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German Pages 270 [280] Year 1990
Früher Idealismus und Frühromantik
Philosophisch-literarische Streitsachen Herausgegeben von Walter Jaeschke und Helmut Holzbey Band I
Früher Idealismus und Frühromantik Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795-1805) Herausgegeben von Walter Jaeschke und Helmut Holzbey
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
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INHALT
Vorwort ....................................................................................................................... VII Walter Jaeschke Ästhetische Revolution. Einführende Bemerkungen .........................................
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Gunter Scholtz Der Weg zum Kunstsystem des Deutschen Idealismus ...................................... 12 Cornelia Klinger Ästhetik als Philosophie - Ästhetik als Kunsttheorie ........................................... 30 Ulrich Stadler System und Systernlosigkeit. Bemerkungen zu einer Darstellungsform im Umkreis idealistischer Philosophie und frühromantischer Literatur ......... 52 Claus-Artur Scheier Die Frühromantik als Kultur der Reflexion ......................................................... 69 Bernhard Lypp Poetische Religion .................................................................................................... 80 Ernst Behler Grundlagen der Ästhetik in Friedrich Schlegels frühen Schriften .................... 112 Heinz Gockel Zur neuen Mythologie der Romantik .................................................................... 128 Christoph Jamme »Ist denn Judäa der Tuiskonen Vaterland?« Die Mythos-Auffassung des jungen Hegel (1787-1807) ...................................... 137 Götz Müller Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen Idealismus ................................................................................. 159 Klaus Harnmacher Jacobis Romantheorie .............................................................................................. 174 Thomas Lehnerer Kunst und Bildung - zu Schleiermachers Reden über die Religion ................. 190
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Inhalt
Wilhelm G. Jacobs Geschichte und Kunst in Schellings »System des transseendentalen Idealismus« ...................................... 201 Wolfhart Henckmann Symbolische und allegorische Kunst bei K W.F. Solger ..................................... 214 Hartwig Schultz Der Umgang der Brentano-Geschwister (Clemens und Bettine) mit der frühromantischen Philosophie .................................................................. 241 Personenverzeichnis ................................................................................................. 261 Siglenverzeichnis ....................................................................................................... 269
VORWORT
Wir haben in einer Zeit gelebt, und die Nachwelt wird uns als Zeitgenossen zu Nachbarn machen aber wie wenig haben wir uns vereinigt. Schiller an Fichte 3. August 1795
Dieses Problem der Trennung und der Vereinigung der Zeitgenossen hat den Anstoß zu der mit dem vorliegenden Band eröffneten Reihe von Abhandlungen und Quellentexten gegeben. Doch soll hier - anders als im vorangestellten Zitat- nicht nur über die versäumte Vereinigung geklagt werden. Es soll vor allem die wirkliche Verbindung unter den Zeitgenossen dokumentiert werden. Denn die Signatur der Philosophie und Kunst derjenigen Epoche, der der vorangestellte Satz angehört, liegt nicht allein in der Fülle der künstlerischen und philosophischen Werke und auch nicht primär in der Vielzahl großer Gestalten, die sie hervorgebracht hat. Sie liegt zumindest ebensosehr in der Intensität der Kommunikation unter ihnen. Diese Verbindung ist freilich nicht ungetrübt, nicht immer ein ideales Symphilosophieren gewesen. Neben dem kongenialen Verstehen finden sich ebenso das - nicht immer produktive - Mißverständnis des anderen und die - nicht immer berechtigte - Polemik, die auch dort Abgründe sieht, wo wir aus unserer heutigen Perspektive nur einen »Narzismus kleiner Differenzen« anzunehmen geneigt sind, die aber auch ein wichtiges Korrektiv unserer oftmals zu Unrecht harmonisierenden Sicht bilden kann. Diese - affirmativen wie polemischen - engen Beziehungen, in denen die bekannten Gestalten der Philosophie und Literatur um 1800 zu einander stehen, müssen heute aus ihren Werken und ihren Briefen erschlossen werden. Dem Editor, der die Texte eines dieser Philosophen oder Dichter textkritisch bearbeitet und kommentiert, wird ein Doppeltes deutlich: einerseits die enge Verzahnung der Texte verschiedener Autoren untereinander; andererseits aber, daß er bei der Herausgabe des Werks des einen dieser Autoren dessen Verbindungen zu den Zeitgenossen nicht minder durchtrennt als er sie dokumentiert. Texte, die einer hochgradig dialogischen Situation entstammen- so daß man in einer Vielzahl von Fällen nicht mehr zu sagen vermag, wer eigentlich als Autor eines Fragments, einer Abhandlung oder eines Programms zu nennen sei -, werden dem Werk des einen oder anderen zugeordnet. Durch literarische Vaterschaftsprozesse wird zu entscheiden gesucht, was der Natur der Sache nach oftmals unentscheidbar bleiben muß. Und auch, wo keine derart unmittelbare Identität der Verfasserschaft vorliegt, gilt doch der Satz, daß die Entwicklung der Philosophie dieser Jahre allein dann verständlich werden kann, wenn sie als ein die einzelnen Personen übergreifender Zusammenhang verstanden wird. Das heute vielstrapazierte Wort »Kommunikationsgemeinschaft« dürfte zur Beschreibung der damaligen Situation besser als der gegenwärtigen geeignet sein.
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Vorwort
Solche Fragen der inneren Zusammengehörigkeit auf unterschiedliche Ausgaben verteilter Werke sind vor einigen Jahren in der Kommission 'Text' der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen erörtert worden. Daraus ist der Plan erwachsen, durch eine begrenzte Anzahl von Symposien und Quellensammlungen zu zentralen Themen die spezifisch dialogische Situation der Philosophie um 1800 zu veranschaulichen. Die Symposien waren der Ästhetik, der Metaphysik, der Religionsphilosophie und den Beziehungen zwischen Literatur und Politik gewidmet. Sie haben in den Jahren 1988-1991 in Bad Hornburg v.d.H. stattgefunden. Die Werner-Reirners-Stiftung hat das Gesamtprojekt durch ihre großzügige Förderung ermöglicht; hierfür möchten wir den Gremien der Stiftung einen besonderen Dank aussprechen. Dem Felix Meiner Verlag, Hamburg, gebührt der Dank dafür, daß er das Vorhaben von Beginn an mit Rat begleitet und die Veröffentlichung von Tagungs- und Quellenbänden übernommen hat. Die Herstellung der Druckvorlage hat Dora Braun übernommen; auch ihr gilt unser herzlicher Dank. Der vorliegende erste Band enthält - mit geringfügigen Abweichungen - die Beiträge zum ersten Symposium. Der dort vorgelegte Beitrag von Reinhard Lauth, Jacobis Vmwegnahme romantischer Intentionen, ist inzwischen schon an anderer Stelle veröffentlicht worden und konnte deshalb nicht mehr in diesen Band aufgenommen werden. Nachträglich hinzugekommen ist der Beitrag von Bernhard Lypp, der aus äußeren Gründen erst auf dem dritten Symposium vorgetragen worden ist. Es ist den Herausgebern bewußt, daß hier bei weitem nicht alle eigentlich zu nennenden Bereiche berührt werden konnten. Bedauerlich ist insbesondere, daß kein Beitrag das Werk von Novalis in seiner Verflechtung mit Schlegel und Schleierrnacher, aber auch mit Fichte thematisiert. Doch läßt sich der Reichturn der Ästhetik der thematischen Epoche nicht, ja nicht einmal tendenziell in einem Band oder gar in einem Symposium umfassen. Es mag genügen, wenigstens einige Linien herausgehoben und einige Verflechtungen nachgezeichnet und damit Anstöße für ein verbreitertes und vertieftes Verständnis dieser Zeit gegeben zu haben- auch wenn sich die Anzeichen dafür mehren, daß wir nicht mehr zu ihr gehören. Die Herausgeber
Walter Jaeschke ÄSTHETISCHE REVOLUTION. STICHWORTE ZUR EINFÜHRUNG
>>Vielleicht werden die folgenden Zeitalter oft zwar nicht mit anbetender Bewunderung, aber doch nicht ohne Zufriedenheit auf das jetzige zurücksehn.« 1 Diese Prognose des jungen Friedrich Schlegel verblüfft nicht allein durch die - trotz des einleitenden »Vielleicht« - große Selbstsicherheit, mit der sie den Rang der Kunst und der Kunstphilosophie in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts formuliert, und sogar in einer eher zu bescheidenen Wendung. Sie überrascht nicht minder durch ihre Treffsicherheit: Wenige Epochen haben sich mit auch nur annähernd vergleichbarem Nachdruck sowohl in die Geschichte der Kunst als auch in die Geschichte der Ästhetik eingeschrieben wie die genannte. Der Rückblick auf sie wird deshalb sehr wohl ein Blick mit Bewunderung -wenn auch sicherlich nicht mit anbetender -sein müssen. Der Reichtum der Ästhetik des von Schlegel genannten Zeitalters schließt es aus, sie in ihrer gesamten Breite zu thematisieren. Die Blickrichtung dieses Bandes gilt deshalb nur zweien der damaligen Gruppierungen, deren Repräsentanten in engem gedanklichen Austausch und auch in persönlicher Beziehung zu einander gestanden haben: der Frühromantik und dem frühen deutschen Idealismus. Sie berücksichtigt also nicht eigens die Bedeutung, die ein Werk wie Kants Kritik der Urteilskraft für die Ausbildung der frühromantischen und -idealistischen Ästhetik gehabt hat. Ferner schließt sie notgedrungen die Weimarer Klassik aus - auch dort, wo diese, wie in Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, entscheidend auf die beiden genannten Strömungen eingewirkt hat. Und sie begnügt sich damit, die Bezeichnungen »Frühromantik« und »früher Idealismus« zu gebrauchen und sie inhaltlich zu füllen, ohne sie zu räsonnierend zu rechtfertigen und in eine Diskussion darüber einzutreten, mit welchem Recht die eine oder andere Gestalt - insbesondere Hölderlin - unter diese Titel zu subsumieren, und ob diese oder jene Schrift besser frühromantisch oder vor-frühromantisch zu nennen sei. Andererseits kommt das Werk etwa Friedrich Heinrich Jacobis hier zur Sprache, das sicher«lich weder als »frühromantisch« noch als »frühidealistisch« gelten kann, aber - verstanden oder mißverstanden - eine bedeutende Rolle für die Ausbildung der genannten Richtungen gespielt hat. li
Das Bewußtsein der Kunstphilosophie im Umkreis von Frühromantik und frühem Idealismus spricht sich - im eingangs zitierten Kontext - prononciert in der Wendung aus, es habe eine »ästhetische Revolution« stattgefunden. Ästhe1
KFSA 1,356.
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tische Revolution - darin liegt das Wissen um die Veränderungen, die sowohl die Kunst als auch ihre Theorie teils erlaßt haben, teils für beide erwartet worden sind. Ihren Ausgang haben sie vom erneuerten Studium der Alten genommen, und auch die sonstigen Entwicklungen der Ästhetik von Baumgarten über Kant bis hin zum Neuansatz der Transzendentalphilosophie sind in sie eingeflossen. Die Kunst erhält nun die Aufgabe zugesprochen, eine »majestätische Fülle schlummernder Kräfte, wie durch einen Zauberschlag ans Licht« zu reißen. 2 In der Rede von »Revolution« liegt jedoch noch mehr als die Feststellung und die Erwartung einer durchgreifenden Änderung auf künstlerischem und kunstphilosophischem Gebiet. Sie klingt damals - nur wenige Jahre nach der Französischen Revolution und inmitten des Streits um die Urteile des Publikums über sie - längst nicht so abgeschliffen und vernutzt wie heute. Über die Feststellung kunst- und ästhetikimmanenter Umwälzungen hinaus erhebt sie einen Anspruch, der die Bedeutung von Kunst und Philosophie der Kunst im gesellschaftlichen Leben betrifft. Sie hebt die Umwälzungen auf ästhetischem Gebiet auf die Ebene derjenigen, die in Frankreich auf politischem Gebiet erfolgt sind und auch die übrigen europäischen Staaten nicht unberührt gelassen haben - explizit in der vielzitierten Wendung, in der Schlegel die Französische Revolution, Fichtes Wzssenschaftslehre und Goethes Meister als »die größten Tendenzen des Zeitalters« bezeichnet. 3 Ja sie geht sogar noch einen Schritt weiter. Auch die Absicht des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus, die Entzweiung etwa zwischen den Ideen - als Formen der Rationalität - und der Sinnlichkeit zu versöhnen, hat ja unmittelbare gesellschaftspolitische Konnotationen. Das Ziel der romantischen Poesie als progressiver Universalpoesie ist es, wie Friedrich Schlegel schreibt, »die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch« zu machen4• Eben darin geht die ästhetische Revolution noch über die politische hinaus, daß sie - anders als ihr Epitheton »ästhetisch« nahelegt - die in ihm noch festgehaltene Entzweiung des Lebens in unterschiedliche Sphären - Politik, Poesie, Wissenschaft, Religion usf. aufzuheben und die verlorengeglaubte Einheit wiederzugewinnen sucht. Dieser über die Sphäre der Kunst hinausgehende Anspruch mag übersteigert erscheinen, was die in ihm unterstellte Vermittlungskraft der Kunst betrifft. Er verrät jedoch zugleich das resignative Eingeständnis, daß die ästhetische Revolution Ersatz für die politische sei - nicht nur, daß jene Revolution dieser zumindest äquivalent, sondern ebensosehr, daß eine politische in Deutschland nicht zu erwarten sei. Wenig später löst Hege! diese Äquivalenz von ästhetischer und politischer Revolution ab durch seine Behauptung einer Äquivalenz von religiöser und politischer Revolution, von Revolution und Reformation. Sie kritisiert ja nicht allein den Mißgriff, daß man in Frankreich eine politische Revolution ohne vorangegangene religiöse unternommen habe, sondern sie stellt
2 KFSA 1,360. 3 KFSA 11,198 (Athenäum-Fragment 216). 4 KFSA 11,182 (Athenäum-Fragment 116).
Ästhetische Revolution
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beide als weltgeschichtliche Leistungen auf eine Stufe. Die Kunst oder die Ästhetik nennt er in diesem Zusammenhang jedoch nicht mehr. Unter welchen Bedingungen kann die Kunst diejenige Funktion erfüllen und sogar besser erfüllen, die anderen Orts der politischen Revolution zugefallen ist? Der ästhetischen Revolution wird zugemutet, daß sie ein neues, ja das Goldene Zeitalter zu begründen vermöchte, eine neue, schöne Welt, ja das Reich Gottes heraufzuführen, in dem die mannigfachen Entzweiungen der Gegenwart aufgehoben seien. Diese Erwartung verbindet sich mit der Annahme, daß die Revolution der ästhetischen Bildung, die sich zum guten Teil dem Studium der Alten verdanke, auch der Erneuerung dessen bedürfe, was doch Voraussetzung der Kunst der Alten gewesen sei: der Erneuerung des Mythos. Solche neue Mythologie fordern bereits das Älteste Systemprogramm und wenige Jahre später Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie, aber auch Schelling und Hege! in ihrer Jenaer Zeit: Dieneuere Kunst könne die Höhe der Kunst der Alten allein dann erreichen, wenn sie sich ebenfalls auf eine ihr vorgegebene, zumindest nicht vom Künstler stets neu zu erschaffende Mythologie stützen könne. Auch und gerade, wenn man die Aufgabe des Künstlers in die reine Produktion legt, kann man nicht davon abstrahieren, daß der Zeit der Mittelpunkt fehlt. 5 Allein durch eine solche Rückbindung kann die künstlerische Produktion ihre Restriktion auf das bloß Ästhetische überwinden und ihrem eigentlichen Ziel, der Überwindung der mannigfachen Entzweiungen, zur Wirklichkeit verhelfen. Die Möglichkeit einer ästhetischen Revolution im genannten umfassenden Sinne steht unter dieser Bedingung, bereits was den Kunstcharakter der zu schaffenden Werke, und insbesondere, was die erhofften, darüber hinausgehenden Auswirkungen der ästhetischen Revolution betrifft. Mit der Formulierung des Bedürfnisses einer neuen Mythologie ist jedoch die Möglichkeit seiner Befriedigung noch nicht gesichert. Näher als die Befriedigung liegt solcher Formulierung die Einsicht oder doch zumindest die Ahnung, daß es nicht zu befriedigen sei. Denn der einzige, dem man die geforderte Leistung einer Mythopoiese zuschreiben mochte, war nicht gerade ein Zeitgenosse, sondern - Dante.6 Die Berufung auf alle anderen in diesem Zusammenhang erwogenen Instanzen- nämlich Goethes Dichtung oder die frühe idealistische Naturphilosophie - bleibt demgegenüber vage und unschlüssig. Die neue Mythologie verändert damit ihre Stellung: Aus einem erhofften Resultat gegenwärtigen mythopoietischen Redens wird sie zur Voraussetzung der revolutionären Kunst und der ästhetischen Revolution. Man konnte sich schwerlich längere Zeit vor sich selbst verbergen, daß der eigene Traum, eine neue Bibel zu schreiben, Stifter einer neuen Religion und Moral zu sein, »auf Muhameds und Luthers Fußstapfen zu wandeln« 7 -, sich nicht verwirklichte. Auch als ein KFSA 11,312. KFSA 11,327. F.D.E. Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5: Briefwechsel. Hrsg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Bd. 2. Berlin-New York 1988, 348 (Schlegel an Schleiermacher, Anfang-Mitte Juli 1798) sowie Novalis: Schriften. Bd. 4. Hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Darmstadt 1975, 501 (Schlegel an Novalis, 20.0ktober 1798). 5 6 7
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Walter Jaeschke
halbes Jahrhundert später ein derartiger Versuch unter anderen Auspicien wiederholt wurde, konnte er - was die Stiftung einer neuen Mythologie betraf nicht gelingen. Es kann deshalb nicht verwundern, daß die Stelle des Verlangens nach einer neuen Mythologie - kaum daß es ausgesprochen war - von der Hoffnung auf eine Repristination der alten besetzt wird. Die neuen Hoffnungen richten sich aber weniger auf die Mythologie des klassischen Altertums, die zu dieser Zeit bereits in zu hohem Maße zum Gegenstand der literarhistorischen Forschung und damit der wissenschaftlichen Entzauberung geworden ist. Sie gelten den »Schätzen des Orients«8• Mit dem Dementi der Möglichkeit der Erfindung einer neuen Mythologie (wobei schon die Wortwahl andeutet, daß man sich mit denen einig weiß, die vehement gegen die Ansicht streiten, eine Verfassung lasse sich erfinden) geht zunehmend die Empfehlung der »alten Offenbarungen« einher. 9 Diese allerdings erweisen sich der ästhetischen Revolution nicht als sonderlich fördernd, und damit entfällt bereits nach wenigen Jahren der Grund für die Hoffnung auf eine ästhetische Revolutionierung des Zeitalters. Schon die >>Rekonstruktion der indifferenten Harmonie«, die der Jenaer Hege! - selbst noch im Banne der Frühromantik stehend- in der Natu"echtsvorlesung 10 (1802) für seine Zeit anvisiert, versteht sich nicht mehr als ästhetische Erneuerung, sondern als begründet im philosophisch artikulierten, aus der Sittlichkeit eines Volkes geborenen Freiheitsgedanken. Die Hoffnung und Erwartung einer ästhetischen Revolutionierung des Zeitalters findet damit - noch nicht ein Jahrzehnt nach ihrer Formulierung - ihr Ende in der These vom Ende der Kunst. Zum genannten frühen Zeitpunkt begründet Hege! das Ende der Kunst mit dem - unabänderlichen - Verlust der Mythologie. Somit ist seine Begründung selbst noch eine mythische: Sie verwirft die Kunst als Remedium gesellschaftlicher Entzweiungen, weil die Restitution eines (vermeintlichen) Naturzustands schönen Lebens unmöglich sei. Erst mit dem Ende der Koinzidenz von Frühromantik und frühem Idealismus revidiert Hege! diese selbst noch mythische Begründung für das Ende von Mythologie und Kunst und ersetzt sie durch die Verknüpfung der Einsicht in die strukturelle Defizienz von Kunst - ihr dem Selbstbewußtsein fremdes Aufgespaltensein in Material, Produzenten und Rezipienten - mit der Annahme einer 'Geschichte des absoluten Geistes'. Gleichwohl durfte man seither der Ansicht sein, daß der frühromantische Ruf nach ästhetischer Revolutionierung der Wirklichkeit die Eignung der Kunst zur Vermittlung der Entzweiungen der modernen Welt weit überschätzt habe. III
Der Bogen der Kunstphilosophie des thematischen Jahrzehnts spannt sich von der Erwartung einer ästhetischen Revolution bis zur Behauptung des Endes der s KFSA 11,319. 9
KFSA II1,98. Karl Rosenkranz: G. W.F.Hegels Leben. Berlin 1844, 133-141.
