Der Streit um die Schrift [1 ed.] 9783788733490, 9783788730512


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Der Streit um die Schrift [1 ed.]
 9783788733490, 9783788730512

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Band

31 Jahrbuch für Biblische Theologie 2016

Jahrbuch für Der Streit Biblische um die Schrift Theologie

Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh) Herausgegeben von Irmtraud Fischer, Jörg Frey, Ottmar Fuchs, Katharina Greschat, Alexandra Grund-Wittenberg, Bernd Janowski, Ralf Koerrenz, Volker Leppin, Tobias Nicklas, Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Uta Poplutz, Dorothea Sattler, Konrad Schmid, Günter Thomas, Samuel Vollenweider und Michael Welker

Band 31 (2016) Der Streit um die Schrift

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3349–0 © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com DTP: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn

Irmtraud Fischer / Volker Leppin

Der Streit um die Schrift und um ihre Auslegung

Mögen die Anlässe und Diskussionspunkte historisch auch vielfältig gewesen sein, der Stellenwert der Bibel ist immer wieder zwischen der Katholischen und den durch die Reformation gegangenen Kirchen umstritten gewesen. Die plakativen Formeln Sola scriptura oder Schrift und Tradition treffen dabei die heutige differenzierte Sicht der Dinge nicht mehr genau, weisen aber die Richtung, in welcher die Unterschiede zu suchen sind beziehungsweise immer wieder gesucht wurden. Die längste Zeit war im katholischen Bereich davon auch die exegetische, ja die ganze theologische Wissenschaft geprägt, da – trotz Lockerungen um die Mitte des letzten Jahrhunderts – erst das Zweite Vatikanische Konzil die historisch-kritische Erforschung der Heiligen Schrift als exegetische Methode anerkannte – mit dem Risiko, dass sich so der gelegentlich garstige Graben zwischen der Schrift und ihrer häufig von der Dogmatik bestimmten Auslegung auch in der Katholischen Kirche öffnete. Inzwischen hat sich in beiden Konfessionen das Methodenspektrum gegenüber der historisch-kritischen Methode deutlich erweitert. Vor allem in der katholischen Theologie wurden eine Fülle neuer Auslegungsweisen etabliert: Synchrone Zugänge haben ebenso Heimatrecht wie diachrone, literaturwissenschaftliche werden in einigen Schulen hoch geschätzt, den sehr unterschiedlichen Methoden der Bibelauslegung durch die Geschichte hindurch wird wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil, als dies noch im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts zu konstatieren war. Problematisch werden allerdings wissenschaftlichen Zugänge aller Konfessionen, wenn es zu einer Abkoppelung der Gemeindewirklichkeit von der wissenschaftlichen Exegese kommt, die in ihren Ergebnissen viel zu einzelteilig wahrgenommen, in ihrer Komplexität als nicht mehr vermittelbar und in der Hypothesenbildung als viel zu schnelllebig angesehen wird. Überlässt heute die Exegese tatsächlich der Praktischen Theologie das Feld der Verkündigung und damit auch der Bibelauslegung? Im evangelischen Bereich mit seiner traditionell starken Stellung der Exegese verbindet sich mit dieser Frage die Befürchtung, dass diese einerseits an Rückkoppelung zur Gemeindewirklichkeit verliert und Letztere sich, mit problematischen Folgen vor allem für Vereinfachung im ethischen Diskurs, gegenüber akademisch verantwortbaren Positionen verselbständigt. Die Folgen für das kirchliche Leben im katholischen

