter stabilisiert werden könnten. Der Preis für die prinzipiell arbiträre Zuordnung von Signifikanten und Signifikaten besteht nun allerdings darin, dass sich die einzelnen Sprachbenutzer auch penibel an die jeweiligen konventionellen Zuordnungen halten müssen und diese nicht so beliebig zur Disposition stellen dürfen, wie es Humpty Dumpty für seinen Sprachgebrauch beansprucht. De Saussure hat deshalb auch ganz nachdrücklich betont, dass die Konventionen, aus denen sich eine Sprache konstituiere, als soziale Tatsachen anzusehen seien, die von den Sprachbenutzern wie andere Tatsachen auch zu respektieren seien. Diese Konventionen seien die Grundlage des Systemcharakters der Sprache, der wiederum die Voraussetzung für ihre universale kognitive und kommunikative Funktionalität sei.11 Deshalb will er die Sprachwissenschaft auch als Wissenschaft von den sprachlichen Konventionen als sozialen Tatsachen bzw. als Kodewissenschaft etablieren. Für die synchronisch orientierte Sprachwissenschaft spielt die Frage nach der Herkunft und der semantischen Variabilität von Wörtern eine untergeordnete Rolle. Diese Frage, die für eine historisch-genetisch und hermeneutisch orientierte Sprachbetrachtung von zentralem Interesse ist, glaubt de Saussure mit dem Konzept der relativen Motiviertheit von Signifikanten zureichend berücksichtigt zu haben. Mit diesem Konzept versucht er, der nicht unerheblichen Tatsache gerecht zu werden, dass sich viele Wörter sehr deutlich als Wortzusammensetzungen und Wortableitungen zu erkennen geben und somit durch ihre äußere Gestalt schon Hinweise darauf geben, was sie bedeuten wollen. Beispielsweise ist für de Saussure der Signifikant elf im Hinblick auf das ihm zugeordnete Signifikat unmotiviert, aber der Signifikant dreizehn durchaus motiviert. Ebenso ist der Signifikant Dichter motiviert, weil das Suffix -er als Wortbildungsmorphem die Person bezeichnet, die die Tätigkeit ausführt, die im ersten Teil des Wortes thematisiert worden ist. Das Phänomen der relativen Motiviertheit von Signifikanten stellt sich für de Saussure auch deswegen als eine zu vernachlässigende Größe im Rahmen einer synchronisch orientierten Sprachwissenschaft dar, weil die ursprüngliche Motiviertheit oft ganz verblasst ist bzw. weil sich die aktuell gültige Bedeutung von Wörtern so verändert hat, dass sie sich nicht mehr zureichend aus dem ursprünglichen Wortbildungsverfahren erschließen lässt. Beispielsweise ist für das heutige Verständnis des Wortes Messer sicher nicht mehr sehr relevant zu wissen, dass dieses Wort sich aus dem westgermanischen Wort *matisahs abgeleitet hat und dass es ursprünglich die Bedeutung Schwert zum Essen hatte, insofern in dem Wort die Bezeichnungen für Speise (mat) und für Schwert (sahs) verborgen sind.
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Vgl. F. de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, 1967 2 , S. 8, S. 76.
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Gleichwohl ist es aber nicht gerechtfertigt, dass Phänomen der Motiviertheit von Wortbildungen zu einem Randphänomen der Sprache und der Sprachwissenschaft zu erklären. Einerseits stabilisiert sich das lexikalischsemantische System einer Sprache durch geregelte Verfahren der Wortbildung. Andererseits sind geregelte Wortbildungsverfahren gängige Methoden, den Wortschatz einer Sprache auf effektive Weise zu vergrößern und sicherzustellen, dass auch neu gebildete Wörter mehr oder weniger spontan verstanden werden können. Wenn man sich mit dem Problem der Richtigkeit von Namen beschäftigt, dann muss man beachten, dass Wörter durch ihre semantischen Bausteine bzw. Morpheme schon erste Hinweise auf den Vorstellungsinhalt liefern, den sie repräsentieren wollen oder sollen. Um darauf aufmerksam zu machen, dass sich in den Bauformen von Wörtern eine gewisse Aussagestruktur repräsentiert, die uns schon über ihre jeweiligen Begriffsinhalte informiert, haben Wandruszka und Gauger von „durchsichtigen Wörtern" gesprochen.12 Mit diesem Terminus wollen sie darauf aufmerksam machen, dass viele Wörter als sprechende Namen zu verstehen seien und dass Wortbildungsregeln als Gegenkräfte zu allen Tendenzen anzusehen seien, Wortbedeutungen willkürlich festzulegen bzw. beliebig zu verändern. Sofern man in Betracht zieht, dass die Zuweisung von Bedeutungen an Wörter auch eine Machtfrage sein kann, dann muss man diskutieren, ob bzw. inwieweit davon auch Wortbildungsregeln betroffen sind. Der Gebrauchswert sowohl der natürlichen als auch der formalisierten Fachsprachen wäre erheblich eingeschränkt, wenn uns Wörter nur kraft der Kenntnis der jeweiligen lexikalischen Konventionen verstehbar wären und nicht auch kraft der Kenntnis von grammatischen Wortbildungsregeln. Die Aushebelung der grammatischen Konventionen zur Bildung von Wörtern würde die Funktionsfähigkeit der Sprache natürlich auf eine sehr viel schwerwiegendere Weise beeinträchtigen als diejenige von lexikalischen Konventionen. Das dokumentiert sich beispielsweise auch darin, dass wir beim metaphorischen Sprachgebrauch zwar gegen lexikalische Gebrauchskonventionen verstoßen, aber nicht gegen grammatische. Auch Humpty Dumpty macht keinen Versuch, die grammatischen Konventionen der Sprache in Frage zu stellen oder gar außer Kraft zu setzen.
Elementare Wort- und Sinnbildungsstrategien Zum Charme von Humpty Dumpty gehört es, dass er sich beim praktischen Umgang mit der Sprache kaum an seine eigenen programmatischen Äußerungen zur Sprache hält und uns eben dadurch immer wieder dazu nötigt, uns 12
Vgl. M. Wandruszka, Etymologie und Philosophie, Der Deutschunterricht, 10, 1958, H. 4, S. 718. H.-M. Gauger, Durchsichtige Wörter, 1971.
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einen Reim auf seine sprachtheoretischen Überlegungen zu machen. Das wird beispielsweise sehr deutlich, als Alice ihn darum bittet, ihr die Bedeutung des Gedichtes Zipferlake zu erläutern. Dieses Gedicht, das in der englischen Originalfassung Jabberwocky heißt, musste in der deutschen Übersetzung natürlich eine andere Laut- und Formgestalt bekommen, um auf dieselben sprachstrukturellen Ordnungs- und Problemzusammenhänge aufmerksam machen zu können. Da das Gedicht von Carroll dazu dient, um auf aparte Weise das Problem der Richtigkeit bzw. der Motiviertheit von Namen zu thematisieren, mussten die semantischen Erläuterungen der jeweiligen Wörter bzw. Signifikanten dann natürlich auch ganz anders ausfallen als im Original.13 Sowohl in der englischen wie in der deutschen Fassung des Gedichts wird verdeutlicht, dass es in der Sprache neben der Ordnungs- und Gestaltebene der Lexik auch noch die der Phonologie, der Morphologie und der Grammatik gibt.14 Die Kombination von Lauten vollzieht sich offensichtlich im Rahmen des Phoneminventars und der phonologischen Kombinationsregeln der jeweiligen Sprachen. Das gleiche gilt hinsichtlich der Morpheme und der morphologischen Konventionen. Auch grammatische Zeichen (Artikel, Präpositionen, Konjunktionen, Tempusmorpheme usw.) werden regelgemäß verwendet. Unschwer ist zu erkennen, dass die englische wie auch die beiden deutschen Fassungen des Gedichts als eine englische bzw. als eine deutsche Sprachäußerung durchgehen könnten, wenn man den regelgemäß gebildeten lexikalischen Einheiten nur eine Bedeutung zuordnen könnte. Da wir nun aber keinem der regelgemäß gebildeten lexikalischen Zeichen eine klare Bedeutung zuordnen können, haben wir auch keine Chance, uns das Sachthema des Gedichts zu erschließen. Dadurch entfällt auch jede Möglichkeit, aus bekannten Wörtern auf die Bedeutung unbekannter Wörter zu schließen oder die Bedeutung von Wörtern aus unserem Weltwissen zu ermitteln, was wir beispielsweise ja im metaphorischen Sprachgebrauch ständig praktizieren. Bezeichnend ist nun, dass Humpty Dumpty bei der semantischen Interpretation der einzelnen Wörter diesen nicht willkürlich und machtbewusst eine bestimmte Bedeutung zuweist, sondern dass er sich auf eine etwas abenteuerli13
In der englischen Fassung hat das Gedicht die folgende Gestalt, vgl. Carroll, 1972, S. 164 . Τ was brillig, and the stithy toves Did gyre and gimble in the wabe: All mimsy were the borogoves, And the mome raths outgrabe.
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Liselotte Remanö hat in ihrer Übersetzung dem Gedicht folgende Fassung gegeben, vgl. Carroll, 1977, S. 114. Es sunnte Gold, und Molch und Lurch krawallten rum im grünen Kreis, den Flattrings ging es durch und durch, sie quiepsten wie die Quickedeis.
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che Weise darum bemüht, aus bestimmten lautlichen, morphologischen und semantischen Ähnlichkeiten und Assoziationen eine Bedeutung zu konstruieren. Er unterstellt den einzelnen Signifikanten auf Gedeih und Verderb eine bestimmte Motiviertheit und nutzt dabei jede sich bietende Eselsbrücke, um den jeweiligen Namen eine natürliche Richtigkeit bzw. einen Sinn zuzuweisen. Er nutzt den psychologisch verständlichen Umstand aus, dass Menschen es nicht ertragen können, einzelne Wörter nur als Schall- bzw. Sehereignisse wahrzunehmen, und dass sie immer bestrebt sind, Wörter als Zeichen bzw. als Manifestationen von Sinn zu verstehen. Er legt nicht einfach normativ Bedeutungen fest, sondern versucht, die Bedeutung von Wörtern intersubjektiv dadurch zu konkretisieren, dass er sie irgendwie in das vorhandene Sprachwissen und in die vorhandenen Konventionen und Assoziationen einordnet, um ihrer semantischen Interpretation eben durch diese Systemeinbettung eine gewisse Legitimität zu verschaffen.
3. Die Sinn- und Machtfrage bei Bedeutungszuweisungen Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum Problem der Motiviertheit von Signifikanten bzw. zur natürlichen Richtigkeit von Namen gewinnt auch die These von Humpty Dumpty an Relevanz, dass die Bedeutungszuweisung an Wörter eine Machtfrage sei bzw. eine Frage, „wer der Stärkere" sei. „Wenn ich das Wort gebrauche ... dann heißt es genau, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger." Mit dieser These scheint er in einem gewissen Widerspruch zu seiner anderen These zu geraten, dass die Namensgebung nicht der freien Disposition unterliegt, sondern natürlich bedingt ist, sei es durch die Natur der jeweils bezeichneten Dinge, sei es durch die systemtheoretische Einbindung und Herleitung der jeweiligen Namen. Dieser Widerspruch ist allerdings nur ein partieller, insofern Humpty Dumpty bei der Rechtfertigung seiner These von der natürlichen Richtigkeit der Namen ein so weites Feld von verwendbaren Kriterien, Assoziationen und Analogien eröffnet, dass es schon wieder eine Machtfrage ist, welche denn tatsächlich zur Begründung der Richtigkeit von Namen herangezogen werden dürfen und welche nicht. Mit seiner Machtthese, die zugleich eine Arbitraritätsthese einschließt, scheint Humpty Dumpty im Prinzip eine nominalistische Denkposition zu vertreten. Nach dieser wäre dann nicht nur die Etikettierung eines Denkmusters mit einem Wort, sondern auch die Ausbildung des Denkmusters selbst eine Frage der Macht bzw. ein Ausweis der menschlichen Denkfreiheit. Um die Aspekte und Implikationen dieser Problematik zu erfassen, ist es hilfreich, sich zunächst einmal auch mit Übersetzungsfragen zu beschäftigen. Der Disput von Humpty Dumpty und Alice über das Machtproblem entzündet sich nämlich in unserem Text an der Frage, ob es zulässig sei, das Wort Glocke so zu verwenden, dass es die Bedeutung einmalig schlagender Beweis bekommt. Im
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Original wird dieser Disput allerdings an dem Wort glory gefuhrt, dem Humpty Dumpty die Bedeutung „a nice knock-down argument zuweisen möchte. Die Verwendung des Wortes glory bzw. Glocke fur die Demonstration der Machtthese ist nun insofern nicht unerheblich, weil ein Abstraktum {glory) für Bedeutungsmanipulationen immer sehr viel anfälliger ist als ein Konkretum {Glocke). Bei Konkreta üben unsere übersichtlichen Gegenstandserfahrungen naturgemäß einen sehr viel nachhaltigeren Einfluss auf die Stabilität von Begriffsbildungen bzw. auf die Zuordnungen von Signifikanten zu Signifikaten aus als bei Abstrakta. Deshalb ist die Verwendung des Wortes Glocke in der deutschen Übersetzung etwas problematisch. Sie rechtfertigt sich höchstens durch eine gewisse Lautähnlichkeit im Anklang der Wörter glory und Glocke. Aber gerade Klangphänomene spielen in dieser Phase der Argumentation eigentlich keine große Rolle. Der Anspruch von Humpty Dumpty, dass ein Wort genau die Bedeutung habe oder bekomme, die er ihm im konkreten Gebrauch gebe, hat weit reichende sprachtheoretische Implikationen. Einerseits dokumentiert sich darin, dass er seinem semantischen Denken ganz bestimmte erkenntnistheoretische Prämissen zu Grunde legt, um die es sowohl historisch als auch systematisch gesehen viel Streit gegeben hat. Andererseits wird damit die grundsätzliche semiotische Frage aufgeworfen, wie es überhaupt zur Ausbildung von Zeichen und zur Ausbildung von sozialen Konventionen für das Verständnis von Zeichen kommt.
Die Bedeutungskonstitution als Sinnbildungsproblem Mit seiner Machtthese hinsichtlich der Zuweisung von Bedeutungen an Wörter gibt sich Humpty Dumpty im Prinzip als Nominalist zu erkennen. Denn diese These bezieht sich bei ihm offensichtlich nicht nur auf die Benennung von Begriffsmustern, sondern auch auf die Ausbildung von Begriffsmustern. Der Stärkere entscheidet nicht nur darüber, wie etwas benannt werden soll, sondern auch darüber, was er von etwas anderem unterschieden wissen will und welche Kriterien bei solchen Differenzierungsprozessen herangezogen werden dürfen und welche nicht. Entgegen seiner anfanglichen Argumentation über die Berechtigung seines eigenen Namens vertritt Humpty Dumpty im Zusammenhang mit der Machtthese letztlich das Prinzip, dass die Wörter und Begriffe nicht aus eindeutig vorgegebenen Sachstrukturen abzuleiten seien, sondern vielmehr aus den pragmatisch motivierten Objektivierungs- und Differenzierungsbedürfhissen der jeweiligen Menschen. Dabei habe dann letztlich immer der Stärkere das Sagen. Im Hinblick auf moderne sprachtheoretische Denkansätze könnte man deshalb auch sagen, dass Humpty Dumpty sich in Fragen der Semantik
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als Anhänger der Gebrauchstheorie bzw. als Anhänger der Sprachspieltheorie Wittgensteins ausweist.15 Nach diesem sprachtheoretischen Konzept kommt man bei der Aufklärung der Bedeutungsproblematik nicht weiter, wenn man davon ausgeht, dass Wörter vorgegebene ontische Einheiten benennen bzw. dass ihre Bedeutung sich zumindest im Bereich der natürlichen Sprache normativ aus einem vorgegebenen Kode ableiten lässt. Stattdessen wird postuliert, dass Wörter als Sinnbildungsinstrumente anzusehen sind, die ihr semantisches Profil aus den kognitiven und kommunikativen Strategien gewinnen, in die sie jeweils eingebunden sind. Wie im Spiel jedes Spielelement sein spezifisches Profil aus den jeweiligen Rahmenbedingungen des Spiels und den jeweiligen Spielzügen und Verwendungsbedingungen bekommt, so wird in diesem Denkansatz auch angenommen, dass sich der Bedeutungsgehalt von Wörtern letztlich aus den Handlungen ableiten lässt, die mit ihnen realisiert werden sollen. Dementsprechend kann das Wort Stein im potenziellen und aktuellen Sprachgebrauch eines Mineralogen, eines Maurers und eines Polizisten ein recht unterschiedliches semantisches Relief bekommen. Diese Sichtweise auf Sprache hat auch Humboldt, wie schon mehrfach betont, Ausdruck gegeben, als er postulierte, dass die Sprache als „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes" zu betrachten sei, „den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen,"16 Demselben Gedanken hat ja auch Lenneberg entwickelt, als er herausstellte, dass Wörter nicht Namen für fest vorgegebene Begriffe seien, sondern vielmehr Namen für „einen Kategorisierungsprozeß oder eine Familie solcher Prozesse."17 Wenn man so denkt, dann wird verständlich, warum auch Humpty Dumpty prinzipiell das Recht beansprucht, den semantischen Gehalt bzw. den Sinn von Wörtern seinen aktuellen kognitiven und kommunikativen Bedürfnissen anzupassen. Die Frage ist dann nur, in welchem Ausmaß und in welcher Weise der Sinn der jeweiligen Wörter den individuellen pragmatischen Differenzierungsbedürfiiissen angepasst werden darf und wann man dabei die intersubjektive Verständlichkeit von Wörtern aufs Spiel setzt. Privatsprachen müssen nämlich im Prinzip als ein Widerspruch in sich selbst angesehen werden. Die immanente Problematik der Machtthese wird in dem Disput zwischen Humpty Dumpty und Alice ganz offenkundig. Sie wird in unserer Geschichte allerdings dadurch entschärft, dass in dem Verständigungsprozess zwischen beiden immer wieder metakommunikative Schleifen eingebaut worden sind, in denen die aktuelle Bedeutung der jeweils verwendeten Wörter geklärt wird. 15
16
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Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1967, S. 24 § 23, S. 35 § 43, S. 135 § 329, S. 159 § 4 3 2 , S. 183 § 560. W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihr Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 46, Werke, Bd. 3, S. 418. E. Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache, 1972, S. 407.
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Ein solches Verfahren lässt sich aus sehr offensichtlichen Gründen im alltäglichen Sprachgebrauch allerdings immer nur punktuell anwenden, aber keineswegs ständig. Deshalb müssen sich die Kommunikanten trotz ihrer prinzipiellen Freiheit zur Variation von Wortbedeutungen bei der Konstituierung und Benennung von Begriffen an sozial stabilisierte Konventionen binden. Im vorliegenden Fall ist die Aufkündigung von Konventionen schon deswegen sehr problematisch, weil sie weder durch eine spezifische Sprachnot noch durch eine ganz neuartige kognitive Differenzierungsstrategie motiviert ist. Humpty Dumpty könnte das, was er objektivieren und mitteilen möchte, problemlos mit Hilfe der üblichen Sprachmittel bewerkstelligen. Er zieht es nur vor, Sprachkonventionen so durcheinander zu wirbeln, dass tendenziell so etwas wie eine Privatsprache entsteht. Eine ganz andere Situation würde sich allerdings dann ergeben, wenn sich das individuelle Objektivierungs- und Mitteilungsziel nicht mit Hilfe der konventionalisierten Sprachmittel realisieren ließe, sondern nur dann, wenn man die vorhandenen Sprachmittel in einer unorthodoxen Weise gebrauchen dürfte. Auf eine solche Situation treffen wir beispielsweise in einem metaphorischen und sinnbildlichen Sprachgebrauch, wo die konventionelle Bedeutung der Wörter punktuell außer Kraft gesetzt wird, wo aber durch Analogierelationen unterschiedlichster Art neue Bedeutungsfullungen wieder ermöglicht werden. Eine solche Situation ist hier allerdings nicht gegeben, weshalb das, was Humpty Dumpty objektivieren und mitteilen will, nur durch zusätzliche metasprachliche Erklärungen fassbar werden kann. Die Aufhebung von sprachlichen Konventionen im Rahmen von kreativen Sinnbildungsstrategien setzt nicht nur Macht und Wille voraus, sondern auch eine spezifische Meisterschaft. Deshalb hat Piaton im Kratylos-Dialog auch betont, dass nur derjenige ein guter Wortbildner sei, der sich sowohl in der Natur der Dinge als auch in der der Wörter auskenne. Wenn Humpty Dumpty hier dem Wort Glocke bzw. glory und dem Wort UnUnterscheidbarkeit bzw. impenetrability neue Bedeutungen zuordnet, dann will er dadurch weder neue Denkinhalte mitteilbar machen noch gegebene Wortbildungsregeln auf kreative Weise für die Ausbildung neuer Begriffe nutzen noch den Operationsradius der vorhandenen Wörter durch metaphorische bzw. ikonische Redeweisen vergrößern. Humpty Dumpty betont zwar, dass er Wörter, wie im vorliegenden Fall, schwer arbeiten lassen könne und dass er ihnen dann auch besondere Zulagen gewähre, aber diese Aussage hat nur eine sehr beschränkte Gültigkeit. Er lässt Wörter nämlich nicht in dem Sinne schwer arbeiten, dass er sie durch eine metaphorische Verwendungsweise dazu bringt, ihre verborgenen Sinnpotenziale offenbar zu machen. Er mutet ihnen nur zu, in neuen Verwendungsweisen nach seiner ganz individuellen Pfeife zu tanzen. Humpty Dumpty behandelt die Wörter wie lohnabhängige Arbeiter, die ihren eigenen Willen und ihre eigene Identität verloren haben und nur noch
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einen rein funktionellen Wert besitzen. Bei besonderen Zumutungen belohnt er diese Lohnarbeiter sogar mit einer besonderen „Zulage", für die sie am „Zahltag" dann auch brav anstehen, um die Gunst des Herrn nicht zu verlieren. Insbesondere Adjektive sind für ihn Lohnarbeiter, die praktisch „alles mit sich geschehen" lassen, während Verben gleichsam als Facharbeiter „ihre Zicken" haben und sich nicht so leicht manipulieren und ersetzen lassen, was ja auch die Dependenz- und Valenzgrammatiker bestätigen würden.
Die Bedeutungszuweisungen als Machtproblem Da Humpty Dumpty seine nominalistische Denkposition weniger als Ausdruck der Freiheit zu kreativen Denkprozessen ansieht, sondern eher als Ausdruck der Freiheit von gegebenen Konventionen, verquickt sich für ihn das Bedeutungsproblem auf ganz genuine Weise mit dem Machtproblem. Dieser Aspekt der Bedeutungsproblematik ist sprachtheoretisch natürlich außerordentlich interessant, weil damit auch die Frage verbunden ist, auf welche Weise sich sprachliche Begriffsbildungs- und Benennungskonventionen herausbilden und stabilisieren. Da im nominalistischen Denken sprachliche Ordnungen tatsächlich als Produkte von konstruktivistischen Anstrengungen erscheinen und trotz des steuernden Einflusses von pragmatischen Motiven letztlich doch immer auf Willensimpulse und Machtpositionen zurückgeführt werden, stellt sich das Problem, inwieweit eine solche Denkposition wirklich vertretbar ist und ob in diesem Zusammenhang nicht auch noch andere Einflussfaktoren wirksam werden können. Die formalisierten Fach- und Wissenschaftssprachen scheinen das konstruktivistische Konzept von Sprachkonventionen plausibel zu exemplifizieren. Die Sachkenntnis von Personen und Institutionen scheint dabei ein Garant für die Vernünftigkeit und Stabilität von Begriffsbildungen, Begriffsdefinitionen und Begriffsbenennungen zu sein. Die Autorität für die Fixierung von Ordnungen kann dann sowohl aus einem überlegenen Wissen bzw. aus einer überlegenen Meisterschaft im Umgang mit diesem Wissen resultieren als auch aus einer institutionellen Machtposition, die dann jeweils die semantische Definitionshoheit garantiert. Im Bereich des politischen Sprachgebrauchs ist sehr offenkundig, dass sich die Autorität zur Festlegung von sprachlichen Konventionen sehr massiv von der Ebene eines überlegenen Sachwissens auf die Ebene einer institutionalisierten Machtposition verschieben kann. Das exemplifiziert sehr schön die so genannte Sprachregelung im Dritten Reich. Das Propagandaministerium versuchte hier über die gleichgeschaltete Presse und den gleichgeschalteten Rundfunk sicherzustellen, dass politisch relevante Phänomene mit Hilfe ganz bestimmter Termini bzw. ganz bestimmter Begriffsbildungen sprachlich objektiviert und repräsentiert wurden, um eben dadurch auch die Wahrnehmungsper-
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spektive für diese Phänomene auf ganz spezifische Weise zu regulieren. Die Macht über die Medien wurde dazu benutzt, um Macht über die Ausbildung und Stabilität sprachlicher Konventionen zu gewinnen und damit Macht über die Strukturierung von Wahrnehmungs- und Denkprozessen. Die Frage nach der Bedeutung von Wörtern wurde dadurch ganz eindeutig zu einer Machtfrage im Sinne von Humpty Dumpty. Das Programm einer institutionellen Sprachregelung hat George Orwell in seinem utopischen Roman Neunzehnhundertvierundachtzig von 1949 auf eine sehr eindrucksvolle Weise exemplifiziert. In der hier geschilderten Welt wird die zentrale staatliche Regulierung der Sprache einerseits dadurch vorangetrieben, dass bestimmte Wörter über ihre Verwendung in bestimmten politischen Parolen bzw. durch normative Definitionen allmählich eine ganz andere Bedeutung bekommen sollen und eben dadurch für einen argumentativen Gebrauch immer unbrauchbarer werden. „Krieg bedeutet Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke."™ Andererseits wird die Regulierung der Sprache dadurch auf die Spitze getrieben, dass ministeriell eine so genannte Neusprache konzipiert wird, in der die Anzahl der Wörter in dem offiziell herausgegebenen Wörterbuch massiv vermindert wird, in der ständig Abkürzungen verwendet werden, in der Sachverhalte dichotomisch geordnet und bewertet werden und in der grammatische Differenzierungen auf ein Minimum reduziert werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass sich die gedanklichen Differenzierungsmöglichkeiten der Menschen ganz entscheidend reduzieren, da nur noch sehr wenige und sehr grobe sprachliche Denkmuster zur Verfügung stehen. „ Siehst du denn nicht, dass die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen? Zum Schluss werden wir Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich gemacht haben, da es keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrücken könnte, jeder Begriff, der jemals benötigt werden könnte, wird in einem einzigen Wort ausdrückbar sein, wobei seine Bedeutung streng festgelegt ist und alle seine Nebenbedeutungen ausgetilgt und vergessen sind. Schon heute, in der Elften Ausgabe, sind wir nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozess wird immer weiter gehen, lange nachdem wir beide tot sind. Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewusstseins immer kleiner und kleiner werden. " 1 9
Humpty Dumptys Konzept der individuellen Umregulierung von sprachlichen Konventionen und das Konzept der institutionellen Sprachregulierung in totalitären Regimen, führt uns natürlich zu der Frage, ob sich die Ausbildung von Sprachkonventionen in der natürlichen Umgangssprache generell zutreffend nach dem Machtmodell beschreiben lässt oder ob hier auch noch mit ganz anderen Einflussfaktoren zu rechnen ist. Das Problem der Ausbildung von 18
G. Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, 1974 22 , S. 27, Kap. 2.
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G. Orwell, a.a. O., S. 50, Kap. 5
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sprachlichen Ordnungen, Konventionen und Formen scheint so komplex zu sein, dass ein konstruktivistisches Erklärungsmodell dieser Art bei einer genaueren Analyse doch schnell an seine Grenzen stößt.
Sprachkonventionen und die Idee der unsichtbaren Hand Der Nationalökonom Friedrich von Hayek hat sich die Frage gestellt, wie komplexe kulturelle Ordnungszusammenhänge (Rechtsordnungen, Handelsordnungen, Sittenordnungen, Sprachordnungen usw.) ihren Systemcharakter gewinnen. Seine diesbezüglichen Überlegungen haben ihn zu der Überzeugung gefuhrt, dass es phänomenologisch nützlich sei, drei verschiedene Typen von Ordnungen mit je unterschiedlicher Genese voneinander abzugrenzen. Erstens gebe es Ordnungen, die wir als gegebene Ordnungen in der Natur vorfinden und an deren Existenz und Struktur Menschen keinen Anteil hätten. Diese Ordnungen versuchten wir in Form von Naturgesetzen zu objektivieren und zu beschreiben. Zweitens gebe es Ordnungen, die auf willentliche und konstruktive Setzungen von Menschen zurückzuführen seien, wie etwa die Ordnungen für die Einziehung von Steuern oder den Erwerb von Grundstücken. Drittens gebe es Ordnungen, die zwar von Menschen geschaffen seien, die aber nicht auf deren intentionale Setzungen zurückzufuhren seien, sondern vielmehr auf ungeplante evolutionäre Prozesse. In diesen hätten sich durch mehr oder weniger zufällige Verhaltensweisen und Siebungsprozesse Ordnungsstrukturen herausgebildet, die Menschen respektierten, weil sie sich irgendwie als nützlich erwiesen hätten.20 Zu den Ordnungssystemen der dritten Art zählt F. von Hayek insbesondere auch die Sprache, die für ihn zwar ein Ergebnis menschlichen Handelns sei, aber keineswegs ein Produkt menschlicher Planung. Ebenso wie andere Kulturordnungen sei auch die Sprache kein Produkt von expliziten Vereinbarungen. Die von Menschen evolutionär entwickelten kulturellen Ordnungsmuster seien im Prinzip so komplex und wiesen so viele interdependente Ordnungsstrukturen auf, dass Menschen sie weder intentional erzeugen noch vollständig verstehen könnten. Allenfalls wären sie in der Lage, sie einigermaßen problemlos zu nutzen. Als eigentlich ungewollte Nebenprodukte erfolgreicher Handlungsprozesse wiesen solche kulturellen Ordnungssysteme vielfaltige interne Inkonsequenzen auf. Aber gerade deswegen seien sie besonders funktionstüchtig, da sie partiell ständig verändert werden müssten und sich eben dadurch auch flexibel neuen Bedürfnissen anpassen könnten. Auf die komplexen Ordnungssysteme der dritten Art können nach F. von Hayek Menschen immer nur partiell Einfluss nehmen, weil niemand die Inter20
Vgl. F. A. von Hayek, Arten der Ordnung, in: F.A. v. Hayek, Freiburger Studien, 1969, S. 3246. F. A. v. Hayek, Die drei Quellen der menschlichen Werte, 1979.
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Humpty Dumpty als Sprachdenker
dependenz der einzelnen Regelungen vollständig überschauen könne und weil angebliche Verbesserungen auf einem Gebiet oft zu großen Nachteilen auf einem anderen Gebiet fuhren würden. Menschen könnten sich in solchen kulturellen Ordnungssystemen problemlos bewegen, ohne sie bewusst zu durchschauen, und sie könnten ihre Regeln befolgen, ohne diese explizit zu kennen. Als eine sehr gute Exemplifikation dieser These lassen sich sicherlich die grammatischen Regeln einer Sprache ansehen. Alle Sprachverwender befolgen sie, ohne sie explizit formulieren zu können. Wenn wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Entstehung, Funktion und Autonomie kultureller Ordnungssystem die Aktionen von Humpty Dumpty zur Neuordnung von Begriffsbildungen und Begriffsbenennungen in der natürlichen Sprache betrachten, dann lässt sich unschwer prognostizieren, dass sie zum Scheitern verurteilt sind, sofern mit ihnen überhaupt die Absicht verbunden gewesen sein sollte, den allgemeinen Sprachgebrauch wirklich umzukrempeln. Seine Thesen und sein Sprachgebrauch sind zwar aufschlussreich, um auf die Konventionsproblematik in der Sprache aufmerksam zu machen, aber sie sind absurd, um auf ihrer Grundlage den tatsächlichen Sprachgebrauch zu ändern. Humpty Dumpty würde sich mit seinen Vorschlägen in die Sackgasse einer Privatsprache manövrieren, die die Sprache als soziales Phänomen ad absurdum fuhren würde, falls sich keiner seinem Sprachgebrauch anschlösse. Die These Humpty Dumptys, dass die Durchsetzung neuer Sprachkonventionen eine Frage der Macht sei, ist natürlich nicht von der Hand zu weisen. Aber wenn man in Bezug auf die Sprache von Macht spricht, dann darf man dabei nicht nur an die Macht von Personen und Institutionen denken, sondern muss auch die Macht des Sprachsystems selbst ins Auge fassen. Je komplexer kulturelle Systeme sind und je vielfältigere Ordnungsfunktionen sie haben, eine desto größere Autonomie und Beharrungskraft entwickeln sie gegenüber denjenigen, die sie ursprünglich hervorgebracht haben. An solchen Systemen lassen sich zwar punktuelle Änderungen durchführen, um spezifische Funktionsdefizite auszugleichen, aber grundlegende Änderungen oder neue Konventionen können einzelne Menschen kaum an ihnen vornehmen. Hier erweist sich, dass die Beharrungskraft der Systeme größer ist als die Innovationskraft von einzelnen Personen. Das lässt sich besonders gut an Beispielen von Sprachsystemen exemplifizieren. Im Ordnungssystem einer Sprache sind so viele soziale Konventionen miteinander vernetzt, dass sich punktuell kaum etwas durchschlagend verändern lässt. Beispielsweise kann man die Bedeutung einzelner Wörter nicht massiv verändern, weil diese durch die Einbettung in semantische Systeme (Wortarten, Wortfelder) und in grammatisch-syntaktische Systeme (Satzgliedverwendung, Ableitungstypen) eine große Beharrungskraft hat. Jede weit reichende Bedeutungsveränderung eines Wortes hätte Rückwirkungen auf andere Sprachkonventionen, deren Einfluss nicht so einfach außer Kraft zu setzen ist.
Die Sinn- und Machtfrage bei Bedeutungszuweisungen
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Komplexe Ordnungssysteme wie die Sprache entwickeln durch die Vernetzung ihrer Teilsysteme gleichsam eine innere Immunität gegen revolutionäre Eingriffe von außen, um ihre Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Die innere Ratio der Sprache besteht in einem Fließgleichgewicht ihrer Teile, welche partielle Veränderungen durchaus vertragen kann, welche aber willkürliche Eingriffe erfolgreich abzupuffern vermag. Die Veränderung von sprachlichen Konventionen ist deshalb nicht nur ein sehr mühsames, sondern auch ein sehr langwieriges Geschäft und lässt sich nicht so leicht bewerkstelligen wie es Humpty Dumpty postuliert. In der Sprache können Regularitäten und Konventionen auch schon deshalb gar nicht so leicht außer Kraft gesetzt werden, weil wir diese oft gar nicht explizit identifizieren und formulieren können. Meist sind sie uns nur ansatzweise über unser Sprachgefühl als Ausdrucksform unseres allgemeinen Sprachwissens zugänglich. Es ist sicher ein rationalistisches Vorurteil, dass nur solche sprachlichen Regeln wirksam sind, die wir als Regeln auch explizit beschreiben können. Wenn jemand Sprachkonventionen ohne Sprachnot und ohne kreativen sinnbildenden Effekt aufhebt, dann hat er damit in der Regel keinen sozialen Erfolg, weil niemand eine Notwendigkeit darin sieht, sich ohne Motiv einem neuen Sprachgebrauch anzuschließen. Humpty Dumpty kann mit der Aufkündigung von etablierten sprachlichen Konventionen zwar seinen geistigen Freiheitsanspruch und seinen nominalistischen Denkansatz dokumentieren, aber damit manövriert er sich zugleich auch in die soziale Isolierung einer Privatsprache. In dieser bringt die Aufkündigung von vorgegebenen Regelungen keine Freiheit von sprachlichen Konventionen, sondern nur eine Bindung des Denkens an andere Festlegungen. Indem Humpty Dumpty individuelle Sprachkonventionen etabliert, setzt er letztlich die heilsame Notwendigkeit außer Kraft, seine eigenen Denkinhalte anderen über gemeinsame Zeichen verständlich zu machen und eben dadurch auch sich selbst und seine eigenen Denkprämissen und Denkziele besser zu verstehen. Humboldt hat den Tatbestand, dass Konventionen ebenso wie Spielregeln nicht nur eine einschränkende, sondern auch eine strukturierende, klärende und filternde Wirkung haben, wie schon erwähnt, auf eine unnachahmliche Weise auf den Punkt gebracht. „Denn der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. " 21 Um die innere Logik und die Macht evolutionär gewachsener komplexer Kultursysteme zu beschreiben, greift F. von Hayek auf die von dem schottischen Nationalökonomen und Moralphilosophen Adam Smith geprägte Metapher von der unsichtbaren Hand (invisible hand) zurück. Diese Metapher hatte Smith zur Erläuterung von zwei Tatbeständen geprägt. Einerseits will er mit ihr verdeutlichen, dass Menschen in ihrem Handeln hintergründig Zwecke 21
W. v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 377.
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befördern könnten, die sie vordergründig gar nicht anstrebten. Beispielsweise fördere das Streben nach individuellem Wohlstand auch unbeabsichtigt den allgemeinen Wohlstand. Andererseits will er mit dieser Metapher darauf verweisen, dass komplexe Systeme Mechanismen der Selbstregulation entwickelten, um ihre polyfunktionalen Aufgaben so optimal wie möglich erfüllen zu können. 22 Das Denkbild von der unsichtbaren Hand, für das das rationalistische Denken meist nur Hohn und Spott übrig gehabt hat, ist für F. von Hayek insbesondere deshalb wichtig, um all die Einflussfaktoren bildlich zusammenzufassen, die dafür sorgen, dass sich komplexe Systeme durch partielle Veränderungen auf evolutionäre Weise sinnvoll neuen Herausforderungen anzupassen wissen und dass sie willkürlichen Eingriffen deutlichen Widerstand leisten, sofern diese die Flexibilität und Funktionalität des Gesamtsystems nicht verbessern. Mit dem Sinnbild der unsichtbaren Hand soll keineswegs zum Ausdruck gebracht werden, dass sprachliche Ordnungen von einer numinosen Macht außerhalb der Sprache oder der Sprecher erzeugt und erhalten werden. Mit ihr soll vielmehr nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass sprachliche Konventionen und Ordnungen letztlich als Resultanten von sehr unterschiedlichen Sprachfunktionen aufzufassen sind, deren fnterdependenz sich theoretisch nur annäherungsweise aufklären lässt. In diesem Zusammenhang ist dann auch zu berücksichtigen, dass komplexe kulturelle Systeme ihre sozialintegrativen Aufgaben nur dann erfüllen können, wenn sie auch ein hohes Maß an Beharrungsvermögen besitzen. Natürlich ist ergänzend auch zu beachten, dass sich Ordnungssysteme der dritten Art ständig ändern müssen, um ihre vielfältigen Ordnungsfunktionen erfüllen zu können, und dass die Anstöße dafür natürlich von Individuen kommen müssen. Aber ob eine individuelle Neuerung sich als kreative Mutation durchsetzt bzw. ob sie kognitive und kommunikative Vorteile erbringt, das ergibt sich letztlich erst dadurch, dass sie von anderen aufgegriffen wird und sich durch ständige Wiederholung stabilisiert. Die Gründe für die Überlebensfahigkeit spontaner Neuerungen liegen meist nicht auf einer, sondern vielmehr auf mehreren, oft nicht vollständig überschaubaren Ebenen. Die pragmatische Funktionalität und Belastbarkeit von neuen Sprachkonventionen erschließt sich den Beteiligten meist nur über ihr Sprachgefühl als ihrem komplexen vorbegrifflichen Gesamtwissen von der Sprache. Poeten, Kinder und Sprachspieler vom Schlage Humpty Dumptys haben immer eine Chance, Sprachkonventionen zu ändern, aber ob sich ihre Neuerungen als hilfreich fur die Bewältigungen von kognitiven und kommunikativen Aufga-
22
Zur Erklärungsfunktion der Metapher von der unsichtbaren Hand für das Problem des Sprachwandels vergleiche: W. Koller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 123ff. R. Keller, Sprachwandel, 1990, S. 83ff.
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ben erweisen, entscheiden nicht sie, sondern nur diejenigen, die diese Neuerungen in ihren Sprachgebrauch aufnehmen. Das Denkbild von der ordnenden Macht der unsichtbaren Hand in der Sprache macht sehr schön darauf aufmerksam, dass evolutionär gewachsene Systeme wie die Sprache hinsichtlich ihrer Ordnungsstrukturen und ihren Veränderungsmöglichkeiten sehr schwer zu beschreiben sind. Individuen sind sowohl Schöpfer wie Geschöpfe dieser Systeme. Wenn es keine Humpty Dumptys gäbe, dann erstarrten solche Systeme, wenn diese aber ohne kognitive und kommunikative Not nach Belieben in Sprachsysteme eingreifen könnten, dann ergäben sich verheerende soziale Wirkungen. In homöopathischen Dosen tragen aber die Aktivitäten von Humpty Dumptys sicher zu dem notwendigen Aufbau eines Fließgleichgewichts in den Sprachen bei. In gewisser Weise erfüllt Humpty Dumpty auch die Funktion eines Hofnarrens an Fürstenhöfen. Er wird irgendwie als Verrückter wahrgenommen, aber er hat eben deshalb auch die Chance, Wahrheiten auszusprechen, die den so genannten Normalen gar nicht erkennbar sind oder die sie nicht thematisieren dürfen. Deshalb kann der Hofnarr dann auch indirekt dazu beitragen, dass Systemordnungen nicht ganz erstarren, sondern sich partiell ändern. Die Fiktion, dass der Hofharr verrückt sei, hebt sich dementsprechend dann auch letztlich selbst auf bzw. wird zu einer fruchtbaren Fiktion.
4. Das Konzept des Ungeburtstages Dadurch, dass der Logiker Lewis Carroll seinen Humpty Dumpty über ein Geschenk reden lässt, das er zum „ Ungeburtstag' bekommen hat, macht er uns recht unauffällig auf ein zentrales Problem der Logik und Sprachtheorie aufmerksam, nämlich auf das Problem der negativen Begriffsbildungen. Als Alice darauf etwas verständnislos reagiert und betont, dass ihr selbst Geburtstagsgeschenke am liebsten seien, nimmt er die Gelegenheit wahr, sie darauf aufmerksam zu machen, dass es pragmatisch viel günstiger sei, Geschenke zum Ungeburtstag zu bekommen als zum Geburtstag, da es viel mehr Ungeburtstage als Geburtstage gebe. Diese Episode wirkt auf den ersten Blick etwas harmlos und verschroben, zumal sie noch dadurch ironisch akzentuiert wird, dass Humpty Dumpty Schwierigkeiten hat oder vortäuscht, die schriftlich fixierte Rechnung über die Anzahl der Ungeburtstage nachzuvollziehen, weil er das Notizbuch mit der Rechnung verkehrt herum hält. Man sollte sich durch die Skurrilität dieser Episode aber nicht darüber hinweg täuschen lassen, dass hier ein veritables sprachlogisches und sprachtheoretisches Problem angesprochen wird. Dieses kann man allerdings nur dann zureichend erfassen, wenn man sich ein paar grundsätzliche theoretische und praktische Aspekte der Negationsproblematik vergegenwärtigt und dabei
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seinen Blick auch auf die vielfältigen sprachlichen Erscheinungsformen der Negation richtet.
Die Negationsproblematik Grundsätzlich ist zunächst einmal festzuhalten, dass das Phänomen Negation nicht auf der Ebene des Seins, sondern auf der Ebene des Denkens über das Sein anzusiedeln ist. Deswegen ist die Negation primär auch nicht als sachthematisches, sondern vielmehr als reflexionsthematisches Problem zu analysieren. Wenn in der Sprache Negationsmittel verwendet werden bzw. wenn Negationshandlungen durchgeführt werden, dann haben wir prinzipiell den Umstand zu berücksichtigen, dass es dabei keineswegs nur darum geht, einen vorgegebenen Sachverhalt sprachlich zu objektivieren, sondern auch immer darum zu verdeutlichen, in welcher Denkperspektive man den jeweiligen Sachverhalt für sich und andere präsent machen will. 23 Zwar ist es immer wieder versucht worden, das Negationsproblem auf der Sachebene zu verankern und mit Oppositionsrelationen im Sein in Verbindung zu bringen (Leben Tod, gut - schlecht), aber das hat immer wieder in eine Sackgasse geführt. Dabei musste nämlich notwendigerweise auch immer geklärt werden, hinsichtlich welcher Aspekte man bestimmte Phänomene als Negationen von anderen Phänomenen betrachten sollte, was einen dann wieder zwangsläufig auf die Ebene des Denkens über das Sein zurückführte. Auch die Hypothese, dass es so etwas wie negative Tatsachen geben könnte, die dann durch negierte Aussagen repräsentierbar wären (Es gibt keine Elfen. Der Hund ist nicht groß.) hat nicht sehr weit gefuhrt. In diesem Fall wäre man nämlich gezwungen, die Menge des Existenten auf eine Weise auszuweiten, die ganz sinnlos wäre. Deshalb hat ein Logiker auch einmal bissig bemerkt, dass man im Rahmen der Vorstellung von negativen Tatsachen auch annehmen müsste, dass die Welt voll von Nicht-Elefanten wäre. Seit Aristoteles besteht deshalb eine recht große Einigkeit im Hinblick darauf, dass die Negation nicht der Ebene des Seins zuzuordnen ist, sondern vielmehr der Ebene des Urteilens und Denkens über das Sein. Eine solche Zuordnung löst aber die mit Negationen verbundenen Probleme noch nicht, sondern gibt nur einen Hinweis, in welchem Rahmen und nach welchen Gesichtspunkten man sich mit ihnen beschäftigen sollte. Außerdem macht sie verständlich, dass das Phänomen der Negation auch als eine kognitive bzw. sprachliche Universalie angesehen werden kann, ohne die menschliche Denk- und Mitteilungsprozesse kaum vorstellbar sind. Die Frage ist nur, in welchen konkreten Formen sich diese pragmatische Universalie sprachlich manifestieren kann und welche pragmatischen Funktionen mit den 23
Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 540ff.
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jeweiligen Negationsmitteln verbunden sind. Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich dann entscheiden, ob es sinnvoll ist, das Wort und den Begriff Ungeburtstag einzuführen. Sprachgenetisch betrachtet ist es sinnvoll, Negationen mit Wittgenstein aus einer abweisenden Gebärde abzuleiten und als eine sprachliche Abwehrgeste zu qualifizieren.24 Von hier aus wird dann auch verständlich, warum wir Negationen gerne mit dem Entweder-Oder-Prinzip bzw. mit dem Binaritätsprinzip in Verbindung zu bringen versuchen. Ebenso wie man eine Handlung ausfuhrt oder nicht ausfuhrt, so scheint es auch nahe zu liegen, in einer Aussage einen Sachverhalt zu bestätigen oder zu negieren. Für Zwischenformen scheint es bei der sprachlichen Objektivierung von Sachverhalten keinen Raum zu geben. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang dann allerdings, dass wir aus sprachökonomischen Gründen in der Regel darauf verzichten, die Bestätigung einer Aussage durch ein besonderes Affirmationssignal zu markieren. Nur die Abweisung des Geltungsanspruchs einer Information oder einer Aussage pflegen wir durch spezifische Negationsmittel zu kennzeichnen. Das Verständnis von Negationen im Rahmen des Binaritätsprinzips von ja und nein fuhrt leicht zu der Auffassung, sprachliche Negationsmittel im Sinne von mathematischen Minuszeichen zu verstehen. Diese abstraktive Vereinfachung des Verständnisses von Negationen, bei der durch die Verwendung von Negationsmitteln ein bestimmter Vorstellungsinhalt im Denkprozess gleichsam geistig durchgestrichen wird, ist sicher nicht ganz falsch. Sie ist aber insofern etwas problematisch, weil wir bei Negationen auch damit rechnen müssen, dass mit Negationszeichen der Geltungsanspruch von Vorstellungen möglicherweise nur abgeschwächt oder relativiert werden soll. Das bedeutet, dass wir bei Negationen auch mit unterschiedlichen Graden der Intensität von Negationen zu rechnen haben. Sehr wichtig für die pragmatische Qualifizierung von Negationen ist auch die Festlegung des Bezugsbereiches der jeweiligen Negationshandlung. Negationsmittel können sich als Satznegationen auf den Geltungsanspruch einer ganzen Aussage beziehen (nicht, nie, niemals) oder als Sondernegationen auf den Geltungsanspruch eines bestimmten Satzteiles bzw. einer Einzelvorstellung (kein). Sehr viel unübersichtlicher wird die Lage, wenn man auch diejenigen Negationsmittel in seine Überlegungen einbezieht, die sich nicht nur auf die Abweisung oder die Modifikation des Geltungsanspruchs von Vorstellungen beziehen, sondern auch auf die von Sprechakten. Dann müssen nämlich auch Konjunktivformen bzw. ironische und metaphorische Redeweisen zu den Negationsmitteln gerechnet werden.
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Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1967, S. 179 § 547, S. 180 § 550.
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Negationen in der Wort- und Begriffsbildung Auf einen besonderen Aspekt der Negationsproblematik stoßen wir, wenn wir das Negationsphänomen nicht auf der Ebene des Sprachgebrauchs bei der Bildung von Aussagen betrachten, sondern auf der Ebene der Bildung von Begriffen und Wörtern. Einerseits treffen wir hier auf die so genannten Privativa, also auf Wörter, die Begriffe bezeichnen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie die Abwesenheit von etwas Vorstellbarem oder Erwartbarem thematisieren (Loch, leer, fehlen). Andererseits treffen wir auf Wörter, die mit Hilfe von unselbstständigen Negationsmorphemen spezifische Begriffsbildungen sprachlich objektivieren (Unfreiheit, Disharmonie, arbeitslos, keimfrei, entfesseln). Bei den so gebildeten Begriffsmustern stellt sich dann die Frage, ob sie als Ordnungseinheiten verstanden werden können, die auf leicht abgrenzbare und inhaltlich gut beschreibbare Erfahrungstatbestände in der Welt bezogen werden können, oder ob sie eher als sprachliche Ordnungseinheiten zu werten sind, die nur die Abwesenheit oder die Nichtgegebenheit von empirisch erfahrbaren Phänomenen thematisieren. Von einem Begriff erwarten wir in der Regel, dass mit ihm Erfahrungstatbestände zusammengefasst werden, die positiv zu beschreibende Ähnlichkeiten zueinander aufweisen. Wir erwarten nicht, dass mit ihm ganz heterogene Phänomene zu einer Menge zusammengefasst werden, die nur gemeinsam haben, dass ihnen bestimmte Merkmale oder Eigenschaften nicht zukommen. Bei einer solchen Begriffsbildung wären nämlich die Einzelphänomene, die unter den jeweiligen Begriff fallen, so unterschiedlich, dass man sich fragen kann, welche ontologische Erkenntnisfunktion ein solcher Begriff überhaupt hätte bzw. welche ontische Korrespondenz ihm eigentlich zuzuschreiben sei. Welche Phänomene dem Begriff oder der Klasse der Äpfel bzw. der Elefanten zuzuordnen sind, ist relativ klar. Welche Phänomene aber der Klasse der Nicht-Äpfel und der Nicht-Elefanten zuzuordnen sind, ist dagegen nicht offensichtlich, es sei denn, wir verstehen solche Klassen als völlig unspezifische globale Restmengen, die nur eine einzige positiv beschreibbare Menge von Phänomenen ausschließen. Eine etwas andere Lage ergibt sich allerdings dann, wenn wir die Funktion von unselbstständigen Negationsmorphemen bei der Wortbildung näher ins Auge fassen, weil diese einen wichtigen Beitrag zur Bildung von Begriffen bzw. Denkmustern leisten. In ontologischer und pragmatischer Hinsicht haben wir eine starke Neigung, Begriffspaare zu bilden, die oppositiv und damit negierend aufeinander bezogen sind (Liebe - Hass, sprechen - schweigen, voll - leer). Deshalb ist es auch sprachökonomisch verständlich, dass wir Negationsmorpheme benutzen, um Antonyme herzustellen (Glück - Unglück, dicht - undicht). Wenn sich die so gebildeten Wörter aber einmal eingebürgert haben, dann nehmen wir sie kaum noch als Ableitungen wahr. Sie werden für uns zu eigenständigen
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sprachlichen Zeichen, bei denen Signifikant und Signifikat in einer eigenständigen konventionellen Zuordnung zueinander stehen und bei denen sich die Signifikate auch durchaus nach konkret benennbaren semantischen Merkmalen beschreiben lassen. Jedenfalls ist es wohl nicht schwerer, Eigenschaftsmerkmale für solche Erfahrungsphänomene zu benennen, die wir unter den Begriffsmustern Unglück oder undicht zusammenfassen, als für die, die wir unter den Begriffsmustern Glück und dicht subsumieren. Wie sieht es nun aber mit der Wort- bzw. Begriffsbildung Ungeburtstag aus? Können wir diese Begriffsbildung als sinnvollen Oppositionsbegriff zu dem Denkmuster Geburtstag verstehen? Können wir den Begriff Ungeburtstag genauso schwer oder leicht hinsichtlich seiner semantischen Merkmale beschreiben, wie den Begriff Geburtstag? Gibt es ontologisch und pragmatisch sinnvolle Motive, neben dem Begriff Geburtstag auch den Begriff Ungeburtstag in die Welt zu setzen? Was haben die Tage gemeinsam, die unter dem neuen Begriff zusammengefasst werden sollen? Für diejenigen Tage, die unter dem Begriff Geburtstag subsumiert werden können, lassen sich einige griffige Kriterien nennen, die allerdings auf recht unterschiedlichen Ebenen liegen: Tag, an dem ein bestimmtes Lebewesen geboren ist; Tag, an dem es Geschenke gibt; Tag, an dem gefeiert wird; Tag, über den das Lebensalter quantifiziert werden kann usw. Eine ähnliche inhaltliche Qualifizierung lässt sich für den Begriff Ungeburtstag kaum leisten. Er lässt sich im Hinblick auf das ihm zugrunde liegende Wortbildungsverfahren in einem ganz formalen Sinne nur negativ qualifizieren, insofern unter ihn alle Tage zusammengefasst werden können, die nicht als Geburtstage qualifizierbar sind. Eine solche rein formale Begriffsbildung ist nun allerdings pragmatisch gesehen nicht sehr sinnvoll und wird sich deshalb im allgemeinen Sprachgebrauch auch schwerlich durchsetzen können. Dieser Sachverhalt ist natürlich auch dem Logiker Carroll nachvollziehbar. Deshalb macht er auch sofort auf einen Gesichtspunkt aufmerksam, der geeignet sein könnte, die neue Wort- und Begriffsbildung zu legitimieren. Wenn Ungeburtstage dadurch zu identifizieren wären, dass man an ihnen einen bestimmten Typ von Geschenken bekäme, dann wäre es natürlich pragmatisch irgendwie sinnvoll, Ungeburtstage begrifflich von Geburtstagen zu unterscheiden. Eine solche gesellschaftliche Konvention ist zwar aus gut nachvollziehbaren Gründen wenig wahrscheinlich, aber sie wäre prinzipiell denkbar. Geburtstage und Ungeburtstage würden in diesem Fall zu inhaltlich abgrenzbaren Oppositionsbegriffen werden. Im Gegensatz zu dem Konstruktivisten Humpty Dumpty denkt Alice in dieser Frage aber sehr realistisch und stellt schlicht fest, dass ihr Geburtstagsgeschenke am liebsten seien. Gegen die mögliche Institution von Ungeburtstagsgeschenken hat sie von vornherein ein gesundes Misstrauen. Humpty Dumptys Begriffskonstruktion ist logisch gesehen zwar vertretbar, aber praktisch gesehen nur in Wolkenkuckucksheim verwendbar. Durch seine abenteu-
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erliche Begriffsbildung zwingt uns Humpty Dumpty allerdings dazu, uns Rechenschaft über die Funktionen von negierenden Affixen bei der Wortbildung abzulegen. Durch die Spekulationen von Humpty Dumpty werden wir narrativ indirekt darauf aufmerksam gemacht, dass Negationsmittel primär dazu dienen, Negationshandlungen zu signalisieren und dass infolgedessen ihr genuiner Verwendungsort der Bereich von Aussagen bzw. der Bereich von Sprachhandlungen ist. Wir brauchen Negationsmittel, um sinnvoll kommunizieren zu können bzw. um solche Informationen sprachlich zu objektivieren, die bestehende Informationsunsicherheiten aufheben oder vermindern. Auf Negationshandlungen kann im praktischen Sprachgebrauch nicht verzichtet werden und deshalb gehören Negationsmittel auch zu den unabdingbaren sprachlichen Universalien. Mit Negierungen reagieren wir auf spezifische Vorerwartungen. Mit ihrer Hilfe wollen wir etwas ausschließen, was im Prinzip denkbar oder situativ wahrscheinlich ist, was aber in der aktuellen Situation faktisch nicht gegeben ist oder keine Rolle spielen soll. Wenn man Negationsmorpheme als sprachliche Instruktionssignale für Aufhebungs- oder Abschwächungshandlungen ansieht, dann wird es natürlich problematisch, Negationsmorpheme im gleichen Sinne bei der Wort- und Begriffsbildung einzusetzen. Hier geht es j a primär nicht darum, denkbare Sachverhaltsvorstellungen auszuschließen, sondern vielmehr darum, Erfahrungen und Vorstellungen nach Mustern zu ordnen bzw. zu typisieren. Die Verwendung von Negationsmorphemen ist bei der Wortbildung nur dann sinnvoll, wenn diese als heuristische Mittel verwendet werden, um über Ausschlussverfahren Oppositionsbegriffe zu bilden, die sich letztlich aber auch nach positiven Merkmalen bestimmen lassen müssten, um im Lexikon einer Sprache einen dauerhaften Platz bekommen zu können. Die Chancen stehen dafür bei Wort- und Begriffsbildungen wie Unglück, Unfreiheit und Ungerechtigkeit sehr gut, aber bei Wortbildungen wie Ungeburtstag, oder Nichtelefant sehr schlecht, weil die entsprechenden Begriffsbildungen keine pragmatisch sinnvollen kognitiven und kommunikativen Denkmuster repräsentieren.
Negationspronomen In einem anderen Kapitel seines Buches lässt es sich Carroll nicht nehmen, Alice und auch seine Leser noch einmal mit der Negationsproblematik zu konfrontieren, und zwar diesmal am Beispiel der Negationspronomen. Hier fordert der Weiße König Alice auf, die Straße hinunterzublicken, um für ihn festzustellen, ob sie einen der von ihm ausgesandten zwei Läufer sieht:
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„Auf der Straße sehe ich niemand", sagte Alice. „Ach, wer solche Augen hätte!" bemerkte der König wehmütig, „mit denen man selbst Niemand sehen kann! Noch dazu auf diese Entfernung! Und ich muss schon froh sein, wenn ich in diesem Licht noch die wirklichen Leute sehen kann!" 25
Wo liegen in diesem Fall die Ursachen für die kognitiven und kommunikativen Turbulenzen? Auf welche Aspekte der Negationsproblematik will uns hier Carroll aufmerksam machen. Negationspronomen wie niemand, keiner oder nichts sind morphologisch aus negierten Indefinitpronomen hervorgegangen (niemand = nicht jemand, keiner = nicht einer, nichts = nicht etwas). Indefinitpronomen sind dadurch charakterisiert, dass sie ganz ähnlich wie Personalpronomen die syntaktische Rolle von Subjekten und Objekten übernehmen können. Während nun aber Personalpronomen als syntaktische Platzhalter verstanden werden können, die sich inhaltlich durch Vorstellungsgrößen auffüllen lassen, die vorab schon einmal genannt worden sind, fungieren Indefinitpronomen als Platzhalter für sehr allgemeine Typusvorstellungen von etwas, das quantitativ oder qualitativ nicht genau spezifiziert werden kann (Jemand kommt. Einer spricht. Etwas wird verschwiegen.). Deshalb sind Indefinitpronomen auch als Umrisswörter bezeichnet worden, da sie gleichsam als Leerformen für inhaltlich noch unspezifizierte Inhaltsgrößen verwendbar sind. Wenn man nun solche Umrisswörter noch zusätzlich negiert, dann werden die mit ihnen verbindbaren Inhaltsvorstellungen noch vager als sie ohnehin sind (Niemand kommt. Ich sehe nichts.). Durch sie können dann leicht kommunikative Turbulenzen ausgelöst werden, wenn die Beteiligten unterschiedliche Informationserwartungen mit ihnen verbinden. Alice verwendet das Negationspronomen niemand in der üblichen Weise so, dass sie damit eine Informationserwartung des Königs negiert (Ich sehe Niemand. = Ich sehe nicht einen Läufer.) Der König reagiert aber auf ihre Antwort so, als ob mit dem Negationspronomen eine konkrete Person wie mit einem Pronomen oder gar Eigennamen benannt worden wäre. Indem er unsere Konventionen für den Gebrauch von Negationspronomen außer Kraft setzt, macht er uns aber eben auf diese Konventionen aufmerksam. Warum benötigen wir nun Negationspronomen in der Sprache, obwohl sie weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Referenz in der erfahrbaren Realität haben? Warum sind Negationspronomen ebenso wie Indefinitpronomen aus grammatischen und pragmatischen Gründen im Sprachgebrauch unverzichtbare sprachliche Mittel? Im Rahmen unserer syntaktischen Ordnungsstrukturen sind wir gezwungen, Subjekt- und Objektrollen zu besetzen. Wenn wir nun aber auf Grund der jeweiligen Wissens- und Sprechsituation nicht in der Lage sind, die syntaktischen Funktionsrollen mit Wörtern zu besetzen, die
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L. Carroll, Alice hinter den Spiegeln, Kap. 7, 1980", S. 96.
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uns konkrete inhaltliche Vorstellungen ermöglichen, dann müssen wir sie mit Wörtern besetzen, die uns wie die Indefinitpronomen zumindest signalisieren, welcher Typ von Vorstellungen für die inhaltliche Füllung der jeweiligen Funktionsrolle in Frage kommt (Jemand klopft. Sie trinkt etwas.). Wenn nun Negationspronomen benutzt werden, um die Funktionsplätze von Subjekten und Objekten zu besetzen (Niemand klopft. Sie trinkt nichts.), dann ist die jeweilige Aussage nicht dazu bestimmt, einen konkreten aber inhaltlich noch nicht klar überschaubaren Sachverhalt zu objektivieren, sondern vielmehr nur dazu, einen noch unspezifizierten Sachverhalt, welcher vom Sprecher für denkbar gehalten wird, welcher aber faktisch nicht gegeben ist. Durch Aussagen mit Negationspronomen wird nicht auf eine gegebene, aber noch unvollständig erfasste Realität Bezug genommen, sondern auf eine rein hypothetische Realität, die allerdings prinzipiell im Kontext der jeweiligen Situation vorstellbar wäre. Wenn Alice sagt, dass sie auf der Straße niemand sehe, dann reagiert sie mit dieser Aussage pragmatisch sinnvoll auf die Erwartung des Königs, dass auf der Straße eventuell ein zurückkommender Läufer gesehen werden könnte. Die kommunikativen Turbulenzen zwischen Alice und dem König entstehen dadurch, dass der König aus der sachthematischen Kommunikation herausspringt, in dem der Sprachgebrauch immer auf die Informationserwartungen in der jeweiligen Situation abgestimmt ist, und eine reflexionsthematische Kommunikation beginnt, in der auch die Kommunikationsmittel der sachthematischen Kommunikation zum Gesprächsgegenstand werden. Der König beginnt gleichsam einen metasprachlichen Diskurs in einer Situation, die eigentlich eine ganz andere pragmatische Grundorientierung hat. Er richtet sein Interesse nicht mehr auf die Klärung von Informationsunsicherheiten in der gegebenen Situation, sondern auf die Struktur der Sprachmittel, mit denen in dieser Situation Informationen ausgetauscht werden. Kommunikationstheoretisch gesehen verhält er sich in dieser Situation weder sachgerecht noch kooperativ. Sprachtheoretisch gesehen verhält er sich aber aufklärerisch. Solche metareflexiven Sprünge im normalen Sprachgebrauch sind nun allerdings nicht nur sprachliche Verfahren, um irritierende oder belustigende Vexierspiele zu betreiben, sondern können darüber hinaus auch die Fähigkeit dokumentieren, vorausschauend auf kommende Kommunikationssituationen Einfluss zu nehmen. Als beispielsweise Polyphem Odysseus fragt, wie er denn heiße, antwortet dieser vorsorglich mit dem Wort bzw. dem Namen Niemand. Als dann Polyphem nach seiner Blendung fürchterlich schreit und seine Genossen ihn fragen, wer ihm Schmerz zugefügt habe, antwortet er naiv mit dem Wort: Niemand. Da die anderen Zyklopen dieses Wort naturgemäß als Negationspronomen und nicht als Eigennamen verstehen, geht die Rechnung von Odysseus auf. Polyphem wird von seinen Genossen für geistig verwirrt gehalten.
XI Die Krankheit des Vergessens Ein seltsames Ereignis in Macondo Eines Abends, in der Zeit, als Rebeca vom Laster des Erdessens genas, wachte die Indiofrau, die bei ihnen schlief, zufällig auf und hörte ein seltsames, unregelmäßiges Geräusch im Winkel. Bestürzt richtete sie sich auf im Glauben, ein Tier sei ins Zimmer gedrungen, und nun sah sie Rebeca in ihrem Schaukelstuhl, fingerlutschend und mit leuchtenden Augen wie Katzenaugen im Dunkeln. Von Entsetzen gepackt, gepeinigt vom Verhängnis ihres Schicksals, erkannte Visitaciön in diesen Augen die Anzeichen der Krankheit, deren Bedrohung sie und ihren Bruder gezwungen hatte, sich für immer aus einem tausendjährigen Reich zu verbannen, in dem sie Fürsten gewesen waren. Es war die Pest der Schlaflosigkeit. ... Niemand begriff Visitacions Bestürzung. „ Wenn wir nicht mehr schlafen, um so besser", sagte Jose Arcadio Buendia gut gelaunt. „Auf diese Weise wird uns das Leben mehr geben. " Doch die Indiofrau erklärte ihnen, das schlimmste an der Schlaflosigkeitskrankheit sei nicht die Unmöglichkeit, zu schlafen, denn der Körper fühle kein Schlafbedürfnis, sondern die Tatsache, daß sie unweigerlich zu einer weit kritischeren Ausdrucksform führe: zum Vergessen. Mit anderen Worten: sobald der Kranke sich an den Zustand des Wachens gewöhnt habe, begännen seine Kindheitserinnerungen zu verblassen, bald darauf vergesse er seinen Namen und die Bezeichnungen der Dinge, zu guter Letzt den Namen der Menschen und sogar das Bewußtsein des eigenen Ich, bis er einer Art von vergangenheitslosem Stumpfsinn verfalle. Jose Arcadio Buendia lachte sich halbtot undfand, hier handle es sich um eine der zahllosen, vom Eingeborenenaberglauben erfundenen Gebrechen. Ursula jedenfalls war vorsichtig genug, Rebeca von den anderen Kindern abzusondern. Nach Ablauf mehrer Wochen, als Visitacions Schrecken abgeebbt zu sein schien, ertappte Jose Arcadio Buendia sich eines Nachts dabei, wie er sich schlaflos im Bett wälzte. Ursula, die gleichfalls erwacht war, fragte, was er habe, und er antwortete: „Ich denke wieder an Prudencio Aguilar". Zwar taten sie kein Auge mehr zu, fühlten sich jedoch am nächsten Tag so ausgeruht, daß sie die böse Nacht vergaßen. Verwundert erwähnte Aureliano beim Mittagessen, er fühle sich so wohl, obgleich er die ganze Nacht im Laboratorium mit dem Vergolden einer Brosche zugebracht habe, die er Ursula an ihrem
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Geburtstag zu schenken gedenke. Erst am dritten Tag, als sie beim Schlafengehen keine Müdigkeit spürten, beunruhigten sie sich und machten sich klar, daß sie seit fünfzig Stunden kein Auge geschlossen hatten. „Auch die Kinder sind wach", sagte die Indiofrau mit ihrer schicksalsergebenen Überzeugung. „ Wer einmal das Haus betritt, entgeht nicht der Pest. " In der Tat hatten sie die Schlaflosigkeitskrankheit bekommen. Ursula, die von ihrer Mutter den Arzneiwert der Pflanzen erlernt hatte, mischte ein Gebräu aus Eisenhut, das alle trinken mußten, doch niemand konnte schlafen, sondern jeder verbrachte den ganzen Tag traumwachend. In diesem Zustand sinnvernebelter Hellsicht sahen sie nicht nur die Bilder der eigenen Träume, sondern die einen sahen auch die Traumbilder der anderen. ... Mittlerweile wurden die hausgemachten Karameltierchen auf Grund eines Versehens, das Jose Arcadio Buendia sich nie verzieh, nach wie vor im Dorf verkauft. Entzückt lutschten Kinder und Erwachsene die köstlichen, schlaflosgrünen Hähnchen, die erlesenen schlaflosrosaroten Fische und die zarten schlaflosgelben Pferdchen, mit dem Erfolg, daß der anbrechende Montag das ganze Dorf in wachem Zustand überraschte. Zunächst erschrak kein Mensch. Im Gegenteil, man freute sich darüber, nicht geschlafen zu haben, da es zu jener Zeit in Macondo so viel zu tun gab, daß die Zeit kaum ausreichte. Man arbeitete so fleißig, daß bald nichts mehr zu tun war, und ertappte sich um drei Uhr in der Frühe mit verschränkten Armen und zählte die Anzahl der Noten, die der Uhrenwalzer hatte. Wer schlafen wollte, nicht etwa aus Müdigkeit, sondern aus Sehnsucht nach den Träumen, nahm seine Zuflucht zu allen Arten der Erschöpfung. Man setzte sich zu endlosen Unterhaltungen zusammen, man wiederholte Stunden um Stunden dieselben Witze, man dehnte die Geschichte vom Kapaunhahn bis zu den Grenzen der Verzweiflung aus ... Als Jose Arcadio Buendia bewußt wurde, daß die Pest ins Dorf eingedrungen war, berief er die Familienvorstände, um ihnen zu erklären, was er von der Schlaflosigkeitskrankheit wußte, und man besprach Maßnahmen, um zu verhindern, daß die Plage auf andere Siedlungen des Moors übergriff. So nahm man denn den Ziegenböcken die kleinen Schellen ab, welche die Araber gegen die Papageien geliefert hatte, und stellte sie am Dorfeingang denjenigen zur Verfügung, welche die Ratschläge und Bitten der Wachtposten in den Wind schlugen und darauf bestanden, das Dorf zu besuchen. Jeder Fremde, der zu jener Zeit Macondos Gassen durchwanderte, mußte seine Schelle erklingen lassen, damit die Kranken wußten, daß er gesund war. Während seines Aufenthalts durfte er weder essen noch trinken, da kein Zweifel darüber bestand, daß die Krankheit sich nur durch den Mund übertrug und daß alles Eß- und Trinkbare von der Schlaflosigkeit angesteckt war. Auf diese Weise wurde die Plage auf den Umkreis des Dorfes beschränkt. Die Quarantäne war wirksam, so wirksam, daß der Tag kam, an dem der Notstand als etwas Natürliches galt und das Leben sich so einrenkte, daß die Arbeit ihren Rhythmus wiederfand und niemand mehr der überflüssigen Gewohnheit des Schlafens nachtrauerte.
Ein seltsames Ereignis in Macondo
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Aureliane ersann als erster die Formel, welche die Einwohner mehrere Monate hindurch gegen den Gedächtnisschwund verteidigen sollte. Er entdeckte sie zufällig. Da er als einer der ersten von dem Leiden heimgesucht worden war, hatte er als erfahrener Schlafloser die Silberschmiedekunst bis zur Vollkommenheit erlernt. Eines Tages suchte er das kleine Eisending, das er zum Auswalzen des Metalls verwendete, und besann sich nicht mehr auf dessen Namen. Sein Vater nannte ihn ihm: „Amboß". Aurelio schrieb den Namen auf einen Zettel und klebte ihn an den Fuß des kleinen Eisendings: Amboß'. So war er gewiß, ihn zukünftig nicht wieder zu vergessen. Dabei fiel ihm nicht auf, daß dies der erste Ausdruck des Vergessens war, weil der Gegenstand einen schwer zu behaltenden Namen besaß. Doch wenige Tage darauf entdeckte er, daß es ihm schwerfiel, sich an nahezu alle Dinge des Laboratoriums zu erinnern. Dann bezeichnete er sie mit dem entsprechenden Namen, so daß er nur die Beschriftung zu lesen brauchte, um sie benennen zu können. Als sein Vater ihm seine Bestürzung darüber mitteilte, er habe sogar die eindrucksvollsten Begebenheiten seiner Kindheit vergessen, erklärte Aurelio ihm seine Methode, und Jose Arcadio Buendla wandte sie im ganzen Haus an und machte sie später für das ganze Dorf zur Pflicht. Mit einem tintenfeuchten Dorn beschriftete er jedes Ding mit seinem Namen: 'Tisch', 'Stuhl', 'Uhr', 'Tür', 'Wand', 'Bett', 'Topf. Er ging in den Pferch und zeichnete alle Tiere und Pflanzen: 'Kuh', 'Ziegenbock', 'Schwein', 'Huhn', 'Jukka', 'Malanga','Bananenbaum'. Nach und nach wurde ihm beim Studium der unendlichen Möglichkeiten des Vergessens bewußt, daß man die Dinge eines Tages zwar an ihren Inschriften erkannte, sich jedoch vielleicht nicht mehr an ihre Nützlichkeit erinnerte. Nun wurde er genauer. Das Schild, das er der Kuh um den Hals hing, wurde ein Vorbild für die Art und Weise, nach der Macondos Bewohner gegen das Vergessen anzukämpfen gewillt waren: 'Das ist die Kuh, die man jeden Morgen melken muß, damit sie Milch gibt, und die Milch muß man aufkochen, um sie mit Kaffee zu mischen und damit Milchkaffee zu machen'. So lebten sie in einer schlüpfrigen Wirklichkeit dahin, die sie vorübergehend mit dem Wort festhielten, die ihnen jedoch unrettbar entglitt, sobald sie den Wert des geschriebenen Buchstabens vergaßen. Am Eingang zum Moorweg hatte man ein Schild mit der Aufschrift GOTT EXISTIERT aufgestellt. Alle Häuser waren mit Schlüsselwörtern zum Memorieren der Gegenstände und Gefühle beschriftet. Doch das System erforderte so viel Wachsamkeit und so große moralische Stärke, daß viele dem Zauber einer eingebildeten, selbsterfundenen Wirklichkeit anheim fielen, die sie weniger praktisch als tröstlich anmutete. Pilar Ternera trug am meisten zur Verbreitung dieser Vernebelung bei, als sie den Kunstgriff ersann, die Vergangenheit in den Karten zu lesen, so wie sie daraus vorher die Zukunft gelesen hatte. Mit diesem Hilfsmittel begannen die Schlaflosen in einer von der unzuverlässigen Wahl der Kartenspiele erbauten Welt zu leben, in der man sich an den Vater nur wie an den dunkelhäutigen Mann erinnerte, der Anfang
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April gekommen war, in der man sich an die Mutter nur wie an die brünette Frau erinnerte, die einen goldenen Ring an der linken Hand trug, in der ein Geburtsdatum sich auf den letzten Dienstag beschränkte, an dem die Lerche im Lorbeerbaum gesungen hatte. Von diesen Praktiken der Tröstung vernichtet, beschloß Jose Arcadio Buendia, die Gedächtnismaschine zu bauen, die er sich einst gewünscht hatte, um sich an die wunderbaren Erfindungen der Zigeuner erinnern zu können. Die Zaubermaschine fußte auf der Möglichkeit, jeden Morgen die Gesamtheit der im Leben erworbenen Kenntnisse von Anfang bis zu Ende an sich vorbeiziehen zu lassen. Er sah den Apparat als ein drehbares Wörterbuch, das von der Achse aus mit einem Hebel zu bedienen war, so daß ein Mensch die lebensnotwendigsten Kenntnisse in wenigen Stunden Revue passieren lassen konnte. Er hatte etwa vierzehntausend Karten ausgefüllt, als auf dem Moorweg ein wunderlicher Greis mit dem trostlosen Glöckchen der Schläfer erschien, der einen strickverschnürten bauchigen Handkoffer schleppte und ein mit schwarzen Stoffetzen beladenes Kärrchen zog. Dieser begab sich unmittelbar zu Jose Arcadio Buendias Haus. Visitaciön kannte ihn beim Öffnen der Tür nicht und dachte, er wolle etwas verkaufen und wisse nur nicht, daß in einem Dorf das unrettbar im Zitterboden des Vergessens versank, nichts zu verkaufen sei. Der Mann war hinfällig. Wenn auch seine Stimme vor Unsicherheit zu splittern und seine Hände am Dasein der Dinge zu zweifeln schienen, kam er offensichtlich aus jener Welt, in der die Menschen noch schlafen und sich erinnern konnten. ... Er öffnete den mit unentzifferbaren Gegenständen vollgestopften Handkoffer und förderte dazwischen eine mit Fläschchen angefüllte Handtasche zutage. Er gab Jose Arcadio Buendia eine Substanz von einnehmender Farbe zu trinken, und es wurde Licht in seiner Erinnerung. Seine Augen wurde feucht von Tränen, bevor er sich selbst in einem widersinnigen Wohnzimmer sah, in dem die Gegenstände beschildert waren, bevor er sich über die an die Wände gepinselten feierlichen Torheiten schämen konnte, und sogar noch, bevor er den Neuankömmling im betörenden Widerschein der Freude erkennen konnte. Es war Melchiades.1
1
Gabriel Garcia Märquez: Hundert Jahre Einsamkeit, München 1987®, dtv 10249, S. 54-61.