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Kunst. Damit könnte auch der Anlaß für den bewundernden Rückblick auf diese Jahre zu entfallen scheinen: Die ästhetische, aber das engere Gebiet der Ästhetik überschreitende Revolution, die Schlegel voraussagen zu können meinte, für die ihm die Zeit reif schien, hat bekanntlich nicht stattgefunden. Und auch abgesehen von den gesellschaftlichen Konnotationen hat der Gang der Kunst bekanntlich nicht die von Schlegel prognostizierte Richtung aufs Objektive genommen. Gleichwohl scheint es nicht unberechtigt, an der Rede von einer ästhetischen Revolution festzuhalten. Bereits die Entwicklungen, die Schlegel zu ihrer Erwartung ermutigen, berechtigen dazu, ihre Wirklichkeit zu konstatieren. Die ästhetische Revolution bahnt sich - Schlegels früher Auskunft im Studiumsaufsatz zufolge - auf zwei Gebieten an: dem des Studiums der Alten und dem der Ausbildung der neueren Ästhetik. Und beide stehen in engem Zusammenhang. Er liegt allerdings nicht darin, daß die >>allgemeingültige Wissenschaft des Schönen und der Darstellung>objektiven Systems der praktischen und theoretischen ästhetischen Wissenschaften>einzelne Regeln des Aristoteles, und Sentenzen des Horaz>als kräftige Amulette wider den bösen Dämon der Modernheit gebraucht>rationales System>kritisches System>noch« andeutet - weniger das Projekt einer solchen Philosophie der Kunst als den Stand zur Verwirklichung der oftmals nur programmatischen Versicherungen. Deshalb fährt Schiller fort: und man »vermißt mehr als jemals ein Organon, wodurch beide vermittelt werden können« bzw., wie es zuvor heißt, eine »Brücke« »von der Transzendentalen Philosophie zu dem wirklichen Factum«. 16 Eben solcher Vermittlung gilt das Bestreben der noch frühromantisch tingierten, frühidealistischen Vorlesungen Schellings über Philosophie der Kunst. Dies bleibt ihr Verdienst, auch wenn sie ihr Ziel verfehlt haben dürfte. Vornehmlich in dieser Philosophie der Kunst manifestiert sich die ästhetische Revolution - plakativ etwa in den Sätzen aus der Einleitung, in denen Schelling sein Unternehmen gegen die fruchtlosen Bemühungen der vorangegangenen Jahrzehnte abgrenzt, die teils das Schöne psychologisch behandelt haben wie »Gespenstergeschichten und andern Aberglauben«, teils als »Recepte und Kochbücher«, aus denen man lernen konnte, wie eine Tragödie anzurühren sei, damit sie beim Publikum die bestmögliche Mischung von Schrecken, Mitleid und Tränen bewirke.
KFSA 11,148 (Lyceum-Fragment 12). Werke. Nationalausgabe. Bd.31. Hrsg. von Stefan Ormanns. Weimar 1985, 88 (Schiller an Goethe, 20. Januar 1802). 15
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Es ist das hervorstechende Charakteristikum der neuen, von Frühromantik und frühem Idealismus entworfenen Philosophie der Kunst, daß sie nicht mehr an solcher auf das Publikum berechneten Wirkung orientiert, sondern Gehaltsästhetik ist - und zwar sowohl des immanent-ästhetischen als auch des metaphysischen Gehalts. Sie verabschiedet damit neben derArtes-Traditionauch die bis zu Aristoteles zurückreichende Tradition der Wirkungsästhetik. Die Kraft zu diesem -wiederum revolutionär zu nennenden - Schritt gewinnt sie einerseits aus dem erneuerten und überlegenen Studium der Griechen, aus der von Schlegel proklamierten Befreiung von den Fesseln der griechischen Kunstkritik, andererseits und unabhängig davon aus der zeitgenössischen Umgestaltung der Philosophie in der Transzendentalphilosophie und der Spekulation. Wenn die Philosophie nur »auf eine unveränderliche Weise in Ideen ausspricht, was der wahre Kunstsinn im Concreten anschaut« 17, so ist ihr Inhalt identisch mit dem der Kunst, und jede Thematisierung, die nicht auf diesen Inhalt gerichtet ist und sich entweder in Regelwissen oder in der Wirkungsberechnung erschöpft, muß das Eigentliche der Kunst verfehlen. Aber obgleich die Kunst mit der Philosophie denselben Inhalt hat, bleibt sie nicht etwa auf die Nachahmung einer ihr vorgegebenen Wirklichkeit beschränkt. Nicht das Studium der Alten, sondern die neue Geschichte der Ästhetik, insbesondere aber die Fundierung der Ästhetik innerhalb des Gesamtkonzepts der Tranzendentalphilosophie und deren Erbe in der erneuerten Spekulation des Idealismus fügen der frühromantischen bzw. -idealistischen Philosophie der Kunst ein weiteres Charakteristikum hinzu: das Moment der produzierenden Subjektivität. Dieser epochale Neuansatz zieht auf dem Gebiet der Ästhetik zwei Konsequenzen nach sich: ihre Restriktion auf eine Philosophie der Kunst und deren Absage an das die Tradition prägende Prinzip der Mimesis. Gegenstand der Ästhetik ist nicht mehr der gesamte Umkreis des Schönen, in dem das Naturschöne gemeinhin als dem Kunstschönen überlegen galt und dieses von jenem bloß unvollkommen abgeleitet schien. Daß das Kunstschöne ein Produziertes sei, kann nicht mehr als Einwand gegen es gelten, wenn der Gedanke der Produktion aus der sich selbst denkenden Subjektivität zum Fundament der Philosophie überhaupt geworden ist. Allerdings werden die Auswirkungen dieses neuen Prinzips des Selbstbewußtseins auf die Ästhetik erst mit zeitlicher Verzögerung - nach Kant und wohl nicht ohne Grund auch erst nach Fichte - faßbar. Dann aber wird die Ästhetik so sehr zu einer Philosophie der Kunst, daß das Naturschöne nahezu in Vergessenheit gerät, zumindest systematisch ortlos wird. Parallel dazu, wenn auch mit geringer Verzögerung, verläuft ein zweiter Prozeß: die Rücknahme des Begriffs des Schönen in die Philosophie der Kunst, und zwar die Rücknahme nicht aus der Natur, sondern aus dem gesellschaftlichen Leben. Zunächst hatten die Frühromantik und der frühe Idealismus ja gerade in der Ausweitung des Begriffs des Schönen einen Wesenszug 17 F.W.J. Schelling: Philosophie der Kunst. Nachdruck der Ausgabe 1859. Hrsg. von K.FA. Schelling. Darmstadt 1976, 5.
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der ästhetischen Revolution sehen wollen. Mit der Einsicht in die Unwiederholbarkeit des Mythos, des vermeintlichen Naturzustands eines schönen Lebens vor dem Beginn der Geschichte kann auch dieser Bereich des gesellschaftlichen Lebens nicht mehr als Feld der Verwirklichung des Schönen gelten. Dieses hat seinen Ort ausschließlich in der Kunst. Damit ist aber auch dem Prinzip der Mimesis der Boden entzogen. Wenn Kunst, und d.h. wenn das Kunstwerk, das jetzt von der Philosophie in den Blick genommen wird, aus dem Akt der Anschauung dessen resultiert, was in anderer Form in der Philosophie begriffen wird - des Schönen oder des Absoluten-, vermittelt durch die schöpferische Subjektivität des Künstlers, so entfällt jeder Anlaß, Kunst aus der Nachahmung der Natur entspringen zu lassen. Fraglos wird die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip - nach Gottsched auch in Deutschland bereits vor der Umformung der Ästhetik durch die kritische Philosophie geführt. Aber erst im Ausgang von dem neuen Prinzip der künstlerischen Produktion aus Freiheit gewinnt die Philosophie der Kunst die -wohl unverlierbare - Kla.rheit über den »Unterschied zwischen bloß verschönernder Nachahmung des Wirklichen und Gegebenen, und selbstständiger Darstellung einer, durch die Schöpferkraft des Dichters hervorgezauberten, Welt« so Schlegel eher beiläufig über Shakespeares Stunn. 18 Auch diese Absage an das Prinzip der Mimesis ist ein, wenn nicht das Signum der ästhetischen Revolution der fraglichen Jahre. Sie wird zwar nicht ermöglicht, wohl aber dadurch erleichtert und theoretisch abgesichert, daß die neue Philosophie der Kunst dem aus der Freiheit der Subjektivität geborenen Werk eine eigene metaphysische Dignität zuerkennt, die ihr gerade dann abgesprochen werden müßte, wenn sie als Nachahmung der Natur angemessen verstanden wäre. Als freies Produkt der Subjektivität, aber zugleich als inhaltsidentisch mit der Philosophie steht Kunst in einem weit engeren Verhältnis zum »Absoluten>SchönheitSchönheit des FrauenzimmersSchönheit des Pferdes«, s. Pferd. 10 Zedler, a.a.O. Bd.2 (1732), Sp. 1645: Ars.- Auch Gottsched nannte 1732 als Beispiele für die Kunst als >>Fertigkeit, gewisse mögliche Dinge zur Wirklichkeit zu bringendie Redekunst, die Dichtkunst, die Mahler- oder Uhrmacherkunst«. A.a.O. Tl.2,324.
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Gunter Scholtz
form). Damit konstituiert sich erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein eigener Bereich schöner Künste. Batteux nannte sein Werk noch nicht Ästhetik, es gehört seinem Genus nach der »Theorie der schönen Wissenschaften und Künste« anY Indem auch AG. Baumgarten seine Ästhetik so nennen wird 12, zeigt sich, woraus die neue Disziplin sich speist und die Bereiche nimmt: einerseits aus den Artes liberales (hier hatten die schönen Wissenschaften, die 'belletres' Poetik/Poesie und Rhetorik sowie die Musik ihren Sitz), andererseits aus den Artes mechanicae, wo zumeist die bildenden Künste beheimatet waren. Das Auftauchen der Ästhetik als Theorie der schönen Künste bedeutet also eine neue Differenzierung des Kunstgebietes: Neben die 'freien' und die 'mechanischen' treten die 'schönen' Künste, die dem Vergnügen und der Schönheit dienen. Allerdings ist ihr Verhältnis zu den 'freien' noch nicht ganz geklärt und nur die Grenze gegenüber den 'mechanischen' befestigt (s.u.). Als Hintergrund für diese Grenzziehung dürfte die französische Auseinandersetzung um die Vorbildlichkeit der Antike, die Querelle des anciens et des modernes, wichtig sein, in welcher sich ergab, daß die schönen Künste nicht im gleichen Sinne perfektibel sind wie die mechanischen und die Wissenschaften. 13 Betreibt Batteux die Integration aller Künste zu einem System, so Baumgarten deren Aufwertung im Rahmen des aristotelischen Denkens: Die schönen Künste und die Dichtkunst sprechen die Vollkommenheit des Seins zum Ruhme des Schöpfers aus; und die Ästhetik als Kunstphilosophie rückt in die Nachbarschaft der Logik und dann- bei Baumgartens Schüler Meier- in die Nähe der Metaphysik. 14 Damit haben Kunst und Kunstphilosophie den Bereich der Philosophia practica (oder poietica) verlassen und einen neuen, höheren Rang gewonnen. Analog zur Differenzierung der Disziplinen und der Entstehung der Ästhetik differenziert sich bald auch das Gebiet der seelischen Vermögen: Zwischen Denken und Wollen, zwischen theoretisches und praktisches Vermögen tritt der Bereich von Empfindung und GefühiY 2. Die Trennung von Kunst und Wissenschaft und das Ende der Artes Seit dem Deutschen Idealismus ist die Kunstphilosophie ein Wissen von der Kunst genauso wie die Naturphilosophie ein Wissen von der Natur. Aber so 11 Batteux hat sein Werk über die schönen Künste selbst bald in ein größeres Werk integriert mit dem Titel Cours de bel/es-/ettres, ou principes de Ia litterature. Nouv. ed. Paris 1753, 4 Iom. Deutsche Ausgabe: Einleitung in die schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehrt von Kar! Wilhelm Ramler. Verb. Auflage, 4 Bde. Leipzig 17621769. 12 Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Frankfurt/0. 1750, § 1. 13 0. Kristeller, a.a.O. Bd.52,25f. Hans Robert Jauß: »Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes«. Einleitung zu: M. Perrault: Parallele des Anciens et des Modemesen ce qui regarde /es Ans et /es Sciences. München 1964, 8-64, hier 63f. 14 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Halle 1748. Zu Baumgarten siehe Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972. Dies.: »Kunst, Kunstwerk (III)>Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik.Aus dem, was Du jetzt lesen wirst, kannst Du meinen ganzen Plan übersehen und prüfen. Ich läugne nicht, daß ich sehr davon befriedigt bin, denn eine solche Einheit, als diejenige ist, die dieses System zusammen hält, habe ich in meinem Kopf noch nie hervorgebracht und ich muß gestehen, daß ich meine Gründe für unüberwindlich halte.>große(n] Hauffen« 17, genauso wie für den Intellektuellen, den »Philosophen« 18. Die Realisierung dieses asystematischen Systems liegt in der Zukunft; schon ihre gedankliche Antizipation ist eine ungeheuer kühne Idee, die, so behauptet der Verfasser nicht ohne Stolz, »SO viel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist«. Eine Generation zuvor hatten Lessing und Mendelssohn die Vereinbarkeit von Poesie und Philosophie vehement bestritten. In der 1755 erschienenen Abhandlung Pope, ein Metaphysiker! hatten sie in ungewöhnlicher Weise Stellung genommen zu einer Preisaufgabe der Königlichen Akademie. 19 Statt den Erwartungen des Präsidenten Maupertuis entgegenzukommen, der sich von der Beantwortung der Preisfrage insgeheim eine Schmälerung des wissenschaftlichen Ansehens von Leibniz erhofft hatte, stellten die beiden Freunde die wissenschaftliche Autorität der Akademie selber infrage. Sie wiesen nach, daß die Aufgabenstellung - eine Untersuchung des Popeschen Systems und ein Vergleich des angeblich Popeschen Grundsatzes 'Alles ist gut' mit dem Leibniz'schen Lehrgebäude - auf falschen Voraussetzungen beruhe und eine mangelnde Kenntnis des englischen Originaltextes verrate. Zugleich zeigten sie, daß Pope zwar als Dichter, nicht aber als Philosoph gelten könne. Unter Zugrundelegung der Definition Baumgartens vom Gedicht als einer vollkommenen sinnlichen Rede20 arbeiteten sie die Unvereinbarkeit der beiden Disziplinen heraus. Während für den Philosophen die Wahrheit nicht durch die Anzahl der zu ihr hinführenden Schlüsse tangiert werde, sofern diese alle untrüglich seien, 21 dürfe sich der Dichter keine vergleichbaren Umwege leisten. Er sei geradezu gezwungen, jede Phase seiner Argumentation als wahr, als überzeugend darzustellen. »Alles, was er (d.h. der Dichter; U.St.] sagt, soll gleich starken Eindruck machen; alle seine Wahrheiten sollen gleich überzeugend rühren. Und dieses zu können, hat er kein ander Mittel, als diese Wahrheit nach diesem System, und jene nach einem andern auszudrücken. - - Er spricht mit dem Epikur, wo er die Wollust erheben will, und mit der Stoa, wo er die Tugend preisen soll.« 22 Dieser These über den unsystematischen Charakter des Poetischen folgt dann der detaillierte Nachweis, daß Popes Essay on Man tatsächlich kein stringentes Lehrgebäude enthalte, sondern an verschiedenen philosophischen Systemen eklektizistisch partizipiere. Der Summe jener verschiedenen aneinandergereihten Lehrmeinungen sprechen Lessing und Mendelssohn den Systemcharakter ab. Mit unverkennbarer Ironie halten sie fest -und hier folgt jener Satz, auf den der Verfasser des Systemprogramms m.E. Bezug nimmt: »ich möchte( ... ] wissen, was 17 Ebd. 18Ebd. 19 S. hierzu die Biographie von Theodor Wilhelm Danzel und Eduard Gottschalk Guhrauer: Gotthold Ephraim Lessing. Sein Leben und seine Werke. l.Bd. Berlin 21880, 272ff. 20 ••Üratio sensitiva perfecta est POEMA [... ].« (Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditatio-
nes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus /Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Hrsg. von H. Paetzold. Harnburg 1983 (=Philosophische Bibliothek 352), 10, § IX. 21 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hrsg. von P. Rilla. Berlin 1954ff, Bd.7,235. 22 Lessing, a.a.O. Bd.7,235f.