VI

Irmtraud Fischer / Volker Leppin

Raum aber wären noch umfassender. Bis zum II. Vatikanum war die Gemeindewirklichkeit kaum nachhaltig von der Bibel geprägt, bestenfalls von sogenannter »biblischer Geschichte«, die biblische Geschichtchen ohne Kontext nacherzählte. Ein Rückfall in vorkonziliare Zeiten würde den nun reicher gedeckten biblischen Tisch (Vat II, SC 51; DV 21ff.)1 wieder abräumen und das Kirchenvolk wiederum fast ausschließlich mit den traditionellen Nährmitteln der Tradition abspeisen, wenngleich nunmehr in Volkssprache, nicht mehr in Latein. Im Streit um die Schrift und ihre Auslegung steht also in beiden Theologien und beiden kirchlichen Milieus viel auf dem Spiel. Der vorliegende Band war als zeitgerecht erscheinender Beitrag zum Reformationsjubiläum gedacht. Da es Irrungen und Wirrungen freilich nicht nur in theologisch-kirchlichen Bereichen, sondern auch im Verlagswesen gibt, erscheint er nun gleichsam als Nachzügler zu all den Publikationen, die auch das ökumenische Feld in diesem Jahr bestellten. Aber unabhängig von allen Jubiläen und deren Festtagsreden ist die Problematik, die auch Band 25 des Jahrbuches mit seiner Fragestellung, wie biblisch die akademischen christlichen Theologien derzeit wirklich sind, weiterführt, für beide Theologien und deren Praxisfelder derzeit von vitalem Interesse. Wie gehen die Kirchen mit kanonischen Texten um, wie legen sie sie aus, und welcher Stellenwert kommt ihnen im Glaubensgebäude nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu? Wie entwickelten sich Fragen des Schriftverständnisses und der Schriftauslegung durch die Jahrhunderte hindurch, und wie sind diese heute zu begreifen? Wie kommt man von biblischen Texten zur Lebensrealität von heutigen Menschen und deren drängenden Fragen? Welchen Transformationen sind kanonische Texte durch ihre notwendige Rezeption in unterschiedlichen Kulturen, Epochen und Kontexten unterworfen? In welchem Verhältnis steht die Unveränderbarkeit kanonischer Texte zur Notwendigkeit ihrer Auslegung, und durch welche methodischen Zugänge wird dieser Prozess der je neuen Transformation gewährleistet? All dies sind Fragen, die uns bei diesem Themenkomplex bewegt haben. Einführend beschäftigt sich Thomas Söding in seinem Beitrag »Wegweiser der Heiligen Schrift« mit den fundamentalen Fragen zum Kanon, dem von ihm so bezeichneten »Wegweiser zu Gott« im Streit der Interpretationen, und stellt dabei fest: »Alle Versuche, die Bibel ihres historischen Gewandes zu entkleiden, um so ihre ewigen Wahrheiten zu sehen, 1 Siehe die beiden dogmatischen Konstitutionen Sacrosanctum Concilium http:// www.vatican.va/archive/histcouncils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_196312 04_sactrosanctum-concilium_ge.html sowie Dei Verbum http://www.vatican.va/hist_ councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651118_dei-verbum_ge.html

Vorwort

VII

sind von einem tiefen Missverständnis geleitet, weil sich die Wahrheit, von der man alt- wie neutestamentlich sprechen muss, wenn man die Schrifttexte ernst nehmen will, nicht jenseits, sondern inmitten der Zeit entbirgt«. Unter dem Titel »Schrift und Tradition versus sola scriptura und den Leuten aufs Maul schauen? Der konfessionelle Streit um die Bedeutung der Schrift und deren Auslegung auf dem Hintergrund der neueren Rezeptionsdiskussion« vertreten die Alttestamentlerin Irmtraud Fischer, die das rezeptionsgeschichtliche Großprojekt »Die Bibel und die Frauen«2 leitet, und der Kulturwissenschaftler und Rezeptionsforscher Rainer Winter die These, dass die Bibel und ihre Auslegung zusammengehören. Erst durch das Zusammenspiel von Text und Lesenden wird Kanonizität im Sinne der bleibenden Gültigkeit eines Textkorpus für eine Gemeinschaft gewährleistet. Der Artikel bietet einen Überblick über diverse Rezeptionskonzepte, deren Entstehungskontext und Implikationen, die auch für das Verständnis von Heiliger Schrift und deren Exegese hilfreich sein können. Ludger Schwienhorst-Schönberger, der im letzten Jahrzehnt unter großen, auch schriftlich geführten Diskussionen die patristische Exegese und deren mittelalterliche Rezeption wieder in ihre im katholischen Bereich angestammten Rechte einzusetzen versucht, gibt mit seinem Artikel »Der vierfache Schriftsinn« einen profunden Einblick in die Entwicklung des mehrfachen Schriftsinnes sowie dessen Fehleinschätzungen und einen Ausblick auf die Kompatibilität der Kirchenväterexegese mit dem historisch-kritischen Paradigma. Die theologischen Konsequenzen der neuesten literaturgeschichtlichen Forschung an der Hebräischen Bibel legt der Zürcher Alttestamentler Konrad Schmid unter dem Titel »Die Schrift als Text und Kommentar verstehen« dar. Seinen forschungsgeschichtlich gearbeiteten Beitrag kann man als Pflichtlektüre für Theologiestudierende empfehlen, da er den häufig hochstilisierten Gegensatz zwischen kanonischem Text und dessen Auslegung durch innerbiblische Beispiele aus allen drei Kanonteilen zu überbrücken versteht. Sein Verständnis des Kanons als »plurale Einheit« bietet einen Haftpunkt auch für die vielstimmige Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte. »Wäre sie nicht beständig fortgeschrieben und ausgelegt worden, wären ihre Texte und Bücher alsbald verrottet und vergessen worden. Es war ihre fortwährende Auslegung auf je neue Situationen hin, die der Bibel während ihrer Formierungsphase das schiere Überleben gesichert hat«. Christoph Dohmen bringt unter dem Mottosatz des Zweiten Vatikanischen Konzils »Libri Veteris Testamenti integri in praeconio evangelico assumpti« (Vat II, DV 16) die katholische Sicht des ersten und größten 2