Die Einbettung des Textes in den Roman
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1. Die Einbettung des Textes in den Roman In seinem Roman Hundert Jahre Einsamkeit schildert Märquez den Auszug des jungen Jose Arcadia Buendia aus seiner alten Heimat, um sich von alten Querelen zu befreien und um mit einigen seiner Altersgenossen einen neuen Anfang zu wagen. Fernab von der übrigen Welt gründen sie das Dorf Macondo, das dann mit Zustimmung aller auf recht patriarchalische Weise von Buendia geleitet wird. Macondo weist die typischen Merkmale eines utopischen Gemeinwesens auf. 2 Das Dorf ist eine geplante Gründung von Menschen, die ganz bewusst aus einer alten, problematischen Welt ausgewandert sind. Es ist geographisch nicht genau lokalisierbar; es gibt sich eine gesellschaftliche Organisation, die soziale Konflikte minimieren soll; es hat nur junge Bewohner, weshalb man sich zunächst nicht mit dem Problem des Todes auseinandersetzen muss; es schließt sich sehr deutlich nach außen ab. Nur einmal im Jahr schlagen Zigeuner unter der Anführung von Melchiades ihre Zelte in der Nähe des Dorfes auf und setzen die Dorfbewohner mit allerlei Dingen wie etwa Magneten, Fernrohren, Lupen und Chemikalien in höchstes Erstaunen. Diese für das faktische Dorfleben eigentlich ganz bedeutungslosen Dinge faszinieren Buendia so sehr, dass er sich immer mehr von der Aufgabe löst, dass Alltagsleben in Macondo zu organisieren, und sich immer mehr der Welt der Wissenschaft und der Alchemie zuwendet. Die im Prinzip harmonisch konzipierte Welt von Macondo wird neben diesen Einflüssen auch noch durch andere Merkwürdigkeiten beunruhigt. Die aus fürstlichem Geschlecht stammende Indiofrau Visitation und ihr Bruder kommen auf der Flucht vor der Schlaflosigkeitsplage in ihrem Stamm nach Macondo und verdingen sich als Haushaltshilfen im Hause Buendia. Das hat zur Folge, dass Buendias Kinder die indianische Sprache der beiden Flüchtlinge eher sprechen als das Spanische. Außerdem kommt das Waisenkind Rebeca in das Dorf, dem mit Schlägen abgewöhnt werden muss, Erde sowie von den Wänden abgekratzten Kalk zu essen. Diese Umstände verdeutlichen, dass die Pest der Schlaflosigkeit, die die Krankheit des Vergessens nach sich zieht, eigentlich nur als Zuspitzung eines latenten Konfliktes in Macondo anzusehen ist. Dieser besteht darin, dass der Kontakt der Dorfbewohner mit der Außenwelt, mit der eigenen Vergangenheit, mit der Welt des Wissens und mit den eigenen Nachbarn in vielfaltiger Weise eingeschränkt, wenn nicht gestört ist. Obwohl die Gründung von Macondo eigentlich auf einer neu konzipierten Solidarität beruhen soll, so drohen den Bewohnern des Dorfes dennoch vielfaltige Formen der Einsamkeit und Isolati2
Vgl. R.-M. Qual, Zu Gabriel Garcia Märquez: "Cien afios de soledad", Die Spiegelstadt als Utopie-Metapher - Versuch einer soziokulturellen Deutung 1989.
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on. Deshalb lohnt es sich auch, am Beispiel der vorgelegten Textausschnitte etwas genauer zu untersuchen, inwiefern die Schlaflosigkeit und das Vergessen von sprachlichen Formen und sprachlich vermittelten Vorstellungsinhalten zugleich auch Formen der Vereinzelung und der Vereinsamung darstellen. Über das Phänomen Sprache werden in diesem Text keine expliziten Aussagen gemacht, geschweige denn theoretische Urteile formuliert. Aber Märquez hat den ganzen Handlungszusammenhang doch so konzipiert, dass wir sehr nachdrücklich auf die kognitiven Funktionen der Sprache, auf die Erinnerungsfunktionen der Schrift und auf die sozialintegrativen Funktionen von Kommunikationsprozessen aufmerksam gemacht werden. Durch die Korrelation der Phänomene Schlaflosigkeit, Vergessen und Sprache werden wir auf Dimensionen und Aspekte der Sprache hingewiesen, die üblicherweise nicht in das Licht unserer direkten Aufmerksamkeit treten.
2. Die Pest der Schlaflosigkeit Die Pest der Schlaflosigkeit bricht nicht völlig unvermittelt in die Welt Macondos ein. Bezeichnenderweise tritt sie zuerst bei Rebeca auf, die ursprünglich nicht zur Dorfwelt gehört und die sich durch ihre Neigung zum Essen von Erde auch deutlich von dieser distanziert. Nachdem ihr diese Neigung mit Gewalt ausgetrieben worden war, wird sie von der Pest der Schlaflosigkeit befallen, die nur von den beiden Indios auf Grund ihrer persönlichen Erfahrung ernst genommen wird. Der Einbruch dieser Pest verdeutlicht, dass Macondo nicht der Ort des Asyls ist, den sich die Gründer und die Flüchtlinge ursprünglich von dem Dorf versprochen hatten. Auch Macondo gehört zu einer Welt, die latent immer gefährdet ist. Gerade dadurch, dass Buendia die Gefahr der Schlaflosigkeit herunterzuspielen versucht und in dem Verzicht auf Schlaf die Chance sieht, die Quantität von Erlebnissen gewaltig zu steigern, weil man ja nun nicht mehr so viel Zeit wie früher verschläft, wird verdeutlicht, wie unrealistisch man immer wieder in Macondo denkt. Nur die Indiofrau erkennt, dass die Pest der Schlaflosigkeit der Vorbote einer viel schlimmeren Krankheit ist und dass diese Pest nicht zur Bereicherung sondern über die mit ihr verbundene Krankheit des Vergessens zu einer Verarmung des Lebens fuhren wird. Diese Konsequenz der Schlaflosigkeit ist zumindest etwas überraschend, sie wird aber verständlich, wenn man sich etwas genauer mit den anthropologischen Funktionen des Schlafens beschäftigt bzw. mit den Beziehungen des Phänomens Schlaf zu den Phänomenen Leben, Wahrnehmung und Gedächtnis.
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Der Schlaf Vordergründig betrachtet liegt es nahe, den Schlaf als bloßes Ausfallphänomen zu verstehen, insofern in ihm unser Bewusstsein ausgeschaltet wird und damit zugleich auch unsere Fähigkeit zu bewussten Erlebnissen. Der Schlaf erscheint so als eine Negation des Wachzustandes, den wir als Normalzustand für unsere Vorstellung vom Menschen ansehen. Im Zustand des Schlafes erscheint es unmöglich, zielgerichtet wahrzunehmen, zu denken oder zu handeln. Deshalb hat man den Schlaf auch immer wieder als kleinen Bruder des Todes bezeichnet. Die Analogisierung von Schlaf und Tod legt uns eine Wahrnehmungsperspektive für das Phänomen Schlaf nahe, die zugleich problematisch und hilfreich ist. Problematisch ist dieser Zugang, insofern er uns suggeriert, den Schlaf nur negativ als Abwesenheit einer Normalsituation zu verstehen und nicht positiv als ein Phänomen mit eigenständigen Strukturen und Funktionen. Der Schlaf erscheint uns ganz ähnlich wie die Phänomene Loch oder Blindheit als ein Privativum, das sich nur im Rahmen der Vorstellung eines Verlustes charakterisieren lässt. Nun kann man diese Wahrnehmungsperspektive natürlich aufgeben und sich stattdessen darum bemühen, die Phänomene Schlaf und Tod nicht als Beraubungsphänomene zu verstehen, sondern vielmehr als konstitutive Voraussetzungen für das Phänomen Leben. Dadurch würden sich durch die Analogisierung von Schlaf und Tod natürlich ganz andere Denkperspektiven eröffnen. Voraussetzung für diesen Denkansatz ist allerdings, dass man bereit ist, seine Vorstellung für das Phänomen Leben nicht allein an die Existenz von Stoffwechselvorgängen zu binden, sondern darüber hinaus an vorbewusste und bewusste Ordnungsanstrengungen zur Bewältigung der Welt. Wenn man den Begriff des Lebens so versteht, dann wäre der Begriff des Todes eher als ein Sinngebungsrahmen als eine Negationsvorstellung zum Begriff des Lebens zu werten, insofern durch den Tod ja festgelegt wird, wie sich das Leben auf seinen verschiedenen Ebenen zu strukturieren hat bzw. strukturiert werden sollte. Deshalb ist in vielen religiösen und philosophischen Denkansätzen das Leben auch als ein Leben zum Tode bestimmt worden. So gesehen lässt sich dann der Tod als ein Grenzphänomen verstehen, das einerseits immanent dazu auffordert, das zu strukturieren, was durch ihn abgegrenzt wird, und dass andererseits darauf aufmerksam macht, dass Grenzen immer als Übergangsphänomene anzusehen sind, insofern ihre Überschreitung nicht zur Beseitigimg von Grenzen führt, sondern vor allem nur dazu, neue Grenzen in Erscheinung treten zu lassen bzw. neue Ordnungs- und Gestaltungsräume zu eröffnen. Wenn man in diesem Verstehensrahmen den Tod mit dem Schlaf analogisiert, dann kann man den Schlaf nicht mehr nur als ein Ausfallphänomen bzw.
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als ein Privativum verstehen, sondern muss ihn als eine grundlegende Bedingung für die Strukturierung von Erlebnissen oder gar Wissen betrachten. Unter einem Erlebnis ist dann allerdings mehr zu verstehen als die bloße mentale Registrierung eines Ereignisses. Vielmehr muss unter einem Erlebnis die intuitive oder bewusste Verarbeitung von Wahrnehmungen zu einer in sich konsistenten Sinngestalt verstanden werden. Dementsprechend ist dann der Schlaf auch nicht als eine Zeitspanne zu verstehen, in der die Möglichkeit zu Erlebnissen aufgehoben ist, sondern vielmehr als eine Zeitspanne, die dazu beiträgt, registrierte Ereignisse nachträglich zu Erlebnissen zu verarbeiten und neue Erwartungsperspektiven für die Wahrnehmung von Ereignissen vorzustrukturieren. Ähnlich wie die Wahrnehmung einer Figur einen Hintergrund braucht, um ihre konkrete Wahrnehmung als Gestalt zu ermöglichen, so brauchen auch Erlebnisprozesse den Schlaf als eine Art Vorbedingung für die lebensbezogene Strukturierung von Erlebnissen bzw. Sinngestalten. Diese Argumentation mag manchem vielleicht etwas überdehnt erscheinen. Für sie lassen sich aber physiologische und psychologische Überlegungen geltend machen, durch die der Schlaf als ein Phänomen von fundamentaler anthropologischer Relevanz gekennzeichnet werden kann, welches Märquez keineswegs zufällig mit dem Problem der Weltorientierung, des Vergessens und der Sprache verknüpft hat. Diesbezüglich lässt sich auf Folgendes aufmerksam machen. Alle Lebensvorgänge sind physiologisch durch Anspannungs- und Entspannungsphasen rhythmisiert. Daueranspannungen führen zu organischen Überlastungen, weil die Abfallprodukte von Stoffwechselvorgängen bzw. Aktivitäten nicht abgeführt werden können. Dauerreize auf Reizrezeptoren führen keineswegs zur Intensivierung von Reizwahrnehmungen, sondern im Gegenteil zu einer Blockade von Reizregistrierungen, weil die Wahrnehmung von Reizen eigentlich als Wahrnehmung von Reizwechseln organisiert ist. Eine Reizüberflutung blockiert außerdem die Informationsverarbeitung im Gehirn, weil in ihr Einzelreize ja Reizmustern zugeordnet werden müssen und weil diese Zuordnung Zeit benötigt bzw. eine Entlastung von unmittelbaren Handlungsentscheidungen. Umgekehrt bedingt natürlich auch eine Verarmung von Reizen eine Reduktion der Verarbeitungskapazitäten für Reize bzw. die Entstehung von Langeweile. Nun ist allerdings zu beachten, dass der überwiegende Teil unserer Reizregistrierung und Reizverarbeitung auf vorbewussten Stufen der Informationsverarbeitung erfolgt. Auch die Ausbildung von sprachlichen Denkmustern bzw. Begriffen in der natürlichen Sprache beruht weitgehend auf vorbewussten Strukturierungsprozessen, die sich wegen ihrer Vielschichtigkeit rational oft nur bruchstückhaft rekonstruieren lassen. Der Verweis auf das Sprachgefühl oder auf die unsichtbare Hand, durch die Sinnbildungsprozesse und Sprachmuster vorbewusst organisiert werden, ist deshalb gar nicht so abwegig, wie er
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auf den ersten Blick erscheinen mag. Die hier wirkenden Ordnungskräfte lassen sich in der Tat nur sinnbildlich beschreiben. Physiologisch gesehen sind Phasen verminderter Anspannung für jeden Organismus unabdingbar. Unbestritten ist auch, dass der Schlaf eine wichtige Funktion fur die Regeneration geistiger Kräfte bzw. für die Umstrukturierung von Denkinhalten und die Neuorientierung von Denkverfahren hat. Immer wieder treffen wir auf Bekenntnisse, dass sich nach einem langen Schlaf Verworrenes plötzlich geklärt hat oder das Problemlösungen gefunden worden sind, die zuvor gar nicht denkbar waren. Nicht von ungefähr wird in literarischen Werken der Schlaf bzw. die Ohnmacht immer wieder als Sinnbild genutzt, um indirekt darauf aufmerksam zu machen, dass Menschen überfordert waren bzw. nach dem Erwachen in eine neue Phase ihres Lebens eingetreten sind. Um auf die latente Kraft des Menschen zu nicht-intentionalen Sinnbildungs- bzw. Regenerationsprozessen aufmerksam zu machen, ist außerdem immer wieder auf das Phänomen des Traumes verwiesen worden. Insbesondere in religiösen Zusammenhängen haben Träume immer eine wichtige Rolle gespielt, da sie als Möglichkeiten zur Übermittlung göttlicher Botschaften verstanden wurden. Auch für die Tiefenpsychologie sind Träume wichtig geworden, insofern man sie als Phänomene verstand, in denen das Unbewusste in Erscheinung treten könne. All diesen Problemzusammenhängen kann hier aus verständlichen Gründen nicht nachgegangen werden. Aufmerksam kann aber auf diejenigen Aspekte von Träumen gemacht werden, die für die Problematik des Vergessens und der Sprache aufschlussreich sind.
Der Traum Seit Aristoteles hat man Träume so verstanden, dass in ihnen Überreste von Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen aus der Wachphase zur Erscheinung kommen.3 So gesehen haben Träume dann immer unmittelbar etwas mit der Gedächtnisproblematik zu tun, insofern in ihnen etwas fassbar wird, was im Wachzustand durch die Relevanzmuster der bewussten Aufmerksamkeit gefallen ist, was aber dennoch eine solche Wirkungsmacht hat, dass es sich in anderen Relationszusammenhängen wieder zur Geltung bringt. Diese Auffassung beinhaltet, dass sich auch im Traum Interpretationsaktivitäten des Menschen für die Bewältigung der Welt entfalten. Da diese nun aber nicht im Dienste der aktuellen pragmatischen Differenzierungs- und Strukturierungsinteressen stehen, vollzieht sich in ihnen die Verknüpfung von Einzelvorstellungen nach ganz anderen Kriterien als im Wachzustand.
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Vgl. R. Grötker, Traum, historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1998, Sp. 1461-1465.
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Erkenntnistheoretisch hat das Phänomen Traum immer ein besonderes Interesse auf sich gezogen, weil es die Frage auslöste, nach welchen Kriterien wir Realität und Traum überhaupt unterscheiden können. Es wurde sogar immer wieder in Betracht gezogen, dass all unsere Realitätsvorstellungen eigentlich den Charakter von Träumen hätten und dass sich ihr tatsächlicher Realitätsgehalt allenfalls abstufen lasse. Selbst unsere empirischen Sacherfahrungen müssten möglicherweise als Interpretationsprodukte angesehen werden, die man von einer höheren Betrachtungsebene aus als spezifisch strukturierte Träume qualifizieren könnte. Nietzsche hat die Traumproblematik sogar mit der Entstehungsgeschichte der Metaphysik in früheren Kulturen in Zusammenhang gebracht, insofern die Beschäftigung mit dieser Problematik das Interesse der Menschen für eine zweite Welt geweckt habe, die hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt stehe und diese irgendwie bedinge.4 Auffällig an dem Text von Märquez ist nun allerdings, dass in ihm nicht zum Problem gemacht wird, dass der Mangel an Schlaf auch zu einem Mangel an Träumen führt und dass das zielgerichtete und besitzergreifende Denken im Wachzustand nicht mehr durch ein lockeres assoziierendes und phantasierendes Denken im Traumzustand ergänzt werden kann. Es wird nur beklagt, dass das Leben nach dem Ausbruch der Schlaflosigkeit nun in einer merkwürdigen Mischung „traumwachend" in einem „Zustand sinnvernebelter Hellsicht" verbracht werde, in dem zwischen Traum und Wirklichkeit nicht recht unterschieden werden könne. Dieser merkwürdige Zustand, in dem die Differenz zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr metareflexiv mitbedacht werden muss, fuhrt dann nicht nur zu einem gestörten Realitätskontakt der Menschen, sondern auch zu ihrer Endindividualisierung. Das Leben der Menschen vollzieht sich in einem Traumzustand, in dem es keine klaren Konturen mehr gibt und in dem die eigenen Traumbilder nicht mehr von denen der anderen klar unterschieden werden können. Das hat zur Folge, dass die jeweiligen Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte ihre personalen Bezüge verlieren, was wiederum die Ausprägung individueller Weltvorstellungen und individueller Identität unmöglich macht. Da es keine Notwendigkeit und keine Möglichkeit gibt, zwischen Traum und Wirklichkeit klar zu unterscheiden, gibt es auch keinerlei Anreize zur Ausbildung individueller Sinngestalten bzw. zur Abgrenzung von Faktizität und Phantasie. Dieser neue Geisteszustand wird von den Menschen nun aber nicht als Befreiung von alten Denkpostulaten bzw. als eine Bereicherung empfunden, sondern eher als eine Form der Einsamkeit, weil dadurch die Voraussetzungen für eine dialogische Kommunikation bzw. für eine dialogische Existenzform aufgehoben worden sind. Dialogische Sprech- und Lebensformen sind nur dort möglich, wo es Differenzen gibt und wo man versucht, diese Differenzen miteinander zu vermitteln bzw. konstruktiv aufeinander zu beziehen. Unter den 4
F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Werke, Bd. 1, S. 450, 455.
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neuen Lebensumständen können die Menschen in Macondo weder einen Dialog mit anderen Menschen noch mit sich selbst bzw. mit ihren eigenen Hypothesen fuhren. Es gibt kein Bedürfnis mehr, unterschiedliches Denken miteinander zu vermitteln oder die sprachlichen Objektivierungs- und Kommunikationsformen metareflexiv auf ihre Funktionalität hin zu überprüfen. Wenn die Menschen traumwachend existieren, dann müssen sie das reale und das geträumte Leben weder voneinander abgrenzen noch aufeinander beziehen noch in ihrem Stellenwert qualifizieren.
Die Folgen der Schlaflosigkeit Während Buendia zunächst noch etwas naiv glaubt, dass die Schlaflosigkeit das tägliche Leben durch die Vermehrung von Erlebnissen intensivieren könne, macht die Indiofrau auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen unmissverständlich klar, dass die Schlaflosigkeit zu einer Verarmung des Lebens bis hin zum Stumpfsinn fuhren werde, da mit ihr Vergessensprozesse ganz unterschiedlicher Art verbunden seien. Eigentümlicherweise hebt sie nun aber hervor, dass die mit der Schlaflosigkeit verbundenen Vergessensprozesse nicht am Ende von individuellen Erlebnisketten ansetzen würden, sondern an deren Anfang, also bei den Erinnerungen an die Kindheit. Das erscheint zunächst insofern plausibel, als dadurch das Vergessen mit dem Fluss der Zeit in Verbindung gebracht wird. Was chronologisch weit entfernt liegt, das werde eher vergessen als das, was zuletzt erlebt worden ist. Nun zeigt allerdings die Erfahrung, dass die Vergessensprozesse im alltäglichen Leben meist eine ganz andere Struktur haben und das die Vergessensprozesse in Macondo tatsächlich pathologisch sind. Im realen Leben sind Kindheitserlebnisse gegenüber Vergessensprozessen sehr viel resistenter als nachfolgende Erlebnisse. Deshalb müssen Vergessensprozesse wohl eher mit entwicklungsgeschichtlichen als mit chronologischen Gesichtspunkten in Verbindung gebracht werden. Frühe Erfahrungen sind in der Regel fundamentale Erfahrungen. Die Erinnerungen an sie verblassen weniger leicht, weil spätere nicht nur an sie anknüpfen müssen, sondern auch durch sie vorstrukturiert werden. Deshalb ist es auch notwendig, sich noch etwas genauere Rechenschaft über die Struktur des menschlichen Gedächtnisses abzulegen, um die Effektivität der in Macondo getroffenen Maßnahmen gegen den Erinnerungsschwund adäquat beurteilen zu können. Als die Bewohner von Macondo erkannt haben, dass die Schlaflosigkeit nur Vorbote der sehr viel ernsteren Krankheit des Vergessens ist, treffen sie zunächst Quarantänemaßnahmen, um das Übergreifen der Krankheit auf andere Regionen zu verhindern. Dann entwickeln sie Strategien, um mit dem sich intensivierenden Gedächtnisschwund im täglichen Leben pragmatisch fertig zu werden. Inwieweit diese Maßnahmen Erfolg versprechend sind und ob der
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Rückgriff auf die Schrift die sich verstärkende Gedächtnisschwächung kompensieren kann, lässt sich erst dann realistisch abschätzen, wenn man den Korrelations- und Interaktionszusammenhang zwischen Gedächtnis, Erinnerung und Sprache genauer erfasst hat.
3. Die Struktur und die Funktion des Gedächtnisses Man wird wohl kaum daran zweifeln können, dass die Fähigkeit zur Speicherung und zur Abrufbarkeit erworbenen Wissens zu den Grundvoraussetzungen des menschlichen Lebens gehört und dass der Verlust des Gedächtnisses nicht nur zu einer Verminderung der menschlichen Vorstellungs- und Handlungsmöglichkeiten fuhrt, sondern letztlich auch zum Verlust der menschlichen Individualität und Lebensfähigkeit. Die menschliche Existenzweise ist noch grundlegender als die der Tiere dadurch geprägt, dass erworbenes Wissen gespeichert und bei Bedarf wieder präsent gemacht werden kann. Die Frage ist nur, in welcher Form Wissen im Gedächtnis gespeichert wird und welche Rolle die Sprache dabei spielt. Sicher gibt es Gedächtnisinhalte, die sprachlich nicht direkt manifestiert sind bzw. nicht manifestiert werden können, aber die Tatsache, dass das Gedächtnis und die Sprache auf eine genuine Weise zusammengehören, wird wohl niemand ernsthaft in Frage stellen können.
Wahrnehmungsweisen fur das Gedächtnis Unser Standardverständnis für das Phänomen Gedächtnis exemplifiziert sich wohl am besten über die dafür entwickelten Sinnbilder. Diese erzählen uns auf etwas verdeckte Weise Geschichten darüber, in welchen Perspektiven wir die Gedächtnisproblematik bisher wahrgenommen haben bzw. welche Aspekte des Gedächtnisses wir für besonders relevant halten. Insbesondere zwei Bildspender haben sich für die anthropologische und kognitive Erschließung des Phänomens Gedächtnis als leitend und durchschlagend erwiesen, nämlich die Vorstellung des Gedächtnisses als Speicher und als Wachstafel.5 Die bildliche Vorstellung des Gedächtnisses als Speicher weist einige Varianten auf: Magazin, Gefäß, Archiv, Schrein, Schatztruhe, Festplatte usw. Gemeinsam ist aber all diesen Vorstellungen, dass das Gedächtnis als ein bergender Innenraum verstanden wird, in dem man Vorstellungs- und Wissensinhalte abspeichern kann, um sie bei Bedarf wieder abrufen zu können. Das Speichermodell erweckt den Eindruck, dass es möglich ist, Gedächtnisinhalte als eigenständige Inhalte unabhängig von anderen Inhalten einlagern und abru5
Vgl. H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. 291-294. A. Assmann, Metaphorik der Erinnerung, in: A. Assmann/D. Harth (Hrsg.), Mnemosyne, 1991, S. 13-35.
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fen zu können. Es legt nicht nahe, das Gedächtnis als ein komplexes Netzwerk zu verstehen, dessen interne Struktur von vornherein einen starken Einfluss darauf ausübt, in welchen Formen und Korrelationen Wissen in ihm verankert und wieder aktiviert werden kann. Bezeichnend für die Vorstellung des Gedächtnisses als Speicher ist, dass Raumvorstellungen in diesem heuristischen Modell eine dominante Rolle spielen. Einerseits wird das Gedächtnis als Ganzes als eine Art Aufbewahrungsraum verstanden, andererseits wird auch den einzelnen Gedächtnisinhalten eine abgrenzbare Raumgestalt zugeordnet. Das macht es leicht, Gedächtnisinhalte im Sinne von abgespeicherten Waren zu verstehen, die abgerufen bzw. transferiert werden können. Selbst wenn man seine Gedächtnisvorstellung etwas stärker zu dynamisieren versucht und statt des Speichers das Bild des Taubenschlags ins Spiel bringt, so ändert sich die räumlich orientierte Gedächtnisvorstellung nicht wesentlich. Im Rahmen des Speichermodells konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit einerseits darauf, Gedächtnisinhalte als eigenständige Größen gegen störende Einflüsse von außen abzuschirmen, damit sie ihren ursprünglichen Charakter bewahren, und andererseits darauf, ihnen einen bestimmten Systemplatz im Gedächtnisraum zuzuordnen, der sicherstellt, dass sie nach bestimmten Prozeduren wieder auffindbar werden. Deshalb hat die Rhetorik sich auch darum bemüht, bestimmte Erinnerungs- bzw. Mnemotechniken zu entwickeln, die es erleichtern, Gedächtnisinhalte wieder zu aktivieren, damit der Gedächtnisraum nicht zu einem Grab wird. Die Suchmaschinen des Internets exemplifizieren solche Bemühungen heute auf neue Art. Eine Grundfrage im Kontext dieses heuristischen Denkmodells bleibt aber, ob im Gedächtnis auch das aufbewahrt werden kann, was keine wohlabgrenzbare Vorstellungs- oder Sprachgestalt hat, was keinem definierten Systemplatz zugeordnet werden kann und was nicht durch Sinneserfahrungen im weitesten Sinne in das Gedächtnis hineingekommen ist. Auf etwas andere Aspekte der Gedächtnisproblematik stoßen wir, wenn wir uns diese mit Hilfe des Wachstafelmodells erschließen. Dieser Bildspender ist schon von Sokrates ins Gespräch gebracht worden. 6 Er hat dann im Empirismus eine wichtige Rolle gespielt, in dem das menschliche Gedächtnis als leere Tafel (tabula rasa) verstanden wurde, auf die sich Erfahrung und Wissen dauerhaft eingravieren lassen. Das Wachstafelmodell ist im Vergleich zum Speichermodell insofern besonders interessant, weil es die Vorstellung begünstigt, dass Gedächtnisinhalte nicht nur deswegen verloren gehen können, weil man sie nicht mehr auffinden kann, sondern auch deswegen, weil sie auf der Wachstafel wieder ausgelöscht bzw. durch andere Inhalte überlagert worden sind.
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Piaton, Theaitet, 191 cff., Werke, Bd. 4, S. 159.
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Mit dem Wachstafelmodell kann sehr gut plausibel gemacht werden, dass alte Gedächtnisinhalte durch den Einfluss neuer im Laufe der Zeit ihre ursprüngliche Gestalt verlieren können und dass sie sich durch den Einfluss neuer Erfahrungen auch transformieren. Dementsprechend muss man sich dann auch Rechenschaft darüber ablegen, welche Faktoren darauf Einfluss nehmen, dass etwas nachhaltig in seiner ursprünglichen Form aufbewahrt wird, und welche Faktoren darauf, dass etwas von etwas anderem verdrängt, überlagert oder transformiert wird. Das Wachstafelmodell regt uns also vielmehr als das Speichermodell dazu an, die Gedächtnisproblematik mit der Sinnbildungsproblematik zu verknüpfen und insbesondere seinen dynamischen Implikationen eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sigmund Freud hat das Wachstafelmodell fur die Strukturierung der Gedächtnisproblematik um eine interessante Variante bereichert, insofern er die Erfindung des so genannten Wunderblocks in seine Überlegungen einbezogen hat.7 Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass eine durchsichtige Folie über einem Wachspapier liegt. Wenn man mit dem Stift Druck auf die Folie ausübt, dann verbindet man diese direkt mit dem Wachspapier, wodurch etwaige Zeichnungen oder Schriftzeichen deutlich in Erscheinung treten können. Bewegt man nun die Folie und das Wachspapier gegeneinander, so verschwinden die jeweiligen Zeichen wieder, obwohl immer Restspuren im Wachspapier zurückbleiben, die möglicherweise auf die konkrete Gestalt neuer Konfigurationen Einfluss nehmen. Eine moderne Variante dieses Bildspenders repräsentiert sich heute auch in der Festplatte des Computers, insofern auch auf diesem gelöschte Daten durch geeignete Zugriffe erneut zur Erscheinung gebracht werden können. Der Wunderblock ist für Freud als Bildspender deshalb so interessant, weil er mit ihm darauf aufmerksam machen kann, dass Gedächtnisinhalte in einer Tiefenschicht immer irgendwie erhalten bleiben, selbst wenn sie auf einer Oberflächenschicht verschwinden. Dadurch kann er plausibel machen, dass im Gedächtnis eigentlich nichts vollständig verloren geht, sondern immer nur überlagert, transformiert oder fragmentiert wird. Über geeignete Erschließungsstrategien kann dann auch das wieder fassbar gemacht werden, was anscheinend verloren gegangen ist. Für Freud bleiben alle Erfahrungen irgendwie latent im Unterbewusstsein vorhanden und können durch bestimmte Konstellationen entweder von selbst wieder hervortreten oder durch bestimmte Fragestellungen wieder erschlossen werden. Von den Gehirnphysiologen und Gedächtnispsychologen ist das Speicherund Wachstafelmodell trotz seiner Plausibilität fur das Alltagsdenken immer wieder kritisiert worden, weil beide die Gedächtnisproblematik zu sehr verräumlichten, mechanisierten und individualisierten. Durch diese heuristischen Modelle würde uns nicht nahe gelegt, danach zu fragen, ob das Gedächtnis im 7
S. Freud, Notiz über den „Wunderblock", in: Gesammelte Werke, Bd. 14, 1976 5 , S. 3-8. Vgl. auch D. Draaisma, Die Metaphernmaschine, 1999, S. 15 ff.
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Gehirn tatsächlich einen festen Platz habe, wie Gedächtnisinhalte mit anderen Gedächtnisinhalten vernetzt seien, ob Gedächtnisinhalte sich im Laufe der Zeit veränderten, welchen Einfluss Willensimpulse und Emotionen auf die Formierung, auf die Umgestaltung und die Erschließung von Gedächtnisinhalten ausübten, welche Rolle bestimmte Zeichen bzw. Medien bei der Speicherung und Objektivierung von Gedächtnisinhalten spielten und ob die Gedächtnisproblematik sich sinnvoll auf das Individualgedächtnis beschränken lasse. Das Speicher- und Wachstafelmodell legt nahe, das Gedächtnis bestimmten Gehirnregionen zuzuweisen, aber genau das hat sich als eine empirisch nicht nachweisbare Annahme erwiesen. Mehr und mehr hat sich für die Gehirnforscher herausgestellt, dass das Phänomen Gedächtnis als ein Interaktionsphänomen begriffen werden muss, das aus dem produktiven Zusammenspiel von ganz unterschiedlichen Gehirnregionen resultiert und dessen Inhalte dementsprechend auch als sehr komplexe Syntheseprodukte zu qualifizieren sind, die sehr vielfältige Aspekte aufweisen. Wenn man nun aber die Arbeit des Gedächtnisses nicht als eine Aufbewahrungsarbeit, sondern als eine Gestaltungsarbeit begreift, die unmittelbar mit den geistigen Aktivitäten des Lernens, des Schließens, des Interpretierens und des Zeichenbildens zusammenhängt, dann braucht man ganz andere heuristische Modelle, um sich das Gedächtnisphänomen anschaulich zu objektivieren. Recht früh hat der Kognitionspsychologe Bartlett nachdrücklich die Auffassung vertreten, dass Erinnerungsprozesse eher Konstruktions- als Rekonstruktionsprozesse seien. 8 Damit will er klarstellen, dass das Gedächtnis eng mit denjenigen kognitiven Operationen zusammenhängt, durch die Einzelphänomene zu komplexen Sinngestalten verbunden werden, und dass die Gedächtnisproblematik deshalb auch auf eine genuine Weise mit der Bewusstseinsproblematik verschränkt ist. Das Bewusstsein könne sich erst dann konstituieren, wenn aktuelle Wahrnehmungen und Vorstellungen mit früheren interaktiv verknüpft würden. Der Biologe Roth hat das Gedächtnis sogar als „unser wichtigstes Sinnesorgan" bezeichnet und damit eine ganz neue heuristische Modellvorstellung in die Welt gesetzt. Mit dieser These will er darauf aufmerksam machen, dass das Gedächtnis ebenso wie Sinnesorgane eine spezifische einheitsstiftende Funktion in Wahrnehmungsprozessen habe und dass es deshalb als ein Glied in dem Kreisprozess von „Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Erkennen, Handeln und Bewerten" anzusehen sei. 9 Mit diesem Hinweis will Roth zugleich deutlich machen, dass das Gehirn letztlich nicht als ein informationsaufnehmendes, sondern vielmehr als ein informationsschaffendes System zu verstehen sei, in dem das Gedächtnis eine konstitutive Rolle spiele. Die Ein-
8
9
F.C. Bartlett, Remembering, 1932/1967, S. 205. „... remembering appears to be far more decisively an affair of construction rather than one of mere reproduction." G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 1997 5 , S. 261, 263.
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Die Krankheit des Vergessens
Ordnung des Gedächtnisses in die Reihe der Sinnesorgane ist zunächst sehr verblüffend, weil es unseren Alltagsvorstellungen vom Gedächtnis gar nicht entspricht. Sie wird aber verständlich, wenn man bedenkt, dass Sinnesorgane die entscheidenden Kontaktstellen zwischen der Subjektsphäre und der Objektsphäre sind, die maßgeblich bestimmen, wie die Objektwelt für die Subjektwelt in Erscheinung treten kann. Wenn man das Gedächtnis nicht als bloßen Aufbewahrungsort von Wissen und Erfahrungen ansieht, sondern auch als sinnbildenden Faktor für die Verarbeitung von Wahrnehmungen, dann stellt sich die Gedächtnisproblematik ganz neu dar. Der Begriff Gedächtnis muss gleichsam als ein Denkkonzept verstanden werden, mit dem man das ganze Netzwerk von Gehirnaktivitäten erfassen kann, die dazu dienlich sind, schon gemachte Erfahrungen bei der Konstitution neuer Erfahrungen zu nutzen, wobei die Sprache natürlich eine ganz zentrale Rolle spielt. Das Verständnis des Gedächtnisses nach dem Modell eines Sinnesorgans macht das Speicher- und Wachstafelmodell nicht sinnlos, sondern weist beiden nur untergeordnete heuristische Funktionen zu, weil beide nicht das komplexe Interaktionsverhältnis zwischen den Phänomenen Erinnerung, Bewusstsein, Kultur, Zeichen und Individualität erfassen können. Die Wahrnehmung des Gedächtnisses als Sinnesorgan wirft natürlich ein ganz anderes Licht auf die Krankheit des Vergessens in Macondo als die Wahrnehmung im Sinne eines Speichers oder einer Wachstafel. In diesem Denkrahmen geht es dann nicht mehr nur darum, dass die Menschen bestimmte Inhalte nicht mehr aus ihrem Gedächtnis abrufen können und dadurch von ihren spezifischen Vergangenheitserfahrungen abgeschnitten werden, sondern auch darum, dass ihre konkreten Erfahrungen in der Gegenwart nachhaltig gestört werden. Da aktuelle Wahrnehmungen nicht mehr mit früheren vernetzt werden können, werden dann auch die faktischen Wahrnehmungsprozesse in der Gegenwart nachhaltig beeinträchtigt. Die Thematisierung des Gedächtnisses im Rahmen von Handlungs- bzw. Interaktionsprozessen ist natürlich keine völlig neue Sichtweise. Schon in der antiken Rhetorik hat man Überlegungen darüber angestellt, mit welchen Mnemotechniken man altes Wissen für aktuelle Sinnbildungsprozesse aktivieren kann. Auch Nietzsche hat sehr pointiert darauf aufmerksam gemacht, dass sich Inhalte nur unter bestimmten emotionalen Bedingungen im Gedächtnis stabilisieren. „Nur was nicht aufhört weh ζ u tun, bleibt im Gedächtnis. "10 Deshalb versteht er das Gedächtnis natürlich auch nicht nur als bloßen Wissensspeicher, sondern auch als eine spezifische Interaktionsinstanz. „ 'Das habe ich getan' sagt mein Gedächtnis. 'Das kann ich nicht getan haben'- sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."11
10 11
F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Werke, Bd. 2, S. 802. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Werke, Bd. 2, S. 625, Nr. 68.
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Die Erscheinungsformen von Gedächtnisinhalten Wenn man das Phänomen Gedächtnis im Rahmen von Interaktionsvorstellungen thematisiert, dann wird es besonders wichtig, sich Rechenschaft über die Formen abzulegen, in denen die Inhalte des Gedächtnisses sich formieren und Einfluss auf Sinnbildungsprozesse nehmen können. Daran knüpft sich dann auch die Frage nach der Hierarchie von Gedächtnisinhalten bzw. die Frage danach, was leicht und was weniger leicht vergessen wird. Die Manifestationsformen von Gedächtnisinhalten sind sehr vielfaltig und reichen von biologisch über kulturell bis zu individuell verankerten Formen. Deshalb sind auch ganz unterschiedliche Gedächtnisbegriffe ausgearbeitet worden, um die verschiedenen Formen und Aspekte von Gedächtnisinhalten bzw. Wissen zu erfassen. Diese lassen sich idealtypisch in Gestalt von Oppositionspaaren objektivieren, deren Teile sich wechselseitig einen erläuternden Kontext geben: Artgedächtnis - Individualgedächtnis, kulturelles Gedächtnis - individuelles Gedächtnis, semantisches Gedächtnis — episodisches Gedächtnis, deklaratives Gedächtnis - nicht-deklaratives Gedächtnis. Der Begriff des Artgedächtnisses ist geprägt worden, um deutlich zu machen, dass alle Lebewesen schon vor ihrer Geburt ein artspezifisches apriorisches Wissen von der Welt haben, das als das Fundament allen individuell erworbenen Wissens gelten kann bzw. in das sich alle aposteriorischen Wissensformen eingliedern müssen. In ihm ist ein Inventar von evolutionär entwickelten und erprobten Wahrnehmungsmustern, Reizverarbeitungsstrategien und Verhaltensweisen genetisch verankert, das faktisch nicht vergessen werden kann. Die Besonderheiten des im Artgedächtnis verankerten Wissens erschließen sich erst im kontrastiven Vergleich des Artgedächtnisses von Lebewesen unterschiedlicher Gattung. Seine Inhalte ermöglichen es, aktuelle Wahrnehmungsreize mit typisierten gespeicherten Mustern abzugleichen, um bestimmte Reizkonfigurationen beispielsweise als Gefahr, als Nahrung oder als Geschlechtspartner einordnen zu können. Das Artgedächtnis lässt sich im weitesten Sinne auch als Instinkt qualifizieren, durch den faktische Handlungsentscheidungen erheblich vorstrukturiert werden. Wenn es ein solches überindividuelles Artgedächtnis nicht gäbe, dann wären alle individuellen Wahrnehmungs- und Lernprozesse ungleich aufwendiger, als sie faktisch sind. Das menschliche Artgedächtnis ist nicht so stark typisiert und schematisiert wie das von Tieren. Es gibt nur einen sehr groben Strukturrahmen vor, der durch individuelle Lernprozesse und Wissensinhalte präzisiert und ausgefüllt werden muss. Deshalb ist seit Herder auch immer wieder betont worden, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier sein instinktives Wissen in einem sehr hohen Maße durch kulturell erworbenes Wissen ergänzen müsse, um als Individuum und Gattung überleben zu können. Gleichwohl besitzt aber auch der
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Mensch ein Artgedächtnis, das mit Roth durchaus als eine Art Sinnesorgan zu werten ist, da seine Ordnungsstrukturen und Inhalte die Registrierung, Filterung und Interpretation von Außenreizen beeinflussen. Hierarchisch ist das Artgedächtnis als Sinnesorgan allerdings eine Stufe höher anzusiedeln als alle anderen Sinnesorgane, da es als eine Art Metasinnesorgan die Reizverarbeitung der anderen Sinnesorgane steuert. Die Opposition von Artgedächtnis und Individualgedächtnis bzw. von apriorischem Artwissen und von aposteriorischem Individualwissen muss nun allerdings durch die Opposition von kulturellem Gedächtnis und individuellem Gedächtnis bzw. kulturellem Wissen und individuellem Wissen ergänzt werden, weil man ansonsten das ganze Wissen übersähe bzw. zu gering achtete, das sich in den von Menschen entwickelten Zeichen und Institutionen konkretisiert hat. Deshalb hat sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr die Einsicht durchgesetzt, dass sich auch in den kulturellen Formen der Sprache oder entsprechender Zeichensysteme, in den sozialen Verhaltensweisen und in den gesellschaftlichen Institutionen ein Wissen angesammelt hat, das als kulturelles Gedächtnis qualifiziert werden kann. Dieses kulturelle Gedächtnis steht einerseits in einer spezifischen Spannung zu dem Artgedächtnis, insofern es diesem hierarchisch untergeordnet ist, aber gleichwohl dessen Leerstellen in variabler Weise ausfüllen und strukturieren muss, und andererseits in einer spezifischen Spannung zum Individualgedächtnis, insofern es diesem hierarchisch übergeordnet ist. Gleichwohl kann aber auch das Individualgedächtnis das kulturelle Gedächtnis umstrukturieren, da es nur über das Individualgedächtnis tradiert wird. In jüngerer Zeit hat insbesondere Halbwachs darauf aufmerksam gemacht, dass menschliche Gedächtnisinhalte nicht nur im Hinblick auf einzelne Individuen charakterisiert werden dürften, da sich in allen Erinnerungen immer Individuelles und Kollektives miteinander verschränke und Erinnerungen immer in kommunikative Prozesse eingebunden seien. 12 Für ihn sind alle individuellen Gedächtnisinhalte durch kollektive Muster, Vorstellungen und Verhaltensweisen vorgeprägt, ohne dass sich die einzelnen Menschen dessen recht bewusst seien. Die einzelnen Gedächtnisinhalte würden den Menschen immer im Rahmen von Sozialisations- und Kommunikationsprozessen zuwachsen. Sobald Kinder die Stufe des rein sensitiven Erlebens verlassen hätten, würden sie mit Hilfe von sozial gefestigten Mustern im Rahmen von konventionellen Wahrnehmungs- und Klassifikationsstrategien denken und ihre individuellen Gedächtnisinhalte formieren. Deshalb seien alle individuellen Erinnerungen gruppenbedingt bzw. durch soziale Verhaltensweisen generiert und geprägt. Jan Assmann hat den Gedanken des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs aufgenommen und in sein Konzept des kulturellen Gedächtnisses inte-
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M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1967.
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griert. 13 Der Begriff kulturelles Gedächtnis dient ihm als Sammelbegriff für das ganze Wissen, das im Interaktionsrahmen einer Gesellschaft das Wahrnehmen, Handeln und Erleben steuere und das in Form von gemeinsamen Wissensinhalten, Zeichen, Riten und Objektivierungsstrategien fassbar sei. Man könne sich im Prinzip immer nur an das erinnern, was im Rahmen der Formen einer Kultur objektivierbar, lokalisierbar und kommunizierbar sei. Deshalb hat für ihn das Gedächtnis auch nicht nur eine Relation zur Vergangenheit, sondern auch eine zur Zukunft, weil in ihm nur das bewahrt werde, was individuell oder kulturell als wichtig für die Zukunft betrachtet werde und was man dementsprechend vor dem Vergessen bewahren möchte. Es ist offensichtlich, dass das kollektive Gedächtnis eine strukturelle Verwandtschaft mit dem Artgedächtnis hat, insofern es sich aus überindividuellen typisierten Interpretationsmustern für die Strukturierung von Erfahrungen konstituiert. Es stellt Schemata zur Verfügung, mit deren Hilfe Neues auf Bekanntes zugeordnet werden kann bzw. mit deren Hilfe Assimilationsprozesse vollzogen werden können. Die Objektivierungsschemata dieses Gedächtnisses sind allerdings nicht genetisch verankert, sondern kulturell, was ihnen einerseits eine große Variabilität und Flexibilität sichert, aber sie andererseits auch für Vergessensprozesse anfällig macht. Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses lässt sich auch gut mit Cassirers Konzept der symbolischen Formen in Verbindung bringen, insofern ja auch diese dazu dienen, die Wahrnehmung der Welt mit Hilfe erprobter kultureller Muster und Strategien zu strukturieren. Es ist nun ganz offensichtlich, dass in allen Ausprägungsformen des kulturellen Gedächtnisses sprachliche Muster eine ganz zentrale Rolle spielen oder spielen können. Wenn in Macondo die Namen vergessen werden, dann geht es keineswegs nur darum, dass die sprachlichen Bezeichnungen für kulturelle Denkmuster vergessen worden sind bzw. die Mittel zum Auffinden von gespeichertem Wissen, sondern auch immer darum, dass die sprachlich manifestierten Ordnungsmuster als Konkretisierungsformen des überindividuellen kulturellen Gedächtnisses verloren gegangen sind und damit Wahrnehmungsund Verständnisformen, ohne die die Menschen als kulturbedürftige Lebewesen gar nicht existieren können. Die konstitutiven Aspekte des Gedächtnisses, auf die mit Hilfe der Begriffe des kulturellen Gedächtnisses und des individuellen Gedächtnisses aufmerksam gemacht worden ist, lassen sich in etwas anderer Akzentuierung auch durch die Begriffe semantisches Gedächtnis und episodisches Gedächtnis zum Ausdruck bringen. Diese Unterscheidung hat Tulving eingeführt, um die Erinnerung an die Ergebnisse allgemeiner Lernprozesse von den Erinnerungen an
13
J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1999.
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individuelle Erfahrungen und Erlebnisse abzugrenzen. 14 Das semantische Gedächtnis, das von manchen Theoretikern auch als enzyklopädisches Gedächtnis bezeichnet worden ist, stellt sich für Tulving als Fähigkeit zum Behalten des Wissens dar, das sich in Gestalt von Begriffen, Aussagen und Konzepten konkretisieren lässt und das nicht an eine individuelle Erfahrung gebunden ist. In ihm kann sich ein Wissensschatz ansammeln, der eine überindividuelle Gültigkeit und Relevanz beanspruchen kann, weil er ein allgemeines Gegenstandsund Strukturwissen repräsentiert, das zur Bewältigung der Welt dient. Universitäten und Schulen sind deshalb als diejenigen gesellschaftlichen Institutionen anzusehen, die sich auf die Vergrößerung, Strukturierung und Tradierung dieser Wissensform spezialisiert haben. Die Kenntnis der chemischen Formel für Salz ist für Tulving deshalb auch ein typisches Beispiel für das Wissen, das im semantischen Gedächtnis gespeichert wird. Demgegenüber umfasst das episodische Gedächtnis für Tulving diejenigen Wissensbestände, die bestimmte, zeitlich und örtlich fixierbare Erfahrungen betreffen. Deshalb wird es zuweilen auch als autobiographisches Gedächtnis bezeichnet, weil es einen deutlichen Bezug zum individuellen Gedächtnis hat. Zugleich ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Inhalte des episodischen Gedächtnisses eine ausgeprägte bildliche Grundstruktur haben, insofern in ihnen Sachverhalte gespeichert werden, die in Form von Bildern oder Geschichten in Erscheinung treten. Deshalb steht das episodische Gedächtnis auch in einem engen Zusammenhang mit dem exemplarischen Prinzip beim Erwerb und bei der Vermittlung von Wissen. Wissensbestände, die man sich in Form von Bildern vorstellen kann bzw. die auf markante Weise in Geschichten verstrickt sind, lassen sich deshalb auch besser behalten als solche, die sich nur als abstraktes Wissen im semantischen Gedächtnis verankern lassen. Nun wird man sicher generell einräumen müssen, dass es ein großes Überschneidungsfeld zwischen dem Konzept des semantischen und des episodischen Gedächtnisses gibt bzw. zwischen dem semantischen und dem episodischen Wissen. Beispielsweise wäre eine Fabel hinsichtlich ihrer allgemeinen lebenspraktischen Sinnstruktur dem semantischen Gedächtnis zuzuordnen und hinsichtlich ihrer bildhaften Struktur und ihrer narrativen Gestalt eher dem episodischen Gedächtnis. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Vorstellungsinhalte des episodischen Gedächtnisses nicht den originalen Wahrnehmungsgegenständen im Sinne einer Fotografie oder eines Films entsprechen, sondern dass sie sich immer in einer typisierten und stilisierten Form darbieten. Dennoch ist es aber sicher sinnvoll, typologisch zwischen einem situationsabstrakten Gedächtnis auf der einen Seite und einem situations- bzw. bildbezogenen episodischen Gedächtnisses auf der anderen Seite zu unterscheiden,
14
E. Tulving, Episodic and semantic memory, in: Ε. Tulving/W. Donaldson (eds.), Organization of memory, 1972, S. 381-403. Vgl. auch H.-J. Markowitsch, Dem Gedächtnis auf der Spur, 2002, S. 88f.
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weil beide Gedächtnisformen recht unterschiedliche Bezüge zu Emotionen haben und eben deshalb auch von Vergessensprozessen auf ganz unterschiedliche Weise betroffen werden können. Schließlich lässt sich auch noch zwischen einem deklarativen und einem nicht-deklarativen Gedächtnis bzw. Wissen unterscheiden. Das deklarative Gedächtnis hat eine große Nähe zum semantischen Gedächtnis, insofern sich seine Inhalte problemlos in Form von Begriffen, Aussagen und Abhandlungen repräsentieren lassen, also in sprachlichen Objektivierungsformen unterschiedlicher Komplexität. Die in diesem Gedächtnis gespeicherten Inhalte lassen sich deshalb auch mit einem Typ von Wissen in Verbindung bringen, das man generell als Gegenstandswissen bezeichnen kann und das Ryle als ein Wissen im Sinne von knowing that beschrieben hat. 15 Das nicht-deklarative Gedächtnis kann dagegen Inhalte speichern, die sich generell als Handlungswissen bezeichnen lassen und die Ryle als Können im Sinne von knowing how beschrieben hat. Diese Form des Wissens wird auch oft als prozedurales Wissen vom begrifflichen Wissen abgesetzt. In ihm manifestieren sich die operativen Schemata und Strategien, die wir in kognitiven Prozessen verwenden. In dieses Wissen können im Prinzip auch die motorischen Schemata eingeordnet werden, die wir bei der Gestaltung unserer Bewegungen nutzen. Dieses Handlungswissen, zu dem auch unser im Sprachgefühl verankertes Wissen und insbesondere unser grammatisches Wissen gehört, ist so komplex, dass wir es nur ansatzweise auf den Begriff bringen können bzw. in deklaratives Wissen umzuwandeln vermögen. Wir können dieses prozedurale Wissen in Handlungen vorfuhren, aber wir können es nur sehr fragmentarisch in Form von Aussagen objektivieren. Nicht zufallig macht deshalb auch Piaton keine Aussagen über das philosophische Handlungswissen von Sokrates, sondern fuhrt es uns stattdessen in dem Gesprächsverhalten von Sokrates exemplarisch vor. Obwohl sich das nicht-deklarative Handlungswissen nur fragmentarisch explizit ins Bewusstsein rufen lässt, fällt es Vergessensprozessen sehr viel weniger leicht anheim als das deklarative Gegenstandswissen.
Die anthropologischen Implikationen des Gedächtnisses Die Überlegungen zu den verschiedenen Aspekten der Gedächtnisproblematik bzw. zu den verschiedenen Formen von Gedächtnisinhalten haben deutlich gemacht, dass das Gedächtnis nicht nur als Grundlage aller Formen von Lernprozessen anzusehen ist, sondern auch als Grundlage aller Formen von Kultur und Individualität. Jeder neu formierte Gedanke fuhrt vorausgegangene weiter oder setzt sich von diesen kontrastiv ab. Erinnerungen, in welcher Form auch 15
G. Ryle, Der Begriff des Geistes, 1969, S. 26. Vgl. auch W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 250ff.
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immer, sind das, was das geistige Leben zusammenhält. Ohne interagierende Erinnerungen können wir unsere Erlebnisse nicht gestalthaft ordnen, sondern nur additiv anhäufen. Ohne Rückgriffe auf die verschiedenen Gedächtnisinhalte hätte unser Denken kein Fundament, ohne Erinnerungen zerfiele unsere Lebensgeschichte, weil wir unfähig wären, unser Denken und Leben nach Relevanzkriterien zu strukturieren. Vorstellungsinhalte bleiben umso besser gedächtnismäßig erhalten, je vielfaltiger sie mit anderen vernetzt sind bzw. je vielfältiger sie von anderen Vorstellungsinhalten her zugänglich sind. Die Vernetzung von Gedächtnisinhalten bzw. die Fähigkeit von Personen, semantisches, episodisches, deklaratives und prozedurales Wissen konstruktiv aufeinander beziehen zu können, ist auch das Fundament für den Aufbau einer personalen und einer kulturellen Individualität. Was nicht ergänzend oder kontrastiv auf anderes bezogen werden kann, fällt leicht der Vergessenheit anheim und verliert damit auch seine Funktion für die Ausbildung einer personalen Identität. 16 Deshalb lässt sich auch sagen, dass der Verlust des Gedächtnisvermögens bzw. der Verlust von korrelationsstiftenden Gedächtnisinhalten zu einem Verlust des Selbst führt, sofern man akzeptiert, dass das Selbst keine vorgegebene Einheit ist, sondern eine Einheit, die aus einer bestimmten Wahrnehmungsweise der Welt und aus der Kommunikation mit anderen resultiert. Die Schädigung des Artgedächtnisses führt ganz offensichtlich zum Tode eines Lebewesens, weil dieses dann von allen fundamentalen Orientierungsund Lernprozessen ausgeschlossen ist. Der Verlust der anderen Gedächtnisformen bzw. Wissensinhalte führt je nach der evolutionären Entwicklungsstufe eines Lebewesens zu einer mehr oder minder großen Lebensbedrohung. Je vielschichtiger die Lebensmöglichkeiten eines Lebewesens sind, desto mehr ist es auf Erinnerungen angewiesen, um seine Handlungs- und Lernprozesse strukturieren zu können. Der große Vorteil von allen kulturell und individuell erworbenen Wissensformen und Wissensinhalten des Menschen besteht darin, dass Menschen sich in weit höherem Maße als alle andere Lebewesen flexibel neuen Lebensbedingungen anpassen können. Sie müssen nicht unbedingt nach den Vorgaben der recht starren angeborenen oder durch Prägung erworbenen Reiz-Reaktions-Muster agieren. Der große Vorteil des genetisch fundierten Artgedächtnisses besteht demgegenüber allerdings darin, dass die in seinem Rahmen gespeicherten Wissensinhalte nicht vergessen werden können und dass es deshalb im Prinzip immer sehr zuverlässig arbeitet. Seine großen Nachteile bestehen allerdings darin, dass sich in seinem Bereich nur sehr langsam neue Inhalte ausprägen und speichern lassen, weil dafür langwierige Mutations· und Selektionsprozesse notwendig sind. Deshalb bezahlen diejenigen Lebewesen, deren Leben überwiegend nach dem Artgedächtnis gesteuert wird und die kaum individuelle Erfahrungen als Wissen abspeichern können, oft 16
Vgl. L.R. Squire/E.R. Kandel, Gedächtnis, Die Natur des Erinnerns, 1999, S. 215ff.
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schon leichte Veränderungen ihrer allgemeinen Lebensbedingungen mit dem Leben. Wenn eine Gattung vielfältige Gedächtnisformen entwickelt hat und dadurch potenziell über vielfaltige Gedächtnisinhalte verfügen kann, dann muss sie zwangsläufig auch eine Fähigkeit zum Vergessen entwickeln bzw. zur Transformation von Wissensinhalten. Erworbene Wissensinhalte, die sich pragmatisch nicht mehr als zweckdienlich erweisen, müssen vergessen werden können, um sich nicht als Ballast oder gar als Gefahr zu erweisen. Die Fähigkeit zum Vergessen ist so gesehen eine wichtige Funktion bzw. eine zwangsläufige Implikation des kognitiven Apparates höher entwickelter Lebewesen. Ein Übermaß an Erinnerungen kann sich als ebenso lebensundienlich erweisen wie ein Mangel an Erinnerungen. Deshalb stellt sich natürlich auch die Frage, ob man das Vergessen generell als eine Krankheit klassifizieren sollte oder ob es nicht auch als eine Kraft zur Regeneration und zur Neuorientierung des Lebens und Denkens verstanden werden muss. Diese Frage wird natürlich insbesondere dann aktuell, wenn man seinen Blick auf die kulturellen Vorkehrungen der Menschen richtet, um Vergessensprozesse zu bekämpfen.
4. Die Formen des Vergessens in Macondo In unserer Geschichte wird das Phänomen Vergessen als eine Krankheit thematisiert, die unversehens von außen über die Menschen in Macondo hereinbricht und die von diesen nicht durch eigene Anstrengungen wirksam bekämpft werden kann. Nur durch einen von außen kommenden Zaubertrank kann diese Krankheit letztlich besiegt werden. Auf diese Weise erscheint das Vergessen als ein böser Albtraum, den man eigentlich auf der Ebene der Fiktion belassen könnte, wenn man nicht wüsste, dass das Vergessen in weniger radikalen Ausprägungen ein genuin anthropologisches Problem ist. Deshalb ist es für das Verständnis des Stellenwerts der Vergessensproblematik in unserer Geschichte durchaus nützlich, ein paar Überlegungen zu unserem Vorverständnis dieser Problematik anzustellen. Dieses Vorverständnis erschließt sich schon bis zu einem gewissen Grade, wenn wir uns mit der Semantik der Verben vergessen und sich erinnern beschäftigen, die in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Das Verb vergessen ist sowohl in grammatischer als auch in semantischer Hinsicht durch eine aufschlussreiche Spannung geprägt. Grammatisch erscheint es uns als ein transitives Verb, das einerseits mit einem Subjekt verbunden werden muss, welches als handelnde Größe bzw. als Agens in Erscheinung tritt, und andererseits mit einem Akkusativobjekt, welches eine Größe repräsentiert, die von der Handlung des Vergessens betroffen wird. In etymologischer und semantischer Hinsicht ergibt sich nun allerdings ein etwas anderes Bild. Das Verb vergessen geht auf das ahd. Verb geggan (erlangen) zurück,
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das mit dem englischen Verb to get stammverwandt ist. Durch das negierende Präfix ver- wird die Bedeutung des Verbs dann so umgestaltet, dass es nun einen Prozess bezeichnet, bei dem ein spezifischer Inhalt einem Subjekt ohne eigenes Zutun verloren geht. Angesichts dieser Semantik stellt sich deshalb dann auch die Frage, ob es nicht angemessen wäre, das Verb vergessen nur im Passiv zu verwenden, da diese grammatische Form ja dazu dient, einen Prozess zu benennen, der nicht von der Subjektgröße ausgeht, sondern von der die Subjektgröße betroffen wird {Der Name wird vergessen,). Auf ganz ähnliche Spannungen treffen wir auch bei dem reflexiven Verb sich erinnern. Die grammatische Form dieses Verbs legt uns nahe, den Erinnerungsvorgang als einen Prozess zu verstehen, der intentional von der Subjektgröße ausgeht und dann wieder auf diese zuläuft, insofern die Subjektgröße wieder von etwas Besitz ergreift, was ihr zeitweise aus dem Bewusstsein entschwunden war. Obwohl es plausibel ist, die Erinnerungsvorgänge eher als die Vergessensvorgänge als aktive Vorgänge zu verstehen, stellt sich aber gleichwohl doch die Frage, ob das Erinnern tatsächlich als ein methodisch organisierbares Sich-Erinnern verstanden werden kann oder ob es nicht eher ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt von Erwartungen und Stimmungen ist. Die rhetorischen Mnemotechniken gehen zwar von der Hoffnung aus, dass frühere Vorstellungsinhalte durch geeignete Erinnerungsverfahren wieder aktiviert werden können, aber es stellt sich gleichwohl die Frage, ob diese Hypothese für alle früheren Vorstellungen zutrifft. Selbst wenn man Denkinhalte für spätere Erinnerungsprozesse schriftlich fixiert hat, muss man immer in Betracht ziehen, dass diese in den nachfolgenden Zeiten anders wahrgenommen und verstanden werden als zur Zeit ihrer schriftlichen Fixierung. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich mit der Frage nach der Krankheit des Vergessens in Macondo ein breit gefächertes Erkenntnisinteresse verbinden. Diese Frage kann nicht mehr allein auf den Tatbestand bezogen werden, dass in Macondo pathologische Vergessensprozesse einsetzen, sondern muss auch zu klären versuchen, welche Wissensinhalte zuerst von den Vergessensprozessen betroffen werden und welche zu einem späteren Zeitpunkt, mit welchen Strategien gegen Vergessensprozesse angekämpft werden kann und welche Wirksamkeit diese Verfahren faktisch haben.
Die Inhalte des episodischen Gedächtnisses Im Rückblick auf ihre persönlichen Erfahrungen unterscheidet die Indiofrau bei der Krankheit des Vergessens drei Intensitätsstufen. Zuerst würden die Betroffenen ihre Kindheitserinnerungen vergessen, dann vergäßen sie ihren eigenen Namen und die Namen der Dinge und schließlich gingen die Namen der anderen Menschen sowie das Bewusstsein der eigenen Identität verloren. Alles ende dann in „einer Art von vergangenheitslosem Stumpfsinn". Bemer-
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kenswert an dieser Beschreibung der Krankheit des Vergessens ist, dass sie als recht eigenständige Krankheit beschrieben wird und nicht als Beschleunigung der natürlichen Altersvergesslichkeit. Im Prozess der natürlichen Altersvergesslichkeit verblassen nämlich nicht die episodischen Kindheitserinnerungen zuerst, sondern vielmehr die später erworbenen Gedächtnisinhalte episodischer, semantischer und deklarativer Art. Die besondere Resistenz von episodischen Kindheitserinnerungen gegen Vergessensprozesse liegt offenbar darin begründet, dass sie ein wichtiges Basiswissen repräsentieren bzw. wichtige Knotenpunkte für den Aufbau von sehr komplexen Wissenssystemen. Aus den persönlichen episodischen Kindheitserinnerungen und aus den in der Kindheit rezipierten Geschichten und Märchen, die ja strukturell gesehen auch einen episodischen Charakter haben, rekrutieren sich die anschaulichen Exempel für abstrakte Begriffe und Theorien, die ja für das semantische und deklarative Wissen unentbehrlich sind. Die Fundamentierungsfunktionen von Kindheitserinnerungen für den Aufbau komplexer Wissenssysteme, die nur von den Fundamentierungsformen der Inhalte des Artgedächtnisses überboten werden, geben den episodischen Kindheitserinnerungen normalerweise eine außerordentliche Widerstandskraft gegenüber Vergessensprozessen. Diese Widerstandskraft wird auch noch dadurch gefördert, dass Kindheitserinnerungen in der Regel ausgeprägte positive oder negative emotionale Einfärbungen haben, die sie ebenfalls gegen Vergessensprozesse immunisieren können. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Schlaflosigkeit zunächst nicht als Bedrohung empfunden wird, sondern eher als Chance, mehr zu erleben bzw. das episodische Gedächtnis mit neuen Inhalten anzureichern. Dabei übersieht man allerdings das Problem, dass man auch episodische Erfahrungen begrifflich verarbeiten muss bzw. dass man ihnen einen Systemplatz im semantischen Gedächtnis zuordnen muss, wenn sie eine exemplifizierende oder eine heuristische Funktion für Erkenntnisprozesse bekommen sollen. Selbst wenn empirische Einzelerfahrungen zunächst eine prägnante Gestalt haben, so verlieren sie auf Dauer doch ihren pragmatischen Wert und ihre Memorierbarkeit, wenn sie nicht mit den Inhalten des semantischen bzw. deklarativen Gedächtnisses interaktiv vernetzt werden. Auf diese Problematik wird in unserer Geschichte indirekt durch die Mitteilung hingewiesen, dass sich die von der Schlafkrankheit betroffenen Menschen immer wieder dieselben Witze erzählen und dass die Erzählung vom Kapaunhahn unendlich ausgedehnt wird. Das sind Indizien dafür, dass bestimmte Inhalte des episodischen Gedächtnisses sich ganz verselbstständigt haben und nicht mehr interaktiv mit an deren Gedächtnisinhalten verbunden werden können bzw. dass sie sich nicht mehr sinnvoll in die Gesamtarchitektur des Gedächtnisses einbinden lassen.
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Die Inhalte des semantischen und des deklarativen Gedächtnisses Die Krankheit des Vergessens breitet sich in Macondo ganz im Sinne der Voraussage der Indiofrau aus. Buendia vergisst die „eindrucksvollsten Begebenheiten seiner Kindheit, sein Sohn, der Silberschmied Aureliano, vergisst zuerst die Namen für eines seiner wichtigsten Arbeitsgeräte, den Amboss, und dann fällt es ihm schwer, sich daran zu erinnern, welche Dinge er in seinem Laboratorium hat. Beide Vergessensformen betreffen im Prinzip die Inhalte des semantischen Gedächtnisses. Das Vergessen von Begriffsnamen bzw. von Signifikanten für Signifikate erscheint auf den ersten Blick zunächst recht harmlos, weil es so aussieht, als ob nur eine soziale Konvention vergessen worden ist. Es scheint nur eine Wortfindungsblockade vorzuliegen, aber nicht der Verlust eines Denkmusters. Genau betrachtet ist das Vergessen von Namen aber keineswegs so harmlos, wie es auf den ersten Blick aussieht. Wenn man Begriffsnamen vergisst, dann können auf Dauer auch die damit repräsentierten Ordnungsmuster verloren gehen, weil diese sich nicht mehr über ihre Benennungen stabilisieren und konventionalisieren lassen. Dieses Problem tritt bei Begriffsnamen, mit denen man auf sinnlich erfassbare Gegenstände wie etwa Amboss oder Hammer Bezug nehmen kann, nicht so gravierend in Erscheinung, weil sich solche Denkmuster durch die direkten empirischen Erfahrungsmöglichkeiten für ihre Bezugsphänomene stabil halten können. Bei den Namen für sehr abstrakte Denkmuster wie Demokratie, Kausalität oder Interdependenz ist das aber schon ganz anders. In diesem Bereich haben die jeweiligen Begriffsmuster einen unscharfen referenziellen Bezug in der empirisch fassbaren Realität (Begriffsumfang) und ein ziemlich unscharfes Profil hinsichtlich ihrer semantischen Merkmale (Begriffsinhalt). Wenn solche Denkmuster nicht durch einen Namen bzw. durch normative Definitionen oder durch einen gleich bleibenden Gebrauch stabilisiert werden, dann lösen sie sich als Ordnungsmuster schnell auf. Was keinen Namen hat oder was seinen Namen verloren hat, das existiert nicht mehr auf konturierte Weise im menschlichen Vorstellungsvermögen bzw. entschwindet leicht aus dem menschlichen Bewusstsein. Dieser Tatbestand dokumentiert sich nicht nur im Namenshunger von Kindern, sondern auch in der Notwendigkeit, Entdeckungen, Erfindungen und Theorien einen Namen geben zu müssen, wenn sie einen Platz im semantischen Gedächtnis einer Kommunikationsgemeinschaft finden oder behalten sollen. Für unser heutiges Sprachverständnis ist der Name zwar nicht mehr Teil der damit benannten Sache oder Voraussetzung für dessen Existenz wie beispielsweise im magischen Sprachverständnis, aber dennoch eine konstitutive Voraussetzung dafür, dass sich Wissen konkretisieren, erhalten und vermitteln lässt. Deshalb kann man mit guten Gründen auch die These vertreten, dass
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sich im existierenden Vokabular einer Sprache bzw. im Inventar ihrer Formen (langue) ein Wissen angehäuft hat, das dem semantischen Gedächtnis zuzuordnen ist. Das bedeutet, dass mit der Reduktion bzw. dem Vergessen von Namen auch immer ein Verlust von stabilisierten kognitiven Differenzierungsmustern verbunden ist, auf die in Denk- und Kommunikationsprozessen direkt zurückgegriffen werden kann. Um das Vergessen von Namen zu verhindern, entwickelt Aureliano die Technik, die einzelnen Dinge mit Zetteln zu versehen, auf denen ihr Name schriftlich fixiert ist. Diese Mnemotechnik erinnert an den platonischen Mythos über die Schrifterfindung durch Theuth, der dem ägyptischen König Thamus weismachen will, dass seine Erfindung die Ägypter klüger und gedächtnisreicher machen werde. Thamus teilt nun allerdings nicht den Enthusiasmus von Theuth und betont, dass dieser allenfalls ein Mittel für das Erinnern in einem recht formalen Sinne erfunden habe, aber keineswegs ein Mittel für Erinnerungen in einem inhaltlichen Sinne. Deshalb führe das schriftlich fixierte Wissen eher zu einem oberflächlichen Scheinwissen als zu einem wirklichen Wissen bzw. zur Weisheit.17 Die Skepsis von Thamus gegenüber der Schrift als Heilmittel gegen die Vergesslichkeit ist nicht aus der Luft gegriffen, wenn man an den Erfolg der Etikettierungsaktion von Aureliano denkt, durch die das Problem des Vergessens in Macondo keineswegs gelöst worden ist. Die von der Krankheit des Vergessens Betroffenen beginnen nämlich nach und nach auch zu vergessen, welche Begriffsinhalte die jeweiligen Namen repräsentieren bzw. welches pragmatische Sachwissen sich in den jeweiligen Begriffsbildungen konkretisiert hat. Der Verlust der Namen impliziert nicht nur einen Verlust von Benennungsmöglichkeiten, sondern auch einen Verlust von Welt im Sinne von kategorial interpretierter Welt. Auf die schriftliche Fixierung von Namen für Gegenstände muss deshalb schon bald ein zweiter mnemotechnischer Schritt folgen. Auf den jeweiligen Namensschildern muss zusätzlich schriftlich festgehalten werden, welches Sachwissen durch den jeweiligen Namen ins Bewusstsein gerufen werden soll. Deshalb genügt es beispielsweise nicht mehr, eine Kuh mit dem Zettel zu versehen, auf dem der Name Kuh steht, sondern es müssen auch Aussagen über die Nützlichkeit der Kuh gemacht werden bzw. eine Geschichte über die Kuh in den menschlichen Lebenskontexten erzählt werden, weil der Name Kuh dieses Wissen nicht mehr automatisch ins Bewusstsein ruft. Dadurch wird deutlich, wie eng das semantische Gedächtnis mit dem deklarativen Gedächtnis verschränkt ist: „Das ist die Kuh, die man jeden morgen melken muß, damit sie Milch gibt, und die Milch muss man aufkochen, um sie mit Kaffee zu mischen und damit Milchkaffee zu machen."
17
Piaton, Phaidros, 274a, Werke, Bd. 4, S. 55. Vgl. auch Kap. V dieses Buches.
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Die Ausweitung des Vergessensprozesses von den Namen für Begriffsmuster auf das mit ihnen verbundene pragmatische Sachwissen dokumentiert, dass die Inhalte des semantischen Gedächtnisses kontinuierlich in die des deklarativen Gedächtnisses übergehen und sich eigentlich nur hinsichtlich ihres Komplexitätsgrades voneinander unterscheiden. Gleichzeitig wird dabei aber auch deutlich, dass sich die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses ohne sprachliche Repräsentationsmöglichkeiten gar nicht mehr objektivieren und vermitteln lassen. Das wird insbesondere dadurch exemplifiziert, dass die Einwohner ein Schild mit der Aufschrift aufstellen: „Gott existiert''. Mit der schriftlichen Fixierung dieses Satzes wollen sie offenbar einen Denkinhalt vor dem Vergessen bewahren, der sich eigentlich nur mit Hilfe einer sprachlichen Aussage objektivieren lässt, aber durch kein anderes Repräsentationsverfahren. Zweifellos ist die Schrift eine sehr wichtige Mnemotechnik, um insbesondere die möglichen Inhalte des semantischen und deklarativen Gedächtnisses vor dem Vergessen zu bewahren. Lexika und Lehrbücher dokumentieren das auf eine schlagende Weise. Die möglichen Inhalte des episodischen Gedächtnisses lassen sich dagegen auch ohne schriftliche Fixierung vor dem Vergessen schützen, wenn sie in eine narrative Form gebracht werden, was die Epen in oralen Kulturen sehr deutlich beweisen. In dieser Form lassen sich auch Inhalte sehr gut objektivieren, memorieren und tradieren, die wir üblicherweise dem deklarativen Gedächtnis zuordnen würden. Wir haben in diesem Zusammenhang nur zu beachten, dass Epen einen Strukturzusammenhang nicht allgemein gültig mit begrifflichen Mitteln darzustellen versuchen, sondern exemplarisch und bildlich mit erzählerischen Mitteln. Auf diese Weise bekommt das jeweilige Strukturwissen dann allerdings einen ausgesprochen episodischen Grundcharakter. Während in oralen Kulturen das zu überliefernde Wissen dadurch verfügbar gehalten wird, dass es ständig wiederholt und dabei auch aktuellen Bedürfnissen angepasst wird, kann es in literalen Kulturen nicht allein dadurch verfügbar gehalten werden, dass es schriftlich fixiert wird. Es müssen zusätzlich noch Verfahren entwickelt und praktiziert werden, die sicherstellen, dass man sich auch trotz kulturhistorischer Traditionsbrüche Zugang zu diesem Wissen verschaffen kann. Wenn man sich das inhaltliche Objektivierungsziel von schriftlich fixierten Texten nicht hermeneutisch erschließen kann bzw. wenn man die Schrift nicht als technisches und strukturierendes Medium beherrscht, dann laufen alle Anstrengungen ins Leere, die Schrift als Heilmittel oder zumindest als Kompensationsmittel gegen Vergessenprozesse einzusetzen. Diese Problemlage wird in unserer Geschichte durch die Hinweise auf die Vergangenheitswahrsagerin, die Gedächtnismaschine und das Vergessen von Verschriftungsverfahren verdeutlicht. Als das Vergessen einsetzt, ersinnt Pilar Ternera das Verfahren, nun auch die Vergangenheit so aus Spielkarten herauszulesen wie zuvor die Zukunft. Die Vergangenheit wird bei diesem Verfahren nicht mehr aus Erinnerungen,
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historischen Überresten und schriftlich überlieferten Quellen rekonstruiert, sondern aus vieldeutigen Zeichen und Zeichenkonstellationen spekulativ erzeugt. Da Buendia diesem Verfahren sehr misstraut, erfindet er eine Gedächtnismaschine, um das geschichtliche Wissen bzw. das historisch erarbeitete Wissen von der Welt lebendig und verfugbar zu halten. Er schreibt das lebensnotwendige Wissen auf kleine Karten und integriert diese in einen Apparat, mit dessen Hilfe man die Karten wie ein drehbares Wörterbuch ständig zur Lektüre Revue passieren lassen kann, um das darauf verzeichnete Wissen durch eine unablässig wiederholte Lektüre vor dem Vergessen zu bewahren. Aber auch diese Methode erweist sich letztlich als sinnlos, weil sich herausstellt, dass nicht nur das auf die Welt bezogene Sachwissen, sondern auch das Sprachwissen dem Vergessensprozess anheim fällt. Der Verlust des Sprachwissens schließt nicht nur den Verlust des Wissens um die Bedeutung der Wörter ein, sondern auch den Verlust des Wissens um die angewandte Verschriftlichungstechnik bzw. um den „Wert des geschriebenen Buchstabens." Deshalb ist Buendias Gedächtnismaschine letztlich ebenso nutzlos wie eine Bibliothek, in der die Menschen nur Bücher in einer ihnen fremden Sprache bzw. Schrift vorfinden. Alle in Macondo ersonnenen Mittel, gegen die Krankheit des Vergessens anzukämpfen, sind unbrauchbar, weil sie immer nur die Symptome der Krankheit bekämpfen, aber nicht die Ursachen. Es werden keinerlei Methoden entwickelt oder erprobt, die möglicherweise Selbstheilungskräfte gegen diese Krankheit mobilisieren könnten. Die Krankheit des Vergessens wird in unserer Erzählung als eine Naturkatastrophe dargestellt, die von außen über Macondo hereinbricht. Sie kann deshalb auch nicht durch eigene Anstrengungen besiegt werden, sondern nur durch einen magischen Zaubertrank, den Melchiades wie ein deus ex machina in das Dorf bringt. Diese wundersame Rettung des Dorfes durch Melchiades, der schon früher mit seinen Utensilien die geschlossene Welt von Macondo aufgebrochen hat, provoziert natürlich dazu, sehr grundsätzliche Fragen in individueller, kultureller und systematischer Hinsicht zu dem Problem des Vergessens und Erinnerns zu stellen.