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diejenigen dabei denken, die sich dem ohngeachtet ein Popisches System nicht wollen ausreden lassen. Vielleicht sagen sie [... ], daß ich das wahre System des Dichters verfehlt habe, und daß es ein ganz anders sei, aus welchem man sie [eine bestimmte Textstelle bei Pope; U.St.] erklären müsse. Welches aber soile es sein? Wenigstens muß es ein ganz neues sein, das noch in keines Menschen Gedanken gekommen.« 23 II
Mit der Behauptung von der Unmöglichkeit, System und Systemlosigkeit miteinander zu verbinden, bestreiten Lessing und Mendelssohn die Vereinbarkeit von Philosophie und Poesie und entziehen damit einem Großteil der damals beliebten Lehrgedichte die Existenzberechtigung. 24 Die Unvereinbarkeit von Philosophie und Poesie hatte schon Batteux25 nahegelegt; Kant 26 und nach ihm vor allem Hegel 27 haben dann versucht, sie endgültig festzuschreiben. Die theoretische Einsicht in die Unversöhnbarkeit von Philosophie und Poesie ließ sich jedoch nicht ohne weiteres in der Praxis einhalten, zumindest nicht von Lessing. Mit Schwierigkeiten dieser Art hatte er ausgerechnet in einer Schrift zu kämpfen, bei der es gleichfalls um eine Abgrenzung ging. 1766 erscheint die Abhandlung über Laokoon, die, wie der Untertitel verrät, »die Grenzen der Malerei und Poesie« bestimmen sollte. Der Versuch, die beiden Großgattungen 'Bildende Kunst' und 'Dichtkunst' auseinanderzuhalten, bringt es mit sich, daß Lessing den elf Jahre vorher herausgearbeiteten Gegensatz28 in seiner eigenen Argumentation wieder verwischt und die beiden Disziplinen 'Wissenschaftliche bzw. philosophische Abhandlung' und 'Poesie' miteinander vermengt. 29 Einerseits geht er deduktiv vor; er arbeitet mit logischen Lessing, a.a.O. Bd.7,260. Obwohl beide keineswegs Gegner der Lehrdichtung gewesen sind, bezweifeln sie deren Zugehörigkeit zum Bereich der Philosophie. S. hierzu Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974 (=Germanistische Abhandlungen 43), 29f. 25 In dem 1746 zum ersten Mal erschienenen 'Cours de belles·lettres, ou principes de Ia litterature' heißt es: >>La Poesie [... ] change d'objet dans Ia Poesie didactique. Elle se propose d'instruire, de tracer les loix de Ia raison, du bon sens, de guider les arts, d'orner & d'embellir Ia verite, sans lui faire rien perdre de ses droits. Ce genre est une sorte d'usurpation que Ia poesie a faite sur Ia prose.>Philosophie der Poesie« 90 ist noch im Werden. Ja, ihr Wesen ist es, daß sie, wie das berühmte 116. Athenäum-Fragment festhält, >>ewig nur werden, nie vollendet seyn kann« 91 • Für jene Synthese von Philosophie und Poesie 92 verwendet Schlegel in den Philosophischen Fragmenten von 1799 den Ausdruck 'Mythologie'.93 Sie wird ihm als >>neue Mythologie« zum Desiderat - ganz wie dies der Fall war beim Verfasser des Ältesten Systemprogramms. Während dieser sich jedoch über die Realisationsschwierigkeiten hinwegsetzt, versucht Schlegel sie zu bezeichnen, indem er Gattungen bevorzugt, die ein Moment der Unvollkommenheit bereits in ihrer Form zum Ausdruck bringen. Zu diesen Gattungen gehören neben dem Fragment94 vor allem der kunstkritische Essay, 95 die Rhapsodie, 96 der Brief bzw. 86 S. oben Anm. 72. - Das Arrangement wird bei Novalis freilich deutlicher als bei Schlegel; s. etwa den ersten der Dialogen, wo sich die Sphäre des Systematischen als Metaebene über der Welt der Zufälle konstituiert. (Novalis (s. Anm. 54), Bd.2,662.)- Wie Hardenberg im Bereich des Ökonomischen System und Systemlosigkeit aufeinander bezieht, habe ich in meiner Habilitationsschrift zu zeigen versucht. ('Die theuren Dinge.' Studien zu Bunyan, Jung-Stilling und Novalis. Bern, München 1980, 184ff, bes. 192.) 87 Siehe Schlegel (Anm. 78), 30f. 88 S. hierzu vor allem das Ideen-Fragment Nr. 48 (Schlegel (Anm. 50), 261). 89 >>( ••• ] Jedes System kann nur Approximation sein (... ].>die typischen, natürlichen Stoffe der Kritik« 108 darbiete und so wirke, als ginge es ihm um Inhalte, partizipiere er an der Wissenschaft. In der Verwendung einer begrifflichen Sprache bekunde er überdies seine Zugehörigkeit zur Philosophie_Hl9 Zugleich jedoch liege seine Wahrheit keineswegs allein in der Übereinstimmung mit einem vorgegebenen Inhalt; sie entstehe vor allem durch die Darstellungsweise des Essays selber. In der Wirksamkeit durch seine je spezifische Form erweise sich der Essay als Kunstwerk. Diese Form existiere aber nicht getrennt von dem vorgegebenen Inhalt, sie reflektiere ihn vielmehr, verändere ihn und treffe ihn damit viel tiefer, als die behauptete bloß okkasionelle Beziehung je möglich erscheinen ließe. Verdient der Essayismus Adornos und des frühen Lukacs demnach gleichfalls das Prädikat des Transzendentalpoetischen, so gleicht er der frühromantischen, 110 insbesondere Schlegelsehen Spielart auch noch in anderer Hinsicht. Wie dieser eignet ihm ein utopisches Moment. Lukacs spricht dem Essay den Status eines Vorläufers zu und ordnet ihm als konstitutives Element die Sehnsucht bei. Adorno sieht im Essay eine Form des Widerstands; er setzt - trotz der Einsicht in die Irreversibilität der Scheidung von Wissenschaft und Kunst auf die Opposition gegen >>eine nach Sparten organisierte Kultur« 111 • Das Erwartungspotential ist freilich bei ihm im Vergleich zu den Fichte-Schülern der Generation von 1770 deutlich gesunken. Keine Hoffnung mehr auf eine neue Mythologie und auf ein neues Goldenes Zeitalter, in dem Poesie und Philosophie, Anschauung und Begriff, Geist und Buchstabe, Systemlosigkeit und System wieder zueinander gefunden hätten. Aber die Erinnerung an die verlorene Einheit ist auch für Adorno bedeutsam im Hinblick auf eine Zukunft: >>der unwiderruflich nach dem Muster von Naturbeherrschung und materieller Produktion gemodelte Geist begibt sich der Erinnerung an jenes überwundene Stadium, die ein zukünftiges verspricht, der Transzendenz gegenüber den verhärteten Produktionsverhältnissen, und das lähmt sein spezialistisches Verfahren gerade seinen spezifischen Gegenständen gegenüber«. 112 Aber selbst dieses Restpotential an Hoffnung, das Adorno mit dem Essay verknüpft, erscheint uns heute schon zu hochgespannt. Wenn auch für den Essay das widerstreitende Nebeneinander von Philosophie und Poesie formkonstitutiv geworden ist, so ginge es doch zu weit, wollte man das Problem des Verhältnisses der beiden Disziplinen allein schon durch die Existenz der Gattung gen werden, so mag doch diese Engführung erlaubt sein - angesichts der demonstrativen Art, mit der Adorno seine Abhängigkeit von Lukacs' Essay leugnet. 107 Lukäcs, a.a.O. 23. 108 Ebd.18. 109 Vgl. Adorno, a.a.O. 12f. 110 Die Vertrautheit mit frühromantischer Theorie ließe sich für beide Autoren nachweisen; bei Lukacs ist sie überdies noch gegeben durch dessen biographische Beziehungen zu Georg Simmel. 111 Adorno, a.a.O. 18. 112 Ebd. 21.
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des modernen Essays bewältigt sehen. Die Philosophie und auch die Poesie sind auch in Zukunft nicht von der Aufgabe entlastet, je für sich über ihre Beziehung zur Nachbarsdisziplin zu befinden und auch jeweils bei sich das Verhältnis von System und Systemlosigkeit zu reflektieren.
Claus-Artur Scheier DIE FRÜHROMANTIKALS KULTUR DER REFLEXION
Im Unterschied zu ihren späteren, deutschen wie europäischen, Spielarten ist die frühe deutsche Romantik nach Selbstbestimmung und geschichtlichem Motiv eine Kultur der Reflexion. Die folgende Skizze der einheitlichen Reflexionsstruktur, die so außerordentlich verschiedenen Werkkomplexen wie den Schlegelsehen »Fragmenten«, den Novalisseherr »Texten zum Denken«, den Schellingschen Systementwürfen, den Schleiermachersehen »Reden«, aber auch Hölderlins Dichtung das Gepräge geschichtlicher Zusammengehörigkeit gibt, mag dazu beitragen, die deutsche Frühromantik nicht nur historisch-phänomenal, sondern philosophisch-methodisch als Einheit zu verstehen. Die frühromantische Reflexivität formuliert sich in der kritischen Alleignung des Substanz-Begriffs in Fichtes Grundlage der gesamten Wzssenschaftslehre (1794), näher in deren Grundlage des theoretischen Wzssens, der seinerseits eine prinzipielle Verwandlung des Reflexionsbegriffs in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) darstellt. In diesem Sinn ist die Kritik der ästhetischen Urteilskraft als der Terminus a quo der Frühromantik zu betrachten. Von der produktiven Reflexion Fichtes unterscheidet sich die romantische Reflexion aber dann in allen ihren Modifikationen und Tendenzen durch die Inversion des Verhältnisses von Subjekt und Substanz, weswegen die spekulative Neubestimmung dieses Verhältnisses in Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), die im ganzen als geschichtsphilosophische Kritik der Romantik gelesen werden kann, den Terminus ad quem gibt. Die romantische oder »Substantielle« Reflexion wird im folgenden exemplarisch an den Begriffen »Produktion« (Schelling), »Fragment« und »Ironie« (Schlegel), »Geisterwelt« (Novalis) und »Religion« (Schleiermacher) verdeutlicht. Ein abschließender Blick auf die Ästhetik von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (1818/19) soll die frühe Romantik von der der Restauration abgrenzen helfen, die einem ursprünglich anderen weltanschaulichen Impuls folgt. Im Resultat der Grundsätze der gesamten Wissenschaftslehre (§§ 1-3 der Fichteschen Grundlage) setzt das Ich als unbeschränkbares (nicht vorzustellendes) Subjekt in sich als Substanz sich als Akzidens ein Nicht-Ich als Akzidens entgegen (Fichte, GA 1,2,272,279). Das Ich bewährt sich also als absolut produktiv darin, daß es ebensowohl der setzende Grund der Realität, d.h. absolutes Subjekt (1,2,259; vgl. 382,418), wie deren unendliches All, d.h. Substanz, und endlicher Teil, d.h. (subjektives) Akzidens, oder als endlich wie unendlich nur sein eignes Produkt ist. Hiermit ist der Karrtsehe Naturbegriff >>Substanz« dem vernünftigen Ich vindiziert und die Natur selbst, als Noumenon wie als Phänomenon, der Möglichkeit wie der Wirklichkeit nach, zum auch nicht länger gegebenen, sondern gesetzten (objektiven) Akzidens des Ich geworden. Die absolut produktiv gewordene Spontaneität sucht sich nicht mehr nur in der vernünftigen Handlung, sondern im vernünftigen Produkt, das, wie die folgenden Schriften
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Fichtes nach immer neuen Aspekten verdeutlichen, als das schlechthin allgemeine zuletzt nur der Vernunft-Staat sein kann. Nach dieser Endabsicht ist Fichte schon in den Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1793) und noch in den Vorträgen verschiedenen Inhalts aus der angewendeten Philosophie von 1813 der »Spekulative Politiker«, als den er sich im Widmungsschreiben zu Der geschlossene Handelsstaat (1800) bezeichnet hat. Fichtes Denken steht, wäre zu klassifizieren, durchaus in der Tradition der Aufklärung und darf nicht als »Romantisierung Kants« (H.A. Korff) mißverstanden werden. Das poietische (produktive) Ich der Wissenschaftslehre(n) und so auch der »angewendeten« Philosophie ist noch nicht das poetische (romantische), das sich allererst aus einer zu präzisierenden Modifikation des Substanz-Begriffs der Grundlage entspringt. Das Ich soll, zufolge der im ersten Grundsatz gefaßten Idee seiner produktiven Realität, sich selbst schlechthin bestimmen, dies aber, zufolge des im zweiten Grundsatz als ebenso schlechthin geforderten Entgegensetzens, nur mittels des Bestimmens des Nicht-Ich. Die in der Grundlage des theoretischen Wzssens (§ 4 der Grundlage) zu beantwortende Frage ist daher die, wie das im zweiten Grundsatz lediglich seiner Form nach gedachte Nicht-Ich überhaupt zu Gehalt oder (bestimmbarer) Realität kommt. Die Antwort gibt die Deduktion eines absoluten Produktionsvermögens, kraft dessen das setzende Ich zwischen den an sich unvereinbaren Akzidenzen Ich und Nicht-Ich und so auch zwischen ihnen und ihrer gemeinsamen Grenze oder sich als Begrenzendem (Bestimmendem) abwechselt. Diesen Wechsel zwischen dem Wechsel selbst und seinem Grund, dem Produkt und dem Produzierenden oder dem endlichen und dem unendlichen Ich nennt Fichte das »Schweben« der hierin nicht nur formierend-, sondern schaffend-produktiven Einbildungskraft (1,2,358ff), und der ganze reflektierend-reflektierte Wechsel ist das poietische Ich als die Substanz. Dieser substantiierend-substantielle Wechsel zwischen Komprehensibilität (Endlichkeit) und Inkomprehensibilität (Unendlichkeit) des absoluten Ganzen nun nicht mehr der Natur, sondern des Ich selbst, ist für dieses, woran Fichte eigens erinnert (1,2,360; vgl. 110), das aus der ästhetischen Urteilskraft in die Vernunft als solche übersetzte Gefühl des (Mathematisch-)Erhabenen (Kant, KU §§ 25-27). Weil aber das Gefühl als die unmittelbar fürsichseiende Subjektivität keine Bestimmung des vorstellenden oder intelligenten Ich ist, kann die Grundlage des theoretischen Wzssens das Subjekt auch nur als (absolute) Substanz deduzieren, und die spekulative Begründung der unendlichen Bestimmbarkeit des Ich im unendlichen Bestimmen durch sich selbst, der Substanz als (absolutes) Subjekt, fällt der Grundlage der Wzssenschaft des Praktischen zu. Hier ist die absolute Tätigkeit des Ich unendliches Streben nicht erst, wie dort, in Beziehung auf ein mögliches Objekt - das Objekt wird vielmehr möglich dadurch, daß das Ich an und für sich selbst unendliches Streben ist. Der im theoretischen Teil der Wzssenschaftslehre für die Erklärung der Vorstellung noch vorauszusetzende »Anstoß« wird im produktiven »Seyn (Wesen)« (1,2,259) des Ich mithin als die Möglichkeit (1,2,409) gefunden, in der die Idee der Unendlichkeit, als realisierte eine contradictio in adjecto, ewig zu realisieren ist.