www.bibleandwomen.org

VIII

Irmtraud Fischer / Volker Leppin

Teils der christlichen Bibel ein, der ja gerade in seinem Umfang ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen der katholischen und der evangelischen Bibel darstellt. Er geht den diffizilen Prozessen der Kanonentstehung und den Diskussionsprozessen der frühen Kirche um die Bedeutung des Alten Testaments nach, sieht dabei Schrift und Tradition als Einheit an und widmet sich schließlich auch dem Problem des sensus plenior, worunter das Konzil das christliche Verstehen des Alten Testaments begriff, das die biblische Einheit von Altem und Neuem Testament begründe und gerade deshalb einer Abwertung des größeren Teils der christlichen Bibel Vorschub leiste. Die Frage, ob die »Kanonisierung des Neuen Testaments als Prozess von Gemeindebildung« zu verstehen sei, stellt Tobias Nicklas anhand der historischen Diskussionen in der frühen Kirche. Er zeigt auf, dass »mit der Definition des Kanons (und der damit einhergehenden Selbstdefinition der Kirche als Textgemeinschaft) auch eine Bindung kirchlicher Lehre bzw. sich als rechtgläubig verstehender Theologie, aber auch kirchlicher Praxis an diesen Kanon, hier verstanden als Kanon des Alten und des Neuen Testaments« einhergeht, aber auch später nicht kanonisch gewordene Schriften bei der Herausbildung und Definition von Glaubensinhalten und -identität eine große Rolle spielen. Dass auch der Kanon des Alten Testaments beziehungsweise der jüdischen Bibel in der Zeit des Neuen Testaments noch in Bewegung ist, wird anhand der Ausführungen des Neutestamentlers und Judaisten Lutz Döring deutlich. Nicht »die« Schrift, sondern jüdische Schriften werden im Neuen Testament auf je unterschiedliche Weise rezipiert, die Döring anhand der unterschiedlichen Autoren aufweist. Dabei erweist sich die neutestamentliche Schriftauslegung als eine Variante jüdischer Schriftauslegung, die auch durch die christologische Lektüre der jüdischen Schriften nicht einfach aus dem Judentum herausfällt, sondern eine bestimmte Lesart christusgläubiger Juden darstellt. In dieselbe Richtung wie Schmid argumentiert auch Günter Stemberger. »Rabbinische Schriftauslegung und mündliche Tradition« behandelt das jüdische Phänomen der zweifachen Tora, der mündlichen und der schriftlichen. Er nimmt die Lesenden in die Argumentationslinien der jüdischen Texte (und deren christliche Kritiker) mit und zeigt durch die hermeneutischen Entscheidungen deren Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit auf, obwohl man den Text bis in dessen Buchstaben hinein ernst nimmt. Er zeigt auf, dass im Judentum der Tradition auch deswegen eine besondere Autorität zukommt, weil man annimmt, dass »die Fülle traditioneller Auslegung schon zugleich mit der schriftlichen Tora am Sinai gegeben wurde, Tradition also Teil der göttlichen Offenbarung ist«. Görge Hasselhoff widmet sich einem weithin unbekannten, aber überaus interessanten Thema, dem »Streit um die messianische Auslegung

Vorwort

IX

der Schrift zwischen Juden und Christen in den mittelalterlichen Religionsgesprächen.« Dass dabei der Dialog über die Auslegung der Schrift vor allem über biblische Belege geführt wurde, hängt einerseits daran, dass der Talmud im europäischen Judentum erst ab dem 11. Jahrhunderts in kleinen Kreisen bekannt und dementsprechend noch später von der christlichen Seite wahrgenommen wird, andererseits aber auch an der Quellenlage, die die christliche Seite belegt. Dem im Judentum und auch in manchen Strömungen bzw. Epochen des Christentums heiß umstrittenen Verhältnis von Wort und Bild geht der Kunsthistoriker und Theologe Wolfgang Augustyn in seinem Beitrag »Inkarnationschristologie in den Bildkünsten des Mittelalters. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs« exemplarisch nach. Dabei steht die dogmatische Entwicklung der Lehre, ausgehend vom johanneischen Diktum des Fleisch gewordenen Wortes im Zentrum des Interesses der ikonographischen Umsetzung vor allem in illuminierten Handschriften dieses auch theologiegeschichtlich versierten Artikels. Dass der Humanismus in seiner Schriftauslegung vielfach an das Mittelalter anknüpft, zeigt der Systematiker und Dogmenhistoriker Peter Walter anhand von Faber Stapulensis und Erasmus von Rotterdam. Bei beiden lässt sich eine Konzentration der von Schwienhorst-Schönberger dargestellten mittelalterlichen Schriftsinne beobachten, und in deren Ausrichtung konvergieren sie durchaus: Faber Stapulensis unterscheidet einen doppelten historischen Sinn der Schrift und sieht auf dieser Grundlage als eigentliches Ziel der Schriftauslegung eine Christiformitas. Diesen von Nikolaus Cusanus stammenden Begriff greift Erasmus zwar nicht auf, aber auch ihm geht es bei scharfer Betonung des historischen Sinns um eine geistliche Erfassung der Schrift im Herzen der Glaubenden. Freilich hat er dabei, wie Walter zeigt, ein stärkeres Bewusstsein für den Unterschied zwischen Philologie und Theologie. Dies zeigt Walter anhand eines Streits um die Bedeutung des Zitates von Ps 8,6 in Hebr 2,7, ein Streit, den auch Martin Luther in seiner Hebräervorlesung rezipierte (WA 57/III, 117–120). Auf Luthers Zuordnung von Schrift und Tradition geht der Kirchenhistoriker Volker Leppin ein. Die konfessionell unterschiedlichen Weisen der Zuordnung von Schrift und Tradition reformuliert er als »Differenz-« und »Harmoniemodell« und zeigt auf, dass beide ihre mittelalterlichen Wurzeln hatten. Während in der Theologie das Harmoniemodell dominierte, entwickelte sich das Differenzmodell im rechtlichen Kontext und wurde hier zunächst auch von Luther aufgegriffen, ehe er es weiter zum theologischen Prinzip formte. Zu den besonderen Merkmalen der Reformation gehört auch die Bibelübersetzung – und zu den Reaktionen von Trient die Favorisierung der einen lateinischen Übersetzung, der Vulgata. Die Kirchenhistorike-