5. Die Verschränkung von Erinnerungs- und Vergessensprozessen Die Thematisierung des Vergessens als Krankheit legt nahe, ein perfektes Gedächtnis als Ausdruck der Gesundheit zu verstehen bzw. als eine unverzichtbare Voraussetzung fur die Ausbildung individueller und kultureller Identitäten. Ohne die Fähigkeit, sich früher erworbenes Wissen wieder verfügbar zu machen, scheint das individuelle und kulturelle Leben seine Besonderheit und Tiefendimension zu verlieren und die Voraussetzung dafür, die Gegenwart
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und Zukunft gestalten zu können. Odo Marquard hat das auf eine prägnante Formel gebracht: „Zukunft braucht Herkunft."1* Selbst wenn man annimmt, dass Erinnerungen letztlich nicht authentische geistige Reproduktionen früherer Erfahrungen und Wissensinhalte sind, sondern Ergebnisse der Einbildungskraft, in die sowohl alte Erfahrungen als auch gegenwärtige Sinnbildungsbedürfnisse eingehen, und wenn man weiterhin annimmt, dass das Gedächtnis weniger nach dem Modell eines Speichers, sondern eher nach dem eines Sinnesorgans zu verstehen ist, dann bleibt doch die Grundüberzeugung recht unangetastet, dass das individuelle und kulturelle Leben ohne die Fähigkeit zur Erinnerung kaum denkbar ist. Deshalb hat man ja auch immer wieder von der Furie des Vergessens gesprochen, die sinngebende Gestaltungsprozesse aller Art bedrohe. Obwohl diese Einschätzung prinzipiell sicher richtig ist, so provoziert sie doch die Frage, ob das Vergessen wirklich ganz in das Reich der sinnverwirrenden Rachegöttin gehört und immer nur negativ beurteilt werden sollte. Man müsste zumindest in Betracht ziehen, ob das Vergessen anthropologisch nicht auch positiv zu bewerten ist. Ebenso wie unser Bild von der Geschichte nur dadurch eine prägnante Gestalt gewinnen kann, dass wir bei ihrer Darstellung den Mut zur Selektion haben, so können vielleicht auch unsere Erinnerungen nur dadurch eine prägnante Gestalt bekommen, dass wir auch vergessen können. Erinnerungs- und Vergessensprozesse scheinen dialektisch ineinander verschränkt zu sein. Wer nicht vergisst oder vergessen kann, der ist vielleicht genauso hilflos wie derjenige, der sich alles merken kann oder sich an alles erinnern will. Die wirklich spannende Frage scheint nicht die zu sein, ob das Vergessen eine Krankheit ist, sondern die, wie sich Erinnerungs- und Vergessensprozesse wechselseitig bedingen. Wenn man das Erinnern und Vergessen dialektisch aufeinander bezieht, dann wird die Frage unausweichlich, welche Rolle die Sprache in diesem Spannungsverhältnis spielt, da sie sicher ein entscheidendes Medium in Erinnerungs- und Vergessensprozessen ist. Woran man sich klar und zuverlässig erinnern will, das muss sprachlich objektiviert worden sein oder objektiviert werden können, weil es sonst kaum eine erinnerbare stabile Gestalt mit einem spezifischen Relief bekommt. Erinnerungen, die sich nicht mit Hilfe von Namen, Begriffen, Aussagen oder Geschichten konkretisieren und stabilisieren lassen, werden leicht zu amorphen Gefuhlseinheiten. Deshalb stellt sich auch nicht nur die Frage, was vergessen werden darf, sondern auch die Frage, was vergessen werden muss, damit sich erinnerbare Sinneinheiten herausbilden können. Das Vergessen ist so gesehen dann keine bloße Negation des Erinnerns, sondern eine seiner Voraussetzungen. Sinnbildungsprozesse setzen immer Vergessensprozesse voraus. Metaphorisch können wir nur reden, wenn wir bereit und in der Lage sind, alte Wort18
O. Marquard, Philosophie des Stattdessen, 2000, S. 66.
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bedeutungen zu vergessen. Wir könnten nicht kreativ denken, wenn wir nicht in der Lage wären, alte Denkinhalte und Denkstrukturen zu vergessen. Deshalb darf man das Vergessen auch nicht nur als eine Verlustgeschichte verstehen, sondern muss es auch als eine Gewinngeschichte betrachten, die eine fundamentale anthropologische Funktion hat. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang dann das Problem, auf welcher Ebene Vergessensprozesse hilfreich sind, um die Ausbildung von Erinnerungen zu fördern, und auf welcher Ebene sie gerade diese Funktion gefährden.
Die Ausbildung und Nutzung von Schemata Die Annahme ist wohl realistisch, dass die ersten Vergessensprozesse schon in elementaren Wahrnehmungsprozessen einsetzen müssen. Wir können nicht alle Wahrnehmungsreize verarbeiten, sondern nur diejenigen, die einen Beitrag zur Ausbildung von profilierten Wahrnehmungsgestalten leisten. Alle anderen müssen in den Orkus des Vergessens fallen, um Wahrnehmungsprozesse nicht zu verwirren. Auch bei der Bildung sprachlicher Ordnungsmuster bzw. Begriffe muss es notwendigerweise zu Selektions- und damit auch zu Vergessensprozessen kommen. Wenn wir Einzelerfahrungen unter einen Begriff subsumieren, dann müssen wir uns auf Ähnlichkeiten konzentrieren und alle Unähnlichkeiten vergessen. Ohne die Reduktion von Vielfalt und Komplexität können wir uns nicht in der Welt orientieren bzw. Sinngestalten entwerfen. Die Ausbildung von Wahrnehmungsschemata ist eine genuine Aufgabe kognitiver Prozesse. Ohne die Zuordnung von Einzelerfahrungen zu einer Familie ähnlicher Erfahrungen bzw. ohne die Interpretation von Reizkonfigurationen als Exemplifikationen eines Ordnungsschemas könnten wir nicht überleben. Abstraktions- und Selektionsprozesse sind unausweichlich, wenn wir nicht in der Flut von Sinneseindrücken und Informationen ertrinken wollen. Im Piatonismus sind deshalb Erkenntnisprozesse im Prinzip als Erinnerungs- bzw. Anamnesisprozesse im Hinblick auf vorgegebene Ideen oder auf ein vorgegebenes Urwissen verstanden worden. Alle Anstrengungen hätten sich darauf zu richten, in der konkreten Erscheinungswelt die durchschimmernden Urmuster zu sehen. Auch Kant hat betont, dass die Vernunft ohne die Nutzung von vereinfachenden Schemata gar nicht arbeiten könne. Die Fähigkeit zur Ausbildung solcher Schemata sei eine Kunst, die „in den Tiefen der menschlichen Seele" verankert sei.19 Für den Kognitionspsychologen Bartlett sind vereinfachende Schemata die entscheidenden Voraussetzungen dafür, konstruktiv auf Sinnesreize reagieren zu können und alte Erfahrungen für das Handeln bzw. für den Erwerb neuer Erfahrungen zu nutzen.20 Solche Ord19 20
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 181/182, Werke, Bd. 3, S. 190. F.C. Bartlett, Remembering, 1932/1967, S. 208ff.
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nungsschemata müssen sich natürlich nicht zwangsläufig in konkreten sprachlichen Mustern manifestieren. Aber ihre sprachliche Fixierung ist eine Voraussetzung dafür, sie differenzieren und stabilisieren zu können und insbesondere die angeborenen groben artspezifischen Wahrnehmungsschemata durch differenzierte kulturspezifische zu ergänzen. Wenn wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen den Vergessensprozess in Macondo betrachten, dann ergibt sich, dass dieser von nachgelagerten Schematisierungen, Kenntnissen und Fertigkeiten zu immer fundamentaleren fortschreitet. Zuerst werden die Namen vergessen bzw. die Konventionen für die Zuordnung von Signifikanten zu Signifikaten, dann werden die kognitiven Schemata bzw. die Signifikate vergessen, dann werden die pragmatischen Differenzierungsintentionen für die Ausbildung von Denkschemata vergessen und schließlich die operativen Verfahren des Denkens selbst. Das Vergessen weitet sich von elementaren Sprachkonventionen auf die Prämissen dieser Konventionen aus und führt dadurch folgerichtig zu einem sich verstärkenden kognitiven Stumpfsinn. Unter diesen Umständen läuft natürlich auch die Verwendung der Schrift ins Leere, weil sie nur eine Hilfe bei der Bekämpfung der allerersten Vergessenssymptome ist. Das eigentliche Problem bei den fortschreitenden Vergessensprozessen in Macondo besteht darin, dass nicht nur nachgelagerte kulturspezifische und individuelle Wissensinhalte vergessen werden, sondern auch genetisch verankerte Wissensinhalte des Artgedächtnisses bzw. genetisch verankerte Operationsmuster des Denkens. Gegen solche Vergessensprozesse helfen keine Mnemotechniken. Man wird wohl sagen können, dass in Macondo letztlich die Fähigkeit verloren geht, Prozesse der akzentuierenden Selektion und der ausgrenzenden Abwehr in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu setzen. Die Menschen verlieren zuerst die Fähigkeit, Wahrnehmungs- und Sinngestalten sprachlich zu benennen und dann die Fähigkeiten, solche Sinngestalten zu bilden.
Die Gedächtnismaschine Die spezifische Struktur der Vergessensprozesse in Macondo macht ganz offensichtlich, dass der Bau der Gedächtnismaschine letztlich ein ganz sinnloses Unterfangen ist. Dieses Projekt baut nämlich auf der unhaltbaren Prämisse auf, dass Erinnerungsprozesse rein reproduktive Prozesse sind, bei denen schon abgeschlossene oder fixierte Denkinhalte nur ins Bewusstsein zurückgerufen werden bzw. bei denen vorgegebene Denkinhalte durch ständige Reproduktionsprozesse lebendig erhalten werden können. Es wird nicht in Betracht gezogen, dass Erinnerungsprozesse möglicherweise als produktive Prozesse verstanden werden müssen, bei denen vielfältige kognitive Fähigkeiten ineinander greifen und bei denen es auch zu einer Umstrukturierung oder zumindest zu
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einer Umakzentuierung von Erinnerungsinhalten kommen kann. Wenn man Wörter als Mittel der Repräsentation vorgegebener und abgeschlossener Inhalte versteht, dann könnte man die Gedächtnismaschine von Buendia noch als einigermaßen funktionstüchtig ansehen, aber eine solche Einschätzung ist unmöglich, wenn man Wörter als Repräsentanten fur Kategorisierungsprozesse ansieht bzw. als Überschriften für Geschichten, die von Fall zu Fall eine leicht abgewandelte Struktur bekommen. Es ist sicherlich einzuräumen, dass die ständige Wiederholung von Wörtern und Aussagen dabei helfen kann, bestimmten Denkinhalten eine größere Stabilität und einen höheren Grad an psychischer Präsenz zu geben. Aber diese These gilt nur solange, wie die allgemeine kognitive Fähigkeit zu Sinnbildungsprozessen nicht gestört ist bzw. wie die Fähigkeit erhalten bleibt, mit Sinnesreizen und Zeichen adäquat umzugehen. Wenn diese Fähigkeit nicht mehr gegeben ist, dann ist es sinnlos, das auf den Einzelkarten verzeichnete Sachwissen täglich zu repetieren. Das sprachlich fixierte Gegenstandswissen kann durch tägliche Wiederholung nur dann lebendig gehalten werden, wenn das prozedurale Handlungswissen zum Umgang mit Sprachzeichen nicht gestört wird. Auf den ersten Blick scheinen die Hoffnungen, die Buendia auf die Erfindung der Gedächtnismaschine setzt, gar nicht so absurd zu sein, da diese Maschine dem Rhapsoden ähnelt, der in oralen Kulturen durch die ständige Wiederholung von Epen das verfügbare Kulturwissen lebendig zu erhalten versucht. Aber diese Funktionsanalogie hinkt insbesondere in zwei Hinsichten. Zum einen sind die beiden Verfahren zur Wissenserhaltung schlecht vergleichbar, weil in Macondo die Krankheit des Vergessens vom Vergessen von Tatbeständen auf das Vergessen von Sinnbildungsstrategien übergreift. Zum anderen sind beide Verfahren ziemlich unterschiedlich, weil der Rhapsode das überlieferte Wissen ständig den Denk- und Sprachformen seiner Hörer anpasst, während die Gedächtnismaschine in Macondo eine bestimmte Objektivierungsform des Wissens ständig wiederholt und nicht mehr auf die aktuellen Sinnbildungsbedürfhisse und Sinnbildungsfähigkeiten der Rezipienten abstimmt. Das von der Maschine reproduzierte Wissen bekommt eine rein rituelle Relevanz und verliert seine pragmatischen Lebensbezüge. Die Gedächtnismaschine von Macondo exemplifiziert im Prinzip alle Befürchtungen, die Thamus im platonischen Mythos gegenüber dem enthusiastischen Schrifterfinder Theuth ins Feld geführt hat. Die schriftliche Fixierung des Wissens auf Wissenskarten blockiert die Erhaltung eines lebendigen Wissens. Allenfalls kann sie zu einer Erinnerung an die Wörter und ihre Bedeutungen führen, aber nicht zu einer Erinnerung an die Sachen. Deshalb hat auch ein anderer Schriftkritiker, nämlich Rousseau, besonderen Wert darauf gelegt, dass das Gedächtnis von Emile an den Erfahrungen der Dinge entwickelt wird (memoire des choses, memoria rerum) und nicht an der Erfahrung der Wörter
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(memoire des mots, memoria verborum).21 Bei dieser Zielsetzung kann sicher nicht auf den Gebrauch von Wörtern verzichtet werden, da diese als Repräsentanten von Begriffen bzw. Kategorisierungsschemata erst eine differenzierte Sacherfahrung ermöglichen. Auf schriftlich fixierte Wörter lässt sich aber durchaus verzichten. Die schriftliche Fixierung des Wissens ist nicht nur unter den Rahmenbedingungen von Macondo ein Problem, sondern immer ein Problem, wenn nicht zugleich auch die Fähigkeit zur perspektivischen Interpretation von schriftlich fixierten Texten entwickelt wird. Wenn es nicht möglich ist, die Sinnbildungsziele schriftlich fixierter Texte zu rekonstruieren, dann wird die Rezeption schriftlich fixierten Wissens zu einem Problem. Man muss nämlich den gegenwärtigen Sprachgebrauch und die gegenwärtigen Informationserwartungen vergessen können, um die ursprüngliche Informationsfunktion überlieferter Texte in den Blick zu bekommen.
6. Die Krankheit des Behaltens Dem Alltagsdenken liegt es sehr nahe, das Vergessen für eine Krankheit zu halten oder zumindest für ein Problem. Weniger nahe liegt es ihm, das perfekte Gedächtnis für eine Krankheit oder ein Problem zu halten. Nach den bisherigen Überlegungen wird man sich aber vielleicht mit dem Gedanken anfreunden können, dass das Vergessen auch ein Stück Sozialhygiene ist, ohne das Individuen und Gesellschaften gar nicht auskommen können. Wer alles behält, der ist vielleicht ebenso krank wie derjenige, der alles vergisst. Dieses Problem soll kurz an drei Beispielen erläutert werden. Dabei handelt es sich um ein reales Beispiel, das der Psychologe Lurija aus seiner Praxis berichtet hat, und um zwei fiktive Exempel, die die Schriftsteller Borges und Lenz in kurzen Erzählungen entfaltet haben. Alle drei Beispiele verdeutlichen, dass Erinnerungsprozesse zum Problem werden, wenn sie nicht mehr dialektisch mit Vergessensprozessen verschränkt werden können.
Der Fall eines Gedächtniskünstlers Der russische Psychologe Lurija hat über fast 30 Jahre das Lebenswerk des Gedächtniskünstlers Schereschewski verfolgt, analysiert und kommentiert.22 Ihn interessiert an diesem Fall weniger das Fassungsvermögen und die Beständigkeit des Gedächtnisses dieses außergewöhnlichen Menschen, sondern viel21 22
Vgl. H. Weinrich, Lethe, 1997, S. 91. A.R. Lurija, Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses, in: A.R. Lurija, Der Mann, dessen Welt in Scherben ging, 1992, S. 147-248.
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mehr die Rückwirkungen der phänomenalen Gedächtnisleistungen auf sein Denken und sein Verhalten. Die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses dieses Mannes war nahezu unbegrenzt. Er musste nichts auswendig lernen und konnte sich alle Daten und Fakten mühelos merken, was ihm als Zeitungsreporter zunächst sehr zustatten kam. Seine Gedächtnisleistungen gründeten sich insbesondere darauf, dass er seinem Erinnerungsvermögen eine ausgesprochen visuelle Ausprägung geben konnte und sich Wortinhalte mit Hilfe visuell fassbarer Exempel verfügbar machte. So merkte er sich beispielsweise die Farbe Rot über die Vorstellung eines roten Hemdes. Bei Bedarf konnte er sich solche Exemplifizierungen mühelos wieder in Begriffe zurückübersetzen. Wenn es dann doch zuweilen bestimmte Erinnerungsdefekte gab, dann lag es nach der Interpretation von Lurija nicht an wirklichen Gedächtnisdefekten, sondern eher an Defekten der inneren Wahrnehmung. Beispielsweise vergaß der Gedächtniskünstler einmal das Wort Ei bei der Wiederholung einer langen Wortreihe, weil er seine Vorstellung vom Ei räumlich vor einer weißen Wand lokalisiert hatte und weil auf diese Weise die Eivorstellung mit der Wandvorstellung verschmolzen war. Ein ähnliches Problem ergab sich, als er einmal die Vorstellung einer Kiste in einer dunklen Nische eines Tores platziert hatte und dann die Kiste wegen des Lichtmangels nicht mehr vorstellungsmäßig von der Umgebung abgrenzen konnte.23 Texte in fremden Sprachen konnte sich der Gedächtniskünstler umfassend merken, weil er die Wortklänge mit bestimmten Vorstellungsbildern korrelierte und bei Bedarf diese Bilder dann wieder problemlos in Wortklänge zurückverwandeln konnte. Um selbst zu testen, ob er einmal aufgenommene Informationen nicht vergessen könne, versuchte es Schereschewski mit der Technik des Aufschreibens. Telefonnummern, die er vergessen wollte, schrieb er auf, weil man ja alles vergessen kann, was man schriftlich fixiert hat. Aber dieses Verfahren hatte keinen Erfolg, weil er in seinen Gedanken nun ständig das Bild seiner Notizen vor Augen hatte. Weder das Wegwerfen von Zetteln noch die Magie des Verbrennens von Merkzetteln halfen ihm, das Aufgeschriebene zu vergessen.24 Die Unfähigkeit, etwas vergessen zu können, wurde von dem Gedächtniskünstler selbst immer wieder als eine sehr sublime Art der Folter erlebt, insofern ständig Erinnerungsbilder auf ihn einstürmten und sich auf diese Weise die Grenzlinie zwischen der gegenwärtigen und der erinnerten bzw. vorgestellten Welt immer wieder verwischte. Unter diesen Umständen bekamen auch Einzelwörter für ihn eine ganz andere Bedeutung wie im üblichen Sprachgebrauch. Deshalb hatte er oft eine ganz besondere Sicht auf Menschen und Dinge, was wiederum zu Kommunikationsproblemen und zu einer gewissen sozialen Isolation führte. Da Schereschewski wegen dieser Konsequenzen 23 24
A.R. Lurija, a.a.O., S. 170f. A.R. Lurija, a.a.O., S. 248.
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seines guten Gedächtnisses in keinem der üblichen Berufe wirklich Fuß fassen konnte, trat er schließlich nur noch professionell als Gedächtniskimstier auf. Schon bei einfachen Unterhaltungen hatte Schereschewski große Schwierigkeiten, sich auf das Thema des jeweiligen Gesprächs zu konzentrieren, weil ihn seine Assoziationen aus dem Gedächtnis ständig ablenkten. Er erlebte sich selbst als einen passiven Menschen, weil er alle verfugbaren Informationen wie ein Schwamm aufsaugte. Seinem Denken konnte er kaum eine zielgerichtete Orientierung geben oder gar einen Abschuss. Lurija beschreibt das folgendermaßen: „Er hatte eine Familie: eine gute Frau, einen begabten Sohn, doch auch das nahm er wie durch einen Dunstschleier wahr. Und es ließ sich schwer sagen, was für ihn realer war - die Phantasiewelt, in der er lebte, oder die Wirklichkeit, in der er vorübergehender Gast war."25 Die Beobachtungen und Interpretationen von Lurija verdeutlichen, welche Probleme sich ergeben, wenn man nicht mehr vergessen kann. Das Memorierte überlagert die aktuellen Wahrnehmungen so sehr, dass es keine Interpretationsfunktion mehr fur diese hat, sondern sie an den Rand des Interesses drückt. Die erinnerte Welt breitet sich krakenhaft über die aktuelle Welt aus und nimmt ihr die Relevanz, die ihr pragmatisch zusteht. Die üblichen Selektions- und Konzentrationsprozesse des Denkens gehen verloren und damit die wesentlichen Voraussetzungen für Entscheidungen und fur effektives Handeln. Alle Wahrnehmungen graben sich in das Gedächtnis ein, kein Inhalt kann mehr vergessen, überlagert oder transformiert werden. Alles Wahrgenommene ist mehr oder weniger gleich stark präsent, sodass sich keine Chance ergibt, Erinnerungen nach ihrer Relevanz zu stufen bzw. durchstrukturierte Erinnerungsbilder zu formieren. Außerdem ist in diesem Zusammenhang auch zu beachten, dass die Mnemotechnik, nach der alle Denkinhalte in Bilder umgesetzt werden, natürlich auch zu einer Schwächung des abstraktiven Denkens führt, da alle Denkinhalte ja in eine bildliche oder episodische Repräsentationsform gebracht werden müssen. Dadurch kommt es zu einer Vernachlässigung von begrifflichen Formgebungen und von schlussfolgernden Denkakten. Das assoziative Denken wird angeregt, aber das strategische wird geschwächt. Während in Macondo die Krankheit des Vergessens dahin führt, dass die Betroffenen ihre alten Erfahrungen nicht mehr für die Strukturierung neuer Erfahrungen bzw. für effizientes Handeln einsetzen können, führt die Krankheit des Behaltens bei dem Gedächtniskünstler Schereschewski dazu, sich nicht mehr aus dem Bann der Bilder und Assoziationen befreien zu können, die ihm sein außergewöhnliches Gedächtnis ständig zuträgt. Beide Krankheitskonsequenzen führen lebenspraktisch in ein Chaos, wenn auch zu einem Chaos unterschiedlicher Genese und unterschiedlichen Typs.
25
A.R. Lurija, a.a.O., S. 248.
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Das unerbittliche Gedächtnis Jorge Luis Borges, der als Bibliotheksdirektor in Buenos Aires auch beruflich mit der Erinnerungsproblematik wohl vertraut war, hat 1942, also schon vor der Beschreibung eines realen Gedächtniskünstlers durch Lurija, eine Erzählung veröffentlicht, in der er das Leben und Denken eines fiktiven Gedächtniskünstlers beschrieben hat.26 In dieser berichtet ein Erzähler in einer persönlichen Retrospektive über eine Bekanntschaft mit Ireneo Funes, der nach dem Sturz von einem Pferd zwar eine körperliche Lähmung davongetragen hat, der aber zugleich dadurch auch eine außergewöhnliche Gedächtniskraft bekommen hat, die ihn befähigt, alles zu speichern, was er jemals wahrgenommen und gedacht hatte. Der von Borges eingesetzte Erzähler beschränkt sich aber keineswegs darauf, uns die Erinnerungstechniken von Funes exemplarisch vor Augen zu fuhren, sondern er versucht auch, diese kategorial einzuordnen und zu interpretieren. Beispielsweise praktiziert Funes das Verfahren, Ziffern durch Wörter oder durch andere Ziffern zu ersetzen. Statt „7014" sagt er nämlich „ E i s e n b a h n " und statt „500" sagt er „9". Aus diesem Verfahren ergibt sich, dass Wörter und Ziffern fur Funes arbiträre Merkzeichen für Inhalte sind und dass sie mit den jeweils repräsentierten Inhalten selbst gar nichts zu tun haben. Der Hinweis des Erzählers, dass in großen Zahlen die einzelnen Ziffern einen bestimmten Stellenwert hätten und dass sich in ihnen ein bestimmter Systemzusammenhang zwischen den verwendeten Einzelziffern widerspiegele, ist für Funes nicht recht verständlich, da er solche Hilfskonstruktionen zum Verständnis großer Zahlen gar nicht braucht. Der Erzähler kommentiert die außergewöhnlichen Erinnerungsleistungen von Funes auch im Hinblick auf den Empirismus, der ja nur den Einzeldingen eine reale Existenz zubilligen möchte und für den deshalb alle Begriffe auch nur mehr oder weniger gut begründete Ordnungshypothesen darstellen. Zwar hatte auch Locke sich damit abgefunden, dass man aus praktischen Gründen nicht jedem Einzelding einen Eigennamen zuordnen könne, weil das zu einer nicht mehr handhabbaren Sprache bzw. zu einer Überlastung des Gedächtnisses führen würde. Er hat aber in nominalistischen Denktraditionen ausdrücklich betont, dass die sprachlichen Denkmuster bzw. Wörter keineswegs den Anspruch erheben dürften, mehr als pragmatisch motivierte Ordnungshypothesen zu repräsentieren.27
26
27
J.L. Borges, Das unerbittliche Gedächtnis, Gesammelte Werke, Bd. 3/1, 1981, S. 173-182. Vgl. auch: R. Lachmann, Gedächtnis und Weltverlust - Borges' memorioso - mit Anspielungen auf Lurijas Mnemonisten, in: A. Haverkamp/R. Lachmann (Hrsg.), Memoria, 1993, S. 492-519. J. Locke, Über den menschlichen Verstand, 19763, Bd. II, 3. Buch, S. Iff.
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Für den Gedächtniskünstler Funes wäre eine Sprache, die für jedes Einzelding einen Eigennamen zur Verfügung stellte, gedächtnismäßig kein Problem, da er ganz klare Erinnerungen an Einzeldinge hat und diese gar nicht typisieren muss, um erinnerungsmäßig mit ihnen fertig zu werden. „Tatsächlich erinnerte Funes sich nicht nur an jedes Blatt jedes Baumes in jedem Wald, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es gesehen oder sich vorgestellt hatte. Er beschloss, jeden seiner vergangenen Tage auf 70000 Erinnerungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen wollte,"28 Den Erzähler verblüffen auch die Gedächtnisleistungen von Funes, der in kürzester Zeit mühelos Englisch, Französisch, Portugiesisch und Latein gelernt hatte. Er sieht aber durchaus, dass dieses hypertrophierte Gedächtnis ein spezifisches kognitives Defizit zugleich bedingt und verdeckt. Die Fülle von singulären Gedächtnisinhalten hat nämlich dazu geführt, dass Funes die Fähigkeit zum abstrahierenden und schlussfolgernden Denken verloren hat, da er nie mit der Notwendigkeit fertig werden musste, begrenzte Erinnerungsmöglichkeiten durch bestimmte Denkverfahren zu kompensieren. Deswegen merkt er auch an, dass Funes zum Nachvollzug von „allgemeinen platonischen Ideen so gut wie gar nicht imstande" war, weil er in einer Welt von Einzeldingen lebte. Jch vermute allerdings, dass er zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgestopften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art."29 Aufschlussreich ist auch, dass Borges seine Erzählung in einem Vorwort als „eine lange Metapher der Schlaflosigkeit bezeichnet hat. Damit will er wohl andeuten, dass eine ständige Wachheit bzw. eine ständige Konzentration des Denkens auf Einzeldinge und Einzelerfahrungen den Aufbau abstrahierender Vorstellungswelten verhindert, seien es nun Träume oder theoretische Konzepte. Auch Nietzsche hat betont, dass das Vergessen eine konstitutive Vorbedingung für das Handeln sei, insofern effektives Handeln voraussetze, dass man in der Lage sei, die Welt zu vereinfachen, da man andernfalls keine Ziele entwerfen und intentional verfolgen könne. „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafes zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, j a glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu ieben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von histori-
28 29
J.L. Borges, Das unerbittliche Gedächtnis, Gesammelte Werke, Bd. 3/1, 1981, S. 180. J.L. Borges, a.a.O., S. 180f.
Die Krankheit des Behaltene schem Sinn, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur."30
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Selbst wenn man gegen Nietzsche einwenden muss, dass Menschen ohne die Hilfe der Kultur bzw. ohne die Erinnerung an kulturell erarbeitete Denkmuster, Denkverfahren und Denkinhalte gar nicht überleben können und dass eine tierische Existenzform auch ihre Schattenseiten hat, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass ein Leben ohne die Fähigkeit und den Mut zum Vergessen nicht recht vorstellbar ist. Das Vergessen ist sicher eine Voraussetzung dafür, dass es kombinatorische Phantasie, kreatives Denken und intentionalen Handlungsmut gibt. Renate Lachmann hat deshalb zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass man seit Aristoteles hypertrophe Gedächtnisleistungen immer wieder mit dem Phänomen der Melancholie in Verbindung gebracht habe und dass der Melancholiker immer wieder als Opfer der in ihm aufsteigenden Gedächtnisgebilde verstanden worden sei.31 Der Historiker Christian Meier hat betont, dass das geschichtlichpolitische Leben weder ohne die Erinnerung an das Böse noch ohne die Bereitschaft und Fähigkeit zum Vergessen denkbar sei. Alle großen Friedensschlüsse seien immer mit weit reichenden Amnestien verbunden worden, um die Zukunft nicht mit Erinnerungen zu belasten. Das Kriegsbeil müsse man vergraben. Wenn man es nur wegwerfe, dann könne es zu leicht wieder gefunden werden. Der zukünftige Friede sei immer wieder als ein höheres Gut eingeschätzt worden als die Gerechtigkeit.32 Die Ähnlichkeiten, aber auch die Kontraste der Erzählung von Borges mit der von Märquez sind nicht zu übersehen. Beide bringen das Problem der Schlaflosigkeit mit dem des Vergessens in Verbindung, wenn auch auf eine sehr unterschiedliche Weise. Borges bezeichnet seine Geschichte über das unerbittliche Gedächtnis von Funes als eine „lange Metapher der Schlaflosigkeit. Damit will er offensichtlich darauf aufmerksam machen, dass Funes wegen seines hypertrophen Gedächtnisses keine Chance hat, eine Distanz zu dem Übermaß seiner Eindrücke zu gewinnen und diese zu verarbeiten. Sein gutes Gedächtnis hindert ihn daran, seine Einzeleindrücke in umfassende Sinngestalten zu integrieren, von Details zu abstrahieren bzw. diese zu vergessen. Der Schlaf als der kleine Tod bzw. als Phase der Transformation und Regeneration kann deshalb seine heilenden Kräfte nicht entfalten. Außerdem ist der Hinweis auf die Lähmung von Funes vielleicht auch als Sinnbild dafür zu verstehen, dass dieser nicht mehr aus seiner Erinnerungswelt aussteigen kann, um in eine Handlungswelt einsteigen zu können.
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32
F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Werke, Bd. 1, S. 213. R. Lachmann, Gedächtnis und Weltverlust - Borges' memorioso - mit Anspielung auf Lurijas Mnemonisten, a.a.O., 1993, S. 51 Iff. Ch. Meier, Erinnern - Verdrängen - Vergessen, Merkur, 50, 1996, S. 937-952.
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Die Krankheit des Vergessens
Bei Märquez ist die Schlaflosigkeit dagegen kein melancholischer Dämmerungszustand mit einem Übermaß von Erinnerungen, sondern vielmehr die Auslöserin für einen um sich greifenden Erinnerungsschwund. Die Schlaflosigkeit wird von den Betroffenen zunächst als Chance zu einer größeren Erlebnisfähigkeit begriffen, aber diese Hoffnung erweist sich als trügerisch. Als man bemerkt, dass die Schlaflosigkeit einen Erinnerungsschwund auslöst, entwickelt man zunächst zwar noch Handlungsaktivitäten (Quarantänemaßnahmen, Beschriftungen, Gedächtnismaschine), aber diese Aktivitäten führen zu keinem Ergebnis. Von vergrößerten Erfahrungsmöglichkeiten kann keine Rede sein. Die Schlaflosigkeit und das Vergessen lassen sich nicht systemintern bekämpfen, sondern nur durch einen systemexternen Zaubertrunk.
Der Spielverderber Mit den Implikationen eines hypertrophen Gedächtnisses hat sich auch Siegfried Lenz in seiner Erzählung Der Spielverderber von 1962 beschäftigt.33 Hier wird in einer rückblickenden Ich-Erzählung die Geschichte eines Jungen erzählt, der sich alle Daten und Fakten mühelos merken kann, der sich das gesamte Lernpensum eines Schuljahres in wenigen Tagen anzueignen weiß und den seine Mitmenschen als wandelndes Lexikon und Notizbuch missbrauchen. Erst allmählich wird sich dieser Junge bewusst, dass mit seinen übergroßen Gedächtnisleistungen auch Probleme verknüpft sind und dass sie die Wurzel all seiner persönlichen Schwierigkeiten sind. Das Besondere an dem Gedächtnis des Jungen besteht nämlich darin, dass er sich nicht nur ganz leicht das ins Bewusstsein rufen kann, was er selbst einmal persönlich erfahren, erlebt und gedacht hat, sondern dass er sich in bestimmten Situationen auch das vergegenwärtigen kann, was im Gedächtnis anderer Personen gespeichert ist. In diesem Zusammenhang ergeben sich dann insbesondere Schwierigkeiten dadurch, dass er unter einem internen Zwang steht, sich dieses zusätzlichen Wissens immer wieder entledigen zu müssen. So bedeutet er seinem Lehrer, dass dessen wertvolle Uhr früher einem Kollegen gehört habe, der emigrieren musste. Das irritiert diesen Lehrer sehr, weil er diese Tatsache immer als ein großes Geheimnis gehütet hat. Der Junge beginnt allmählich zu erkennen, dass er nur solange Freunde hat, wie sich sein Gedächtnis nicht meldet und wie sich andere von ihm nicht durchschaut fühlen. Seine überragenden Gedächtnisleistungen machen ihn nämlich eher unbeliebt als beliebt. Er verliert seine Arbeitsstelle, weil er unabsichtlich immer wieder aufdeckt, was andere unter Verschluss gehalten haben und auch weiterhin unter Verschluss halten möchten. Nach und nach wird ihm bewusst, welche psychische Wohltat darin besteht, etwas zu vergessen und 33
S. Lenz, Der Spielverderber, in: S. Lenz, Die Erzählungen, 1986, S. 194-216.
Die Krankheit des Behaltens
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eben dadurch auch die Chance zu bekommen, sich von etwas freisprechen zu können. Er erkennt, welches Problem darin besteht, dass das Gedächtnis keinerlei Mitleid kennt und ihn immer wieder dazu bringt, sein Wissen preiszugeben. So verliert er beispielsweise seine Freundin, weil er unabsichtlich aufdeckt, dass ihr Vater gar nicht ihr leiblicher Vater ist. „Das Mißtrauen, das ich hervorrief und das mich umgab, bestätigte nur meine asoziale Veranlagung; es ließ mich erkennen, daß ich ein Außenseiter war und es solange bleiben würde, wie es mir nicht gelang, mein Gedächtnis zum Verstummen zu bringen,"34 Der Junge gerät wegen seines phänomenalen Gedächtnisses nicht nur als Spielverderber in ein soziales Abseits, sondern zugleich auch in eine tiefe persönliche Identitätskrise und zu dem Wunsch, sich von der Last seines Gedächtnisses zu befreien. ,Jch bin soweit gekommen, daß ich das Gedächtnis für ein kleines Meisterwerk des Teufels halte, mit dessen Hilfe er uns unaufhörlich zu verstehen gibt, daß der Mensch genügt, um dem Menschen Höllen zu Lebzeiten zu errichten. Was liegt näher, als uns dieser unangenehmen Mitgift zu entledigen!"35 Im Gegensatz zu Märquez qualifiziert Lenz nicht das Vergessen, sondern die uneingeschränkte Präsenz eigener und fremder Gedächtnisinhalte als Krankheit. Nicht das Vergessen fuhrt zu sozialer Isolation, weil es die Kommunikationsmöglichkeiten einschränkt, sondern die hypertrophe Erinnerungsfähigkeit, weil dadurch die Sphäre der Privatheit aufgehoben wird. Die Kommunikationspartner brechen den Kontakt zu dem Jungen ab, weil sie selbst für diesen durchsichtig geworden sind und weil sie glauben, dass sie eben dadurch auch ein Stück ihrer eigenen Identität verloren haben. Außerdem ist natürlich zu berücksichtigen, dass jeder Dialog stirbt, wenn es keinen Unterschied mehr in den Wissensbeständen der Gesprächspartner gibt und wenn in Gesprächen das Spannungsverhältnis zwischen Offenbaren und Verschweigen bzw. zwischen Provozieren und Ausgleichen verschwindet. Wer alles weiß oder zu wissen beansprucht, der wird in der Tat zum Spielverderber.
34 35
S. Lenz, a.a.O., S. 211. S. Lenz, a.a.O., S. 212-213.
XII
Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen
Ein Tisch ist ein Tisch Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu miid, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben, kaum etwas unterscheidet ihn von andern. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen, einen grauen Rock und im Winter den langen grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals, dessen Haut trocken und runzelig ist, die weißen Hemdkragen sind ihm viel zu weit. Im obersten Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer andern Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo die Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, ein Bett und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker, daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild. Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch. Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken. Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten - und das Besondere war, daß das alles dem Mann plötzlich gefiel. Er lächelte. „Jetzt wird sich alles ändern ", dachte er. Er öffnete den obersten Hemdknopf, nahm den Hut in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloß sein Zimmer auf. Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert. Und den Mann überkam eine große Wut.
Ein Tisch ist ein Tisch
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Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf den Tisch zu trommeln und schrie dazu immer wieder: „Es muß sich ändern, es muß sich ändern!" Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder, und nichts änderte sich. „Immer derselbe Tisch", sagte der Mann, „dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich? " Die Franzosen sagen dem Bett „Ii", dem Tisch „tabl", nennen das Bild "tablo" und den Stuhl „ schäs ", und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch. „ Weshalb heißt das Bett nicht Bild", dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und „Ruhe" riefen. „Jetzt ändert es sich ", rief er und sagte von nun an dem Bett „Bild". „Ich bin müde, ich will ins Bild", sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl „ Wecker ". Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte: Dem Bett sagte er Bild. Dem Tisch sagte er Teppich. Dem Stuhl sagte er Wecker. Der Zeitung sagte er Bett. Dem Spiegel sagte er Stuhl. Dem Wecker sagte er Fotoalbum. Dem Schrank sagte er Zeitung. Dem Teppich sagte er Schrank. Dem Bild sagte er Tisch. Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel. Also: Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand. Der Mann fand es lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann.
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Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen
Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie es der Mann machte, auch die anderen Wörter austauschen: läuten heißt stellen, frieren heißt schauen, liegen heißt läuten, stehen heißt frieren, stellen heißt blättern. So daß es dann heißt: Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Morgen schaute. Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße. Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz alleine gehörte. Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin. Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er mußte die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er mußte lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen. Seinem Bild sagen die Leute Bett. Seinem Teppich sagen die Leute Tisch. Seinem Wecker sagen die Leute Stuhl Seinem Bett sagen die Leute Zeitung. Seinem Stuhl sagen die Leute Spiegel. Seinem Fotoalbum sagen die Leute Wecker. Seiner Zeitung sagen die Leute Schrank. Seinem Schrank sagen die Leute Teppich. Seinem Tisch sagen die Leute Bild. Seinem Spiegel sagen die Leute Fotoalbum. Und es kam so weit, daß der Mann lachen mußte, wenn er die Leute reden hörte. Er mußte lachen, wenn er hörte, wie jemand sagte: „ Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel? " Oder wenn jemand sagte: „Jetzt regnet es schon zwei Monate lang. " Oder wenn jemand sagte: „Ich habe einen Onkel in Amerika." Er mußte lachen, weil er all das nicht verstand.
Ein Tisch ist ein Tisch
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Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen. Und deshalb sagte er nichts mehr. Er schwieg, sprach nur noch mit sich selbst, grüßte nicht einmal mehr.1
1
Peter Bichsei: Ein Tisch ist ein Tisch, in: P. Bichsei, Kindergeschichten, Frankfürt 1997, Suhrkamp Taschenbuch 2642, S. 21-30. Originalausgabe: Hermann Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1969.
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Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen
1. Die Thematik der Geschichte Die Erzählung Ein Tisch ist ein Tisch ist eine von sieben Geschichten, die Bichsei 1969 als Kindergeschichten veröffentlicht hat. Die Einordnung dieser Geschichte als Kindergeschichte könnte man auf den ersten Blick als einen Hinweis darauf verstehen, dass in ihr kein relevantes Problem, sondern allenfalls ein Kinderproblem verhandelt wird. Aber eine solche Einschätzung ist aus vielerlei Gründen ganz unzutreffend. Zunächst ist zu beachten, dass wir in Bichseis Kindergeschichten kaum auf Kinder treffen, sondern vielmehr auf alte Männer bzw. sonderbare Käuze. Diese werden allerdings von Bichsei in Geschichten verstrickt, in denen elementare Probleme in Erscheinung treten, die in den Gewohnheiten des alltäglichen Lebens von den Erwachsenen meist gar nicht mehr wahrgenommen werden. Kinder sind allerdings für solche Probleme oft sehr aufgeschlossen, weil sie sich den Routinen des Alltagsdenkens noch nicht ganz angepasst haben und eben deshalb auch noch ein Interesse an den Prämissen dieses Denkens haben. Sie sind in der Regel fähig, sich für grundsätzliche Probleme zu interessieren und Erwachsene mit entsprechenden Grundsatzfragen aus der Fassung zu bringen. Und eben mit dieser Disposition von Kindern rechnet Bichsei in seinen Kindergeschichten. Wie alle guten Geschichten haben auch die Kindergeschichten von Bichsei eine Tiefenschicht, die gar nicht so leicht hinter der harmlosen Oberfläche zu erschließen ist. Diese Tiefenschicht wird uns erst fassbar, wenn wir die jeweilige Geschichte nicht als erzählerischen Monolog über ein bestimmtes Ereignis wahrnehmen, sondern als einen ersten Fragezug in einem Dialog, auf den wir mit einer Antwort reagieren müssen, sei es, dass wir die Geschichte weitererzählen, sei es, dass wir uns Gedanken darüber machen, warum es überhaupt zu dieser Geschichte gekommen ist bzw. zu dem Problem, das uns mit ihr vor Augen gefuhrt wird. Zu dem Inhalt von Geschichten gehört so gesehen nicht nur das, was in ihnen tatsächlich gesagt wird, sondern immer auch das, was durch das jeweils Gesagte an Vorstellungen und Gedanken ins Bewusstsein gerufen wird. Die von Geschichten induzierten Vorstellungen und Anschlussgeschichten fallen bei den einzelnen Rezipienten naturgemäß etwas anders aus, weil sie von deren Vorwissen, deren Lebenserfahrungen und deren Assoziationsfahigkeiten abhängen. Gleichwohl müssen wir die von Geschichten aktivierten Vorstellungsinhalte dennoch irgendwie auch zum Inhalt bzw. Sinnpotenzial der jeweiligen Basisgeschichte rechnen. Wenn das nämlich nicht so wäre, dann würden Geschichten und insbesondere die Kindergeschichten von Bichsei ihre besondere Faszinationskraft verlieren. Bichsei hat ausdrücklich betont, dass Kinder eine größere elementare Neugier hätten als Erwachsene und dass sie eher auf Antworten als auf Fragen
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verzichten könnten. Deshalb hat er seine Kindergeschichten auch so konzipiert, dass sie eher Fragen aufwerfen als Antworten geben. „Kinder leben in Fragen, Erwachsene leben in Antworten. Es kommt vor, daß Kinder auf Antworten verzichten, keine Antworten wollen, nur Fragen, als ob es eine Welt der Fragen und eine Welt der Antworten gäbe, die ganz zufällig etwas miteinander zu tun haben - Gegenwelten. "2 Welche sprachtheoretischen Grundsatzfragen werden nun in Bichseis Geschichte über den alten Mann aufgeworfen, ohne dass diese explizit formuliert werden?
De Saussures Zeichenkonzeption als Erschließungskonzept Wenn man sich für die sprachtheoretischen Probleme interessiert, die in Bichseis Geschichte über die Sprachrebellion des alten Mannes aufgeworfen werden, dann kommt man eigentlich nicht umhin, Bezüge zu dem Zeichenkonzept de Saussures herzustellen. Nun wäre es sicher absurd anzunehmen, dass Bichsei als ehemaliger Lehrer die Absicht gehabt hätte, de Saussures Sprach- und Zeichenkonzept zu didaktischen Zwecken narrativ zu illustrieren. Dennoch ist unübersehbar, dass für beide zwei große Problembereiche eine ganz zentrale Rolle spielen. Zum einen geht es sowohl de Saussure als auch Bichsei um die Frage, warum Namen in der Regel eine so stabile Benennungsfunktion haben und welche Chancen einzelne Individuen besitzen, die Benennungsfunktion von Namen zu ändern. Diesen ganzen Problembereich hat de Saussure durch die These strukturiert, dass ein sprachliches Zeichen ein relationales Gebilde sei, bei dem ein Bezeichnendes bzw. ein Signifikant in einer rein konventionellen d.h. arbiträren Relation zu einem Bezeichneten bzw. einem Signifikat stehe. Diese Arbitraritätsthese de Saussures ist zwar etwas problematisch, wenn man das Benennungsproblem in einer sprachhistorischen bzw. sprachgenetischen Perspektive betrachtet, sie ist aber wohl recht einleuchtend, wenn man es in rein systemtheoretischer Perspektive ins Auge fasst. Auf jeden Fall ist de Saussures Grundgedanke hilfreich, dass es kein natürliches Band zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten gebe, sondern nur mehr oder weniger willkürliche soziale Konventionen, um die sprachtheoretischen Implikationen von Bichseis Geschichte zu erfassen. Zum andern ist es für das Verständnis der Geschichte auch hilfreich, dass de Saussure die Sprachwissenschaft grundsätzlich als Zeichenwissenschaft (Semiologie) verstehen möchte, die als Teil der Sozialpsychologie anzusehen sei, insofern sie „ das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht. " 3 Aus heutiger Sicht muss man zwar betonen, dass de Saussure eine 2 3
P. Bichsei, Schulmeistereien, 1985 2 , S. 7. F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 1967 2 , S. 19.
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sehr verkürzte Sicht auf das Gegenstandsfeld der Sozialpsychologie hatte, aber seine Verknüpfung von sprachtheoretischen mit sozialtpsychologischen Fragen ist gleichwohl für das Verständnis unserer Geschichte aufschlussreich. Eine verkürzte Sicht auf die Problemzusammenhänge der Sozialpsychologie muss man de Saussure insofern vorhalten, als er sich bei seinen Überlegungen methodologisch sehr stark an der Programmatik der zeitgenössischen positivistischen Soziologie von Emile Dürkheim ausgerichtet hat. Dieser hatte nämlich scharf zwischen individuellen und kollektiven Vorstellungen unterschieden und letztere, die sich in Form von sozialen Konventionen (Sitten, Rechtsauffassungen, Verhaltensweisen usw.) manifestieren, als soziale Tatsachen klassifiziert. Die wesentliche Charakteristik sozialer Tatsachen besteht für Dürkheim nun darin, dass sie trotz ihrer rein psychischen Manifestationsweise doch ein recht unabhängiges Eigenleben besitzen, das sie dazu befähigt, auf die einzelnen Individuen einen äußeren Zwang auszuüben, der für diese als eine Art struktureller Gewalt in Erscheinung tritt. Aus dieser Denkprämisse hat dann Dürkheim methodologisch den Schluss gezogen, dass soziale Tatsachen „wie Dinge zu betrachten" seien, d.h. unabhängig von den Subjekten, durch die sie im Prinzip erst manifest werden.4 Wenn nun de Saussure die Sprache insgesamt als soziale Tatsache {fait social) bezeichnet, wobei er insbesondere die sozialen Konventionen hinsichtlich der Korrelation von Signifikanten und Signifikaten im Auge hat, so übernimmt er damit ohne erkennbare Vorbehalte auch das methodische Postulat Dürkheims, soziale Konventionen als Urphänomene zu betrachten, die unabhängig von der Gebrauchssituation und dem hermeneutischen Begleitbewusstsein der jeweiligen Subjekte untersucht werden können.5 Diese methodologische Abstraktion mag man für die Beschreibung der Gebrauchsbedingungen von formalisierten Fachsprachen noch durchgehen lassen, aber ob sie für die Beschreibung der Struktur und der Gebrauchsbedingungen der natürlichen Sprache auch zulässig bzw. aufschlussreich ist, kann man wohl mit Fug und Recht bezweifeln. Vielleicht manövriert sich der alte Mann in Bichseis Geschichte gerade dadurch in eine auswegslose Situation, dass er in der Benennungsfrage ganz mechanisch vorgeht und den Teufel mit dem Beelzebub zu vertreiben versucht. So wichtig es prinzipiell ist, dass de Saussure die Sprachwissenschaft mit der Sozialpsychologie in Verbindung bringt, so problematisch ist es, wenn er sie im Prinzip nur als Wissenschaft über die Rolle sozialer Zwänge in mentalen Prozessen versteht. Da er die Sprachwissenschaft nicht auch als eine Wissenschaft über die sprachlich fundierten Denkvorgänge der Menschen im sozialen Raum ansieht, verdeckt er sich selbst viele Struktur- und Problemfelder
4 5
E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, 1976 4 , S. 115. Vgl. W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K. H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 19ff.
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der Sprache. In seinem rein systemtheoretisch orientierten Denkansatz gerät ihm das Spannungsverhältnis zwischen der Individualität und der Sozialität in sprachlichen Strukturordnungen ganz aus dem Blick, weil sich das Erkenntnisinteresse nur auf die Systematik von Zeichenkonventionen konzentriert. Bichsei geht in seiner Geschichte insofern über den sprachtheoretischen Denkhorizont de Saussures hinaus, als er die Sprache nicht nur als Inventar sozialer Konventionen thematisiert, sondern auch als einen Faktor, der maßgeblichen Einfluss darauf ausübt, wie sich Individual- und Sozialsphäre im menschlichen Leben miteinander vermitteln lassen. Gerade weil der Versuch des alten Mannes scheitert, ein fruchtbares Interaktionsverhältnis zwischen sozialen Konventionen auf der einen Seite und individuellen Innovationen auf der anderen Seite herzustellen, werden wir nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Sprache und der Sprachgebrauch immer eine Schnittstelle divergierender Kräfte sind. Zwar begrenzt auch Bichsei sein Interesse perspektivisch auf die Benennungsproblematik, aber indem er diese Problematik auf die Spitze treibt, provoziert er zugleich auch die Frage danach, wie man bei der Benennung von Gegenständen Freiheit und Zwang ausbalancieren kann. Das Interesse an den sozialen und sozialpsychologischen Implikationen von Wahrnehmungen, Gewohnheiten und Konventionen ist natürlich weder bei de Saussure noch bei Bichsei neu. Im Prinzip wird es schon in Piatons Höhlengleichnis fassbar, das in vielen Hinsichten Analogien zu Bichseis Geschichte aufweist. Bei Piaton lebt der Gefangene in der Höhle seiner beschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten, Denkperspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Bei Bichsei lebt der alte Mann in der Höhle seiner alltäglichen Lebensgewohnheiten, Sprachkonventionen und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Für beide ist ihre jeweilige Höhle zunächst als Gefängnis inexistent. Sie wird erst zum Problem, als sie als Isolationshöhle erkannt wird, die von vielen Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten abschneidet. Während allerdings bei Piaton der Gefangene durch äußere Eingriffe gezwungen wird, aus seiner räumlichen und geistigen Höhle herauszutreten, um neue Erfahrungen zu gewinnen, macht Bichseis alter Mann selbst einen Versuch, aus der Höhle seiner alten Wahrnehmungs- und Benennungskonventionen auszubrechen. Aber dabei gewinnt er faktisch kein neues Wissen, sondern gerät vielmehr in eine noch größere soziale Isolation als vorher. Beide Geschichten thematisieren das Problem, welche Rolle Gewohnheiten spielen, wenn Menschen Kontakt zu Dingen oder zu anderen Menschen aufnehmen bzw. wenn sie aus einer monologischen in eine dialogische Existenzform übertreten. Und eben durch diese Thematik transzendieren beide Geschichten den Denkhorizont, den de Saussure seinen sprachtheoretischen Überlegungen zu Grunde gelegt hat.
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Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen
Die sinnbildenden Intentionen der Geschichte Wenn man die Geschichte des alten Mannes als eine narrative Objektivierung einer fest umrissenen Problematik oder gar als Exemplifizierung eines ganz bestimmten sprachtheoretischen Konzeptes verstünde, dann würde man ihre sinnbildenden Intentionen missverstehen. Bichsei hat sich in seiner Frankfurter Poetikvorlesung ganz vehement gegen die Vorstellung ausgesprochen, dass die Literatur irgendein Konzept von Realität zu exemplifizieren oder nachzuahmen hätte. Nicht die Darstellung eines bestimmten Inhaltes sei das Ziel der Literatur, sondern das Erzählen selbst. „Einen Geschichtenerzähler tötet man damit, dass man ihn auf Realität verpflichtet. Der Realitätsbezug ist dem Ernst des Erzählers zu überlassen. " 6 Für Bichsei lässt sich mit Hilfe der Sprache Realität nicht abbilden, sondern allenfalls in den Blick bringen. Deshalb haben für ihn Geschichten einen konjunktivischen Grundcharakter. Sie würden Welten entwerfen, in deren Spiegel man die eigene Welt besser wahrnehmen könne. „ 'Was wäre wenn?' ist die Frage, die Geschichten auslöst ... Letztlich ist Literatur eine Spielform, die einigen, den Schreibern und Lesern, gefällt - eine Spielform, auf die man sich einlassen und die man genauso gut verweigern kann. "7 Wenn man auf diese Weise Geschichten nicht als Abbildungs-, sondern als Zugangsweisen zu gegebenen Phänomenen versteht, dann ist es auch zulässig, sprachtheoretische Konzepte zu verwenden, um zu klären, wie die vorliegende Geschichte das Phänomen Sprache sichtbar zu machen vermag. Umgekehrt lässt sich unsere Geschichte aber auch als eine Geschichte rezipieren, die gängige Sprachtheoreme in Frage stellt. Sei es, dass sie auf Probleme aufmerksam macht, fur die diese Theoreme blind sind, sei es, dass sie zeigt, wie bestimmte Probleme methodisch ausgeklammert werden, um die Geschlossenheit des eigenen Theoriegebäudes nicht zu gefährden oder Denkprozesse anzuregen, die zu anderen Wahrnehmungsweisen von Sprache führen. Soziale Phänomene, zu denen natürlich auch die Sprache gehört, sind durch eine unaufhebbare Spannung geprägt, die immer wieder ausbalanciert werden muss. Diese lässt sich mit Hilfe unterschiedlicher Begriffspaare thematisieren, die unsere Aufmerksamkeit jeweils immer etwas anders akzentuieren: Statik — Dynamik, Stabilität — Labilität, Konvention - Innovation, Gebundenheit - Freiheit, Alltagswelt - Einbildungswelt usw. All diese Begriffspaare machen darauf aufmerksam, dass soziale Gebilde ihrer Funktion nur dann gerecht werden können, wenn sie sich in einem Fließgleichgewicht halten können bzw. wenn sie Ordnungsstrukturen entwickeln, die gewisse Variationspotenziale besitzen. Insofern gleichen lebendige soziale Ordnungssysteme 6 7
P. Bichsei, Der Leser. Das Erzählen, 1983 3 , S. 9. P. Bichsei, a.a.O., S. 20-21.
Der sozialpsychologische Problemrahmen
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Stelzengängern, die ihr Gleichgewicht nur dadurch aufrecht erhalten können, dass sie sich ständig in Bewegung halten, oder Radfahrern, die nur deswegen nicht umkippen, weil sie fahren. Nun kann man natürlich geltend machen, dass bestimmte soziale Ordnungsstrukturen so erstarrt und verkrustet sind, dass nur revolutionäre Umbrüche Abhilfe schaffen können, aber nicht evolutionäre partiale Veränderungen, die das Übel nicht an der Wurzel packen. In unserem Fall stellt sich allerdings die Frage, ob die gängige Sprache als gesellschaftliche Institution sich tatsächlich so revolutionär verändern lässt, wie der alte Mann es praktiziert. Dieser scheitert bei dem Vorhaben, die Benennungskonventionen einseitig zu verändern, um dadurch einen anderen Zugang zur Welt zu bekommen. Aus diesem Scheitern ergibt sich dann zwangsläufig die Frage, ob andere sprachliche Veränderungsstrategien Erfolg versprechender gewesen wären, bzw. die Frage, wie sich die Sprache erneuern ließe, ohne ihre kognitiven und kommunikativen Funktionen grundsätzlich zu gefährden. Es ist natürlich immer problematisch, ein Werkzeug während seines Gebrauchs zu ändern, weil dabei vielfaltige Komplikationen auftreten können. Aber wenn das nicht möglich wäre, dann würde die natürliche Sprache ihren polyfunktionalen Charakter verlieren und nicht mehr als universales Sinnbildungswerkzeug einsetzbar sein.
2. Der sozialpsychologische Problemrahmen Bichsei leitet seine Geschichte mit der Beschreibung der Lebenssituation des alten Mannes ein, die durch Isolation, Repetition, Konventionalität und Mangel an Einbildungskraft bestimmt wird. Das äußere Erscheinungsbild des alten Mannes wird als grau charakterisiert (grauer Hut, graue Hose, grauer Rock, grauer Mantel). Die anderen Menschen können ihn nicht als farbige Figur wahrnehmen, weil er selbst der graue Hintergrund ist, vor dem sich Menschen potenziell als farbige Figuren absetzen können. Zur Grauheit der äußeren Erscheinung des alten Mannes kommt die Grauheit seiner Lebenssituation und die Grauheit seiner Lebensgewohnheiten. Er lebt in keinen familiären Beziehungen, die ihm einen Stellenwert in einer sozialen Konstellation geben könnten. Er ist müde, da ihn nichts mehr belebt und anregt. Sein Leben verläuft gleichmäßig wie der Gang einer Maschine. Seine Einbildungskraft ist so geschwächt, dass er sich keine Alternativen zu seiner faktischen Lebenssituation mehr vorstellen kann. Der alte Mann ist in die Höhle seiner Lebenssituation, seiner Lebensgewohnheiten und seiner Denkmöglichkeiten so alternativlos eingeschlossen wie die Gefangenen in Piatons Höhle. Als er dann doch den Entschluss fasst, seine Lebenssituation zu ändern, setzt er bei der Veränderung der Sprache an. Ob das nun ein Erfolg versprechender Ansatz ist, das ist allerdings eine Frage mit sehr vielfältigen Dimensionen.
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Der Änderangswille des alten Mannes Der Ausgangspunkt für den Willen des alten Mannes, seine Lebenssituation zu ändern, ist ein besonderer Tag. Die Besonderheit dieses Tages besteht nicht darin, dass etwas Außergewöhnliches geschieht, sondern vielmehr darin, dass er das, was er immer gesehen hat, nun auf andere Weise wahrnimmt und miteinander verbindet. Dadurch keimt bei ihm eine neue Hoffnung auf: „ 'Jetzt wird sich alles ändern', dachte er. " Das Verräterische an dieser Hoffnungsformel ist allerdings ihre passivnahe Formulierung. Der alte Mann fasst nicht den Entschluss, dass er selbst alles ändern werde (Ich will / werde alles ändern.), sondern er hofft, dass eine anonyme Macht alles richten werde. Allerdings ist seine globale Zukunftshoffnung doch so inspirierend für ihn, dass er nun andere Verhaltensweisen als vorher an den Tag legt. Problematisch bei seinen Zukunftserwartungen ist aber, dass sich nicht etwas genau Bestimmbares ändern soll, sondern global gleich „ alles ", was natürlich eine sehr utopische Hoffnung ist. Der etwas unrealistische Grundoptimismus des alten Mannes erlebt dann auch seinen ersten Rückschlag, als er aus der offenen und vielfältigen Außenwelt in die enge Welt seines Zimmers zurückkehrt, das wie eine Gefängniszelle beschrieben wird und das ihm keine Anregungen bietet, auf andere Gedanken zu kommen. Deshalb steigt auch eine Wut in ihm hoch, die die emotionale Grundlage seiner Trotzhoffhungen und Trotzhandlungen wird. Er beginnt die sprachlichen Benennungen bzw. die sprachlichen Etiketten für die altvertrauten Gegenstände auszutauschen. Mit dieser Rebellion gegen überkommene sprachliche Konventionen, die ihm vorher völlig selbstverständlich waren, begibt er sich allerdings auf einen gefährlichen Weg. Dieser garantiert zwar, dass alles irgendwie anders wird, aber er garantiert noch lange nicht, dass es auch besser wird. Bevor man nun allerdings näher prüft, welche Konsequenzen und Chancen sich aus dem Protestschritt des alten Mannes ergeben, empfiehlt es sich, etwas genauer zu untersuchen, in welcher psychischen Befindlichkeit der alte Mann den jeweiligen Namenstausch vornimmt und welche sprachlichen Darstellungsformen Bichsei wählt, um dieser Befindlichkeit Ausdruck zu verleihen. Gemessen am Standard des neuhochdeutschen Sprachgebrauchs ist es nämlich etwas ungewöhnlich, die Umbenennungsvorgänge sprachlich mit Hilfe von Dativobjekten darzustellen (Dem Bett sagte er Bild.) und nicht mit Hilfe von Akkusativobjekten (Das Bett nannte er Bild.). Der Gebrauch von Dativobjekten ist in diesem Zusammenhang möglicherweise für schweizerische Ohren nicht ganz so ungewöhnlich wie für deutsche, aber dennoch hat er wohl auch für jene etwas von dem altertümlichen Charme, den er für deutsche Ohren hat. Funktional gesehen wird im Deutschen durch das Akkusativobjekt eine Vorstellungsgröße repräsentiert, die im Prinzip der Handlung bzw. der Macht
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der Subjektgröße ausgesetzt ist. Im Gegensatz dazu wird durch das Dativobjekt eine Vorstellungsgröße repräsentiert, für die eine Handlung vorgenommen wird bzw. der eine Handlung dienen soll. Deshalb hat Glinz auch das Dativobjekt als Zuwendgröße klar von dem Akkusativobjekt als Zielgröße einer Handlung abgegrenzt. So gesehen liegt es dann durchaus nahe, die Funktionsrolle von Dativobjekten in der Regel mit Personen zu besetzen. Wenn man die syntaktische Rolle von Dativobjekten mit Sachvorstellungen ausfüllt, dann ergibt sich eine Tendenz, diese Sachvorstellung metaphorisch im Sinne von Personen zu verstehen (.Die Natur gehorcht Gesetzen.). Wenn wir nun Bichseis Sprachgebrauch in dieser Perspektive betrachten, dann lässt sich sagen, dass durch ihn auf stilistisch elegante Weise indirekt darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Gegenstände, die der alte Mann umbenennt, für ihn in diesem Moment keine bloßen Sachobjekte mehr darstellen. Sie sind für ihn emotional akzentuierte Gegenstände, die er in Analogie zu Personen als potenzielle Dialogpartner wahrnehmen möchte. Die Umbenennungsaktion des alten Mannes ist deshalb nicht nur als ein bloßer Austausch von sprachlichen Etiketten anzusehen, sondern wohl auch als ein Zeichen dafür, dass er bestrebt ist, die alten Gegenstände auch auf neue Weise kennen zu lernen. Ob das faktisch in seiner Lebenssituation möglich ist, das ist dann natürlich eine ganz andere Frage. Sozialpsychologisch ist aber immer zu beachten, dass Benennungen und Umbenennungen immer die Funktion haben, etwas in einer ganz bestimmten Perspektive wahrzunehmen und von anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten abzugrenzen. Die Ausbildung von Fachsprachen, Sondersprachen und Gruppensprachen dokumentiert das auf schlagende Weise.
Individualität und Sozialität Üblicherweise verstehen wir die Differenz zwischen der individuellen und der sozialen Welt eher als ein Oppositionsverhältnis denn als ein Interdependenzverhältnis. Aber gerade die Lebenssituation des alten Mannes zeigt sehr deutlich, dass sich Individualität und Sozialität wechselseitig bedingen und dass das eine ohne die Spannung zum anderen seine Spezifik und seine Konturen verlieren würde. Am Anfang kann weder dem alten Manne noch seinem Leben Individualität zugeschrieben werden, weil beide in einem Einheitsgrau versinkt. Als dann der alte Mann seine Privatsprache entwickelt, scheint er Unverwechselbarkeit zu gewinnen und damit zum Individuum zu werden. Aber dann stellt sich mehr und mehr heraus, dass die Privatsprache den alten Mann nicht individualisiert, sondern isoliert, dass sie ihn nicht zu einer prägnanten Einzelgestalt macht, sondern zu einem skurrilen Fremdkörper in seiner bisherigen Welt.
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Die Geschichte des alten Mannes verdeutlicht sehr klar, dass es Individualität nur im Rahmen von und in Spannung zur Sozialität geben kann, aber nicht losgelöst von dieser. Wenn Personen sich so verselbstständigen, dass sie nicht mehr in Interaktionsprozesse eingebunden sind, dann werden sie nicht zu Individuen in einer Kommunikationsgemeinschaft, sondern vielmehr zu bloßen Betrachtungsobjekten von andern bzw. zu Fossilien. Dadurch, dass der alte Mann seine Sprache zu einer fur andere unverständlichen Privatsprache macht, schließt er sich zugleich in eine Höhle ein, die ihm den Kontakt zu der Welt der anderen Menschen unmöglich macht. Die anderen verstehen ihn nicht mehr und er versteht am Ende auch die anderen nicht mehr, weil er sich ganz in seine Privatterminologie eingesponnen hat. Seine Privatsprache, die ursprünglich als ein Ausbruch aus der Gefangenschaft von Routinen gedacht war, wird zu einer neuen, verschärften Gefangenschaft. Obwohl die Umbenennungsaktivität des alten Mannes zunächst als eine Art von Kreativitätsentfaltung erscheint, so zeigt sich doch bald, dass dieser Weg letztlich doch ein Holzweg ist. Der Sprung aus den alten Sprachkonventionen ist kein Sprung in eine neue Freiheit und in ein neues Leben, sondern nur ein Sprung in eine verschärfte Isolierung. Bichseis Geschichte fuhrt uns plastisch vor Augen, dass die Idee einer Privatsprache im Prinzip ein Widerspruch in sich selbst ist, da die Sprache anthropologisch gesehen ein soziales Phänomen ist und eine mehrdimensionale Vermittlungsfunktion hat. Sie soll nämlich nicht nur zwischen den Menschen vermitteln, sondern auch zwischen den wahrnehmenden Individuen und der Welt bzw. den Vorstellungsinhalten, die Individuen für sich und andere entwickeln können. Wenn diese mehrdimensionalen Vermittlungsfunktionen der Sprache partiell amputiert werden und wenn sich Individuen nicht mehr selbst dadurch etwas klar machen, dass sie es anderen klar zu machen versuchen, dann verliert die Sprache ihre genuine anthropologische Relevanz. Bichseis Geschichte über die Umbenennungsaktivitäten des alten Mannes wirft deshalb das Problem auf, wie das Interaktionsverhältnis von Individualität und Sozialität in der Sprache näher beschrieben werden kann bzw. wie ein individueller Gebrauch der konventionell vorgegebenen Sprache möglich ist. Letztlich muss geklärt werden, wie sich Kreativität und Konventionalität beim Gebrauch einer vorgegebenen Sprache ausbalancieren lassen.
3. Die Benennungskonventionen Seit der Erörterung der Namensproblematik in Piatons Kratylos-Dialog ist die Frage nach den Hintergründen und den Implikationen der Nutzung von Namen und Begriffen (onoma) ein durchgängiges Thema der Sprachreflexion geblieben. Im Laufe der Zeit sind allerdings sehr unterschiedliche Denkansätze entwickelt worden, um diese komplexe Fragestellung theoretisch zu bewältigen.
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Sie alle haben zweifellos dazu beigetragen, die vielfältigen Aspekte dieser Problematik besser kennen zu lernen. All diese theoretischen Ansätze haben aber eine Achillesferse darin, dass sie die Namensproblematik naturgemäß strukturanalytisch bzw. anatomisch zu bewältigen versuchen. Demgegenüber hat die narrative Thematisierung von Bichsei den Vorteil, dass sie die Namensproblematik in funktionellen Zusammenhängen objektiviert bzw. physiologisch zu bewältigen versucht. Bei der Analyse des sprachreflexiven Gehaltes der Geschichte von Bichsei kommen wir natürlich nicht darum herum, funktionell ineinander verschränkte Ordnungszusammenhänge theoretisch bzw. anatomisch voneinander zu trennen und dann auf isolierte Weise abstraktiv zu betrachten. Die narrative Verschränkung der Einzelaspekte der Namensproblematik in der Geschichte zwingt uns aber immer wieder auch dazu, die jeweiligen Teilaspekte wieder miteinander in Beziehung zu setzen, um ihren Stellenwert in Funktionszusammenhängen adäquat einschätzen zu können. Um die vielfältigen Dimensionen der Namensproblematik in den Blick zu bekommen, erweist es sich außerdem als notwendig, die strukturanalytischen Betrachtungsweisen durch kulturhistorische zu ergänzen. Nur so wird es möglich, neben den semiotischen auch die anthropologischen Dimensionen der Namensfrage zu erfassen. Viele der kulturhistorischen Aspekte der Namensproblematik mögen wir aus heutiger Sicht als mythisch oder magisch etwas belächeln. Aber ein genauerer Blick zeigt dann doch, dass auch der heutige Sprachgebrauch oft noch durch diese eigentlich als überholt verstandenen Aspekte mitgeprägt wird. Als sehr bedeutsam erweist sich in diesem Zusammenhang, dass wir in unserem unreflektierten alltäglichen Sprachdenken kaum zwischen dem Namen bzw. dem Wort als einer lautlichen Spracheinheit und dem Begriff als einer kognitiven Spracheinheit unterscheiden. Beides verschmilzt uns meist zu einer einzigen Spracheinheit. Diese mangelnde Unterscheidung hat eine lange Vorgeschichte, da auch der griechische Terminus Name (onoma) sowohl als Bezeichnung für eine sprachliche Lautform als auch für eine sprachliche Begriffsform genutzt worden ist. Obwohl wir heute auch den Terminus Wort ganz ähnlich verwenden, sollten wir doch sprachliche Lautformen konsequent von sprachlichen Begriffsformen unterscheiden, weil uns sonst die Implikationen der Umbenennungsaktionen des alten Mannes nicht recht verständlich werden.
Die Namensproblematik im vortheoretischen alltäglichen Denken Die Hoffnung des alten Mannes, dass sich mit der Veränderung der Dingnamen auch eine Veränderung der Weltwahrnehmung und damit des eigenen Lebens ergeben könne, erscheint im Rahmen eines sprachtheoretisch sensibilisierten Bewusstseins recht naiv. In diesem Zusammenhang ist aber zu beden-
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ken, dass das vortheoretische Denken dadurch geprägt ist, dass die Wörter nicht als Etiketten fur Dinge und Begriffe bzw. die Sprachen nicht als vermittelnde Instanzen zwischen der Objektwelt und der Subjektwelt verstanden werden. Im Alltagsgebrauch wird die Sprache auf eine Weise verwendet, dass sie den Beteiligten als Medium bzw. als eigenständiger Sinnbildungsfaktor gar nicht bewusst wird. Wenn man spricht, dann ist man gedanklich ganz bei den Dingen und nicht bei den sprachlichen Zeichen, mit denen man auf die Dinge Bezug nimmt. Namen treten als eigenständige Größen weder im Sinne von Lauteinheiten noch im Sinne von Begriffseinheiten in Erscheinung, allenfalls werden sie als Spiegelbilder oder Zwillingsformen der Dinge selbst verstanden. Die Formen der Sprache und die Formen der Welt treten nicht auseinander. Da wir, phänomenologisch gesehen, beim alltäglichen Sprachgebrauch im Denken unmittelbar bei den Sachen sind und nicht bei den Zeichen fur die Sachen, kommen wir auch nicht auf den Gedanken, zwischen der Welt an sich und der sprachlich objektivierten Welt zu unterscheiden. Solange die Sprache kommunikativ problemlos genutzt werden kann und solange keine Verstehensprobleme auftauchen, wird sie für uns als transzendentaler Faktor von Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozessen nicht fassbar. Zur weltabbildenden Kraft der Sprache haben wir im alltäglichen Sprachgebrauch ein ganz natürliches Urvertrauen. Dieses natürliche Sprachvertrauen sieht Wieland sogar noch in der Philosophie des Aristoteles als gegeben an, der sicher nicht als ein naiver Denker eingestuft werden kann. „Indem er sprachliche Formen untersucht, analysiert er also zugleich die Struktur der Wirklichkeit — nur eben, daß es sich bei dieser Wirklichkeit um die Lebenswelt des natürlichen Bewußtseins handelt und nicht um eine bewußtseinstranszendente ,Außenwelt'". 8 Er nimmt Aristoteles in dieser Hinsicht ausdrücklich gegen den Vorwurf in Schutz, er habe viel zu naiv am Leitfaden der griechischen Sprache entlang philosophiert, der insbesondere im 19. Jahrhundert im Kontext eines gesteigerten Sprachbewusstseins von Steinthal erhoben worden ist. „ Wir sehen hier die im Volksbewusstsein liegende Identität von Wort und Sache auch noch im Bewusstsein des Aristoteles so fest, dass er nicht versucht, diesen Zusammenhang zu zerreißen, sondern nur die Art und Weise desselben darzulegen ... " 9 Wieland verweist darauf, dass wir die Welt nie voraussetzungslos ohne vorstrukturierende Prämissen erfassen könnten. Deshalb sei es nicht nur verständlich, sondern sogar gerechtfertigt, das Philosophieren am Leitfaden der Sprache zu beginnen, da diese pragmatisch erprobte Objektivierungsformen für die Welt zur Verfugung stel-
8 9
W. Wieland, Die aristotelische Physik, 1970 2 , S. 145. H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, Bd. 1, 1971, S. 212.
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le, um auf sinnvolle Weise in den hermeneutischen Zirkel der Weltinterpretation eintreten zu können. In der Tat werden wir uns kaum produktive Denkprozesse vorstellen können, die kein Grundvertrauen in die Objektivierangs- bzw. Abbildungskraft sprachlicher Formen setzen. Dieses grundsätzliche Sprachvertrauen enthebt uns nun allerdings keineswegs von der Aufgabe, das Vertrauen in die Sprache im Detail immer wieder neu zu überprüfen. Das generelle Grundvertrauen in die Sprache ist nicht nur phänomenologisch und systematisch verständlich, insofern wir nicht zugleich über die Welt und die Sprache nachdenken können, sondern auch historisch bedingt. Es hat eines langen geschichtlichen Weges bedurft, um die Dinge kategorial von den auf sie bezogenen Zeichen zu trennen und um zu erkennen, dass wir die Welt immer durch die Brille sprachlicher Ordnungsmuster sehen.
Das Namensproblem im mythischen und archaischen Denken Im mythischen Denken treffen wir insbesondere im Namenszauber immer wieder auf die Vorstellung, dass der Name nicht ein künstliches Merkzeichen für das von ihm Bezeichnete ist, sondern ein substanzieller Bestandteil der jeweils bezeichnenden Sache selbst. „Die mythische Anschauung der Sprache, die der philosophischen überall vorausgeht, ist durchgehend durch die Indifferenz von Wort und Sache gekennzeichnet. Für sie ist im Namen jedes Dinges sein Wesen beschlossen. An das Wort und seinen Besitz knüpfen sich unmittelbar magische Wirkungen. Wer sich des Namens bemächtigt und ihn zu gebrauchen weiß, der hat damit die Herrschaft über den Gegenstand selbst gewonnen, - der hat sich ihn mit all seinen Kräften zu eigen gemacht. Aller Wort- und Namenszauber beruht auf dieser Voraussetzung, daß die Welt der Dinge und die der Namen eine einzige Wirklichkeit, weil ein einziger in sich ungeschiedener Wirkenszusammenhang ist." 10
Im mythischen Denken wagt man den Namen von numinosen Mächten oft nicht auszusprechen, weil man glaubt, dass man damit zugleich auch diese Mächte auf den Plan raft. Deshalb versucht man, mit Hilfe von Ersatznamen oder metaphorischen Umschreibungen indirekt auf das aufmerksam zu machen, was man nicht direkt auszusprechen wagt. Umgekehrt fuhrt diese Namensauffassung insbesondere bei Eigennamen auch zu dem Glauben, dass derjenige, der den Namen kennt, auch Macht über den Träger dieses Namens besitzt bzw. das begreifen kann, was der Name bezeichnet. Wer etwas mit einem Namen versehen kann bzw. wer den Namen für etwas kennt, dem wird immer zugleich auch eine spezifische Machtposition zuerkannt. Das gilt sowohl im Bezug auf Eigennamen als auch im Bezug auf Begriffsnamen. 10
E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, 1964 4 , S. 56.
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Die Implikationen des mythischen Namenszaubers können wir uns auch erschließen, wenn wir ihn mit dem Bildzauber vergleichen. Dieser gründet sich auf die Vorstellung, dass Bilder nicht bloße Erinnerungszeichen für das sind, was auf ihnen dargestellt wird, sondern dass sie das jeweils Dargestellte nicht nur psychisch, sondern auch substanziell gegenwärtig machen, wobei sich die ontische Differenz zwischen dem Bild als Abbildungsmittel und dem jeweils Abgebildeten oft gänzlich verwischt. Ein solches Bildverständnis hat noch heute einen prägenden Einfluss bei der Verehrung von Ikonen in der byzantinischen Kirche. Hier wurde im 9. Jahrhundert nach einem über hundertjährigen Streit über den ontischen Status von Bildern die Bilderverehrung gleichsam zu einem religiösen Postulat gemacht. Bilder, und insbesondere Christusbilder, sollten nicht als materielle Bilder aus Holz, Leinwand oder Farbe angesehen werden bzw. als bloß verweisende künstliche Zeichen, sondern vielmehr als wesenhafte Erscheinungsformen dessen, was auf ihnen zu sehen ist. Das hat der Bilderfreund Theodorus von Studion dogmatisch so formuliert: „Das Bild Christi ist im Grunde nichts anderes als Christus selbst, abgesehen von der Verschiedenheit der Materie. "n Dieses Partizipation beanspruchende Namens- und Bildverständnis ist uns heute kaum noch nachvollziehbar, weil wir Namen und Bilder nicht mehr als Teile dessen verstehen, was sie ins Bewusstsein zu rufen vermögen. Das heutige Verständnis von Wörtern als artifiziellen Signifikanten für konventionalisierte Signifikate ist das Ergebnis eines langen kulturhistorischen Prozesses, der unseren faktischen Sprachgebrauch aber keineswegs vollständig prägt. Immer wieder treffen wir auf Sprachverwendungsweisen, in denen keine prinzipielle Differenz zwischen Name und Sache bzw. zwischen Signifikant und Signifikat angenommen wird, sondern eine wie auch immer geartete natürliche Beziehung, wenn nicht Verwandtschaft. Dafür lassen sich sowohl kulturhistorische Traditionen als auch pragmatische Motivationszusammenhänge geltend machen. Wenn wir heute von Namen, Wörtern oder Benennungen sprechen, dann orientieren wir uns meist unbewusst am Modell von Eigennamen. Da deren Besonderheit im Gegensatz zu Begriffsnamen darin besteht, dass sie nicht eine Klasse ähnlicher Dinge bezeichnen, sondern ein gut abgrenzbares Einzelobjekt, ergibt sich auf ganz natürliche Weise die Vorstellung, dass Name und Sache gleichsam zwei Seiten der gleichen Münze seien. Die Orientierung des Namensverständnisses am Modell der Eigennamen hat darüber hinaus auch die Konsequenz, dass die Existenz des Namens zugleich auch irgendwie die Existenz der damit benannten Sache verbürgt und dass umgekehrt eine Sache nicht oder zumindest noch nicht richtig existiert, wenn sie keinen Namen hat. 11
Zit. nach K. Schwarzlose, Der Bilderstreit, 1890, S. 186. Vgl. dazu auch W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 224-227.