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Ein Jahr nach seiner Dissertation veröffentlichte der achtzehnjährige SeheHing einen umfangreichen Aufsatz Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt (1793). Scheinbar gab der Anstoß durch Fichtes »Einladungsschrift« Über den Begriff der WISsenschaftslehre Schellings Suchen eine ganz neue Richtung. Aber die transzendentalphilosophische Apologetik der nächsten drei Jahre stand durchaus im Dienst der eignen Sache, denn das leitende Interesse ist von Anfang an weniger Fichtes im § 5 der Grundlage genetisch erörtertes Prinzip als vielmehr dessen theoretische Fixierung. Den praktischen Teil der Grundlage behauptete Schelling Anfang 1796 »noch nicht einmal gelesen« zu haben (22.1.1796 an Niethammer). Daß es sich dabei nicht bloß um eine Akzentverschiebung, sondern um eine prinzipielle Differenz handelt, wird bereits in den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) deutlich. Zwar mochte mit der traditionellen Bezeichnung »Philosophie der Natur« immer noch von einer transzendentalphilosophischen Disziplin die Rede sein, aber mit dem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) ist die »Transzendentalphilosophie« dann auch programmatisch herabgesetzt zur Seite eines Gegensatzes. Die letzte Konsequenz wird Schelling aber erst 1806, im Jahr der Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie und über die Naturphilosophie, in der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre ziehen. Die Ideen hatten gefordert, die Natur als den sichtbaren Geist, den Geist als die unsichtbare Natur zu denken. Indem SeheHing im System des transzendentalen Idealismus (1800) die theoretische Polarität Sichtbarkeit - Unsichtbarkeit weiterdenkt zum »Parallelismus« von Objektivem und Subjektivem, den weder die Transzendental- noch die Naturphilosophie allein darstellen kann, nimmt er die Vernunft im ganzen zurück auf das Verhältnis von Ich und NichtIch, das als das Schweben der Einbildungskraft Resultat von Fichtes Grundlage des theoretischen WISsens war. Die »praktische« Rückbindung der in die bewußtlose Spontaneität aufgegangenen Substanz ins (absolute) Subjekt ist damit annulliert. Die nächste Folge ist die, daß die praktische Philosophie bei der anstehenden Entscheidung über die Priorität im Verhältnis »keine Stimme« (Schelling, SW 3,332) mehr hat. Da sie aber das transzendentalphilosophische »Mittelglied« ist, welches das ideale (theoretische) Subjekt in das reale (produktive) versenkt, läßt sie die schon ihrem objektiven Gehalt nach bedingte Intelligenz als schlechthin unselbständig sehen, während die aus dem subjektivierenden Grund-Verhältnis entlassene Substanz mit dem Objektiven zu einer unbedingten Natur von unendlicher Produktivität konkresziert, deren Wissenschaft absolute theoretische Evidenz beansprucht. Allein daraus erhellt schon, daß Schellings System von 1800, wie ohnehin die späteren Entwürfe, auf spezifisch andere Weise »System>Subjektiven« Idealismus sei das Ich zwar Alles, damit aber noch nicht, wie für den >>objektiven«, Alles auch = Ich: Das Aufgehobensein der Kantischen Natur zum Akzidens des produktiven Ich ist gedeutet als eine bloße Tendenz (durch die Fichtes Ich in seiner theoretischen Gestalt festgehalten wird). Diesem Standpunkt der mit dem Aufheben eines schon vorausgesetzten Unmittelbaren identifizierten Reflexion wird entgegengesetzt der - ihn fundierende - >>Standpunkt der Produktion«, auf dem allein der Indifferenzpunkt der >>Pole« Natur- und Transzendentalphilosophie, das Alles, das = Ich ist in der Indifferenz der Indifferenzen Wahrheit und Schönheit, konstruiert werden könne. Die Konstruktion geht aus von der Vernunft als totaler Indifferenz des Subjektiven und Objektiven(§ 1), zu denken mittels der Reflexion auf das, was sich zwischen beide stellt und >>offenbar« ein gegen beide indifferent sich Verhaltendes sein muß - wozu gefordert wird, »vom Denkenden« zu abstrahieren. Die Explosivität dieser en passant und gleichsam als selbstverständlich gegebenen Bestimmung kann kaum überschätzt werden. Romantische Philosophie und philosophische Romantik sind darin auf ihre gemeinsame methodische Spitze gestellt. Die Abstraktion ist die Reflexion auf die intellektuelle Anschauung, und deren Anderes, der Denkende, das Wovon der Abstraktion, ist wieder die (immer als aufhebend gedachte) Reflexion. Der methodische Akt, dem die in der Theoretisierung des Fichteschen Prinzips zu fordernde Unmittelbarkeit, mithin der »Standpunkt der Produktion« überhaupt entspringt, ist diese Bewegung der zur Selbstaufhebung sich potenzierenden Reflexion. Zweifellos wird hier, wofür niemand sensibler war als Hege! selber, jene >>absolute Negativität« für die >>Anschauung« antizipiert, deren geschichtlich-systematische Unruhe uns >>nur das reine Zusehen« läßt (GW 9,59; vgl. 99f). D.h. die im Fichteschen Ich nur als verschwindende Mitte oder als Mittel hervorgebrachte Natur ist - und das legitimiert die Rede vom Standpunkt der >>Produktion« - zwar zu einer neuen selbständigen Totalität freigesetzt, die an sich aber zugleich - und das legitimiert die theoretische Evidenz - Produkt der unendlich sich ebensowohl in dieses wie in sein >>Organ«, die subjektiv intellektuelle und objektiv ästhetische Anschauung, vernichtenden Reflexion ist. Diese den geschichtlichen Fortgang vom poietischen zum poetischen Ich methodisch beleuchtende Beziehung von sich vernichtender und vernichteter Reflexion erscheint als das jetzt im genauenSinn romantisch zu nennende Verhältnis der als ursprünglich produktiv angeschauten Substanz und eines Subjekts, das sich in der vollkommenen Gewißheit des Novalisseben Distichons über die Göttin zu Sais dem sichtbar gewordnen Geist anvertraut, um sich in seiner unsichtbaren Tiefe ewig zu suchen. Denn dies Angeschaute wird nur im Erlöschen der um seiner Anschauungwillen entzündeten Reflexion. Sein Wesen bleibt die Ferne, die vom reflektierenden Ich, das darin über den Verlust der eigenen Substantialität trauert, allein als das unergründliche Ansich alles Seins-für-die-Reflexion erinnert zu werden vermag und nach dessen Gegenwart es sich im unablässigen Projektieren des einen absoluten Kunstwerks, der Ein-
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heit von Philosophie und Poesie, von Wissenschaft und Kunst, der neuen Mythologie, Rückkehr des goldnen Zeitalters und des Reichs Gottes sehnt. >>Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles.« (Hölderlin, SWKT 10,59) - der Schmerz jenes Verlusts ist der Grund-Zug von Hölderlins Dichtung, die sich in dieser Reinheit entschiedener als sonst die frühromantische Poesie dem »Witz« der Reflexion entzieht (worin bei nächster Nähe zu Schellings Denken ihre unvergleichliche Bedeutung für Heidegger liegen wird). Gleichwohl bezeugt sie dieselbe Sehnsucht der Vernunft als des ansichseienden Grundes der Produktivität, durch die das in der endlichen Substanz sich »divinierende« Subjekt abgeschieden bleibt vom Subjekt Schopenhauers, das Natur, Geschichte, Kunst und Religion zuletzt als Illusionen durchschauen wird, um »aus Herzensgrunde« zu sich sagen zu können: »Ich mag nicht mehr« (WW V Kap. 41, Abs. 21)- im Zusammenhang der Schopenhauerschen Erörterung des Wesens des Menschen das pessimistische Scheidewasser von früher philosophischer Romantik und ihren späteren weltanschaulichen Spielarten (z.B. Byron *1788, Eichendorff *1788, Lamartine *1790, Leopardi *1798). Das Verhältnis von Subjekt und Substanz war bei Kant das von Bewußtsein und Erscheinung, bei Fichte das von (setzendem) Ich und (gesetztem) Ich, bei Hege! wird es das von (sich wissendem) Geist und (ansichseiendem) Geist seinromantisch gedacht ist es das Verhältnis von endlichem (reflektierendem) Ich und der unendlichen Totalität, die als Natur und Kunst, Geschichte und Mythos, Universum und Gottheit angeschaut wird. Zwischen der in der Selbstvernichtung der Reflexion entspringenden, deren wesentliche Duplizität an sich wiederholenden Substanz und der Reflexion selbst, als die sich das anschauende Subjekt immer zugleich erneuert, bricht sich seine immanente Negativität am nunmehr absolut vorausgesetzten »Positiven«: Die Reflexion findet einen Gehalt vor, zu dessen Form sie gleichwohl nur sich selbst hat und die ihm insofern äußerlich bleibt. In dieser Duplizität, und nicht im unabsehbaren Reichtum des Inhalts (der ihre Folge ist), liegt das romantische Problem der »Mitteilung« und so auch das des Systems als der adäquaten Darstellung der unendlich entäußerten Substanz im Medium der verendlichenden Reflexion - das Problem der indefiniten, »schwebendenauszudenken« vermag (AA Vll,201; vgl. V,179). Als aus ihrer Selbstvernichtung resultierende Reflexion ist der romantische Witz »ein prophetisches Vermögen« (KFSA 11,163) und näher »Prinzip und Organ der Universalphilosophie« (11,200), in den Ideen »die Erscheinung, der äußre Blitz der Fantasie« (11,258) als des »Organ[s] des Menschen für die Gottheit« (11,257). Seine Progression in Fragmenten ist wohl Kombinatorik, aber keine mechanische, sondern eine »chemische« als der Prozeß der immer »ins Produkt« übergehenden Reflexion (vgl. SW 3,449). Die Philosophie ist darum überhaupt »eine logische Chemie« (KFSA 11,200), der Witz chemischer Geist, als »fragmentarische Genialität« (11,148) Symbol des (zukünftigen) organischen Geistes, wie denn das Zeitalter im ganzen nur »ein chemisches« sein kann (11,248f). Als das seiner gewisse - aber auch nur gewisse, weil indefinit offene - romantische System bestätigen sich die »Fragmente« maßgeblich, wo sie im Begriff der Ironie ihren methodischen Grund aufblitzen lassen. Anschaulicher als in Schellings späterer Darstellung bedeutet sich darin das Prinzip der sich selbst aufhebenden und so als ihr Anderes zur Anschauung bringenden Reflexion: Die Ironie ist »unendliche«, d.h. sich selbst sollizitierende (geniale) Kraft »zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« (KFSA 11,172), und das Schweben der Einbildungskraft im unauflöslichen Widerstreit des »Unbedingten« als der ansichseienden Substanz und des »Bedingten« als des fürsichseienden Subjekts ist dies, weil eigens gewollte und erzeugte, ironische Gefühl der »Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung« (II, 160). Es ist dies Gefühl, das der sozusagen ur-romantische Grundsatz ausspricht, »alles sei nur noch Tendenz, das Zeitalter sei das Zeitalter der Tendenzen« (11,367). Der Geist der Tendenz oder der sich aufhebenden Reflexion hat sein Leben in der Spannung dieser Extreme, »ein System zu haben«, die Reflexion, das Ich, in sich zu fixieren, »und keins zu haben«, die Reflexion oder sich als Geist aufzugeben: »Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden« (11,173) - der Ursprung des romantischen Fragments, worin der gebundene Geist der Schellingschen Systematizität in einer »wirklich transzendentale[n] Buffonerie« explodiert (11,152,158). Indem sie auf diese Weise »kritisch« sind, nämlich »das Produzierende mit dem Produkt« darstellen und »im System der
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transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens« enthalten (11,204), sind die Kritischen Fragmente, Fragmente und Ideen zugleich der eigentlich romantische »Tractat von der Methode« (AA III, 15). Insofern der romantische >>Chemismus« die formale Grundlage der geistigen Verhältnisse Liebe, Freundschaft usw. ausmacht, sei sein Medium, wird Hege! zusammenfassen, das Zeichen und näher die Sprache (GW 12,149f). Die »durch die Friktion freier Geselligkeit« (KFSA 11,150) elektrisierte Einbildungskraft ist der Ursprung der witzigen »Zersetzung geistiger Stoffe>Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität« eine >>Beisetzung« (E. Hirsch) der Romantik ist, wird Hegel sich 1831 notieren: »nicht Umarbeiten, - auf die damalige Zeit der Abfassung bezüglich - in Vorrede: das abstracte Absolute herrschte damalS>abstrakte Absolute>Schweben>Zeitalter der Tendenzen>absoluten« Idee (vgl. hierzu vom Vf. Die Bedeutung der Naturphilosophie im deutschen Idealismus, in: Philosophia Naturalis 23 (1986), 389398) - eine Tendenz, die sich methodisch vollendet in der spekulativen Identität von offenbarer Religion und absolutem Wissen, mit der Hegels Phänomenologie schließt. Die andere Tendenz, mit deren Folgen sich noch Nietzsche, unter dem Titel >>Nihilismusweltanschaulichen>Schuleplatonisch« genannten Ideen. Damit ist die Kunst im ganzen zum schönen, und das heißt jetzt: verführenden Schein geworden, der den Abgrund des >>hungrigen« Willens zum Leben überspielt, als der unversehens das >>Universum« gähnt. Aus diesem Vakuum der Offenbarung klingt als das >>Abbild des Willens selbst>SO sehr viel mächtiger und eindringlicher>reden nur vom Schatten, sie aber vom WesenerlöstQuietiv>Askesis>Brahm oder NirwanaschwarzenIn den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, - theoretisch, in intellectualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen nennen. Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen.« 1 Den Zeilen seines Briefes zu folge, war Hölderlin mit SeheHing in den Streit geraten und hatte sich gegen dessen Behauptung gewandt, im Ich der neuen Philosophie sei das Prinzip gefunden, das uns die Trennungen, in denen wir denken und existieren, verständlich macht und zugleich aus diesen herausführt. Aber er war sich mit SeheHing darüber einig, daß sich das Neue der neuen Philosophie wohl am besten in der Form von Briefen darlegen ließe. SeheHing hatte solche Briefe ja schon verfaßt und als Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus veröffentlicht. Hölderlin ist sich in der Beurteilung dieses Werkes offensichtlich unsicher. Sollten ihn Passagen aus diesem Werk wirklich beeindruckt haben, dann vermutlich jene an seinem Schluß, in denen vom 'Höchsten in der Kunst' die Rede ist, welches Höchste etwas zur Anschauung bringt und tragisch vergegenwärtigt, was die Systeme des Wissens und des Handelns, sofern sie sich als dogmatische oder kritizistische präsentieren, nicht einmal zu denken vermögen; aber auch die neue Philosophie wird sich dieses 'Höchsten' wohl nicht bemächtigen können. 2 Hölderlin denkt jedoch, wenn er von philosophischen Briefen spricht, in denen sich die Perspektiven formulieren lassen sollen, deren Ausarbeitung er sich zuwenden will, in erster Linie an Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. In seinen 'neuen' Briefen zu dieser Erziehung will er das Prinzip finden, das uns die Trennungen, in denen wir denken und existieren, nicht nur verständlich macht und eindringI Hölderlins Werke werden zitiert nach F. Hölderlin: Sämtliche Werke, hrsg. von F. Beißner. Stuttgart 1943ff. Die römische Ziffer bezeichnet den Band und die arabische die Seite der 'Großen' Stuttgarter Ausgabe. Auf die Frankfurter Ausgabe von Hölderlins Werken wird gelegentlich verwiesen. - Siehe VI,203 (Nr. 117). 2 F.W.J. Schelling: Philosophische Briefe iiber Dogmatismus und Kriticismus. In: Ders.: Werke. Erster Hauptband, hrsg. von M. Schröter. München 1927, 260ff.
Poetische Religion
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lieh vor Augen führt, es muß uns aus diesen Trennungen auch herausführen. Schiller verweilt nur in diesen Trennungen, weil er einen Schritt zu wenig über die kantischen Grenzziehungen unserer Erfahrung hinaus zu tun wagt. 3 Hölderlin will diese notwendige Transgression aber nun vollziehen. Im Folgenden sollen nur die Perspektiven thematisch sein, in denen Hölderlin diese Transgression versucht, indem er nämlich das Projekt durchführt, das er in seinem Brief an Niethammer ankündigt. In welchen geistesgeschichtlichen Konstellationen er dabei steht und in welchen entwicklungsgeschichtlichen Rundgängen er sich bewegt, steht dagegen hier nicht zur Debatte. Die Perspektiven seines Projektes vereinigen sich in der Konzeption einer poetischen Religion. Hölderlin will sie uns in seiner Dichtung mitteilen und als einen Fund zugänglich machen, der jenseits der Trennungen, in denen wir denken und existieren zu liegen kommt - das ist die hier leitende und durchzuführende Annahme. 4 Hölderlin selbst führt seine Vision einer poetischen Religion in dreifacher Weise durch: als Erhebung über den Widerstreit, zu dem sich die Trennungen, in denen wir denken und existieren verdichtet haben, als Revolte gegen diesen Widerstreit und als Übergriff in ein höheres Leben, schließlich als erinnerndes Bewahren des Weges, auf dem sich die Menschen in Revolte und Erhebung ein religiöses Lebensverhältnis vergegenwärtigen.