X

Irmtraud Fischer / Volker Leppin

rin Ines Weber zeigt, wie im Zuge der katholischen Aufklärung an sehr unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten – bei Richard Simon im Frankreich des 17. Jahrhunderts und bei südwestdeutschen Katholiken im frühen 19. Jahrhundert – Trient historisiert und dafür der Weg für volkssprachliche Übersetzungen frei gemacht wurde. Die Systematische Theologin Christiane Tietz geht aus Sicht evangelischer Theologie auf die Krise des Schriftprinzips ein, die sie in eine Krise des Prinzips selbst und eine Krise seiner Begründungen unterscheidet. Im Gespräch mit Falk Wagner, Friedrich Schleiermacher und Karl Barth entwickelt sie – in ähnlicher Weise wie Fischer und Winter, jedoch mit einem anderen theoretischen Zugang – den Gedanken, dass das Schriftprinzip sich nicht abstrakt bestimmen lässt, sondern lediglich in einem hermeneutischen Zirkel, in welchem der Umgang mit der Bibel ihre Autorität begründet. Mit der einem Buchtitel von Mirja Kutzer3 entnommenen provokanten Überschrift »In Wahrheit erfunden« plädiert die Religionspädagogin Mirjam Zimmermann für eine biblische Didaktik, die die Wahrheitsfrage stärker berücksichtigt, da erwiesen ist, dass bei Schülerinnen und Schülern die »Zunahme von nichtbuchstäblichem Verstehen biblischer Geschichten … mit einem parallel linearen Anstieg der Ablehnung von diesen als ›unglaubwürdig‹« einhergeht. Von den unterschiedlichen Wahrheitstheorien versucht sie jene zu identifizieren, die für die schulische Erarbeitung der Bibel am besten geeignet erscheinen und plädiert dafür, bereits in der Grundschule die Frage nach der spezifischen Wahrheit der Texte zu thematisieren und Religionslehrerinnen und -lehrer einen entsprechenden Problemhorizont zu vermitteln. Der durch eine praktische Bibelhermeneutik hervorgetretene Pastoraltheologe Ottmar Fuchs geht im Beitrag »Praktische Theologie in und mit der konturierten intertextuellen Bibellektüre« der liturgisch-performativen Seite biblischer Texte in kanonischer Bibellektüre nach. Intertextuell verbundene »Leuchtturmtexte« ergründet er mit der Benjaminschen Erkenntnistheorie, thematisiert aber auch die Machtfrage bei der Entstehung des Kanons und der Auslegung der Texte. Er misst wie viele andere Beiträge in diesem Band der Pluralität der biblischen Bibliothek, die den Kanon bildet, hohe Bedeutung für die heutigen Gemeinden und deren theologisches Verstehen zu. Ein weiteres Praxisfeld wird von Hanspeter Schmitt in seinem Beitrag »Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral? Theorie und Praxis ethischer Schriftauslegung« untersucht. Wie und unter welchen Umständen und vor allem auf der Grundlage welcher Theorien kann die Bibel heute noch die Quelle für ethische Entscheidungen bilden? Dieser 3 Vgl. auch den Buchtitel von Mirja Kutzer, In Wahrheit erfunden. Dichtung als Ort theologischer Erkenntnis, Regensburg 2006.