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Manfred Kraus hat gezeigt, dass im Griechischen der Terminus onoma bei Homer und Hesiod nur im Sinne eines Eigennamens fur eine Person gebraucht worden ist und dass er erst nach und nach auch als Bezeichnung für einen Begriffsnamen verwendet wurde.12 Im archaischen Denken würden Namen in der Regel direkt auf die damit jeweils bezeichneten Dinge (pragmata) bezogen, ohne dass ein Bewusstsein dafür fassbar sei, dass sich bei Begriffsnamen im Gegensatz zu Eigennamen zwischen die bezeichnenden Wörter und die bezeichneten Dinge immer Begriffe als spezifische Ordnungsmuster schieben. Im archaischen und vortheoretischen Denken gibt es zwar nicht mehr wie im magischen Denken die Vorstellung von einer weitgehenden Identität von Name und Sache, aber durchaus die Vorstellung einer unauflöslichen natürlichen Korrelation von Name und Sache bzw. einer natürlichen Isomorphie zwischen der Welt der Sprache und der Welt der Dinge. Bei Piaton werden Begriffsnamen zwar nicht mehr direkt auf die einzelnen Dinge bezogen, sondern vielmehr auf die Ideen als die geistigen Grundmuster von phänomenal fassbaren Erscheinungen. Das prinzipielle Grundvertrauen auf die weltabbildende Kraft der Sprache wird dadurch aber nicht erschüttert. Die neuzeitliche Vorstellung, dass Namen als Bezeichnungen für kulturbedingte begriffliche Konzepte anzusehen sind, hat sich erst ganz allmählich Bahn gebrochen. Diese Einsicht ist theoretisch zum ersten Male im mittelalterlichen Universalienstreit von den Nominalisten formuliert worden, die ausdrücklich betont haben, dass die Welt der Namen bzw. Begriffe nicht isomorph auf die Welt der Dinge passe und dass Namen und Begriffe Menschenwerk seien. Hinter diese Einsicht, dass Namen im Prinzip Merkzeichen für pragmatische bzw. kulturspezifische Ordnungskonzepte sind, mit denen man seine Erfahrungswelt strukturieren kann, konnte man hinfort im sprachtheoretischen Denken nicht mehr zurückfallen. Das neu entwickelte Sprachbewusstsein dokumentiert sich auch sehr klar in der nominalistischen Terminologie. Wenn man hier zwischen dem Wort als Lautereignis (vox), dem Begriff als Denkmuster (conceptus) und dem Ding als Referenzobjekt (res) unterscheidet, dann hatte man im Prinzip einen sprachtheoretischen Reflexionsstand erreicht, der auch in den Zeichentheorien der Neuzeit kaum überboten worden ist. Das heißt nun allerdings nicht, dass auch unser alltägliches Sprachverständnis und unser alltäglicher Sprachgebrauch vollständig durch diese theoretische Einsicht bestimmt würden. Irgendwie glauben wir immer noch, dass sprachliche Differenzierungen ontischen Sachunterschieden entsprechen und dass unterschiedliche Namen auch auf unterschiedliche Sachen verweisen. Diese Auffassung hat eine gewisse Berechtigung, wenn wir sie nicht ontisch, sondern wahrnehmungspsychologisch begründen. Wenn nämlich unterschiedliche Namen auf unterschiedliche Begriffsbildungen verweisen, dann ist 12
M. Kraus, Name und Sache, 1987, S. 27ff.
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einzuräumen, dass wir mit unterschiedlichen Namen auch auf unterschiedliche Aspekte derselben Dinge Bezug nehmen können, also auf unterschiedliche Erscheinungsweisen derselben Dinge. Das kann dann allerdings leicht zu dem Glauben führen, dass wir es auch mit anderen Dingen zu tun haben. In diesem Zusammenhang können dann der Abstraktionsgrad einer Begriffsbildung, die Wertakzentuierungen in einer Begriffsbildung, die historische und soziale Herkunft von Begriffen und die Position eines Begriffs in einem Begriffsfeld eine wichtige Rolle spielen. So lässt sich beispielsweise mit den Namen Säugetier, Pferd, Ross, Gaul auf dasselbe außersprachliche Objekt in verschiedenen Objektivierungsperspektiven Bezug nehmen. Das kann dann wiederum leicht zu dem Glauben führen, dass wir mit unterschiedlichen Namen auch unterschiedliche Gegenstände bezeichnen und nicht nur unterschiedliche Wahrnehmungsweisen desselben Gegenstandes. Wie Kleider Leute machen, so machen auch Namen in dem Sinne Sachen, dass sie festlegen, wie diese für uns perspektivisch zur Erscheinung kommen. Zu prüfen ist deshalb, ob die Umbenennungen von Dingen durch den alten Mann auch implizieren, dass diese ihm nun auch anders erscheinen. Um dieses Problem zu strukturieren und zu lösen, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche Rolle der Gedanke der sozialen Konventionen im Sprach- und Zeichenkonzept de Saussures spielt.
Das Arbitraritätspostulat de Saussures De Saussure hat den Konventionsgedanken im Hinblick auf die Sprache so auf die Spitze getrieben, dass man sich fragen muss, ob er in dieser radikalisierten Form noch erhellend für die tatsächliche Nutzung der Sprache ist. Dieser Einwand schmälert nicht die heuristischen Funktionen seiner Überlegungen, sondern nur den Glauben, dass mit dem Sprach- und Zeichenmodell von de Saussure alle sprachtheoretischen Probleme im Prinzip befriedigend gelöst oder zumindest zutreffend strukturiert worden sind. De Saussure hat zwei unterschiedliche Typen von Konventionen als nicht weiter problematisierungswürdige Prämissen der Sprachwissenschaft auf gleichsam axiomatische Weise postuliert. Die erste Ausprägungsform von Konventionen konkretisiert sich für ihn darin, dass sinnlich rezipierbare Signifikanten mit kognitiven Mustern bzw. Signifikaten im allgemeinen Sprachwissen der Menschen stabil korreliert sind. Diese Konventionen sind für jeden einzelnen Sprachteilnehmer unaufhebbare Tatsachen, denen er sich beugen muss, wenn er die Sprache kommunikativ nutzen will. Die zweite Ausprägungsform von Konventionen konkretisiert sich für ihn darin, dass die Signifikate der jeweiligen sprachlichen Zeichen als verbindliche Denkmuster eine soziale Genese haben, insofern sie immer auf die Differenzierungsinteressen von Gruppen bezogen sind, obwohl sie von Individuen erstmals in die Welt
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gesetzt worden sind. Diese Denkmuster können je nach Gruppe anders ausfallen und sich auch historisch verändern, aber sie bleiben immer solange stabil, wie sie die mit ihnen verbundenen Funktionen erfüllen und wie sich die jeweiligen Gruppen über die Anerkennung dieser Muster als Kommunikationsgemeinschaften konstituieren. Wer die jeweiligen Konventionen für die Korrelation von Signifikant und Signifikat nicht respektiert, der spricht eine andere Lautsprache. Wer die Konventionen für die Konstitution der jeweiligen Signifikate nicht respektiert, der spricht eine andere Begriffssprache bzw. denkt anders. Beide Formen der Negation von sozialen Konventionen führen zu einer kommunikativen und kognitiven Isolation, die zugleich immer auch zu einer sozialen wird. Die Stabilität dieser beiden Ausprägungsformen von Konventionen sieht de Saussure insbesondere durch drei Faktoren gewährleistet. Erstens ist die Korrelation von Signifikant und Signifikat bei den einzelnen Sprachzeichen nicht sachlich bedingt, sondern unterliegt vielmehr dem Prinzip der Willkürlichkeit bzw. der Arbitrarität. Eine Veränderung der jeweiligen Konventionen erbrächte deshalb keine Vorteile, sondern nur Nachteile. Deshalb gibt es auch keine zwingenden Motive, eine bestehende Konvention zu Gunsten einer anderen aufzulösen. Zweitens verbietet sich eine Veränderung der traditionellen Konventionen wegen der großen Menge von Zeichen von selbst, da das jeweilige Zeichensystem durch die Veränderung von bestehenden Konventionen ganz unhandlich würde. Keiner wüsste genau, welche Konventionen jeweils gelten und welche nicht. Drittens bilden die jeweiligen Signifikate als Begriffsmuster im Hinblick auf bestimmte Sachgebiete wiederum spezifische Begriffsfelder, in die man nicht partiell eingreifen kann, ohne das jeweilige System von semantischen Werten nachhaltig zu stören. Da die einzelnen Signifikate sich wechselseitig voneinander abgrenzen, sind sie ziemlich resistent gegen individuelle Veränderungen. Nun weiß de Saussure natürlich auch, dass das System der Bezeichnungsund Begriffskonventionen in einer Sprache im Prinzip dem historischen Wandel unterliegt. Aber solche Änderungsprozesse sind für ihn methodologisch nicht sehr interessant, weil er sich nur für das System von Sprachkonventionen zu einer bestimmten Zeit interessiert bzw. für die Entwicklung einer darauf bezogenen synchronisch orientierten Sprachwissenschaft. Diese hat für ihn nur die Aufgabe, das geltende System sozialer Konventionen als System sozialer Tatsachen zu beschreiben und die Frage nach der Entstehungsgeschichte und Berechtigung dieser Konventionen methodisch auszublenden bzw. einer diachronisch orientierten Sprachwissenschaft zuzuordnen. Nun darf man allerdings im Hinblick auf die methodologische Reflektiertheit de Saussures auch nicht verschweigen, dass dieser durchaus gesehen hat, dass das Arbitraritätsprinzip auch seine Tücken hat. Deshalb hat er als Hilfskonstruktion das Konzept von der relativen Motiviertheit der Signifikanten entwickelt. Die Zuordnung von Signifikanten zu Signifikaten nimmt er immer
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dann von der generellen Geltung des Arbitraritätsprinzips aus, wenn die jeweiligen Signifikanten als Syntagmen in Erscheinung treten, was beispielsweise bei Komposita und bei Ableitungen der Fall ist. Während beispielsweise die Signifikanten zehn oder Herz als unmotiviert im Hinblick auf die von ihnen repräsentierten Signifikate anzusehen sind, ist das bei den Signifikanten dreizehn oder herzlich nicht der Fall, insofern sich bei diesen aus den Teilelementen Hinweise auf die inhaltliche Struktur des von ihnen bezeichneten Signifikats ergeben. De Saussure sieht durchaus, dass durch die Existenz von relativ motivierten Signifikanten die Beherrschung des Vokabulars eines Sprachsystems sehr erleichtert wird. Er sieht in diesem Umstand aber keinen konstitutiven Faktor des ganzen Sprachsystems, sondern vielmehr einen randständigen Faktor, der allenfalls bei der Beschreibung der internen Struktur des Sprachsystems zu berücksichtigen ist. „In der Tat beruht das ganze System der Sprache auf dem irrationalen Prinzip der Beliebigkeit des Zeichens, das, ohne Einschränkung angewendet, zur äußersten Kompliziertheit fuhren würde; aber der Geist bringt ein Prinzip der Ordnung und Regelmäßigkeit in einen Teil der Zeichen, und das ist die Rolle des relativ Motivierten. Wenn der Mechanismus der Sprache vollständig rational wäre, so könnte man das Motivierte an sich untersuchen; aber da es bloß teilweise eine Korrektur eines von Natur chaotischen Systems ist, so wählt man nur den in der Natur der Sache selbst liegenden Gesichtspunkt, wenn man den Mechanismus als eine Einschränkung des Beliebigen untersucht."13 Nun kann man mit Fug und Recht daran zweifeln, ob es methodologisch besonders sinnvoll ist, die Sprache als System sozialer Tatsachen zu einem eigenständigen Gebilde zu verselbstständigen und außerdem durch die Opposition von Sprachsystem (langue) auf der einen Seite und von Sprachgebrauch (parole) auf der anderen Seite indirekt zu postulieren, dass die Sprachbenutzer als Wesen mit einem bestimmten Sprachbewusstsein und Sprachwissen keinen konstitutiven Platz im Begriff der Sprache haben sollten. Ein solches abstraktives Konzept von Sprache mag im Hinblick auf Fachsprachen gewisse Vorteile haben, aber im Hinblick auf die natürliche Sprache hat es sicher große Nachteile. In ihm wird nämlich die Sprache vor allem als Zeichensystem zur Übertragung von Informationen thematisiert, aber nicht auch als ein Mittel fur die Objektivierung von Erkenntnissen bzw. als ein Medium für Sinnbildungsprozesse. Es ist deshalb auch nicht sonderlich überraschend, dass insbesondere der aus der Psychologie kommende Sprachtheoretiker Karl Bühler den Denkansatz de Saussures scharf kritisiert hat, weil er darin eine rein anatomische Betrachtungsweise repräsentiert sieht, die methodisch alle physiologischen Betrachtungsweisen ausklammert. Bühler kritisiert deshalb das von de Saussure entwickelte Sprachkonzept, das sehr klar durch den Begriff der langue zum Aus13
F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 1967 2 , S. 158.
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druck kommt, als eine „noch nicht überwundene Metzgeranalyse" bzw. als eine verhängnisvolle ^toffentgleisung',14 Für ihn ist das Sprachkonzept de Saussures nicht akzeptabel, weil in ihm der Funktionsbegriff zu sehr vernachlässigt wird bzw. weil in ihm das Spannungsverhältnis zwischen sozialen Konventionen und Traditionen auf der einen Seite nicht fruchtbar mit individuellen sprachlichen Sinnbildungsanstrengungen auf der anderen Seite in Verbindung gebracht wird.
4. Die Möglichkeit zur Veränderung von Sprachkonventionen Wenn man nach dem Ausmaß der Rebellion des alten Mannes gegen die tradierten Sprachkonventionen fragt, dann bietet das Sprachkonzept de Saussures durchaus heuristische Hilfen, um die Spezifik und die Implikationen dieser Rebellion zu beschreiben. Umgekehrt bietet aber auch die Sprachrebellion des alten Mannes heuristische Hilfen, um die Besonderheiten und Schwächen dieses Sprachkonzeptes in den Blick zu bekommen bzw. um fruchtbare Postulate fur einen anders akzentuierten Sprachbegriff zu entwickeln.
Der Ansatz der Rebellion Zunächst lässt sich feststellen, dass der alte Mann nur gegen diejenigen Sprachkonventionen rebelliert, die sich auf die Korrelation eines bestimmten Signifikanten mit einem bestimmten Signifikat bei der Wortklasse der Substantive bezieht. Er rebelliert weder gegen die inhaltliche Struktur konventionalisierter Signifikate bzw. Begriffe noch gegen die traditionellen Kriterien, die zu deren Ausbildung gefuhrt haben. Er rebelliert auch nicht gegen das konkret vorliegende Inventar von Signifikanten bzw. Wörtern oder gegen die Konventionen zur Ausbildung dieser Wörter. Er lässt das überkommene Inventar von Signifikanten und Signifikaten völlig unangetastet und nimmt lediglich neue Zuordnungen zwischen diesen vor. Der schon vorhandene Begriff Tisch wird von ihm nicht mehr auf traditionelle Weise mit dem Wort Tisch etikettiert, sondern vielmehr durch das Wort Teppich. Solche Umbenennungen vorgegebener Begriffe lassen sich schwerlich als Erfolg versprechende Ansätze werten, eine neue Zugangsweise zur Welt zu entwickeln und aus der Höhle von traditionellen Wahrnehmungsweisen herauszukommen. Der alte Mann bricht auf diese Weise allenfalls aus der Höhle der konventionellen Terminologie aus, um zugleich wieder in die Höhle einer neuen Terminologie einzutreten. An der aspektuellen Wahrnehmungsweise der jeweiligen Gegenstände ändert sich dadurch im Prinzip nichts, weil diese von 14
K. Bühler, Sprachtheorie, 1965 2 , S. 58.
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ihm weiterhin im Rahmen der alten kognitiven Objektivierungsstrategien und Objektivierungsmuster erfasst werden. Mit seinen Umbenennungen bezieht der alte Mann keine neuen Sehepunkte für die Welt. Er ändert nur die traditionellen Benennungskonventionen für die Ergebnisse von Begriffsbildungen. Durch den Austausch von Signifikanten für schon vorhandene Signifikate schafft sich der alte Mann eine Art Privatsprache. Allerdings kann man mit einem gewissen Recht in Zweifel ziehen, ob man hier wirklich von einer Privatsprache sprechen sollte, da faktisch nur ein Terminologiewechsel vorliegt, aber kein Sprachwechsel. Die Sprachrebellion des alten Mannes führt zu keiner grammatisch und lexikalisch neu strukturierten Sprache, sondern nur zu einer Veränderung von Benennungskonventionen bei Substantiven. Diese Form der Aufkündigung von bestehenden Sprachkonventionen bedingt inhaltlich kein neues Denken, weil die Struktur von Denkinhalten und Denkvorgängen davon gar nicht betroffen wird, sondern nur die Mitteilbarkeit von traditionell strukturierten Vorstellungsinhalten im sozialen Raum. Man kann nicht einmal sagen, dass der alte Mann nach seinen Umbenennungen nun eine Sprache spricht, die für die anderen als eine Art Fremdsprache in Erscheinung tritt. Zum Begriff der Fremdsprache gehört nämlich, dass es in ihr nicht nur ein anderes System von Signifikanten gibt, sondern auch ein anderes System von Signifikaten. Das aber ist in der Privatsprache des alten Mannes nicht gegeben. Seine neue Sprache ist nur insofern eine Privatsprache, als sie eine Privatterminologie für einen bestimmten Sachbereich beinhaltet. Im Prinzip erfüllt sie weder den Begriff der Sprache in sozialer Hinsicht, da sie kein intersubjektiv nutzbares Medium ist, noch in systemtheoretischer Hinsicht, da sie kein eigenständiges, durchstrukturiertes System von lexikalischen und grammatischen Zeichen darstellt. Vor dem Hintergrund dieses verfehlten Befreiungsversuches von den Fesseln der überkommenen Sprachkonventionen stellt sich die Frage, ob es für den alten Mann einen Erfolg versprechenden Weg gegeben hätte, sich wirklich aus der Gefangenschaft von Sprachkonventionen zu befreien, ohne sich dabei zugleich in das Gefängnis einer für andere unverständlichen Privatterminologie zu manövrieren. Es ist offensichtlich, dass ein solches Bemühen nicht nur bei der Umbenennung von Signifikaten anzusetzen hätte, sondern auch bei der Umstrukturierung oder Neukonzipierung von Signifikaten, weil nur durch die Veränderung der Objektivierungsmuster auch ein neuer Blick auf altbekannte Gegenstände ermöglicht wird. Dabei ergibt sich dann allerdings auch die Frage, ob die neu strukturierten Signifikate immer durch völlig neue Signifikanten benannt werden müssen oder ob dafür auch auf das schon vorhandene Inventar von Signifikanten zurückgegriffen werden kann.
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Die Veränderung von Sprachkonventionen Sprachkonventionen lassen sich Erfolg versprechend nur auf evolutionäre Weise mit Hilfe kleiner Variationen abändern. Revolutionäre Veränderungen verbieten sich sowohl auf der Ebene der Umbenennungen von Signifikaten als auch auf der Ebene der Bildung von Signifikaten von selbst, weil dadurch die intersubjektive Verständlichkeit der Sprache hochgradig gefährdet würde. Welche Möglichkeiten hätten sich nun für den alten Mann geboten, seine Sprache so zu verändern, dass sie einerseits einen individuellen Sprachgebrauch ermöglicht hätte, ohne andererseits zu einer für andere gänzlich unverständlichen Privatterminologie zu werden? Zunächst lässt sich darauf verweisen, dass man auch innerhalb eines konventionalisierten Sprachsystems seine individuelle Wahrnehmungsweise für bestimmte Sachobjekte dadurch konkretisieren kann, dass man beim Gebrauch dieser Sprache die Abstraktionsebene der jeweiligen Begriffe ändert bzw. die mit ihnen verbundene Standardperspektive. Beispielsweise muss man ein bestimmtes Referenzobjekt nicht unbedingt über das Wort Tisch sprachlich objektivieren, sondern kann dafür auch die Wörter Möbelstück, Holztisch oder Esstisch verwenden. Dadurch lässt sich deutlich machen, dass man das jeweilige außersprachliche Referenzobjekt mit Hilfe ganz bestimmter kognitiver Erfassungsmuster in einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive hinsichtlich ganz bestimmter Sachaspekte vergegenwärtigen möchte und nicht in einer Alltagsperspektive mittlerer Abstraktionshöhe. Auf diese Weise kann man dem jeweiligen Objekt ein ganz spezifisches aktuelles Relevanzrelief zuordnen. Ähnliche Wirkungen lassen sich auch dadurch erzielen, dass man einen üblichen Standardbegriff mit Hilfe von beschreibenden oder bewertenden Attributen spezifiziert: Polierter Tisch, schöner Tisch, Tisch am Fenster, Tisch der Großmutter. Eine ganz andere Möglichkeit der Sprachvariation ergibt sich, wenn man die ins Auge gefassten Gegenstände mit Hilfe von Wörtern und Denkmustern sprachlich objektiviert, die üblicherweise gar nicht dafür verwendet werden, die aber dennoch spontan verständlich sind, weil ihr Gebrauch in bestimmten Kontexten eine gewisse Motiviertheit und Plausibilität hat. Das ist etwa bei denjenigen Benennungen der Fall, die wir üblicherweise dem metaphorischen Sprachgebrauch zuordnen. Wenn beispielsweise der alte Mann sein Bett nicht mit dem Wort Bild bezeichnen würde, sondern mit den Wörtern Schlafgestell oder Traumwiese, dann könnten wir in bestimmten Kontexten durchaus verstehen, dass er mit diesen Wörtern referenziell auf sein faktisches Bett Bezug nimmt, obwohl er sich dabei nicht an die üblichen Sprachkonventionen bindet. Im Gegensatz zu der Benennung des realen Bettes mit dem Wort Bild brächte eine solche Benennung den alten Mann aber nicht die Gefahr, sich durch seinen individuellen Sprachgebrauch sozial zu isolieren.
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Die spontane Verständlichkeit der metaphorischen Benennungen ist dadurch gewährleistet, dass es sich um durchsichtige Wörter bzw. sprechende Namen handelt. Wir haben es mit Komposita bzw. mit Syntagmen zu tun, bei denen ein Grundbegriff durch einen Bestimmungsbegriff spezifiziert wird. Das bedeutet, dass der jeweilige Signifikant als sprechender Name eigentlich schon als eine rudimentäre Aussage zu werten ist, in der zwei Einzelvorstellungen zum Zwecke einer Sachverhaltsbehauptung determinativ aufeinander bezogen worden sind. Durch diese Determinationsrelation wird gleichsam schon eine funktionelle Definition des zu benennenden Referenzobjektes formuliert (Schlafgestell = Konstrukt, auf dem man schlafen kann; Traumwiese = Ort, wo man träumen kann). Bei Sprachzeichen dieser Art stehen Signifikant und Signifikat nicht in einer arbiträren, sondern in einer motivierten Relation zueinander. Metaphorisch verwendete Komposita sind zwar hinsichtlich ihrer Benennungsfunktion meist nicht ganz so leicht verständlich wie normale Komposita (Haustür, Haferbrei), weil wir bei ihnen nicht nur unser normales Sprach- und Weltwissen aktivieren müssen, sondern auch noch ein bestimmtes Analogiewissen. So kann beispielsweise das Wort Traumwiese deshalb ersatzweise für das Wort Bett verwendet werden, weil beide Wörter Sachphänomene bezeichnen, die in funktionaler Hinsicht ein bestimmtes Überschneidungsfeld haben. Die klassische Metapherntheorie hat deshalb herausgestellt, dass ein Wort immer dann ersatzweise für ein anderes verwendet werden kann, wenn die von diesen Wörtern bezeichneten Sachverhalte irgendwo ein gewisses Überschneidungsfeld haben bzw. ein gemeinsames Drittes (tertium comparationis). Das gilt auch dann, wenn für die metaphorische Benennung bekannter Gegenstände nicht Komposita verwendet werden, sondern einfache Wörter, wenn also der alte Mann sein Bett beispielsweise nicht Traumwiese, sondern Körbchen, Sasse oder Kobel genannt hätte. Die klassische Metapherntheorie ist als Ersatz- bzw. Substitionstheorie qualifiziert worden, weil sie von der Denkprämisse ausgeht, dass eine uneigentliche Bezeichnung aus ornamentalen Gründen ersatzweise für eine eigentlich zur Verfügung stehende verwendet werde. Obwohl diese Substitionsvorstellung im Prinzip auch auf einen Etikettentausch bei der Benennung von Gegenständen und Sachverhalten hinausläuft, kann dem metaphorischen Sprachgebrauch im Denkrahmen der Substitionstheorie dennoch eine gewisse kognitive Innovationskraft nicht abgesprochen werden, weil durch ihn das analogisierende Denken angeregt wird und assoziativ auf Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht werden kann, die normalerweise übersehen werden. Bei der Verwendung von Ersatzwörtern werden j a nicht willkürlich bestimmte Bezeichnungen ausgetauscht wie bei den Umbenennungsaktionen des alten Mannes. Es werden vielmehr neue Bezeichnungen gesucht, die irgendwie spontan verständlich sind, weil ihre üblichen Referenzobjekte eine bestimmte Ähnlichkeit zu dem Referenzobjekt aufweisen, das neu benannt wird.
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Den neueren Überlegungen zur Metaphernproblematik ist die Denkweise der klassischen Substitionstheorie zu objektorientiert, insofern in ihr die Gegenstände des Denkens noch als fest vorgegebene Objekte bzw. als begrifflich klar abgrenzbare Größen gelten, aber nicht als Größen, die erst mit Hilfe von Interpretationsanstrengungen und Denkmustern ihre spezifische Gestalt als Vorstellungsgrößen bekommen. Metaphorische Umbenennungen lassen sich in diesem Denkansatz dementsprechend auch nicht mehr als bloße Umetikettierung von vorgegebenen Signifikaten bzw. Sachobjekten verstehen, sondern müssen vielmehr als neue Wahrnehmungs- und Objektivierungsweisen von gegebenen Referenzobjekten beurteilt werden. Um dieses neue Verständnis von metaphorischen Redeweisen zu akzentuieren, spricht man deshalb im Hinblick auf die theoretische Erfassung der Metaphernproblematik auch nicht mehr von einer Substitutions-, sondern von einer Interaktionstheorie.15 Mit der Verwendung des Interaktionsbegriffs soll herausgestellt werden, dass es nicht sehr sinnvoll ist, die Metapher als einzelnes Wort zu bestimmen, das aus ornamentalen Gründen ersatzweise für ein eigentlich zu verwendendes Wort gebraucht wird. Mit Hilfe der Interaktionsvorstellung möchte man darauf aufmerksam machen, dass es sinnvoller ist, die Metapher als ein Korrelationsphänomen zu betrachten bzw. als eine widersprüchliche Prädikation. So gesehen würde die strukturelle Grundlage der Metapher dann darin bestehen, dass eine sprachliche Einheit determinativ auf eine andere sprachliche Einheit bezogen wird, obwohl sie eigentlich einen Sachverhalt benennt, der einer ganz anderen Seinssphäre zuzuordnen ist {polyglottes Pflaster; Modergeruch des Untergangs; Menschen sind Wölfe.). Solche Determinationsrelationen fuhren natürlich solange nicht zu kohärenten Sachvorstellungen, wie die verwendeten Wörter semantisch auf übliche Weise verstanden werden. Da wir nun aber bei jedem Sprachgebrauch von der Grundprämisse ausgehen, dass etwas Sinnvolles mitgeteilt werden soll, bemühen wir uns unter diesen Umständen sofort darum, die jeweils verwendeten Wörter in ihrem aktuellen Korrelations- bzw. Interaktionszusammenhang mit anderen semantisch solange umzuinterpretieren, bis sich aus der jeweiligen Äußerung ein plausibler Gesamtsinn ergibt. In der Möglichkeit zum metaphorischen Sprachgebrauch dokumentiert sich deshalb, dass zumindest in der natürlichen Sprache die einzelnen Wörter keineswegs ein so fest vorgegebenes Signifikat haben, wie es der Kodegedanke von de Saussure nahe legt. Sie haben allenfalls ein bestimmtes semantisches bzw. referenzielles Potenzial, aus dem sich im konkreten situativen Gebrauch und in Wechselwirkung mit anderen Wörtern eine konkrete Bedeutung bzw. ein spezifischer referenzieller Bezug herauskristallisiert.
15
M. Black, Die Metapher, in: A. Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher, 1983, S. 68. Vgl. auch W. Köller, Dimensionen des Metaphernproblems, Zeitschrift für Semiotik, 8, 1986, S. 382ff.
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Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen
Wenn der alte Mann seiner Rebellion gegen die bestehenden Sprachkonventionen nicht dadurch Ausdruck gegeben hätte, dass er ohne plausibles Motiv willkürlich andere Namen fur altbekannte Gegenstände verwendet hätte, sondern Namen, mit denen man üblicherweise andere, aber in bestimmten Hinsichten ähnliche Phänomene zu benennen pflegt, dann hätte sich eine ganz andere Situation ergeben. Unter diesen Umständen hätte er nicht mehr sagen dürfen, er sei müde und wolle „ins Bild', sondern vielmehr sagen müssen, er sei müde und wolle ins Körbchen oder in die Sasse oder in den Kobel. Bei einem motivierten Namenstausch dieser Art hätte er anderen einerseits die Chance gegeben, tatsächlich zu verstehen, wovon er redet, und andererseits die anderen zugleich auch dazu angeregt, sich Gedanken darüber zu machen, inwiefern die Situation des alten Mannes der eines schutzbedürftigen Hundes, Hasens oder Eichhörnchens gliche. Er hätte die Sprache nicht mechanisch und reflexionslos wie ein programmierter Roboter gebraucht, sondern als ein kommunikatives und kognitives Medium, das er selbst in einem gewissen Grade fur seine individuellen Objektivierungs- und Mitteilungsbedürfnisse ausgestalten kann. Durch Umbenennungsstrategien dieser Art hätten sich für die Lebenssituation des alten Mannes ganz andere Konsequenzen ergeben. Er hätte sich durch seine neue Redeweise nicht sozial isoliert, sondern sich für andere interessant gemacht. Seine Wahrnehmungswelt hätte sich für ihn nicht als starre vorgegebene Welt dargestellt, sondern als eine zu interpretierende Welt, die ihre konkrete Gestalt aus dem Zusammenspiel von vorgegebenen Objekteigenschaften und individuellen Betrachtungskategorien bekommt. Der alte Mann hätte die Welt nicht als factum brutum erlebt, sondern als eine Welt, die durch seine eigenen Wahrnehmungs- und Objektivierungsstrategien Relief gewinnt, weil durch sie immer mit entschieden wird, welche ihrer Aspekte aspektuell hervortreten können und welche abgeschattet werden. Das Traurige an Bichseis Geschichte von dem alten Mann ist, dass er nicht mehr über die Kraft zu einem kreativen metaphorischen Sprachgebrauch verfugt. Er ist in seinen konventionellen Wahrnehmungsperspektiven und Wahrnehmungsmustern für die Welt so gefangen, dass seine Umbenennungen nur zu einer hilflosen terminologischen Rebellion führen, aber nicht zu veränderten sprachlichen Objektivierungsweisen fur die Welt. Der alte Mann setzt dazu an, seine Bezüge zur Welt durch die Umbenennung seiner Erfahrungsgegenstände zu verändern, aber dabei wählt er einen Weg, der zu keinen neuen Sacherfahrungen fuhrt, weil er weiterhin Sklave seiner alten Musterbildungen bleibt. Seine Umbenennungen sind keine kreativen kognitiven Akte, die auf bisher vernachlässigte Ähnlichkeiten aufmerksam machen können. Der veränderte Sprachgebrauch des alten Mannes ist nicht mit dem kreativen Sprachgebrauch eines Kindes zu vergleichen, das beispielsweise ein Fachwerkhaus als kariertes Haus bezeichnet. Bei einem solchen Sprachgebrauch will ein Kind weder revolutionär noch innovativ sprechen, da es sich noch gar nicht an
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feste Sprachkonventionen gebunden sieht. Dennoch macht es aber von seinem vorhandenen Vokabular auf eine kreative Weise Gebrauch, da es neue Erfahrungsgegenstände auf sinnvolle und anderen verständliche Weise benennt.
Die Grenzen von Konventionsänderungen Die Möglichkeiten, während des konkreten Sprachgebrauchs gefestigte Sprachkonventionen zu ändern, sind natürlich genauso begrenzt, wie die Möglichkeiten, ein Schiff während seiner Fahrt auf dem Meer umzubauen. Bei allen Veränderungen der Sprache muss geklärt werden, ob davon fundamentale oder periphere Ordnungszusammenhänge betroffen werden, und außerdem bedacht werden, wie mögliche Funktionsstörungen kompensiert werden können. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der alte Mann seine Umbenennungsaktivitäten bei denjenigen Substantiven beginnt, mit denen man sinnlich fassbare Gegenstände bezeichnen kann, und dass er sie dann auf diejenigen Verben ausdehnt, mit denen sich sinnlich wahrnehmbare Prozesse benennen lassen. Das ist aus zwei Gründen erstaunlich. Einerseits gelten gerade diese Substantive und Verben als sehr verlässliche sprachliche Ordnungsmuster, da sie offenbar direkt mit ontischen Ordnungsmustern korrespondieren und keinerlei subjektive Einfärbungen zu haben scheinen. Andererseits spielen gerade Substantive und Verben eine konstitutive Rolle bei der Bildung von Aussagen, insofern durch sie in der Regel die Funktionsplätze von Subjekten und Objekten sowie von Prädikaten besetzt werden. Wenn hier Sprachkonventionen abgeändert werden bzw. Namen vertauscht werden, dann muss es natürlich zu ganz massiven inter subjektiven Verstehensturbulenzen kommen. Bezeichnenderweise dehnt der alte Mann seine Umbenennungsaktivitäten nicht auf Adjektive aus, die in der Regel syntaktisch ja die Funktionsrolle von Attributen übernehmen. Da Attribute aber keine konstitutiven Satzglieder sind und deshalb in Sinnbildungsprozessen keine fundamentalen Rollen spielen, lösen hier Umbenennungen abgesehen von bestimmten qualifizierenden Adjektiven keine sehr massiven Verstehensturbulenzen aus. Wenn der alte Mann auch Adjektive umbenannt hätte, dann wäre seine Sprache zwar irgendwie skurril geworden, aber längst nicht so unverständlich wie bei seiner Umbenennung von Substantiven und Verben. Außerdem ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass viele Adjektive eine wertende Präzisierungsfunktion haben und infolgedessen keine so elementaren ontologischen Orientierungsfunktionen haben wie Substantive und Verben. Falls der alte Mann nur seine Adjektive umbenannt hätte, dann wäre sein Sprachgebrauch wohl für andere eher belustigend als unverständlich gewesen. Sprachtheoretisch ist weiterhin sehr bemerkenswert, dass der alte Mann bei seinen sprachlichen Umbenennungen die Wortartzugehörigkeit der jeweili-
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Bichseis alter Mann in der Höhle der N a m e n
gen Wörter vollständig respektiert bzw. ihre grammatische Bedeutungsdimension. Dazu passt auch, dass er alle grammatischen Funktionswörter (Artikel, Präpositionen, Pronomen, Konjunktionen, Negationswörter) vollständig von seinen Umbenennungsaktivitäten ausnimmt. Das ist auch sehr plausibel, insofern diese grammatischen Funktionswörter nicht als repräsentierende, sondern als organisierende sprachliche Zeichen zu werten sind, die nur innersprachliche Organisationsaufgaben wahrzunehmen haben. Wenn der alte Mann auch die grammatischen Organisations- und Instruktionsmuster umbenannt hätte, dann hätte er die Sprache auf einer so elementaren Ordnungsebene verwirrt, dass er sich wohl selbst nicht mehr in ihr hätte zurechtfinden können. Deshalb ist es ja auch sehr verständlich, warum in metaphorischen Redeweisen die grammatischen Konventionen einer Sprache völlig unangetastet bleiben. Nur wenn diese Konventionen sowohl im Hinblick auf die Struktur der kognitiven Muster als auch im Hinblick auf die Benennungen dieser Muster ungestört bleiben, kann der metaphorische Sprachgebrauch seine innovativen Funktionen erfüllen. Evolutionäre Veränderungen in der Sprache vollziehen sich deshalb im Bereich der Grammatik sowohl auf der Ebene der Musterbildung als auch auf der der Musterbenennung sehr viel langsamer als auf der Ebene der Lexik. Würde der alte Mann auch gegen die Benennungskonventionen im Bereich der Grammatik rebellieren, dann hätte er kaum noch eine Chance, seine eigene Vorstellungsbildung zu organisieren, weil ihm alle Sicherheiten und Vertrautheiten abhanden kämen. Gerade im Bereich der grammatischen Zeichen lassen sich nämlich die Signifikanten gedanklich sehr viel schwerer von den Signifikaten ablösen als im Bereich der Lexik, weil wir für diese kaum namensunabhängige Erfahrungsmöglichkeiten haben.
5. Die sprachtheoretischen Grundprobleme der Geschichte Auf den ersten Blick lässt sich Bichseis Geschichte über die Sprachrebellion des alten Mannes als eine Geschichte über die sprachliche Kodeproblematik rezipieren. Sie scheint auf narrative Weise eine Vorstellung von Sprache zu exemplifizieren, die de Saussure seinem Konzept von Sprachwissenschaft zu Grunde gelegt hat. Die Sprache wird als ein System von Zeichenkonventionen (langue) thematisiert, das jedem konkreten Sprachgebrauch (parole) vorausliegt und das jeder Sprachbenutzer als soziale Tatsache (fait social) respektieren muss, wenn er sich intersubjektiv verständlich machen will. Vielleicht lässt sich Bichseis Geschichte aber sprachtheoretisch auch noch hintergründiger verstehen und als Geschichte über ein monologisches Sprachkonzept rezipieren, das sich idealtypisch von einem dialogischen abgrenzen lässt. Für dieses Verständnis der Geschichte spricht, dass die Kodeproblematik so offensichtlich entfaltet wird, dass man sie eigentlich nur als Oberfläche
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einer sehr viel tieferen Problematik ansehen kann. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass der alte Mann uns als jemand vorgestellt wird, der in einer sozialen Isolation lebt, der die Sprache monologisch nutzt und der sich durch seine Umbenennungsaktion von aller Kommunikation mit anderen abschneidet, dann spricht viel dafür, die sprachtheoretischen Implikationen seiner Sprachrebellion noch etwas genauer in dieser Hinsicht zu überprüfen. Zu diesem Denkansatz passt auch der traurige Schluss der Geschichte, wo gesagt wird, dass der alte Mann immer mehr schweigt bzw. nur noch zu sich selber spricht, was ja unter bestimmten sprachtheoretischen Denkprämissen auch als eine besondere Form des Schweigens bewertet werden kann.
Das monologische Sprachkonzept Es ist recht offensichtlich, dass die Geschichte des alten Mannes als eine Geschichte verstanden werden kann, dem ein repräsentationalistisches Zeichenkonzept zu Grunde liegt, das im Prinzip sehr offensichtlich mit einem monologischen Sprachkonzept korrespondiert. Dieses kann mit einem instrumentalistischen Zeichenkonzept kontrastiert werden, das sich wiederum sehr gut mit einem dialogischen Sprachkonzept verbinden lässt.16 Während das repräsentationalistische Zeichenkonzept sich dafür interessiert, was ein Wort bezeichnen kann bzw. wofür es stellvertretend steht, interessiert sich das instrumentalistische dafür, wie man mit Hilfe eines Wortes einem anderen etwas zu verstehen geben kann bzw. zu welchen kognitiven und kommunikativen Zwecken es sich verwenden lässt. Das repräsentationalistische Sprach- und Zeichenverständnis ist dadurch geprägt, dass ein Wort im Hinblick auf das Sprachsystem als Stellvertreter für einen Begriff und im Hinblick auf eine konkrete Rede als Stellvertreter für einen Gegenstand oder Sachverhalt verstanden wird. Das hat man schon im Mittelalter auf die klassische Formel gebracht, dass etwas für etwas anderes stehe (aliquid stat pro aliquo). Dieses Wort- bzw. Zeichenverständnis gehört ganz offensichtlich in einen abbildungstheoretisch orientierten Denkrahmen. Ein Ding oder Sachverhalt ist die bewirkende Ursache (causa efficiens) für die Ausbildung eines Begriffs bzw. eines Wortes. Dieser Denkansatz hat Leibniz zu der These gefuhrt, „daß die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen seyn, und daß wir Zeichen nöthig haben, nicht nur unsere Meynung Andern anzudeuten, sondern auch unseren Gedanken selbst zu helfen." Dem Verstand genüge es „nicht nur in äußerlichen Reden, sondern auch
16
Vgl. R. Keller, Zeichentheorie, 1995, S. 22. R. Keller, Begriff und Bedeutung, in: J. Grabowski u.a. (Hrsg.), Bedeutung - Konzepte, Bedeutungskonzepte, 1996, S. 47ff.
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Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen
in Gedanken und innerlichen Selbst-Gesprächen das Wort an die Stelle der Sache (zu) setzen."11 Wenn man die Hauptaufgabe der Sprache darin sieht, die Welt auf der Ebene der sprachlichen Zeichen zu vergegenwärtigen, wenn nicht abzubilden, dann liegt ein monologisches Sprachverständnis natürlich sehr nahe, in dem die Sprache im Sinne Bühlers primär eine Darstellungsfunktion hat, aber keine Appell- oder Ausdrucksfunktion. Ein solches Sprachverständnis hat eine lange Tradition und lässt sich im Hinblick auf den philosophischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch natürlich besonders gut rechtfertigen. In Kulturen mit einer gefestigten Schrifttradition liegt es außerdem besonders nahe, weil schriftlich fixierte Texte mit Ausnahme von Briefen in der Regel nicht auf ganz spezifische Adressaten abgestimmt sind und sich außerdem auch von allen Verschränkungen mit konkreten Mitteilungssituationen zu befreien versuchen, um den Anspruch auf die überzeitliche und überindividuelle Gültigkeit ihrer Aussagen zu untermauern. All das führt dazu, dass der schriftliche Sprachgebrauch im Prinzip einen sehr sachorientierten monologischen Charakter bekommt. Aus diesem Sprachgebrauch leitet sich dann in der Regel ein Sprachverständnis ab, das sich auf eine ganz bestimmte erkenntnistheoretische Prämisse gründet. Man geht davon aus, dass es in der Welt vorgegebene und ontisch wohl abgrenzbare materielle und geistige Größen gibt, die eigentlich nur auf eine angemessene sprachliche Repräsentation warten. Diese Ausgangssituation ändert sich grundlegend, wenn man erkenntnistheoretisch der Meinung ist, dass die Welt eher als ein Kontinuum anzusehen ist, aus dem sich die Menschen entsprechend ihren individuellen und kulturellen Differenzierungsbediirfhissen erst ganz bestimmte Vorstellungsgrößen herauspräparieren müssen. Das bedeutet, dass die so erzeugten Vorstellungsgrößen zwar eine ontische Basis haben müssen, dass sie aber hinsichtlich ihrer spezifischen Struktur und Akzentsetzung intersubjektiv erst ausgehandelt werden müssen. Unter diesen erkenntnistheoretischen Prämissen liegt dann natürlich ein dialogisches Sprachverständnis sehr viel näher als ein monologisches, weil die jeweiligen Kommunikanten ja nicht mehr nur Informationen über die Welt austauschen, sondern immer auch Informationen über ihre spezifische Sicht auf die Welt. Der Sprachgebrauch hat dementsprechend eher einen interpretativen als einen abbildenden Charakter, insofern man sich auch immer über die medialen Funktionen der Sprache verständigen muss. Es ist offensichtlich, dass die Handlungsaktivitäten in unserer Geschichte durch ein monologisch orientiertes Sprachkonzept strukturiert werden. Die Vorstellungsgrößen, die durch die jeweiligen Wörter benannt werden, sind feste und fraglos vorgegebene Größen aus der Alltagserfahrung. Es geht nur 17
G.W. Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache, Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 2, S. 673.
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darum, sie intersubjektiv verständlich zu benennen, aber nicht darum, sie interpretativ zu erschließen bzw. als Vorstellungsgrößen erst kategorial zu objektivieren. Wenn der alte Mann nicht nur die üblichen Namen für die Gegenstände vertauscht hätte, sondern die Dinge auf metaphorische Weise neu benannt hätte, dann hätte er zugleich auch neue Kategorisierungsprozesse für altbekannte Erfahrungsgegenstände eröffnet. Dadurch wäre er nicht nur in eine dialogische Beziehung zu den jeweiligen Sachgegenständen eingetreten, sondern auch zu den Menschen, denen er seine neue Sicht auf die Welt plausibel machen möchte. Der Austausch von Namen fuhrt bei dem alten Mann nicht zu einer neuen Sichtweise auf die jeweiligen Bezugsobjekte, da die neuen Namen weiterhin im Sinne einer reinen Nomenklatur verwendet werden. Typisch für dieses repräsentationalistische und monologische Sprachverständnis ist, dass der alte Mann in seinen blauen Heften aufzeichnet, welche Benennungsfunktionen die Namen in seinem alten Sprachgebrauch ursprünglich hatten. Er versucht nicht mehr, sich auf den Namengebrauch der anderen Menschen einzustellen und vergisst deshalb auch die alten Benennungsfunktionen der Wörter. Umgekehrt verharren aber auch die anderen Menschen in ihren Benennungskonventionen und bemühen sich nicht darum, sich auf den Sprachgebrauch des alten Mannes einzustellen.
Das dialogische Sprachkonzept Das dialogische Sprachkonzept lässt sich nicht so gut beschreiben wie das monologische, weil es aspektreicher ist und sehr viele Faktoren miteinander korrelieren muss. Es orientiert sich weniger an den Dingen, sondern eher an den Differenzierungs- und Mitteilungsbedürfnissen der jeweiligen Sprachverwender. Die Sprache tritt primär nicht als ein Zeichensystem zur Darstellung von Sachverhalten in Erscheinung, sondern vielmehr als ein Mittel, anderen etwas zu erkennen zu geben und seine eigenen Erfahrungsweisen von Welt zu objektivieren und zu strukturieren. Das bedeutet, dass die Sprache weder als ein autonomes Zeichensystem ins Auge gefasst wird, noch als ein Abbildungsund Mitteilungswerkzeug für vorgegebene Inhalte, sondern vielmehr als ein Sinnbildungsmittel, bei dessen Gebrauch vielfältige Funktionen ausbalanciert werden müssen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Sprache im Rahmen von bestimmten Grenzen in jedem Gebrauch eben für diesen Gebrauch neu hergerichtet werden muss. Ein solches auf Kommunikationspartner und Kommunikationsgegenstände ausgerichtetes dialogisches Sprachkonzept kann seine Grundlage nicht allein in Kodekonventionen suchen. Es muss berücksichtigen, dass sprachliche Äußerungen nur situationsverschränkt im Kontext ihrer intentionalen Ziele angemessen verstanden werden können und dass zum Verstehen von Sprachformen
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nicht nur ein angemessenes Sprachwissen, sondern auch ein angemessenes Weltwissen gehört. Wenn man die intentionalen Funktionen des Sprechens in sein Verständnis von Sprache einbezieht, dann fuhrt das notwendigerweise zu einem dialogischen Sprachkonzept. Dieses ist im Laufe der Kulturgeschichte in unterschiedlicher Weise in Erscheinung getreten und ist auch in sehr unterschiedlicher Begrifflichkeit thematisiert worden. Gemeinsam ist aber allen dialogisch orientierten Verständnisweisen von Sprache, dass nicht der System-, sondern der Funktionsgedanke im Mittelpunkt des Interesses steht. Sokrates und Piaton haben ihre Philosophie nicht in Form einer monologischen Lehre vorgetragen, sondern in dialogischer Form als eine Suche nach der Wahrheit, bei der den jeweiligen Einzelaussagen kein absoluter Gültigkeitsanspruch zugeordnet wird, sondern nur ein spezifischer argumentativer Stellenwert in einem bestimmten Interaktionszusammenhang mit einem Problem und bzw. Partner. Im Kampf gegen bloße Meinungen (doxa) entwickeln sie eine Ethik des Suchens, die natürlich auch ein ständiges Ringen um angemessene Sprach- und Wissensformen impliziert. 18 Das Denken wird als "Gespräch der Seele mit sich selbst" verstanden. 19 Die Dialektik erscheint dementsprechend als Kunst der Gesprächsführung bzw. als Fähigkeit, fruchtbare Perspektiven für die Erfassung von Phänomenen und Problemen zu entwickeln. Humboldt hat immer wieder betont, dass die Sprache nicht als System und als Werk (Ergon) zu betrachten sei, sondern vielmehr als wirkende Kraft (Energeia) bzw. als bildendes Organ des Gedankens. ,Jhre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen."20 Deshalb möchte er auch den Begriff der Sprache über das Sprechen auf den Begriff des Dialogs zurückfuhren. ,Ellies Sprechen ruht auf der Wechselrede ,.."21 In der Anthropologie und in der verstehenden Soziologie ist immer wieder betont worden, dass man den Gebrauch der Sprache bzw. das Sprechen als eine soziale Handlung zu verstehen habe. Diese zeichne sich als Handlung im sozialen Raum dadurch aus, dass sie nicht nur wie auch andere Handlungen durch ein intentionales Ziel und durch die Wahl zweckdienlicher Handlungsmittel bestimmt würde, sondern darüber hinaus durch den Gebrauch von Zeichen. Diese müssten von anderen Menschen als Adressaten von Handlungen erst verstanden werden, bevor die jeweiligen Handlungen ihr Ziel erreichen könnten. Das bedeutet natürlich, dass jede Rede auf den entsprechenden Ansprechpartner als ein zu Sinnbildungsprozessen fähiges Individuum (alter ego)
18 19 20
21
Piaton, Menon, 86 b-c, Werke, Bd. 2, S. 28. Piaton, Sophistes, 263 e, Werke, Bd. 4, S. 239. W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Werke, Bd. 3, S. 418. W. v. Humboldt, Ober den Dualis, Werke, Bd. 3, S. 137.
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abgestimmt sein muss, bevor sie wirksam werden kann.22 Daraus folgt, dass jeder Sprachgebrauch als ein soziales Handeln immer eine dialogische Grundorientierung haben muss. In der modernen Sozialpsychologie ist weiterhin geltend gemacht worden, dass Kinder ihre Ich-Identität erst in Interaktionsprozessen gewinnen könnten bzw. in Handlungsprozessen, die ihnen die Chance geben würden, ihre Fähigkeit zum Rollentausch und zum Fremdverstehen auszubilden.23 Daraus lässt sich ableiten, dass sich das Ich nicht ohne das Du konstituieren kann. Darauf hat übrigens auch schon F.H. Jacobi in seiner Kritik an der Ich-Philosophie des deutschen Idealismus aufmerksam gemacht. Sehr eindringlich hat Wittgenstein darauf verwiesen, dass jeder Sprachgebrauch durch metareflexive Denkprozesse begleitet werden muss und dass man zu kurz greift, wenn man die Sprachproblematik auf die Kodeproblematik verkürzt. „Wenn man aber sagt: 'Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen', so sage ich: 'Wie soll e r wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.' " 24 Die Besonderheit des dialogischen Sprachkonzeptes besteht darin, dass es die Notwendigkeit betont, den Gebrauch und das Verstehen von Sprache in ein metareflexiv strukturiertes hermeneutisches Begleitbewusstsein einzubetten. Durch ein solches Sprachverständnis lassen sich Missverständnisse zwar nicht verhindern, aber doch minimieren. Wenn jeder Sprecher sich auf die Verstehensmöglichkeiten des Hörers einstellt und jeder Hörer auf die Mitteilungsintentionen des Sprechers, dann minimiert sich auch die Gefahr einer sozialen Isolation. Bichseis Geschichte über die Sprachrebellion des alten Mannes verdeutlicht sehr eindringlich, welche Konsequenzen es hat, wenn von den dialogischen Grundfunktionen der Sprache abstrahiert wird bzw. wenn beim Gebrauch von Worten so getan wird, als ob es nur darum ginge, Gegenstände zu benennen, aber nicht darum, Partnern etwas verständlich zu machen. Der alte Mann spricht niemanden an und wird von niemandem angesprochen. Er stellt keine Fragen, in denen er sich auf andere einstellen müsste, und erhält keine Antworten, deren Sinngehalt er zu interpretieren hätte. Für ihn existieren keine Ich-Du-Relationen bzw. Beziehungsprobleme, sondern allenfalls Ich-EsRelationen und Benennungsprobleme. Der alte Mann wird uns von Bichsei als jemand vorgeführt, der sich nur noch mit feststellenden Sätzen und mit Bezeichnungsproblemen beschäftigt und für den die kontaktstiftenden und sinnbildenden Funktionen der Sprache ganz aus dem Blickfeld geraten sind. Diese würden nämlich erst dann in Erscheinung treten, wenn der alte Mann andere anspräche, wenn er unterschiedliche Sprechakte realisierte, wenn er Modalpartikeln, Modalwörter, Konjunktionen oder bewertende Attribute gebrauchte,
22 23 24
Vgl. A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 1974, S. 24ff. Vgl. J.H. Flavell u.a., Rollenübernahme und Kommunikation bei Kindern, 1975. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 504, 1967, S. 171.
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wenn er Hypothesen entwickelte, wenn er Schlussfolgerungen vortrüge usw. Aber eben dadurch, dass Bichsei all das im Redeverhalten des alten Mannes ausspart und uns darauf auch bei der Beschreibung seines Sprachgebrauchs nicht aufmerksam macht, verweist er indirekt sehr nachdrücklich gerade auf diese Aspekte der Sprache. Vordergründig betrachtet wird die soziale Isolierung des alten Mannes darauf zurückgeführt, dass er die konventionellen Benennungsfunktionen der Wörter nicht mehr respektiert und für die sprachliche Bezeichnung der Gegenstände und der Welt eine ganz private Terminologie einführt. Aber das ist nicht die eigentliche Ursache für die soziale Vereinsamung des alten Mannes, die ja faktisch auch schon vor seiner Umbenennungsaktion gegeben war. Sprachkonventionen sind natürlich wichtige Voraussetzungen dafür, um soziale Beziehungen zu entwickeln und in Diskurse eintreten zu können, aber sie sind keineswegs die einzigen Prämissen dafür. Ansonsten könnte der analogische, metaphorische und ironische Sprachgebrauch nicht eine so wichtige Rolle beim Aufbau sozialer Beziehungen spielen. Aufschlussreich für das monologische Sprachkonzept, durch das die Problemzusammenhänge in unserer Geschichte maßgeblich strukturiert werden, ist auch der Titel: Ein Tisch ist ein Tisch. Die Kopula sein verwenden wir in Aussagen üblicherweise dann, wenn wir entweder ein Element einem Begriff zuordnen (Ein Tisch ist ein Möbelstück) oder einen untergeordneten Begriff einem übergeordneten Begriff (Der Wal ist ein Säugetier). Beide Verwendungsweisen werden in der Überschrift unserer Geschichte nicht exemplifiziert, da in ihr eigentlich nur die banale Behauptung aufgestellt wird, dass ein Tisch mit sich selbst identisch ist. Da das aber keine relevante pragmatische Information ist, wird man wohl annehmen müssen, dass mit dieser Formulierung gemeint ist, dass der Name Tisch im Sinne einer sozialen Tatsache zu dem Ding Tisch gehört und dass an dieser Konvention prinzipiell nicht gerüttelt werden sollte. Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen und die Titelaussage in dem Sinne verstehen, dass die konventionelle Zuordnung des Namens Tisch zu dem Ding Tisch für die Sprachteilnehmer den gleichen Status hat wie die Identität einer Sache mit sich selbst. Ansonsten hätte Bichsei ja auch folgenden Titel wählen können: Einen Tisch sollte man Tisch nennen. Mit einer solchen Überschrift hätte er aber nicht so provokativ auf die sprachtheoretischen Probleme aufmerksam machen können, die er in seiner Geschichte über den alten Mann narrativ gestaltet hat.25
25
Rezeptionsgeschichtlich hat Bichseis Geschichte noch auf anderen Ebenen Interesse gefunden. Vgl. die Aufsätze von H.J. Petsche, M. Schwarz, J. Sternkopf und H. Walter, in: I. Pohl/J.Pohl (Hrsg.), Texte über Texte - Interdisziplinäre Zugänge, 1998. A. Schöne, Literatur im audiovisuellen Medium, 1974, S. 129ff.
Eine Gegengeschichte von Astrid Lindgren
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6. Eine Gegengeschichte von Astrid Lindgren Zum Problem der Namen hat Astrid Lindgren schon 1948 eine lustige Geschichte geschrieben, die man durchaus als eine Gegengeschichte zu Bichseis trauriger Geschichte von 1969 betrachten kann. Sie trägt den Titel: Ρippi findet einen Spunk}6 In ihr wird das Namensproblem allerdings in ganz anderen Kontexten thematisiert. Pippi Langstrumpf stößt nämlich eines Morgens auf das Wort Spunk, zu dem ihr aber die damit benennbare Sache fehlt. Diese Problemlage erinnert an ein Paradoxon, das Kafka folgendermaßen formuliert hat: „Ein Käfig ging einen Vogel suchen",27
Die sprachtheoretischen Hintergründe Im Hinblick auf den Spracherwerbsprozess von Kindern hat man den Eindruck, dass Astrid Lindgren in ihrer Geschichte die Namensproblematik von dem Kopf auf die Füße gestellt hat, da sie im Gegensatz zu Bichsei eine ganz reale Problematik von Kindern aufgegriffen hat. Kinder werden nämlich immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass sie von Erwachsenen Namen hören, denen sie kein ihnen bekanntes Signifikat bzw. Referenzobjekt zuordnen können. Unter diesen Umständen entwickeln die Kinder dann in der Regel eine recht kreative Fantasie, um das jeweilige Wort mit konkreten Inhalts Vorstellungen zu verbinden. Diese sind dann im Kontext der jeweiligen kommunikativen Situation meist auch ganz plausibel, aber sie müssen sich keineswegs mit den üblichen Sprachkonventionen decken. Die spontanen Bedeutungszuweisungen haben für Kinder naturgemäß dann nicht den Status von sozialen Tatsachen, sondern eher den von kreativen Hypothesen, die unter anderen Rahmenbedingungen auch wieder recht schnell verändert werden können. Gerade für Kinder sind deshalb Namen ganz im Sinne von Lenneberg keine sprachlichen Merkzeichen für konventionalisierte Begriffe oder eine ganz bestimmte Klasse von Objekten, sondern vielmehr Merkzeichen für situationsnahe Kategorisierungsprozesse in Dialogen. „ Wörter bezeichnen (etikettieren) die Prozesse des kognitiven Umgangs einer Art mit ihrer Umwelt,"28 Umgekehrt darf man im Hinblick auf den Spracherwerbsprozess von Kindern auch nicht übersehen, dass diese einen gewaltigen Namenshunger haben, um ihre Sacherfahrungen sprachlich zu objektivieren und eben dadurch dann auch besser in ihrem semantischen und episodischen Gedächtnis verankern zu können. Dieser Namenshunger darf allerdings nicht nur als Benennungshunger 26 27 28
A. Lindgren, Pippi im Taka-Tuka-Land, 1986, S. 40-53. F. Kafka, Gesammelte Werke, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, 1953, S. 41. E.H. Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache, 1972, S. 407.
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verstanden werden, denn er ist zugleich natürlich auch ein Interpretations- und Wissenshunger. Was einen Namen hat, das lässt sich leichter in das vorhandene Wissen einordnen und kann leichter memoriert werden. Die sprachtheoretische Vorstellung, dass Namen nur konventionelle lautliche Etiketten von Begriffsmustern sind, liegt Kindern ebenso fern wie frühen Kulturen, obwohl sie einzelnen Wörtern immer einen großen kontextsensitiven Bedeutungsspielraum einräumen, um die verschiedenen Aspekte von Dingen zu erfassen. Namen repräsentieren für Kinder die Dinge auf ganz natürliche Weise. Was noch keinen Namen hat, das hat auch noch keine gesicherte Existenz. Typisch für diese Denkstruktur ist auch, dass Kinder in der Regel bei der sprachlichen Bewältigimg neuer Erfahrungen die Frage stellen: Was ist das? Nur bei sehr unübersichtlichen Erfahrungsgegenständen fragen sie: Wie heißt das? Die Was-ist-das-Frage dokumentiert, dass die Frage nach den Namen von den Kindern immer auch als eine Frage nach dem Wesen der jeweiligen Dinge verstanden wird bzw. als eine Frage, die auf eine Vergrößerung ihres Sachwissens abzielt. Das ist auch insofern verständlich, da viele Namen ja als Komposita oder als Ableitungen in Erscheinung treten und insofern als rudimentäre Definitionen angesehen werden können, durch die ein schon vorhandenes Sachwissen aktiviert wird (Maikäfer, Hirschkäfer, Mistkäfer). So gesehen befriedigen Namen deshalb auch nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine sachliche Neugier.
Die provokative Qualität des Wortes Spunk Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird verständlich, warum Pippis Fantasie hochgradig angeregt wird, als sie eines Morgens auf das Wort Spunk trifft, mit dem sie keinerlei Inhaltsvorstellungen verbinden kann, da es in keinen spezifischen Kommunikationsprozess eingebunden ist und ein isoliertes Fundstück darstellt. Was ist nun bei einem Lautgebilde zu tun, das sowohl im Schwedischen als auch im Deutschen ein phonologisch denkbarer Signifikant ist, für den aber leider das entsprechende Signifikat fehlt? Was kann Pippi machen, um den passenden Vogel zu ihrem Wortkäfig zu finden? Pippi geht nicht den Weg, sich einfach ein Signifikat oder ein Bezugsobjekt für ihr Wort zurechtzulegen und es auf diese Weise zu einem privaten Zeichen zu machen, das nur für sie selbst eine bestimmte Bedeutung hat. Sie wählt von vornherein einen dialogischen Ansatz, um zu klären, welche Bedeutung dem Wort zukommen kann. Und eben daraus können sich dann auch aparte Geschichten ergeben. Zunächst entwickelt Pippi ein paar Hypothesen über die mögliche Bedeutung des Wortes und überprüft diese dann in Gesprächen mit Freunden. So wird erwogen, ob ein Spunk vielleicht die „oberste Spitze von einer blau angestrichenen Fahnenstange" sein könne oder das Ge-
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räusch, das dann entsteht, „wenn man im Matsch watet und der Matsch quillt einem durch die Zehen hoch." Als auf diesem Wege kein befriedigendes Ergebnis erzielt wird, entwickelt Pippi eine neue Strategie, bei der sie auf das Wissen von Erwachsenen zurückzugreifen versucht, ohne diese direkt zu fragen. Sie geht in ein Geschäft und sagt: ,Jch möchte gerne eine Tüte Spunk kaufen ... Aber es soll knusprig sein." Als die Verkäuferin sich damit herausreden will, dass Spunk leider ausverkauft sei, greift Pippi natürlich sofort nach und bittet um eine Sachbeschreibung von Spunk. So in die Enge getrieben muss die Verkäuferin dann natürlich zugeben, dass sie nicht weiß, was mit dem Wort Spunk bezeichnet werde bzw. was Spunk sei. Ebenso wenig lässt sich Pippi von einem Eisenwarenhändler hereinlegen, der ihr eine Harke als Spunk verkaufen will. Auch einen Arzt versucht sie zu testen, aber sie kann diesen nicht davon überzeugen, dass sie Spunk habe. Schließlich setzt sie noch zwei alte Damen mit der Frage in Angst und Schrecken, ob in ihrer Wohnung ein Spunk sei. Da nun all diese operativen Verfahren sich als nicht brauchbar erweisen, um der Bedeutung des Wortes Spunk auf die Spur zu kommen, wählt Pippi einen anderen Lösungsweg. Als sie einen ihr unbekannten kleinen hübschen Käfer sieht, entscheidet sie spontan, ihm durch einen Namen auch eine stabile sprachliche Existenz zu geben: „fo ist ein Spunk'. Dem Zweifler Thomas hält sie sehr nachdrücklich entgegen: „Glaubst du etwa nicht, daß ich einen Spunk erkenne, wenn ich einen vor mir habe? ... Hast du jemals in deinem Leben etwas so Spunkartiges gesehen?"
Die sprachtheoretischen Implikationen der Geschichte Astrid Lindgrens Geschichte ist insofern sehr erfrischend, als sie die Frage nach der Bedeutung von Namen bzw. Wörtern auf eine sehr pragmatische Weise thematisiert. Für sie und für Pippi Langstrumpf tritt die Sprache nicht als ein System verpflichtender Konventionen in Erscheinung bzw. als eine soziale Tatsache, die den einzelnen gängelt. Für sie ist die Sprache kein System von etablierten Zeichenkonventionen, sondern vielmehr ein Inventar von Mitteln, mit denen man pragmatische Bedürfiiisse ganz unterschiedlicher Art befriedigen kann. Das Phänomen Sprache ist fur sie von vornherein in dialogische Kommunikationssituationen eingebunden. Das Problem der monologischen Nutzung der Sprache bzw. das Problem der Privatsprache stellt sich ihr deshalb gar nicht und damit auch nicht das Problem, sich durch eine Privatsprache sozial zu isolieren. Sachen haben einen Namen und dieser Name muss intersubjektiv ausgehandelt werden. Wenn eine Sache keinen Namen hat, dann muss man ihr einen Namen geben, der nicht unbedingt onomatopoetisch oder derivativ motiviert sein muss, auf den man sich aber intersubjektiv zu einigen hat.
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Bichseis alter Mann in der Höhle der Namen
Durch diesen Lösungsweg macht Pippi unmissverständlich klar, dass Namenszuordnungen keine einsamen dezisionistischen Entscheidungen sein können und auch nicht sein sollten. Als sie nach allen dialogischen und operativen Recherchen feststellt, dass das Wort Spunk bisher noch nicht genutzt worden ist, ist für sie der Weg frei, diesem Wort eine pragmatisch sinnvolle Benennungsfunktion zuzuordnen und damit auch eine spezifische Bedeutung. Wichtig ist bei dem ganzen Vorgang, dass Pippi im Gegensatz zu dem alten Mann keine einsamen Entscheidungen fallt, die notwendigerweise in eine soziale, kommunikative oder psychische Isolierung führen müssen, sondern dass sie ihre potenziellen Kommunikationspartner von vornherein in die Ausbildung einer neuen Sprachkonvention einbezieht. Wichtig ist weiterhin, dass sie den ganzen sprachlichen Innovationsvorgang von vornherein in pragmatische Zusammenhänge einbettet. Damit gibt sie ihm eine intersubjektiv nachvollziehbare motivationale und emotionale Grundlage, die die Voraussetzung dafür ist, dass sich die neue Konvention auch sozial stabilisieren kann. Der Name Spunk findet auf natürlichem Wege sein passendes Referenzobjekt, weil unbenannte Dinge allzu leicht aus dem Interesse und der Wahrnehmung der Menschen herausfallen.
XIII Schädlichs Sprachabschneider Der Sprachabschneider [Paul ist ein kleiner verträumter und fantasiereicher Junge, dem es schwerfällt, sich in die Rituale und Konventionen des täglichen Aufstehens sowie des täglichen Schulbesuchs einzuordnen. Die banalen Dinge des Alltags verwandeln sich für ihn immer wieder in Bestandteile einer fantastischen Welt. Er wundert sich deshalb auch nicht allzu sehr, als er vor der Schule einem seltsamen Mann begegnet, der auf einem Holzkoffer stehend den Schülern in einem krächzenden Gesang folgendes Angebot macht:]
„ Übernehme gegen Lohn Aufsicht über Präposition. Suche dringend Prädikat, biete frischen Wortsalat. Kaufe einzeln und komplett Konsonanten (außer Z). Wer tauscht alte Stammsyllaben Gegen fertige Hausaufgaben? " Nach dem Unterricht geht Paul schnell nach Hause. Den Mann auf dem Holzkoffer und sein Lied hat er vergessen. Paul will vor dem Fußballtraining seine Hausaufgaben hinter sich bringen. Gerade will Paul das Deutsch-Heft aufschlagen, als es an der Wohnungstür klingelt. Paul öffnet die Tür einen Spaltbreit und vergißt, den Mund wieder zuzumachen. Vor der Tür steht der Mann mit dem Holzkojfer. „Mein Name ist Vielolog", sagt der Mann mit brummender, knarrender und krächzender Stimme. „Lch möchte dir einen Vorschlag machen. " Dabei klopft er auf seinen Koffer. Paul sagt: „Meine Eltern sind auf Arbeit, komm bitte heute abend wieder. " Aber der Mann sagt: „Lch übernehme eine Woche lang deine Hausaufgaben, wenn du mir alle deine Präpositionen und ... sagen wir mal ... die bestimmten Artikel gibst. Das ist ja nicht viel. " Paul überlegt. Dann sagt er: „ Wie soll ich dir meine Präpositionen oder so was geben. Die hab ich doch nicht im Schrank. "
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„Du sagst einfach, daß du sie mir gibst, und fertig. Du kriegst natürlich 'ne Quittung." Da denkt Paul: Eine ganze Woche lang keine Hausaufgaben! Und ich brauche bloß zu sagen: Na, wenn es weiter nichts ist. Paul sagt: „In Ordnung. Ich geb dir meine Präpositionen und die bestimmten Artikel." Er führt den Mann in sein Zimmer. Vielolog stellt den großen grünen Regenschirm in die Ecke, öffnet den Holzkoffer und holt einen Notizblock heraus. Während er die Quittung schreibt, kann Paul sehen, was in dem Koffer ist. Es sind kleine Holzkästchen, und auf jedem Kästchen klebt ein Zettel. Paul liest auf einem Zettel das Wort und einen Namen, der ihm sehr bekannt vorkommt. Es ist ein Junge aus der achten Klasse, erinnert sich Paul, und er denkt: Bin ich ja nicht der einzige. Vielolog, der an Pauls Tisch sitzt, überreicht Paul die Quittung und macht sich sogleich an Pauls Hausaufgaben. Paul steckt die Quittung in die Hosentasche und sagt: „Ich gehe Sportplatz. " Da lächelt Vielolog zufrieden. Am Abend will Pauls Mutter wissen, ob Paul seine Hausaufgaben erledigt hat. „Ja", sagt Paul. „ Und was hast du sonst noch gemacht? "fragt Pauls Mutter. „ Och ", sagt Paul, „ ich war Fußballtraining. Hinterher saßen wir noch Eisdiele. " Pauls Mutter starrt Paul an, sagt aber nichts. Sie denkt: Vielleicht hat Paul sich wieder etwas Neues ausgedacht. Als er von dem Regen erzählt, den er am Morgen erlebt hat, sagt Paul: „ Regen stürzte Straßenbahn wie haushohe Wellen ein Schiff. " Pauls Mutter sagt: „Du kannst mir doch nicht erzählen, daß die Straßenbahn von dem Regen umgefallen ist!" „ Hab ich doch gar nicht gesagt!" sagt Paul. In der Schule geht es erst richtig los. Pauls Mitschüler merken gleich, daß mit Paul etwas nicht stimmt. Immer, wenn er etwas sagt, sehen sie ihm auf den Mund. Als Paul in der Geographiestunde aufgerufen wird und sagen soll, wohin der Main fließt, sagt Paul: „ Main fließt Rhein. " Da lachen alle, sogar Pauls Freunde. Und der Lehrer sagt: „So rein fließt der Main gar nicht, Paul. " Zum Direktor, der in der Pause den Korridor entlangkommt und wissen will, ob Pauls Lehrer noch in der Klasse ist, sagt Paul: „Nein, Lehrer ist nicht Klasse." Der Direktor ist eine Sekunde lang sprachlos. Paul vergißt vor Aufregung, was der Direktor sagt. Etwas Angenehmes ist es jedenfalls nicht.