3 Das sagt Hölderlin zwar in einem Brief an Neuffer (10.10.94), den er noch von Wallershausen aus geschrieben hat, mit Bezug auf Schillers Schrift Über Anmut und Würde. Es trifft jedoch bestimmt auch auf die Schillersehen »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen>Darum, mein Zeus berichtete mirs nicht.>intellektuell historisch, d.h. Mythisch.>WO jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren, wo jeder sein höheres Leben und alle ein gemeinschaftliches höheres Leben ... feiern>Feier des LebensSo wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetischpoesie pure«), läßt er nicht gelten. 98 IV Im Kap. 7 der Phänomenologie des Geistes, in dem Hege! die Leistung der Religion wie ihre Formen ermitteln will, unterscheidet Hege! bekanntlich zwischen der Naturreligion, der Welt der griechischen Kunst als »Kunstreligion« und dem Christentum als der »offenbaren ReligionIphigenie>In diesem Pantheon sind alle Götter entthront, die Flamme der Subjektivität hat sie zerstört, und statt der plastischen Vielgötterei kennt die Kunst jetzt nur einen Gott, einen Geist, eine absolute Selbständigkeit, welche als das absolute Wissen und Wollen ihrer selbst mit sich in freier Einheit bleibt und nicht mehr zu jenen besonderen Charakteren und Funktionen aus-
104 Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. von Julius Petersen und Hermann Schneider. Weimar 1943ff, Bd.II/1,367. 105 Vgl. meinen Aufsatz: »Hegels Satz vom Ende der Kunst.>Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst.« In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert und 0. Pöggeler. Bonn 1986, 213-224; vgl. auch ders.: >>Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Antikunst von heute.>Wenn mithin die Philosophie ihre Vereinigungsaufgabe lösen soll, muß sie den einheitsstiftenden Interpretationsanspruch der Religion sogar überbieten und jene Einheit wiederherstellen, die bisher nur der Mythos auszudrücken in der Lage war. [... ] Diese im Mythos vollzogene Vereinigung der einzelnen Individuen mit ihrer besonderen politischen Gemeinschaft im Horizont einer allgemeinen kosmischen Ordnung soll die Philosophie unter Bedingungen wiederherstellen, die mit den modernen Ideen der Freiheit und der vollständigen Individualität der Einzelnen inzwischen gesetzt sind>noch zur Erklärung einer schon erklärten Sache beigezogen>wozu die von uns geschafne Natur noch einen äussern Schöpfer>Ob nicht jeder Idealismus in der höchsten Konsequenz Egoismus werden mus. In der Sinnenwelt, die der Idealist nicht findet sondern erschaft, ist die Körper Larve jedes Ichs ja ein Theil dieser Schöpfung unter der Gehirnschaale; und der Idealist kan also nicht zum andern, o.h. zur Vorstellung sagen: 'ich bin dir eine' aber wohl: 'du mir.'>Um gewis zu sein, daß ich nicht fehlgreife und fehlschlage.>Nim einen unendlichen grossen Spiegel und noch einen - aber bei der unendlichen Theilbarkeit reichen 2 endliche zu jeder repetiert die Gallerie des anderen, dieser sich und das Repetierwerk, jener das Repetierwerk des Rep., dieser das R. des R. des R. - kurz eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten. Wären diese nicht wirklich, sondern in der Vernunft, welche Systeme würde[n] die hohlen Anagrammatiker der Natur in diese werfen!>allgemeingültiges, streng wissenschaftliches System der Moral>Individualität ist ein Fundamentgefühl; Individualität ist die Wurzel der Intelligenz und aller Erkenntnis; ohne Individualität keine Substanzialität, ohne Substanzialität überall nichtS.>Bewußt ist ein AdjectivPersönlichkeit>bloßes Schweben durch Synthesis« gedacht werden, denn die Persönlichkeit des Individuums ist ein Ereignis und >>Erzeugniß in der ZeitSelbstgenügsamkeit durch Vertilgung alles Daseyns.Es frappiert mich selberdaß ich das All und Universum bin; mehr kann man nicht werden in der Welt als die Welt selber(§ 8) und Gott(§ 3) und die Geisterwelt (§ 8) dazu. Nur so lange Zeit (die wiederum mein Werk ist) hätt' ich nicht versitzen sollen, ohne darauf zu kommennatura naturans und der Demiurgos und der Bewindheber des Universums bin.>Sich ausgenommen (denn es wird nur, und ist nie), alles macht, mein absolutes, alles gebärendes, fohlendes, lammendes, heckendes, brechendes, werfendes, setzendes Ich>der Körper zum Geiste>Quantitäten zu Qualitäten>Siebenkäs>stets den Pumpenstiefel in sich hinab und schöpft alles aus sich herauf, die physische Welt und mithin auch die nur in sie eingefleischte fremde geistige.« (!,7,493) Die Fichte-Kritik trifft bei aller Komik (der Leser verstehe Spaß >>und dadurch den Ernstdergestalt im Absolutennun gar kein Weg mehr herein in die Endlichkeit und Existenz geht (so wenig als rückwärts aus dieser ins Absolute)Ringsum bin ich mit meinem Nicht-Ich umgeben, in das auch das todte Wachsfigurenkabinett menschlicher Gestalten eingebauet ist>Hinter diese hinweggesehene Individualität überhaupt - hat sich die Nichthinweggesehene, individuelle Fichtische, Schellingsche u.s.w. Individualität versteckt, um ungesehen von sich selber, sich selber zuzusehen.>der meinen Leibgeberianismus setzteVOn der Seite der IndividuationUnwissenheit« und der >>AHNDUNG des Wahren«. 8 In der >>Vorschule« bezeichnet Jean Paul Schlegels Transzendentalpoesie als poetischen Nihilismus, der >>ichsüchtig die Welt und das All vernichtet«. Daher spreche Schlegel verächtlich von der Nachahmung der Natur (1,11,22). Der Vorwurf des Nihilismus geht auf Jacobis Brief an Fichte von 1799 zurück. Jacobi wirft Fichte vor, alles außerhalb der Vernunft und ihres Zugriffs zu leugnen. Die reine Vernunft müsse, um vollständig zu begreifen, das Für-sich-Bestehen des Gegenstands >>in Gedanken aufheben, vernichten«. Auf diese Weise werde die gesamte Wirklichkeit zum Produkt der Vernunft und die Einbildungskraft zum >>Weltschöpfer«.9 Gegen die Transzendentalpoesie bricht Jean Paul eine Lanze für die Nachahmung der Natur. Der Dichter soll der Natur nachahmen, indem er die alte Natur weiter enthüllt, indem er sie 'entziffert'. Durch die 'geistige' Nachahmung der Natur wird der Mechanismus der Naturabläufe zum zweckvollen Ganzen. >>Denn wie das organische Reich das mechanische aufgreift, umgestaltet, beherrschet und knüpft, so übt die poetische Welt dieselbe Kraft an der wirklichen und das Geisterreich am Körperreich.« (1, 11,30) Dichtung soll danach ein organisches Verhältnis von Körper und Geist sichtbar machen, das vor der kategorialen Konstruktion des Gegenstandes angesiedelt ist, eine Wahrheit und Einheit der Natur jenseits der Wissenschaft. Kunst gibt den Körpern geistigen Sinn, indem sie zwischen Körper und Geist vermittelt. Die Poesie erreicht damit das, was die neuzeitliche Philosophie seit der cartesischen Trennung in eine mechanische res extensa und eine geistige res cogitans versagt. Kunst fragt nach der causa efficiens und greift so durch die Welt mechanischer Ursachen; sie entzif.
sAus F.H. Jacobi's Nachlaß, a.a.O. Bd.1,238 undJacobi an Fichte, in: Jacobi, a.a.O. III.Bd,32.
./..v~. dazu.den.ßrief an- Jacobi vom 10. Mär·z 1800 im Quellenban-d). { 9
Jacobi, a.a.O. III.Bd,21.
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fert Zwecke, wo die Naturwissenschaft nur Ursachen und Wirkungen sieht. >>Die äußere Natur wird in jeder inneren eine andere, und diese Brodverwandlung ins Göttliche ist der geistige poetische Stoff, welcher, wenn er ächt poetisch ist, wie eine anima Stahlii seinen Körper (die Form) selber bauet, und nicht erst angemessen und zugeschnitten bekommt.« (1,11,24;35) 10 Die körperbauende Seele macht in der Lehre des Vitalisten Georg Ernst Stahl die Teile des Körpers zu Organen, sie konstituiert erst den Körper als lebendige Ganzheit. Von der Seele erhält die sonst blind laufende Maschine Zwecke. Analog verfährt die Poesie: Die äußere Natur wird in jeder innern eine andere. Was nach einem grenzenlosen Subjektivismus des poetischen Genies klingt, ist in Wahrheit eine Folge Leibnizscher und Stahlscher Denkmodelle, die Jean Paul auf die poetische Schöpfung überträgt. Jeder Monade, so Leibniz, erscheint das Universum in einer anderen, individuellen Abschattung, je nach dem Grad ihrer Wahrnehmung und ihrer Bewußtheit. Das Genie sieht die Natur reicher und vollständiger als andere Menschen: >>mit jedem Genie wird uns eine neue Natur erschaffen, indem es die alte weiter enthüllet.« Wie der Mensch sich >>vom halbblinden und halbtauben Tiere>totalisieret>Instinkt des GeniesDie berüchtigte Frage, wegen der Gemeinschaft des Denkenden und Ausgedehnten, würde also [... ]lediglich darauf hinauslaufen: wie in einem denkenden Subjekt überhaupt, äußere Anschauung, nämlich die des Raumes (einer Erfüllung desselben, Gestalt und Bewegung) möglich sei. Auf diese Frage aber ist es keinem Menschen möglich, eine Antwort zu findenInstinkt des Menschen« und in besonderem Maße der >>Instinkt des Genies«(§ 13 und§ 14) jenenunbewußten Geist, der dem Wissen vorgeordnet ist. Außerhalb der Ästhetik soll der Rekurs auf den Instinkt das Commercium mentis et corporis einer Lösung näherbringen. In der Selina zeugt der Instinkt als unbewußter Geist für eine >>empfangene und gebärende Fülle, und Schaffen nach Endabsichten«, für eine vorgeordnete geistige Kraft von den >> Instinkttaten bis zu den menschlichen Ideenschöpfungen«. 13 Der Instinkt als anthropologische Grundtatsache verbürgt so die Existenz einer 'zweiten', vom Ich unabhängigen Welt; er verbürgt Zwecke des Ganzen, die dem Menschen von der Transzendentalphilosophie verweigert oder nur noch als 'Symbol' angeboten werden. Natürliche Instinkte und Gefühle, die immer da waren und immer da sein werden, verweisen auf die Nicht-Autonomie des Menschen. In diesem Sinne bringt die Furcht vor einem nicht Beherrschbaren die Götter hervor - und nicht eine falsche Erziehung oder eine unzureichende Kritik der Vernunft. Daher ziehen Shakespeares Geisterszenen auch die Haare des Ungläubigen zu Berge. Diese Geisterfurcht hat die Natur in den Menschen gelegt: Das >>Ich ist der fremde Geist, vor dem es schauert, der Abgrund, vor dem es zu stehen glaubt« 12 Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg/München 1975; Götz Müller: lean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983, 17-58. 13 11,4,295. Die späte Erzählung Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele von 1825, an der Jcan Paul zunächst unter dem Titel »Neues Kampaner Thai« arbeitete, versucht noch einmal, das »Verhältnis zwischen Körper und Geist« einer Lösung näherzubringen. Das Kampaner Thai erschien 1797.
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(1, 11,35). Die Betonung der Einbildungskraft bedeutet nicht, daß diese Furcht bloße Illusion wäre. Denn die Furcht ist - anthropologisch - >>nicht sowol der Schöpfer als das Geschöpf der Götter«. Der ästhetische und außerästhetische Affekt der Furcht verweist auf einen allgemeinen 'Willen', der >>durch die mechanische Bestimmtheit greift>Vorschule>mit keinem geistigen Ton anredet>Realismus>Eine durch Völker und Zeiten reichende Einbildung festgehaltener, nüanzierter Thatsachen ist so unmöglich, als die Einbildung einer Nazion, daß sie einen Krieg oder König habe, der nicht ist>Alle unsere Affekten führen ein unvertilgbares Gefühl ihrer Ewigkeit und Ueberschwenglichkeit bei sich - jede Liebe und jeder Haß, jeder Schmerz und jede Freude fühlen sich ewig und unendlich. So gibt es auch eine Furcht vor etwas Unendlichem, wovon die Gespensterfurcht>Wir sind unvermögend, uns nur eine Glückseligkeit vorzuträumen, die uns ausfüllte und ewig befriedigteGränzenlosen>Tagtraums>zwingt uns, an fremde Ichs neben unserem zu glauben, da wir ewig nur Körper sehen - also unsere Seele in fremde Augen, Nasen, Lippen überzutragen>Unser Unvermögen, uns etwas Lebloses existierend, d.h. lebend zu denken, verknüpft mit unserer Angewöhnung an ein ewiges Personifizieren der ganzen Schöpfung, macht, daß eine schöne Gegend uns ein malerischer oder poetischer Gedanke ist - daß große Massen uns anreden, als wohnte ein großer Geist in ihnen oder ein unendlicher« (I,5,194). Die natürliche Magie der Einbildungskraft idealisiert und totalisiert all das, was im Leben partikular und unzureichend ist. Darin liegt ihr utopisches Moment: die Hoffnung auf eine zwar nicht beweisbare, doch vom Instinkt und den Gefühlen geforderte Harmonie des Inneren und Äußeren. Was Jean Pauls Aufsatz >>die natürliche Magie der Einbildungskraft« nennt, ist die Ahnung einer solchen Harmonie von Körper und Geist. Das Domizil dieser Harmonie ist bei Jean Paul vor allem die schöne und die erhabene Natur. Die Ästhetik wird bei Jean Paul zu einem Residuum der vorwissenschaftliehen Naturansicht der Magia naturalis und der alten physiognomischen Signaturenlehre. In diesem Bereich kommt Jean Paul Novalis (Die Lehrlinge zu Sais, 1798) nahe: >>Drückt nicht die ganze Natur, so gut wie das Gesicht, und die Gebärden, der Puls und die Farben, den Zustand eines jeden der wunderbaren Wesen aus, die wir Menschen nennen? Wird nicht der Fels ein eigentümliches Du, eben wenn ich ihn anrede?« 14 In der bildenden Kunst erscheint die Statue oder das Gemälde als >>Schöne ächte Physiognomie«, als Verkörperung der Seele des Künstlers und ihrer Emotionen. Ein Apoll versinnlicht den Wunsch, >>in homogenem Körpern zu wohnen als die eignen sind.« (ebd.) Lavater beschrieb in den >>Physiognomischen Fragmenten« den alltäglichen Schluß vom Äußern auf das Innere durch ein einfaches Beispiel: >>keine Schale Koffee oder Thee kömmt auf unsern Tisch, von deren Physiognomie, deren
14 In: Novalis: Schriften. Hrsg. von P. Kluckhohn und R. Samuel. Stuttgart 1960ff, Bd.l,lOO. Zur Physiognomik und ihrer naturphilosophischen Tradition vgl. Bengt Algot Soerensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen 1963, 145f; Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, a.a.O. 84ff,166ff; Gunnar Och: Der Körper als Zeichen. Zur Bedeutung des mimisch-gestischen und physiognomischen Ausdrucks im Werk Jean Pauls. Erlangen 1985, 46ff.