Vorwort

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auch forschungsgeschichtlich sehr gelehrte, informative Artikel plädiert dafür, eine »lebensweltliche Vergewisserung des spezifischen moralpraktischen Verstehens der Bibel … als Akt konstruktiv angebotener christlicher Zeit- und Weggenossenschaft zu gestalten. Keinesfalls wird sie mittels der zwanghaften, machtförmigen oder monologischen Vorgabe von Erkenntnissen und Handlungsperspektiven gelingen.« Die Fülle der Beiträge mag zeigen, dass die Frage nach Schrift und Tradition einerseits viel mit den 2017 bedachten und gefeierten Ereignissen zu tun hat, andererseits auch darüber hinausweist. Das ökumenische Gespräch ist der Sache nach zu gewichtigen Konvergenzen gekommen4 – der vorliegende Band mag eine Anregung bilden, es weiter mit Leben zu füllen. Graz / Tübingen

Irmtraud Fischer / Volker Leppin

4 Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Kanon – Heilige Schrift – Tradition. Gemeinsame Erklärung, in: Wolfhart Pannenberg / Theodor Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis, Bd. 1: Kanon – Schrift – Tradition (DialKir 7), Freiburg/Göttingen 1992, 371–397.

Inhalt

Irmtraud Fischer / Volker Leppin, Vorwort .................................

V

Hermeneutische Beiträge .........................................................

1

Thomas Söding, Wegweiser der Heiligen Schrift. Der Kanon im Streit der Interpretationen ....................................................

3

Irmtraud Fischer / Rainer Winter, Schrift und Tradition versus sola scriptura und den Leuten aufs Maul schauen? Der konfessionelle Streit um die Bedeutung der Schrift und deren Auslegung auf dem Hintergrund der neueren Rezeptionsdiskussion ......

25

Konrad Schmid, Die Schrift als Text und Kommentar verstehen. Theologische Konsequenzen der neuesten literaturgeschichtlichen Forschung an der Hebräischen Bibel ..........................

47

Bibelwissenschaft .....................................................................

65

Christoph Dohmen, »Libri Veteris Testamenti integri in praeconio evangelico assumpti« (Vat II DV 16). Der erste und größte Teil der christlichen Bibel in katholischer Sicht .........

67

Tobias Nicklas, Die Kanonisierung des Neuen Testaments als Prozess von Gemeindebildung? .............................................

85

Lutz Doering, Die Rezeption jüdischer Schriften im Neuen Testament ..................................................................................

105

Judentum .................................................................................

135

Günter Stemberger, Rabbinische Schriftauslegung und mündliche Tradition ......................................................................

137

XIV

Inhalt

Görge K. Hasselhoff, Der Streit um die messianische Auslegung der Schrift zwischen Juden und Christen in den mittelalterlichen Religionsgesprächen ...................................................

149

Kirchengeschichte ....................................................................

173

Ludger Schwienhorst-Schönberger, Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick .....................................................

175

Peter Walter, Humanistische Schriftauslegung am Beispiel des Jacques Lefèvre d’Etaples und des Erasmus von Rotterdam ...

203

Volker Leppin, Differenz oder Harmonie. Die Herausbildung der konfessionellen Unterschiede im Schriftverständnis vor spätmittelalterlichem Hintergrund ........................................

225

Wolfgang Augustyn, Inkarnationschristologie in den Bildkünsten des Mittelalters. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs .......................................................................

245

Ines Weber, »… Traductions fussent faites sur la Vulgate par des Auteurs Chatholiques« (Richard Simon). Eckpunkte des Schriftverständnisses in der katholischen Aufklärung ............

265

Systematische Theologie ..........................................................

281

Christiane Tietz, Das Ringen um das Schriftprinzip in der modernen evangelischen Theologie ............................................

283

Praktische Theologie ................................................................

303

Ottmar Fuchs, Praktische Theologie in und mit der konturierten intertextuellen Bibellektüre ...................................................

305

Mirjam Zimmermann, In Wahrheit erfunden. Plädoyer für eine biblische Didaktik, die die Wahrheitsfrage stärker berücksichtigt ........................................................................................

337

Hanspeter Schmitt, Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral? Theorie und Praxis ethischer Schriftauslegung ................

355

Inhalt

XV

Register .....................................................................................

383

Bibelstellen (Auswahl) ............................................................... Namen und Sachen (Auswahl) .................................................. JBTh 1 (1986) – 32 (2017) .......................................................

385 387 391

Hermeneutische Beiträge

Thomas Söding

Wegweiser der Heiligen Schrift Der Kanon im Streit der Interpretationen

1.