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Daß Paul aber keine Hausaufgaben zu machen braucht, findet er wirklich schön. Endlich kann er nach der Schule tun, was er will. Am liebsten spielt er Fußball. Aber er ist allein. Die anderen kommen immer erst auf den Sportplatz, wenn sie ihre Hausaufgaben gemacht haben. Was soll Paul solange tun? Er legt sich ins Gras und sieht in den Himmel. Er langweilt sich. Am Montag darauf ist die Zeit ohne Hausaufgaben vorüber. Paul kommt von der Schule nach Hause und seufzt, weil er das Gefühl hat, daß für ihn mehr hätte herausspringen müssen als eine Woche ohne Hausaufgaben. Es macht Paul gar keinen richtigen Spaß mehr, zuzusehen, was es zu sehen gibt, weil er es nicht mehr richtig erzählen kann. Und es macht auch gar keinen richtigen Spaß mehr, etwas zu sagen. Die Mitschüler lachen, der Lehrer glaubt, Paul macht dumme Witze, und der Direktor schimpft. Zwei Wochen hätte ich mindestens verlangen müssen, denkt Paul und setzt sich an seinen Tisch. Da klingelt es. Wieder steht Vielolog vor der Tür. Paul bittet ihn herein und sagt. „Du mußt mir noch eine Woche geben!" „ Gut, aber nicht umsonst", knarrt das Dielenbrett. „ Was willst du denn? "fragt Paul. „Ich will alle deine Verbformen", krächzt es aus dem Mann. „Alle meine Verbformen? " ruft Paul erschrocken. „Den Infinitiv kannst du meinetwegen behalten ", brummt der Mann. Paul überlegt: Immerhin, Infinitiv reicht vielleicht. Ich könnte jeden Nachmittag schwimmen gehen, bis die anderen zum Fußballspielen kommen. Und heute nachmittag ist Zirkus! „Einverstanden", sagt Paul. Vielolog öffnet den Koffer, holt ein neues Kästchen heraus, schreibt < Verbformen> und Pauls Namen darauf. Paul bekommt seine Quittung und macht sich auf den Weg zum Zirkus. Die Vorstellung fängt erst um fünfzehn Uhr an. Paul kann sich vorher die Tierschau ansehen. Vor den Käfigen, in denen die Löwen liegen, trifft Paul seinen Freund Bruno. Paul fragt: „ Gehen du auch Zirkus? " Bruno sagt: „Paul, was ist los mit dir? " „Nichts ", antwortet Paul. „ Wann machen du Hausaufgaben? " Bruno sagt: „Nun hör aber auf, Paul!" An der Zirkuskasse sagt Paul gar nichts. Er gibt Bruno das Eintrittsgeld, und Bruno kauft zwei Karten. Ehe die Vorstellung beginnt, fragt Paul noch:„Bruno, was gefallen dir besser, Akrobatik oder Dressur? " „Am besten gefällst du mir", antwortet Bruno. Da schweigt Paul bis zum Ende der Vorstellung, obwohl er gerne etwas gesagt hätte. Bruno hat zuletzt beinahe ein schlechtes Gewissen. Am Abendbrottisch muß Paul seinen Eltern unbedingt vom Zirkus erzählen. „Herrlich sein Dressuren", sagt er. „Ein Tiger springen ein brennender Rei-
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fen. Ein Elefant sitzen ein großer Hocker. " Pauls Eltern werden sehr traurig, als sie Paul reden hören. Er hatte ihnen beim Abendbrot immer von seinen Erlebnissen erzählt. Jetzt bringt er nur noch solche Sätze zustande. Vater, der sich nichts anmerken lassen will, fragt: „ Und die Akrobaten? " „Es geben Trapezkünstler und einen Seiltänzer", sagt Paul. „Seiltänzer halten jede Hand einen Regenschirm, und seine Schultern tragen er ein Mädchen. " Jetzt sieht Paul, daß seine Eltern sehr traurig sind. Als Paul in sein Zimmer gegangen ist, sagt Mutter: „Zuerst dachte ich, Paul hat sich einen Spaß ausgedacht. Aber das ist schon kein Spaß mehr. Was ist bloß mit ihm los? " „Ist Paul vielleicht krank? "fragt Vater. Mutter sagt: „Nein, bestimmt nicht. Das hätte ich gemerkt. Es muß irgend etwas anderes sein. Was ist es bloß? " „ Warten wir ab ", sagt Vater, „ wir müssen Geduld haben. " In der Schule sagt Paul so wenig wie möglich. Seine Mitschüler warten nur darauf, daß er etwas sagt, und prusten gleich los. Sie glauben, daß Paul einen Dreh gefunden hat, die Lehrer auf den Arm zu nehmen. Nur Fritz, der nie Pauls Freund war, sagt in der Pause zu Paul: „Sein du kleines Knirpschen, müssen du Kindergarten gehen. Oder Mutti Rockzipfel bleiben. " Der Klassenlehrer bestellt Paul schließlich zu sich und sagt sehr ärgerlich: „ Wenn das so weitergeht, dann müssen wir ein ernstes Wort mit dir reden. Was denkst du dir eigentlich? Du glaubst wohl, du kannst dir alles erlauben, wie? Nimm dich gefälligst zusammen und hör mit den Faxen auf. " Paul zuckt nur mit den Schultern. Nachmittags geht er ganz allein ins Schwimmbad, sucht sich ein einsames Fleckchen auf der Liegewiese und grübelt. Im Unterricht geht es nur noch, wenn Paul Hausaufgaben vorliest. Vielolog ist sehr klug. Er macht Pauls Hausaufgaben nicht besser als es Paul getan hätte. Wenn Paul aber selber etwas sagen muß oder wenn eine Arbeit geschrieben wird, bei der man in ganzen Sätzen antworten muß, dann ist es schlimm für Paul. Die Lehrer glauben, Paul macht absichtlich alles falsch. Es vergeht keine Stunde ohne einen Tadel, es regnet Vieren und Fünfen, und alle Lehrer schimpfen mit Paul. Paul schläft in der heißen Sonne ein. Er träumt aber gar nichts. Er wacht auf und fragt sich, wie lange er nicht mehr richtig geträumt hat. Eine Woche? Oder schon zwei? Das Wasser im Schwimmbecken ist so frisch, daß Paul seine Grübeleien wieder vergißt. Die zweite Woche vergeht sehr schnell. Paul schweigt meistens. Am dritten Montag sagt er zu Vielolog: „Ich können gar nichts mehr allein machen. Du dürfen mich jetzt nicht sitzen lassen. " Vielolog ist zufrieden. Aber umsonst tut er natürlich nichts. Paul sagt: „Du haben schon genug!" Doch Vielolog läßt sich nicht beirren. Schließlich gibt Paul nach: „Also, was verlangen du? "
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Und Vielolog sagt: „ Von jedem Wort, das mit zwei Konsonanten anfängt, verlange ich den ersten Konsonanten. Das ist ja nicht viel. " Schon am nächsten Tag begreift Paul, worauf er sich diesmal eingelassen hat. Mutter trägt ihm beim Frühstück auf nach der Schule einkaufen zu gehen. Paul soll zehn Schrippen, vier Bratwürste, eine Tüte Hafer-Flocken und eine Tüte Graupen kaufen. Außerdem braucht Mutter ein Tütchen Staubzucker, weil sie Plätzchen backen will. „ Soll ich's dir aufschreiben ", fragt Mutter, „ oder merkst du's dir? " Paul sagt: „Nicht aufschreiben. " Nach der Schule geht Paul in den kleinen Lebensmittelladen an der Ecke. Die Verkäuferin fragt: „ Was möchtest du, Paul? " Paul schnurrt Mutters Bestellung herunter: „Zehn Rippen, vier Ratwürste, eine Tüte Hafer-Locken und eine Tüte Raupen. Und ein Tütchen Taubzucker, Mutter wollen Lätzchen backen. " Die Verkäuferin, die von Paul gehört hat, sagt ernst: „ Tut mir leid, Paul, das haben wir nicht. Versuch's doch mal woanders. " Paul stolpert verwirrt aus dem Laden. Den ganzen Nachmittag läuft er durch die Stadt. Er will schon umkehren, als er endlich Vielolog aus einem Haus kommen sieht. Vielolog trägt in der Linken seinen Regenschirm, in der Rechten trägt er seinen Holzkoffer. „ Vielolog!" ruft Paul. Vielolog dreht sich um und wartet. Atemlos bleibt Paul vor Vielolog stehen und sagt so schnell er kann: „Ich wollen alles wiederhaben!" Aber Vielolog lacht Paul einfach aus. „ Da kann ja jeder kommen ", sagt er. „ Wir haben ein ehrliches Geschäft gemacht, und damit basta. Oder habe ich etwa nicht deine Hausaufgaben erledigt? " Paul ist verzweifelt. „Ich geben dir meine Indianer, Autos und Lugzeuge. Und meinen Fußball!" sagt Paul. Vielolog lacht einfach. „So was sammle ich nicht", sagt er. „Aber ich habe eine Idee." Er öffnet seinen Koffer und holt ein Blatt Papier heraus. „ Du kriegst alles von mir zurück", sagt er, „wenn du herausfindest, was auf diesem Blatt fehlt. Ich gebe dir einen Tag Zeit. Wir treffen uns hier. " [Auf dem Blatt steht ein kleiner Text, in dem alle Sprachformen fehlen, auf die der kleine Paul in seinem Handel mit dem Vielolog leichtfertig verzichtet hat. Vielolog, der unterdessen nach Hause gegangen ist, hopst um seinen Tisch, wirft kleine Holzkästchen in die Höhe und singt:]
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„Faulpaul, paulfaul, kann nur auf zwei Beinen stehen, aber denkt, aber denkt, wird wohl auch mit einem gehen, hat das andre m i r geschenkt. Was ich krieg, das hat er nicht, was ich hab, das kriegt er nicht. " Vor lauter Schadenfreude kriegt Vielolog einen dunkelroten Kopf. Er muß nach Luft schnappen, setzt sich auf seinen Holzkoffer und japst: „Kriegt er nicht, kriegt er nicht!" Paul kann die halbe Nacht nicht schlafen. Am nächsten Tag bittet er Bruno um Hilfe. Sie treffen sich nach der Schule bei Paul, und Paul weiht Bruno in das Geheimnis ein. „Mensch, Paul", sagt Bruno, „du warst aber leichtsinnig. " „ Wissen ich ja ", sagt Paul, „ was sollen ich denn jetzt tun? " „Du mußt alles, was du Vielolog gegeben hast, von neuem lernen", antwortet Bruno. „ Und wie? "fragt Paul. „Du schlägst in deiner Grammatik nach und im Wörterbuch. Und wenn du nicht weiterkommst, helf ich dir. " Gesagt, getan. Paul schlägt seine Grammatik auf und findet heraus, daß es heißen muß: Er probiert vor dem in alle Konsonanten aus und kommt darauf, daß ein fehlt: . „Ich haben es!" sagt er, „Satz heißen: . Stimmen das, Bruno? " „Nein ", sagt Bruno, „ da fehlt noch was. " Wieder sieht Paul in seiner Grammatik nach und sagt:,, Nein, ..." „ Stimmt!" ruft Bruno. Satz für Satz kommt Paul der Sache auf die Spur. Manchmal muß Bruno nachhelfen. Auch für Bruno ist es gar nicht einfach. Aber leichter ist es für ihn doch, weil er alles im Kopf hat. Paul dagegen muß immer erst in der Grammatik oder im Wörterbuch nachsehen. Am Ende ist das Blatt über und über bekritzelt. Paul hat mit einem blauen Filzstift geschrieben, und das Blatt sieht so aus:
Der Sprachabschneider
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yic/z, Jen will Paul gar nicht mehr sehen. Es ist spät geworden. Paul steckt das Blatt in die Tasche. Bruno begleitet ihn bis zur verabredeten Straßenecke. Vielolog ist schon da. Paul hält ihm das Blatt vor die Nase, und Vielolog läßt vor Ärger seinen Holzkoffer fallen. „Also gut", brummt er. Umständlich kramt er in seinem Koffer, holt vier Kästchen hervor, öffnet sie und schüttet sie aus. „Da!" krächzt er. Paul sagt: „ Von mir kriegst du nie mehr auch nur die kleinste Silbe!" Er dreht sich um und läuft mit Bruno davon. Vielolog hört nur noch, wie Paul ruft: „ Vielolog! Du Sprachabschneider!
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HJ. Schädlich, Der Sprachabschneider, Reinbek bei Hamburg, 1980, Rowohlt Verlag.
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Schädlichs Sprachabschneider
1. Der Problemhorizont der Geschichte Hans-Joachim Schädlich hat seine Geschichte vom Sprachabschneider in der Lebenswelt eines kleinen Schuljungen angesiedelt und sich auch nicht gescheut, sie der Kinderliteratur zuzuordnen. Aber das ist eine für ihn typische Bescheidenheitsgeste, die nicht verdecken kann, dass diese Geschichte Sinndimensionen aufweist, die weit über das hinausgehen, was man üblicherweise von diesem Genre erwartet. Vorerst lassen sich dafür zwei Gesichtspunkte geltend machen. Zum einen hat Schädlich selbst betont, dass seine Geschichte vom Sprachabschneider eine parabolische und ethische Tiefendimension habe. „Im Jahre 1980 veröffentlichte ich ein Kinderbuch mit dem Titel 'Der Sprachabschneider', das den Verzicht auf das Denk- und Sprachvermögen und dessen Folgen zum Gegenstand hat, also eine Metapher für Opportunismus, Zensur und Selbstzensur darstellt. "2 Zum andern wird die sinnbildliche Tiefendimension dieser Geschichte fassbar, wenn man die nahe liegende Frage stellt, ob sich der Sprachverlust des kleinen Pauls als Umkehr des Spracherwerbsprozesses mit all seinen anthropologischen und kulturhistorischen Implikationen verstehen lässt. Darauf wird in der Geschichte auch selbst aufmerksam gemacht, als der kleine Fritz den vereinfachten Sprachgebrauch Pauls spöttisch imitiert. „Sein du kleines Knirpschen, müssen du Kindergarten gehen. Oder Mutti Rockzipfel bleiben." Nun ist allerdings einzuräumen, dass Schädlich den Sprachverlust des kleinen Pauls eigentlich nur als einen Mangel an präziser Informationsvermittlung darstellt und nicht als einen Mangel an kognitiver Differenzierungsfähigkeit bzw. als eine Form geistiger Regression. Gleichwohl ergibt sich natürlich die Frage, ob der Ausfall von bestimmten sprachlichen Differenzierungs- und Objektivierungsformen letztlich nicht doch auch einen Ausfall von spezifischen Denkformen impliziert oder zumindest den Verlust des schnellen Zugriffs auf kulturgeschichtlich entwickelte relevante Denkmuster. Um diese Frage zu beantworten oder zumindest hinsichtlich ihrer Zielsetzungen und Sinndimensionen besser zu verstehen, ist es notwendig, etwas genauer herauszuarbeiten, welchen semiotischen und pragmatischen Stellenwert diejenigen Sprachzeichen haben, die sich der kleine Paul etwas leichtfertig vom Sprachabschneider hat abhandeln lassen. Als Geschichtenerzähler verzichtet Schädlich natürlich darauf, theoretische Reflexionen darüber anzustellen, welche kommunikativen Konsequenzen der Verzicht auf die Verwendung bestimmter Sprachformen hat bzw. welche 2
H.J. Schädlich, Selbstvorstellung, in: W. Segebrecht (Hrsg.), Auskünfte von und über Hans Joachim Schädlich, 1995, S. 7.
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kognitiven Folgen letztlich mit einer so vereinfachten Sprache verbunden sind. Er fuhrt uns nur vor, in welche Schwierigkeiten der kleine Paul gerät, nachdem er leichtfertig auf den Gebrauch bestimmter Sprachformen verzichtet hat. Es bleibt den Lesern überlassen, diese Problemlage semiotisch zu analysieren und sprachtheoretisch auf den Begriff zu bringen. Diese Aufgabe hätte Schädlich natürlich im Prinzip auch übernehmen können, da er als promovierter Sprachwissenschaftler mehrere Jahre am Institut fur deutsche Sprache und Literatur der Ostberliner Akademie der Wissenschaften gearbeitet hat und deshalb in sprachtheoretischen Fragen keineswegs als Laie anzusehen ist. Obwohl der Sprachabschneider dem kleinen Paul nur sehr wenige Sprachformen abgeschwatzt hat, ist es nicht ganz leicht, die damit verbundenen zeichentheoretischen Probleme klar herauszuarbeiten. Hilfreich ist dabei allerdings, dass sich der Sprachverlust des kleinen Pauls stufenweise vollzieht. Zuerst handelt ihm der Sprachabschneider die Präpositionen und bestimmten Artikel ab, dann die unterschiedlichen Verbformen mit Ausnahme der Infinitivformen und schließlich die ersten Konsonanten von denjenigen Wörtern, die mit zwei Konsonanten beginnen. Diese stufenweise Sprachabschneiderei gibt uns die Chance, die kommunikativen Konsequenzen des Verlustes von einzelnen Sprachformen zu erfassen, zu beschreiben und theoretisch einzuordnen. Durch die perspektivische Konzentration unserer semiotischen Aufmerksamkeit auf bestimmte Zeichentypen der Sprache wird es uns erleichtert, den ganzen Problembereich theoretisch zu strukturieren. Die Geschichte vom Sprachabschneider lebt davon, unterschiedliche Welten miteinander zu kontrastieren und wechselseitig ineinander zu spiegeln, um eben dadurch ihre spezifischen Strukturen besser kennen zu lernen. Das beginnt damit, dass der kleine Paul eine große Neigung hat, die Bestandteile der realen Welt zu solchen von Traumwelten zu machen und doch immer wieder mit dem Problem konfrontiert wird, beide Welten klar auseinander zu halten. Es endet damit, dass der faktische Sprachgebrauch experimentell so verändert wird, dass er seine üblichen Funktionen nicht mehr erfüllen kann. Die Personen der Geschichte und die Leser werden in die fiktive Welt einer reduzierten Sprache gefuhrt, um auf diese Weise indirekt darauf aufmerksam gemacht zu werden, welche Struktur und Leistungsfähigkeit die natürlich gegebene Sprache im Prinzip hat und welche Konsequenzen sich ergeben, wenn an dem gewachsenen Ordnungssystem dieser Sprache willkürliche sprachabschneiderische Eingriffe vorgenommen werden.
2. Die semiotische Strukturordnung der Sprache Schädlichs Geschichte über den Sprachabschneider lässt sich in sprachtheoretischer Hinsicht als eine Geschichte über die Möglichkeiten und Grenzen von Eingriffen in die semiotische Struktur der natürlichen Sprache verstehen. Der
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Schädlichs Sprachabschneider
Sprachabschneider nennt sich zwar Vielolog, aber er ist kein Philologe bzw. Sprachliebhaber im ursprünglichen Sinne. Er ist allenfalls ein degenerierter Philologe, der anderen bestimmte Elemente der Sprache abschwatzt, um sie als isolierte Sammelstücke zu horten. Ihn interessieren weder die kognitiven und kommunikativen Funktionszusammenhänge, in die die Sprache eingebunden ist, noch die komplexen internen Systemordnungen, die natürlich gewachsene Sprachen aufweisen. An der Sprache hat er allenfalls ein Sammlerinteresse, insofern er danach trachtet, anderen bestimmte Sprachelemente zu entziehen und sich selbst anzueignen. Für den Vielolog existiert die Sprache nicht als Erscheinungsform des Phänomens Logos (Vernunft, Ordnung, Sinn), sondern eher als ein Gegenstandsbereich, aus dessen Bestandteilen man sich eine Sammlung anlegen kann. Insofern gleicht er eher einem Schmetterlingssammler als einem Philosophen. Für seine Sammlung von Sprachformen braucht der Vielolog allerdings einen gewissen Überblick über die interne Strukturordnung der Sprache bzw. ein Wissen darüber, welche Typen von Sprachzeichen es gibt und wie man diese segmentieren und klassifizieren kann. Wenn man so will, dann könnte man den Vielolog als einen Strukturalisten in einem sehr verarmten Sinne bezeichnen, der nicht daran interessiert ist, was man mit der Sprache alles bewerkstelligen kann, sondern nur daran, wie man die Sprache in ihre Bestandteile zerlegen kann. Das bedeutet, dass er für die Sprache kein physiologisches, sondern nur ein anatomisches Interesse aufbringt. Er will sich eine Sprachzeichensammlung besonderen Typs anlegen ohne Rücksicht darauf, welche Konsequenzen der Entzug von bestimmten Sprachformen fur diejenigen zeitigt, denen er sie abhandelt. Sprachliche Zeichen betrachtet er nicht als kostbare Leihgaben einer Kultur an die jeweiligen Sprachverwender, sondern vielmehr als mögliche Gegenstände individuellen Besitzes. Der Vielolog ist so gesehen ein Sprachabschneider im mehrfachen Sinne. Er schneidet die sprachlichen Zeichen von den Menschen ab, die sie verwenden. Er schneidet die sprachlichen Zeichen von den Situationen ab, in denen sie nützlich sein können. Er schneidet die sprachlichen Zeichen von den Relationen zu anderen Zeichen ab, in denen sie ihre sinnbildenden Funktionen erst voll entfalten können. Das Phänomen Sprache wird dem Vielolog auf diese Weise zu einem Steinbruch, aus dem man sich bestimmte Elemente herausklauben kann, um sie als Betrachtungsobjekte zu isolieren. Ein Wissen über die Sprache kann man dem Sprachabschneider sicherlich ebenso wenig absprechen wie dem Schmetterlingssammler ein Wissen über Schmetterlinge. Aber ihr jeweiliges Wissen hat sicher eher den Status eines statisch orientierten Gegenstandswissens als eines dynamisch orientierten Handlungswissens. Über die Hintergründe der Sammelleidenschaft des Sprachabschneiders erfahren wir in der Geschichte nichts, darüber können wir nur spekulieren. Wir erfahren aber sehr wohl etwas über die Strategie seines Sammeltriebes und damit natürlich auch etwas über die Struktur seines
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Sprachwissens. Deshalb kann uns die Frage danach, warum er bestimmte Sammelstücke bevorzugt und andere vernachlässigt, durchaus zu wichtigen sprachtheoretischen Einsichten fuhren. Dazu muss man allerdings ein paar grundsätzliche Überlegungen zur Struktur von komplexen Zeichensystemen anstellen.
Die Struktur komplexer Zeichensysteme Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass die natürliche Sprache als das wichtigste und das am vielfältigsten verwendbare Zeichensystem anzusehen ist, das die Menschen für die Bewältigung ihrer kognitiven und kommunikativen Bedürfnisse kulturgeschichtlich entwickelt haben. Die strukturelle Komplexität und die funktionelle Flexibilität der natürlichen Sprache ist einerseits Folge, aber andererseits auch Voraussetzung dafür, dass sie als letzte Metasprache zur Konstruktion und Interpretation anderer Zeichensysteme bzw. Sprachen verwendbar ist. Die Universalität der natürlichen Sprache dokumentiert sich darin, dass mit ihrer Hilfe über alle denkbaren Sachverhalte sinnvoll gesprochen werden kann, wenn auch nicht immer sehr präzise. Durch diesen Universalitätscharakter bekommt die natürliche Sprache eine Sonderstellung unter allen kulturell entwickelten Zeichensystemen, die sich nicht nur anthropologisch, sondern auch systemtheoretisch beschreiben lässt. Ihren polyfunktionalen Aufgaben kann die natürliche Sprache nur dann gerecht werden, wenn sie sich eine spezifische innere Ordnungsstruktur gibt, durch die sichergestellt wird, dass sie als geformte Mittlerin die Subjektsphäre auf umfassende und flexible Weise mit der Objektsphäre in Verbindung zu bringen vermag. Das kann aber nur dann gelingen, wenn sie vielfältige Subsysteme entwickelt, die in Sinnbildungsprozessen auf flexible Weise miteinander interagieren können. Dazu gehört die Ausbildung von verschiedenen Zeichentypen, die dann unterschiedliche kognitive und kommunikative Funktionen übernehmen können, die Ausbildung von Wortbildungsregeln, damit auch neu geprägte Wörter spontan verstanden werden können, die Ausbildung einer analogischen bzw. metaphorischen Sprachverwendung, damit auch Unbekanntes über Bekanntes sprachlich erschlossen und objektiviert werden kann, die Ausbildung von Möglichkeiten, mit Hilfe der Sprache unterschiedliche Handlungen zu realisieren (Darstellung, Ausdruck, Appell), die Ausbildung eines wertakzentuierten Vokabular, um auf implizite Weise den intersubjektiven Stellenwert von Informationen zu kennzeichnen oder bestimmten sozialen Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern Ausdruck zu geben, usw. Insbesondere benötigen alle komplexen Zeichensysteme und vor allem die natürliche Sprache zwei unterschiedliche Typen von Zeichen, worauf schon im Zusammenhang mit den Texten von Swift hingewiesen worden ist. Im Hinblick auf die Mathematik hat deshalb schon Lambert im 18. Jahrhundert kon-
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statiert, dass komplexe Zeichensysteme nur dann funktionsfähig seien, wenn sie einerseits Zeichen für „Größen" hätten und andererseits Zeichen für „Operationen", die mit diesen Größen ausgeführt werden können.3 Humboldt hat im Hinblick auf das Inventar sprachlicher Zeichen ganz ähnliches festgestellt: „... so zerfallen in dieser Hinsicht alle Wörter in solche, welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen. Denn das Denken bedarf eigener, um die Begriffe zu verbinden, zu trennen, zu vergleichen und nach den ihm eigenthümlichen Operationen zu behandeln. Man kann diese Wörter allgemein logische oder dialektische nennen, und ihre Eigenthümlichkeit besteht darin, dass sie, subjectiv betrachtet, durch innere Handlung Hervorgebrachtes bezeichnen, objectiv betrachtet aber nicht Gegenstände, noch Eigenschaften von Gegenständen, sondern nur Beziehungen und Verhältnisse der Begriffe und Dinge auf einander, und zu dem Verstände, durch den sie gedacht werden." 4
Die von Lambert und Humboldt postulierte Notwendigkeit, in komplexen Zeichensystemen und insbesondere in der Sprache zwei ganz unterschiedliche Typen von Zeichen zu unterscheiden, ist auch im Rahmen anderer Theorien und Terminologien betont worden. Einerseits benötige die Sprache Inhaltszeichen, Nennzeichen bzw. autosemantische Zeichen, um fur die Vorstellungsbildung Grundinformationen zu objektivieren, die direkt auf die Welt bzw. auf angenommene Seinskategorien Bezug nehmen. Andererseits benötige die Sprache Funktionszeichen, Operationszeichen bzw. synsemantische Zeichen, um Metainformationen zu objektivieren, durch die festgelegt wird, welchen Stellenwert die jeweiligen Grundinformationen in Sinnbildungsprozessen haben sollen bzw. wie sich aus Einzelvorstellungen komplexe Gesamtvorstellungen bilden lassen. Wenn Bühler in seiner Sprachtheorie konsequent zwischen dem „Symbolfeld der Sprache" bzw. Kennwörtern" auf der einen Seite und dem „Zeigfeld der Sprache" bzw. „Zeigwörtern" auf der anderen Seite unterscheidet, dann hat er dieselbe Problematik im Auge.5 Diese Differenzierung von sprachlichen Zeichen mit ganz unterschiedlichen pragmatischen Funktionen hat natürlich auch zur Folge, dass den beiden Zeichentypen ein ganz anderer Typ von Bedeutung zugeordnet werden muss. Daraus ist dann wiederum abzuleiten, dass der Ausfall von Zeichen des einen oder anderen Typs Kommunikationsprozesse auf einer jeweils ganz anderen Ebene stören muss.
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J.H. Lambert, Neues Organon, 1990, Bd. 2, S. 489, § 54. W. v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 438-439. K. Bühler, Sprachtheorie, 1965 2 , S. 79ff., 149ff.
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Lexikalische und grammatische Zeichen Die Differenz zwischen Inhaltszeichen und Funktionszeichen lässt sich im Hinblick auf die Verbalsprache als Differenz zwischen lexikalischen Zeichen (Substantive, Verben, Adjektive) auf der einen Seite und grammatischen Zeichen (Konjunktionen, Artikel, Präpositionen, Pronomen usw.) auf der anderen Seite verstehen. Zu den grammatischen Zeichen sind neben den selbstständigen grammatischen Wörtern bzw. Morphemen auch die unselbstständigen grammatischen Morpheme im Sinne von Deklinations-, Konjugations-, Tempus-, Modus- und Genusmorphemen zu rechnen sowie grammatische Zeichen, die aus ganz bestimmten Stellungspositionen von Wörtern oder aus charakteristischen Intonationsformen resultieren. Da es der Sprachabschneider ganz offensichtlich darauf abgesehen hat, dem kleinen Paul insbesondere grammatische Zeichen abzunehmen, so ist es sicher vorteilhaft, sich Rechenschaft darüber abzulegen, welches Bewusstsein wir von grammatischen Zeichen haben, welches Funktionsspektrum diesen eigen ist und in welchen Formen sie zur Erscheinung kommen. Unser Gegenstandsbewusstsein von grammatischen Zeichen ist im Gegensatz zu dem von lexikalischen Zeichen kaum ausgeprägt. Dafür sind insbesondere zwei Gründe maßgeblich. Erstens ist unser Denken üblicherweise sachthematisch auf die Erfassung von ontischen Phänomenen und Strukturen ausgerichtet und nicht reflexionsthematisch auf die dabei eingesetzten Mittel und Verfahren. Beim Sprechen richten wir unsere sprachliche Aufmerksamkeit in der Regel in einer intentio recta auf diejenigen Formen und Organisationsstrukturen der Sprache, mit denen wir unser sachthematisches Interesse bzw. Gegenstandswissen fixieren können. Nur Grammatiker entwickeln in einer intentio obliqua ein Gegenstandsbewusstsein von den Formen der Sprache, die wir in unseren sachthematischen Denkvorgängen einsetzen. Das liegt daran, dass sie nicht die Strukturen der Welt, sondern die der Sprache zum Gegenstand ihres Denkens machen. Im natürlichen Denken und Sprechen fallen grammatische Zeichen als wichtige Faktoren von Sinnbildungsprozessen gar nicht auf. Auf sie werden wir erst dann aufmerksam, wenn sie fehlen oder falsch verwendet werden. Zweitens fallen grammatische Zeichen auch deshalb kaum auf, weil sie oft nur als unselbstständige Morpheme in Erscheinung treten, die gleichsam huckepack auf lexikalischen Zeichen sitzen und mit diesen zu einer komplexen Sinneinheit verschmelzen. Beispielsweise lässt sich die spezifische Wortartenkennzeichnung eines Wortes als ein grammatisches Zeichen verstehen, die dessen lexikalische Grundbedeutung in spezifischer Weise strukturiert, insofern beispielsweise eine Inhaltsvorstellung metainformativ als Substanz, als Prozess oder als Eigenschaft objektiviert wird {Wärme, erwärmen, warm). Auch Deklinations- und Konjugationsmorpheme fallen als eigenständige In-
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formationsgrößen kaum auf, weil sie mit ihrer jeweiligen lexikalischen Basisgröße zu einer komplexen Sinneinheit verschmelzen. Ähnliches gilt auch für Tempus-, Genus- und Modusmorpheme beim Verb. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass der Sprachabschneider dem kleinen Paul so leicht seine Präpositionen, bestimmten Artikel und Verbformen gegen das Angebot abhandeln kann, seine Hausaufgaben zu übernehmen. Mit solchen grammatischen Sprachzeichen verbindet sich für den kleinen Paul keine fassbare Semantik bzw. Inhaltsvorstellung. Deshalb sieht er sie anfangs auch mehr oder weniger als überflüssig an. Auf lexikalische Zeichen hätte er sicher nicht so leichtfertig verzichtet, da ihm deren Semantik bzw. Repräsentationsfunktion natürlich sehr viel klarer fassbar ist. Nun ist es aber natürlich keineswegs so, dass grammatische Zeichen keine beschreibbare Semantik hätten bzw. keine beschreibbare pragmatische Funktion. Das dokumentiert sich ja sehr deutlich an den Verwirrungen, die der kleine Paul durch den Verzicht auf die Verwendung von Präpositionen, bestimmten Artikeln und Verbmorphemen auslöst. Es ist nun allerdings gar nicht so leicht, die spezifische Semantik grammatischer Zeichen zu beschreiben und damit natürlich auch ihre spezifischen Sinnbildungsfunktionen beim Gebrauch der Sprache.
Die Semantik grammatischer Zeichen Wenn wir den Begriff der Semantik bzw. Bedeutung verwenden, dann denken wir in der Regel daran, welche Repräsentationsfunktionen Zeichen bzw. Wörter für außersprachliche Gegenstände oder Sachverhalte haben. Wir verstehen den Semantikbegriff dementsprechend im Sinne einer Semantik, die sich als Referenzsemantik bezeichnen lässt. Wenn wir nun aber grammatische Zeichen semiotisch als Operationszeichen klassifizieren, deren Funktion darin besteht, lexikalische Zeichen zu interpretieren und zu korrelieren, dann kommen wir bei ihnen mit dem Denkkonzept der Referenzsemantik nicht recht weiter, da grammatische Zeichen ja nicht als Zeichen für ontische Inhalts Vorstellungen, sondern als Zeichen für bestimmte vorzunehmende Denkoperationen anzusehen sind. Wir müssen für die semantische Analyse grammatischer Zeichen nach anderen Semantikkonzepten Ausschau halten. In diesem Zusammenhang können Überlegungen der Gestaltpsychologie und Überlegungen des englischen Physikers Eddington zum Problem von Relationen aufschlussreich sein. In der Gestaltpsychologie ist immer wieder auf die Relevanz der so genannten Übersummativitätsthese verwiesen worden.6 Sie besagt, dass das Ganze im Sinne einer durchstrukturierten Sinngestalt immer mehr sei als die Summe seiner Teile. In Gestalten seien die Teile nicht im Sinne einer additiven 6
Vgl. A. Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, 1969 2 , S. 49ff.
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Relation aufeinander bezogen wie beispielsweise die Sandkörner in einem Sandhaufen, sondern vielmehr im Sinne einer konstruktiven Relation. Dadurch bekämen die Einzelteile einen ganz spezifischen Stellenwert in einem umfassenden Ordnungsgefüge. Das bedeutet, dass in diesem Denkkonzept der Relationsgedanke gegenüber dem Substanzgedanken auf entscheidende Weise gestärkt wird, da die jeweiligen Relationen im Prinzip festlegen, wie etwas als Substanz in Erscheinung treten kann. Im Hinblick auf die Erfassung und Beschreibung sprachlicher Sinngestalten impliziert der gestaltpsychologische Denkansatz eine große Aufwertung der sinnbildenden Funktionen von grammatischen Zeichen gegenüber der traditionellen Vorrangstellung der lexikalischen Zeichen. Ohne die Verwendung grammatischer Organisationszeichen kann es nämlich gar nicht zum Aufbau durchstrukturierter und intersubjektiv gut fassbarer sprachlicher Sinngestalten kommen. Erst durch sie wird sichergestellt, dass die mit Hilfe von lexikalischen Zeichen ins Bewusstsein gerufenen Einzelvorstellungen eine bestimmte Rollenfunktion beim Aufbau komplexer Gesamtvorstellungen bekommen können wie z.B. die Funktion eines Subjektes, Objektes, Prädikats, Attributs usw. Wenn man andere Erläuterungsbilder verwenden möchte, dann ließe sich auch sagen, dass grammatische Zeichen den Mörtel bilden, der lexikalische Bausteine zusammenhält, bzw. das Skelett, das dem lexikalischen Fleisch Halt bietet. Auf etwas andere Weise hat der englische Physiker Eddington auf die sinnbildenden Funktionen von Relationen aufmerksam gemacht, wobei er aparterweise direkt auf das grammatische Zeichen und Bezug genommen hat. Wenn wir eins genau studiert hätten, dann glaubten wir oft auch schon alles über zwei zu wissen, weil zwei ja nichts anderes sei als eins und eins. Bei dieser Auffassung übersähen wir aber die Notwendigkeit, uns genaue Rechenschaft darüber abzulegen, was wir in diesem Zusammenhang eigentlich mit der Konjunktion und meinten.7 Die Konjunktion und thematisiert zwar die Zusammengehörigkeit von Teilvorstellungen, aber sie sagt uns noch nichts Präzises über die spezifische Art der Zusammengehörigkeit. Diese müssen wir aus den Eigenschaften der relationierten Elemente sowie aus den jeweiligen Redekontexten und Redeintentionen erschließen (Drei und fünf ist acht. Drei und fünf sind Primzahlen. Mann und Frau bilden ein Ehepaar. Mann und Frau haben Streit miteinander.). Diese Beispiele zeigen, dass die Konjunktion und hinsichtlich ihrer möglichen Korrelationsfunktion einen recht großen Interpretationsspielraum aufweist. Sie kann eine Additionsrelation zwischen zwei Einzelgrößen, eine kategoriale Verwandtschaft zwischen zwei Einzelgrößen, einen konstruktiven Zusammenhang zwischen zwei Einzelgrößen oder ein Oppositionsverhältnis zwischen Einzelgrößen anzeigen. Das bedeutet, dass grammatische Zeichen 7
A. Eddington, The nature of the physical world, 1930, S. 103ff.
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uns zwar grundsätzliche Hinweise darauf geben, wie Einzelgrößen miteinander zusammenhängen bzw. wie sie zu verstehen sind, aber auch, dass sie dabei noch recht große Interpretationsspielräume offen lassen. Gleichwohl würde der Verzicht auf den Gebrauch von grammatischen Zeichen unseren Spielraum fur die Interpretation der Korrelation von Einzelvorstellungen so vergrößern, dass eine konsistente intersubjektiv akzeptable Vorstellungsbildung unmöglich würde. Wenn man die These ernst nimmt, dass grammatische Zeichen in der Korrelation mit lexikalischen Zeichen eine metainformative Organisations- und Interpretations funktion haben, dann ist offensichtlich, dass man bei der Analyse ihrer Sinnbildungsfunktionen im konkreten Sprachgebrauch mit dem Konzept einer Referenzsemantik nicht weiterkommt. Hier bietet nun Weinrichs Konzept einer Instruktionssemantik eine wichtige Hilfe, die das Bedeutungsproblem in einem instrumentalistisch orientierten Denkrahmen zu lösen versucht.8 Weinrichs Grundidee ist dabei die, dass jedes Sprachzeichen uns im konkreten Gebrauch dazu auffordere, eine bestimmte kognitive Operation zu realisieren. Lexikalische Zeichen forderten dazu auf, uns bestimmte Sachvorstellungen ins Bewusstsein zu rufen. Grammatische Zeichen forderten uns demgegenüber dazu auf, die Inhalte lexikalischer Zeichen in bestimmter Weise aufeinander zu beziehen bzw. zu interpretieren. Das bedeutet, dass es eine immanente Notwendigkeit gibt, in Texten grammatische Zeichen in regelmäßigen Abständen im Sinne von Orientierungssignalen oder Verkehrszeichen zu setzen, damit sich die Rezipienten in der Fülle der lexikalischen Informationen zurecht finden können. Das Denkkonzept der Instruktionssemantik impliziert, dass man die Sprache nur dann als relativ autonomes Sinnbildungswerkzeug situationsabstrakt nutzen kann, wenn man ständig von grammatischen Zeichen Gebrauch macht. Deshalb ist die korrekte Verwendung von grammatischen Zeichen im schriftlichen Sprachgebrauch auch noch notwendiger als im mündlichen. Der Verzicht auf bestimmte grammatische Zeichen, der sich im mündlichen Sprachgebrauch des kleinen Pauls schon fatal genug auswirkt, würde im schriftlichen Sprachgebrauch noch verheerendere Konsequenzen haben. Die instruktionssemantische Analyse von grammatischen Zeichen im konkreten Sprachgebrauch schließt natürlich nicht aus, dass wir grammatische Zeichen eine Abstraktionsebene höher auf der Betrachtungsebene der langue auch referenzsemantisch danach befragen können, welche Typen von Instruktionsmustern von ihnen repräsentiert werden, wie sich diese Muster kontrastiv voneinander abgrenzen lassen und wie sie sich ontologisch oder ontisch rechtfertigen lassen. Beispielsweise könnten wir fragen, warum wir im Deutschen nur grammatische Morpheme haben, um die Kategorien Singular und Plural 8
Vgl. H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. l l f f . , 77ff. H. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, 1993, S. 18ff.
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zu unterscheiden und warum es z.B. keine grammatischen Morpheme zur Kennzeichnung der Quantitätskategorie Dual gibt, die wir uns rudimentär nur mit Hilfe lexikalischer Zeichen objektivieren (Ehepaar, ein Paar Strümpfe). Wir könnten danach fragen, warum wir sechs Tempusformen haben, obwohl wir in der Regel nur drei Zeitstufen unterscheiden. Wir könnten danach fragen, ob es sinnvoll ist, dass wir die Konjunktion wenn sowohl in einem temporalen als auch in einem konditionalen Sinne verwenden können bzw. ob es nicht besser wäre, sie normativ nur auf eine Verwendungsweise festzulegen. Wenn wir auf dieser Abstraktionsebene nach der Bedeutung grammatischer Zeichen fragen, dann interessieren wir uns nicht dafür, zu welchen Denkoperationen uns grammatische Zeichen in Sinnbildungsprozessen direkt auffordern, sondern dafür, welche grammatischen Ordnungskategorien durch sie exemplifiziert und repräsentiert werden. In diesem Zusammenhang können wir dann danach fragen, ob diese Ordnungskategorien (Singular, Plural, Tempusform, chronologische Relation, konditionale Relation) jeweils eine gegebene ontische Korrespondenz haben oder ob sie nur als hypothetische Ordnungskategorien anzusehen sind, die sich bei der kognitiven und kommunikativen Bewältigung von Objektivierungs- und Mitteilungsbedürfnissen als nützlich erwiesen haben. Solche Fragestellungen sind dann allerdings eher erkenntnistheoretischer als sprachtheoretischer Natur. Bei der Beschäftigung mit grammatischen Zeichen auf dieser Abstraktionsebene würde sich dann auch herausstellen, dass es grammatische Zeichen gibt, die quer durch alle Sprachen anzutreffen sind, weil sie sehr elementare pragmatische Differenzierungsbedürfnisse befriedigen (Negationszeichen, Konjunktionen usw.) und dass es grammatische Zeichen gibt, die sehr kulturspezifische Differenzierungsbedürfnisse objektivieren (bestimmte Kasusformen, Modalpartikeln usw.). Weiterhin würde sich ergeben, dass die grammatischen Ordnungskategorien der verschiedenen Sprachen ebenso wenig miteinander kongruent sind, wie die lexikalischen Ordnungskategorien. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum systemtheoretischen Stellenwert und pragmatischen Funktionswert grammatischer Zeichen wird klar, warum der erzwungene Verzicht des kleinen Pauls auf die Verwendung von Präpositionen, bestimmten Artikeln und grammatischen Morphemen beim Verb seine präzisen Mitteilungsmöglichkeiten sehr viel stärker einschränkt, als es der Verzicht auf den Gebrauch von bestimmten lexikalischen Zeichen getan hätte. Der Grund dafür liegt einerseits darin, dass der Verlust von grammatischen Differenzierungen und Instruktionen die Sprache auf einer sehr viel elementareren Ebene stört als der Verlust lexikalischer Differenzierungen und Instruktionen, und andererseits darin, dass die vom Sprachabschneider eingezogenen grammatischen Zeichen natürlich sehr viel frequenter in Erscheinung treten als bestimmte lexikalische Zeichen. Außerdem ließe sich der Verlust lexikalischer Zeichen im Gegensatz zu grammatischen auch relativ leicht durch Synonyme oder metaphorische Redeweisen ersetzen. Diese Rahmenbe-
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dingungen machen dann auch plausibel, warum der Verlust von grammatischen Zeichen beim kleinen Paul durchaus als ein Umkehrprozess seines Spracherwerbsprozesses verstanden werden kann.
3. Die Umkehr des Spracherwerbsprozesses Die Struktur von kindlichen Spracherwerbsprozessen würde man missverstehen, wenn man sie nur als kontinuierliche Vergrößerung des Wortschatzes und des grammatischen Formeninventars betrachtete. Spracherwerbsprozesse sind vielmehr als Prozesse anzusehen, in denen die Kinder lernen, die natürliche Sprache als komplexes Zeichensystem strukturell und funktionell immer besser zu beherrschen und sie immer souveräner als relativ situationsunabhängiges Sinnbildungsmittel zu verwenden. Deshalb gehört auch der Erwerb der Schriftsprache noch zum Spracherwerbsprozess. Im Hinblick auf den Sprachverlust des kleinen Pauls sind insbesondere folgende Sachverhalte zu beachten. Üblicherweise wird betont, dass Spracherwerbsprozesse von Kindern mit den so genannten Einwortsätzen oder Satzwörtern beginnen. Diese Terminologie ist insofern problematisch, als Satz und Wort als korrelative Spracheinheiten anzusehen sind, die eigentlich nicht selbstständig existieren, sondern sich wechselseitig bedingen. Solange es keine Sätze gibt, solange gibt es eigentlich auch keine Wörter und umgekehrt. Dennoch ist die Rede von Einwortsätzen natürlich nicht sinnlos, insofern sich damit darauf hinweisen lässt, dass im Anfangsstadium des Sprechens akustische Einheiten, die von Erwachsenen als Wörter angesehen werden, für die Kinder die Funktion von Sätzen bzw. von komplexen Äußerungen im Sinne von Sätzen haben. Einzelwörter wie etwa Balla oder Wauwau repräsentieren für Kinder in der Regel keine Begriffe bzw. Einzelobjekte, sondern vielmehr komplexe Vorstellungszusammenhänge, denen Erwachsene in Form von Sätzen sprachlichen Ausdruck geben würden {Da ist ein Ball. Wir wollen Ball spielen! Wo ist der Ball?). Das bedeutet, dass die Einwortäußerung eines Kindes nur im Rahmen der jeweiligen Äußerungssituation und Intonationsgestalt adäquat verstanden werden kann, weil diese von dem Kind dazu benutzt wird, bestimmte Informationsunsicherheiten in der jeweiligen Situation aufzuheben oder zu vermindern. Die Mitteilungsfunktion der jeweiligen Spracheinheit muss deshalb mit Hilfe der situativen Rahmenbedingungen, der Intonation, sowie der Gestik und Mimik hermeneutisch erschlossen werden. Bühler spricht deshalb im Hinblick auf solche Sprachverwendung von einem „empraktischen" Sprachgebrauch, den auch Erwachsene noch praktizierten, wenn durch die jeweiligen Rahmenbedingungen ganz klar wird, was mit dem jeweiligen Ein-
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zelwort gemeint ist.9 Beispielsweise weiß ein Tankwart, welche komplexe Gesamtinformation ein Autofahrer mit dem Wort voll übermitteln möchte. Kinder müssen ihre Einwortäußerungen aufgeben, wenn ihre Mitteilungsbedürfnisse differenzierter werden bzw. wenn sie auf Partner treffen, die sich nicht völlig auf ihre Denkperspektiven einstellen. Solche Kommunikationssituationen führen zu der Notwendigkeit, Zwei- und Mehrwortsätze zu formulieren, um mögliche Missverständnisse zu verhindern. Der Zweiwortsatz kann deshalb sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht im Prinzip als Geburtsstunde der grammatischen Instruktionszeichen angesehen werden. Wenn eine Äußerung aus zwei oder mehr Subeinheiten besteht, dann stehen diese sowohl in einer kontrastiven Opposition zu der Gesamtäußerung als auch zu den anderen Subeinheiten. Dadurch ergibt sich die Notwendigkeit, die unterschiedlichen Sinnbildungsfunktionen der Teile für das Ganze durch grammatische Zeichen zu markieren, was sich durch Intonationsakzente, Stellungspositionen oder grammatische Morpheme unterschiedlicher Art bewerkstelligen lässt. Je mehr lexikalische Zeichen verwendet werden und je klarer deren syntaktische Rollen durch grammatische Zeichen spezifiziert werden, desto autonomer wird die Sprache als kognitives und kommunikatives Werkzeug für Sinnbildungsprozesse und desto mehr wird das Denken dazu angeregt, unterschiedliche Analyse- und Syntheseprozesse zu konkretisieren. Differenzierte kognitive Aufgliederungs- und Korrelationsprozesse sind ohne das komplexe Zusammenspiel von lexikalischen und grammatischen Zeichen nicht denkbar. In Schädlichs Geschichte vom Sprachabschneider wird exemplarisch vorgeführt, dass der Ausfall von wenigen grammatischen Zeichen die Regression zu einem situationsverschränkten empraktischen Sprachgebrauch bedingt, der für alle unverständlich wird, die nicht in derselben Wahrnehmungssituation wie der jeweilige Sprecher stehen. Der Ausfall grammatischer Zeichen macht die Sprache als autonomes Objektivierungs- und Mitteilungsmedium ziemlich unbrauchbar. Das dokumentiert sich eindrucksvoll schon bei einem Satz, bei dem nur zwei bestimmte Artikel und zwei Präpositionen eliminiert worden sind: „Regen stürzte Straßenbahn wie haushohe Wellen ein Schiff." Wenn in diesem Satz noch weitere grammatische Zeichen getilgt worden wären wie etwa Verbmorpheme, Deklinationsmorpheme, Vergleichspartikel oder unbestimmte Artikel, dann gäbe es einen unverständlichen additiven Wortsalat: Regen stürzen Straßenbahn haushoch Welle Schiff. Gleichwohl ist einzuräumen, dass wir oft Äußerungen selbst dann noch verstehen können, wenn in ihnen viele oder gar alle grammatischen Zeichen bzw. metainformativen Informationen getilgt worden sind. Mit Hilfe unserer Hypothesen über die Mitteilungsintentionen des Sprechers und unseres Welt9
Κ. Β Uhler, Sprachtheorie, 1965 2 , S. 155ff.
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wissens können wir aus den gegebenen lexikalischen Zeichen meist noch plausible Inhaltsvorstellungen entwickeln, die allerdings individuell recht unterschiedlich ausfallen können. Wenn wir nun allerdings statt der grammatischen alle lexikalischen Zeichen in einer Äußerung eliminierten, dann käme es zu ganz unverständlichen Äußerungen, was sich an unserem Satz gut exemplifizieren lässt: Der —le auf die - wie -e -n auf ein —. Dass ohne den Gebrauch lexikalischer Zeichen sprachliche Sinnbildungsprozesse von vornherein unmöglich werden, ist völlig plausibel, weil grammatische Zeichen als metainformative Organisationszeichen ihre Existenzberechtigung bzw. ihre Funktionalität verlieren würden, wenn das, was sie organisieren und interpretieren sollen, gar nicht genannt wird. Der Spracherwerb von Kindern beginnt infolgedessen naturgemäß auch nicht mit grammatischen, sondern vielmehr mit lexikalischen Zeichen. Wegen ihrer spezifischen Funktionalität hat man deshalb grammatische Zeichen auch zu Recht als synsemantische Zeichen klassifiziert, weil ihre Semantik erst im Zusammenhang mit den autosemantischen lexikalischen Zeichen kommunikativ wirksam werden kann. Generell lässt sich sagen, dass die Sprache nur dann ihre pragmatischen Aufgaben erfüllen kann, wenn sie in Sinnbildungsprozessen sowohl ihr lexikalisches als auch ihr grammatisches Bein einsetzen kann. Dass weiß der Vielolog sehr genau. Nur der kleine Paul weiß es anfangs noch nicht und kann eben deshalb auch vom Vielolog übervorteilt werden, der sein überlegenes Sprachwissen bedenkenlos fur unredliche Geschäfte nutzt. „Faulpaul, paulfaul, kann nur auf zwei Beinen stehen, aber denkt, aber denkt, wird wohl auch mit einem gehen, hat das andre mir geschenkt. Was ich krieg, das hat er nicht, was ich hab, das kriegt er nicht."
4. Der Verlust von Präpositionen und bestimmten Artikeln Als der Vielolog dem kleinen Paul das verlockende Angebot macht, ihm für die Überlassung von Präpositionen und bestimmten Artikeln eine Woche die Hausaufgaben zu machen, da hält dieser das für einen sehr vorteilhaften Tausch. Die Implikationen dieses Handels kann der kleine Paul allerdings noch gar nicht abschätzen, weil die getauschten Güter ganz unterschiedlichen Ebenen zuzuordnen sind und weil er eigentlich nur von der Ware Hausaufgaben ein verlässliches Gegenstandswissen hat. Für die Waren Präpositionen und bestimmte Artikel fehlt ihm jegliches Sachwissen, das ihn befähigen könnte, eine Kosten-Nutzen-Analyse des Gesamthandels vorzunehmen.
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Für den kleinen Paul sind die Wörter Präposition und bestimmter Artikel vorerst nur bloße Namen, mit denen er weder spezifische kategoriale noch funktionale Vorstellungen verbinden kann. Das können eigentlich auch nur Grammatiker und Semiotiker, die sich notwendigerweise ein konkretes Gegenstandswissen von denjenigen Sachverhalten erarbeiten müssen, auf die diese Termini verweisen. Als Sprachkenner ist der Vielolog deshalb im Prinzip auch als Betrüger anzusehen, der die Arglosigkeit und das Unwissen seines Handelspartners schamlos ausnutzt. Erst am Ende erwirbt sich der kleine Paul ein rudimentäres Gegenstandswissen über sein vorerst nur im Sprachgefühl vorhandenes grammatisches Handlungswissen, das ihn dann befähigt, die Sprachabschneiderei des Vielologs zu überschauen. Nun kann er morphologisch identifizieren, was ihm der Sprachabschneider abgehandelt hat. Diesen Verlust vermag er zwar kategorial noch nicht einzuordnen und funktional zu beurteilen, aber dennoch hat er dadurch den ersten Schritt zu einem grammatischen Gegenstandswissen gemacht. Im Folgenden sollen nun einige Hinweise dazu gegeben werden, wie das grammatische Gegenstandswissen aussehen könnte, das man benötigt, um sich von Sprachabschneidern nicht betrügen zu lassen. Es ist der Versuch, dem intuitiven Wissen über grammatische Zeichen eine begriffliche Form zu geben, um dieses auch argumentativ verwenden zu können.
Die grammatischen Ordnungsfunktionen von Präpositionen Präpositionen sind grammatische Zeichen, auf die insbesondere bei der Konkretisierung von Raumvorstellungen gar nicht verzichtet werden kann. Ohne sie lässt sich weder die Konstellation von Dingen im Raum noch die räumliche Relation von Personen zu Gegenständen noch die Verlaufsrichtung von Prozessen im Raum klar objektivieren. Der Verzicht auf den Gebrauch von Präpositionen wäre zugleich immer ein Verzicht darauf, mit Hilfe von Sprache intersubjektiv nachvollziehbare Raumvorstellungen aufzubauen. Bei der Ausbildung solcher Vorstellungen spielen zwar auch lexikalische Zeichen eine wichtige Rolle wie etwa Substantive zur Bezeichnung von räumlichen Phänomenen {Höhle, Berg, Ebene) oder Verben für die Bezeichnung von Prozessen im Raum (kommen, weglaufen, überqueren) oder raumbezeichnende Adjektive {hoch, tief, entfernt) oder Lokaladverbien {hier, dort, dorthin), aber dennoch werden die relationalen Aspekte von Raumvorstellungen weitgehend mit Hilfe von Präpositionen konkretisiert und spezifiziert. Obwohl die Präpositionen ursprünglich zur sprachlichen Objektivierung und Differenzierung von Relationen im Raum entwickelt worden sind, beschränken sich ihre Verwendungsmöglichkeiten keineswegs auf dieses Bezugsfeld. Ursprünglich räumlich orientierte Präpositionen sind schon früh in den Bereich der Zeit (in der Steinzeit), in den Bereich der Kausalität (aus Ei-
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/ersucht) oder in den Bereich der Modalität (auf Verdacht) übertragen worden, weil es sich natürlich anbot, sinnlich gut vorstellbare Relationen im Raum metaphorisch als Orientierungshilfen in sinnlich nicht wahrnehmbaren Sachgebieten zu verwenden. In unserer Geschichte wird exemplarisch vorgeführt, wie der Verzicht auf den Gebrauch von Präpositionen dazu fuhrt, dass Raumvorstellungen mit Hilfe der Sprache weder präzise objektiviert noch vermittelt werden können. Allerdings trägt auch der Verzicht auf bestimmte Artikel zur Verunklärung von Raumvorstellungen bei. Bestimmte Artikel können nämlich einerseits mit Präpositionen verschmelzen (im Wald) und andererseits einen wichtigen Beitrag zur Strukturierung des Stellenwerts von Informationen im Textraum leisten, worauf noch näher einzugehen ist. Dennoch tragen die Präpositionen die Hauptlast bei der sprachlichen Objektivierung der Konstellationen von Phänomenen im Raum. Der kleine Paul hat subjektiv eine klare Vorstellung von bestimmten räumlichen Verhältnissen, weil er diese entweder sinnlich direkt wahrgenommen hat oder weil er darüber ein gefestigtes empirisches Wissen besitzt. Aber nach seinem Verzicht auf die Verwendung von Präpositionen hat er keine Chance, seine Raumvorstellungen anderen sprachlich zu vermitteln („Ich war Fußballtraining." „Regen stürzte Straßenbahn wie haushohe Wellen ein Schiff." „Main fließt Rhein." ,flein, Lehrer ist nicht Klasse"). Pauls grammatisch defizitäre Sätze führen zu Verstehensproblemen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Zum einen wird wegen des Mangels an Präpositionen unklar, in welchen räumlichen Relationen die jeweils benannten Einzelvorstellungen zueinander stehen bzw. welche räumlichen Gesamtkonstellationen jeweils vorliegen. Zum anderen fuhrt der Ausfall von Präpositionen dazu, dass die Rezipienten seiner Äußerungen eine andere Auffassung über die Bedeutung von einzelnen Wörtern entwickeln bzw. über deren Satzgliedstatus. Das zeigt sich, wenn wir die eigentlich von Paul konzipierten Sätze mit den tatsächlich geäußerten vergleichen. Der kleine Paul will eigentlich folgenden Satz formulieren: Ich war beim Fußballtraining. Er muss aber nach seinem Handel mit dem Sprachabschneider folgenden Satz äußern: Jch war Fußballtraining." Im regulären Satz wäre die sprachliche Einheit beim Fußballtraining ein Lokaladverbial. Im tatsächlich geäußerten Satz müsste die Einheit „Fußballtraining" grammatisch eigentlich als Gleichsetzungsnominativ bzw. als Gleichgröße zu der Grundgröße Subjekt klassifiziert werden, da sich eine grammatische Analogie zu dem folgenden syntaktischen Ordnungsmuster ergibt: Ich war Fußballtrainer. Die kategoriale Zuordnung einer Person (Paul) auf eine abstrakte Kategorie (Fußballtraining) mit Hilfe der Kopula sein ist aber ontologisch nicht akzeptabel, weshalb der ganze Satz inhaltlich als unsinnig empfunden werden muss. Der
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präpositionslose Satz des kleinen Paul wird deshalb nicht nur grammatisch als defizitär empfunden, sondern pragmatisch auch als sinnlos. Auf ähnliche Probleme stoßen wir, wenn wir die beiden folgenden Sätze miteinander vergleichen: 1. Der Regen stürzte auf die Straßenbahn. 2. „Regen stürzte Straßenbahn." Im ersten Satz ist die syntaktische Einheit auf die Straßenbahn ein Lokaladverbial und das Verb stürzen ist ein intransitives Vorgangsverb, das allerdings so gebraucht wird, dass zusätzlich auch die Verlaufsrichtung des benannten Prozesses benannt werden muss. Im irregulären zweiten Satz mutiert die syntaktische Einheit „Straßenbahn" grammatisch zu einem Akkusativobjekt, welches das affizierte Objekt einer intentionalen Handlung bezeichnet. Das Verb „stürzen" wird wie ein transitives Handlungsverb verwendet. Das impliziert, dass das Subjekt „Regen" als Agens verstanden wird, das intentional handeln kann. Der grammatische irreguläre Satz wird daher auch von der Mutter auf Grund ihrer eigenen Weltkenntnis zu Recht fur völlig abstrus gehalten: „Du kannst mir doch nicht erzählen, daß die Straßenbahn von dem Regen umgefallen ist!" Der Ausfall von Präpositionen kann außerdem dazu fuhren, dass bestimmte Spracheinheiten bei der rein akustischen Wahrnehmung für Repräsentanten ganz anderer Wörter bzw. Wortarten gehalten werden. Dieses Problem taucht allerdings nur in der mündlichen Sprachverwendung auf, da im schriftlichen Sprachgebrauch Schreibkonventionen eine größere Eindeutigkeit schaffen. Diese Problemlage lässt sich durch den Vergleich der folgenden beiden Sätze exemplifizieren: 1. Der Main fließt in den Rhein. 2. „Main fließt Rhein." [Main fließt rein]. Im ersten Satz ist die syntaktische Einheit in den Rhein als Lokaladverbial zu klassifizieren. Im zweiten Satz könnte das Substantiv Rhein phonetisch auch als Adjektiv rein verstanden werden, dem dann allerdings die syntaktische Funktion eines Modaladverbials zugeschrieben werden müsste. Sachlich wäre das zwar kaum akzeptabel, aber syntaktisch wäre es denkbar, wie die Reaktion des Lehrers zeigt: „So rein fließt der Main gar nicht, Paul."
Die Funktion von Präpositionen für die Raumkonstitution Die Verstehensturbulenzen, die der kleine Paul durch den leichtfertigen Verzicht auf den Gebrauch von Präpositionen verursacht, regen dazu an, sich grundsätzliche Überlegungen zu den Strukturierungs- und Perspektivierungsleistungen von Präpositionen bei der Konstitution unserer Raumvorstellungen zu machen.10 Dabei kann man dann sprachlich sowohl in kognitiv orientierter
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Vgl. W. Köller, Die Perspektivierungsfunktionen von Präpositionen, in: I. Warnke/B. Hufeisen (Hrsg.), Usus linguae, 1999, S. 129-149. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 491501.
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Weise auf die Ebene des Sprachsystems (langue) Bezug nehmen als auch in kommunikativ orientierter Weise auf die Ebene des Sprachgebrauchs (parole). Im alltäglichen Bewusstsein nehmen wir meist an, dass der Raum eine vorgegebene Größe ist, in der die einzelnen Gegenstände wie Dinge in einem Zimmer platziert sind bzw. platziert werden können. Insbesondere mit Hilfe von Präpositionen scheint man die Konstellation von Gegenständen im Raum relativ problemlos abbilden bzw. objektivieren zu können. Ein genauerer Blick zeigt dann aber, dass diese Sicht auf die Raumproblematik doch etwas zu simpel ist, um die Leistung von Präpositionen und anderen raumbildenden sprachlichen Ausdrücken zu erfassen. Das macht dann auch plausibel, warum der kleine Paul so große Schwierigkeiten hat, eine intersubjektiv nachvollziehbare Raumvorstellung ohne die Verwendung von Präpositionen aufzubauen. Schon Leibniz hat nachdrücklich betont, dass man den Raum nicht nur als Ding unter Dingen ansehen dürfe, sondern eher als ein Derivat, das aus der spezifischen Konstellation von koexistierenden Einzelphänomenen resultiere. Das bedeutet, dass der Raum für ihn ein genuin relationales Phänomen ist, das aus Beziehungsgeflechten resultiert bzw. aus der spezifischen Erfahrung des Beisammenseins von Dingen, die von einem bestimmten Sehepunkt her wahrgenommen werden. 11 Dementsprechend resultieren Raum Vorstellungen im Prinzip aus der menschlichen Einbildungskraft. Kant hat die Raumproblematik dann noch schärfer pointiert, indem er sowohl den Raum als auch die Zeit und die Kausalität zu Kategorien a priori erklärte, die nicht aus der Erfahrung kämen, sondern die es vielmehr erst ermöglichten, Erfahrungen zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, welche Relevanz raumbezeichnende bzw. relationsbezeichnende sprachliche Ausdrücke wie etwa Präpositionen fur die Ausbildung von Raumvorstellungen haben. Sie spiegeln nämlich so gesehen nicht vorgegebene Raumverhältnisse wider, sondern tragen vielmehr auf konstruktive Weise dazu bei, dass Subjekte Raumvorstellungen entwerfen können. Wenn in der Sprache die Mittel eliminiert werden, die zur Konstitution und Präzisierung von Raumvorstellungen entwickelt worden sind, dann gibt es naturgemäß gravierende Probleme bei der intersubjektiv verständlichen Objektivierung und Vermittlung konkreter Raumvorstellungen. In kognitiver Hinsicht haben Präpositionen zunächst die Aufgabe, die Position von Gegenständen auf der vertikalen Raumachse {über, unter), auf der sagittalen Raumachse {vor, hinter) und auf der horizontalen Raumachse {rechts von, links von) zu lokalisieren. Weiterhin dienen sie dazu, Gegenstände topologisch hinsichtlich ihrer Nachbarschaftsverhältnisse unabhängig von einem bestimmten Sehepunkt des Sprechers zu ordnen {bei, zwischen, neben,
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G. Leibniz, Brief an Β. des Bosses vom 16.7.1712, Philosophische Schriften, 1879/1978, Bd. 2, S. 450. Vgl. auch G.W. Leibniz, Philosophische Werke in 4 Bänden, 1996, Bd. 1, S. 128, § 19; S. 133, § 47.
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in). Schließlich können sie auch direktional die Verlaufsrichtung von Prozessen im Raum präzisieren (von, nach, längs). Wenn eine Präposition mit unterschiedlichen Kasusformen verbindbar ist, dann wird über den jeweiligen Kasus signalisiert, ob sie beispielsweise topologisch (an der Tür klopfen) oder direktional (an die Tür klopfen) verstanden werden sollen. In Verbindung mit einem Dativ kann eine Präposition eine Konstellation als bestehend charakterisieren (in dem Wald laufen) und in der Verbindung mit dem Akkusativ als entstehend (in den Wald laufen). Je nach der Wahl der Präposition kann uns auch nahe gelegt werden, die entsprechenden Bezugswörter semantisch anders zu verstehen. So verstehen wir das Wort Schule in der Kombination mit der Präposition in üblicherweise als Bezeichnung für ein Gebäude (Sie ist in der Schule.) und in der Kombination mit der Präposition auf als Institution (Sie geht noch auf die Schule.). Gerade die letzten Hinweise machen plausibel, dass die pragmatischen Funktionen von Präpositionen sich keineswegs nur auf die bloße Bezeichnung von gegebenen Relationen zwischen Gegenständen beschränken, sondern dass die Behauptung von spezifischen Relationen bzw. die Einbindung von Gegenständen in bestimmte Relationen immer auch Rückwirkungen darauf hat, wie die jeweiligen Relata inhaltlich zu verstehen sind. Deshalb hat der Wegfall von Präpositionen, wie schon erwähnt, auch erhebliche Rückwirkungen auf das semantische und kategoriale Verständnis von Wörtern im aktuellen Sprachgebrauch bzw. Sprachspiel (Der Lehrer ist nicht in der Klasse. Der Lehrer ist nicht klasse.). In kommunikativer Hinsicht kann ein Sprecher das kognitive Funktionspotenzial von Präpositionen im Rahmen ganz unterschiedlicher Darstellungsund Sinnbildungsstrategien nutzen. Erstens kann er seine eigene Position zum Quellpunkt komplexer räumlicher Vorstellungsbildung machen und die Angesprochenen durch seinen Gebrauch von Präpositionen indirekt dazu zwingen, die Welt von seinem Standort bzw. mit seinen Augen zu sehen. Zweitens kann er sich mental auf die Position eines Angesprochenen einstellen und seinen Gebrauch von Präpositionen auf dessen aktuellen Standort beziehen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Sprecher einem Autofahrer per Mobiltelefon Anweisungen gibt, wie er einen bestimmten Ort in einer Stadt erreichen kann. Drittens kann er Präpositionen so auswählen und verwenden, dass nur die Relationen der Dinge zueinander thematisiert werden, aber nicht die Sicht einer bestimmten Person von einer bestimmten räumlichen Position auf die jeweiligen Dinge. In diesem Fall gilt das Interesse ganz dem Geflecht von Relationen zwischen den einzelnen Dingen. Wenn der Gebrauch von Präpositionen so organisiert ist, dass dadurch die Sicht einer bestimmten Person von einem bestimmten Sehepunkt auf die Welt objektiviert wird, dann spricht man in der Regel von einem deiktischen
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Gebrauch.12 Präpositionen fungieren dementsprechend gleichsam als versprachlichte Gesten. Sie tragen dazu bei, einen zentralperspektivisch organisierten Blick auf die Gegenstandswelt zu entwickelt, bei dem die Dinge dem Sehepunkt des jeweiligen Betrachters konsequent unterworfen werden. Damit ist dann in der Regel auch ein bestimmter Machtanspruch des jeweiligen Subjekts über die Objektwelt verbunden, da diese nur soweit zur Erscheinung kommt, wie sie vom Sehepunkt dieses Subjekts aus wahrnehmbar ist. Wenn dagegen nicht der Sehepunkt einer bestimmten Person zum Ausgangspunkt für die sprachliche Objektivierung der Konstellation von Dingen im Raum gemacht wird, sondern ein einzelner Gegenstand in der Welt, um den sich andere Gegenstände in spezifischer Weise gruppieren, dann ergibt sich eine ganz andere Situation. Nun werden die räumlichen Eigenschaften bzw. Dimensionen von Gegenständen zu wichtigen Orientierungskriterien. Unter diesen Rahmenbedingungen wird deshalb von einem intrinsischen Gebrauch von Präpositionen gesprochen, weil sich der Sprecher beim Entwurf von Raumvorstellungen nicht an seiner eigenen Position im Raum orientiert, sondern an bestimmten Dingaspekten. Um adäquate Raumvorstellungen zu entwickeln, müssen die Rezipienten deshalb wissen, ob ein deiktischer oder ein intrinsischer Gebrauch von Präpositionen vorliegt. Wenn beispielsweise gesagt wird, dass ein Ball vor einem Auto liege, dann kann das faktisch zweierlei bedeuten. Bei einem deiktischen Gebrauch der Präposition vor liegt der Ball zwischen der Bezugsperson und dem Auto, wobei es je nach der konkreten Position dieser Person faktisch vor dem Kühler, vor dem Kofferraum oder vor den Seitenteilen des Autos liegen kann. Bei einem intrinsischen Gebrauch der Präposition vor liegt dagegen der Ball immer vor dem Kühler bzw. vor den Scheinwerfern eines Autos, weil diese Teile im Bezug auf die normale Bewegungsrichtung des Autos als dessen natürliche Vorderteile angesehen werden. Gegenstände, die keine natürlichen Vor- oder Rückseiten haben, wie beispielsweise Bälle, Steine oder Bäume, können deshalb auch nicht als Orientierungsgrößen für einen intrinsischen Gebrauch von Präpositionen verwendet werden. Im Hinblick auf sie kann deshalb immer von einem deiktischen Gebrauch von Präpositionen ausgegangen werden. Kinder, die weder ein ausgeprägtes Ich-Bewusstsein noch eine Neigung zu zentralperspektivisch organisierten Denk- und Objektivierungsweisen bei der sprachlichen Gestaltung von Raumvorstellungen besitzen, bevorzugen deshalb in der Regel einen intrinsischen Gebrauch von Präpositionen. Für sie haben die wahrgenommenen oder zu objektivierenden Dinge eine natürliche Dominanz bei der Raumobjektivierung. Auch Kulturen haben diesbezüglich ganz unterschiedliche Neigungen beim Gebrauch von Präpositionen.
12
Vgl. G.A. Miller/Ph.N. Johnson-Laird, Language and perception, 1976, S. 394ff. W.J. Levelt, Zur sprachlichen Abbildung des Raumes: Deiktische und intrinsische Perspektive, in: H.G. Bosshardt (Hrsg.), Perspektiven auf Sprache, 1986, S. 187-211.
Der Verlust von Präpositionen und bestimmten Artikeln
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Die Funktion von bestimmten Artikeln Es ist sicher kein Zufall, dass der Vielolog dem kleinen Paul bei der ersten Sprachabschneiderei sowohl die Präpositionen als auch die bestimmten Artikel entzieht. Wie schon erwähnt worden ist, spielen nämlich auch die Artikel eine konstitutive Rolle bei der Raumorientierung, insofern sie wichtige Funktionen bei der Ausgestaltung des Textraumes haben. Zufällig ist eher, dass der Vielolog nur die bestimmten Artikel einfordert und nicht auch die unbestimmten Artikel, die ebenfalls wichtige textkonstitutive Funktionen übernehmen.13 Die Instruktionen von bestimmten Artikeln bei der Strukturierung des Textraumes verarbeiten wir in der Regel mit Hilfe unseres Sprachgefühls. Falls wir die bestimmten Artikel zum Gegenstand sprachtheoretischer Reflexionen machen, dann lenken wir unseren Blick allerdings zunächst meist auf einen ganz anderen Funktionsaspekt von ihnen. Im Deutschen, das im Gegensatz zum Lateinischen eine Artikelsprache ist, stoßen wir wohl zuerst auf die Besonderheit, dass man mit Hilfe des bestimmten Artikels aus Wörtern anderer Wortklassen problemlos Substantive machen kann (das Schöne, das Nachdenken, das Nichts, das Für und Wider). Das impliziert nicht nur, dass wir das von den ursprünglichen Wortarten Bezeichnete bei dem Wortartwechsel nun kategorial anders einzuordnen haben, sondern auch, dass wir den jeweiligen Wörtern bzw. Vorstellungsgrößen nun auch ganz andere syntaktische Funktionsrollen zuordnen müssen. Dieser Tatbestand hat dann auch bei nicht wenigen Theoretikern zu der Hypothese geführt, dass Artikelsprachen wie das Deutsche und Griechische im Gegensatz zum Lateinischen strukturell die Neigung zu philosophischen Spekulationen befördert hätten. In ihnen falle es sprachlich sehr leicht, alle Denkinhalte zu vorgegebenen Substanzen zu erklären, über die dann leicht Wesensspekulationen angestellt werden könnten. Im Lateinischen sei das weniger leicht, weil hier die Substantivierungen von Wörtern einen sehr viel größeren Eingriff in die morphologische Struktur der Sprache notwendig machten, was beispielsweise scholastische Substantivbildungen deutlich exemplifizierten (haecceitas, quidditas). Weiterhin stoßen wir bei der Frage nach dem Funktionspotenzial von bestimmten Artikeln auf das Problem, dass im Deutschen den Substantiven mit Hilfe der drei bestimmten Artikel der, die, das ein bestimmtes grammatisches Geschlecht zugeordnet wird. Das hat syntaktisch zur Folge, dass die Wiederaufnahme von schon vorher erwähnten substantivisch repräsentierten Vorstellungsinhalten durch Pronomen präzise organisiert werden kann und dass attributive Relativsätze nicht unmittelbar hinter ihren jeweiligen Bezugswörtern stehen müssen. Daraus ergeben sich für die flexible stilistische Gestaltung des 13
Vgl. W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 483-489.
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Textraumes zweifellos gewisse Vorteile. Außerdem lässt sich natürlich auch trefflich darüber streiten, inwieweit das Genus der Substantive etwas mit dem Sexus der jeweils bezeichneten Gegenstände zu tun hat und welche historischen Implikationen diese Problematik besitzt. Mit Funktionen bei der Gestaltung des Textraumes bringen wir die bestimmten und unbestimmten Artikel spontan nicht so schnell in Verbindung, obwohl die pragmatische Relevanz von Artikeln wohl hier ihr eigentliches Fundament hat. Dieses Funktionsprofil ergibt sich daraus, dass sich die bestimmten Artikel im Deutschen historisch aus den Demonstrativpronomen entwickelt haben und dass wir sie sprachgefühlsmäßig deshalb ganz spontan irgendwie als Hinweisgesten verstehen. Im Anschluss an Bühlers Überlegungen zu den verschiedenen Zeigeaktivitäten14 wird heute meist zwischen einer Situationsdeixis und einer Textdeixis unterschieden. Für die Textdeixis spielen nun zweifellos die bestimmten und unbestimmten Artikel eine ganz zentrale Rolle, insofern sie die Möglichkeit eröffnen, in Texten als eigenständige Systemräume vor- und rückzuverweisen und ihnen eben dadurch neben der inhaltlichen auch eine formale Kohärenz zu geben. Boost hat im Rahmen eines textlinguistischen Grundinteresses an der Sprache schon früh darauf verwiesen, dass der unbestimmte Artikel dazu diene, einen neuen Denkgegenstand in den Text einzuführen, und der bestimmte Artikel dazu, auf einen schon genannten Denkgegenstand zurückzuverweisen.15 Diese spezifische aufmerksamkeitslenkende Funktion von Artikeln hat Weinrich dann dazu motiviert, Artikel instruktionssemantisch als Determinationshilfen zu qualifizieren.16 Der unbestimmte Artikel führe einen Denkgegenstand neu ein und verweise kataphorisch auf eine präzisierende Nachinformation im Text. Der bestimmte Artikel verweise anaphorisch auf eine schon gegebene Vorinformation zurück. Wenn ein bestimmter Artikel im Text verwendet werde, ohne dass eine entsprechende Vorinformation über den konkreten Inhalt bzw. die Referenz des jeweiligen Substantivs im Text vorliege, dann beschränke sich die jeweilige Vorinformation auf den allgemeinen konventionalisierten Begriffsinhalt des jeweiligen Substantivs. Das trifft insbesondere bei Überschriften von Texten zu, für die noch keine textuellen Vorinformationen vorliegen können (Der Fischer und seine Frau). Der bestimmte Artikel kann natürlich auch dann verwandt werden, wenn sich der mit dem jeweiligen Substantiv verbundene Denkinhalt kraft Implikation aus den vorher genannten Denkinhalten ergibt. Wenn beispielsweise in einem Text schon eine Schule erwähnt worden ist, dann kann natürlich anschließend problemlos von dem Direktor oder den Lehrern gesprochen werden. 14 15 16
K. Bühler, Sprachtheorie, 1965 2 , S. 79ff. K. Boost, Arteigene Sprachlehre, 1938, S. 52. H. Weinrich, Sprache in Texten, 1976, S. 163-185. H. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, 1993, S. 406ff.
Der Verlust von Präpositionen und bestimmten Artikeln
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Nach diesen Überlegungen ist es ganz offensichtlich, dass die textuelle Verwendung von unbestimmten und bestimmten Artikeln sehr viel mit einer Textgestaltung zu tun hat, die sich in einer informationspsychologischen Akzentsetzung als Thema-Rhema-Relation bezeichnen lässt. Mit diesem Fachterminus kann man darauf aufmerksam machen, dass die Abfolge von Informationen in einem Text sinnvoll geregelt werden muss, um den jeweiligen Rezipienten ihre Sinnbildungsprozesse zu erleichtern. Das kann dadurch sichergestellt werden, dass am Anfang von Sätzen bzw. auf der Thema-Position das genannt wird, was aus dem jeweiligen Text oder aus dem allgemeinen Sprachund Weltwissen als bekannt vorausgesetzt werden kann. Im zweiten Teil des Satzes bzw. auf der Rhema-Position muss dann das folgen, was als neue Information verstanden werden soll. Die metainformative Qualifizierung von gegebenen Informationen als bekannt bzw. als neu wird im Prinzip topologisch durch die Stellungsposition der jeweiligen sprachlichen Sinneinheiten signalisiert. Es ist aber offensichtlich, dass in diesem Zusammenhang auch die Verwendung von unbestimmten und bestimmten Artikeln eine wichtige Rolle spielt. Der unbestimmte Artikel ein signalisiert, dass eine bestimmte Einzelvorstellung neu in den Textraum eingeführt wird und dass der Rezipient noch eine präzisierende Nachinformation erwarten kann. Der bestimmte Artikel signalisiert, dass man beim Verstehen der jeweiligen sprachlichen Einheit auf Vorinformationen aus dem Text bzw. aus der Struktur der jeweiligen Situation oder aus dem allgemeinen Weltwissen zurückgreifen soll. Im Märchen dokumentiert sich die sinnbildende Instruktionsfunktion des Wechsels von unbestimmten und bestimmten Artikeln sehr deutlich (Es war einmal ein König. Der König hatte eine Tochter. Die Tochter liebte einen ...). Nach diesen Überlegungen ist verständlich, dass textuelle Verstehensprozesse nachhaltig gestört werden, wenn die metainformativen grammatischen Instruktionen des bestimmten Artikels ausfallen. Die Textrezipienten wissen dann nicht genau, wie sie in ihrem Sinnbildungsprozess mit den lexikalischen Grundinformationen der jeweiligen Substantive umgehen sollen, wie sie Informationen in das Geflecht von Vor- und Nachinformationen einzuordnen haben bzw. ob und wie sie auf ihr allgemeines Sprach- und Weltwissen zurückgreifen sollen. Da in unserer Geschichte vom Sprachabschneider die bestimmten Artikel nur in den Einzelsätzen des kleinen Paul fehlen, aber nicht im ganzen Text, kommt es nicht zu einem allgemeinen Verstehens- bzw. Sinnbildungschaos. Wohlmeinende Leser können aus den gegebenen Informationen und aus den situativen Rahmenbedingungen mit etwas gutem Willen ungefähr rekonstruieren, was der kleine Paul meinen könnte und die fehlenden bestimmten Artikel hypothetisch einfügen: [Der] Regen stürzte [auf die] Straßenbahn wie haushohe Wellen [auj] ein Schiff... Nein, [der] Lehrer ist nicht [in der] Klasse. Da die konkreten Gesprächspartner des kleinen Paul aber nicht das Rahmenwissen
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des Lesers haben, fallt es ihnen natürlich sehr viel schwerer, aus den fragmentarischen Einzelinformationen das zu erschließen, was der kleine Paul sprachlich objektivieren und mitteilen will.
5. Der Verlust von Verbformen In der zweiten Runde des Ausverkaufs grammatischer Zeichen überlässt der kleine Paul dem Sprachabschneider die Tempus-, Modus- und Genusformen der Verben und behält nur die Infinitivformen, die als lexikalische Basisformen angesehen werden können. Wiederum macht der kleine Paul bei diesem Handel den Fehler, dass er sprachliche Zeichen, mit denen er keine konkreten Sachvorstellungen verbinden kann, für bedeutungslos hält und deshalb glaubt, auf sie problemlos verzichten zu können. Erneut muss er die Erfahrung machen, dass grammatische Morpheme keineswegs so funktionslos sind, wie sie ihm auf den ersten Blick erscheinen. Die sinnbildenden Instruktionsfunktionen der grammatischen Morpheme bei Verben sind nun allerdings genauso schwer auf den Begriff zu bringen wie die von Präpositionen und bestimmten Artikeln. Die mit ihrem Verlust verbundenen Verstehensprobleme wären natürlich noch sehr viel größer, wenn sie nicht nur in den Einzelsätzen des kleinen Paul fehlten, sondern in der ganzen Erzählung. Ohne die Verwendung von unterschiedlichen grammatischen Verbmorphemen ließen sich keine Texte mit einem durchstrukturierten Sinnreliefherstellen. Um das adäquat abschätzen zu können, muss man allerdings ein paar grundsätzliche Überlegungen zu den kognitiven und kommunikativen Sinnbildungsfunktionen dieser grammatischen Zeichen anstellen.17
Die grammatischen Morpheme beim Verb Zunächst ist festzuhalten, dass es bei den Verben neben den Tempus-, Modusund Genusmorphemen auch noch grammatische Morpheme gibt, die Aussagen eine formale innere Kohärenz geben, insofern sie eine Kongruenz zwischen der Subjektgröße und der Prädikatsgröße hinsichtlich der Person und des Numerus herstellen. Die Instruktionsfunktionen dieser Formen haben allerdings keine sehr große sinnbildende Bedeutsamkeit, weil sie in gewisser Hinsicht redundant sind und das pragmatische Verständnis von Äußerungen nicht so entscheidend beeinflussen wie die Tempus-, Modus- und Genusmorpheme. Gerade weil diese bestimmte Wahlentscheidungen zulassen, haben sie natürlich eine sehr viel höhere sinnbildende und stilistische Relevanz. 17
Vgl. W. Köller, Funktionaler Grammatikunterricht. Tempus, Genus, Modus: Wozu wurde das erfunden?, 1997 4 . W. Köller, Perspektivität und Sprache, 2004, S. 414-473.