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Äußerlichkeit, wir nicht sogleich auf ihre innere Güte einen Schluß machen«. 15 Jean Paul griff 1790 in der Unsichtbaren Loge diese Bemerkung auf und stellte sie in ein komisches Licht. Er läßt den Dr. Fenk sagen: »Er habe einmal in Holland eine Kaffekanne gekannt, deren Nase so matt, deren Profil so schaal und holländisch gewesen wäre, daß er zum Schiffarzt, der mit getrunken, gesagt, in dieser Kanne säße gewiß eine ebenso schlechte Seele, oder alle Physiognomik sei Wind: - da er eingeschenkt hatte, so war das Gesöff nicht zum Trinken. Er sagte, in seinem Hause werde kein Milchtopf gekauft, den er nicht vorher, wie Pythagoras seine Schüler, in physiognomischen Augenschein nehme.« (1,2, 378) In dem Aufsatz Ueber die natürliche Magie der Einbildungskraft von 1796 wird Dr. Fenks Äußerung über die schale Physiognomie einer holländischen Kaffeekanne wiederaufgenommen. Durch »Physiognomik und Pathognomik beseelen wir erstlieh alle Leiber - später alle unorganisierte Körper. Dem Baume, dem Kirchthurme, dem Milchtopfe theilen wir eine ferne Menschenbildung zu und mit dieser den Geist« (1,5,193). Die Parallelität zeigt, daß Dr. Fenks physiognomische Diagnose einer Kaffeekanne keine Parodie der Physiognomik ist. Von der Verbindlichkeit physiognomischer Urteile, gar einer Panphysiognomie, wie sie Novalis kennt, ist Jean Paul allerdings nicht überzeugt. Jean Paul spricht von der anthropologischen Disposition des Menschen zum Physiognomieren der Dinge, aber auch von der Möglichkeit des Irrtums. Zu dieser Angewohnheit, selbst dem Milchtopfe Menschenbildung zu erteilen, gehört auch das Verfahren der Metapher, die einen Körper zur Hülle von etwas Geistigem macht. In der Vorschule wird unter dem Titel »Der bildliehe Witz« Physiognomik und Metaphorik verbunden: »Dieselbe unbekannte Gewalt«, die »Leib und Geist« als ein Ganzes, Lebendiges begreifen läßt, »nötigt« zum Schluß von der Physiognomie, der äußeren Bewegung des Gesichts, auf die unsichtbaren inneren Bewegungen eines Geistes. Die Metaphern als »Sprachmenschwerdung der Natur>voll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt lesen« (I,l1,234). Jean Paul baut die alte Metaphorik vom Buch der Natur ein in eine Theorie der poetischen Nachahmung. Denn der Natur nachahmen heißt nichts anderes als die Entzifferung der Natur mit den Mitteln, die die Natur bereitstellt. Entzifferung durch den Instinkt, einen Instinkt, der >>zugleich seinen Gegenstand fodert, bestimmt, kennt und doch entbehrt.« (I,ll,SO) Zwischen dem sinnlichen Zeichen und dem Unsinnlichen als dem Bezeichneten gibt es keine Identität, sondern nur die Ahnung eines Zusammenhangs. Hintergrund ist die naturmystische und die magische Tradition, die Jean Paul über Hamann vermittelt wurde. 16 In Jean Pauls Romanen stehen Bilder der Harmonie unmittelbar neben Bildern extremer Disharmonie. Eine Auslegung des Ich gelingt am ehesten in der Landschaft. Die >>Poetische Landschaftsmalerei« (§ 80 der Vorschule) ist für Jean Paul ein unbestrittener Ort der Harmonie. Problematisch bleibt hingegen das Commercium im eigentlichen Sinne. Schoppe im Titan haßt sein Spiegelbild, denn er kann sich nicht mit seinem Körper identifizieren. Der ungeliebte Körper wird als geistfremder Mechanismus empfunden: >>Man sieht das am besten auf Reisen, wenn man seine Beine anschauet und sie schreiten sieht und hört und dann fragt: wer marschiert doch da unten so mit?« (I,9,397) Wachsbilder, Puppen und mechanische Automaten sind jedem Jean PaulLeser als Ausdruck der Entfremdung von Körper und Geist bekannt. Victor im Hesperns: >>Denn ihn schauerte vor diesem fleischfarbnen Schatten seines Ich. Schon in der Kindheit streiften unter allen Gespenstergeschichten solche von Leuten, die sich selber gesehen, mit der kältesten Hand über seine Brust. Oft besah er abends vor dem Bettegehen seinen bebenden Körper so lange, daß er ihn von sich abtrennte und ihn als eine fremde Gestalt so allein neben seinem Ich stehen und gestikulieren sah« (1,3,231). Dennoch läßt sich Victor in Wachs abbilden, der tote Wachskörper soll als Erinnerung seine Stelle einnehmen. Es ist, als wollte Victor seine Furcht vor einem Doppelgänger durch ein selbstgemachtes Totem offensiv besiegen. Hat Jean Pauls Ästhetik durch die Bilder der Harmonie Anteil an der 'blauen Romantik', so wurde sein Werk in nicht geringem Maße zum Vorreiter der Schwarzen Romantik. Die Nachtwachen von Bonaventura begriff Jean Paul als eine >>treffliche Nachahmung meines Giannozzo«.17 Das Grauen vor der Körpermaschine macht Schoppe anfällig für die IchPhilosophie Fichtes, denn diese verspricht Entlastung von der Bürde des endlichen Körpers. Der transzendentale Idealismus bietet ihm die Möglichkeit, seinen häßlichen und verhaßten Körper als bloße Setzung des Ich zu entmächti16 Vgl. Götz Müller: Jean Pauls Asthetik und Naturphilosophie, a.a.O. 51ff,80ff; Gunnar Och, a.a.O. 65. 17 Brief an Thieriot vom 14.1.1805. In: III,5,20.
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gen. Er konstatiert erfreut, doch dem Wahnsinn nahe, bei Fichte setze das Ich den Körper >>sammt jenem Rest, den mehrere die Welt nennen.« (1,9,396) Schoppe macht »Ernst« mit Fichte, wie Jean Paul ihn versteht, und er gelangt so dorthin, wo der Mensch »ohne Störung« im Reich seiner »Ideen das regierende Haus allein ist und der Johann ohne Land und er wie ein Philosoph alles macht, was er denkt - wo er auch seinen Körper aus den Wellen und Brandungen der Außenwelt zieht und Kälte, Hitze, Hunger, Nervenschwäche und Schwindsucht und Wassersucht und Armuth ihn nicht mehr antasten und den Geist keine Furcht, keine Sünde, kein Irrthum im Irrhaus« {1,9,332f). Jean Paul kritisiert an Fichte die völlige Mißachtung des Vorgeordneten in der Natur. Fichte: »Die Philosophie lehrt uns alles im Ich aufzusuchen. Erst durch das Ich kommt Ordnung und Harmonie in die todte, formlose Masse«. 18 Er kritisiert die Trennung vom empirischen und transzendentalen Ich, die den Anderen zur bloßen Erscheinung des denkenden und vorstellenden Ich herabwürdigt. Jean Paul beharrt auf der naturhaften, naturgegebenen Endlichkeit des Menschen, doch er stellt zugleich ästhetische Mittel bereit, diese Endlichkeit zu ertragen. Und damit komme ich zum vorletzten Punkt: zum Humor. 4. Die Kunst als Platzhalter der Religion Humor ist Lachen über die Endlichkeit: »noch über einen Engel ist zu lachen, wenn man der Erzengel ist.« {1,11,111) Humor erniedrigt das Große und erhöht das Kleine, um beide durch die weltverachtende Idee zu vernichten. »Wenn der Mensch, wie die alte Theologie that, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunter schauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor thut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.in einer endlosen Reihe von Spiegeln« präsentiert. Das Zwillingszeichen ist wie schon im Siebenkäs das Vehikel, sich aus den bürgerlichen Verhältnissen herauszuarbeiten und eine andere, vollkommenere Identität zu imaginieren. Hinter dem Brüderpaar Walt und Vult in den Flegeljahren steht der Erzähler als Herr des poetischen Spiels. Er tritt nicht nur als Biograph, sondern auch als Mitspieler und literarische Figur auf. Diese perfekte Potenzierung des Dargestellten macht die Flegeljahre zu einem Roman des Romans, in der Struktur vergleichbar mit Brentanos Godwi und den frühen Schauspielen des von Jean Paul geschätzten Tieck. Wie die Ironie für Schlegel, so ist für Jean Paul der Humor ein Verfahren distanzierender Selbstparodie, doch eben im Blick auf eine objektive Endlichkeit, die Leiden bereitet und die es zu ertragen gilt. 20 Nicht das Verfahren, sondern diese Beharrung auf der Endlichkeit unterscheidet den Humor von der romantischen Ironie. Schlegels Ironiebegriff bezieht sich auf die autonome Produktion des künstlerischen Subjekts. Ironie produziert >>frei von allem realen und idealen Interesse« Gestalten, von Schlegel gleichgesetzt mit dem Fichteschen Nicht-Ich, die sogleich wieder vernichtet werden, damit das Produkt nicht die schöpferische Freiheit des Produzenten beschränkt und beschneidet. Der Ironie geht es um die bewußte Distanzierung des Künstlers von der Beschränktheit des gewählten Stoffs und der Bestimmtheit seiner Darstellung. Sinn für Ironie heißt Sinn für's Unendliche - für das unendliche Werden ohne Abschluß, und nicht- wie bei Jean Paul- Sinn für das Unendliche in der Nachfolge der alten Theologie. 21 Da der unendliche Prozeß des Werdens das Wesentliche ist, hat für Schlegel der Stoff als Derivat wirklicher Verwicklungen keine Bedeutung. Jeder Stoff Zum Humor als Selbstparodie vgl. I,11,121;123. Das Verhältnis Jean Pauls zum Ironiebegriff Friedrich Schlegels hat vor allem Waltraud Wiethölter a.a.O. gründlich beleuchtet. Ich folge hier ihrer Interpretation. 20
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ist zu überwinden durch die Form der romantischen Ironie. Die Ironie verfährt als Selbstparodie, denn in ihr setzt sich der Künstler über das von ihm Geschaffene hinweg. Für Jean Paul ist der Humor eine poetische Lebenslehre der Leidensbekämpfung und nicht ein Sicherfreuen an der unendlichen Produktivität des Ich. Die Flegeljahre formulieren und demonstrieren poetische Selbstbestimmung und Freiheit, aber auch die prekäre Position dieser Freiheit. Denn der tragische Schluß des Fragments deutet auf die Gefährdung der Identität, wie es schon beim Wutz der Fall war, der sich selbst erdichtet samt der Welt um sich herum. Der Lust an der Poetisierung seiner selbst korrespondiert die Strafe der Selbstentfremdung. Im Hintergrund dieses Spiels mit der Identität lauert bei Jean Paul daher nicht selten der Wahnsinn (Schoppe, Quintus Fixlein). 5. Jean Pauls ästhetische Theodizee Ich beginne mit Leibniz, § 241 der Theodizee: »Man muß jedoch auch Leiden und Mißgeburten zur Ordnung rechnen, und man tut gut daran, sich klar zu machen, wie viel besser es doch ist, diese Mängel und diese Mißgeburten zuzulassen, als die allgemeinen Gesetze zu verletzen [... ].Aber diese Mißgeburten gehören sogar in die Gesetzmäßigkeiteil hinein und entsprechen durchaus dem allgemeinen Willen, wenn wir auch nicht imstande sind, diese Übereinstimmung klarzulegen. Es verhält sich damit wie mit den gelegentlichen Unregelmäßigkeiten in der Mathematik, die schließlich auf eine große Ordnung hinauslaufen«. 22 Ein Generalthema Jean Pauls ist die Hinfälligkeit des menschlichen Körpers. Wohin das Auge blickt, gibt es Defekte (der hinkende Leibgeber), Körperverachtung (der häßliche Schoppe), Mißgeburten als Studienobjekt und als Gegenstand zynischer Lust (Dr. Katzenberger). Odo Marquard hat die Theodizee eine Kompensationstheorie genannt, denn sie kompensiert das Übel durch die Aufrechnung des überwiegenden Guten. Theodizee ist »Entübelung des Übels«, denn sie macht das Übel philosophisch erträglich. 23 Eine kleine Allegorie aus dem komischen Anhang des Titan mit dem Titel »Die Doppelgänger« erzählt von der Mißgeburt »Mensch«. Peter, der Jurist und Amtverweser in Kleinpestitz, ist mit Seraph zusammengewachsen. Seraph, >>Tragikus, Lyrikus, Fagotist, Epigrammatist und Genie wie nur wenige«, lebt in beständigem Zwist mit Peter, dem wohlbestallten Bürger und Juristen. Beide >>Mensche« sind einander durch die körperliche Verbindung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die Allegorie ist zugleich eine Studie über das Thema Körper und Geist. >>Ein schlimmer Umstand wars immer« für den Juristen Peter, daß er, >>SO oft sich Seraph hinter ihm betrank, sich wider Willen von einem
22 G.W. Leibniz: Die Theodizee. Übersetzung von A. Buchenau. Einführender Essay von M. Stockhammer. Harnburg 1%8, 287f. 23 Odo Marquard: >>Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie.« In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart 1986, 22,24f.
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feinen Rausch benebelt fühlte«. Aber auch der Geist kann dem bürgerlichen Wohlstand ein Bein stellen, wenn der hinter dem Juristen sitzende Seraph ihn >>als komische Akademie« studiert und in ein »Lustspiel« hineinarbeitet, indem er einfach das protokolliert, was der angewachsene Zwillingsbruder als Jurist tut. Fazit der Allegorie: »ist außer der Familie von Mensch noch ein so tolles Bündnis vorhanden, wenn man etwan das ausnimmt zwischen Leib und Seele [... ], zwischen erster und zweiter Welt?« (1,8,246ff;250) Die Allegorie besagt nichts anderes als: Der Mensch schlechthin ist ein widersprüchliches Wesen, das an sich selbst leidet, und in hohem Maße der Kompensationen bedarf. Eine dieser Kompensationen ist der Humor. Der Humor betont das Leiden an der Endlichkeit, um es zu vernichten - er fliegt, den Blick nach unten gerichtet, rückwärts dem Himmel zu (vgl. 1,11,116). Auf diese Weise gewährt der Humor »als echte Dichtkunst dem Menschen Freilassung und läßt, wie tragische die Wunden, so die Sommersprossen« unserer »geistigen Jahrzeiten leicht vor uns erscheinen und entfliehen«. 24 Für Jean Paul ist die Kunst »ein stiller Beweis oder eine stille Folge einer heimlichen angebornen Theodicee>Nachtrag>aufgeben« (>>abandonner«) des Eigenwillens -, und daß sich so allein reine Liebe, der pur amour, dadurch bewährt, daß sie nichts für sich haben will und kein Begehren mehr kennt. 38 Spaemann, dem wir neuere gründliche Untersuchungen zu diesen Gedanken Fenelons entnehmen, hat darauf hingewiesen, daß diese Lehre Fenelons schon sehr bald auch in protestantischen und insbesondere pietistischen Kreisen aufgenommen wurde und daß sie dort auch nicht mehr nur als mystische Liebe zu Gott verstanden wurde. 39 Das eigentliche Problem, auf das uns Jacobi führen will, besteht also darin, daß bei der Unbeständigkeit des menschlichen Herzens dauerhafte Beziehungen überhaupt nicht möglich sein können. Das ist seine Antwort auf Rousseaus Beschwörung der Freundschaftsidylle. Er stellt damit die gesamte neuzeitliche Subjektorientierung in Frage, ohne sie jedoch aufzugeben.
zunehmen ist, da schon Wilhelm von Humboldt in seinem Tagebuch von 1788 auf seiner »Reise nach dem Reich« berichtet, daß ihm Jacobi aus diesen Aufzeichnungen zur Liebe vorgelesen hat und dabei ähnliche Gedanken wiedergibt (Wilhelm von Humboldt: Tagebücher. Hrsg. von A. LeitzmaniL Bd.1, 1788-1798. Berlin 1916, Aufzeichnung vom 1.11.1788, 60). 38 Henriettes Spruch nach Fenelon stellt insofern eine Gegenposition zu dem Petrarca entlehnten Woldemars »Niemand kann beständig sein, es gebe ihm denn Gottdie das Leben istEin bemerkenswerter Einfluß französischen Denkens: Friedrich Heinrich Jacobis (1743-1819) Auseinandersetzung mit Voltaire und Rousseauamour propre>amour de soi« und Fenelons Unterscheidung von reiner und selbstischer Liebe. Vgl. Spaemann, a.a.0.47. 41 Spaemann stellt fest, daß auch bei Fenelon Aristoteles' Freundschaftslehre nachwirkt. Dieser Zusammenhang ist gerade in der Abhandlung Du pur amour, an der sich Jacobi orientiert, deutlich. Er besteht jedoch andererseits nur in der Vorstellung, daß sich in der Freundschaft auch eine selbstlose Liebe verwirkliche. Für Fenelon war das jedoch schon problematisch geworden, und er hatte gerade mit Bossuet die Frage diskutiert, ob sich nicht doch in der Freundschaft Ietztlieh eine Selbstliebe verstecke (vgl. Spaemann, a.a.O. 43ff).
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Freundschaftsanspruch sollte demgegenüber offenbar allein durch die Handlung deutlich werden. Schon in der Fassung von 1779 wird Henriettes »schuldlose« Verstrickung in den >>Wertekonflikt>von einer inneren und unwiderstehlichen Notwendigkeit« (3) beseelter Lebensausdruck Schleiermachers beurteilt sein. Dem trugen im Unterschied zu späteren Rezipienten seine romantischen Kritiker noch Rechnung. Es scheint zunächst abwegig, die Reden nicht von ihrem Thema (Religion) _her aufzuschlüsseln, sondern von zwei weniger zentralen Begriffen, dem der Kunst und dem der Bildung. Doch durch diese Begriffe treten die Berührungspunkte zu anderen romantischen und idealistischen Denkern deutlich hervor. So kritisierte etwa Friedrich Schlegel an den Reden, die er ansonsten begeistert aufnahm, daß sie ihrem eigenen universalen Bildungsanspruch nicht gerecht würden. Und Hegel nannte die Form der Subjektivität, die Schleiermacher dort expliziert, >>KunstOhne Kunstwerk perennieren>GebildetenReden über die Religion.>Historische Einführung.« In: KGA 1,2,LXXV. - Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Göttingen 1986.