Orientierungsfragen

Nach Franz Rosenzweig, dem großen Philosophen und Bibel-Übersetzer (1886–1929), hat die Heilige Schrift nicht nur die historische Aufgabe, die jüdische und christliche Identität zu stiften. In Zeiten, da die Säkularisierung fortschreite, werde sie vielmehr neu ihre Wirkung entfalten, »den Zusammenhang der Geschlechter zu stiften« und »den Zusammenhang von Mitte und Peripherie der Gemeinschaft zu gewährleisten«1. Beide Aufgaben werfen ein Licht auf klassische Bestimmungen des Kanons in der jüdischen wie der christlichen Theologie. Das Lesen der Bibel konkretisiert den Bildungsauftrag, der die Alphabetisierung auf die Tora gründet (Dtn 6,1–12). Das Generationenprinzip ist für das Judentum typisch; im Christentum stellt den »Zusammenhang der Geschlechter« jene Tradition her, in der die Bibel selbst entstanden ist, die sie aber auch stimuliert, kritisiert und motiviert. Der »Zusammenhang von Mitte und Peripherie der Gemeinschaft« ist im Judentum auf das Verhältnis zwischen dem Stammland und der Diaspora, auf die verschiedenen Strömungen und die gemeinsame Identität zu beziehen. Christlich ist an die Kirche zu denken, die, vom Neuen Testament her betrachtet, aus der Suche Jesu nach den Verlorenen hervorgeht (Mt 18, 12ff. par. Lk 15,4–7; Lk 19,10). Heute existiert sie in vielen Konfessionen, bleibt aber zu einer Einheit berufen, die ihr in der Einheit Gottes selbst vorgegeben ist (Eph 4,4ff.). Bezieht man das diachrone und das synchrone Moment aufeinander, ergibt sich, dass die Attribute der Kirche, einig, heilig, katholisch und apostolisch zu sein, nur von der Heiligen Schrift her zu verstehen sind und sich nur im Lesen der Bibel, entlang ihrer Wegweisung, herausstellen können. Keines dieser Attribute, kein kirchlicher »Zusammenhang« kann ohne das Auseinandergehen zwischen Judentum und Christentum betrachtet werden, von dem das Neue Testament geprägt 1 Franz Rosenzweig, Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel (1929), in: ders., Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe, hg. von Karl Thieme (Bibliotheca Judaica), Frankfurt a.M., o.J., 9–12, hier 12.

4

Thomas Söding

wird2, vom Leiden der Juden unter einer christlichen wie einer unchristlichen Herrschaft und von der Aufgabe der Versöhnung, der Franz Rosenzweig sein Lebenswerk gewidmet hat3. Freilich fragt sich, ob dieses Stiften von Zusammenhang eine Idealvorstellung bleibt oder auch ein fundamentum in re hat; es fragt sich, ob es allenfalls für die Vergangenheit starker Religionen, nicht aber mehr für die Gegenwart und Zukunft schwacher oder offener Religiosität in modernen Gesellschaften gilt, und es fragt sich, ob es nur eine interreligiöse oder wirklich auch eine interkulturelle Option ist. Vor allem fragt sich, was als ein Zusammenhang gelten darf, der gesucht werden soll, und wo Bindungen gelöst werden müssen, damit Menschen nicht die Atemluft abgeschnürt wird. Welcher Streit wird von der Bibel selbst ausgelöst, und welcher wird in ihr ausgetragen? Eine Antwort findet sich in der Bibel selbst, die das Verhältnis von Einheit und Vielfalt, von Streit und Versöhnung eindringlich beschreibt. Allerdings ist zu diskutieren, wie die Bibel überhaupt in der Gegenwart Orientierung zu geben vermag, da sie erkennbar aus einer anderen Zeit stammt und viele Werturteile mitschleppt, die überkommen sind, von Geschlechterrollen bis zum Weltbild, vom Sklavensystem bis zum Patronatswesen, von Strafmaßen bis zu Erziehungsmethoden. Diese Debatte kann nicht allein exegetisch, aber auch nicht ohne Exegese geführt werden; sie verlangt eine Hermeneutik der Heiligen Schrift, für die wiederum das Verhältnis von Genese und Geltung zentral ist4. 2.

Verbindungen und Auseinandersetzungen

Die Heilige Schrift ist von der Freude an der Einheit bestimmt5: nämlich von der Liebe zu dem einen Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt (Dtn 6,4f.). Das, was mühsam auf langen Wegen der Geschichte gewachsen ist6 und der Bibel zufolge die große Entdeckung prägender Gestalten wie Abraham und Sara, Mose und Mirjam, Hiob und Jesaja 2 Vgl. James D.G. Dunn, Neither Jew nor Greek. A contested Identity (Christianity in the Making 3), Cambridge 2015. 3 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (1921), Frankfurt a.M. 1990. 4 Ulrich Luz (Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014) stellt sich ein Gespräch zwischen den (schwachen) Texten und den (angefochtenen) Leserinnen und Lesern vor, in dem Bedeutungsgehalte ausgelotet, Rezeptionen stimuliert und Interpretationen begrenzt werden. 5 Vgl. Thomas Söding, Einheit der Heiligen Schrift? Zur biblischen Theologie des Kanons (QD 211), Freiburg i.Br. 2005. 6 Christian Frevel (Geschichte Israels, Stuttgart 2016) deckt auf, wie hoch die konstruktiven Anteile in der Geschichtsschreibung sind und wie diese Konstruktionen wieder Geschichte gemacht haben; zur charakteristischen Relation von Exodus und Monotheismus vgl. 64f.