Der Verlust von Verbformen
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Die grammatischen Mittel, die uns die Existenz bestimmter Tempus-, Modus- und Genusformen anzeigen, sind morphologisch sehr unterschiedlich. Es können unselbstständige Morpheme sein, die an das jeweilige lexikalische Basismorphem angehängt werden (er red-et, er red-ete, er red-e) oder abgeänderte Vokale in Basismorphemen (er läuft, er lief) oder spezifische Kombinationen von Hilfsverben mit Infinitiven oder Partizipien (er wird loben, er hat gelobt, er wird gelobt). Auf die unterschiedlichen morphologischen Realisationsweisen von grammatischen Morphemen bei Verben kann hier aus verständlichen Gründen nicht näher eingegangen werden, obwohl dieser Problembereich sprachgeschichtlich und sprachevolutionär natürlich sehr interessant ist. Hinsichtlich der Qualifizierung der sinnbildenden Funktionen von Tempus-, Modus- und Genusmorphemen ist grundsätzlich zu beachten, dass sie sich metainformativ nicht nur auf die Semantik des jeweiligen Verbs beziehen, sondern vielmehr auf die Semantik des ganzen Satzes. Streng genommen sind sie deshalb eigentlich auch nicht als Verbmorpheme zu klassifizieren, sondern vielmehr als Satzmorpheme. Das ist auch insofern ganz plausibel, da das Verb zumindest im Rahmen des Valenz- und Dependenzkonzeptes als strukturelles Zentrum des ganzen Satzes angesehen werden kann, was zur Folge hat, dass jede metainformative Interpretation des Verbs natürlich auch Rückwirkungen auf das Verständnis des ganzen Satzes hat. Und eben das hat sich der kleine Paul gar nicht bewusst gemacht bzw. bewusst machen können, als er dem Sprachabschneider leichtfertig seine Verbformen überlassen hat. Im Hinblick auf Textsorten kann man die Verbmorpheme mit einer gewissen Berechtigung sogar als Textmorpheme qualifizieren, insofern sie eine konstitutive Bedeutsamkeit für bestimmte Textsorten haben (Erzählung, Beschreibung, Kommentar, Protokoll usw.). Dieser Funktionsbereich von Morphemen beim Verb tritt in unserem Text allerdings ganz in den Hintergrund, weil diese hier ja nur in Einzelsätzen ausfallen und weil ihr geregelter Wechsel auch nicht dazu eingesetzt wird, um Texten ein spezifisches Relief hinsichtlich von Vordergrunds- und Hintergrundsinformationen zu geben.
Die Tempusformen Die Verben werden oft als Zeitwörter bezeichnet, weil sie obligatorisch mit Tempusmorphemen kombiniert werden müssen. Dabei übersieht man allerdings meist, dass Verben zugleich auch obligatorisch mit Modus- und Genusmorphemen verbunden werden müssen. Bei der Diskussion der Tempusproblematik wird bedauerlicherweise auch oft ein Zeitbegriff verwendet, der rein chronologisch orientiert ist und der konsequent von allen psychologischen Komponenten des Zeitverständnisses abstrahiert. Das ist sowohl in funktionaler als auch in kulturhistorischer Hinsicht sehr problematisch. Das chronologische Zeitverständnis ist nämlich ein relativ spätes Verständnis von Zeit, das
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während der Entstehungsgeschichte der Tempusformen noch keine wichtige Rolle gespielt hat. Der heutige Gebrauch von Tempusformen lässt sich keineswegs schlüssig nach rein chronologischen Gesichtspunkten analysieren, da bei den Entscheidungen fur den Gebrauch von bestimmten Tempusformen auch noch ganz andere Kriterien maßgeblich sind. Das lässt sich ganz gut verdeutlichen, wenn wir bei der Tempusanalyse das chronologisch orientierte Zeitstufenkonzept idealtypisch mit dem psychologisch orientierten Zeiterlebniskonzept kontrastieren. Das Zeitstufenkonzept ist am konsequentesten von Reichenbach und Wunderlich ausgearbeitet worden.18 Es konzentriert sich darauf, den Gebrauch von Tempusformen in Äußerungen nach ihrem Beitrag zur Klärung der chronologischen Relationen zwischen dem Ereigniszeitpunkt, dem Sprechzeitpunkt und dem Betrachtungszeitpunkt zu qualifizieren. Das beinhaltet, dass die Tempusformen als sprachliche Erscheinungsformen einer chronologischen Deixis angesehen werden, durch die präzisiert wird, wo die drei Zeitpunkte auf einer allgemeinen Zeitachse anzusetzen sind bzw. von welcher Position auf der Zeitachse ein bestimmtes Geschehen oder ein bestimmter Sachverhalt ins Auge gefasst wird. Diese Betrachtungsweise ist natürlich nicht gänzlich falsch, aber dennoch sehr einseitig und fragmentarisch, weil in ihr sehr wichtige Sinnbildungsfunktionen von Tempusformen methodisch wegabstrahiert werden. Das Zeiterlebniskonzept, das problemlos wichtige Aspekte des Zeitstufenkonzeptes zu integrieren vermag, ist deshalb viel fruchtbarer, um die vielfältigen Sinnbildungsfunktionen von Tempusformen zu erfassen und zu qualifizieren. Es verdankt seine systematische Ausarbeitung insbesondere Weinrich.19 Dem Zeiterlebniskonzept liegt die Prämisse zu Grunde, dass das Phänomen Zeit sich eigentlich nicht als selbstständiges ontisches Phänomen im Sinne von Newton verselbstständigen lässt, sondern seine spezifische Gestalt erst im Zusammenhang mit bestimmten Erlebnis- und Wahrnehmungsformen von konkreten Sachinhalten gewinnt. Schon Augustin hatte ausdrücklich betont, dass es für den Menschen die drei objektiven Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich nicht gebe, sondern nur eine Gegenwart von Vergangenem als Erinnerung, eine Gegenwart von Gegenwärtigem als Augenschein und eine Gegenwart von Künftigem als Erwartung.20 Wenn wir das Problem der Zeit in dieser anthropologischen und psychologischen Perspektive wahrnehmen, dann ergibt sich, dass Tempusformen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, bestimmte Denkinhalte metainformativ hinsichtlich ihrer psychischen Relevanz bzw. ihrer psychischen Aktualität zu qualifizieren. Deshalb können sie dann auch als Instruktionssignale des Sprechers an den Hörer gewertet werden, die jeweiligen Mitteilungsinhalte in einer entspannten oder in 18
19 20
H. Reichenbach, Elements of symbolic logic, 1947/1966 2 , S. 287ff. D. Wunderlich, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, 1970. H. Weinrich, Tempus, Besprochene und erzählte Welt, 1964,2001 6 . A. Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, 1966 3 , 11. Buch, Kap. 20, S. 641ff.
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einer gespannten Grundhaltung wahrzunehmen. Weinrich hat die Tempusformen dementsprechend in die Gruppe der erzählenden Tempora (Präteritum, Plusquamperfekt, Konditional bzw. Konjunktiv) und die Gruppe der besprechenden Tempora (Präsens, Perfekt, Futur I, Futur II) eingeteilt. Die Funktionsbestimmung von Tempusformen im Rahmen des Zeiterlebniskonzeptes ermöglicht es, Tempusmorpheme als Instruktionssignale fur die Konkretisierung von vier unterschiedlichen Sinnaspekten anzusehen. Erstens können Tempusformen dazu dienen, chronologische Relationen von Ereignissen zum Sprechzeitpunkt bzw. zum Betrachtungszeitpunkt zu kennzeichnen, zweitens dazu, aktionale Eigenschaften von Prozessen zu präzisieren (abgeschlossen, ablaufend), drittens dazu, die pragmatische Relevanz von Sachverhalten näher zu qualifizieren (mittelbar aktuell, unmittelbar aktuell), und viertens dazu, den Sprechakt zu spezifizieren, mit dem bestimmte Sachaussagen anderen mitgeteilt werden (Erzählung, Behauptung, Voraussage, Strukturanalyse usw.). Dementsprechend lassen sich dann für die einzelnen Tempusformen idealtypisch folgende Sinnbildungspotenziale postulieren. Das Präsens hat einerseits eine zeitstufenneutrale allgemeine Aussagefunktion, die es dazu prädestiniert, in Definitionen, Strukturanalysen, Kommentaren, Inhaltsangaben und allgemeinen Handlungsaufforderungen verwendet zu werden. Im Wechsel mit anderen Tempusformen hat es andererseits aber auch eine Aktualisierungs- und Vergegenwärtigungsfunktion, die es dazu befähigt, in Texten zur Reliefbildung eingesetzt zu werden, um aktuelle Vordergrundsinformationen von erläuternden Hintergrundsinformationen abzusetzen. Das Präteritum hat eine grundlegende Distanzierungsfiinktion, die es dazu tauglich macht, als Erzähltempus eingesetzt zu werden, ohne Rücksicht darauf nehmen zu müssen, in welcher chronologischen Relation das Erzählte zum aktuellen Sprechzeitpunkt steht. Es legt nahe, eine ganzheitliche und entspannte Wahrnehmungshaltung einzunehmen, was insbesondere einen metaphorischen Sprachgebrauch begünstigt. In Dialogen bzw. in behauptenden Einzelsätzen treffen wir es deshalb kaum an. Das Perfekt dient dazu, ein Geschehen in aktionaler Hinsicht als abgeschlossen zu kennzeichnen und die jeweilige Aussage handlungsmäßig als Behauptung zu qualifizieren, die eine unmittelbare pragmatische Relevanz für die aktuelle Kommunikationssituation hat. Deshalb treffen wir das Perfekt auch primär in Einzelsätzen bzw. in Dialogen, Fragen, Thesen und Schlussfolgerungen an. Das Plusquamperfekt ist als relatives Tempus anzusehen, da es in der Regel in Satzgefügen vorkommt. Hier dient es dazu, ein aktional bereits abgeschlossenes Geschehen auf eine verlaufsorientierte Aussage im Präteritum zu beziehen. Es hat handlungsmäßig eine raffende und zusammenfassende Funktion, die insbesondere auch bei der seltenen Verwendung dieses Tempus in Einzelsätzen zum Ausdruck kommt.
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Das Futur I hat eine Voraussage- bzw. Hypothesefunktion und dient pragmatisch dazu, ein Spannungsverhältnis zwischen der Gegenwart und der Zukunft zu kennzeichnen. Deshalb hat es zwangsläufig auch Vermutungsimplikationen. Diese sind in der Regel wichtiger als die Kennzeichnung chronologischer Bezüge, da man den Zukunftsbezug einer Aussage auch durch die Kombination des Präsens mit entsprechenden Zeitadverbialen kennzeichnen kann. Das Futur II kann wie das Plusquamperfekt als relatives Tempus betrachtet werden, da es in Satzgefügen dazu dient, ein Geschehen mit Bezug auf einen zukünftigen Betrachtungszeitpunkt aktional als abgeschlossen zu qualifizieren. Hinsichtlich seiner aktionalen Instruktionsfunktionen kann es durch das Perfekt ersetzt werden und hinsichtlich seiner chronologischen Kennzeichnungsfunktionen durch entsprechende Zeitadverbiale. Bei der Lektüre unserer Geschichte fuhrt der Ausfall von Tempusformen in den Einzelsätzen des kleinen Paul nicht zu massiven Verstehensproblemen. Durch die jeweiligen Kontexte können die Rezipienten die chronologischen, aktionalen, psychologischen und handlungsmäßigen Implikationen der Einzelaussagen des kleinen Paul relativ leicht rekonstruieren. So ist kontextuell relativ klar, dass in den folgenden Sätzen Präsensformen ausgefallen sind oder möglicherweise auch Formen des Futur I: „Gehen du auch Zirkus?" „Bruno, was gefallen dir besser, Akrobatik oder Dressur?". Bei anderen Sätzen ist nicht ganz eindeutig zu klären, ob Präteritumsformen oder Perfektformen ausgefallen sind. Diesbezüglich wäre nämlich zu entscheiden, ob der kleine Paul etwas im Zusammenhang erzählen will oder ob er isolierte Einzelbehauptungen mit einem bestimmten aktionalen Profil formulieren möchte: „Ein Tiger springen ein brennenden Reifen. Ein Elefant sitzen ein große Hocker." Wenn man sich nun allerdings vorstellte, dass die Tempusmorpheme nicht nur in den Einzelsätzen eines Dialogs ausfielen, sondern auch in einem ganzen Text, dann ergäben sich natürlich sehr viel gravierendere Verstehensprobleme. Es könnte zu keiner komplexen Vorstellungsbildung mit einem durchstrukturierten Sinnrelief kommen, sondern allenfalls zu isolierten Einzelvorstellungen, deren Stellenwert in einer umfassenden Sinngestalt jeder Rezipient mehr oder weniger willkürlich festzulegen hätte. Der individuellen Einbildungskraft würde dabei ein so großer Spielraum eröffnet, dass es kaum zur Ausbildung von intersubjektiv ähnlichen Sinngestalten kommen könnte. Da in unserem Text die Tempusformen nur in einzelnen Dialogsätzen des kleinen Paul ausfallen, reduzieren sich die Verstehensprobleme auf eine ganz bestimmte Ebene, die sich mit Watzlawick auch als Beziehungsebene qualifizieren lässt.21 Der kleine Paul kann seinen Gesprächspartnern zwar auf der Inhaltsebene mitteilen, woran er denkt und was er sachlich erlebt hat, aber er kann ihnen über die Wahl von bestimmten Tempusformen nicht vermitteln, 21
Vgl. P. Watzlawick u.a., Menschliche Kommunikation, 1974 4 , S. 53ff.
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welchen Stellenwert die jeweiligen Denkinhalte für den jeweiligen Kommunikationsprozess haben bzw. zu welchen Zwecken sie überhaupt mitgeteilt werden. Der Ausfall der Tempusformen fuhrt deshalb zu gravierenden Störungen auf der Beziehungsebene der Kommunikation, die der kleine Paul bei seinem Handel mit dem Vielolog nicht vorausgesehen hat, deren Konsequenzen ihm dann aber doch sehr klar werden., Jetzt sieht Paul, daß seine Eltern sehr traurig sind."
Die Modusformen Der Verzicht auf die Modusformen des Verbs wächst sich in unserer Geschichte nicht zu einem Kommunikationsproblem aus, weil der kleine Paul in keinen sprachlichen Objektivierungs- und Mitteilungssituationen steht, in denen die Differenzierungsfunktionen der Indikativ-, Konjunktiv- und Imperativformen eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere gibt es für ihn keine Notwendigkeit, Konjunktivformen zu verwenden, die ja ihren genuinen Platz in der abhängigen bzw. indirekten Rede haben. Dennoch lohnt es sich, diesem Problemfeld eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken, um auch die grammatischen Instruktionsfunktionen der Indikativformen richtig einzuschätzen, die der kleine Paul verwenden müsste, wenn er nicht auf den Sprachabschneider hereingefallen wäre. Außerdem könnte man sich natürlich auch ausmalen, in welche Schwierigkeiten der kleine Paul geriete, wenn er in Mitteilungssituationen käme, in denen aus sachlichen oder aus sprachökonomischen Gründen nicht auf den Gebrauch von Konjunktivformen verzichtet werden könnte. Generell lässt sich sagen, dass die verschiedenen Modusformen von Verben dazu dienen, den Geltungsanspruch von Aussagen metainformativ zu differenzieren und zu qualifizieren. Über die Wahl der Modusformen kann ein Sprecher einem Hörer signalisieren, welchen pragmatischen Stellenwert er den jeweiligen Mitteilungen zugeordnet wissen will und welchen Grad von Verantwortung er selbst für den sachlichen Wahrheitsgehalt dessen übernimmt, was er konkret mitteilt. Dass diese Instruktionsfunktionen pragmatisch sehr wichtig sind und im Hinblick auf die Beziehungsebene der Kommunikation eine große Rolle spielen, steht sicher außer Frage. Imperativformen signalisieren, dass eine Äußerung pragmatisch nicht als deskriptive Sachaussage, sondern als Aufforderungshandlung zu gelten hat, die naturgemäß weder als wahr noch als falsch bewertet werden kann, sondern allenfalls als sinnvoll bzw. gerechtfertigt oder als sinnlos bzw. ungerechtfertigt. Dementsprechend treffen wir im faktischen Sprachgebrauch auch nur bei denjenigen Verben auf Imperativformen, die Prozesse bezeichnen, die von den jeweils Angesprochenen auch realisiert werden können, aber nicht bei denjenigen Verben, die Verlaufsprozesse benennen, die nicht in das mögliche Hand-
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lungsspektrum von Menschen fallen (regnen, gären) bzw. die sozial unerwünschte Prozesse bezeichnen {lügen, stehlen). Indikativformen, die zuweilen in verunklärender Weise auch als Wirklichkeitsformen bezeichnet werden, können als Standardformen des Verbgebrauchs angesehen werden. Sie signalisieren pragmatisch zunächst nur, dass der jeweilige Sprecher sich ganz auf die sprachliche Objektivierung und Vermittlung von Sachvorstellungen konzentriert und darauf verzichtet, das Mitgeteilte hinsichtlich seines Geltungsanspruchs irgendwie metakommunikativ zu qualifizieren oder zu kommentieren. Solange Indikativformen nicht in Redesituationen verwendet werden, in denen auch der Gebrauch von Konjunktivformen erwartbar ist wie beispielsweise in der abhängigen oder in der indirekten Rede, solange kann man ihnen als unmarkierte Standardformen auch keine spezifische metainformative Instruktionsfunktion zuordnen. Wenn nun allerdings Indikativformen in Redesituationen verwendet werden, in denen üblicherweise der Konjunktiv gebraucht wird, dann lässt sich ihr Gebrauch als ein Signal dafür verstehen, dass der jeweilige Sprecher den Geltungsanspruch des Mitgeteilten nicht auf eine bestimmte Weise metainformativ qualifizieren möchte. Das bedeutet, dass die Verwendung von indikativischen Verbformen kein Indiz für den Realitätsgehalt des Gesagten darstellt, sondern lediglich ein Indiz dafür, in welchem Denkhorizont der Sprecher einen Sachverhalt für andere objektivieren möchte. Solange er darauf verzichtet, das jeweils Gesagte mit Hilfe von Konjunktivformen mit einem Vorbehaltssignal zu verknüpfen, muss er gleichsam kommunikationsethisch die Verantwortung dafür übernehmen, dass das Mitgeteilte als wahr anzusehen ist. Sprechakttheoretisch gesehen wäre somit der Indikativgebrauch ein Indiz dafür, dass eine Behauptung vorliegt bzw. ein konstativer oder deskriptiver Sprechakt. Im Vergleich zu den Indikativformen haben die Konjunktivformen des Verbs ein sehr differenziertes pragmatisches Funktionsspektrum. Erstens können sie die Aufgabe übernehmen, die strukturelle Abhängigkeit einer Aussage von einer anderen zu markieren. Zweitens können sie kenntlich machen, dass das Gesagte eine geraffte und damit auch interpretierte Zusammenfassung einer umfangreicheren Primäräußerung darstellt. Drittens können sie darauf aufmerksam machen, dass das jeweils Mitgeteilte in einen Denkhorizont gehört, für dessen Struktur und Inhalt der jeweilige Sprecher nicht verantwortlich zu machen ist. Graf hat deshalb auf sehr plausible Weise festgestellt, dass mit dem Gebrauch von Konjunktivformen die metainformative grammatische Information verbunden ist: „Gültig in einer anderen Welt."22 Das könne im Rahmen hypothetischer Aussagen gültig in einer nicht-realen Welt heißen oder im Rahmen der Wiedergabe von Aussagen anderer Personen gültig in der Welt eines anderen.
22
R. Graf, Der Konjunktiv in der gesprochenen Sprache, 1977, S. 140.
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In der deutschen Gegenwartssprache haben die Konjunktivformen, die vom Präsensstamm abgeleitet worden sind (Konjunktiv I), und diejenigen, die vom Präteritumstamm abgeleitet worden sind (Konjunktiv II), ihre chronologischen Differenzierungsfunktionen weitgehend zu Gunsten von modalen verloren. Der Konjunktiv I hat pragmatisch die Funktion eines Zitiersignals bekommen, das primär darauf aufmerksam machen soll, dass die jeweilige Aussage vom aktuellen Sprecher nur vermittelt, aber nicht behauptet wird. Das bedeutet, dass auch der Wahrheitsanspruch der Aussage nicht von dem aktuellen, sondern nur von dem zitierten Sprecher zu verantworten ist. Deshalb kann der Konjunktiv I zugleich auch als Distanzsignal charakterisiert werden, das den aktuellen Sprecher kommunikationsethisch entlastet und ihm nur die Rolle eines Übermittlers von Nachrichten zuordnet. Demgegenüber ist der Konjunktiv II in der Regel als ein Skepsissignal zu werten, insofern er nicht nur auf zwei unterschiedliche Denkhorizonte und Welten aufmerksam macht, sondern darüber hinaus auch darauf, dass der Sprecher die von ihm objektivierten und vermittelten Aussagen hinsichtlich ihres Realitäts- bzw. Wahrheitsgehaltes für problematisch hält. Deshalb lässt sich dem Konjunktiv II auch ein immanentes Negationspotenzial zuordnen, insofern sein Gebrauch andeutet, dass das jeweils Gesagte keine Referenz in der faktischen Welt hat, sei es, dass der Sprecher die von ihm vermittelten Aussagen für nicht zutreffend hält, sei es, dass er irreale Wunsch- oder Bedingungssätze formuliert (Wenn ich unsichtbar wäre, dann ...). Die Äußerungen des kleinen Paul in unserer Geschichte sind nun allerdings nicht in Kommunikationssituationen verankert, in denen die grammatischen Instruktionsfunktionen der Konjunktivformen pragmatisch wichtig werden könnten. Seine Mitteilungsinhalte und Mitteilungsintentionen sind so strukturiert, dass er nur auf Indikativformen zurückgreifen muss. Der Verlust der Konjunktivformen berührt deshalb seine Mitteilungsfähigkeiten nicht sonderlich. Das wäre aber schon anders, wenn er beispielsweise die Aufgabe erfüllen müsste, die Aussagen anderer Personen zu referieren, wenn ein Lehrer ihm die Aufgabe stellte, ein Verlaufsprotokoll zu verfassen, wenn er Hypothesen entwerfen müsste oder wenn er irreale Bedingungssätze zu formulieren hätte. Dann würde der Verlust von Konjunktivformen nicht nur zu sprachökonomischen und stilistischen Problemen führen, sondern auch vielfältige Missverstehensmöglichkeiten eröffnen. In diesem Zusammenhang ist nun allerdings auch zu beachten, dass kleine Kinder nur eine sehr begrenzte Neigung zum Konjunktivgebrauch haben. Insbesondere den Konjunktiv I verwenden sie ungern, da er hohe kognitive Anforderungen stellt, denen die Kinder aus entwicklungspsychologischen Gründen zunächst noch nicht gewachsen sind. Sein Gebrauch setzt nämlich gleichsam ein doppeltes Bewusstsein voraus. Der Sprecher muss sich einerseits darauf konzentrieren, auf einer sachthematischen Denkebene eine in sich stimmige Aussage zu formulieren, und andererseits darauf, auf einer reflexionsthema-
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tischen Denkebene mitzusignalisieren, dass es sich dabei nicht um eine eigene, sondern nur um eine vermittelte Aussage handelt. Demgegenüber haben Kinder beim Gebrauch des Konjunktiv II weniger große Probleme. Es ist für sie ein eindeutiges Signal dafür, dass man von der faktischen Welt in eine fiktive Welt springt. Deshalb finden sich schon bei sehr kleinen Kindern Formulierungen wie die folgende: Ich wäre der König und du wärest die Königin. Der kleine Paul hat in dieser Geschichte nicht die Absicht, Äußerungen zu formulieren, in denen er zugleich auf zwei unterschiedliche Informationsebenen aufmerksam machen will. Er ist eher dazu disponiert, Sätze zu äußern, in denen nur auf eine Denkebene Bezug genommen wird. Diese Denkposition trifft allerdings nicht auf den Erzähler der Geschichte zu, der bei der Schilderung der Denkwelt des verträumten Paul folgenden Gebrauch von Konjunktivformen machte: „Paul, der noch müde ist, säße gern auf dem Wolkenelefanten und ritte gemächlich zur Schule. Noch lieber läge er in dem Wolkenbett."23
Die Genusformen Der Verlust der Aktiv- und Passivformen des Verbs wächst sich im Rahmen der Mitteilungsziele des kleinen Paul ebenso wenig zu einem Problem aus wie der Verlust der Modusformen. Dennoch ist es nützlich, einige Überlegungen zum Funktionspotenzial von Genusformen anzustellen, um abschätzen zu können, unter welchen Umständen der Ausfall dieser Formen auch fur den kleinen Paul zu einem Problem hätte werden können. Die Kennzeichnung des Funktionspotenzials von Aktivformen mit dem sprechenden Namen Tätigkeitsform und die der Passivformen mit dem sprechenden Namen Leideform ist aus mehreren Gründen etwas irreführend. Sie trifft sachlich allenfalls auf transitive Verben vom semantischen Typ schlagen bzw. fressen zu, aber schon nicht mehr auf solche vom Typ lieben bzw. grüßen. Bei Vorgangsverben vom Typ laufen bzw. fließen oder bei Zustandsverben vom Typ stehen bzw. sitzen, die nicht direkt in eine passivische Form gebracht werden können, ist die Differenzierung von Tun und Leiden ziemlich sinnlos. Außerdem ist diese Charakterisierung von Aktiv- und Passivformen auch deshalb problematisch, weil sie uns immer in ontologische Probleme verstrickt, insofern wir zu klären haben, ob ein Geschehen sinnvoll der Kategorie des Tuns oder des Leidens zugeordnet werden kann oder nicht. Es ist deshalb sicher viel fruchtbarer, das kognitive und kommunikative Funktionspotenzial der Genusformen nicht auf ihren Abbildungsfunktionen für außersprachliche Gegebenheiten zurückzufuhren, sondern vielmehr auf ihre Objektivierungsfunktionen für einen bestimmten Gestaltungswillen des Sprechers. Das bedeutet, dass die Differenz zwischen den Aktivformen und Passiv23
H.J. Schädlich, Der Sprachabschneider, 1980, S. 10.
Der Verlust von Verbformen
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formen des Verbs nicht ontologisch, sondern wahrnehmungspsychologisch und denkpsychologisch begründet werden sollte und dass beide Verbformen je nach dem Perspektivierungswillen des Sprechers durchaus fur die sprachliche Objektivierung desselben außersprachlichen Sachverhalts eingesetzt werden können. Dementsprechend ergeben sich dann folgende Charakterisierungsmöglichkeiten für die unterschiedlichen Genusformen des Verbs. Die Aktivformen des Verbs lassen sich als unmarkierte Standardformen charakterisieren, in denen die ursprüngliche Semantik des Verbs abgesehen von Tempus- und Modusmarkierungen zum Ausdruck kommt. Eine spezifische Sondermarkierung im Sinne von Tätigkeitsform erübrigt sich damit. Nur bei den transitiven Verben, die direkt in eine passivische Form gebracht werden können, stehen die Aktivformen in einer spezifischen Opposition zu den Passivformen. Bei ihnen ist die Verwendung der passivischen Form ein Indiz dafür, dass der jeweilige Sprecher ein Geschehen sprachlich so objektivieren möchte, dass es im Rahmen des Konzepts von Ursache und Wirkung bzw. von Agens und Actio fassbar werden kann. Das bedeutet, dass die vom Verb bezeichneten Prozesse so dargestellt werden, dass sie von der jeweiligen Subjektgröße auf die jeweilige Objektgröße übergreifen. Deshalb hat Weisgerber die Verwendung von Aktivformen auch mit einer täterbezogenen Darstellungsweise in Verbindung gebracht und die Verwendung von Passivformen mit einer täterabgewandten Darstellungsweise (Paul grüßt den Nachbarn. Der Nachbar wird von Paul gegrüßt.).24 Die Passivformen des Verbs lassen sich gegenüber den Aktivformen als markierte Sonderformen charakterisieren, die einer ganz spezifischen sprachlichen Objektivierungsperspektive Ausdruck zu geben vermögen. Diese ist dadurch bestimmt, dass sich das Hauptinteresse nicht auf die Ursache und den Verlauf von Prozessen richtet, sondern vielmehr auf das Ergebnis. Das impliziert, dass ein Geschehen so dargestellt wird, dass es nicht von der Subjektgröße auf die Objektgröße zuläuft, sondern vielmehr so, dass es auf die vom Subjekt repräsentierte Sachvorstellung zuläuft. Dabei kann das Agens des Geschehens mit Hilfe einer Präpositionalkonstruktion genannt werden, aber diese handelnde Instanz muss nicht genannt werden, weil die zweistelligen transitiven Verben beim passivischen Gebrauch eine Valenzstelle einbüßen. Aus dieser groben Charakterisierung des pragmatischen Funktionspotenzials von Passivformen ergibt sich, dass diese Sprachformen im Rahmen der sprachlichen Objektivierungs- und Mitteilungsbedürfnisse des kleinen Paul noch keine große Bedeutsamkeit haben. Er kann sich bei seinen Aussageintentionen im Prinzip auf die unmarkierten Aktivformen beschränken, in denen die jeweilige Verbsemantik unspezifiziert zum Ausdruck kommt. Der Gebrauch von Indikativformen schränkt die von ihm favorisierten sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten nicht spürbar ein. In diesem Zusammenhang ist nämlich 24
L. Weisgerber, Die vier Stufen in der Erforschung der Sprachen, 1963, S. 233ff.
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Schädlichs Sprachabschneider
auch zu beachten, dass der Passivgebrauch den Kindern während der Phase ihres konkreten Denkens vor der Pubertät ohnehin recht fern liegt. Die Verwendung von Passivformen würde nämlich für sie implizieren, dass sie das vertraute Täter-Tat-Schema bzw. das Kausalitätsschema nicht mehr vorbehaltlos zur sprachlichen Gestaltung von Geschehensabläufen einsetzen könnten. Eine ganz andere Situation würde sich für den kleinen Paul allerdings dann ergeben, wenn er in der Schule Texte zu verfassen hätte, in denen es sehr unvorteilhaft und umständlich wäre, Prozesse in einer täterbezogenen Sichtweise darzustellen bzw. im Denkrahmen von Täter und Tat. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn er eine Beschreibung von Produktionsabläufen zu machen hätte (Herstellung von Bier), wenn er eine Bastelanweisung formulieren müsste oder wenn er ein Ergebnisprotokoll zu verfassen hätte. Bei diesen Aufgaben wäre es sehr ermüdend und umständlich, das Subjekt von Aussagesätzen ständig mit einer Größe zu besetzen, die als Agens einer Handlung in Erscheinung tritt. Stattdessen ist es hier sehr viel sinnvoller, die Subjektposition eines Satzes mit einer Vorstellungsgröße zu besetzen, auf die eine Handlung zuläuft, weil ja eher das Ergebnis von Handlungsprozessen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht als dessen Ursache und dessen Verlauf (Gerste wird vergoren. Die Teile werden zusammengeklebt. Der Arbeitsplan wurde kritisiert.).
6. Der Verlust von Konsonanten Nach der dritten Sprachabschneiderei muss der kleine Paul beim Gebrauch derjenigen Wörter, die mit zwei Konsonanten beginnen, auf den ersten Konsonanten verzichten. Dieser Handel mit sprachlichen Zeichen liegt nicht mehr auf der Ebene der Grammatik im engeren Sinne, sondern auf der Ebene der Phonologie, also auf der Ebene von Sprachkonventionen, durch die die Kombination von lautlichen Elementarzeichen zu Wörtern geregelt wird. Auch bei diesem Handel muss der kleine Paul lernen, dass Konsonanten, die er zunächst wegen ihrer Bedeutungsleere für irrelevant gehalten hat, eine konstitutive Rolle bei der Bildung von sprachlichen Zeichen spielen. Als der kleine Paul einkaufen will, kommt es zwischen ihm und der Verkäuferin zu groben kommunikativen Missverständnissen. Nach der neuen Abmachung mit dem Sprachabschneider hat er die Lautgestalt bestimmter Wörter nun nämlich wegen des Verzichts auf bestimmte Konsonanten so abzuändern, dass Wörter mit einer ganz anderen Bedeutung entstehen. Auf diese Weise werden aus Hafer-Flocken dann Hafer-Locken und aus Graupen dann Raupen. Bei diesem dritten Sprachhandel wird, sprachtheoretisch betrachtet, das Problem der Phoneme thematisiert. Als Phoneme werden diejenigen Lauteinheiten einer Sprache bezeichnet, die innerhalb eines gegebenen Sprachsystems
Der Rettungsweg
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als kleinste bedeutungsunterscheidende Lauteinheiten zu gelten haben. Phoneme tragen selbst keine Bedeutung, aber sie dienen dazu, Lauteinheiten auszubilden, die Träger von Bedeutungen sein können. Wenn man bei der Artikulation bestimmter Wörter einfach auf bestimmte Phoneme eines Sprachsystems verzichtet, dann bricht das geregelte phonologische System einer Sprache zusammen und damit natürlich auch die Korrelation des Systems von Signifikanten mit dem System von Signifikaten. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der Sprachabschneider dem kleinen Paul nicht ganz bestimmte Konsonanten abnimmt, die in der deutschen Sprache den Status von bedeutungsunterscheidenden Phonemen haben, sondern dass er ihm nur die Kombination von zwei aufeinander folgenden Konsonanten am Wortanfang untersagt. Dadurch wird verdeutlicht, dass auch Wörter bzw. Signifikanten aus Subzeichen bestehen, die auf eine ganz bestimmte Weise kombiniert werden müssen, und dass ein Eingriff in diese Konstitutionskonventionen fatale Folgen für intersubjektive Verständigungsprozesse hat. Aufschlussreich ist weiterhin, dass der Sprachabschneider dem kleinen Paul nicht ganz spezifische Vokale abgehandelt hat. Da es nämlich wesentlich weniger Vokale als Konsonanten gibt, kann sich das Fehlen von Vokalen nicht so störend auswirken wie das Fehlen von Konsonanten. Fehlende Vokale lassen sich sehr viel leichter hypothetisch erschließen als fehlende Konsonanten. Dieser Umstand ist auch der Grund dafür, dass es in manchen lautorientierten Schriftsystemen ein Verzicht auf die graphische Repräsentation von Vokalen gibt, aber keinen Verzicht auf die graphische Repräsentation von Konsonanten. Auch bei der Festlegung der Buchstabenkombinationen für die Autokennzeichen bestimmter Städte wird j a eher auf Vokale als auf Konsonanten verzichtet.
7. Der Rettungsweg Durch den willkürlichen Eingriff in das System der Phoneme ist die Sprachabschneiderei dialektisch so auf die Spitze getrieben worden, dass auch der kleine Paul erkennt, dass ein Umschwung und Neuanfang unausweichlich ist: ,Jch wollen alles wiederhaben/" Aber er setzt zunächst falsch an, weil er seinen früheren Sprachhandel durch die Übergabe seiner liebsten Spielsachen rückgängig zu machen versucht. Auf dieses Angebot geht der Vielolog aber nicht ein, sei es, dass er an diesen Spielsachen gar nicht interessiert ist, sei es, dass er den Kitzel eines neuen Spiels mit dem kleinen Paul sucht. Der Vorschlag, den der Sprachabschneider zur Rückgabe der eingezogenen Sprachzeichen macht, scheint zunächst einen Rest von Gutmütigkeit oder gar einen gewissen pädagogischen Eros zu haben. Aber das trifft letztlich wohl doch nicht zu, wenn man an seine Reaktionen nach der diesbezüglichen Ver-
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einbarung denkt. Der Vielolog hopst nämlich ganz ähnlich wie das Rumpelstilzchen um seinen Tisch herum und bekommt vor „lauter Schadenfreude" einen dunkelroten Kopf. Offenbar ist er sicher, dass der kleine Paul die von ihm zu bewältigende Aufgabe nicht lösen kann und dass er auf diese Weise sein amputiertes grammatisches Bein nicht wiederbekommt. Die von dem kleinen Paul zu bewältigende Aufgabe besteht darin, einen fehlerhaften Text zu korrigieren, in dem alle Sprachzeichen fehlen, die er sich selbst leichtfertig hat abhandeln lassen. Das bedeutet praktisch, dass er sich mit Hilfe einer Grammatik und eines Wörterbuchs nachträglich ein sprachtheoretisches Wissen erarbeiten muss, welches ihm ursprünglich schon als ein im Sprachgefühl verankertes intuitives Sprachwissen zur Verfugung gestanden hat. Mit Hilfe seines Freundes Bruno gelingt es Paul dann tatsächlich, alle in dem Text vorkommenden Fehler zu identifizieren und zu korrigieren. Dieser Rettungsweg, sprachliche Fehler mit Hilfe eines sprachtheoretischen Wissens zu erfassen und zu beseitigen, hat natürlich einen gewissen pädagogisch-didaktischen Charme, der dem systematischen Grammatikunterricht eine gewisse Antriebskraft geben könnte. Wenn Grammatiken und Wörterbücher ein adäquates Bild der Sprache repräsentierten, dann könnten sie natürlich auch umfassend dabei helfen, sprachliche Fehler zu erkennen und zu beseitigen. Mit Hilfe des Sprachunterrichts ließe sich der Sprachgebrauch verbessern und die Gefahr von sprachlich bedingten Missverständnissen minimieren. Dieser Optimismus hat natürlich eine gewisse Berechtigung, aber sicher auch seine Grenzen. Das in unserem Sprachgefühl verankerte intuitive Wissen über die kognitiven und kommunikativen Funktionen von einzelnen Sprachformen ist so komplex, dass es kaum vollständig in Grammatiken und Wörterbüchern objektivierbar ist, sondern allenfalls hinsichtlich seiner Grundstrukturen. Zwar haben wohl alle Sprachverwender den Wunsch, das in ihrem Sprachgefühl verankerte natürliche Sprachwissen auch auf den Begriff zu bringen, aber sie werden dennoch immer mit der Einsicht leben müssen, dass das nicht vollständig möglich sein wird. Das theoretische Sprachwissen kann nur die Spitze des Eisberges unseres komplexen intuitiven Sprachwissens abbilden, weil es naturgemäß immer abstraktiv ist und sich immer nur perspektivisch auf ganz bestimmte Einzelaspekte sprachlicher Ordnungssysteme konzentrieren kann. Sicher würde ein sprachtheoretisch versierter Sprecher nicht so leichtfertig auf die Sprachabschneidereien des Vielolog hereinfallen wie der kleine Paul. Sicher würde er auch nicht alle Sprachzeichen für bedeutungslos halten, die für ihn keinen Bezug zu gegenständlichen Vorstellungen haben. Festzuhalten ist aber gleichwohl, dass das theoretische Wissen von der Sprache keineswegs schon garantiert, dass jemand auch optimal von seiner Sprache Gebrauch machen kann. Ein solches Wissen hilft sicherlich, Sprachfehler und Sprachdefizite zu identifizieren, in ihren Dimensionen zu beschreiben und sachadäquat zu
Der parabolische Gehalt der Geschichte
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korrigieren. Es stellt aber noch keineswegs sicher, die ganze Komplexität sprachlicher Ordnungen zu erfassen und im Rahmen des eigenen Sprachgebrauchs nutzbar zu machen. Eine Sprache erlernt man letztlich nicht durch theoretische Unterweisungen, sondern vielmehr durch ihren zweckdienlichen Gebrauch in konkreten Situationen. Deshalb sind große Grammatiker auch keineswegs immer zugleich auch große Stilisten. Die Geschichte vom Sprachabschneider hat natürlich die frohe Botschaft, dass sprachtheoretisches Wissen dabei helfen kann, nicht auf Sprachabschneidereien hereinzufallen und die Ursachen von Missverständnissen aufzuklären. Aber damit diese Einsicht auch eine frohe Botschaft bleiben kann, darf man den Glauben an die Heilkraft des sprachtheoretischen Wissens auch nicht überstrapazieren. Darauf macht auch Schädlich aufmerksam, denn er lässt den kleinen Paul seine Aufgabe nicht nur mit Hilfe von Grammatiken und Wörterbüchern lösen, sondern auch mit Unterstützung seines Freundes Bruno. Erst im Dialog mit ihm kann sich der kleine Paul aus der Patsche helfen.
8. Der parabolische Gehalt der Geschichte Anfangs wurde schon erwähnt, dass Hans-Joachim Schädlich seine Geschichte vom Sprachabschneider bzw. von der Sprachabschneiderei auch als eine „Metapher für Opportunismus, Zensur und Selbstzensur" bezeichnet hat. 25 Diese Beurteilung ist wohl zunächst nicht unmittelbar verständlich. Sie ist aber nach den bisher angestellten Überlegungen zu den sprachtheoretischen und sprachpraktischen Implikationen der Geschichte doch etwas leichter nachvollziehbar als vorher. Das Problem des Opportunismus gewinnt in unserer Geschichte dadurch an Gestalt, dass der kleine Paul für kurzfristige Vorteile etwas aufgibt, was ihm zunächst recht belanglos zu sein scheint. Die dem Sprachabschneider überlassenen Sprachformen erscheinen ihm vor allem deswegen so belanglos und damit bedeutungslos, weil er sich von ihnen keine konkreten Sachvorstellungen machen kann, die ihn befähigen könnten, die Konsequenzen abzuschätzen, die mit ihrem Verlust verbunden sind. Über die von ihm weggegebenen sprachlichen Zeichen besitzt er kein überschaubares Gegenstandswissen, sondern allenfalls ein intuitives Handlungswissen. Sie fallen ihm als konstitutive Phänomene seines sprachlichen Handelns und Lebens ebenso wenig auf wie dem Vogel die Luft und dem Fisch das Wasser. Die von dem kleinen Paul leichtfertig weggegebenen Sprachformen sind Bestandteile eines umfassenden sprachlichen Ordnungssystems, das sich in langen sprachlichen Evolutionsprozessen herausgebildet hat und dessen inter25
H.J. Schädlich, Selbstvorstellung, in: W. Segebrecht (Hrsg.), Auskünfte von und über HansJoachim Schädlich, 1995, S. 7.
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Schädliche Sprachabschneider
dependente Ordnungsstrukturen wir nur partiell durchschauen. Wenn aus solchen Ordnungszusammenhängen Teile eliminiert werden, dann fuhrt das keineswegs nur zu partiellen Defiziten, sondern vielmehr zur Störung des ganzen Systems, weil alle Teilordnungen funktionell ineinander greifen. Ausfälle von sprachlichen Einzelzeichen lassen sich über redundante Informationsleistungen anderer Zeichen in der Regel kompensieren, aber die Ausfälle ganzer Kategorien von sprachlichen Zeichen nicht. Solche Defizite können im Rahmen des Fließgleichgewichtes historisch gewachsener Systeme nicht mehr ausgeglichen werden. Wenn man nun Schädlichs Geschichte vom Sprachabschneider zugleich auch als eine parabolische Geschichte über bestimmte soziale Verhaltensweisen verstehen will, dann muss man das Gefuge sprachlicher Ordnungsformen und Konventionen mit dem Gefuge sozialer Handlungsmuster und Konventionen analogisieren. Ebenso wie sprachliche Konventionen als unausgesprochene, aber konstitutive Voraussetzungen intersubjektiver Verständigung anzusehen sind, so sind auch soziale Konventionen als unausgesprochene, aber konstitutive Prämissen des sozialen Lebens zu betrachten. So wie der kleine Paul nicht recht abschätzen kann, welche fatalen Folgen sich daraus ergeben, dass er einzelne Sprachformen als Handelsobjekte einsetzt, so machen wir uns oft auch nicht klar, welche fatalen Folgen sich daraus ergeben, dass wir einzelne ethische Prinzipien zu möglichen Handelsobjekten machen. Ebenso wie der Verzicht auf bestimmte grammatische und phonologische Sprachelemente die intersubjektive Verständigung nachhaltig stört, so stört auch der Verzicht auf bestimmte ethische Handlungsnormen das soziale Leben nachhaltig. In diesem Zusammenhang lässt sich nicht nur an die goldene Regel der Volks weisheit erinnern ( Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.), sondern auch an den kategorischen Imperativ von Kant. Dieser besagt, dass die Grundsätze des eigenen Handelns zugleich auch als Grundsätze einer allgemeinen Gesetzgebung dienlich sein sollen.26 Diese Problemlage lässt sich auch sehr gut an der persönlichen Lebensgeschichte von Hans-Joachim Schädlich exemplifizieren. Als er 1992 Zugang zu den Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR bekam, musste er feststellen, dass sein ältester Bruder ihn bespitzelt hatte.27 Offenbar hatte sich auch dieser nicht klar gemacht, dass er in einem Handel um kurzfristige persönliche Vorteile ein fundamentales Prinzip brüderlicher Beziehungen bzw. vertrauensvoller Kommunikation aufgegeben hatte, nämlich das Prinzip der Wahrhaftigkeit. Ihm scheint nicht bewusst gewesen zu sein, dass er damit zugleich auch eine grundlegende Prämisse jeglichen sozialen Lebens aufgegeben hatte, die letztlich auch seine eigenen Lebens- und Handlungsmöglichkeiten entscheidend
26 27
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52, Werke, Bd. 7, S. 51. Vgl. Interview mit H.J. Schädlich, „Niemand war gezwungen, das zu tun", in: W. Segebrecht (Hrsg.), Auskünfte von und über H.J. Schädlich, 1995, S. 27ff.
Der parabolische Gehalt der Geschichte
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beeinträchtigen musste. Schädlich hat deshalb im Zusammenhang mit der Bespitzelungsproblematik auch ausdrücklich betont, dass die Aufgabe ethischer Prinzipien bzw. die Bereitschaft zur Bespitzelung anderer sich nicht opportunistisch über die Kategorie des Zwanges entschuldigen oder gar rechtfertigen lasse. „Es gibt Leute in Ost-Deutschland, die sagen: ich war gezwungen, das zu tun. Ich war doch ein Professor an der Universität, und wenn ich das nicht getan hätte, dann hätte ich vielleicht meine Position als Professor verloren. - Ah, sehr gezwungen. Oder jemand sagt: ich war gezwungen, das zu tun, sonst hätte man mich doch nie studieren lassen. Ich wollte studieren ... Ich kenne andere Leute - und ich vertrete diesen Standpunkt auch - die sagen: Das ist kein Zwang; man muß nicht Professor sein. Man muß nicht unbedingt studieren, wenn der Preis dafür so hoch ist, daß man mit der politischen Geheimpolizei eines Polizeistaates zusammenarbeitet und seine eigenen Freunde und Verwandten verrät. - In dem Sinne sage ich, es wurde niemand gezwungen. Übrigens weiß ich, daß viele Leute sich geweigert haben, mit der Geheimpolizei zusammenzuarbeiten, und deshalb nicht studieren konnten ... Sie haben sich eben diesem 'Zwang' in Anführungszeichen nicht unterworfen, und sie sind deshalb nicht bestraft worden, nein. Sie hatten nur Nachteile in der Karriere oder bei der Höherstufung des Gehalts." 28
Beachtenswert ist, dass Hans-Joachim Schädlich sich selbst nicht opportunistisch verhielt. Er hat 1976 einen Protestbrief gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieben. Das hat ihn nicht nur seine Arbeitsstelle bei der Akademie der Wissenschaften gekostet, sondern hat auch zu einem allgemeinen Publikationsverbot seiner Bücher in der DDR geführt. Nach der Veröffentlichung seines Buches Versuchte Nähe in der Bundesrepublik wurde er als Staatsfeind behandelt und musste Ende 1977 nach West-Berlin umsiedeln. Nun hat Schädlich seine Geschichte vom Sprachabschneider aber nicht nur als Metapher für Opportunismus verstanden, sondern auch als eine für Zensur und Selbstzensur, was weniger leicht nachvollziehbar ist. Eine Deutungsmöglichkeit wäre, dass ein Handel, der gegen grundlegende soziale Normen verstößt, sich auch nicht dadurch legitimieren lässt, dass man betont, er sei im wechselseitigen Einvernehmen geschlossen worden und man müsse eingegangene Verpflichtungen wechselseitig respektieren. Das rechtliche und völkerrechtliche Prinzip, dass eingegangene Verträge einzuhalten seien (pacta sunt servanda), ist sicher ein unverzichtbares Prinzip rechtlicher Ordnungen und zwischenstaatlicher Beziehungen. Gleichwohl stellt sich dabei aber die Frage, ob durch dieses Prinzip auch diejenigen Verträge legitimiert werden, in denen der eine Vertragspartner die Unwissenheit, Leichtfertigkeit und Schwäche des anderen ausnutzt und keinen fairen Interessenausgleich zwischen beiden anstrebt. Deshalb muss zumindest bei der Konzipierung von Verträgen bedacht werden, welchen Grad von Zensur und
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H.J. Schädlich, a.a.O., S. 31.
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Schädlichs Sprachabschneider
Selbstzensur sich die jeweiligen Partner durch die Verträge aufzuerlegen haben und wie man sich eventuell zur Wehr setzen kann, wenn die Abmachungen Folgen zeitigen, die die Vertragspartner beim Abschluss der jeweiligen Verträge nicht bedacht oder nicht intendiert haben. Die Geschichte vom Sprachabschneider thematisiert vordergründig, welche kommunikativen Probleme sich ergeben, wenn man auf bestimmte Typen sprachlicher Zeichen verzichtet. In diesem Denkrahmen regt die Geschichte zweifellos dazu an, sich eine genaue Rechenschaft darüber abzulegen, welche Formen von Zeichen und Strukturordnungen die Verbalsprache konstitutiv prägen. Hintergründig thematisiert sie aber zugleich auch sehr komplexe und umfassende semiotische, kulturelle und soziale Strukturordnungen bzw. Ordnungshierarchien. Sie zeigt, dass sich aus miteinander vernetzten Strukturordnungen nicht willkürlich bestimmte Teile herausbrechen lassen, ohne die Funktionalität des ganzen Ordnungssystems zu zerstören, und dass auch diejenigen Strukturordnungen sehr wichtig sein können, über deren Besonderheit, Reichweite und Funktionalität wir kein klares Gegenstandsbewusstsein haben. Sie zeigt weiter, dass auch das, was wir fur marginal halten bzw. was wir aus opportunistischen Gründen gerne als marginal ansehen möchten, eine ganz besondere soziale Relevanz haben kann.
XIV Die Genese und Leistung von Zeichen
Zeichen Manchmal überfällt uns ein Duft mitten in einem Fest. Aber es ist nicht der Duft. Manchmal erblickst du in einem Saale ein Bild. Du erstarrst. Aber es ist nicht das Bild. Manchmal berührt deinen Arm eine Hand. Und du bebst. Aber es ist nicht die Hand. Du suchst einen Namen. Aber der Name ist es nicht. 1964'
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Hans-Joachim Haecker, Zeichen, in: H.-J. Haecker, Lautloser Alarm, Gedichte, Calatra Press 1977
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Die Genese und Leistung von Zeichen
1. Zur Wahl des Textes Das Zeichengedicht von Hans-Joachim Haecker scheint auf den ersten Blick nicht recht in die hier zusammengestellte Sammlung von Texten zur narrativen Sprachreflexion zu passen. In ihm wird keine kohärente Geschichte erzählt, sondern es werden eher einzelne Erlebnisse dargestellt, die nur in einem sehr allgemeinen Zusammenhang miteinander stehen. Inhaltlich geht es primär nicht um die Sprache, sondern vielmehr um die Frage, welche Erfahrungen bzw. Sachverhalte potenziell als Zeichen verstanden werden können. Das Zeichenproblem wird dabei auch weniger als ein kommunikatives, sondern eher als ein phänomenologisches Problem ins Auge gefasst, da es nicht um die intersubjektive Verständigung mittels Zeichen geht, sondern vielmehr um die Frage, unter welchen Bedingungen eine Sacherfahrung zugleich auch als eine Zeichenerfahrung verstanden werden kann. Auch die sicher nicht unwichtige Unterscheidung von sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen findet keine direkte Aufmerksamkeit, sondern wird allenfalls am Ende des Gedichtes als Problembereich angedeutet. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Gründen, dieses Gedicht im Rahmen der hier entwickelten Erkenntnisinteressen etwas genauer zu betrachten. Es eröffnet nämlich die Möglichkeit, sich dem Phänomen Sprache über das Phänomen Zeichen auf eine unbegriffliche Art und Weise zu nähern. Die Gründe, die in diesem Zusammenhang fur die Behandlung des Gedichts geltend gemacht werden können, liegen zwar auf recht unterschiedlichen Ebenen, aber ihre Relevanz wird dadurch nicht geschwächt. Erstens lässt sich die Einbeziehung dieses Gedichts in die hier thematisierten Problemzusammenhänge dadurch motivieren, dass es am Ende einer Reihe von Texten zur Erläuterung der Funktion der Sprache in Wahrnehmungs-, Denk- und Kommunikationsprozessen steht. An diesem Ort rechtfertigt es sich sicher am besten, den Blick auf sehr grundsätzliche Probleme der Zeichentheorie zu richten, um den Stellenwert sprachlicher Zeichen in der Welt der Zeichen zu kennzeichnen. Zweitens lässt sich diese Textwahl dadurch begründen, dass in dem Gedicht sehr eindrucksvoll auf das Problem der Zeichengenese aufmerksam gemacht wird bzw. darauf, unter welchen Bedingungen wir konkrete Wahrnehmungsinhalte nicht als bloße Gegebenheiten, sondern als Zeichen verstehen können. Auch wenn wir unser Hauptinteresse auf sprachliche Zeichen konzentrieren, kommen wir um die grundsätzliche Frage nicht herum, was in der Sprache potenziell alles als Zeichen verstanden werden kann. Die übliche Identifizierung von sprachlichen Zeichen mit Wörtern ist nämlich viel zu simpel, da dann die unselbstständigen grammatischen Morpheme, die syntaktischen Muster, die Auswahl und die Abfolge von Wörtern, die bildliche und
Zur Wahl des Textes
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begriffliche Redeweise und vieles andere mehr nicht als sprachliche Zeichen in Erscheinung treten. Alle Informationen, die wir aus dem Stil eines Textes entnehmen können, wären dann nicht mehr im Fokus unserer Aufmerksamkeit. Auch im Rahmen der Sprache stoßen wir immer wieder auf das Problem, ob wir bestimmte sprachliche Wahrnehmungsinhalte als bloße Gegebenheiten verstehen sollen oder als Ausgangspunkte fur eine Zeichenrelation, durch welche auf etwas von diesen Gegebenheiten Unterscheidbares verwiesen wird. Drittens kann man die nähere Betrachtung des Zeichengedichts auch deshalb für sinnvoll erachten, weil es indirekt auf die ontologischen, anthropologischen und pragmatischen Dimensionen der Zeichenproblematik aufmerksam macht. Es schärft unseren Blick nicht nur für das Problem, welche Phänomene potenziell Zeichencharakter bekommen können, sondern auch dafür, welcher Unterschied zwischen den natürlichen und den kulturell entwickelten Zeichen besteht. Viertens ist das Gedicht hilfreich, weil in ihm auf etwas verdeckte Weise auf die Vorgeschichte sprachlicher Zeichen aufmerksam gemacht wird. In ihm wird nicht explizit zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen unterschieden bzw. zwischen solchen Zeichen, die intentional verwendet werden, und solchen, die unter bestimmten Bedingungen spontan als Zeichen verstanden werden können. Das zwingt uns dazu, uns Rechenschaft darüber ablegen, welches Funktionsprofil sprachliche Zeichen im Kontrast zu anderen Zeichen besitzen. Fünftens macht uns das Gedicht darauf aufmerksam, dass wir dieselben Phänomene anders wahrnehmen, je nachdem, ob wir sie als von uns getrennte Objekte betrachten oder als irgendwie auf uns bezogene Tatbestände erleben. Wenn wir Phänomene als Objekte bloß beobachten, dann versuchen wir, unsere Wahrnehmungsergebnisse an intersubjektive Standards zu binden und in einer terminologisch regulierten Sprache darzustellen. Wenn wir Phänomene als auf uns bezogene Tatbestände erleben, dann erweisen sich unsere standardisierten Wahrnehmungsmuster in der Regel als unzulänglich, weil sie unseren individuellen Wahrnehmungsinteressen und Wahrnehmungsperspektiven meist keinen befriedigenden Ausdruck geben können. Unter diesen Bedingungen müssen wir unsere sprachlichen Objektivierungsformen gleichsam neu ausbilden, damit sie unseren individuellen Sinnbildungsanstrengungen gerecht werden können. Allerdings dürfen wir uns dabei nur in einem beschränkten Maße von den standardisierten Objektivierungsmustern lösen, wenn wir uns noch intersubjektiv verständlich machen wollen und wenn unser Denken an den pragmatisch bewährten Sprachformen einen Halt finden soll. Nachdem in unserer Kultur das Zeichenproblem über zweieinhalbtausend Jahre immer wieder begrifflich thematisiert worden ist, verdient es eine besondere Aufmerksamkeit, dass Haecker es auf eine nicht-begriffliche lyrische Weise zum Thema gemacht hat. Wenn man dahinter keine Resignation mit einem aggressiven Unterton sehen möchte, dann kann man dieses Verfahren
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auch als Ausdruck der Einsicht werten, dass ein so komplexes Thema nur auf komplementäre Weisen polyperspektivisch ins Auge gefasst werden kann. Zu einer tendenziell resignativen Beurteilung der Ergebnisse begrifflicher Zeichenreflexion könnte man kommen, wenn man das philosophischbegriffliche Denken als eine Spätform des Denkens ansieht, das kaum noch lebendigen Kontakt zu seinen Gegenständen hat, weil es diesen nicht mehr in originaler, sondern nur noch in kulturell und sozial vermittelter Weise begegnet. Hegel hat das in einem sehr eindrucksvollen Bilde verdeutlicht: „ Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."2 Zu einer etwas anderen Beurteilung der Lage kommt man, wenn man die begriffliche und die sinnbildliche Objektivierung der Zeichenproblematik als sich ergänzende Verfahren ansieht, die sich wechselseitig bedingen und herausfordern. Das sinnbildliche Objektivierungsverfahren hat dann den Charme, uns ein bestimmtes Gegenstandsfeld auf eine sehr elementare und ursprüngliche, wenn auch auf eine etwas vage und ungesicherte Weise zugänglich zu machen. Es bietet nämlich die Chance, etwas nicht gleich durch die Brille überlieferter begrifflicher Denkmuster zu sehen, die spezifische Erlebnisweisen und Erkenntnisinteressen notwendiger Weise standardisieren und nivellieren. Zwar ist jede Wahrnehmung theoriegetränkt, weil sie immer von bestimmten Wahrnehmungsmustern und Wahrnehmungstraditionen geprägt ist, aber die Intensität dieser Theoriegeprägtheit bzw. dieser vorgegebenen perspektivischen Orientierung kann erheblich variieren. Da sinnbildliche Objektivierungen immer mit dem Analogieprinzip arbeiten, haben sie hinsichtlich ihrer informativen Präzision große Schwächen. Ihre Stärken bestehen demgegenüber darin, eine umfassende Grundorientierung zu verschaffen und die jeweils betrachteten Phänomene als eigenständige und widerborstige Phänomene ernst zu nehmen, die man nicht allzu leichtfertig und schnell auf den Begriff bringen sollte.
2. Die Struktur des Gedichtes Zum Sinnprofil lyrischer Texte gehört es, dass in ihnen eine Thematik weder begrifflich noch narrativ entfaltet wird, sondern bildlich bzw. ikonisch. Dabei ist dann insbesondere zu berücksichtigen, dass in solchen Texten alles Beobachtbare und damit natürlich auch die formalen sprachlichen Gestaltungsstrukturen im hohen Maße Zeichencharakter bekommen und somit eine konstitutive Funktion in Sinnbildungsprozessen. Lyrische Sprachformen sind deshalb noch 2
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, Werke, 1985, Bd. 7, S. 28.
Die Struktur des Gedichtes
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weniger als alle anderen Sprachformen als bloße Mitteilungsformen anzusehen, mit denen eine bestimmte Sachinformation mittels konventionalisierter Zeichen von Α nach Β übertragen wird. Sie sind vielmehr als Verwendungsformen von Sprache zu betrachten, in denen diese in umfassender Weise als Sinnbildungsmittel erprobt wird. Das bedeutet, dass der lyrische Sprachgebrauch ein Sprachspiel mit sehr hohen Freiheitsgraden und einem sehr hohen Innovationspotenzial ist.
Formmerkmale In unserem Gedicht ist offenkundig, dass das sprechende Ich seine wesentlichen Aussagen bzw. seine grundlegenden Beobachtungen so gestaltet, dass sie weder als neutrale Sachaussagen noch als individuelle Erlebnisaussagen in Erscheinung treten. Sie erscheinen vielmehr als Aussagen, die als Teile eines Dialogs wahrgenommen werden sollen bzw. als Teile einer Sinnbildungsanstrengung, in die auch der jeweilige Rezipient einbezogen ist. Lediglich die abschließenden Schlussfolgerungen in den einzelnen Strophen, die mit der adversativen Konjunktion aber eingeleitet werden und die eine nahe liegende Interpretation der jeweiligen Wahrnehmungen ausschließen sollen, sind nicht als Anreden an einen Partner formuliert, sondern vielmehr als negierte allgemeine Aussagen. Diese Formstruktur ist sicherlich nicht unerheblich für das, worum es inhaltlich in dem Gedicht geht. Auf diese Weise kann nämlich indirekt darauf aufmerksam gemacht werden, dass Zeichen ihre Genese im Prinzip weder dem Bedürfiiis verdanken, Dinge oder Sachverhalte abzubilden, noch dem Bedürfnis, etwas für individuelle Erinnerungsprozesse zu benennen, sondern vielmehr dem Ziel, intersubjektiv nachvollziehbare Interpretationen von Erfahrungen zu objektivieren. Durch diese Akzentuierung des dialogischen Ursprungs von Zeichen wird zugleich mitpostuliert, dass Zeichen prinzipiell einen intersubjektiven Charakter haben müssen und deshalb als soziale Phänomene zu bewerten sind. Damit wird indirekt ein Zeichenverständnis negiert, dass dahin tendiert, Zeichen als bloße Stellvertreter fur an sich existierende Begriffe oder Dinge zu verstehen. Zeichen, seien es nun sprachliche oder nicht-sprachliche Zeichen, gewinnen so gesehen ihre Legitimität und ihren Wert eigentlich nicht aus ihrem Bezug zu der Welt der Dinge und Sachverhalte, sondern vielmehr aus ihrem Bezug zu der Welt der Differenzierungsanstrengungen, der Sinnbildungsbedürfiiisse und der Verstehensziele der Menschen. Sie sind nämlich letztlich nicht Zeichen für Dinge, sondern Zeichen für Menschen, die Kontakt zur Welt der Dinge herstellen wollen bzw. die ihre Erfahrungen in größere Kontexte einordnen möchten. Die entstehungsgeschichtliche Verankerung von Zeichen in dialogischen Strukturen, in denen der jeweilige Partner sowohl die Welt als auch ein ande-
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res Individuum sein kann, ist zugleich als eine Verankerung von Zeichen in pragmatischen Strukturen zu verstehen. Dieser Denkansatz stellt prinzipiell in Frage, dass es perspektivisch sinnvoll ist, die Zeichenproblematik auf eine Benennungs- bzw. Konventionsproblematik zu verkürzen. In der letzten Strophe, die sich durch ihre Zweizeiligkeit auch von den übrigen dreizeiligen Strophen absetzt, wird versucht, ein gewisses Fazit zu ziehen. Es wird erwogen, ob die namentliche Benennung von sinnlichen Einzelerfahrungen, die als Zeichen verstanden werden, die Unruhe aufheben kann, die im Prinzip immer mit Zeichen verbunden ist. Aber dieser Gedanke wird gleich wieder als untauglich verworfen. Namen bzw. Benennungen können die Verweisungspotenziale von Zeichen nicht zusammenfassend fixieren. Für die Form des Gedichtes ist weiterhin wichtig, dass es narrative Implikationen hat. In allen Strophen spielen Handlungs- und Vorgangsverben (überfallen, erblicken, erstarren, berühren, beben, suchen) eine konstitutive Rolle. Durch sie wird auf ablaufende Prozesse verwiesen, die eine natürlich Nähe zu narrativen Objektivierungsweisen haben. Zustandsverben, die statische Verhältnisse kennzeichnen, fehlen. Nur bei den Schlussfolgerungen in den letzten Zeilen der einzelnen Strophen wird auf das Kopulaverb sein zurückgegriffen, das dazu dient, eine allgemeine logische Relation zu benennen. Aufschlussreich ist auch, dass die abschließenden Aussagen von der Denkfigur der Negation Gebrauch machen. Dadurch kann verdeutlicht werden, dass nur der Ausschluss einer ganz bestimmten Wahrnehmungsweise von konkreten Erfahrungen eine zeitenthobene Gültigkeit beanspruchen kann und dass alle anderen Interpretationen prinzipiell in Betracht gezogen werden können. Zu beachten ist auch, dass bei den beschreibenden Aussagen nicht das erzählende und distanzierende Präteritum verwendet wird, sondern das Präsens. Dieses kann in vielen Hinsichten als zeitneutrales Tempus angesehen werden, dass lediglich eine Aussagefunktion hat, weshalb es auch in allen allgemeingültigen Aussagen bzw. in Definitionen Verwendung findet (Sonnenstrahlen bringen Wärme. Wale sind Säugetiere.). In unserem Fall ist der Präsensgebrauch in den beschreibenden Sätzen aber nicht in dem Sinne zu verstehen, dass mit seiner Hilfe zeitenthobene allgemeine Aussagen gemacht werden sollen, sondern vielmehr in dem Sinne, dass mit seiner Hilfe etwas psychisch unmittelbar ins Bewusstsein gebracht werden soll. Der Präsensgebrauch hat hier dementsprechend im Kontrast zu allen übrigen Tempusformen eine aktualisierende Vergegenwärtigungsfunktion. Im Prinzip wäre es denkbar, die jeweiligen Beschreibungssätze im Präteritum zu formulieren und auf diese Weise mit den schlussfolgernden Sätzen im Präsens zu kontrastieren. Aber dadurch würden die einzelnen Aussagen den Charakter von erinnernden Rückblicken bekommen, die in einer relativ großen psychischen Distanz wahrgenommen würden. Das Präteritum wäre zur sprachlichen Gestaltung der hier thematisierten Problemzusammenhänge recht ungeeignet, weil es als Erzähltempus eher zu distanzierten Kontemplationen als zu
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lebendigen Vergegenwärtigungen einlüde. In den beschreibenden Sätzen könnte im Prinzip auch das Perfekt verwendet werden. Aber dadurch käme es nicht nur zu isolierenden Einzelbehauptungen, sondern auch zu einer perfektiven Akzentuierung der einzelnen Wahrnehmungen, die deren empirische Faktizität stärkten und deren zeichenhaften Charakter schwächten. Die ersten drei Strophen haben formal gesehen die gleiche Mitteilungsfunktion. Drei unterschiedliche Sinneserfahrungen (olfaktorische Dufterfahrung, visuelle Bildererfahrung, taktile Berührungserfahrung) werden gemacht, die alle gemeinsam haben, dass sie nicht nur als bloße Sinneserfahrungen verstanden werden, sondern zugleich auch als spezifische Zeichenerfahrungen. Allerdings bleibt offen, auf was durch diese Zeichen jeweils verwiesen wird. In der letzten Strophe wird das Bedürfnis thematisiert, dasjenige, worauf die einzelnen Wahrnehmungsinhalte verweisen, auch mit einem Namen zu benennen und damit begrifflich einzuordnen. Aber dieser Gedanke wird gleich wieder als nicht tragfähig verworfen. Dafür ist offenbar die Einsicht maßgeblich, dass die Benennung mit einem Namen zunächst nicht mehr ist als eine bloße verbale Etikettierung einer spezifischen Sinneserfahrung und dass die Frage nach dem Inhalt dessen, worauf die einzelnen Sinneserfahrungen faktisch verweisen, noch nicht beantwortet ist. Auffallig ist in diesem Zusammenhang, dass nur der Geruchssinn, der Sehsinn und der Tastsinn angesprochen werden, aber nicht der Geschmackssinn und der Hörsinn. Die Aussparung des Geschmackssinns könnte noch dadurch motiviert sein, dass man ihn als eng verwandt mit dem Geruchssinn ansehen kann. Die Aussparung des Hörsinns ist dagegen nicht so leicht zu begründen oder gar zu rechtfertigen. Er hat sicher eine sehr viel größere Eigenständigkeit und pragmatische Relevanz als der Geschmackssinn, da er auch der primäre Sinn für die Erfassung sprachlicher Zeichen ist. Seine Aussparung ließe sich nur dadurch erklären, dass er in der letzten Strophe indirekt angesprochen wird, in der es um die Suche nach objektivierenden Namen für die Zeichenfunktionen von Sinneserfahrungen geht. Außerdem ließe sich vielleicht auch noch darauf verweisen, dass der Hörsinn in stärkerem Maße als die anderen Sinne auf die Wahrnehmung von künstlichen Zeichen spezialisiert ist, unter denen die sprachlichen Zeichen natürlich eine ganz besonders dominante Rolle spielen.
Thematische Schwerpunkte Aus den Hinweisen auf die Formstruktur des Gedichts und aus den thematisierten Zeichenexempeln lässt sich ableiten, dass Haecker die Zeichenproblematik primär nicht im Hinblick auf künstliche Zeichen bzw. gesellschaftliche Konventionen ins Auge zu fassen versucht, sondern vor allem im Hinblick auf die menschliche Fähigkeit, empirische Erfahrungsinhalte unterschiedlicher Art
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nicht nur als solche wahrzunehmen, sondern zugleich auch als Zeichen. Daraus lässt sich wohl schließen, dass er natürliche Zeichen als elementarer ansieht als artifizielle und dass er der Meinung ist, dass man die Genese und die Funktionsmöglichkeiten künstlicher Zeichen besser versteht, wenn man zuvor die Struktur natürlicher Zeichen verstanden hat. Trotz dieser Zentrierung der Aufmerksamkeit auf natürliche Zeichen wird man Haecker nicht vorwerfen können, die sozialen und kulturellen Dimensionen der Zeichenproblematik unbeachtet zu lassen. Diesbezüglich ist nämlich zu berücksichtigen, dass er das Zeichenproblem im Rahmen einer dialogischen Mitteilungsweise thematisiert. Dadurch wird indirekt darauf aufmerksam gemacht, dass etwas letztlich nur dann als Zeichen verstanden wird, wenn diese Erfahrung auch von anderen geteilt werden kann. Weiterhin wird betont, dass jede subjektive Zeichenerfahrung eine immanente Tendenz hat, durch die Zuordnung eines Zeichennamens objektiviert und stabilisiert zu werden. Zwar wird gesagt, dass solche Benennungen die Zeichenerfahrung nicht zu einem Abschluss zu bringen vermögen, aber der Wunsch nach einer Zeichenbenennung ist doch ein Indiz dafür, dass Zeichen ihren genuinen Platz nicht in individuellen Erfahrungs- und Kontemplationsprozessen haben, sondern in intersubjektiven Verständigungsprozessen. Ein Wissen, das nicht auch von anderen erfasst und anerkannt werden kann, hat allenfalls einen vorläufigen Wert. Wissen will immer intersubjektiv gültiges Wissen sein. Der methodische Ansatz, Überlegungen zur Zeichenproblematik bei natürlichen Zeichen beginnen zu lassen, lässt sich auch anthropologisch rechtfertigen. Wenn man einmal von der Verbalsprache und den gestischen und mimischen Zeichen absieht, die im Alltagsverständnis kaum als künstliche Zeichen wahrgenommen werden, so lässt sich feststellen, dass die Menschen sich sehr früh mit der Notwendigkeit konfrontiert sahen, die Zeichen der Natur zu verstehen, um zu überleben. Man musste erkennen, was ein Zeichen für Gefahr, für Essbarkeit oder für Krankheit war, weil man sonst in evolutionären Siebungsprozessen keine Chance hatte. Allerdings ist natürlich auch zu beachten, dass kulturelle Zeichensysteme sich in einem sehr hohem Maße im Kontext der Interpretation natürlicher Zeichensysteme herausgebildet haben und dass die Genese künstlicher Zeichen kaum zu verstehen ist, wenn man keine Bezüge zur Struktur natürlicher Zeichen herstellt. Davon legt beispielsweise die Arbeitsweise der römischen Auguren und das Konzept vom Buch der Natur ein beredtes Zeugnis ab. Auch bei der Entwicklung der Schriftzeichen in den Begriffsschriften zeigt sich deutlich, wie eng konventionelle Zeichensysteme ursprünglich mit natürlichen zusammenhängen. Die Frage nach dem Zusammenhang bzw. Überschneidungsfeld von natürlichen und künstlichen Zeichen wird in dem Gedicht von Haecker nicht explizit thematisiert. Sie ergibt sich aber mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, wenn man dessen Denkfaden weiterspinnt und danach fragt, unter welchen
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Umständen man sinnlich fassbare Phänomene als Zeichen identifizieren und deuten kann. Dieses Problem stellt sich im Rahmen der Verbalsprache insbesondere in der poetischen Sprache. Gerade hier ist es offensichtlich, dass es nicht ausreicht, das Repertoire sprachlicher Zeichen mit dem Repertoire von Wörtern zu identifizieren, weil die Klanggestalt von Wörtern, die lineare Anordnung von Wörtern, der Sprachrhythmus, die syntaktischen Muster, der Metapherngebrauch u.v.m. als sprachliche Zeichen mit einer spezifischen Sinnbildungsfunktion wahrnehmbar werden. Wenn man klären will, welche beobachtbaren Phänomene im Rahmen der Sprache Zeichencharakter haben bzw. wie sich konventionelle Zeichen aus natürlichen entwickeln, so ist es hilfreich, wenn man sich vorab Rechenschaft darüber abzulegen versucht, was man unter dem Begriff des Zeichens verstehen möchte bzw. welche Dimensionen man dem Zeichenbegriff zuordnen will. Dabei kommen dann natürlich zwangsläufig auch wieder semiotische Überlegungen zur Sprache, die bei den Interpretationen der anderen Texte, in denen es ja auch immer wieder um Zeichenprobleme ging, schon thematisiert worden sind. Diese Überlegungen lassen sich hier aber auf systematische Weise abschließend bündeln.
3. Die Zeichenproblematik Solange wir verbale und nicht-verbale Zeichen erfolgreich verwenden, solange stellt sich nicht die Frage, wie wir Zeichen von Nicht-Zeichen unterscheiden können. Diese Frage ergibt sich erst, wenn wir Zeichen missverstanden haben oder unsicher sind, ob ein bestimmter Wahrnehmungsinhalt als Hinweis auf etwas von ihm Unterscheidbares zu verstehen ist oder nicht. Unter diesen Umständen haben wir zu klären, welche Erfahrungsphänomene wir als Zeichen ansehen können (Umfang des Zeichenbegriffs) und welche Eigenschaften alle Phänomene haben müssen, um als Zeichen gelten zu können (Inhalt des Zeichenbegriffs). In genau diese Unsicherheits- und Reflexionssituation führt uns Haecker mit seinem Gedicht. Bezeichnend ist dabei allerdings, dass er seine Frage nach den Zeichen nicht mit dem Problem des Missverstehens von Zeichen verknüpft, sondern vielmehr mit dem Problem, unter welchen Umständen wir dazu disponiert sind, bestimmte Erfahrungsinhalte nicht nur als bloße Gegebenheiten in der Welt wahrzunehmen, sondern vielmehr als Gegebenheiten, die auf etwas anderes verweisen. Diese Verlagerung des Erkenntnisinteresses von der Frage nach dem Mitteilungswert von Zeichen auf die Frage nach der Genese und den potenziellen Verweisungsfunktionen von Zeichen hat wichtige Konsequenzen für die Wahrnehmung des ganzen Problemfeldes. Dadurch wird nämlich verhindert, dass sich unser Hauptinteresse an der Zeichenproblematik gleich auf die Konventions- und Kodeproblematik richtet und nicht auf die
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fundamentale Frage, unter welchen Rahmenbedingungen wir bestimmte Wahrnehmungsinhalte nicht nur als bloße Fakten, sondern vielmehr als Zeichen wahrnehmen. Aus diesem Denkansatz ergibt sich im Hinblick auf sprachliche Zeichen, dass wir diese nicht gleich als Phänomene ansehen sollten, die kraft Konvention bestimmte Informationen von der Person Α zu der Person Β übertragen. Vielmehr werden wir dazu angeregt, Zeichen aller Art als Phänomene zu betrachten, die wegen ihrer Repräsentationsfunktion zwischen der Welt der Objekte und der Welt der Subjekte vermitteln. Dieser Denkansatz erleichtert es auch, die Frage nach den sprachlichen Zeichen nicht auf die Frage nach der Existenz und der Bedeutung von einzelnen Wörtern zu reduzieren, sondern prinzipiell in Betracht zu ziehen, dass in der Sprache Beobachtungstatbestände auf ganz unterschiedlichen Ebenen (Lexik, Grammatik, Intonation, Textgestaltung) prinzipiell Zeichencharakter bekommen können, wenn wir sie als Hinweise auf etwas anderes rezipieren können. Außerdem macht uns das Zeichengedicht von Haecker auch nachdrücklich darauf aufmerksam, dass Zeichen nicht nur auf Sachverhalte verweisen, sondern auch auf die Menschen, die sie verwenden. Auf diese Weise wird unser Blick dafür geschärft, dass Zeichen immer auch personale Bezüge haben, weil sie sowohl Indizien für die Denkprozesse des jeweiligen Sprechers sind als auch Mittel, die Denkprozesse der jeweils Angesprochenen zu lenken. Zeichen interpretieren die Welt, aber sie sind wegen ihrer vielfältigen Funktionen zugleich auch selbst immer interpretationsbedürftig.