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Thomas Lehnerer
Die Beschäftigung mit dem Kunstbegriff dagegen scheint im Hinblick auf den wörtlichen Textbestand abwegig. Denn dieser Begriff kommt nur vereinzelt vor und wird erst in der dritten Rede näher auf das Religionsthema bezogen. Man muß sich seine Bestimmungen daher zusammenlesen. Er gewinnt aber auf dem Hintergrund einer theoriegeschichtlichen Überlegung an Bedeutung und dadurch unverhofft auch an Kontur. Denn wenn Schleiermacher die Religion als das »unentbehrlich Dritte>Künste« nicht die schönen, sondern die technisch-handwerklichen meint, gilt der hier ausgesprochene Gedanke nicht minder für diese wie für jene. Falls aber Kunst in der politischen, d.i. der Geschichte im eigentlichen Sinn nur als Dokument oder Mittelglied einen Platz hat, so ist alle geschichtliche Betrachtung von Kunst, Literatur und Musik, also die Geisteswissenschaft, nur insofern Geschichte als die Kunst politisch interpretiert wird, d.h. als Moment der Entwicklung der Menschheit zum Völkerbund von Rechtsstaaten. Die Kunst an ihr selbst wäre demnach nicht der Gegenstand der Kunstgeschichte; insofern die Kunstgeschichte Geschichte wäre, könnte von der Kunst nur, insofern sie Mittel wäre, die Rede sein. SeheHing sieht an dieser Stelle genau, daß dann, wenn man am Kantischen Geschichtsbegriff festhält, dieser Begriff diktiert, was Gegenstand einer Geschichte sein kann und was nicht. Die Konsequenz, die Schelling nicht ausspricht, lautet: Insofern eine Geschichte der Kunst Geschichte ist, ist sie nur als politische Geschichte möglich. Die weitere Konsequenz ist dann folgende: Entweder ist eine Geschichte der Kunst nur als Dokument und Mittelglied der politischen möglich, oder es müßte gezeigt werden, daß die Kunst, ahnerachtet des11
18
SW 3,591f. Ebd. 592.
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Wilhelm G. Jacobs
sen, daß sie in der politischen Geschichte verhandelt werden kann, eine Bestimmung an sich hat, die sich nicht in die politische Geschichte auflösen läßt. Wenn also Kunst auf Geschichte bezogen können werden soll, so muß das Moment der Kunst in ihr ebenso stark gemacht werden, wie das der Geschichte. Das bedeutet anders gewendet: Die Kunst muß, damit sie als geschichtliches Phänomen betrachtet werden kann, in einer Weise von der Geschichte abhängig, in einer anderen aber gerade unabhängig gedacht werden. Wenigstens in einem ihrer Momente ist die Kunst als unbedingt zu erweisen. Genau dies führt Schelling im sechsten Hauptabschnitt des Transzendentalsystems vor. III
Folgendes darf ich in Erinnerung rufen. Die künstlerische Tätigkeit geht für Schelling aus vom >>Gefühl eines inneren Widerspruchs«, nämlich dem von bewußter und bewußtloser Tätigkeit. Dieser Widerspruch durchzieht das ganze Transzendentalsystem; hier, im letzten Hauptabschnitt, aber tritt er so auf, daß >>er den ganzen Menschen mit allen seinen Kräften in Bewegung setzt,« und daher in seiner radikalen Gestalt erscheint, wodurch er >>das Letzte in ihm, die Wurzel seines ganzen Daseins angreift.« 19 Die Hülle, welche die Subjekt-Objekt-Spaltung dem Menschen über die Augen legt, ist dem Künstler genommen. Er erfährt den Schmerz dieses Widerspruchs, woraus der Trieb, ihn zu lösen erwächst. So sehr dieser Widerspruch den Menschen mit allen seinen Kräften, also auch seinen bewußten, bewegt, so kann er doch aus diesen Kräften als bewußtes Individuum keine Lösung schaffen. Er erfährt die Lösung als >>freiwillige Gunst einer höheren Natur« 20 , die überrascht und beglückt. Sie überrascht, weil sie weder aus irgendeiner Notwendigkeit hergeleitet, noch aus der Freiheit des Künstlers begriffen werden kann; daß sie aber beglückt, zeigt, daß sie nicht etwas Fremdes ist, sondern das Hervortreten jenes Identischen, >>auf welches alles Dasein aufgetragen ist« 2 \ auch und gerade jener radikale Widerspruch, der die künstlerische Tätigkeit in Bewegung setzt. Der ursprüngliche Widerspruch wird in unendlicher Harmonie 22 aufbewahrt; diese ist - jetzt noch einmal anders gesagt - weder erzwungen, noch hervorgebracht, sondern geschenkt, aber nicht von einem Äußeren, sondern von jenem Selbst, das im ganzen Transzendentalsystem nicht objektiviert werden konnte. Das >>Zusammentreffen der beiden sich fliehenden Tätigkeiten>Erscheinungeinzige und ewige Offenbarung> WunderPoesie>in dem allgemeinen Weltbezug des Menschenein Unendliches endlich dargestellt.>Grundcharakter jedes Kunstwerks>nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts>harmonische Zusammenstimmung« zuschreiben. Diese läßt den Zwang unter sich, weil >>die Macht der Bindung zugleich der Grund ihrer Freiheit isteinem neuen Anfall von seinem alten Enthusiasmus für die Irreligion« 38 • Schlegel konnte diesen Enthusiasmus alt nennen, weil SeheHing z.B. in dem Aufsatz >>Ueber Offenbarung und Volksunterricht« den theologischen Offenba32 Die Christenheit oder Europa. In: Novafis Schriften. Bd.3. Hrsg. von Richard Samuel. Stuttgart 1968 (Schriften 3). Einleitung von Richard Samuel, der als genaues Datum den 13. oder 14.11. angibt. 498. 33 Ebd. 517. 34 Ebd. 524. 35 Ebd. 520. 36 In: Aus Schellings Leben. In Briefen. Hrsg. von G.L. Plitt. Bd.l. Leipzig 1869, 282-289. 37 Schriften 3,522. 38 Brief an Schleiermacher vom 16.11.1799. Nach Schriften 3,498.
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Wilhelm G. Jacobs
rungsbegriff verworfen hatte. In dem Aufsatz bespricht und verteidigt SeheHing eine Schrift Niethammers, in der dieser den Offenbarungsglauben als Vehikel des reinen Religionsglaubens bestimmt hatte, Religion aber als nichts anderes, denn das Verständnis der moralischen Gebote als göttlicher. Spezielle Offenbarungsgehalte wie Wunder und Prophetie verloren in dieser Religion ebenso ihren Ort wie Kult und Sakramente. Nun hatte Novalis nicht nur den Kult in der frühen Christenheit gepriesen39, er hatte auch die neue Menschheit als eine »profetische wunderthätige und wundenheilende, tröstende und ewiges Leben entzündende Zeit«40 charakterisiert und dabei auf das Sakrament des Herrenmahles angespielt. 41 Diese Vorstellungen werden ohne weitere Begründung in den Text eingebracht und sind aus der christlichen Offenbarung entnommen. Die Verwendung von Vorstellungen aus dem Bereich christlicher Überlieferung mochte wohl einen Anfall von Enthusiasmus für die lrreligion erklären. VI
Novalis beschrieb das neue goldene Zeitalter, die Epiphanie, mit Vorstellungen der christlichen Offenbarungsreligion. Schelling, so schloß der vierte Abschnitt dieser Abhandlung, war durch seine Konzeption der Kunst als Epiphanie genötigt, eine solche auch in der Geschichte zu denken. Wie bringt er diese neugeforderte Konzeption von Geschichte mit der schon besprochenen, cum grano salis: Kantischen, zusammen? In seiner Begründung der Geschichte als Entwicklung des Rechts bleibt Schelling noch in der Nähe Kants, wenn er durch die freie Tätigkeit des Menschen hindurch eine notwendige aktiv sieht, nämlich die der Natur. Wenn aber Schelling fragt, wie beide Tätigkeiten, die freie und die notwendige im geschichtlichen Handeln des Menschen zusammenwirken sollen, so verläßt er den Rahmen der Kritik; denn SeheHing kann dieses Zusammen weder von der einen noch von der anderen Seite aus erklären. Die Frage ist: >>Wenn das Objektive immer das Bestimmte ist, wodurch ist es denn nun gerade so bestimmt, daß es zu der Freiheit, welche nur in der Willkür sich äußert, objektiv hinzubringt, was in ihr selbst nicht liegen kann, nämlich das Gesetzmäßige?«42 Die Antwort auf diese Frage kann nach Schelling nur gegeben werden, wenn zwischen Willkür und Gesetzmäßigem eine prästabilierte Harmonie gedacht werden kann. Deren Grund aber liegt über beiden in einem Höheren. Da dieser Grund weder Freiheit noch Natur, weder Subjekt noch Objekt sein kann, auch nicht beides zugleich, so kann er nur die absolute Identität sein, die nie zu Bewußtsein gelangen kann. Diese vergleicht Schelling - man erinnert sich an Platons Höhlengleichnis - der Sonne, die durch ihr »eigenes ungetrübtes Licht sich verbirgt« 43 . Daher kann es nicht erkannt und angeschaut, sondern nur geglaubt werden. 39 Vgl. Schriften
3,508.
Schriften 3,519. 41 Ebd. 520, Z.3 42SW 3,600. 43 Ebd. 40
Schellings System des transseendentalen Idealismus
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Die Reflexion kann dieses Verhältnis von drei Seiten ansehen, von dem der bewußtlosen Tätigkeit aus, dann entsteht das System des Fatalismus, von der bewußten Tätigkeit aus, dann entsteht das System des Atheismus und von der Identität aus, dann entsteht >>das System der Vorsehung, d.h. Religion in der einzig wahren Bedeutung des Worts«44 • Diese ist im Kontext gefaßt als Offenbarung des Absoluten. Die Offenbarung kann nie vollendet sein, weil deren Vollendung die für die Freiheit notwendige Trennung dieser von der Natur aufheben würde. Sie kann nur geglaubt werden. Da die Vollendung der Offenbarung die Geschichte aufheben würde, bestimmt SeheHing diese als >>eine fortgehende allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten«, bzw. als >>eine nie ganz geschehene Offenbarung jenes Absoluten«45 • Die Offenbarung Gottes ist nichts anderes als die Geschichte, insofern sie vom Standpunkt der Religion aus angeschaut wird. Sie vollzieht sich durch das Handeln der Menschen, die im Schauspiel der Geschichte bzw. der Offenbarung zugleich Dichter und Schauspieler >>( disjecti membra poetae )«46 sind. Ohne Geschichte wäre auch der sich offenbarende Gott nicht, genauer: er ist nicht, wenn mit Sein das gemeint ist, was sich objektiv darstellt, sondern er offenbart sich. Seine Offenbarung in der Geschichte vollzieht sich in drei Perioden, der des Schicksals, des Naturplans und der Vorsehung; in der letzten zeigt sich das, was vorher als Schicksal oder Naturplan erschien, als Vorsehung. Der Eintritt dieser letzten Periode läßt sich nicht vorhersagen. >>Aber wenn diese Periode sein wird,>dann wird auch Gott sein.( ... ) seine tiefschürfende und in ihrer Tragweite noch nicht voll erkannte Symboltheorie [... )« 7 Vgl. die Vorbemerkung der Herausgeber von Poetik und Geschichtsphilosophie I, 8.
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Wolfhart Henckmann
Im folgenden soll das Panorama der damaligen Diskussionen, wie gesagt, allein aus der Perspektive Solgers nachgezeichnet werden. Da er mit Symbol und Allegorie zum Teil eigenwillige Vorstellungen verbunden hat, soll zur Orientierung ein wenn auch recht schematisches Vorverständnis vorangestellt werden. Solger hat seine Lehre von der symbolischen und allegorischen Kunst in drei zeitlich relativ nahe beieinander liegenden Texten entwickelt: 1) in der bereits genannten Rezension von A.W. Schlegels Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. In ihr beruft er sich wiederholt auf »an einem anderen Orte aus Prinzipien« entwickelte Anschauungen, 8 den er zwar nicht nennt, der aber nur sein kunstphilosophisches Hauptwerk sein kann, nämlich 2) Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst {1815). Die Rückverweise in der Schlegel-Rezension stellen den Erwin als das maßgebliche Dokument seiner Auffassung dar, hingegen das in der Schlegel-Rezension Gesagte nur als >>Wiederholung«. Schließlich sind noch zu nennen die 1819 gehaltenen, posthum herausgegebenen 3) Vorlesungen über Asthetik {1829), die den Ruf erhalten haben, Solgers ästhetische Anschauungen in ihrer gereiftesten und durchgebildetsten Form zu dokumentieren, 9 was aber nur mit Vorbehalt zu akzeptieren ist. In einigen Fragen gehen die Vorlesungen über das hinaus, was Solger im Erwin dargelegt hat, aber in der Entfaltung und Begründung der Probleme bleiben sie deutlich hinter dem Erwin zurück. Sie sind popularisierend gehalten und erfüllen im wesentlichen eine didaktische Aufgabe. Da sie jedoch, ein Viertel Jahr vor Solgers Tod gehalten, die späteste Zusammenfassung und das Ende der Entwicklung seiner Anschauungen darstellen, gehe ich von diesem Werk aus, um ein orientierendes Vorverständnis des Symbolischen und Allegorischen darzustellen. Der Ausdruck >>Allegorie« taucht in den Vorlesungen zum erstenmal an einer ganz untergeordneten Stelle auf - in den einleitenden Bemerkungen über die Geschichte der Ästhetik, wo Solger den >>gewichtigen Sinn«, der dem mythischen Sprechen Platons zukomme, vor dem Mißverständnis in Schutz nimmt, darin >>bloße Allegorien oder Vergleichungen« zu sehen (14). Dieser Allegoriebegriff, der eine verstandesmäßige Beziehung zwischen einem Bild, Gleichnis, Mythos oder dergleichen und einem Begriff bezeichnet, kann als der >>rationalistische« Allegoriebegriff10 bezeichnet werden, den Solger zwar immer wieder kritisiert, aber gelegentlich selber verwendet.U In einem für Solgers eigene Auffassung bezeichnenderen Sinn tauchen die Begriffe Symbol und Allegorie zum erstenmal im zweiten der drei Teile seiner s E 420,37f; 401,20 u.ö. 9 So K.W.L. Heyse in seiner Vorrede zu den Vorlesungen über Ästhetik, IXf, und seither bei vielen Interpreten. 10 Solger spricht öfter von der>> Verstandes-Allegorie>Ich selbst war wunderbar gerührt und weinte fast, daß ich an der Seite dieses hellen freundlichen Bildes so trüb und verschoben dasteheverschobene>Sie müssen nicht denken, lieber Wilmanns, daß Godwi meine Art sei, obschon auch der strengste Kritiker diesem manche vortrefliche Stelle nie wird absprechen dürfen, ich habe an ihm schreiben gelernt, und werde nun bald so schreiben, daß es jeder lesen will, Und solllegt sich darauf, Tieck's Nachahmer zu sein, und schämt sich seiner sentimentalen Ader, die er doch gar nicht verleugnen kann. [... ] er glaubt der Tieck der Tieck's zu sein; [... ] er will von Teufels Gewalt satirisch seindaß die Deutschen die Satire noch am wenigsten angebaut hättenpoetische Arabesken«. Im Brief über den Roman wird Sterne als Gewährsmann genannt. 22 In diesem Zusammenhang spricht er von einer Verwandtschaft mit »Witzigen Spielgemälden [... ],die man Arabesken nennt«. Die Nähe zur Groteske und Karikatur, der gelegentlich hieroglyphische Charakter, die unendliche Fülle, das sind weitere Kennzeichen, die Polheim als Kennzeichen des Schlegelsehen Arabeskenbegriffs herausarbeitet. 23 Bei oberflächlicher Anwendung dieses Begriffs - im Sinne der festgestellten Brentanoschen Art - ließe sich behaupten: Bereits der Godwi ist Beispiel für einen arabesken Stil in der Dichtung. Die Fülle der witzigen Einfälle, die Einbindung dieser skurrilen, grotesken Elemente in ein kaum durchdringliches Rankenwerk, ja selbst eine erkennbare Verwandtschaft mit Tieck und Sterne, die Schlegel als Muster für arabeske Dichtung nennt, weisen in diese Richtung. Die Affinität zu dieser Gestaltungsform führt Brentano später sogar in den Bereich der Malerei zurück. Ein Gemälde, das als Geburtstagsgeschenk für die befreundete Malerin Emilie Linder gedacht war und unter Brentanos Mitwirkung entstand, der sogenannte Lebensbaum aus dem Jahre 1836, verarbeitet - an Runges Tageszeitenzyklus anklingend - eine Fülle von Märchenmotiven und persönlichen Anspielungen zu einer Arabeske. 24 Der dazugehörige erläuternde Text wiederum trägt alle Kennzeichen einer fragmentarischen Verbalarabeske. Ähnlich verhält es sich mit den Stichen zur Spätfassung des Gockelmärchens. 25 20 Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. Paderborn 1966. 21 LN 977, zitiert nach Polheim, a.a.O. 27. 22 Zitiert nach Polheim, a.a.O. 49. 23 Polheim, a.a.O. 26-62. 24 Vgl. Konrad Feilchenfeldt und Wolfgang Frühwald: >>Clemens Brentano: Briefe und Gedichte an Emilie Linder.« In: Jb FDH (1976), 216-315, bes. nach 224 (Abb. 1 und 2), 228f, 236-256 mit Erläuterungen 282-293. 2S Vgl. Peter-Klaus Schuster:>> Bildzitate bei Brentano.>arabesk« damit in Verbindung: >>Der arabeske Witz ist der höchste - Ironie und Parodie nur negativ - desgleichen der eigentlich Satirische - nur in jenem nebst dem kombinatorischen liegt die Indikation auf unendliche Fülle«, 26 heißt es in den Literary Notebooks. In den Philosophischen Vorlesungen wird der Begriff weiter erläutert: Das Dichtungsvermögen, als in der nächsten Verbindung mit der geistigen Anschauung, steht also auch in der nächsten Beziehung auf den ahnenden Begriff der unendlichen Fülle, und worauf sollte sich auch wohl das Dichtungsvermögen als das produktive im Bewußtsein näher beziehen, da dasjenige, was die schöpferische Kraft im Menschen erregen, und worauf sie gerichtet sein soll, nicht anders bezeichnet werden kann, als durch unendliche Fülle. Es gilt, [... ] daß der Begriff der unendlichen Fülle, der aller Naturbegeisterung und aller geistigen Anschauung zum Grunde liegt, ein Begriff, der nicht aus mannigfachen Wahrnehmungen mühsam zusammengesetzt, sondern, sozusagen, ein einziger Blick ist, und nicht eigentlich aus der Erinnerung kann hergeleitet werden. Die Erinnerung kann eben so wenig als die Anschauung die unendliche Fülle ganz übersehen und erschöpfen. Die unendliche Fülle als solche läßt sich nicht anschauen, man müßte dann eine Anschauung annehmen, die nie vollendet werden könnte. Dieser Begriff kommt nur, wie gezeigt worden, durch das ahnende, weissagende Gefühl in das menschliche Bewußtsein. Es ist weder Anschauung, noch Erinnerung, sondern Weissagung eines Gedankens, auf welchen der Mensch nicht kommen könnte, wenn er nicht durch das Göttliche darauf geführt würde. Die Weissagung selbst ist ein schöpferischer Akt 27 In Notizen von 1806 wird der Rückbezug zur bildenden Kunst wieder deutlich: Das Wesen der gotischen Baukunst besteht also in der naturähnlichen Fülle und Unendlichkeit der innern Gestaltung und äußern blumenreichen Verzierungen ... Die gotische Baukunst hat eine Bedeutung, und zwar die höchste ... So kann die Baukunst ... das Unendliche gleichsam unmittelbar darstellen und vergegenwärtigen durch die bloße Nachbildung der Naturfülle, auch ohne Anspielungen auf die Ideen und Geheimnisse des Christentums.28
26 LN 407, zitiert nach Polheim, a.a.O. 56. 27 28
Zitiert nach Polheim, a.a.O. 57,58f. Zitiert nach Polheim, a.a.O. 61.