Wegweiser der Heiligen Schrift

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ausmacht, das Bekenntnis zum lebendigen und wahren Gott, ist im Neuen Testament das große Vorzeichen der Jesusgeschichte, die Gottes Einzigkeit, seine Liebe und Macht neu entdecken lässt7. Gott als den Einen erkannt zu haben, ist für Paulus der Inbegriff der Befreiung (Gal 4,8–20), weil die Konkurrenzen diverser Götter, die alle auf Dienstleistungen durch Menschen pochen, ein für alle Mal beendet sind und weil die Klarheit des Glaubens sich mit der Schärfe der Religionskritik wie mit der Empathie für die Nächsten zu verbinden vermag. Der eine Gott ist freilich nicht einsam. Er ist weder ein Despot, den es zu fürchten gälte, noch ein großer Diktator, der von einem irdischen Monarchen repräsentiert werden könnte8. Als Schöpfer und als Hirte, als Vater und als Mutter steht er vielmehr von Anfang bis Ende im Gespräch mit Menschen, deren schriftlich gefassten Eindrücken sich die Bibel verdankt; darin, dass es diesen menschlichen Faktor gibt, stimmt die antike mit der modernen Theologie überein, auch wenn die Urteile, wer Schrifttexte nun tatsächlich verfasst hat, oft auseinandergehen. In der alttestamentlichen Weisheitstheologie wird die Kommunikation Gottes mit den Menschen in der Welt tiefgründig und weitherzig erschlossen – so, dass Gott der eine Gott bleibt, ohne seine Einzigkeit zu verlieren, wenn er sich äußert, weil er die Weisheit liebt, als seine Frau oder als sein Kind9. Im Neuen Testament gewinnt diese Weisheit die Gestalt, das Gesicht, den Namen Jesu, des geliebten Sohnes (Mk 1,11 parr.), der nach dem Johannesevangelium im Heiligen Geist Menschen die vollkommene Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst verheißt10. In Gott selbst, dem einen und einzigen, ist die Vielfalt des Lebens begründet, das er fortwährend neu erschafft, wie mit den Psalmen gebetet werden kann (Ps 19,3). Im selben Gott ist für die Gläubigen, die in der Bibel zu Wort kommen, auch die Hoffnung begründet, dass Not gelindert, Schuld vergeben, Wunden geheilt und sogar der Tod besiegt werden können. Es ist nach Paulus stets eine Hoffnung »wider Hoffnung« (Röm 4,18). Aber ihretwegen ist im Bekenntnis des einen Gottes auch die Option für eine Einheit begründet, die der Vielfalt nicht den Garaus macht, sondern ein Zuhause schenkt. 7 Vgl. Reinhard Feldmeier / Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011. Es ist biblisch-theologisch begründet, dass in der »Grundlegung« zuerst die Einheit (93–12), dann die Liebe (126–148) und schließlich die Allmacht (149–202) behandelt werden. 8 Das hat Erik Peterson gezeigt: Der Monotheismus als politisches Problem (1935), in: ders., Theologische Traktate, hg. von Barbara Nichtweiß (Ausgewählte Schriften 1), Würzburg 1994, 23–81. Sein Kontrahent war Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), München/Leipzig 1934. 9 Vgl. Irmtraud Fischer, Gotteslehrerinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart 2006. 10 Vgl. Jacques Trublet (Hg.), La Sagesse biblique. De l’Ancien au Nouveau Testament. Actes du XVe Congrès de l’ACFEB (Paris 1993) (LeDiv 160), Paris 1995.

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Thomas Söding

Diese Hoffnung hält die Bibel aufrecht – in vielen Szenen voller Widersprüche, aber auch in ihrer ganzen Geschichte voller Dramatik und Spannungen11. Im Katholizismus wird die Einheit oft ekklesiologisch enggeführt, im Protestantismus individualistisch; weit ist sie in der Orthodoxie gedacht, weil dort die kosmische Dimension der Liturgie und der Theologie mit der Bibel verbunden geblieben sind; nur wird sie leider heute allzu oft in einer Frontstellung gegen die Welt des Liberalismus eingepfercht, die als Schreckgespenst herhalten muss12. Gottes Einheit widerspricht allen irdischen Gottesprojektionen und allen Versuchen, Menschenwerk als Gottesbild zu verehren. Um dieser Einheit willen müssen diese Auseinandersetzungen geführt werden. a)