Die ontologischen Aspekte von Zeichen Unser alltägliches Zeichenverständnis ist zweifellos tief von dem Gedanken der Stellvertretung geprägt. Es hat seinen klassischen Ausdruck in der mittelalterlichen Formel gefunden, dass etwas für etwas anderes stehe (aliquid stat pro aliquo). Diese Definitionsformel erscheint insbesondere im Hinblick auf künstliche bzw. konventionell etablierte Zeichen sehr plausibel. In der Tat verwenden wir den Ausdruck H20 als Stellvertreter für den Begriff bzw. das Phänomen Wasser und das Wort Pferd als Stellvertreter für eine bestimmte Klasse von Säugetieren. Genau betrachtet zeigt sich aber, dass eine solche Bestimmung von Zeichen noch sehr viele Fragen offen lässt und insbesondere den ontologischen Status von Zeichen nicht zureichend klärt. Der Stellvertretungsgedanke könnte die Auffassung nahe legen, ein Zeichen mit dem zu identifizieren, was als sinnlich fassbare Größe eine verweisende Funktion auf etwas anderes hat. Diese Auffassung lässt sich bei genauerer Analyse aber nicht halten. Diese Größe kann nur als Teilaspekt eines Zeichens bzw. als Zeichenträger bestimmt werden, wenn man den Gedanken der Verweisung zur Grundlage des Zeichenkonzeptes macht. Ein Zeichen kann
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unter diesen Umständen dann nämlich nicht als eine substanzielle, sondern nur als eine relationale Größe betrachtet werden. Es kann nicht als Ding unter Dingen verstanden werden, sondern nur als ein Phänomen, bei dem sich etwas sinnlich Anwesendes mit etwas geistig Anwesendem auf ganz spezifische Weise ineinander verschränkt. Ontologisch müssen wir Zeichen als Relationsphänomene qualifizieren, bei denen Teilgrößen in einem bestimmten Korrelations- und Spannungsverhältnis zueinander stehen. In der Regel werden deshalb Zeichen theoretisch entweder als zweistellige (bilaterale, dyadische) oder als dreistellige (trilaterale, triadische) Relationsphänomene modelliert. Zeichenmodelle, die mehr als drei konstitutive Faktoren postulieren, werden meist so unübersichtlich, dass sie ihre heuristischen Funktionen und damit natürlich auch ihren pragmatischen Erklärungswert verlieren. Wenn wir Zeichen als zweistellige Relationsgebilde verstehen, dann liegt natürlich die Vorstellung nahe, die Korrelation zwischen Zeichenträger und Zeicheninhalt auf etwas mechanische Weise entweder als einen natürlichen Zusammenhang zu verstehen, der sich auf Ähnlichkeit, Kausalität oder Implikationen gründet, oder als einen konventionellen Zusammenhang, der auf Tradition, Verabredung oder Definition beruht. Das Modell für sprachliche Zeichen von de Saussure kann in dieser Hinsicht als exemplarisch für zweistellige Zeichenkonzepte angesehen werden. Hier ist ein Bezeichnendes kraft sozialer Konvention so fest mit einem Bezeichneten verbunden, wie die Vorder· und Rückseite eines Blattes Papier. Die sozialen Konventionen, die der Zeichenbildung zu Grunde liegen, haben für ihn den Status sozialer Tatsachen, die die einzelnen Sprachbenutzer genauso zu respektieren haben wie physische bzw. empirische Tatsachen. Deshalb bieten zweistellige Zeichenmodelle strukturell und tendenziell kaum Spielräume, die beiden Teilgrößen selbst bzw. die Korrelation zwischen ihnen als variabel anzusehen. Dreistellige Zeichenmodelle sind diesbezüglich sehr viel flexibler, weil dreistellige Korrelationen von vornherein mechanische Zuordnungsrelationen erschweren und weil sie in der Regel Zeichen weniger als Manifestationsformen von sozialen Konventionen ansehen, sondern eher als Manifestationsformen von Sinnbildungsanstrengungen. Das Gedicht von Haecker macht uns sehr nachdrücklich darauf aufmerksam, dass wir über das Konzept sozialer Konventionen keinen fruchtbaren Zugang zu den Grundlagen der Zeichenproblematik finden bzw. zu dem, worauf Zeichenträger verweisen. Der Duft, das Bild, die Berührung durch eine Hand und der Name werden zwar als Zeichenträger wahrgenommen, aber keine soziale Konvention sagt uns, was diese konkret zu bedeuten haben. Fest steht nur, dass das jeweils sinnlich Erfasste sich nicht darin erschöpft, als gegebene Tatsache (factum brutum) wahrgenommen zu werden, sondern dass die jeweiligen Wahrnehmungsinhalte auf etwas verweisen, was sie selbst nicht schon sind. Sie treten nur als Ausgangspunkte von Brücken in Erscheinung, von denen nicht klar ist, wozu sie Zugang gewähren.
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Gerade dadurch, dass in dem Gedicht nur eine Relationsgröße von Zeichen angesprochen wird und dass diese ausdrücklich als ungesättigte Teilgröße einer komplexeren Größe thematisiert wird, werden wir auf indirekte Weise darauf aufmerksam gemacht, dass Zeichen ontologisch als Relationsgebilde zu werten sind, die ihrer Bestimmung erst dann gerecht werden können, wenn sich die Größe bzw. die Größen in unserem Bewusstsein konkretisiert haben, für die der jeweilige Zeichenträger eine bestimmte Erwartungshaltung ausgelöst hat. Außerdem wird durch den Umstand, dass das sprechende Ich ein anderes Ich (alter ego) anspricht, auch darauf aufmerksam gemacht, dass Zeichen nicht nur Bezüge zur Welt der Objekte zu stiften versuchen, sondern auch solche zur Welt der Subjekte. Das bedeutet, dass Zeichen nicht nur als Phänomene zu betrachten sind, die uns einen Weg zum Verstehen der Welt eröffnen, sondern auch einen Weg zum Verständnis von Subjekten und intersubjektiven Sinnbildungsanstrengungen. Wenn man Zeichen als Relationsphänomene versteht, dann ergibt sich insbesondere im Hinblick auf bilaterale Zeichenkonzepte ein weiteres ontologisches Basisproblem. Soll man die Größe, auf die ein Zeichenträger als Zeicheninhalt verweist, als eine autonome, vorab existierende Größe mit klaren Begrenzungen verstehen, die nur darauf wartet, von einem Zeichenträger repräsentiert zu werden, oder soll man darunter eine Größe verstehen, die erst durch die Zeichenbildung selbst Gestalt und Kontur gewinnt. Diese Frage ist nicht nur aktuell, wenn wir natürliche und künstliche Zeichen zu unterscheiden versuchen, sondern gewinnt auch bei der Diskussion konventioneller Zeichen eine große Bedeutsamkeit. Bilaterale Zeichenkonzepte können nämlich im Prinzip durchaus akzeptieren, dass das, worauf ein Zeichenträger verweist, keine vorgegebene ontische Größe ist, sondern ein Konstitut der Zeichenbildung selbst. Das ist nun allerdings nicht so zu verstehen, dass diese Größe durch die Zeichenbildung selbst auf gleichsam magische Weise erzeugt wird, sondern nur so, dass durch die jeweilige Zeichenkonvention bestimmt wird, wie etwas fur die jeweiligen Zeichen Verwender perspektivisch in Erscheinung tritt und damit als Vorstellungsgröße konkret wird bzw. sich von anderen Vorstellungsgrößen abgrenzt. Typisch für die bilateralen Zeichenkonzepte ist nun allerdings, dass sie insbesondere bei künstlichen Zeichen die Konstitution von Zeicheninhalten als Ergebnis kultureller Differenzierungsanstrengungen in das Vorfeld der eigentlichen Zeichenwahrnehmung und Zeichennutzung verlegen. Bei natürlichen Zeichen gibt es eine starke Tendenz, die jeweiligen Zeicheninhalte als stabil vorgegebene Größen anzusehen, die mit dem Prozess der Zeichennutzung und des Zeichenverständnisses selbst nicht viel zu tun haben. Als Zeichen werden im Denkrahmen von bilateralen Zeichenkonzepten im Prinzip nur solche Phänomene anerkannt, bei denen ein Zeichenträger auf allgemein anerkannte Weise vorgegebene Zeicheninhalte repräsentiert, wobei es dann eine zweitrangige Frage ist, ob diese Korrelation natürlich oder konventionell legitimiert ist.
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Deshalb eignen sich bilaterale Zeichenmodelle auch sehr gut dazu, um die Struktur von Zeichen modellhaft zu erfassen, die traditionell als Symptome, Abbilder oder Fachtermini klassifiziert werden. Wenn Haecker nun in seinem Gedicht einen Duft, eine Handberührung, ein Bild und einen Namen als Zeichenträger thematisiert, dann könnte durchaus die Vermutung nahe liegen, dass diese Phänomene im Prinzip auf ontisch fest vorgegebene Zeicheninhalte verweisen, die bedauerlicherweise nur noch nicht zureichend bekannt sind. Aber gerade diese Vorstellung wird in dem abschließenden Satz jeder Strophe immer wieder negiert. Dadurch werden wir gezwungen, die Vorstellung aufzugeben, dass die jeweiligen Zeichenträger auf ontisch fest vorgegebene Größen verweisen. Wir werden vielmehr dazu motiviert, die Zeichenproblematik nicht von dem Konzept der Stellvertretung her zu strukturieren, sondern von dem Konzept der Interpretation und der Sinnbildung. Dafür bietet dann allerdings das dreistellige Zeichenmodell von Peirce, auf das noch näher einzugehen ist, eine sehr viel bessere Hilfe als das zweistellige Zeichenmodell von de Saussure, das dem Interpretationsgedanken wenig Raum gibt, weil es den Konventionsgedanken in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Der Interpretationsgedanke ist für das Zeichenmodell von Peirce insofern konstitutiv, als bei ihm der Zeichenträger nicht nur auf ein Zeichenobjekt verweist, sondern auch auf einen Zeicheninterpretanten, womit er die Interpretationsperspektive bezeichnet, in der das jeweilige Zeichenobjekt für die Zeichenverwender konkrete Gestalt gewinnt. Das Verfahren von Haecker, uns gerade dadurch für die Interpretationsbedürftigkeit von Zeichen zu sensibilisieren, dass er den verweisenden Bezug von Wahrnehmungsgrößen, die als Zeichenträger identifiziert worden sind, problematisiert, erinnert an die Interpretationsprovokation, die das unbekannte Wort Spunk bei Pippi Langstrumpf ausgelöst hat.3 Pippi hat ein Wort, aber sie hat keine Bedeutung für dieses Wort. Deshalb regt sie dieses Wort dazu an, Inhalte zu suchen, die zu ihm passen könnten. Kafka hat diese Suchsituation in seinem schon erwähnten Denkbild in fast paradoxer Weise auf die Spitze getrieben. „Ein Käfig ging einen Vogel suchen."4 Da in dem Gedicht von Haecker auf recht grundsätzliche Weise danach gefragt wird, welche geistigen Dimensionen konkrete Sinneserfahrungen haben können, wenn sie als Zeichenerfahrungen verstanden werden, hat es sicher auch eine erkenntnistheoretische Sinndimension. Kant hat sehr nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich Sinnlichkeit und Begrifflichkeit wechselseitig bedingen, was in zeichentheoretischen Überlegungen nicht immer zureichend berücksichtigt wird. „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne
3
4
A. Lindgren, Pippi im Taka-Tuka-Land, 1986, S. 40-53. Vgl. auch die Ausfuhrungen im Kapitel XII,6 in diesem Buch. F. Kafka, Gesammelte Werke, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, 1953, S. 41.
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Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktion nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen,"5 Wenn man natürliche und künstliche Zeichen grundsätzlich als Relationsphänomene betrachtet, die sinnliche und geistige Komponenten haben, dann wird das Konzept eines metaphysischen Dualismus von Materie und Geist bzw. von res externa und res cogitans im Sinne von Descartes fragwürdig. Zeichen werden zu entscheidenden Vermittlungsformen zwischen diesen beiden Welten, weil sie selbst an beiden Welten Anteil haben und eben deshalb beide Welten aufeinander beziehen können. Cassirer hat deshalb ganz nachdrücklich mit Bezug auf Leibniz betont, dass die „Logik der Sachen" nicht von der „Logik der Zeichen" getrennt werden dürfe. „Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertig gegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der S y m b o l i k und S e m i ο t i k , auf die es sich stützt." 6
Dieses ontologische und erkenntnistheoretische Verständnis von Zeichen hat Cassirer dann auch zu einer spezifischen anthropologischen Beurteilung von Zeichen geführt. Seiner Meinung nach sollten wir den Menschen nicht als „animal rationale", sondern als „animal symbolicum" definieren, weil Zeichen die Grundlage seiner Existenz seien und weil erst Zeichen ihm den Weg in die Kultur und Zivilisation eröffneten. 7
Die Offenheit von Zeichenformen und Zeichenfunktionen Die These, dass Zeichen sich besser mit Hilfe des Interpretationsgedankens als mit Hilfe des Stellvertretungsgedankens analysieren lassen, sowie die These, dass Zeicheninhalte keine fest vorgegebenen Größen sind, sondern Größen, die sich erst in Zeichenrelationen selbst konkretisieren, stehen in einer gewissen Spannung zu unserem Alltagsdenken. Dieses ist ontologisch durch den Sub-
5 6 7
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 76, Werke, Bd. 3, S. 98. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, 1964 4 , S. 18. E. Cassirer, Versuch über den Menschen, 1990, S. 51.
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Stanzgedanken geprägt. Er beinhaltet, dass es in der Welt vorgegebene Seinseinheiten gibt, die ein stabiles Wesen haben, durch welches prinzipiell festgelegt wird, mit welchen anderen Seinseinheiten man sie in Beziehung setzen kann. Das bedeutet, dass den Relata von Relationen immer eine natürliche Dominanz über die Relationen zugeschrieben wird, durch die sie miteinander in Beziehung gesetzt werden. In den neuzeitlichen Wissenschaften ist dieses substanzorientierte Denken mehr und mehr zu Gunsten eines relational orientierten Denkens abgelöst worden. Ihm liegt die meist nicht explizit thematisierte Prämisse zu Grunde, dass nicht die Relata die Relationen bestimmen, sondern dass umgekehrt die konkretisierten oder postulierten Relationen bestimmen, wie Relata als Größen des Denkens für uns in Erscheinung treten können. Das heißt nun nicht, dass die Relationen die Relata als ontische Größen erzeugen, aber doch, dass sie bestimmen, hinsichtlich welcher ihrer vielfältigen Aspekte sie für uns in Erscheinung treten können und welche Gestalt sie fur uns annehmen. Durch die Verfahren, in denen wir etwas wahrnehmen, und durch die Zeichen, mit denen wir uns etwas objektivieren, lernen wir die jeweiligen Phänomene aspektuell in ganz unterschiedlicher Weise kennen. Wittgenstein hat diesen Sachverhalt wie schon erwähnt auf ganz nachdrückliche Weise provokativ so zugespitzt, dass ein jeder in der Welt seiner jeweils verwendeten Zeichen eingeschlossen ist. „Wenn man aber sagt: 'Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen', so sage ich: 'Wie soll e r wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen."8 Wenn wir das Zeichenproblem im Rahmen des relationalen Denkens thematisieren, dann ergeben sich dadurch weit reichende Konsequenzen. Diese beziehen sich einerseits darauf, welche Phänomene für uns als potenzielle Zeichenträger in Erscheinung treten können, und andererseits darauf, was die jeweiligen Zeichenträger als Zeicheninhalte potenziell objektivieren bzw. ins Bewusstsein zu rufen vermögen. Das bedeutet, dass vorab nicht normativ festgelegt werden kann, welche Tatbestände die Funktion von Zeichenträgern bzw. Zeichen bekommen können und welche Sinnzusammenhänge eben dadurch potenziell gestiftet werden. Zwar bilden alle Kommunikationsgemeinschaften immer wieder stabile Traditionen aus, was als Zeichen zu werten ist und wie Zeichen zu verstehen sind, aber solche Festlegungen können im Prinzip immer nur als vorläufige Hypothesen angesehen werden, weil die Stiftung von neuen Relationen auch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für das eröffnen, was wir als bloße Gegebenheiten und was wir als Zeichen ansehen. Wenn nun Zeichen aus der Konkretisierung von Relationen resultieren, dann gehört es gleichsam zu ihrer Natur, dass sie sowohl hinsichtlich ihrer morphologischen Erscheinungsmöglichkeiten als auch hinsichtlich ihrer Verweisungs-, Differenzierungs- und Objektivierungsmöglichkeiten nicht ab8
L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1967, S. 171, § 504.
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schließend bestimmbar sind. Entsprechende Festlegungen sind nicht sachlich zu rechtfertigen, sondern allenfalls methodisch. Wenn die kognitive Leistungskraft von Zeichen abschließend fixierbar wäre, könnten Zeichen nur noch als konventionalisierte Denkmuster und Wissensspeicher in Erscheinung treten, aber nicht mehr als Erkenntniswerkzeuge. Konventionalisierte und normierte Zeichen, wie sie beispielsweise in Fachterminologien in Erscheinung treten, könnten dann auch nicht mehr als Prototypen von Zeichen schlechthin angesehen werden, sondern allenfalls als eine Sonderklasse von Zeichen, die für ganz bestimmte pragmatische Bedürfnisse etabliert worden ist. Charles Sanders Peirce ist wohl unter allen Zeichentheoretikern derjenige, der am umfassendsten und nachdrücklichsten die These vertreten hat, dass faktisch alle Wahrnehmungsinhalte den Status von Zeichen bekommen können und dass die kognitive Strukturierungskraft von Zeichen nicht abschließend festgelegt werden kann. Damit kann er zugleich auch als einer derjenigen Denker gelten, der auf sehr profilierte Weise den Relations- und Funktionsgedanken in deutlicher Opposition zum Substanzgedanken entfaltet hat. Dafür lassen sich insbesondere folgende Gesichtspunkte geltend machen. Für Peirce konstituiert sich ein Zeichen dadurch, dass etwas für eine bestimmte Person in einer bestimmten Hinsicht für etwas anderes steht.9 Diese Zeichenbestimmung, die das Phänomen Zeichen aus Relationen und Zwecken hervorgehen lässt, ist so offen, dass faktisch alles zum Zeichenträger werden kann, das Anknüpfungspunkt von verweisenden Relationen werden kann und damit eine bestimmte Vermittlungs- und Interpretationsfunktion bekommt. Das schließt ein, dass alles, was durch ein Zeichen als ein Zeichenobjekt in unser Bewusstsein gebracht werden kann, seinerseits wieder Zeichenträger für ein neues Zeichen werden kann. Das bedeutet wiederum, dass faktisch alles, also auch Gedanken und Vorstellungen als Zeichenträger bzw. als Ausgangspunkte von Zeichenrelationen fungieren können. Alles Wahrnehmbare und Vorstellbare kann als Basis eines Zeichens dienlich sein, sofern es mit anderen Phänomenen vernetzt bzw. durch andere Zeichen interpretiert werden kann.10 Die Herleitung des Zeichenbegriffs aus Relationen und interpretativen Verknüpfungen impliziert, dass die Klasse der Zeichen als eine offene Klasse zu betrachten ist. Prinzipiell kann alles als Zeichen angesehen werden, was sich sinnvoll als Repräsentationsmittel interpretieren lässt. Auf diese Weise werden Zeichen in einen kontinuierlichen Relationierungs- und Interpretationsprozess eingebettet, der sich nur methodisch, aber nicht sachlich beenden lässt. Diesen prinzipiell unendlichen Interpretationsprozess, der in unterschiedlicher Richtung mit Hilfe von Zeichen fortgesponnen werden kann und in dem 9
10
Ch.S. Peirce, Collected Papers, 2.228. „A sign or representamen is something which stands to somebody for something in some respect or capacity." Ch.S. Peirce, Collected Papers, 8.269. „Whatever is capable of being represented is itself of a representative nature. The idea of representation involves infinity, since a representation is not really such unless it be interpreted in another representation."
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sowohl Sachverhalte als auch interpretierende Zeichen zum Gegenstand von Relationierungen und Interpretationen werden können, nennt Peirce Semioseprozess. Typisch für alle Formen von Semioseprozessen ist das, was Peirce Synechismus nennt. Mit diesem Terminus bezeichnet er ein Denkkonzept, das sich gegen alle Erscheinungsweisen dualistischen Denkens richtet und das hervorheben soll, dass das Prinzip der Kontinuität und der Relation für all unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen konstitutiv ist. Das Synechismus-Konzept betrifft sowohl die Kontinuität zwischen Geist und Materie als auch die Kontinuität zwischen Erfahrungen, Begriffen und Zeichen. Dieses Konzept möchte Peirce allerdings nicht als absolute metaphysische Doktrin verstanden wissen, sondern als ein regulatives Prinzip der Logik und des Denkens. Es soll sicherstellen, dass alle Denkprozesse fortgeführt werden können und dass keinem Denkergebnis ein Endgültigkeitscharakter zugeordnet werden darf. Der Terminus Synechismus hat Peirce der Terminologie der antiken Chirurgie entlehnt, wo er das Zusammenwachsen bzw. die Zusammengehörigkeit von isolierbaren Teilen bezeichnet.11 Das Synechismus-Konzept exemplifiziert auch eine ontologische Grundauffassung von Peirce, die grundlegend für sein Zeichenverständnis und seine Zeichenlehre ist. Er ist nämlich der festen Überzeugung, dass das, was wir gewöhnlich als Materie bezeichnen, eigentlich in Gewohnheit eingebundener Geist sei.12 Deshalb fällt es Peirce auch gar nicht schwer, materielle Gegenstände bzw. sinnliche Erfahrungen als Bestandteile von Zeichen zu betrachten und damit als Mittel von Interpretations- und Sinnbildungsprozessen. Diese Auffassung wird insbesondere dann wichtig, wenn wir aus der Struktur des Zeichenträgers bei ikonischen und indexikalischen Zeichen schon Rückschlüsse auf die Struktur des jeweilig repräsentierten Zeichenobjektes ziehen können, worauf noch näher eingegangen werden wird. Wie stark Peirce dem relationalen Denken verpflichtet ist und wie sehr dieses seine ganze Zeichenlehre prägt, dokumentiert sich auch in seiner Kategorienlehre.13 In deutlicher Abkehr von der traditionellen Kategorienlehre, die dem Substanzgedanken sehr stark verpflichtet ist, hat er ein Kategorienkonzept entwickelt, das ganz auf dem Relationsgedanken aufbaut. Es kennt nur drei Kategorien, durch die Erfahrungsphänomene danach unterschieden werden, welchen Intensitätsgrad von Relationen sich in ihnen repräsentiert. Unter die Kategorie Erstheit fallen für Peirce alle Phänomene, die ohne direkten Bezug zu etwas anderem wahrgenommen werden können wie etwa Sinnesempfindungen und Gefühlsqualitäten in ihrer positiven Gegenwärtigkeit und teilelosen Einheit (monadische Relation). Unter die Kategorie Zweitheit 11 12
13
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 6.169, 6.173, 7.565, 7.570, 7.573. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 6.158. „...what we call matter is not completely dead, but is merely mind hidebound with habits." Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 8.328ff, 5.44ff.
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fallen alle Phänomene, die nur in der Relation zu etwas anderem für uns fassbar werden wie etwa das Phänomen Kraft, welches ohne die Erfahrung des Phänomens Widerstand nicht in Erscheinung treten kann (dyadische Relation). In die Kategorie Drittheit fallen für ihn schließlich alle Phänomene, bei denen ein Erstes über ein Zweites in Beziehung zu einem Dritten gebracht werden kann (triadische Relation). Typische Exemplifikationen dieser Kategorie sind für Peirce Zeichen aller Art, die für ihn eigentlich ihre umfassenden kognitiven Vermittlungs- und Interpretationsfünktionen verlieren, wenn sie nur als zweistellige Relationsphänomene wahrgenommen werden. Die Sachvorstellungen, die Haecker mit Hilfe der Wörter Duft, Bild, Hand und Namen in einem ersten Sinnbildungsschritt thematisiert, sind typische Phänomene der Drittheit im Sinne von Peirce. Sie sollen für uns nämlich nicht nur als sinnlich fassbare Erfahrungstatbestände interessant werden, sondern vielmehr auch als Zeichenträger von Zeichen. Sie sollen uns auf etwas aufmerksam machen, was jenseits ihrer selbst liegt, was uns aber nur durch sie zugänglich wird. Wir werden dazu angeregt, die benannten Phänomene in einen Synechismus- bzw. Semioseprozess einzubeziehen, in welchen sie für die Wahrnehmenden zu Phänomenen der Drittheit werden. Wie Peirce macht auch Haecker darauf aufmerksam, dass im Prinzip jeder Wahrnehmungsinhalt nicht nur als bloße Gegebenheit wahrgenommen werden kann, sondern auch als Zeichen, wenn man in der Lage ist, eine entsprechende Wahrnehmungsperspektive dafür zu entwickeln. Wie Peirce negiert er die Auffassung, dass Tatsachen und Zeichen phänomenal und ontologisch klar voneinander zu unterscheiden sind. Wie Peirce legt auch er den Gedanken nahe, dass es einen Synechismus von Geist und Materie gibt, der am eindrucksvollsten mit dem Zeichenphänomen in Erscheinung tritt, und dass man dementsprechend den Anwendungsbereich des Zeichenbegriffs nicht auf die Klasse der künstlichen bzw. konventionellen Zeichen beschränken sollte. Wie Peirce zeigt auch Haecker, dass sich die Welt der so genannten Tatsachen auflöst, wenn man relational und semiotisch zu denken beginnt, und dass die Unterscheidung von Tatsachen und Zeichen eher ein methodisches als ein sachliches Problem ist. Nun ist allerdings einzuräumen, dass wir in unserem Alltagsdenken üblicherweise klar zwischen einer Tatsache und einem Zeichen zu differenzieren versuchen, weil wir unseren Zeichenbegriff weitgehend für künstliche bzw. konventionelle Zeichen zu reservieren versuchen. In diesem Denken verstehen wir unter einer Tatsache bzw. einem Faktum das, was Voraussetzung der Zeichenbildung und des Zeichengebrauchs ist, und nicht das, was erst im Zusammenhang mit der Konstitution von Zeichen Gestalt gewinnt. Zeichen betrachten wir als Mittel, Tatsachen abzubilden, aber nicht als Mittel, Tatsachen aus dem Kontinuum der Welt herauszupräparieren. Aber schon ein Blick auf die Wortgeschichte und den Wortgebrauch des Terminus Tatsache zeigt, dass unser Alltagsdenken auch noch andere Facetten hat.
Das Verstehen von Zeichen
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Die Tatsache ist eine Sache, die durch eine Tat hergestellt worden ist, wozu sicher auch die Tat der Zeichenbildung zu rechnen ist. Das Faktum ist eine Gegebenheit, die gemacht worden ist (lat. facere = machen). Die Tatsachenentscheidung eines Schiedsrichters ist keine Entscheidung auf Grund einer Tatsache, sondern eine Entscheidung, die eine Tatsache durch die Interpretation eines Vorgangs herstellt. Das, was sprachliche Zeichen objektivieren, steht nicht unzweifelhaft vorab fest und muss nur noch sprachlich etikettiert werden, sondern ist selbst Produkt einer Interpretationsanstrengung, in der vielerlei Faktoren eine Rolle spielen. Die Labilität von Tatsachen dokumentiert sich auch in dem Bonmot, das eine reale empirische Erfahrung widerspiegelt: Tatsachen sind wie Kühe, wenn man sie lange genug ansieht, dann laufen sie weg. Vielleicht darf man noch hinzufugen, dass Tatsachen bei intensiver Betrachtung nicht nur weglaufen bzw. sich auflösen, sondern auch die Chance haben, sich zu stabilisieren, wenn sie durch Zeichen objektiviert werden, deren Inhalte sich in praktischen Handlungsprozessen bewähren. Außerdem wird man berücksichtigen müssen, dass Gegebenheiten sich auch dadurch als unbezweifelte Tatsachen oder Fakten stabilisieren können, dass sie als Zeichenträger von Zeichen wahrgenommen werden. Unter diesen Umständen ist dann nicht mehr die Frage aktuell, ob sich die wahrgenommenen Gegebenheiten als gegebene ontische Fakten legitimieren lassen bzw. ob sie Ergebnisse einer verzerrten Wahrnehmung oder fehlerhaften Interpretation sind, sondern allein die Frage, worauf uns diese Gegebenheiten aufmerksam machen können und was sie uns in den Blick zu bringen vermögen.
4. Das Verstehen von Zeichen Die mit Zeichen verbundenen Verstehensprozesse sind wegen der mannigfaltigen Möglichkeiten der Zeichenkonstitution so vielfältig, dass sie sich wohl kaum nach einem einheitlichen Konzept beschreiben lassen. Offensichtlich ist vor allem, dass das Verstehen von künstlichen Zeichen (Flaggenzeichen, Morsezeichen) anders strukturiert ist als das Verstehen von natürlichen Zeichen (Krankheitszeichen, Wetterzeichen, Bilder). Im Hinblick auf sprachliche Zeichen ist nicht immer ganz klar, ob wir sie insgesamt der Klasse der künstlichen Zeichen zuordnen müssen oder ob es auch sprachliche Zeichen gibt, die man eventuell der Klasse der natürlichen Zeichen zuordnen könnte. Das wird insbesondere dann als Problem relevant, wenn wir z.B. auch Klangformen, syntaktische Muster oder Textformen zu den sprachlichen Zeichen rechnen und wenn wir sprachliche Zeichen nicht nur unter dem Aspekt der Informationsvermittlung betrachten, sondern auch unter dem der Sinnobjektivierung. Um die vielfältigen Verstehensprobleme, die mit Zeichen und insbesondere mit sprachlichen Zeichen verbunden sind, übersichtlich zu lokalisieren und zu qualifizieren, erweist es sich als hilfreich, auf Zeichenmodelle zurückzu-
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greifen, die das Problemfeld nach bestimmten Erkenntnisinteressen hin strukturieren. Dabei ist zu beachten, dass Zeichenmodelle diesbezüglich nicht abschließende Erkenntnisse vermitteln. Ihnen kann nur eine heuristische Funktion zugeordnet werden, insofern sie dabei helfen, die Komplexität des Problemfeldes abstraktiv zu vereinfachen, um ganz bestimmte Ordnungszusammenhänge hervortreten zu lassen und um unser Wahrnehmungsinteresse perspektivisch auf ganz bestimmte Sachaspekte zu konzentrieren. Hier sollen das zweistellige Zeichenmodell von de Saussure und das dreistellige von Peirce vorgestellt werden, die unsere Aufmerksamkeit auf sehr unterschiedliche Aspekte der Zeichenproblematik richten. Gleichwohl können sie aber gerade dadurch helfen, über Kontrast- und Ähnlichkeitsrelationen den Stellenwert des Zeichenproblems zu erfassen, das Haecker in seinem Gedicht entwickelt hat.
Zweistellige Zeichenmodelle und der Verstehensprozess De Saussures bekanntes Modell sprachlicher Zeichen, das ein Zeichen als ein Relationsgebilde wertet, bei dem der jeweilige Zeichenträger bzw. Signifikant so eng und fest mit dem jeweiligen Zeicheninhalt bzw. Signifikat verbunden ist wie die Vorder- und Rückseite eines Blattes Papier, lässt sich sicherlich als eine prototypische Ausprägung von zweistelligen Zeichenmodellen schlechthin verstehen. Es ist sehr brauchbar, um die Verstehensprobleme zu strukturieren, die sich im Zusammenhang mit dem Gebrauch von künstlichen Zeichen bzw. von formalisierten Fachsprachen stellen. Es wird allerdings problematisch, wenn wir es auf die Verstehensprobleme beziehen, die sich beim Verständnis von natürlichen Zeichen bzw. von natürlichen Sprachen ergeben, weil diese immer eine bestimmte Interpretationsbreite aufweisen, durch die die Sinnbildungskräfte der Zeichenbenutzer auf mannigfache Weise angeregt werden. Zweistellige Zeichenmodelle haben eine immanente Tendenz, unser Interesse von den kognitiven Leistungen der Zeichen abzulenken und es auf ihre informativen Leistungen zu konzentrieren, da Zeichen primär nicht als Erkenntniswerkzeuge, sondern als Informationsmittel in Erscheinung treten bzw. als Bestandteile eines Zeichenkodes. Zweistellige Zeichenmodelle interessieren sich im Prinzip nicht für die Motive der Zeichenbenutzer, etwas als ein Zeichen wahrzunehmen bzw. Zeichen zu bilden, sondern eher dafür, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Zeichen zur präzisen Informationsübermittlung verwendbar sind. Damit ist auch ziemlich offensichtlich, dass sich zweistellige Zeichenmodelle kaum dazu eignen, die Probleme zu strukturieren, um die es Haecker in seinem Zeichengedicht geht. Nun könnte man natürlich geltend machen, dass zweistellige Zeichenmodelle nur die Problemzusammenhänge modellieren wollen, die sich im Zu-
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sammenhang mit künstlichen Zeichen stellen, und dass Haecker ganz andere Zielsetzungen hat. Dieser Einwand greift aber zu kurz, wenn wir die Auffassung vertreten, dass es die Aufgabe eines Zeichenmodells auch ist, die Motivund Wirkungszusammenhänge zu erfassen, die für die Konstitution und Interpretation von Zeichen wirksam sind. Unter diesen Umständen ist dann die Grenze zwischen künstlichen und natürlichen Zeichen nicht mehr so scharf zu ziehen, da das Zeichenverständnis nicht mehr an eine bloße Kodekenntnis gebunden werden kann, sondern auch mit der Interpretationsfähigkeit der Zeichenbenutzer verbunden werden muss. Die Korrelation der Zeichenproblematik mit den hermeneutischen Fähigkeiten der Menschen, um die es Haecker in seinem Gedicht geht, lässt sich in zweistelligen Zeichenmodellen nicht überzeugend modellieren, da diese prinzipiell dem Kodegedanken und nicht dem Interpretationsgedanken verpflichtet sind. Zweistellige Zeichenmodelle vereinfachen die Zeichenproblematik so, dass Zeichen nur noch als Instrumente der Informationsübertragung gesehen werden und nicht mehr als Instrumente der Informationskonstitution. In ihrem Rahmen kann die Unscharfe der Zuordnung von Zeichenträgern und Zeicheninhalten nur als lästiges Trübungsphänomen wahrgenommen werden und nicht als eine Chance, die Zeicheninterpretation bzw. Zeichenbildung als Manifestation und Konkretisierung des eigenen Denkens zu nutzen. Im Bereich der Verbalsprache dokumentiert sich das auf sehr schlagende Weise im metaphorischen Sprachgebrauch, der mit zweistelligen Zeichenmodellen nicht überzeugend beschrieben und analysiert werden kann. Wenn man Zeichen nur unter dem Aspekt der Vermittlung von Informationen sieht und nicht unter dem Aspekt der Objektivierung und Strukturierung von Sinn, wobei sich mit Bühler sowohl an die Darstellungs- als auch an die Ausdrucks- und Appellfunktion von Zeichen denken lässt, dann kann man Zeichenträger und Zeicheninhalte nicht auf eine quasimechanische Weise einander zuordnen. Man muss berücksichtigen, dass das Verstehen von Zeichen und Sprache nicht nur die Kenntnis von Konventionen voraussetzt, sondern auch die Kenntnis von Welt und die Bereitschaft, sich in andere Wahrnehmungs- und Denkperspektiven hineinzuversetzen. Sofern man dem Denken im Prinzip nicht eine abbildende, sondern eine dialogische Grundstruktur zuordnet, dann muss man Zeichen immer als Antworten auf Fragen verstehen, die zu rekonstruieren sind, um die Sinnbildungsfunktionen der jeweils verwendeten Zeichen zu verstehen. Zweistellige Zeichenmodelle bieten von ihrer Grundstruktur her keinen guten Ansatz, um klar herauszustellen, dass Zeichen interpretiert werden müssen und dass sie nur dann auf sinnvolle Weise pragmatisch wirksam werden können, wenn sie in ein umfassendes hermeneutisches Begleitbewusstsein eingebettet werden. Gerade auf diese Strukturbedingung will uns Haecker in seinem Gedicht aber aufmerksam machen. Er will uns zeigen, dass es nicht ausreicht, das Problem des Verstehens von Zeichen als ein Dechiffrierungs-
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problem anzusehen, das sich lösen lässt, wenn man über die entsprechenden Kodekenntnisse verfugt. Zweistellige Relationen und zweistellige Zeichenmodelle haben immer eine große Faszination auf das theoretische Denken ausgeübt, weil sie gut zu den Grundtendenzen des abstraktiven Denkens passen. Wir denken gerne in klaren Oppositionen und dualen Strukturordnungen, weil sich auf diese Weise unübersichtliche Komplexität am einfachsten reduzieren lässt. Davon zeugen nicht nur unsere allgemeinen Begriffspaare (Freund - Feind, gut - schlecht, wahr - falsch, ja - nein), sondern auch unsere sprachtheoretischen Begriffspaare (Lexik - Grammatik, langue - parole, Signifikant - Signifikat). Zwar müssen wir in den meisten Fällen einräumen, dass solche theoretischen Unterscheidungen in der Praxis gar nicht so tremischarf angewendet werden können, wie es wünschenswert wäre, aber das schwächt unsere Vorliebe für polarisierende Denkmuster und zweistellige Relationsverhältnisse nicht, weil sie in der Tat komplexe Gegenstandsbereiche sehr übersichtlich strukturieren. Gleichwohl ist aber auch festzuhalten, dass es im theoretischen Denken immer Tendenzen gegeben hat, den Simplifizierungstendenzen polarisierender Denkmuster dadurch entgegenzuwirken, dass man Begriffsdyaden durch Begriffstriaden ersetzt hat. Sei es, dass man durch Begriffstriaden postulieren konnte, dass es zwischen zwei oppositiven Größen eine vermittelnde Größe gibt, sei es, dass man durch sie darauf aufmerksam machen konnte, dass es in bestimmten Gegenstandsfeldern eine innere Dynamik gibt, die man durch zweistellige Denkmuster nicht erfassen kann (Begriff - Urteil - Schluss, These - Antithese - Synthese).14
Dreistellige Zeichenmodelle und der Verstehensprozess Dreistellige Zeichenmodelle stellen zwangsläufig weniger den Stellvertretungs-, sondern eher den Interpretationsgedanken in den Vordergrund des Interesses. Das ist im Hinblick auf artifizielle Zeichen und Zeichensysteme mit pragmatisch klar definierten Funktionen nicht sonderlich attraktiv, weil dadurch zugleich auch immer die Hoffnung geschwächt wird, dass man Zeichen einen präzisen Informationsgehalt zuordnen kann. Für natürliche Zeichen bzw. für Zeichensysteme, die nicht konstruktiv geplant, sondern natürlich gewachsen sind und die zugleich auch ganz unterschiedlichen Zwecken dienstbar gemacht werden können, ist der Interpretationsgedanke dagegen sehr attraktiv. Durch ihn kann nämlich klargestellt werden, dass sich Zeichen nicht nur zur Benennung von vorgegebenen Denkinhalten verwenden lassen, sondern dass sie auch zur Konstitution von Denkinhalten beitragen können.
14
Vgl. G. Revisz, Die Trias, Analyse der dualen und trialen Systeme, 1957.
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Alle dreistelligen Zeichenmodelle, seien es nun die von Peirce, von Bühler oder von Ogden und Richards, bauen auf der Grundvorstellung auf, dass jede Zeichenbildung und jeder Zeichengebrauch im Kontext von Interpretationsanstrengungen steht und sich nicht darin erschöpft, schon vorgegebene Größen zu thematisieren bzw. zu benennen. Im Hinblick auf die Sprache haben deshalb alle dreistelligen Zeichenmodelle auch eine große Skepsis, ob die scharfe Trennung zwischen Zeichensystem (langue) einerseits und Zeichengebrauch (parole) andererseits sinnvoll ist, da sie von der Grundauffassung geprägt sind, dass mit jedem Zeichengebrauch auch eine Variation von tradierten Konventionen und Verstehensweisen verbunden ist oder zumindest sein kann. Obwohl sich die dreistelligen Zeichenmodelle recht gut in Form von Dreiecken veranschaulichen lassen, bei denen die Spitzen bzw. die Schenkel die jeweiligen Teilaspekte oder Teilgrößen von Zeichen repräsentieren, sollte man diese Darstellungsweise nicht als Exemplifikation eines statischen Relationsverhältnisses zwischen Einzelgrößen ansehen. Wenn man zwei Größen miteinander verbindet, dann liegt in der Regel die Vorstellung einer stabilen Relation nahe. Wenn man ein solches Korrelationsverhältnis aber durch eine dritte Größe ergänzt, dann liegt der Gedanke nahe, dass die dritte Größe bzw. jede der Einzelgrößen immer eine gewisse Interpretationsfunktion für die beiden anderen Größen und deren Relationszusammenhang hat. Das bedeutet, dass die Relationsbeziehungen in einem Zeichen keinen statischen Korrelationszusammenhang bilden, sondern vielmehr einen dynamischen, der durch den biologischen Begriff Fließgleichgewicht vielleicht ganz gut beschreibbar ist. Im Rahmen von dreistelligen Zeichenmodellen werden Zeichen zu dynamischen Sinngebilden, die sich wegen der variablen Interaktionsbeziehungen zwischen ihren Teilen recht gut an spezifische Sinnbildungsintentionen anpassen können. In dieser Flexibilität liegt dann aber immer auch die Gefahr von Missverständnissen. Solange die Sinnbildungs- und Repräsentationsfunktionen von Zeichen von den jeweiligen Zeichen Verwendern subjektiv für plausibel gehalten werden, solange sehen sie keinen Anlass, ihr spontanes Zeichenverständnis zu revidieren. Das ändert sich erst, wenn Gesichtspunkte aktuell werden, die nicht zu dem spontanen situationsbedingten Verständnis passen. Das illustriert folgendes Beispiel sehr gut. „Auf ihrer Entdeckungsreise nach Australien fing eine Gruppe von Kapitän Cooks Seeleuten ein junges Känguruh und brachte das seltsame Wesen zurück auf ihr Schiff. Niemand wußte, was es war, also wurden ein paar Männer an Land geschickt, um die Eingeborenen zu fragen. Als die Seeleute wieder an Bord waren, erzählten sie ihren Kameraden: 'Es ist ein Känguruh'. Viele Jahre später wurde entdeckt, daß die Eingeborenen, als sie 'Känguruh' sagten, in Wirklichkeit nicht
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Die Genese und Leistung von Zeichen das Tier benannten, sondern den Fremden zur Antwort gaben: 'Was habt ihr gesagt?' ", 1 5
Das dreistellige Zeichenmodell von Peirce Im Folgenden soll etwas näher auf das dreistellige Zeichenmodell von Peirce eingegangen werden, weil es die von Haecker ins Auge gefassten Probleme theoretisch recht gut zu strukturieren vermag. Es ist diesbezüglich besonders brauchbar, weil es aus erkenntnistheoretischen Grundüberlegungen hervorgegangen ist und sich nicht nur auf sprachliche Zeichen bezieht, sondern auf Zeichen aller Art.16 Wie schon mehrfach erwähnt, hat Peirce das Zeichen als dreistelliges Relationsgebilde bestimmt, das sich aus einem Zeichenträger (representamen, sign as such), einem Zeichenobjekt und einem Zeicheninterpretanten konstituiert, wobei zugleich die Basisprämisse gilt, dass es Zeichen nicht an sich gibt, sondern nur als Zeichen für interpretationsfähige Wesen. Deshalb lässt sich seine Zeichenlehre auch als eine Lehre verstehen, die die Bedingungen der Konstitution und der Zirkulation von Sinn in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt. Diese Bestimmung macht deutlich, dass fur Peirce nicht der Konventions- bzw. Stellvertretungsgedanke im Zentrum der zeichentheoretischen Aufmerksamkeit steht, sondern der Interpretations- bzw. Vermittlungsgedanke, der ja auch sein Semiose- und Synechismuskonzept maßgeblich bestimmt. Als Zeichenträger eines Zeichens kann das bestimmt werden, was alle Zeichenbenutzer als Fundament eines Zeichens ansehen können, sei es nun eine Größe, die sinnlich direkt fassbar ist, oder eine Größe, die mental gut vorstellbar ist. Dementsprechend können als Zeichenträger faktisch sehr unterschiedliche Phänomene in Erscheinung treten: direkt vereinbarte oder konventionell tradierte Repräsentationsmittel (Flaggensignale, Wörter), natürlich gegebene Phänomene (Rauch, Fußspuren), spezifische Kombinationen von anderen Zeichen (Syntaxmuster, Stilmuster), Phänomene, die in bestimmten Kontexten nicht erwartet werden (Ironie in einer Trauerrede), Unterlassungen von erwartbaren Handlungen (fehlender Gruß) usw. Welche Phänomene als Zeichenträger in Erscheinung treten können, das lässt sich nach Peirce nicht vorab kategorial festlegen, sondern ergibt sich als eine Funktion der menschlichen Fähigkeit, etwas nicht für sich und an sich wahrzunehmen, sondern als Hinweis auf etwas anderes. 15
16
The Observer (London), Beilage zum 25. November 1973. Zit. nach Ian Hacking, Die Bedeutung der Sprache für die Philosophie, 1984, S. 137. Vgl. W. Köller, Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells, in: K.H. Spinner (Hrsg.), Zeichen, Text, Sinn, 1977, S. 33ff. W. Köller, Der Peircesche Denkansatz als Grundlage der Literatursemiotik, in: A. Eschbach/W. Rader (Hrsg.), Literatursemiotik I, 1980, S. 39-63.
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In dem Gedicht von Haecker wird sehr schön exemplifiziert, wie bestimmte Wahrnehmungsinhalte, die üblicherweise nur als bloße Gegebenheiten in der Welt bzw. als Fakten rezipiert werden, unter bestimmten Rahmenbedingungen plötzlich zu Zeichenträgern von Zeichen werden. Paradox ist dabei fast, dass die jeweiligen Wahrnehmungsphänomene gerade deshalb als Zeichenträger bewusstseinsmäßig so klar hervortreten, weil man nicht so genau weiß, worauf sie verweisen. Wenn wir immer wüssten, worauf sie verwiesen, dann wären wir gedanklich sofort bei dem, was sie ins Bewusstsein rufen und würden der jeweiligen Form und der Struktur von Zeichenträgern selbst gar keine besondere Aufmerksamkeit mehr schenken. Bei funktionierenden Zeichen sind wir gedanklich immer gleich bei den von Zeichen jeweils objektivierten Inhalten und müssen uns gar nicht die Frage stellen, was denn einen spezifischen Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalt befähigt, als Zeichenträger eines Zeichens ins Erscheinung zu treten, und worauf dieser unsere Aufmerksamkeit speziell zu richten vermag. Wenn man diesem Gedankengang folgt, dann muss man auch akzeptieren, dass Zeichenträger selbst schon Interpretationsprodukte sind und aus der Fähigkeit des Menschen zum relationalen Denken hervorgehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die jeweiligen Zeichenträger als Zeichenträger für künstliche oder natürliche Zeichen wirksam werden. In jedem Fall gilt, dass etwas, was in bestimmten Wahrnehmungstraditionen und Wahrnehmungsperspektiven als bloße Gegebenheit rezipiert wird, in anderen den Status eines Zeichenträgers bekommen kann. Das Bedürfnis, konkrete Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte als Zeichenträger verstehen zu wollen, kann unter bestimmten individuellen und kulturellen Rahmenbedingungen so groß werden, dass eine bloße Sachwahrnehmung gar nicht mehr möglich ist, weil alles nur noch als verweisender Zeichenträger verstanden wird bzw. als durchsichtig für etwas anderes. Der Physiologus und die Vorstellung vom Buch der Natur legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Das, was in dem dreistelligen Zeichenmodell von Peirce als Zeichenobjekt angesehen wird, unterscheidet sich erheblich von dem, was im zweistelligen Zeichenmodell von de Saussure als Signifikat in Erscheinung tritt. Bei beiden Zeichenmodellen kann man zwar davon ausgehen, dass Zeichenobjekte bzw. Zeichensignifikate keine ontisch wohl abgrenzbaren Größen an sich sind, sondern kultur- bzw. sprachspezifische Größen, die erst durch die jeweilige Zeichenbildung als spezifisch strukturierte Größen konstituiert werden. Deshalb haben beide Zeichenmodelle auch keine Schwierigkeiten, den Wörtern Kobold, Nixe oder Klabautermann ein bestimmtes Zeichenobjekt bzw. Signifikat zuzuordnen, obwohl die Benutzer dieser Wörter allesamt durchaus der Auffassung sein können, dass diese Wörter keine Referenz in der realen Welt haben, sondern allenfalls in einer fiktiven Welt. Dennoch gibt es wichtige Unterschiede zwischen dem Begriff des Signifikats bei de Saussure und dem des Zeichenobjekts bei Peirce.
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Das Zeichensignifikat ist bei de Saussure eine Größe, die als Ergebnis sozialer Vorstellungsbildung im Prinzip eine konstitutive Prämisse der Zeichenbildung und des Zeichengebrauchs ist. Das ist im Hinblick auf die artifiziellen bzw. konventionellen Zeichen auch sehr plausibel, weil diese ja dazu bestimmt sind, schon vorhandene Denkergebnisse zu fixieren und für den allgemeinen Gedankenaustausch normativ zu stabilisieren. Das Zeichenobjekt ist bei Peirce dagegen eine Größe, die unmittelbar mit der Zeichenbildung und dem Zeichengebrauch selbst zusammenhängt, ja gerade daraus hervorgeht, da Peirce das Zeichenobjekt in seinem pragmatischen Denkansatz als Ursache des Zeichens bzw. der Konstitution eines Zeichenträgers bestimmt hat.17 Peirce leitet seinen Objektbegriff weder aus einer vorgängigen normativen Ontologie ab, die uns sagt, welche Realitäten bzw. Dinge an sich es in der Welt gibt, noch aus einem vorgängigen System von sozial verbindlichen Denkmustern, die nur auf eine Repräsentation durch Zeichen warten, sondern vielmehr aus den kognitiven Anstrengungen der Zeichenbenutzer, die in der Bildung und Wahrnehmung von Zeichen ihren Ausdruck finden. Diese Anstrengungen verankert Peirce einerseits in den Erfahrungen, die die Menschen im praktischen Umgang mit der Welt gesammelt haben, und andererseits in den Differenzierungsbedürfnissen, die die Menschen in ihren praktischen und geistigen Handlungsprozessen entwickeln. Dabei werden dann nicht nur allgemeine Erfahrungen und Differenzierungsbedürfnisse aktuell, die man ja auch für das Signifkatkonzept von de Saussure geltend machen könnte, sondern auch die individuellen Erfahrungen und Differenzierungsbedürfnisse, die die einzelnen Zeichenbenutzer bei der Wahrnehmung und dem Gebrauch von Zeichen in bestimmten Situationen entwickeln. Die pragmatische Herleitung des Objektbegriffs hat nun sehr wichtige methodologische und erkenntnistheoretische Implikationen. Durch sie wird verständlich, warum die scharfe Trennung von Zeichensystem und Zeichengebrauch für Peirce nicht aktuell ist. Durch sie wird weiter verständlich, warum die Unterscheidung Kants zwischen unerkennbaren Dingen an sich und erkennbaren Erscheinungen für Peirce keine sinnvolle und fruchtbare Unterscheidung ist. Nach Peirce können wir uns die Dinge nämlich gar nicht anders vorstellen als so, dass wir uns mit Hilfe von Zeichen eine sinnvolle Meinung über sie bilden bzw. sie in adäquate Kontexte einbinden. Die Repräsentation von Dingen mittels Zeichen lässt sich nach Peirce nie mit den Dingen selbst vergleichen, sondern nur mit anderen Repräsentationen von ihnen, die sich in tradierten Zeichen entweder schon verfestigt haben oder die mit Hilfe von
17
Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.473. „That thing which causes a sign as such is called object (according to the usage of speech, the 'real' but more accurately, the existent object) represented by the sign".
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Zeichen neu objektiviert werden können. Deshalb betrachtet Peirce die Begriffe Erkennbarkeit und Sein letztlich auch als synonyme Begriffe. 18 Peirce hat nun durchaus ein Verständnis dafür, dass bei Objektbildungen Traditionen und soziale Konventionen eine wichtige Rolle spielen. Aber er beharrt konsequent darauf, dass Zeichenobjekte prinzipiell nie als stabile Größen zu betrachten sind, sondern immer nur als wandelbare Größen, die sich in konkreten Zeichenverwendungsprozessen immer wieder neu formieren müssen. Deshalb unterscheidet er auch zwischen einem unmittelbaren Zeichenobjekt, das aus dem konventionsbedingten Zeichengebrauch resultiert und dem dynamischen Zeichenobjekt, das aus der Summe der Erfahrungen resultiert, die man mit dem jeweiligen Bezugsbereich eines Zeichens gemacht hat bzw. machen kann.19 Diese Erfahrungen können so gegenläufig zu dem traditionellen unmittelbaren Zeichenobjekt sein, dass sie uns dazu zwingen können, dieses ganz oder teilweise umzustrukturieren. So verbinden wir beispielsweise mit den Wörtern Krieg oder Hunger nicht nur bestimmte Bezugsbereiche, sondern auch bestimmte, traditionell stabilisierte Zeichenobjekte. Diese müssen wir aber vielleicht aspektuell und dimensional umstrukturieren, wenn wir die jeweiligen Bezugsphänomene faktisch und nicht nur zeichenbezogen kennen gelernt haben. Haecker zeigt in seinem Gedicht sehr eindrucksvoll, welcher Anstrengung es bedarf, bestimmte Phänomene, die subjektiv sehr zwingend als Zeichenträger wahrgenommen werden, mit einem spezifischen Zeichenobjekt zu korrelieren, weil diese Zeichenobjekte keine vorgegebenen Größen sind, sondern Größen, die erst in dem aktuellen Zeichenverständnis als Sinnbildungsprozess Gestalt und Kontur gewinnen können. Die Variabilität der mit einem Zeichenträger verbindbaren Zeichenobjekte wird verständlich, wenn man den Zeicheninterpretanten als dritten Faktor der Zeichenrelation näher ins Auge fasst. Als Zeicheninterpretanten bezeichnet Peirce nicht den Zeicheninterpreten, sondern die Gesamtheit der Denkinhalte, Denkstrategien und interpretierenden Zeichen, mit denen die Objektivierungsfunktion eines Zeichenträgers bzw. die Korrelation von Zeichenträger und Zeichenobjekt konkretisiert wird. Als das Interpretierende kann der Zeicheninterpretant deshalb auch als die Denkperspektive verstanden werden, in der ein Zeichenträger auf etwas verweist, was er selbst nicht ist, was er aber zu vergegenwärtigen versucht. Durch das Konzept des Zeicheninterpretanten stellt Peirce klar, dass es für ihn keine Repräsentation ohne Interpretation gibt und dass die Zeichenproblematik verkürzt wahrgenommen wird, wenn man sie als bloße Stellvertretungsproblematik versteht, bei der nur Kodekenntnisse eine Rolle spielen, aber nicht operative Sinnbildungsanstrengungen.
18
19
Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.257. „In short, cognizability (in its widest sense) and being are not merely metaphysically the same, but are synonymous terms." Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 8.314.
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Durch das Konzept des Zeicheninterpretanten, den Peirce noch einmal nach einem unmittelbaren, einem dynamischen und einem finalen Interpretanten differenziert, gewinnt sein dreistelliges Zeichenmodell seine spezifische Charakteristik.20 Dadurch wird sehr deutlich, warum Zeichen fur Peirce typische Exemplifikationen der Kategorie der Drittheit sind, warum für ihn Zeichen immer etwas mit einem operativen und dialogischen Denken zu tun haben, warum für ihn Zeichen Erkenntnissprozesse nicht abschließen, sondern diese im Sinne von Semiose- und Synechismusprozessen provozieren und fortfuhren, warum sich für ihn Denkprozesse immer als Zeichenprozesse manifestieren müssen und warum die Konstitution von Zeichen immer sowohl mit kulturellen Gepflogenheiten als auch mit kreativen Einfallen zu tun hat.21 Dieses Zeichenverständnis hat für Peirce auch wichtige anthropologische Dimensionen und Implikationen. Insofern es für ihn kein Denken ohne Zeichen gibt, bedingen und fördern sich Zeichen und Menschen wechselseitig, wobei er insbesondere an sprachliche Zeichen denkt. Der Mensch definiert sich für Peirce deshalb auch primär über seine Denkfähigkeit bzw. über den Gebrauch von Zeichen und Sprache.22
Verstehensprozesse als Sinnbildungsprozesse
Um die weit reichenden Implikationen des Interpretantenkonzeptes von Peirce zu erfassen, ist es vorteilhaft, sich zu vergegenwärtigen, welche Typen von Geistestätigkeiten er unterscheidet und welchen Einfluss er diesen auf die Interpretantenbildung und das Verstehen von Zeichen zuordnet. Peirce unterscheidet drei Typen von Geistesoperationen, nämlich die Induktion, die Deduktion und die Abduktion, wobei für ihn die letztere für das Verstehen von Zeichen bzw. für die Interpretantenbildung ganz besonders wichtig ist.23 Während die Induktion für Peirce eine Form der Geistestätigkeit ist, bei der Hypothesen und Konzepte der Erfahrungskontrolle unterworfen werden, um ihren Anwendungsbereich abzuklären, und die Deduktion eine Form der Geistestätigkeit, bei der auf analytische Weise mit Hilfe der klassischen Logik die Konsequenzen von Hypothesen geprüft werden, ist die Abduktion für ihn eine genuin kreative Form des Denkens. Durch Abduktionen werden nämlich
20 21 22
23
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 8.314f. Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.251, 5.255, 6.338. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.313-314. „In fact, therefore, men and words reciprocally educate each other; each increase of a man's information involves and is involved by, a corresponding increase of a word's information. ... It is that the word or sign which man uses is the man himself. ... Thus my language is the sum total of myself, for the man is the thought." Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.145, 5.171, 5.196, 7.218. Vgl. auch Kap. VIII, 6 dieser Arbeit.
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erst die Hypothesen hergestellt, die man für induktive und deduktive Denkprozesse benötigt. Ohne Abduktionen wären keine kreativen Interpretantenbildungen, keine pragmatisch legitimierten Objektbildungen und keine produktiven Semiose- und Synechismusprozesse denkbar. In den Abduktionen konkretisiert sich für Peirce die Freiheit des Denkens, über jede seiner Manifestationen hinauszugehen, traditionelle Korrelationen zu transzendieren und neue herzustellen. So gesehen wird die Abduktion für Peirce zur Grundlage aller Erkenntnis und Wissenschaft, weil durch sie erst die konkreten Sachvorstellungen gestiftet werden, die der Erfahrungskontrolle, der logischen Implikationsanalyse und der intersubjektiven Konsensbildung ausgesetzt werden können. Während bei der Induktion das erkennbar werden soll, was im Rahmen bestimmter Prämissen brauchbar ist, und bei der Deduktion das, was im Rahmen bestimmter Prämissen sein muss, soll mit Hilfe der Abduktion das erfasst werden, was möglich und denkbar ist. Die menschliche Fähigkeit zur Abduktion, die trotz aller Fehlleistungen immer wieder überzeugende und brauchbare Denkperspektiven und Hypothesen hervorbringt, ist nicht auf Zufallstreffer angewiesen. Sie gründet sich für Peirce in eine gewisse Einsicht des Denkens in die natürliche und geistige Welt, die dem Instinkt von Tieren vergleichbar ist bzw. die sich auf die Affinität des menschlichen Geistes zum Universum gründet. Die Ergebnisse von Abduktionen sind nicht mit Hilfe methodischer Strategien zu erzeugen, sondern konkretisieren sich im Prinzip in Form blitzartiger Einfälle.24 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang dann auch, dass Peirce das Bewusstsein nicht als Speicher bzw. als Vergegenwärtigungsraum von vorgegebenen Vorstellungsinhalten versteht, sondern als Operationsraum, in dem Ideen, Eindrücke und Willensimpulse so aufeinander wirken, dass immer neue Korrelationen bzw. Sinngestalten hergestellt werden können. Das Bewusstsein wird so gesehen zu einer Vermittlungsinstanz aller psychischen Kräfte, die darauf dringen, einzelne Elemente bzw. einzelne Erfahrungen zu komplexen Sinngestalten zu verbinden. Peirce repräsentiert sich das Bewusstsein im Bilde eines grundlosen Sees, in dem auf verschiedenen Ebenen Ideen schweben, die durch unterschiedliche Anstrengungen in Bewegung gesetzt werden können und sich dann in unterschiedlicher Weise miteinander verbinden.25 Das Zeichengedicht von Haecker exemplifiziert sehr schön, welches Aufgabenfeld der abduktiven Geistestätigkeit zugeordnet werden kann. Es werden bestimmte sinnliche Erfahrungsdaten thematisiert (Duft, Bild, Berührung), die 24
25
Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.181. „The abductive suggestion comes to us like a flash. It is an act of insight, although of extremely fallible insight. It is true that the different elements of the hypothesis were in our minds before; but it is the idea of putting together what we had never before dreamed or putting together which flashes the new suggestion before our contemplation." Vgl. auch 5.47, 5.173. Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 7.547, 7.554, 7.580.
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in bestimmten Kontexten (Fest, Saal, Hand) und im Rahmen bestimmter psychischer Dispositionen (Gefühl des Überfalls, der Erstarrung, des Bebens) wahrgenommen werden. Durch diese Wahrnehmungsperspektiven bzw. Interpretanten wird subjektiv sehr zwingend nahe gelegt, diesen Erfahrungsinhalten den Status von Zeichenträgern zuzuordnen, für die allerdings die entsprechenden Zeichenobjekte noch fehlen. In dieser Wahrnehmungssituation kommt nun alles darauf an, durch abduktive Hypothesenbildung die entsprechenden Zeichenobjekte zu konstituieren. Gerade dadurch, dass einzelne Erfahrungsdaten als noch ungesättigte Zeichenträger in Erscheinung treten, wird unsere Aufmerksamkeit auf das Problem gelenkt, unter welchen Bedingungen bestimmte Erfahrungsdaten zu Zeichenträgern und damit zur sinnlichen Basis von Zeichen werden können. Im Denkrahmen der Gestaltpsychologie ließe sich sagen, dass die Einzelerlebnisse, die Haecker in den ersten drei Strophen thematisiert, noch nicht die Struktur eines tatsächlichen Zeichens repräsentieren, sondern nur die Struktur der Vorgestalt eines Zeichens. Das jeweils Wahrgenommene muss durch zusätzliche Vorstellungen ergänzt werden, damit sich aus diesen vagen Vorgestalten über präzisierende Zwischengestalten eine prägnante Endgestalt herauskristallisieren kann. Dazu müssen Abduktionsprozesse aktiviert werden, in denen es zu einer konkreten Interpretantenbildung zu kommen hat. Erst wenn das geleistet worden ist, wird es sinnvoll, das Ergebnis dieser Sinnbildungsanstrengung durch einen sprachlichen Namen zu fixieren. Ein solcher Name bleibt aber solange sinnlos und unbefriedigend, wie die Interpretanten- und Objektbildungen nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt haben. Aus dieser Situation lässt sich ein fast paradoxer Schluss ziehen. In unserer Wahrnehmung verschwinden Zeichen als Zeichen, wenn sie problemlos funktionieren, weil wir dann gedanklich immer ganz bei dem sind, was sie repräsentieren bzw. was sie als Sinngestalten hervorbringen. Zeichen treten als Zeichen erst dann in unser Bewusstsein, wenn sie nicht richtig funktionieren bzw. wenn sie sich als Sinnbildungsinstrumente erst konstituieren und damit nicht als Ergebnisse von Denkanstrengungen in Erscheinung treten, sondern vielmehr als Manifestationsformen von Denkanstrengungen bzw. als Anregungsformen für Denkanstrengungen.
5. Die Zeichentypen Wenn man Zeichen als Relationsphänomene und Interpretationsmittel für die Objektivierung von Erfahrungen bzw. für die Erfassung von Welt versteht, dann stellt sich natürlich das Problem, wie sie sich nach ihrer jeweiligen Struktur und Funktion subklassifizieren lassen. Peirce hat in dieser Hinsicht außerordentlich differenzierte Unterscheidungen vorgenommen, die sich bei konkreten Zeichenanalysen nur begrenzt als praktikabel erwiesen haben. Von seiner
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Typisierung der Zeichen als Indizes, Ikons und Symbolen wird allerdings immer wieder Gebrauch gemacht, weil diese Differenzierung in der Tat eine gute Hilfe bietet, um die Rolle von Zeichen in Verstehensprozessen übersichtlich aufzuklären. Bei der Subklassifizierung von Zeichen nach Indizes, Ikons und Symbolen richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf die Relation zwischen Zeichenträger und Zeichenobjekt. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt des Interesses, ob sich aus der Spezifik von Zeichenträgern Hinweise auf die Spezifik der jeweiligen Zeichenobjekte ableiten lassen bzw. ob der jeweilige Zeichenträger in einer natürlichen oder in einer konventionellen Relation zu seinem Zeichenobjekt steht. Diese Frage ist insofern von erheblicher Bedeutung, als sich damit auch das Problem verknüpft, ob und inwieweit Zeichen spontan verstanden werden können und welcher Grad an informativer Präzision den einzelnen Zeichentypen eigen ist. Die von Peirce als Indizes und Ikons benannten Zeichentypen lassen sich im Prinzip als natürliche Zeichen verstehen, da über die Besonderheit der jeweiligen Zeichenträger auf die von ihnen thematisierten Zeichenobjekte geschlossen werden kann. Allerdings ist das nur möglich, wenn in den jeweiligen Verstehensprozessen auch die entsprechenden Zeicheninterpretanten aktiviert werden können bzw. ein entsprechendes Sachwissen, das natürlich auch kulturell geprägt sein kann. Dagegen sind für Peirce die so genannten Symbole im Gegensatz zu dem deutschen Sprachgebrauch, aber durchaus in Übereinstimmung mit dem angelsächsischen Sprachgebrauch, als künstliche Zeichen anzusehen. Für sie wird postuliert, dass der Zeichenträger in keiner natürlichen oder klar motivierten Beziehung zu seinem jeweiligen Zeichenobjekt steht, sondern vielmehr in einer konventionellen bzw. arbiträren. Sprachliche Zeichen sind deshalb nach Peirce im Prinzip als Symbole zu klassifizieren. Allerdings macht Peirce hier auch gewisse Ausnahmen, auf die noch näher einzugehen ist.
Indizes Der Zeichentyp Index liegt für Peirce dann vor, wenn ein Zeichenträger auf eine natürliche, meist kausal, aber auch räumlich oder zeitlich determinierte Weise auf sein Zeichenobjekt Bezug nimmt. Für Indizes ist deshalb typisch, dass sich bei Ihnen die Korrelation von Zeichenträger und Zeichenobjekt weder auf Ähnlichkeiten noch auf Konventionen gründet, sondern auf Kontinuitäten und Kontiguitäten.26 Wenn etwas immer im Zusammenhang mit etwas anderem vorkommt, kann es deshalb auch implikativ auf dieses andere hinweisen. So verweist beispielsweise die Stellung eines Wetterhahns auf eine bestimmte Windrichtung und eine Fußspur auf dessen Verursacher. Indizes las26
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 2.306.
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sen sich deshalb auch als Anzeichen oder Symptome bezeichnen. Es ist natürlich offensichtlich, dass das Verständnis eines bestimmten Phänomens als Zeichenträger für ein indexikalisches Zeichen immer ein bestimmtes Sachwissen über die Welt und insbesondere über Kausalitäts-, Raum- und Zeitverhältnisse voraussetzt. Das zeigt sich ganz besonders klar im Zusammenhang mit der Identifizierung von Krankheiten. Die Kunst des Arztes besteht darin, bestimmte Wahrnehmungsinhalte mit Hilfe seines medizinischen Sachwissens (Interpretant) als Indizes bzw. als Symptome für bestimmte Krankheiten deuten zu können. In dem Gedicht von Haecker wird nahe gelegt, einen bestimmten Duft, ein bestimmtes Bild und eine bestimmte Berührung als Index für ein anderes Phänomen zu verstehen. Als Index lässt sich der Duft verstehen, wenn man ihn beispielsweise als Anzeichen für die Existenz einer bestimmten Duftquelle versteht oder als Hinweis auf eine Situation, in der dieser Duft immer eine bestimmte Rolle spielt. Ähnliches wie für die Wahrnehmung des Duftphänomens als indexikalisches Zeichen gilt auch für die Wahrnehmung der Phänomene Bild und Berührung. Beide S ach Wahrnehmungen können den Wahrnehmenden auf etwas verweisen, das mit diesen Phänomenen auf sachlich zwingende Weise relationiert ist. Die Sachverhalte, auf die ein indexikalisch verstandener Zeichenträger verweisen kann, können sich mit Hilfe eines überindividuellen Sachwissens als Zeicheninterpretanten konstituieren, aber durchaus auch mit Hilfe von individuellen Erfahrungen und Erinnerungen. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung von etwas als Index bzw. die konkrete Zuordnung eines Zeichenobjekts zu einem indexikalisch verstandenen Zeichenträger von Person zu Person sehr unterschiedlich ausfallen kann. In unserem Gedicht steht fest, dass die drei Wahrnehmungsinhalte nicht als nackte Fakten wahrgenommen werden, aber es bleibt offen, worauf sie verweisen, wenn man sie als Indizes wahrnimmt. Offen bleibt weiter, ob man sie überhaupt oder primär als Indizes wahrnehmen muss oder ob sie nicht auch als Ikons wahrgenommen werden können. Sprachliche Zeichen sind im Prinzip als Symbole anzusehen, weil die Korrelation von Zeichenträger und Zeichenobjekt üblicherweise konventionell geregelt ist. Gleichwohl gibt es für Peirce in der Sprache aber rein funktionell gesehen auch indexikalische Zeichen. Deshalb unterscheidet er auch zwischen den genuinen und den abgeleiteten (degenerate) Indizes. Beispielsweise sieht er Eigennamen, Pronomen, Artikel und Präpositionen funktionell als Indizes an, weil sie im Rahmen von Verstehensprozessen die Aufgabe haben, bestimmte Vorstellungsinhalte erst mal aufzufinden und zu identifizieren.27 Im Bereich der Sprache lässt sich nun auch noch in einem anderen Denkzusammenhang von indexikalischen Zeichen sprechen, wenn wir beispielsweise folgende Strukturverhältnisse betrachten. Zunächst können wir mit einem 27
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 2.283-290,2.305.
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bestimmten Wort ein bestimmtes Sachphänomen benennen. Dieses Sachphänomen kann dann in einer Zeichenrelation zweiter Ordnung zu einem Zeichenträger werden, der indexikalisch mehr oder weniger zwingend kraft Implikation auf ein neues Zeichenobjekt verweist. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn wir davon ausgehen, dass das Wort Duft auf das Phänomen Duft verweist, das dann als indexikalischer Zeichenträger für ein anderes Zeichenobjekt in Anspruch genommen werden kann. Wie dieses neue Zeichenobjekt konkretisiert werden kann, bleibt allerdings vorerst noch offen, aber eben dadurch werden wir dann darauf aufmerksam gemacht, dass ein Duft nicht nur eine nackte Tatsache, sondern auch ein Zeichenträger sein kann. Dasselbe gilt natürlich auch für die indexikalische Interpretation der Phänomene Bild und Berührung. In der Literatur treffen wir sehr häufig auf die Situation, dass die Gestik, die Mimik oder die Kleidung von einzelnen Personen sehr ausfuhrlich beschrieben wird, wobei es aber nicht darum geht, uns bloße Realien mitzuteilen, sondern Sachverhalte, die als Indizes zu verstehen sind. Wenn beispielsweise bei Kleist immer wieder mitgeteilt wird, dass Personen in bestimmten Situationen erröten oder in Ohnmacht fallen, dann sind das keine beiläufigen Mitteilungen, die zur bloßen Präzisierung einer szenischen Vorstellung dienen, sondern wohl auch Manifestationsformen von Zeichen, durch die indexikalisch auf die innere Verfasstheit der jeweiligen Personen bzw. auf existenzielle Wendepunkte in deren Leben hingewiesen wird.
Ikons Der Zeichentyp Ikon liegt für Peirce dann vor, wenn der jeweilige Zeichenträger eine substanzielle, phänomenale, strukturelle oder funktionelle Ähnlichkeit mit seinem jeweiligen Zeichenobjekt hat, was beispielsweise bei Bildern, Stadtplänen oder Skizzen der Fall ist.28 Wegen dieser Analogien zwischen Zeichenträgern und Zeichenobjekten gibt es eine große Chance, ikonische Zeichen spontan zu verstehen. Deshalb sind sie auch immer wieder als natürliche Zeichen klassifiziert worden, die man auch ohne Kenntnis von Zeichenkonventionen gebrauchen und verstehen kann. Nun ist allerdings prinzipiell zu beachten, dass es immer verschiedene Intensitätsgrade von Ähnlichkeit gibt und dass Ähnlichkeit immer nur im Hinblick auf bestimmte Kriterien festgestellt werden kann. Deshalb ist auch damit zu rechnen, dass es bei Ikons unterschiedliche Grade von Ikonizität gibt und dass das Sehen von Ähnlichkeiten auch kulturabhängig ist bzw. eine gewisse Übung erforderlich macht. Dementsprechend gibt es auch keine scharfen Grenzen zwischen 'natürlichen' Ikons und 'konventionellen' Symbolen, sondern 28
Vgl. Ch.S. Peirce, Collected Papers, 2.247,2.279,2.299, 5.73.
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durchaus kontinuierliche Übergänge. Insbesondere Eco hat immer wieder betont, dass das Sehen von Ähnlichkeiten gelernt werden müsse und dass die Identifizierung von Ähnlichkeiten deshalb auch kulturspezifisch sehr unterschiedlich ausfalle.29 In dem Gedicht von Haecker lassen sich die jeweils thematisierten Sachverhalte als Zeichenträger nicht nur indexikalisch, sondern möglicherweise auch ikonisch deuten. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn man das Phänomen Duft nicht als indexikalischen Hinweis auf eine bestimmte Duftquelle versteht, sondern als einen ikonischen Hinweis auf das Phänomen der Harmonie von bestimmten Teilkomponenten. Es wäre auch der Fall, wenn man das Phänomen Bild nicht als materielles Gebilde sieht und auch nicht als einen indexikalischen Hinweis auf ein Besitzverhältnis oder auf eine ästhetische Vorliebe, sondern als einen ikonischen Hinweis auf das, was auf ihm abgebildet ist. Es wäre weiterhin der Fall, wenn man das Phänomen Berührung nicht als einen indexikalischen Hinweis auf die Existenz einer anderen Person oder deren Handlung versteht, sondern als ikonischen Hinweis auf das Phänomen der Nähe oder der Struktur eines Dialogs. Im Bereich der Sprache können ikonische Zeichen auf unterschiedlichen Ebenen und in vielerlei Gestalt in Erscheinung treten. Auf der phonetischen Ebene können die lautmalenden bzw. onomatopoetischen Wörter als ikonische Zeichen betrachtet werden, da sie hinsichtlich ihrer Lautsubstanz eine partielle Ähnlichkeit zu dem aufweisen, worauf sie als Zeichenobjekt verweisen (Kuckuck, Wauwau, ticken, klirren). Auf der morphologischen Ebene könnte man die Anreicherung eines Substantivs mit einem zusätzlichen Morphem (Tisch Tische) als ikonisches Zeichen fur die Kennzeichnung der Mehrzahl verstehen. Auf der syntaktischen Ebene könnte man die Reihenfolge von Satzgliedern bzw. Einzelvorstellungen als ikonisches Zeichen für die Thema-RhemaRelation bzw. für den Aufbau von spezifisch strukturierten komplexen Vorstellungen betrachten. Auch die Existenz von Parataxe und Hypotaxe ließe sich als ikonisches Zeichen für eine deskriptive oder analytisch orientierte Denkstruktur ansehen. Auf der textuellen Ebene könnte man die Existenz bzw. die Verwendung von bestimmten Textsorten {Epos, Novelle, Roman, geschlossenes/offenes Drama) als ikonische Zeichen für eine bestimmte Denkweise oder Kulturepoche betrachten. Einzuräumen ist nun allerdings auch, dass die sprachlich manifestierten Phänomene, die hier als ikonische Zeichen eingestuft worden sind, in einer anderen Wahrnehmungsperspektive durchaus auch als indexikalische Zeichen wahrgenommen werden können. Das trifft insbesondere dann zu, wenn man sich weniger für die möglichen Analogien zwischen Formen und Inhalten interessiert, sondern mehr für Formen als Indizien für die Existenz bestimmter Inhalte bzw. für die immanente Tendenz von bestimmten Inhalten, sich in 29
U. Eco, Semiotik, Entwurf einer Theorie der Zeichen, 1987, S. 254ff.
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solchen Formen zu objektivieren, die ein spontanes Wahrnehmen erleichtern oder gar erst ermöglichen. Das bedeutet, dass die Ikonizität bestimmter Sprachformen nicht nur von jedermann spontan erfasst werden kann, sondern durchaus auch zu einer Funktion von Wahrnehmungsinteressen und Denkperspektiven der jeweiligen Zeichenbenutzer werden kann. Eine ganz besondere Rolle spielen in der Sprache und insbesondere in der literarischen Sprache natürlich solche Zeichen, die sich in Analogie zu den so genannten abgeleiteten Indizes als abgeleitete Ikons verstehen lassen. Solche abgeleiteten ikonischen Zeichen ergeben sich strukturell durch folgende Umstände. In einer ersten Zeichenrelation werden durch Wörter, Sätze oder Texte spezifische SachVorstellungen objektiviert, die dann in einer zweiten Zeichenrelation als ikonische Zeichenträger für eine neue Zeichenrelation fungieren. In unserem Gedicht wäre das dann gegeben, wenn wir die Wörter Duft, Bild und Berührung in einem ersten Verstehensschritt als Bezeichnung von bestimmten Tatbeständen verstehen, die dann in einem zweiten Verstehensschritt als Zeichenträger für ikonische Zeichen zu rezipieren sind. In der traditionellen ästhetischen Terminologie werden solche abgeleiteten ikonischen Zeichen meist als Dingsymbole bezeichnet. Sie spielen in der natürlichen und insbesondere in der poetischen Sprache eine große Rolle. Einerseits können sie nämlich als Mittel verwendet werden, um etwas zu objektivieren, was sich einer begrifflichen Redeweise entzieht, weil es zu vielschichtig ist und deshalb nicht befriedigend auf den Begriff gebracht werden kann. Andererseits können sie aber auch als Mittel genutzt werden, um uns aus analysierenden linearen Verstehensprozessen zu Gunsten von synthetisierenden und ganzheitlichen herauszufuhren und eben dabei auch unsere kreativen Sinnbildungskräfte herauszufordern. Gerade in der poetischen Sprache haben wir es immer wieder mit einem sehr intensiven Gebrauch abgeleiteter ikonischer Zeichen zu tun, was traditionell als bildlicher bzw. symbolischer Sprachgebrauch bezeichnet wird. Oft erfassen wir diese zweite Sinnebene sprachlicher Zeichen nicht sofort, sondern erst im Rückblick, weil uns die dafür notwendige Wahrnehmungsperspektiven bzw. die dafür notwendigen Zeicheninterpretanten zunächst noch fehlen. Das mag ein Beispiel aus Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften exemplifizieren, wo wir generell auf eine sehr große Dichte abgeleiteter Ikons treffen bzw. auf einen ausgesprochen sinnbildlichen Sprachgebrauch. Gleich am Anfang des Romans wird beiläufig mitgeteilt, dass Eduard die schönste Stunde eines Aprilnachmittags dabei zugebracht habe, „um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen." Diese Information scheint zunächst nicht besonders bedeutsam zu sein. Der thematisierte Sachverhalt kann vorerst vom Leser nur als bloßes Faktum registriert werden, da ihm wegen des fehlenden Zeicheninterpretanten noch kein spezifischer Zeichencharakter zugeschrieben werden kann. Im Verlaufe des Romans entpuppt sich dieser Sachverhalt aber mehr und mehr als ein ikonisches Zeichen, mit
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dem Eduard vorausdeutend charakterisiert wird. Eduard kann nämlich die äußere und innere Natur nicht so belassen, wie er sie vorfindet, sondern strebt danach, sie zu 'veredeln', und eben dadurch ergeben sich dann spezifische Probleme, weil sich nicht alles seinem Formwillen unterwerfen lässt. Auch Metaphern lassen sich im Prinzip als abgeleitete ikonische Zeichen verstehen. Das gilt insbesondere dann, wenn man Metaphern im Sinne der traditionellen Substitionstheorie als einzelne Wörter versteht, die aus ornamentalen Gründen ersatzweise fur die eigentlich zu verwendenden Wörter benutzt werden. Genau betrachtet steht aber in Metaphern nicht ein sprachlicher Ausdruck für einen anderen sprachlichen Ausdruck, sondern eine Sachvorstellung für eine andere. Das ist möglich, weil die beiden Sachvorstellungen eine partielle Ähnlichkeit miteinander haben bzw. ein gemeinsames Drittes (tertium comparationis). In der Regel werden auf diese Weise abstrakte Sachvorstellungen durch besser vorstellbare konkrete Sachvorstellungen ersetzt. Das zeigt sich etwa dann, wenn man die Sachvorstellung Alter durch die Sachvorstellung Abend des Lebens oder die Sachvorstellung dichten durch die Sachvorstellung Pegasus besteigen ersetzt. Von dem Konzept des abgeleiteten Ikons lässt sich auch Gebrauch machen, wenn man eine Metapher im Rahmen der Interaktionstheorie nicht als einzelnes Wort, sondern als widersprüchliche Prädikation versteht. Metaphern liegen nach diesem Konzept immer dann vor, wenn zwei sprachliche Sinneinheiten determinativ aufeinander bezogen werden, die so eigentlich nicht aufeinander bezogen werden dürften, weil sie ganz unterschiedlichen Kategorien zugehören bzw. auf ganz unterschiedliche Seinskatgorien verweisen (Der Faschismus ist ein Krebsgeschwür.). In solchen Fällen wird dann nicht ein Begriff determinativ auf einen anderen Begriff bezogen, sondern vielmehr ein konkretes Vorstellungsbild auf einen abstrakten Basisbegriff projiziert, um diesen im Bilde bzw. mit Hilfe einer sinnlichen Vorstellung besser vorstellbar zu machen. In solchen Fällen geht es bei der bestimmenden sprachlichen Einheit dann nicht mehr um deren begrifflichen Inhalt, sondern um die von ihm repräsentierte sinnliche Vorstellung (Der Faschismus ist eine Ideologie. Der Faschismus ist ein Krebsgeschwür.).