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Hartwig Schultz
Konfrontiert man diese Bestimmung der »unendlichen Fülle« des Arabesken mit der Realisation im Godwi Brentanos, so wird man wiederum auf die entscheidende Differenz stoßen: Es zeichnet die Details Brentanoscher Erzählkunst in der Frühzeit gerade aus, daß sie von jenem Ganzen wegführen, daß eine Einzelheit assoziativ eine andere auslöst. Ein übergreifendes Ganzes ist allenfalls in der Psyche Brentanos zu finden: Seine Fixierung auf das »steinerne Bild der Mutter« 29 ist ebenso biographisch erklärbar wie die einzelnen Liebesepisoden des Romans und das Büro d'esprit im Haus zum Goldenen Kopf in Frankfurt mit den Porträts der Geschwister. Rein formal gesehen ist damit das in Brentanos Brief an Runge aufgenommene Postulat der Frühromantik nach Verschränkung von Leben und Poesie vorbildlich erfüllt. Wenn wir anfangs die Frage nach der Poetisierung des Lebens aus methodischen Gründen zurückgestellt hatten, so müssen wir sie nun wieder aufnehmen. Der Text des Godwi erhält nur durch den Rekurs auf das dichterische Subjekt und seine psychische Entwicklung seinen Reiz und Sinn. Es bleibt jedoch die Frage, ob eine so verstandene radikale Subjektivierung des epischen Kunstwerks tragfähig ist. Der Godwi wirkt nur dort überzeugend, wo das Subjektive nicht als bloß biographisches Faktum eingebracht wird und wo es sich in lyrischer Verdichtung und Selbstreflexion artikuliert. Den arabeskenartig aneinandergereihten Episoden fehlt über weite Strecken der Bezug auf ein dem Leser einsehbares Ganzes. Muß man sich erst die Reihe der Schwestern und Freundinnen des Dichters vergegenwärtigen, um aus der Entschlüsselung der dichterischen Figuren seinen Reiz zu gewinnen, so wird man die so verstandene Umsetzung des Lebens in die Poesie kaum als überzeugende Realisation frühromantischer Postulate verstehen wollen. Auch viele der Details, die Brentano in seine Märchen einfügt, um die »Erfindsamkeit>Zitate« zu identifizieren sind. Gelegentlich wird man sogar von >>Montage« sprechen können. Ob allerdings die Struktur seiner gelungenen Werke mit solchen Begriffen, die dem jeweiligen ästhetischen Modevokabular heutiger Interpreten entspringen, wirklich zutreffend beschrieben ist, bleibt fraglich. Von Brentano ist zweifellos der Bezug auf das Ganze intendiert, wobei die Brüche durchaus aus der frühromantischen Ästhetik erklär- und beschreibbar sind. Ein gutes Beispiel für die intendierte Ganzheit sind gerade die Märchen, an denen Brentano fast sein ganzes Leben gearbeitet hat. In diese Dichtungen werden die im Lyceum, Athenaeum und der Lucinde formulierten ästhetischen Theorien Schlegels nicht mehr derart unreflektiert und schülerhaft umgesetzt wie in der Jenaer Phase; denn erst 1808 wurde das Märchenprojekt begonnen. Die Pläne wurden dann - wie Brigitte Schillbach im einzelnen nachgewiesen hat32 - bis 1816 in einer ersten Arbeitsphase verfolgt und 1824 erneut aufgegriffen. Siebeschäftigen Brentano in dieser zweiten Phase bis kurz vor seinen Tod (1842). Man wird bei dieser Chronologie davon ausgehen können, daß er sämtliche von Schlegel im Druck erschienenen Abhandlungen bei seinen Werken heranziehen konnte und gerade nach seiner Rückwendung zum katholischen Glauben (seit 1816/1817) die Veröffentlichungen des späten Schlegel auch intensiv wahrgenommen hat. Denn in den Brentano-Märchen gibt es jenes Ganze, auf das zahlreiche Einzelheiten in kunstvoller Weise bezogen sind, durchaus: Es ist eine - in der Spätzeit christlich fundierte - romantische Geschichtsphilosophie, die es ermöglicht, der Landschaft durch mythische Elemente gleichsam eine vierte Dimension zu verleihen. Viele Einzeldeutungen der Handlung eröffnen so den Durchblick auf den tieferen Sinn des Ganzen: In den Trümmern der Rheinburgen sind die Reste einer Urgeschichte erkennbar, die in den aus Sagen und Ortsbezeichnungen gewonnenen Gestalten wieder lebendig wird und zugleich die Funktion einer Utopie gewinnt. Deutlich ist diese Zeit-Tiefe der dichterischen Bilderwelt ansatzweise bereits in dem - noch in die Frühzeit gehörigen - Fragment Der Sänger. In dieser Erzählung löst ein Blick in die Tiefe der Landschaft Erinnerungen aus, die zur Keimzelle einer neuen, in die Zukunft weisenden Hoffnung werden: Die Sehnsucht in die Ferne nimmer ruht, Und weinend schaut Erinnerung zurücke, 30 Vgl. Wolfgang Frühwald: >>Das verlorene Paradies. Zur Deutung von Clemens Brentanos 'Herzlicher Zueignung' des Märchens 'Gockel, Hinkel und Gackeleia' (1838).« In: LwJb, NF 3 (1962), 113-192. 31 Vgl. Helene M. Kastinger Riley: C/emens Brelllano. Stuttgart 1985, 26,31f sowie Peter Klaus Schuster, in: Brentano-Kolloquium, a.a.O. 32 FBA 17,345.
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Hartwig Schultz
Da blickt aus einer Blume neu Geschicke: Zwei blaue Kelche voll von Liebes-Glut Erwecken in dem Flüchtling neuen Mut, Daß er das Leben wieder jung erblicke. Es hat der Sinn die Aussicht wiederfunden. Aus der Erinnerung wird hier die Aussicht auf eine sinnvolle Zukunft. Damit gehen die Grundzüge eines triadischen Denkmodells in das Landschaftsbild ein, das wir modifiziert bei allen Romantikern nachweisen können. Dieses Modell, bei dem sich aus der Erinnerung an die Vergangenheit die Ahnung und Zuversicht einer erlösenden Zukunft formt, wird sowohl auf das individuelle Leben bezogen wie auf die menschliche Geschichte. Im Hinblick auf Novalis hat Hans-Joachim Mäh! dieses Modell ausführlich erläutert: Es ist die Idee eines goldenen Zeitalters, das im Mittelalter oder einer (schwer eingrenzbaren) sagenhaften Urzeit angesiedelt wird und zugleich vorbildlich für die Zukunft ist, also als eine Art Utopie fungiert. Die Erinnerung, die sich bei der Landschaftsbetrachtung einstellt, ist zugleich Aussicht auf eine harmonische Zukunft, in der sich der Mensch wieder im Einklang mit der Natur befindet, sich wieder zu Hause fühlt. Das gleiche Denkmodell hat Wilhelm Emrich bei Eichendorff nachgewiesen, und in der Brentano-Forschung sind es Wolfgang Frühwald und Gerhard Schaub, die zum Ideal der Kindlichkeit und den Paradiesvorstellungen die maßgeblichen Arbeiten vorgelegt haben. Elemente dieses Welt- und Geschichtsbildes finden sich demnach bei vielen Romantikern, die Maler Runge und Caspar David Friedrich eingeschlossen. 33 Die Märchen führen uns schon als Gattung in die Welt der Kindheit zurück. Kennzeichnend ist, daß all das, was zu Brentanos Zeit bereits unbewohnte Ruine war, durch mythische und märchenhafte Gestalten belebt wird, selbst die steinernen Felsen werden plötzlich lebendig. Anregungen für Brentanos Fantasie boten Lokalsagen, die er in mündlicher Tradition oder in Chroniken kennenlernte, aber auch Ortsbezeichnungen, heraldische Bilder und Mythen, die z.T. aus der antiken Tradition stammen. So wird der Felsen mit dem Namen Loreley zum Ausgangspunkt einer Geschichte, in die auch Elemente des antiken Echomythos eingehen. Wir kennen die Ballade der Zauberin Lureley bereits aus dem Roman Godwi. Brentano hat die Geschichte offensichtlich erfunden. Er schmückt sie dann in den Märchen vom Rhein aus und entwickelt eine regelrechte Genealogie: Ach sagte der Wassermann, die wissen auch gar nichts von ihr. Frau Lureley ist viel älter als diese Herrn, obschon ein jeder von ihnen ein paar Hundert Jahre älter ist, als der andere; Frau Lureley ist eine Tochter der Phantasie, welches eine berühmte Eigenschaft ist, die bei der 33 Vgl. Brentanos Landschaften. Beiträge des ersten Kohlenzer Brentano-Kolloquiums. Hrsg. von Hartwig Schultz. Koblenz 1986, 53. - Das Brentanozitat aus dem Sänger. FBA 19,75f; die erwähnten Arbeiten: Hans-Joachim Mäh!: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Heidelberg 1965; Wilhelm Emrich: >>Begriff und Symbolik der 'Urgeschichte' in der romantischen Dichtung.>wuchernde Arbeits- und Dichtungsweisedagegen [nämlich gegen zuviel Empfindsamkeit] hilft oft, viel Körperliche Bewegung, Beschäftigung, Vermeidung aller Liebesgedanken und dergleichen.«46 Aus diesem Satz wird im bearbeiteten Briefwechsel der folgende Absatz: Dagegen hilft oft viel Bewegung, Springen, Singen und Tanzen, Beschäftigung, der Agnes helfen in der Küche, wenn sie allenfalls einen guten Kuchen backt, den auswälchern, kneten und in die Backschüssel hineinrunden, oder auch einen ordentlichen Aufsatz machen, selbst über die französische Revolution wär mir lieber, und ich bin jetzt sehr bestraft dafür, daß ich dies Interesse bei Dir untergraben hab. Ich bitte Dich, wenn es noch Zeit ist, ergreif es wieder, hol Deine alten Tagebücher hervor, in denen wirst Du Anknüpfungspunkte genug finden, es war manches so Schöne, so wahrhaft Große darin; ja, ich kann Dir sagen, daß ich manches draus erfaßt habe als ganz neu gedacht und als gut gedacht, es hilft einem auch zur Vermeidung aller Liebesgedanken, das Große, das Wesentliche der Welt zu seinem Hauptthema zu machen. Dort bist Du ja auch auf dem Boden, der Deinem Geist die wahre Elastizität gibt. 47 Die eignen Briefe läßt Bettine noch mehr 'wachsen'. Bezeichnend ist, daß ihr wuchernder Stil es ermöglicht, problernlos politische Reflexionen aus den 40er Jahren in die Naturbildfolgen der Frühzeit einzubringen. Solcherart treibt die Schellingsche Naturphilosophie noch sehr späte, üppig wuchernde Blüten. Der folgende Passus schlägt den Bogen von der Sonne zum Mond und entfaltet dabei ein ganzes Universum an Ideen, das- wie in allen Bettine-Texten- mit Versatzstücken verschiedener philosophischer Systeme durchsetzt ist, die sie assimilatorisch - stets emotional höchst beteiligt aber selten zum philosophischen Diskurs verdichtend -aufnimmt und miteinander verbrämt: 0 Sonne, schein hernieder und helle mir den Sinn auf, und daß ich nicht schüchtern vor dem Schatten fliehe und daß die Zukunft nicht einst wie ein schwerer Hammerschlag auf meine Vergangenheit falle und sie als nichtig zusammenschmettere! - Clemens, da siehst Du, wie das in mir ist, was andre Menschen mit Gebet ersetzen, ich auch rufe an ein himmlisches, aber kein mit Tugenden (die ich in mir nicht umfasse) ausgeschmücktes Phantom! - Ich rufe an, alles, was meine Tätigkeit reizt, ich sage mir, du willst alles, was aus der Natur des Menschen entspringt, mutig ertragen, du willst mit rechter Erkenntnis dich vor der Erkünstlung und der Verstimmung des menschlichen Geistes ablösen und diese überwinden. Und dann sag ich mir: Wer ist Gott? - Gott ist die Zukunft! Wen diese nicht göttlich an sich reißt, daß er sich von den Ketten befreie aller Vergangenheit und in der Zukunft ganz aufgehe, den führt's nicht zu Gott. Ich weiß und fühle, daß ich recht habe! Denn dies allein löst alle Ungleichheiten des Glückes auf. Weltbegebenheiten, die gefährlich aussehen für die Ruhe und die Gegenwart, die
46 Früh/ingskran~, a.a.O. 330f. 47
Ebd.160.
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Hartwig Schultz
wallen da als reiner geistiger Strom zwischen politischen Ufern, die von schwarzen, stupiden Geistern bevölkert sind, dem Göttlichen zu; das heißt: dem die Freiheit zeugenden Gott. Politik aber ist ein aus sehr beschränktem Interesse hervorgehendes, sehr stupides HandJen und führt nicht zu Gott, nicht in die Zukunft, sondern es fesselt die Sinne an eine schon im Werden vergehende Gewalt. So träume ich, so denke ich, wenn ich manchmal in der Nacht aufwache und der Mond scheint ins Zimmer [... ]48 Der Vergleich mit dem Godwi-Gedicht des Bruders zeigt, welch wichtige Funktion die dichterische Form erfüllt. Der Zwang zur lyrischen Verdichtung führt dazu, daß die frühromantische Natur-Sehnsucht dort viel präziser und intensiver zum Ausdruck kommt als in den Briefen der Bettine, die auf die gleiche Philosophie zurückweisen. Der Briefstil der Bettine ist mit einigem Erfolg in jüngeren Arbeiten auf eine besondere Poetik zurückgeführt worden. 49 Aber diese Poetik vernachlässigt - trotz aller Anleihen bei der Frühromantik - einige zentrale Postulate des Schlegel-Kreises: Bettine kennt keine Pointierung, keine aphoristische Kürze, keinen »Witz«. Es überwiegt das »arabeskenartige« in ihrer Kunst, wobei in der phantastisch wuchernden Bilderwelt der Bezug auf das Ganze schwer auszumachen ist. Die Hinwendung zur Ordnung des katholischen Christentums, die für Schlegel und den Bruder Clemens in der Spätzeit bezeichnend ist, lehnt Bettine kategorisch ab. Sie arbeitet mit einem vehement verfochtenen, gelegentlich theologisch oder philosophisch angehauchten Wahrheitsbegriff, der die Lüge einschließt, und im Kern politisch genannt werden muß. Wo dieser politische Kern noch fehlt, gerät die Dichtung zu einem formlosen Wortstrom, der kaskadenartig von Einfall zu Einfall strömt und nur gelegentlich originelle Gedanken versprüht. Ein Beispiel für diesen Typ der Dichtung ist auch das Fragment eines Jacobi-Dramas, das im Materialienband vorgestellt wird. Es ist ein Gemeinschaftswerk der Geschwister Brentano, das im Herbst 1808 entstand. Jacobi war zu dieser Zeit Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München; die Brentano-Geschwister hielten sich in Landshut und München auf. Bettine selbst berichtet in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde: >>Diese ganze Zeit hab ich mit Jacobi beinah alle Abende zugebracht, ich schätze es immer als ein Glück, daß ich ihn sehen und sprechen konnteDer alte Jacke! [Jacobi] ist mich ganz müde und die Schwestern haben mich verbannt