Symbole Der Zeichentyp Symbol liegt für Peirce dann vor, wenn ein Zeichenträger mit seinem Zeichenobjekt weder durch natürliche Kontinuitäts- oder Implikationszusammenhänge verknüpft ist noch durch substanzielle, strukturelle, phänomenale oder funktionale Ähnlichkeiten, sondern allein durch soziale Konventionen. Diesem Zeichentyp ordnet Peirce den höchsten Grad von Zeichenhaftigkeit zu, weil die möglichen Objektbezüge des jeweiligen Zeichenträgers im Gegensatz zu denen von Indizes und Ikons durch natürliche Gegebenheiten
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nicht eingeschränkt werden. Symbole sind zwar nicht so leicht spontan verstehbar wie Indizes und Ikons, aber dafür lässt sich über sie jeder überhaupt denkbare Inhalt objektivieren und vermitteln. Die kognitive Freiheit bzw. die semantische Flexibilität von Symbolen macht es allerdings erforderlich, dass bei ihrer Konstitution und ihrem Gebrauch den jeweiligen Zeicheninterpretanten eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Den Symbolen ordnet Peirce den höchsten Grad von Zeichenhaftigkeit zu, weil sich mit deren Hilfe die Fähigkeit des Menschen zu Relationierungen, Interpretationen und Vermittlungen am freiesten entfalten kann. Wenn es keine Symbole gäbe, dann könnte sich nach Peirce das Denken nicht wirklich frei entfalten, da sich seiner Meinung nach alles Denken nur über Zeichen manifestieren kann.30 Gerade weil Peirce seinen Erkenntnisbegriff nicht auf den Abbildungsbegriff, sondern auf den Handlungsbegriff gründet, spielen für ihn Symbole eine so wichtige Rolle. Das dokumentiert auch seine so genannte pragmatische Maxime. Die pragmatische Maxime von Peirce besagt, dass wir die Welt letztlich nicht in Kontemplations-, sondern nur in Handlungsprozessen adäquat erfassen könnten. Da unser Begriff eines Gegenstandes letztlich aus der Kenntnis der Wirkungen resultiere, die der jeweilige Gegenstand in Handlungsprozessen zeitige, zitiert er auch zustimmend die biblische Maxime, dass man etwas an seinen Früchten erkennen könne.31 Mit diesem Hinweis auf ein Jesus-Wort will er sich zugleich auch gegen den potenziellen Vorwurf verteidigen, dass seine pragmatische Maxime sich auf ein skeptisches oder materialistisches Prinzip gründe. Symbole sind Peirce als flexibel einsetzbare Zeichen auch deshalb so wichtig, weil sich mit ihnen natürlich Semiose- und Synechismusprozesse unbegrenzter fortspinnen lassen als mit Indizes und Ikons. In dem Gedicht von Haecker geht es primär nicht um Zeichen im Sinne von Symbolen, sondern vielmehr um Zeichen im Sinne von Indizes und Ikons. Dennoch lässt sich aber auch die These vertreten, dass es in ihm zugleich auch um Symbole bzw. sprachliche Zeichen geht. Diesbezüglich kann man zweierlei geltend machen. Einerseits äußert das sprechende Ich in der letzten Strophe das Bedürfnis nach Namen, um die erlebten Phänomene sprachlich zu benennen und damit auch begrifflich einordnen zu können. Andererseits ist es sich im Klaren darüber, dass solche Benennungen nicht weiterhelfen, da es sich ja nicht um Bezeichnungen für Sachobjekte handelt, sondern um sprachliche
30
31
Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.251. „The only thought, then, which can possibly be cognized is thought in signs. But thought which cannot be cognized does not exist. All thought, therefore, must necessarily be in signs." Ch.S. Peirce, Collected Papers, 5.402. „It appears, then, that the rule for attaining the third grade of clearness of apprehension is as follows: Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object."
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Bezeichnungen für Zeichen, bei denen die Etikettierung mit einem bloßen Namen nicht wirklich weiterführt. Außerdem lässt sich in diesem Zusammenhang auch noch auf einen anderen Tatbestand verweisen. Dadurch, dass in dem Gedicht sprachliche Zeichen nicht einfach für die Objektivierung von einfachen Sachgegenständen verwendet werden, sondern dass das Zeichenproblem selbst zum Denkgegenstand gemacht wird, stellt sich implizit natürlich die Frage, mit welchen Mitteln wir Zeichen zum Gegenstand unseres Denkens machen können bzw. ob wir mit Zeichen über Zeichen ebenso reden können, wie wir mit Zeichen über die Welt zu reden vermögen. Das ist eine logisch durchaus brisante Frage. Logiker haben nämlich immer wieder betont, dass ein System nicht mit den Mitteln desselben Systems befriedigend analysiert und beschrieben werden könne, sondern nur mit Mitteln eines Systems, das eine logische Stufe höher anzusiedeln sei als das zu analysierende System. Wenn man nicht beachte, dass ein System nur mit Hilfe eines Metasystems zu analysieren sei, dann gerate man zwangsläufig in die Probleme und Paradoxa von Selbstbezüglichkeiten. Wenn man diese Überlegungen zur Notwendigkeit der logischen Stufung von Analysegegenstand und Analysemittel ernst nimmt, dann wird einsichtig, dass indexikalische und ikonische Zeichen nicht dazu verwendbar sind, ihre eigene Struktur auf einer Metaebene zu analysieren bzw. sich selbst zu thematisieren und zu interpretieren. Dazu benötigt man Zeichen, die eine logische Stufe höher angesiedelt sind. Für eine solche Aufgabe eigenen sich aber Symbole im Peirceschen Sinne bzw. sprachliche Zeichen, weil sie einen anderen Typ von Zeichen darstellen bzw. weil ihnen ein höherer Grad an Zeichenhaftigkeit eigen ist als Indizes und Ikons. Die Verbalsprache gilt deshalb zu Recht als letzte Metasprache zur Konstruktion und Interpretation aller anderen Zeichen und Zeichensysteme. Es ist deshalb auch völlig selbstverständlich und zwingend, dass sich Haecker der Verbalsprache bedient, um das Zeichenproblem als Zeichenproblem zu thematisieren bzw. um Überlegungen zur Zeichenproblematik anzustellen. Es mag sein, dass Indizes und Ikons uns einen direkteren und vielleicht auch fundamentaleren Weltkontakt sichern als Symbole, weil sie den begrifflichen menschlichen Interpretationsinteressen keinen so großen Raum öffnen. Sie sind aber relativ unbrauchbar, wenn wir mit Zeichen auf die Zeichenproblematik selbst aufmerksam machen wollen. Man könnte hinsichtlich der Metaproblematik vielleicht auch noch einen Schritt weiter gehen. Dann kann man postulieren, dass die Verbalsprache nicht nur als Metasprache für die Beschreibung und Konstruktion anderer Zeichensysteme dienlich ist, sondern auch als Metasprache für die Analyse ihrer selbst. Das erscheint logisch zunächst sehr bedenklich, weil es an das Kabinettstückchen von Münchhausen erinnert, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf herauszuziehen. Aber diese Funktionsflexibilität der Verbalsprache lässt sich zumindest im Hinblick auf die polyfunktionale natürliche Umgangssprache
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recht plausibel begründen. Im Hinblick auf formalisierte Fachsprachen gerät man diesbezüglich aber schon in Schwierigkeiten. Die Funktionsflexibilität der natürlichen Verbalsprache gründet sich darauf, dass der Objekt- und Interpretantenbezug von verbalen Zeichen nach pragmatischen Bedürfnissen frei gestaltet werden kann und keinerlei Rücksicht auf den jeweiligen Zeichenträger nehmen muss und vergleichsweise relativ weniger Rücksicht auf soziale Konventionen als formalisierte Fachsprachen. Wir können den Sinn bzw. den Objekt- und Interpretantenbezug von Zeichen beim Gebrauch von Zeichen durchaus verändern. Sei es, dass wir durch metainformative Äußerungen bzw. Definitionen die Semantik von Wörtern explizit für unsere Bedürfnisse abändern, sei es, dass wir bestimmte Wörter in Kontexten verwenden, die uns dazu zwingen, die Bedeutung dieser Wörter mit Rücksicht auf unser Weltwissen so abzuändern, dass sie wieder für Sinnbildungsprozesse verwendbar werden. Letzteres exemplifizieren insbesondere Metaphern auf schlagende Weise. Die Zeichen der natürlichen Sprache sind in ihrer Leistungsfähigkeit nicht in dem Maße von außen determiniert wie Indizes und Ikons. Allerdings verlieren auch sie ihre pragmatische Nützlichkeit, wenn sie sich von sozialen Konventionen lösen und nur noch als private Zeichen in Erscheinung treten. Die intersubjektive Verständlichkeit von Zeichen ist deshalb eine Voraussetzung für ihre pragmatische Funktionalität, da jeder Zeichengebrauch auf intersubjektive Verständlichkeit angelegt ist und da man selbst etwas auch nur dann richtig versteht, wenn man es potenziell auch anderen verständlich machen kann. Dabei wird dann sowohl ein gemeinsames Weltwissen als auch ein gemeinsames Sprachwissen unabdingbar. Die außerordentliche Flexibilität der natürlichen Sprache gründet sich nicht zuletzt auch darauf, dass wir sie nicht nur begrifflich gebrauchen können, sondern auch sinnbildlich bzw. ikonisch. Wo wir mit der begrifflichen Rede nicht mehr recht weiterkommen, da greifen wir zu der analogen Rede bzw. zur Verwendung von abgeleiteten Ikons. Haecker führt uns das auf gleichsam exemplarische Weise vor. Er redet nicht begrifflich wie ein Semiotiker über Zeichen, sondern erzählt uns etwas über konkrete Zeichenerfahrungen bzw. über die Probleme, die mit konkreten Zeichenerfahrungen zusammenhängen. Er thematisiert das Zeichenproblem nicht über das Kodekonzept, sondern über das Interpretationskonzept. Da die natürliche Sprache im Gegensatz zu formalisierten Sprachen keine Probleme damit hat, auch bildliche Redeweisen zuzulassen bzw. den Gebrauch von abgeleiteten Ikons, hat sie eine sehr große Funktionsflexibilität. Insbesondere der poetische Sprachgebrauch ist immer wieder als diejenige Sprachverwendungsform bezeichnet worden, mit der man bis zu den Grenzen sprachlich fundierter Sinnbildungsmöglichkeiten vorstoßen könne. Hamann hat das eindrucksvoll formuliert.
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„Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, - als Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüssel: Tausch, - als Handel ... Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit." 32
32
J.G. Hamann, Aesthetica in nuce, Schriften zur Sprache, 1967, S. 107.
Schlussbemerkungen Üblicherweise wird von Schlussbemerkungen erwartet, dass in ihnen ein Fazit gezogen wird, das als Fundament oder zumindest als Ausgangspunkt für neue Überlegungen genutzt werden kann. Eine solche Erwartung lässt sich hier kaum erfüllen, da weder eine geschlossene Theorie zur Sprache noch zur Sprachreflexion vorgestellt werden sollte, die einen Wahrheitsanspruch im traditionellen Sinne stellen könnte. Die Zielsetzungen dieses Buches bestanden vielmehr darin, darauf aufmerksam zu machen, dass man das Phänomen Sprache nicht nur dadurch kennen lernt, dass man theoretische Sätze über sie konzipiert oder rezipiert, sondern auch dadurch, dass man Geschichten über sie erzählt und Geschichten über sie zu verstehen versucht. Wenn man nun aber über Sprache nichts Definitives behaupten will, sondern sie dadurch besser kennen lernen möchte, dass man sich mit Situationen beschäftigt, in denen sie eine wichtige Rolle spielen kann, dann lässt sich über sie keine abschließende Einsicht formulieren, weil jede Einsicht strukturell von vornherein auf ergänzende, variierende und relativierende andere Einsichten bezogen werden muss. Allenfalls ließe sich sagen, wofür uns eine bestimmte Geschichte zur Sprache sensibilisieren kann. Bei der Präsentation und Interpretation der einzelnen Geschichten aus fast drei Jahrtausenden wurde weder das Ziel verfolgt, einzelne Geschichten als wertvoll oder als abstrus zu qualifizieren, noch das Ziel, sie als Bausteine oder als legitimierende Basis für ein bestimmtes Konzept von Sprache in Dienst zu nehmen, noch das Ziel, eine Entwicklungsgeschichte der Sprachreflexion zu rekonstruieren. Vielmehr sollte gezeigt werden, dass alle Geschichten über Sprache, seien sie nun real oder fiktional, gute Chancen bieten, uns auf kasuistische Weise mit dem Phänomen Sprache bekannt zu machen und unseren Schatz von individuellen Spracherfahrungen so auszuweiten, dass eine umfassende Theoriebildung über Sprache möglich wird. Unter einer vernünftigen Theoriebildung wird dabei eine solche verstanden, die das Phänomen Sprache in seiner Vieldimensionalität zu erfassen versucht und es nicht gleich abstraktiv so vereinfacht, dass es nur noch methodisch verstümmelt in unser Bewusstsein tritt. Geschichten über Sprache machen uns mit dem Gegenstand Sprache auf eine ganz andere Weise bekannt als Theorien. Sie behaupten nichts über die Sprache, sondern geben uns nur etwas über sie zu verstehen, das wir später
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Schlussbemerkungen
allenfalls fur Behauptungen über Sprache verwerten können. Geschichten verweisen immer auf andere Geschichten und akzentuieren eben dadurch auf eine fast ironische Weise ihre eigene Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit. Sie machen indirekt auf die Unmöglichkeit aufmerksam, das Phänomen Sprache abschließend auf den Begriff zu bringen. Da in Geschichten immer Einzelfälle aufgegriffen werden, machen sie die Anschauung einer Sache immer zu einem Korrektiv des Begriffs dieser Sache. Sie stellen einen Typ der Wissens- und Weltmodellierung dar, der sich nicht nur habituell, sondern auch inhaltlich von dem der begrifflichen Wissens- und Weltmodellierung unterscheidet. Narrative und begriffliche Objektivierungsstile relativieren sich aber nicht nur gegenseitig, sondern sie ergänzen sich auch. Begriffe lassen sich narrativ exemplifizieren und Geschichten lassen sich begrifflich interpretieren. Geschichten über ein Phänomen orientieren sich auch an einem anderen Wahrheitsbegriff als Theorien über dieses Phänomen. Das lässt sich sehr schön durch einen Aphorismus von Robert Musil veranschaulichen, der den Wahrheitsbegriff ähnlich wie Goethe und Peirce nicht mit dem Abbildungs-, sondern vielmehr mit dem Fruchtbarkeitsbegriff in Zusammenhang gebracht hat. ,ßie Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt Dieser Aphorismus legt nahe, das Phänomen bzw. den Begriff der Wahrheit nicht im Sinne einer festen Inhaltsvorstellung von bestimmten Gegenständen oder Sachverhalten zu verstehen, die so strukturiert ist, dass man diese gut beherrschen kann, sondern vielmehr so, dass wir uns mit dem Wahrheitsbegriff einen Wissenszusammenhang repräsentieren, der für unsere Denk- und Handlungsprozesse tragfähig wird, wenn man adäquat mit ihm umgeht bzw. sich angemessen in ihm bewegt. So gesehen lässt sich die Auffassung vertreten, dass uns Geschichten über Sprache im Gegensatz zu Theorien über Sprache kein fixierbares Gegenstandswissen über Sprache objektivieren und vermitteln wollen, welches als Herrschaftswissen verwertbar ist, sondern allenfalls ein Aspekt-, Dimensions- und Strukturwissen von Sprache, das als Handlungswissen fruchtbar gemacht werden kann. Durch Geschichten über Sprache lässt sich exemplarisch zeigen, welche Funktionen und Implikationen mit der Sprache verbunden sein können und welche Probleme sich ergeben, wenn man inadäquat mit ihr umgeht. Geschichten über Sprache machen uns mit der Sprache als einem Phänomen bekannt, das theoretisch nicht so leicht in den Begriff zu bekommen ist und das sich gegenüber allen begrifflichen Objektivierungsanstrengungen als sehr widerborstig und sperrig erweist. Deshalb versuchen Geschichten auch, uns Sprache nicht in einem Begriffszusammenhang, sondern vielmehr in einem Wirkungszusammenhang zugänglich zu machen. Das bedeutet, dass uns Geschichten über Sprache dabei helfen können, unsere sprachtheoretische Nase so direkt 1
R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, 1978, Bd. 2, S. 533-534.
Schlussbemerkungen
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wie möglich auf der Fährte der Sprache zu halten und unsere sprachtheoretischen Konzepte ausreichend zu erden. Geschichten über Sprache eröffnen uns immer einen kasuistischen Zugang zur Sprache, also einen, den begriffliche Objektivierungsbemühungen nicht nur vermeiden, sondern auch transzendieren wollen. Aber eben dadurch verstricken uns narrative Objektivierungen von Sprache auch sehr viel nachhaltiger und intensiver mit diesem Phänomen als begriffliche, weil diese notwendigerweise eine abstraktivere und kontemplativere Distanz zur Sprache suchen müssen als narrative, um sie als Ganzheit besser in den Blick zu bekommen. Dabei laufen sie allerdings immer wieder Gefahr, ihre konkreten funktionalen Charakteristika aus den Augen zu verlieren sowie ihre anthropologische Relevanz. Theorien und Geschichten über Sprache modellieren ihren Gegenstand auf je eigene Weise, weil sie sich ihm in unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen nähern. Da sie verschiedene Stile des Sehens repräsentieren und auf unterschiedliche kognitive Fähigkeiten des Menschen bezogen sind, stehen sie deshalb auch nicht in einer alternativen, sondern in einer komplementären Relation zueinander. Wer eine Geschichte über Sprache erzählt, der verzichtet darauf, begrifflich und schlüssig zu argumentieren. Er verzichtet aber nicht darauf, uns Sprache auf eine ganz bestimmte Weise in die Vorstellung zu rücken und damit zu objektivieren. Narrative Objektivierungen zwingen uns dazu, Sprache erst einmal intensiv anzuschauen, bevor wir den Anspruch erheben, sie begrifflich zu durchschauen und belehrende Behauptungen über sie aufzustellen. Geschichten über Sprache respektieren dieses Phänomen als ein dynamisches Objekt im Sinne von Peirce, das uns zwingt, uns selbst geistig zu bewegen, wenn wir es besser kennen lernen wollen. Das bedeutet, dass der Produzent und der Rezipient der jeweiligen Geschichte ein dialogisches Verhältnis zur Sprache aufbauen muss, in dem er nicht nur das Phänomen Sprache besser versteht, sondern letztlich auch sich selbst. Geschichten über Sprache weiten unsere persönlichen Erfahrungsmöglichkeiten von Sprache aus und provozieren dazu, die jeweiligen Geschichten weiterzuspinnen, zu ergänzen oder zu relativieren. Sie bilden hermeneutische Herausforderungen, die sich sowohl auf das Verständnis der jeweiligen Geschichte als Geschichte als auch auf das Verständnis des Phänomens Sprache als auch auf das Verständnis unserer Auffassungen über die Sprache beziehen können. Während Theorien über Sprache in der Regel einen Totalitätsanspruch erheben und daher tendenziell zu einem affirmativen Nachvollzug einladen, regen uns Geschichten über Sprache eher dazu an, die gegebenen Informationen mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen bzw. das eine im Lichte des anderen zu überprüfen. Zum Inhalt einer Geschichte als komplexes Zeichen für einen Sachverhalt gehört so gesehen nicht nur das, was in ihr faktisch gesagt wird, sondern potenziell auch das, was sie ins Bewusstsein zu bringen vermag. Peirce hat das
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Schlussbemerkungen
mit seinem Semiose- und Synechismuskonzept ja sehr nachdrücklich postuliert. Geschichten über Sprache machen uns nicht nur mit Fällen bekannt, in denen Sprache eine maßgebliche Rolle spielt, sondern sie sind zugleich auch als Gedankenexperimente zu begreifen, in denen Sprache auf eine ganz bestimmte Weise modelliert bzw. in unser explizites Bewusstsein gebracht wird. Wir lernen in Geschichten Sprache keineswegs nur phänotypisch kennen, sondern auch genotypisch, wenn wir fruchtbare Erschließungsfragen für sie zu entwickeln versuchen. Das bedeutet, dass Geschichten über Sprache einerseits als Exemplifizierungsmöglichkeiten für Theorien über Sprache rezipiert werden können, dass sie andererseits aber auch als Ansatzpunkte für Theoriebildungen wahrgenommen werden können. Sie können uns Fälle repräsentieren, die wir mit unseren bisherigen Begriffen und ErklärungsStrategien nicht mehr bewältigen können und für die wir deshalb neue Sprachkonzepte erarbeiten müssen. Wittgenstein hat diese Strukturverhältnisse sinnbildlich sehr schön zum Ausdruck gebracht. „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück."2 Geschichten über Sprache sind genetisch betrachtet nun aber nicht nur Ausdrucksformen einer kreativen Fantasie, sondern zugleich auch Antworten auf Unsicherheiten. Man erzählt sich und anderen nur dann Geschichten, wenn man ein Problem lokalisieren und strukturieren will, das einen irgendwie bedrängt. Über Selbstverständlichkeiten erzählt man keine Geschichten. Aus historischem Abstand lässt sich nicht immer leicht klären, auf welche aktuellen Probleme und Fragen die jeweiligen Geschichten geantwortet haben. Solche historischen Rekonstruktionen sind nur möglich, wenn wir uns die historischen Umstände vergegenwärtigen, in die die einzelnen Geschichten entstehungsgeschichtlich jeweils eingebettet waren, wozu natürlich ein historisches Sachwissen unabdingbar ist. Geschichten können nun aber keineswegs nur auf Fragen antworten, die sich die jeweiligen Verfasser im Denkklima ihrer Zeit gestellt haben, sondern auch auf Fragen, die wir möglicherweise erst aus dem Erfahrungs- und Sachwissen unserer Zeit an sie stellen können. Das ist möglich, weil Geschichten uns immer Einzelfälle ins Bewusstsein rufen, die im Prinzip Vorstellungsbilder repräsentieren, deren indexikalisches Implikationspotenzial und deren ikonisches Analogiepotenzial kaum endgültig fixierbar und ausschöpfbar ist. Wir können Geschichten über Sprache nicht nur dazu benutzen, unsere eigenen Sprachvorstellungen kontrastiv von denen der jeweiligen Geschichten abzusetzen bzw. vor diesem Hintergrund zu präzisieren, sondern auch dazu, unser eigenes Verständnis bzw. Vorstellungsbild von Sprache auf das in den jeweiligen Geschichten repräsentierte Vorstellungsbild zu projizieren. Aus den Überlagerungen von Vorstellungen bzw. Ordnungsstrukturen unterschiedlicher Herkunft können sich dabei neue Vorstellungen ausbilden oder alte verstärken 2
L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1967, S. 110, § 217.
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bzw. auslöschen. Solche Interaktionsstrukturen zwischen dem Gegebenen und dem Herangetragenen bzw. zwischen begrifflichen und bildlichen Objektivierungsformen lassen sich beispielsweise auch gut an Metaphern beobachten. Geschichten über Sprache als Wahrnehmungsweisen von Sprache erschöpfen sich nicht in einer einzigen Interpretation, sondern gehen notwendigerweise in andere Interpretationen über und zwar auch in Interpretationen, die zur Entstehungszeit dieser Geschichten möglicherweise noch ganz undenkbar waren. Die Annahme, dass eine Geschichte über Sprache nur eine einzige Interpretation zulasse und im Prinzip nur ein Konzept von Sprache illustriere, ist abwegig. Zumindest gute Geschichten über Sprache können nicht nur verschiedene Interpretationen aushalten, sondern müssen diese geradezu provozieren. Ebenso wie ein altes irisches Bonmot davon ausgeht, dass die Realität eine Illusion sei, die aus Mangel an Alkohol entstehe, so lässt sich vielleicht auch davon ausgehen, dass die Vorstellung, eine Geschichte lasse nur eine Interpretation zu, eine Illusion ist, die aus Mangel an geistiger Beweglichkeit resultiert. Die These, dass gute Geschichten über Sprache dafür offen sein müssen, dass man auch Sprachkonzepte anderer Zeiten in sie hineinprojizieren kann, hat natürlich auch ihre Grenzen. Wenn man dieses Prinzip überstrapaziert, nimmt man Geschichten die Chance, als Stolpersteine und Widerstandsnester wahrgenommen zu werden, die unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten für Sprache ausweiten, weil sie uns dazu zwingen, neue Sichtweisen auf Sprache zu entwickeln. Nur wenn wir bei der Rezeption von Geschichten über Sprache auch Fremdheitserlebnisse haben und über etwas ins Staunen geraten können, dann lernen wir etwas Neues über die Sprache und müssen unsere üblichen Auffassungen von Sprache eventuell auch revidieren. Wer Geschichten über die Sprache nur als historische Fossilien, aparte Kuriosa, illustrierende Exempel oder normgebende Autoritäten versteht, der nimmt sie als mäeutische Hilfen und Dialogpartner nicht wirklich ernst. Das geschieht erst, wenn sie als widerständige dynamische Erkenntnisobjekte wahrgenommen werden, deren Prämissen, Implikationen, Konsequenzen und Analogien nicht so leicht freizulegen sind. Apriorisch lässt sich nicht festlegen, welche Fragen an Geschichten legitim und fruchtbar sind und welche nicht bzw. welche Interpretationen akzeptabel sein könnten und welche nicht. Das lässt sich allenfalls aposteriorisch beurteilen, wenn man einen möglichen Zugang konkretisiert hat. Das Verhältnis von Offenheit für das, was eine Geschichte zu objektivieren und zu vermitteln versucht, und dem, was wir an Fragen und Interpretationen an sie herantragen können und müssen, ist immer wieder im Sinne eines Fließgleichgewichtes auszutarieren. Das mag eine Analogie zwischen der Arbeit eines Bildhauers am Stein und der Arbeit eines Interpreten am Text verdeutlichen. Nach einem alten Apergu besteht die Arbeit des Bildhauers darin, an einem Stein all das wegzuschlagen, was überflüssig ist. Das bedeutet, dass er
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dem Stein nicht nur das aufzwingt, was er sich als normgebendes Bild zuvor ausgedacht hat, sondern dass er den Stein erst zu dem macht, was potenziell in ihm angelegt ist, was aber zunächst noch nicht zureichend prägnant an ihm hervortreten kann. In Analogie dazu ließe sich dann sagen, dass auch der Interpret seinen Text als einen Rohling betrachten kann, den er durch seine Interpretationsarbeit erst zu einer prägnanten Sinngestalt macht, weil er unsere Aufmerksamkeit auf das Wichtige fokussiert und das Unwichtige ausblendet. Dieses Sinnbild für das Geschäft des Bildhauers am Stein und des Interpreten am Text ist wegen seiner inneren Ambivalenz sehr aufschlussreich. Einerseits legt es nahe, dass der Bildhauer und der Textinterpret konstruktiv tätig sind, weil sie das Chaos bzw. den unstrukturierten Stoff zu einem Kosmos bzw. zu einer strukturierten Sinngestalt machen. Andererseits macht es darauf aufmerksam, dass beide auf bestimmte Vorgaben, wenn nicht Vorgestalten angewiesen sind, dass sie also nicht aus dem Nichts etwas schaffen bzw. einem Stoff ihre ganz persönliche Ordnungsidee aufzwingen, sondern dass sie nur etwas freilegen, was im Prinzip schon in dem Stoff angelegt ist und worüber man sich nicht einfach hinwegsetzen kann. Das, was nun allerdings in dem jeweiligen Stoff schon angelegt ist, das ist nicht vorab fixierbar, sondern ergibt sich erst während der Stoffbearbeitung selbst und kann deshalb von Bearbeitungsstrategie zu Bearbeitungsstrategie auch ganz unterschiedlich ausfallen. Auf jeden Fall impliziert dieses Sinnbild, dass der Bildhauer und der Interpret trotz der von ihnen geforderten kreativen Energie nicht machen können, was sie wollen, sondern nur das, was der jeweilige Stoff zulässt. Bei der Bearbeitung eines Steines und eines Textes wird einerseits beiden etwas genommen, weil etwas für irrelevant erklärt wird und aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird. Andererseits wird beiden durch die Bearbeitung aber auch etwas gegeben, insofern dem, was potenziell in einem Stoff angelegt ist, eine fassbare Gestalt gegeben wird. Dieses Geben ist allerdings nicht im Sinne eines additiven Hinzufügens zu verstehen, sondern im Sinne einer Entschleierung von etwas, was als Potenzialität immer schon da ist, was aber erst in einer bestimmten Wahrnehmungsperspektive konkret in Erscheinung treten kann. Dieses Denkmodell zu den Aktivitäten von Bildhauern und Textinterpreten kann platonische Implikationen nicht verleugnen, weil Wahrnehmungsund Gestaltungsprozesse tendenziell als Entschleierungsprozesse von vorgegebenen substanziellen Kernen bzw. Ideen verstanden werden. Das mögen viele als ein allzu idealistisches Modell ansehen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass wir diesem Grundmodell immer wieder verpflichtet sind, wenn wir von Oberflächen- und Tiefenstrukturen, von Erscheinungen und Begriffen, von Formen und Substanzen sowie von Bedeutung und Sinn sprechen. Die hier vorgelegten Textinterpretationen müssen sich natürlich dem potenziellen Vorwurf stellen, dass in die jeweiligen Texte ein Sinn hineinprojiziert worden ist, dem die Texte ursprünglich gar keinen Ausdruck geben woll-
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ten bzw. der überhaupt nicht in ihnen verborgen ist. In diesem Zusammenhang darf aber nicht vergessen werden, dass uns prinzipiell verlässliche Maßstäbe dafür fehlen, anhand derer wir eindeutig beurteilen könnten, ob eine Interpretation den ursprünglichen Sinnbildungsintentionen des Textproduzenten entspricht oder nicht bzw. ob sie überhaupt zutreffend ist oder nicht. Wir können eine Interpretation immer nur mit anderen Interpretationen vergleichen, aber nicht mit der Sache selbst. Wir können sie immer nur nach Plausibilitätskriterien beurteilen bzw. nach ihrer Vereinbarkeit mit unseren Sacherfahrungen, aber nicht mit der Wahrheit selbst. Wenn wir die einzelnen Geschichten über Sprache als indexikalische und ikonische Zeichen für Sprache verstehen, dann lassen sie sich zugleich auch als Fenster zur Sprache verstehen. Aus der Größe und Form der Fenster ergibt sich, in welchem Rahmen wir die Sprache sehen. Aus der Anordnung der Fenster in unserem Wahrnehmungsraum ergibt sich, in welcher Hinsicht wir die Sprache betrachten. Aus der Struktur des Fensterglases ergibt sich, wie klar uns die Sprache in Erscheinung tritt. Aus unserer Stellungsposition zu den Fenstern ergibt sich, ob wird die Sprache in einem engen oder in einem weiten Blickwinkel ins Auge fassen. Ohne Geschichten über Sprache wäre unser Blick auf die Sprache in jedem Fall ärmer.
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Akbar der Große von Indien 139 Alain von Lille 244 Albertz, R. 67 Alice 315-348 Aristoteles 8, 23, 40, 123, 201, 208, 236, 305, 3 5 7 , 4 0 4 Asklepios 71 Assmann, A. 171, 243, 360 Assmann, J. 366f. Athene 72f. Augustin 244, 460 Augustinus von Dakien 94 Aureliano 349, 351, 374f. Avicinna 137 Bacon, F. 119, 209,219, 303 Ballauff, Th. 194 Baltzer, U. 113 Bartlett, F.C. 156, 3 6 3 , 3 7 9 Bernhard von Clairvaux 99 Bichsei, P. 43f., 390, 393ff., 397f., 418, 423f. Bickerton, D. 135 Biermann, W. 473 Black, M. 415 Bloch, E. 100 Blumenberg, H. 55, 198, 220f., 244, 246 Börners, J. 119 Boost, Κ. 456 Borges, J.L. 382, 385ff. Borsche, Τ. 111 Borst, A. 92, 96, 99, 140 Brandt, R. 209 Brentano, Β. v. 1 Bröcker, W. 79 Brummack, J. 267 Bruner, J. 188 Buber, Martin 79 Bühler, K. 34, 410, 420, 440, 446f., 456, 495,497 Buendia, J.A. 349-353, 359, 377 Bursill-Hall, G.L. 209
Cajetan, 236 Capelle, W. 235 Carnap, R. 189,301 Carroll, L. 318ff„ 341,345ff. Cassirer, E. 9 , 2 2 0 f „ 2 4 6 , 4 8 8 Chandos, Lord 119,219 Cherubim 63, 77 Chladenius, J.M. 19,37 Cicero 123 Comenius, J. 256 Coseriu, E. 326 Dalgarno, G. 256-259, 261 Dareios, 142-157 Descartes, R. 224, 238,256, 488 Deutsch, G. 140 Dionysios von Syrakus 176 Ditfurth, H. v. 64 Dodgson, Ch.L. 319 Don Quichotte 188 Dotzler, B.J. 274 Drewermann, E. 101 Droysen, J.G. 37 Drakon 173 Duden 325 Dürer, A. 247ff. Dürscheid, Ch. 143, 164 Dürkheim, E. 396 Eccles, J.E. 141 Eco, U. 111, 257ff., 508 Eddington, A. 442f. Egli, H. 72 Eilert, B. 247 Einstein, A. 210 Emile 381 Empedokles 235 Engels, F. 104 Enzensberger, Ch. 319, 322 Erkenbrecht, U. 2 Faber, R. 1
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Personenregister
Faust 104 Filarius von Brescia 117 Flavell, J.H. 423 Flavius Josephus 95 Foerster, H. v. 56, 198f. Freud, S. 362 Friedrich II. 122, 137ff. Friedrich der Große 140 Friedrich, J. 146 Fühmann, F. 105 Fugger, J. 247ff. Funes, J. 385ff. Funke, O. 25 8f. Gadamer, H.-G. 52, 164, 177f. Galilei, G. 246 Gardt, A. 257, 259,303, 309 Gauger, H.-M. 67, 166, 329 Gehlen, A. 112f., 216f., 312 Gernhardt, R. 247 Gilgamesch 73 Glinz, H. 401 Gobryas 142-157 Göbels, A. 258 Goethe, J. W. v. 2f„ 73, 104, 235ff., 509, 516 Goggelmoggel 315-318, 322f. Gott 18, 54, 67ff„ 98, 101, 106f., 109, 119, 2 0 3 , 2 2 2 , 2 3 6 , 244, 301 Grabmann, M. 209 Graf, R. 464 Gregor von Nazianz 95 Grimm, J. u. W. 72 Grodin, J. 5 5 , 9 4 Grötker, R. 357 Gulliver 2 5 0 , 2 5 3 , 2 5 6 , 270f„ 285 Gundert, A. 176 Haecker, H.-J. 475-513 Halbwachs, M. 366 Ham 96 Hamann, J.G. 244, 513f. Hammurabi 173 Hauser, Kaspar 135 Hayek, F. A. v. 337, 339f. Hegel, G.F.W. 14, 20, 37, 46, 82f., 107, 478 Heidegger, M. 205,301f. Heine, H. 83 Heinisch, K.J. 122, 138 Heintel, E. 237
Heisenberg, W. 56 Helenos 72 Henkel, N. 223 Hephaistos 121 Heraklit 327 Herder, J.G. 66, 1 1 2 , 2 1 7 , 2 2 0 , 3 1 1 , 3 6 5 Hermanns, F. 104 Herodot 121ff., 139, 142ff., 164 Hersch, J. 3 Hesiod 407 Hofmann, Η. 15 Hofmannsthal, H. v. 74, 119, 219f. Homer 94, 407 Hüllen, W. 256, 259 Hugo von St. Victor 244 Huizinga, J. 245 Humboldt, W. v. 8, 41, 74f., 89, 110f., 115f., 212f., 216, 232f., 272, 296, 307, 333, 339,422, 440 Humpelpumpel 323 Humpty-Dumpty 315-348 Ikaros 100 Ivanov, V.V. 141 Jacobi, F.H. 66, 69, 7Iff., 90, 423 Jafet 96 Jakob IV. von Schottland 139 Jean Paul 267 Jensen, H. 146,299 Jesus Christus 65, 222f., 241, 245, 406, 511 Johann von Salisbury 99 Johnson-Laird, Ph.N. 454 Judowitsch, F.I. 135 Kafka, F. 118f„ 425, 487 Kandel, E.R. 370 Kant, I. 8, 14, 28, 65, 80, 126, 379, 452, 472,487f., 500 Kantorowicz, E. 138 Kassandra 72 Kauder, P. 194 Keller, Helen 136 Keller, R. 3 4 0 , 4 1 9 Kepler, J. 246 Kleiber, G. 27 Klein, W.P. 117 Kleist, H. v. 14,219, 507 Knobloch, E. 10 Knorr, P. 247
Personenregister Köller, W. 8, 17f., 66, 87, 135, 154, 195, 209, 340, 342, 369, 396, 406, 415, 451, 455,458,498 Konersmann, R. 13 Kopernikus, N. 263 Korzybski, A. 210 Koselleck, R. 37 Krämer, S. 257 Kratylos 320,326, 334, 402 Kraus, K. 58 Kraus, M. 407 Küslübürtün 105 Kullmann, W. 186 Lachmann, R. 387 Lamarck, J. 139 Lambert, J.N. 41,272, 439f. Landmann, M. 112,312 Lane, Η. 135 Laokoon, 73 Lapide, P. 64 Laputa 253 Leibniz, G.W. 8, 13, 256f„ 259ff., 271, 419f., 452, 488 Lenneberg, E.H. 27, 275, 3 0 7 , 3 3 3 , 4 2 5 Lenz, S. 382,388f. Lerch, E. 324 Levelt, W.J. 454 Lessing, Th. 38 Lichtenberg, G.Ch. 52,246, 325 Lindgren, A. 425-428 Linni, C. v. 25 Locke, J. 287, 306f., 385 Löwith, K. 56 Lübbe, H. 48 Lurija, A.R. 135, 382-384 Lurker, M. 72 Macondo 349-384 Malson, L. 135 Mann, G. 324 Marivaux, P. 140f. Markowitsch, H.-J. 368 Marquard, O. 44, 378 Marquardt, U. 194 Märquez, G.G. 352f., 358, 387ff. Mauthner, F. 66, 69, 71 McCall, H. 73 Medusa 73 Meier, Ch. 245, 387 Meier-Oeser, St. 261, 274
537
Melampos 71 Melchiades 353, 377 Mensching, G. 306 Mephisto 73 Miller, G.A. 454 Moscherosch, H.M. 262 Moses 72 Münchhausen 512 Musil, R. 516 Napoleon 325 Nate, R. 255 Neis, C. 140 Nestle, W. 33 Neurath, O. 189 Newton, I. 460 Nidhögg 73 Niebuhr, R. 100 Nietzsche, F. 24, 37, 38, 50, 234, 358, 364, 386 Nimrod 96 Noah 96, 98 Nobis, H.M. 244, 246 Nöth, W. 319 Ockham, W. 306 Odysseus 348 Ogden, C.K. 497 Ohly, F. 244f. Olson, D.R. 188 Origines 94 Orwell, G. 336 Osiris 71 Otto, E. 125 Panofsky, E. 9 Pannenberg, W. 237 Pascal, B. 260 Paul, J. 267 Paul, kleiner 429-471 Paulus 94 Peary, R.E. 77 Peirce, Ch.S. 4, 17, 41, 87, 151, 153ff., 169, 229, 239-242, 281-284, 307, 487, 490ff., 494,497-514, 516f. Peter von Hameln 135 Petsche, H.J. 424 Phaidros 158-172, 187 Philebos 164 Philipp von Harvengt 99 Philo von Alexandrien 94
538
Personenregister
Physiologus 222-249,499 Pippi Langstrumpf424-428, 487 Piaton 8, 23, 40, 45, 158-189, 190-221, 305, 320, 326, 334, 361, 369, 375, 397, 399,402,407,422 Plotin 236 Polyphem 348 Popper, K. 199f„ 312 Poseidon 73 Prometheus 86, 100, 106, 164f. Przwara, E. 237 Psammetichos II. 121-140 Qual, R.-M. 353 Rad, G. v. 79 Raimundus Lullus 257 Ranke-Graves, R. 72 Real, H.J. 253 Rebecca 3 4 9 , 3 5 3 Reichenbach, H. 460 Reiss, A. 145 Remand, L. 323, 330 Revesz, G. 496 Richards, I.A. 497 Riedl, R. 77 Robinson, D.H. 141 Rombach, N. 20, 2 3 7 , 2 6 4 Roth, G. 3 6 3 , 3 6 6 Rothacker, E. 244, 246 Rousseau, J.J. 381 Rumpelstilzchen 324, 470 Russell, B. 234 Ryle, G. 369 Salimbene 122, 139 Salmon, V. 255 Salomon, L.B. 119f. Sanders, W. 129 Saussure, F. de 34, 67, 74, 152, 229, 327f., 395ff., 4 0 8 - 4 1 1 , 4 1 5 , 4 8 5 , 4 9 4 f . , 500 Schädlich, H.J. 429, 435ff., 447, 471-474 Schapp, W. 4 I f f . Schedel, H. 224 Scheler, M. 217 Schelling, F.W.J. 8 lf., 100 Schereschewski 382-384 Schiller, F. v. 3, 6 5 , 8 1 Schmandt-Besserat, D. 145 Schmitt, A. 136, 146 Schneider, A. 235 Schöne, A. 424
Schopenhauer, A. 40, 189 Schütz, A. 423 Schwarz, M. 424 Schwarzlose, K. 406 Searle, J.R. 17 Seel, O. 222 Seidler, E. 137 Sem 96 Shaftesbury, A.A.C. 8 Smith, A. 339 Sokrates 3, 23, 33, 40, 158-189, 193, 197f., 200,326f., 361, 369,422 Solon 173 Spitzer, L. 66 Springer, S.P. 141 Spunk 424-428, 487 Squire, L.R. 370 Steiner, G. 116 Steinthal, Η. 115f., 208f„ 404 Sternkopf, J. 424 Sulek, A. 127, 140 Sullivan, Α. 136 Sutherland, R.D. 320 Swift, J. 250-314,439 Thamus 158-189,375,381 Theodorus von Studion 406 Theuth 54, 158-172,375,381 Thukydides 123 Thomas von Aquin 94, 236 Tucholsky, K. 254 Tillich, P. 78 Tulving, E. 367f. Valery, P. 120 Vico, G. 56 Victor von Aveyron 135 Vienken, H.J. 253 Vielolog 429-435, 438, 448f., 455, 463, 470 Vieta 265 Visitaciön 349-353 Walter, H. 424 Wandruszka, Μ. 117, 213, 329 Ward, S. 256 Watzlawick, P. 462 Weinrich, H. 360, 382,444, 456, 460f. Weisgerber, L. 467 Weiss, B. 10 Weiß, W. 267
Personenregister Weizsäcker, C. F. ν. 215 Wellek, A. 442 Whorf, B.L. 210 Wieland, W. 174, 178, 182-186, 203f., 208, 404 Wilkins, J. 256, 258f„ 261 Wittgenstein, L. 32, 41, 225, 333, 343, 423, 489,518
Wolf, U. 321 Wunderlich, D. 460 Yggdrasil 73 Zeppelin 325 Zimmer, J. 11
539
Sachregister
Abbild 16, 22, 195, 199, 202, 306 Abbildung 102f., 108, 115, 167, 189, 283, 511,516 Abduktion 87,241, 281ff., 502ff. Abstraktion 24, 47, 165ff., 168, 171, 189, 198. 2 3 3 , 2 9 3 , 3 0 2 , 3 0 6 , 3 8 6 , 4 1 3 Ackerbau 77, 107 Additionsrelation 442f. Adressat 167, 181 Ähnlichkeit 201, 234ff„ 294f„ 379, 485, 507,510 Affirmation 343 Agens-Actio-Schema 466ff. Aggression 199, 266ff., 290 Akademie von Lagado 250, 253, 287, 294, 299,311,314 Akkommodation 117, 157 Akkusativobjekt 400f. Allegorese 243-249 Allgemeinbegriffe 305 Allgemeinsprache 106, 108, 111 Alphabet 257, 259-262,271 Ambivalenz 220, 520 Amnestie 387 Analogie 17, 43, 50, 53, 55, 58, 64, 69, 88, 153, 170, 180, 193, 202, 206, 230, 2342 3 7 , 2 4 5 , 2 7 6 , 323,478, 507, 518f. Analogie des Seins, 236f., 242f. Analogisten, 209 Anamnesis 169, 183, 187, 197, 379 Analyseprozess 260 Angst 87, lOOf., 110,218 Animal symbolicum 97 Anomalisten 209 Anschauung 488, 516f. Anthropologie 5, 34, 46, 75, 81f., 89, 104, 112, 232, 309, 312, 356, 402f., 422, 482, 502 Antonyme 344f. Antwort 43, 51, 57ff., 92, 179, 183, 394f„ 423,495,518
Arbeit 65, 69, 76ff., 93, 97f., 102-108 Arbeitsteilung 77, 93, 98, 105f. Arbitrarität 67, 320, 327, 331, 385, 395, 408-411 Argumentation 161, 169 Artefakte 195, 204 Artgedächtnis 365ff., 370, 380 Artikel 429, 437, 441f., 448ff„ 455-458 Aspekt 18f„ 408, 4 1 6 , 4 8 9 Assimilation 117, 157,367 Aufklärung 80ff„ 89, 110, 123, 195, 200, 289 Augur 151,482 Autonomie, semantische 171 Baum des Bewusstseins 78-83 Baum der Erkenntnis 14, 61ff., 68f„ 75f„ 92f., 97, 99 Baum des Lebens 6 8 f , 76 Bausteine, kognitive 257, 261f., 265, 271, 283 Bedeutung 142, 150, 153, 156, 225-234, 241,275,321,520 Bedeutungsformen 209 Befreiung 197,200 Begriff 8, 23-30, 35, 41f„ 46, 179, 201f„ 227, 229, 234, 263, 287, 294, 305ff., 319, 374, 385, 403, 407f„ 446, 478, 488, 509, 516, 520 Begriffsbildung 26, 40f., 166, 174, 227, 275, 302, 304, 3 0 7 f f , 326, 344 Begriffsfeld 25,228, 338,408f. Begriffsnamen 294, 319, 374 Begriffsschrift 147, 171,482 behalten 382-389 Belehrung 2 Benennung 103, 115, 133, 257, 320, 395, 397, 3991, 4 0 2 - 4 1 1 , 4 2 1 , 4 8 0 f f „ 511 Beweglichkeit 202 Bewusstsein 65, 68, 77f„ 78-83,364, 503 Beziehungsebene 462f. Bibel 54,61-64, 243
Sachregister
541
Bild 406, 507f. Bilderschrift 171 Bilderstreit 406 Bildhauer 519f. Bildspender 71, 360ff. Bildungsgedanke 193f., 197, 199, 205 Binaritätsprinzip 343 Bosheit 81 f. Brückenfiinktion 298 Buch der Natur 226, 239, 243-249, 482, 499 Buch der Schrift 225, 243f. Buchstabenschrift 147, 164, 171
Eigennamen 179, 294, 319, 321-324, 325, 385, 405f. Eigenwelt 310f. Einbildungskraft 378, 399, 452 Einwortsätze 446f. Empirismus 287, 290, 303f., 3 6 1 , 3 8 5 Energeia 8, 54, 56, 85, 89, 110, 116, 213 Engel 18, 101 Entwicklungsgeschichte 130, 187 Erbsünde 65 Erfahrung 452, 500f„ 506, 513, 521 Erfindung 158, 161, 164ff. Ergon 8, 54, 56, 74, 85, 89, 110, 213 Erinnerung 144, 169, 180, 187, 359, 364,
Dativobjekt 400f. Deduktion 87, 281, 502f. Definition 28,227, 230ff., 304, 326 Deixis 453f., 4 5 6 , 4 6 0 Denkbilder 170ff. Denken 104, 187,380, 3 8 4 , 3 8 6 - , alltägliches 403-405 - , analogisierendes 6, 141, 414, 478 analytisches 28, 141,276 begriffliches 207, 3 8 4 , 4 7 8 - , mythisches 405 - , polarisierendes 496 - , relationales 499 - , utopisches 100
369f., 372, 378, 380f., 389, 506 Erinnerungsprozesse 3 8 0 , 4 7 9 Erkenntnis 269, 500f., 503, 511, 515 Erkenntnisformen 43f., 176f., 490 Erkenntnisinteresse 293 - , anatomisches 34f., 403, 438
Denkmuster 9, l l f . , 19f., 24f., 41, 80, 115, 130, 201,217, 231, 233, 281f„ 294, 306f., 310-314, 344, 346, 374, 405, 407, 409, 478, 500 Denkstil 10, 170, 189 Determinationsrelationen 415 Deuteropraxis 188 Dialektik 172, 177,422 Dialog 51f., 171, 180-183, 359, 389,
physiologisches 34f., 403, 438 Erkenntniskritik 208 Erkenntnismaschine 250, 253f., 256, 262, 265, 266-279, 281 f., 296 Erkenntnismethode 270f. Erkenntnistheorie 176f., 271ff., 312, 500f. Erneuerung 71, 104 103, 287, 380,
Erscheinungswelt 203, 216, 379, 408, 500, 520 Erstheit 2 8 3 , 4 9 1 erzählen lf., 4 , 2 8 , 32, 39, 42ff., 48ff., 398 Erziehungsgedanke 193f., 200 Etymologie 128f., 1 3 3 f , 328 Evolution 65f., 68, 77, 102, 129, 144, 147, 279, 289,309, 340,471 Experiment 124ff, 138, 140
394,
401, 422, 461 f., 471, 479, 508, 519 dialogisch l l l f . , 167f., 1 7 0 f f , 179, 182f., 189, 358f„ 397, 418-424, 426, 479, 482, 495, 502,517 Differenzierungsprozesse 111, 114, 211 f., 358, 479, 500 Ding an sich 53, 221, 298, 308f., 500 Ding für uns 53, 298, 308f. Dingzeichen 2 4 4 , 2 8 5 , 2 9 1 f „ 296-303, 314 Distanzsignal 465 Drittheit 2 8 3 f , 492, 502 Dual 445
Fachsprache s. Sprache, formalisierte Familienähnlichkeit 325 Familienname 325 Fensterstruktur 6, 112, 521 Fiktion 164 Figur und Grund 52 Fließgleichgewicht 26, 52, 71, 104, 114, 218,339, 341, 398f„ 472, 497, 519 Form 7-10, 520 - i n n e r e 8, 115f.,213 - , symbolische 9, 220f„ 367 Frage 5, 44, 51f., 5 7 f , 70, 86, 92, 126, 179, 183, 394f., 423, 426, 4 9 5 , 5 1 8 Freiheit 79, 81, 89, 97,99f., 216f.
542
Sachregister
Fremdsprache 412 Fruchtbarkeit 516 Funktionsgedanke 264, 275, 443, 451f., 488f„ 511 Funktionswörter 292, 296, 441 f. Gedächtnis 4, 32, 49, 169, 357, 359-371, 382-389 - , deklarartives 369,374-377 - , episodisches 367f„ 3 7 3 , 3 7 6 , 4 2 5 - , kollektives 366f. - , kulturelles 366ff. - , nicht-deklaratives 369 - , semantisches 367f., 373-377,425 Gedächtniskünstler 382-384, 385 Gedächtnismaschine 377,380ff. Gedankenexperiment 518 Gefängnis 207, 397 Gefangene 195-198,200, 204f. Gefangenschaft 194ff„ 2 0 6 - 2 1 0 , 2 1 1 , 4 0 2 Gegenstandsbewusstsein 14f., 7 6 , 4 7 4 Gegenstandsschrift 146, 148, 157 Gegenstandsthematik 11, 1 1 8 , 4 4 1 , 4 6 5 Gegenstandswissen 3, 5, 14, 39, 42, 186f., 3 6 9 , 3 8 1 , 4 3 8 , 4 4 8 f . , 471, 516 Geist 65, 84, 87, 90, 9 4 , 2 2 0 , 2 2 4 , 2 3 9 , 269, 282, 4 8 8 , 4 9 1 , 5 0 3 Geisteswissenschaften 56 Geltungsanspruch 463f. Genusformen 466-368 Geschichte 36ff., 43, 101, 109, 123, 378f. Geschichten 36, 42-50, 124, 161, 227, 231 f., 235, 368,376, 394,476, 516 Geschichten über Sprache 4f., 20, 31f., 35, 38f., 53, 55, 57,476, 515-521 Gesetze, formulierte 172-176 Gestaltpsychologie 442f., 504 Gesten 119, 137, 148, 166, 226, 292, 300, 3 4 3 , 4 4 6 , 4 5 4 , 482, 507 Gewissheit 199, 203 Gleichnis 33, 40, 181, 189, 193, 206,247 Grammatik 330 Grenze 355 Großhirnhälften 141 Gut und Böse 68f., 78-83, 85ff. Hand, unsichtbare 337-341, 356 Handhabung 41ff., 54, 85f„ 104, 296, 300, 422f., 439, 511 Handlungswissen 186ff„ 369, 381, 438, 471,516 Hase 222-249
Heilkunst 162 Herrschaftswissen 516 Hermeneutik 50-60, 93, 162, 175, 247, 423, 495,517 Heuristik 50, 65 Historien 123 Hochmut 99ff., 106 Höhle 193-199, 203, 206, 208f., 216ff„ 221,390,397,399, 402,411 Höhlengleichnis 33, 190-221,397 Hofnarr 341 Hospitalismus 139 Hypothese 69f., 84, 8 7 f , 123, 140, 168. 235,276, 282, 302, 327, 385, 465, 503f. Idealismus 16, 83, 86,241 Idealsprache 103, 109, 111, 115 Ideen 8, 23, 193, 195, 200-206, 220, 305f., 379, 407, 520 Idee des Guten 203-206 Identität 74, 127f., 358, 370, 377, 423f. Idolenlehre 209, 303 Ikon 53, 58, 69, 153, 505f„ 507-513 - , abgeleitetes 509, 513 Ikone 406 ikonisch 50, 53, 55, 64, 87, 147, 153, 180, 230,242, 276, 478, 508 Index 53, 153,238, 505ff., 51 Iff. indexikalisch 4, 53, 55, 156,322, 508 Individualgedächtnis 366 Individualität 110, 116, 364, 369f., 401 f.
295,
389,
156,
397,
Induktion 8 7 , 2 3 5 , 2 8 1 , 502f. Informationserwartung 167, 347f. Inhaltsbegriff 7ff„ 52, 54, 162f., 517 Inhaltsebene 462 Inhaltsschrift 145ff., 298f. Inhaltswörter 296, 301,440f. Instinkt 75, 80f„ 89, 112, 217, 282, 365, 503 Institution, soziale 74, 89, 93f., 112f., 120, 152, 1 7 9 , 2 1 6 - 2 2 1 , 3 1 2 , 3 1 9 , 3 9 9 Instruktionssemantik 444, 455f., 458,460f., 464 Intentionalität 87, 107, 447 Interaktionsverhältnis 52, 107, 154f., 241, 363, 397, 402, 415, 422f„ 497, 518 Interdependenzverhältnisse 211 f., 338, 340, 401,471f. Interpretant s. Zeicheninterpretant
Sachregister Interpretation 70, 84f., llOf., 115, 153,241, 283, 295, 443f., 484, 487f., 490f., 496, 498, 501,511,513,519fr. Interpretationsperspektive 155ff., 497 Intertextualität 43 Intonation 446f. intrinsisch 454 Ironie 275, 288 Isolation 397, 401f., 409, 423f., 428 Kategorienlehre 491 f. Kategorisierungsprozess 27, 325, 333, 381, 425 Kausalität 48,449,452,467f., 485, 505 Kodegedanke 155, 229f., 234, 328, 415, 418,421, 423,483,494ff„ 501, 513 Kodexrecht 175 Kognition 12,40f., 494 Kollektivwissen 31, 155 Kombinatorik 257-262, 266, 270, 273, 277ff. Kommunikation 2 0 , 4 1 Komplexitätsreduktion 179, 217, 293, 379, 496 Komposita 414 Konjunktionen 441, 443, 445 Konsonanten 433, 437, 468f. Kontemplation 9,41f., 264,480, 511 Kontinuität 339,491, 505 Konventionen 209, 230, 238, 319, 472, 480, 483ff.,487, 510, 513 Kopula 424 Korrelation 296, 302,407, 503 Kreativität 216, 387,402,416 Kreolensprachen 134 Kultur 10, 21, 56f„ 59, 77, 85, 89, 97, lOOf., 106f„ 112ff., 130, 151, 188, 220, 238f., 31 lf., 338, 364, 367, 369, 376, 387 Kulturgeschichte 125, 168, 188f„ 224, 238, 376, 422 Kultursphäre 312 Kulturwesen 112f., 220, 312 Kunst 20, 115 langue 54, 56, 74, 410 Leben 355 Lebensgefühl 301 Leerstelle 268,366 Leitfaden der Sprache 208,216,404 Lernprozesse 200
543 Lernwesen 112f., 217 Lesen 189 Licht 196, 204ff. Logik 257 - , zweiwertige 54, 343 Logos 33ff., 36 Machtproblem 289, 325, 329, 331-341, 405,454 Mängelwesen 112, 31 lf. Malerei 170f. Materie 488, 491f. Mathematik 165f., 255, 260f., 265, 269, 272 Maxime, pragmatische 41, 169, 240, 283f., 511 Medium 17, 84, 88, 178, 180f., 194, 207ff„ 215,219,298,303,306,404,416 Mentalitätsgeschichte 39 Metainformation 167, 292, 440, 447f., 457, 460, 464 Metapherntheorie 414f., 510 Metaphorik 90, 358 Metaphysik 358 Metareflexion 111, 120, 219, 348, 512 Metasprache 215, 439, 512 Metawissen 14, 40, 175, 512 Metzgeranalyse 34,410 Minuszeichen 343 Missverstehen 111, 423, 468, 471, 483, 497 Mittelalter 223f., 236,242f., 245, 294 Mnemotechnik 4, 16, 49, 148, 361, 364, 372, 375f., 380,384 Modalität 450 Modell 235 Modi, gemischte 307 Modusformen 463-466 Monolog 394 monologisch 111, 167f„ 172, 397, 418-421, 424, 427 Monotheismus 114 Morphologie 330f. Motiviertheit von Namen 134, 322f., 327f., 330, 409 Muttersprache 117, 131, 206,209, 213 Mystik 109, 280 Mythos 33ff., 36, 40, 44, 53f., 64, 67, 76, 78, 84f., 92, 102, 107, l l l f . , 164, 169, 180, 189
544
Sachregister
Name 303, 321-331, 374, 395, 402f„ 405ff.,426f.,481, 504, 511 Namengebung 67, 304, 320ff., 402 Namenshunger 425f. Namenszauber 324, 405 Natur 89, 97, 112, 130, 220, 224, 239 Natursprache 67, 130, 255 Naturwissenschaften 56 Negation 74, 83, 86f., 341-348, 355, 465, 480 Negationsmittel 343, 3 4 6 , 4 4 5 Negationspronomen 346ff. Neopositivismus 301 Neugier 110, 194, 198,426 Nominalismus 103, 201, 209, 287, 302f„ 304-308, 3 3 1 , 3 3 5 , 4 0 7 Nominaldefinition 230ff. Normen 85f., 167, 214f„ 231f„ 267f., 280, 473 Oberflächenstruktur 116, 133, 520 Objektivierungsmuster s. Denk-muster Objektivierungsstrategie 10, 36, 41, 55, 416,467,478,516 Objektsphäre 9, 12, 14, 18f., 24, 34, 56, 59, 297, 306, 364, 404, 439, 484, 486 Ontogenese 6 8 , 4 4 7 Ontologie 225f., 23lf., 235ff., 239, 256, 258f., 264f., 275, 295, 305ff„ 467, 484ff., 500 Original 194ff., 199, 2 0 2 , 2 0 4 Paradies 68, 77, 80, 82f., 101 parole 54, 5 6 , 4 1 0 Person 322 Perspektive 12, 18f„ 51 Perspektivierungsanstrengung 308 Perspektivität 20, 31 - , kognitive 20f. - , kommunikative 20f. Perspektivitätsbegriff 18-21 Philosophie 40, 185 Phonologie 330,468f. Phylogenese 6 8 , 4 4 7 Physei-Thesei-Streit 326f. Polytheismus 114 Prädikationsstruktur 133, 181, 415 Präpositionen 429, 437, 441f., 448-454 Präzedenzrecht 175 Präzision 215 Pragmatik 290f., 3 3 2 , 4 2 8 , 4 8 0 , 500
Privativa 307, 344, 355f. Privatsprache 114, 135, 179, 232f„ 333f„ 338f.,401f.,412, 424, 427,513 Prokrustesbett 4, 9 0 , 2 9 0 Proposition 22f„ 26, 29, 181, 183f., 189 Protokollsprache 189, 300ff. Prototypensemantik 27, 229 Rationalismus 290f., 304 Rationalität 35, 44, 126, 289 Raum 2 9 1 , 3 6 1 , 4 4 9 - 4 5 4 Realdefinition 128f., 230ff. Realismus 16f„ 20,241, 245, 304-307 Realität 202, 229, 231, 241, 283, 300ff., 306,398 Recht 173 f. Rechtsgefiihl 174 Referenzobjekte 228, 295, 301f„ 407f., 414f. Reflexion, begriffliche 22ff. - , transzendentale 14 Reflexionsbegriff 11-14 Reflexionsbewusstsein 14f., 76, 87 Reflexionsthematik 11, 118ff., 348, 441, 465 Reflexionswissen 39f., 83 Relationalität 239,263f., 283 Relationsgedanke 84f., 152, 260, 263-266, 275,443, 452, 484,489-492, 511 Relationsphänomen 155,485f., 494 Relation, ikonische 17 - , indexikalische 17 Relativität, sprachliche 210 Religion 99 Repräsentation 13-18, 33, 43, 46f„ 150f., 242, 297ff., 420, 484, 500f. Rezeption 268 Rezeptionsgeschichte 65, 92ff., 117ff„ 124, 193, 202 Rhapsode 381 Rhetorik 161ff„ 1 7 2 , 3 6 1 , 3 6 4 Royal Society 253, 256, 258, 288 Rückkopplung 167f. Sachen 405-408 Sachthematik s. Gegenstandsthematik Sachwissen s. Gegenstandswissen Satire 253f„ 266-271, 279, 287f. Satz 446 Scham 69, 79 Schattenwelt 194f., 199,202, 204f.
Sachregister Scheinsätze 301 Schematisierung 179, 219, 310, 367, 379f. Scheinwissen 169 Schlaf 355ff., 387 Schlaflosigkeit 349ff., 353-360, 373, 386f. Schlange 62, 66, 69-75, 81, 84f., 88f. Schrift 106, 132, 143-149, 158-189, 376, 420, 446, 482 Schriftsinn, mehrfacher 54, 93-102, 115 Schweigen 109 Seele 187, 189, 196f., 282, 379, 422 Sehepunkt 18f., 27, 37, 45, 51, 55, 207, 412, 453f. Seins-Dinge 46 Seinsformen 209 Selbstbewusstsein 65, 76, 83, 97, 125 Selbstbezüglichkeit 11, 14, 56, 512 Semantik 274ff., 4 4 2 , 4 4 6 Semiose 1 5 I i , 491 f., 498, 502f., 511, 518 Signifikant 152, 229, 238, 327f„ 331f., 345, 374, 380,395f., 406,408-413, 4 6 9 , 4 9 4 Signifikat 152, 229, 238, 327f„ 332, 344, 374, 380, 395f., 406, 408-413, 426, 469, 494,499f. Silbenschrift 147 Sinn 32, 37, 49, 104, 109, 182f„ 223, 233, 2 8 9 , 3 3 1 , 4 9 8 , 520 - , allegorischer 97f., 152 - , anagogischer lOOff. - , buchstäblicher 95ff. - , moralischer 98ff. Sinnbildungsprozesse 1, 45, 50-60, 80, 115, 151 ff., 168, 225, 241ff., 272, 274, 282, 293, 298, 314, 362, 378f., 381, 410, 4 2 I f f . 447f„ 457, 477, 479, 487, 502ff., 513 Sinnebenen 94, 102, 276 Sinnenwelt 203 Sinneserfahrung 481 Sinnesorgane 363f., 366, 3 7 8 , 4 8 1 Sinngestalt 10, 19, 31, 37, 48f., 59, 292, 310, 378f., 380, 442f., 503f., 520 Sinnrelief 51, 54f„ 170,458, 462 Sitz im Leben 3 1 , 5 1 Skepsissignal 465 Sozialität 397, 401 f. Sozialpsychologie 395f., 399 Spekulation 269 Spiegel 12f. - , lebender 13 Spiegelbilder 16
545 Spielräume 206f., 398 Spielverderber 388f. Sprachbenutzer 410 Sprachbewusstsein 68, 219, 407 Sprache 20, 22, 25, 28f., 36, 38, 53, 55, 67, 70, 72f., 76f., 84f., 88, 101, 162, 354, 397f., 410, 4 1 8 , 4 2 7 , 4 3 8 , 4 7 6 , 515 - , formalisierte 26f„ 89, 152, 154, 179, 214f„ 218, 227, 262, 265, 313, 329, 396, 410, 4 9 4 , 5 1 3 natürliche 26f., 89, 117, 152, 154, 214f., 218, 227f., 231, 262, 313, 329, 396, 437, 439,513 Spracheinheit 93, 98, 101, 108ff, 111, 117 Spracherwerb 425, 436, 446-448, 465f„ 468 Sprachfesseln 211f.,215f„ 218 Sprachformen 436ff„ 478f. Sprachfunktionen 293, 300, 423, 438f. Sprachgebrauch, argumentativer 181,280 - b e g r i f f l i c h e r 180f.,280,478 - , bildlicher 180, 212, 224, 424 - , empraktischer 446f. - , lyrischer 477ff. metaphorischer 71, 90, 115, 265f., 273, 276, 280, 330, 334, 413-418, 421, 424, 439, 4 4 5 , 4 6 1 , 4 7 1 , 4 9 5 , 510, 513 - , mündlicher 166ff, 170f., 186, 444 narrativer 180, 478 - , poetischer 120, 152, 154, 212, 224, 280, 483, 509, 513f. - , religiöser 280 - , schriftlicher 166ff„ 170f„ 444 Sprachgefühl 3, 29, 38, 141, 273, 340, 356, 369, 449, 455, 470 Sprachgeschichte 103, 311 Sprachhöhle 193,209f„ 2 1 3 , 2 1 7 , 2 2 1 Sprachkonventionen 152f., 3 2 7 f f , 335, 337-341, 374, 380, 396f., 400ff„ 408f„ 411-418, 424, 4 2 7 , 4 7 2 Sprachkritik 208 Sprachnot 304 Sprachrebellion 41 l f . , 4 1 8 f . Sprachreflexion 2, 46, 59, 119,218-221 - , begriffliche 29f., 43,45f. narrative 4, 29, 32, 42, 45ff., 59, 65, 193, 266,517 Sprachregelung 335 Sprachspiel 4 1 , 2 2 5 , 2 4 3 , 333, 453 Sprachsystem 129f., 132, 134, 209, 327, 341,410,412
546
Sachregister
Sprachtheorie 418-424, 515, 518 Sprachverlust 436f. Sprachvertrauen 25, 103, 208, 303ff., 404f. Sprachverwirrung 67, 98, 101, 103, 107, 111, 114 Sprachvielfalt 93, 96, 108, llOff., 114, 115ff. Sprachwandel 114, 133,409 Sprachwissen 4, 274, 377,470, 513 Sprachzentrum 136 Sprechakte 98, 167, 275, 300, 343, 423, 461,464 Spunk 424-428,487 Staunen 3f., 16,40, 58, 123, 203, 519 Stellvertretung 15ff., 42, 115, 293-299, 4 1 9 , 4 7 9 , 4 8 4 , 4 8 7 f . , 501 Stil 9f., 4 7 1 , 4 7 7 , 5 1 7 Stoff 520 Stoffentgleisung 411 Struktur 43ff„ 55, 5 7 , 4 7 4 Subjektsphäre 9, 14, 18f., 21, 24, 34, 56, 59,297, 306, 3 6 4 , 4 0 4 , 4 3 9 , 4 8 4 , 486 Substanzgedanke 88, 263f., 443, 455, 489ff., 520 Sündenfall 65, 68, 78, 82, 8 9 , 9 9 Symbol 153, 505f„ 510-514 Symbolfeld 440 Symptom 238, 506 Synapsen 136 Synechismus 239f„ 283f., 491f., 498, 502f., 511,518 Syntax 277ff. Syntheseprozess 260 System 20, 25, 34f., 74, 114, 117, 275, 341, 385,472, 4 7 4 , 5 1 2 Täuschung 197 Tatsache 492f. negative 342 soziale 34, 328, 396,408f., 427, 485 Tempusformen 211, 445,459-463,480f. Textsorten 508 Textraum 455ff. Thema-Rhema-Relation 457, 508 Theorien 32, 168, 290f„ 515f. Tiefenstruktur 116, 133, 520 Tier 61, 72, 75, 78-83, 97, 112, 137, 256, 3 0 9 , 3 1 1 , 3 6 5 , 3 8 6 , 503 Tod 62, 69, 75-78, 85, 87, 355 Todesbewusstsein 75f. Tradition 1 6 8 , 2 8 9 , 3 1 1
transzendental 404 Traum 357ff. Triaden 496 Turmbau zu Babel 91-120 Übersetzungsvorgänge 111, 116 Übersummativitätsthese 442 Ungeburtstag 341,343, 345 Universalien 234, 305, 342, 346 Universalienstreit 304, 407 Universalsprache 103, 109, 115f., 255-262, 264,299f. Unsicherheit 518 Urbild 16 Urformen 8, 379 Urphänomen 3, 18,396 Ursprache 67, 95f., 103, 109, 123, 127, 129, 131ff, 138,256 Ursprung 128,256 Utopie 114 Vagheit 114f„ 120, 149, 215, 265 Verbalsprache 385-314 Verbformen 431, 437,442, 451,458-468 Verbot 70, 85f. Verfuhrungsmacht 71 Vergangenheit 376f. Vergesslichkeit 169 Vergessen 351, 353f., 359, 371-382, 386, 388f. Verlust 199 Vermittlung 239, 283, 402, 439, 466, 482, 490, 498, 503, 511 Vernetzug 168, 339, 363f., 370, 373, 474 Verstehensprozess 50-60, 111, 233, 494498, 502ff. Verweisungspotenzial 480 Verwirrung 199 Vielfalt 110, 113ff. Vokale 469 Volkssprachen 13 lf., 139 Vorname 325 Vorsorge 77, 85, 93, 97, 107 Wachstafel 360ff. Wahrheitsproblem 5, 22, 26, 34, 43f., 5 4 f f , 124, 164, 181, 185, 194, 205, 261, 277, 287, 326,464f., 516, 521 Wahrhaftigkeit 472 Wahrnehmungsformen 209
Sachregister Wahrnehmungsperspektive 51, 55, 110, 115, 124, 146, 150, 155, 183, 194, 196, 264f., 297, 306, 335f., 400, 408, 411, 478,492, 504, 520 Weihnachtshase S. 247ff. Weltansicht 110 Weltoffenheit 112f. Weltwissen 273f„ 3 3 0 , 4 2 2 , 4 5 7 , 513 Werkzeug, kognitives 34,46, 304, 326 - , kommunikatives 34,46, 304 Weltwissen 228, 506, 513 Wesensspekulation 41, 46, 183, 247, 263f., 287,305, 405f„ 489 Widerspiegelung 102, 189 Wiedergeburt 71 f. Wissen 169, 172f., 176f., 197ff„ 203, 263, 274f., 281, 309-314, 360, 365, 373, 377, 381 -, -, -, -, -,
begriffliches 4f., 22 deklaratives 369 propositionales 184-187, 369 prozedurales 369 narratives 4f.
- , nicht-propositionales 184-187, 369 Wissensatome 254 Wissensformen 3, 22ff., 28, 43ff., 46, 49, 57, 59, 78, 80, 179, 184-189, 206, 289f., 313,365,368f., 375,422 Wissensgenese 179ff., 254 Wissenschaftssprache 2 5 5 , 2 5 7 Wissensspeicher 179f„ 309-314, 360ff„ 378 Wörter 326, 3 8 1 f , 4 0 3 , 4 0 7 , 4 4 6 , 469, 483 - , durchsichtige 133, 304,329, 414 Wolfskinder 135f.,311 Wortarten 273,338, 417f., 441, 4 4 9 , 4 5 5 Wortbildung 326f., 334, 344, 346,439 Wortfelder s. Begriffsfelder Wortlautschrift 147f., 298 Wortmalerei 327 Wortzeichen 244 Wozu-Dinge 4 2 , 4 6 Wunderblock 362 Zahl 165,260f., 2 6 5 , 2 7 2 Zeichen 7, 15, 69, 76, 85, 137, 149-157, 194, 226, 238-243, 263, 272f., 283, 364, 381, 395, 419, 440, 476f., 482, 489f., 494, 498f., 504 Zeichen, abgeleitete 96f„ 152f., 229, 233, 242,509
547 - , autosemantische 448 - , grammatische 292, 309, 313, 330, 418, 441-468 - , ikonische 146, 153f., 238, 508ff. - , indexikalische 505f., 508 - , künstliche 481f., 484, 486, 492f., 495, 505 - , lexikalische 296, 309, 313,418, 441-446, 448f. - , natürliche 482f., 486, 4 9 3 , 4 9 5 f „ 505 - , sprachliche 476f., 479, 481ff., 493, 505f., 508, 510-514 synsemantische 448 Zeichenformen 137, 143,437,488-493 Zeichenfiinktionen 69, 76, 152, 154, 156, 488-493 Zeichengenese 289, 476,479, 482f„ 486 Zeicheninterpretant 155ff., 230, 240, 283, 487,498, 501 f., 503f., 509,511 Zeichenmodelle 152, 154, 408, 485ff., 494504 Zeichenobjekt 155, 229, 238, 240, 283, 487,490, 498-501, 503f„ 505, 507 dynamisches 4f., 501, 517 - , unmittelbares 4, 501 Zeichensystem 207, 226, 272, 296f., 439446, 500 Zeichentheorie 149-157, 225, 238-242, 279-284, 476,483-493 Zeichenträger 50, 96, 157, 150, 152ff., 155, 2 2 5 , 2 2 9 f „ 238, 240, 283, 484, 487, 489494, 498ff., 503, 505, 507, 509f„ 513 Zeichentypen 505-514 Zeigfeld 440 Zeit 2 9 1 , 4 4 9 , 4 5 2 , 4 9 9 Zeiterlebniskonzept 460f. Zeitstufenkonzept 460 Zentralperspektive 9, 454 Zirkel, hermeneutischer 170, 208, 405 Zitiersignal 465 Zufall 48 Zugangswissen 5 Zukunft 376 Zunge 73,91, 96, 98 Zwang 1 3 6 , 2 0 6 , 2 1 2 , 4 7 3 Zweitheit 2 8 4 , 4 9 1 Zweiweltenlehre 201, 305 Zweiwortsätze 447