Die Beziehungen zwischen Gott und Mensch

Arnold Stadler, dessen Psalmenübertragungen Furore gemacht haben13, schreibt in einer Variation seines Matthäusromans »Salvatore«14: »Die schönste Richtung ist die Himmelsrichtung«15. Damit hat er die Bibel als Wegweiser ernst genommen. Gott ist das Subjekt ihres ersten Satzes (Gen 1,1), und Gott ist das Ziel der langen Geschichte, die, so Gott will, im himmlischen Jerusalem endet (Offb 22,5). Dazwischen liegt nicht etwa eine lange Durststrecke, da Gott weit weg ist, oben im Himmel, und die Menschen unten auf der Erde sehen müssen, wo sie bleiben. Die Bibel zeigt vielmehr in tausenden und abertausenden Facetten, wie Gott, der sich treu bleibt, auf immer neue, immer überraschende Weise, nie ohne sein Geheimnis zu verlieren, in das Leben von Menschen eintritt, um es zu bereichern, zu bessern, zu retten, wie Gott jedoch auch vergessen, verdrängt, verkannt werden kann – und wie er sich entzieht16. Die Formen dieser göttlichen Kommunikation, von denen Menschen überzeugt sind, dass sie nicht auf Einbildungen, sondern auf Eingebungen beruhen, sind so vielfältig wie das Leben selbst: ob ein Kind geboren wird (Jes 9,1–6) oder ein Mandelzweig zu blühen beginnt (Jer 1,12f.), ob ein Sturm sich erhebt oder ein Wind sich legt (1Kön 19, 1–13), ob ein Stern funkelt (Num 24,17) oder die Sonne scheint (Mt 11 Vgl. Christoph Dohmen / Thomas Hieke, Die Bibel – das Buch der Bücher, Regensburg 2005. 12 Vgl. Christoph Böttigheimer, Die eine Bibel und die vielen Kirchen. Die Heilige Schrift im ökumenischen Verständnis, Freiburg i.Br. 2016. 13 Arnold Stadler, Warum toben die Heiden und andere Psalmen, Salzburg/Wien 1995; »Die Menschen lügen. Alle« und andere Psalmen, Frankfurt a.M. / Leipzig (1999) 92004. 14 Arnold Stadler, Salvatore, Frankfurt a.M. 2008. 15 Der Text, Introibo, ist geschrieben für den Eucharistischen Kongress in Köln 2013. 16 Das prägt sich der biblischen Anthropologie ein; vgl. Christian Frevel / Oda Wischmeyer, Menschsein. Perspektiven des Alten und des Neuen Testaments (NEB, Themen 11), Würzburg 2003.

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5,45), ob eine Wunde schwärt (Jer 10,19) oder eine Tote aufersteht (Mk 5,35–43 parr.): Alles, was geschieht, wird in der Bibel an vielen Stellen auf Gott selbst zurückgeführt, auf seinen Willen, sein Wirken, seinen Plan, seine Gerechtigkeit und seine Liebe17. Gott ist nicht der Konkurrent von Menschen, auch wenn Menschen sich oft genug als Konkurrenten Gottes sehen; er handelt für sie und an ihnen, aber nicht ohne sie, sondern mit ihnen und durch sie. Er wirkt in dem, was die Griechen »Natur« genannt haben und was für die Bibel Gottes Schöpfung ist18, kein feinmechanisches Uhrwerk, sondern ein lebendiger Organismus, dem Gott Leben einhaucht, Atemzug für Atemzug. Freilich stehen in der Heiligen Schrift nicht die Noten für »das Eiapopeia vom Himmel«, das Heinrich Heine, der große Liebhaber der Bibel, verspottet hat, »womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel«19. Die Bibel schärft vielmehr sub specie Dei den Sinn für die Ungerechtigkeit, für die Not und die Schuld der Menschen, für Verrat und Heuchelei, für die Notwendigkeit von Solidarität und Mitleid20. Die Bibel verschweigt nicht die Dunkelheit Gottes, der – durch den Mund des Propheten nach dem Buch Jesaja – sagt, dass er das Licht und die Finsternis erschafft, den Frieden und das Unheil (Jes 45,7)21. Die Bibel deckt an vielen Stellen das Ringen von Menschen mit Gott auf – sei es mit Jakob am Jabbok (Gen 32,23–33)22, sei es auf Hiobs Weg durch das Leid23, sei es bei Kohelets Skepsis24, sei es in der Bekehrung des Petrus25 oder in der Konversion des Paulus26. In der 17 Die schwierige, aber biblisch-theologisch essentielle Kategorie des Handelns Gottes verlangt eine fundamentaltheologische Diskussion; vgl. Roman A. Siebenrock / Christoph J. Amor (Hg.), Handeln Gottes. Beiträge zur aktuellen Debatte (QD 262), Freiburg i.Br. 2014. Ein guter Gesprächspartner ist Keith Wiard, Divine Action. Examining God’s Role in an Open and Emergent Universe, Philadelphia 2007. 18 Vgl. Bernd Janowski / Klaus Scholtissek, Art. Schöpfung, in: Angelika Berlejung / Christian Frevel (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 42015, 385–387. 19 Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. von Klaus Briegleb, München 1976, VII 577f. 20 Vgl. Agnes Wuckelt, Die Fesseln des Unrechts lösen, in: Katechetische Blätter 137 (2012) 108ff. 21 Zur Exegese dieser verstörenden Stelle vgl. Ulrich Berges, Jesaja 40–48 (HThKAT), Freiburg i.Br. 2008, 404ff. 22 Vgl. Hermann Spieckermann unter Mitarbeit von Susanne Dähn, Der Gotteskampf. Jakob und der Engel in Bibel und Kunst, Zürich 1997. 23 Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob, Freiburg i.Br. 2007. 24 Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Buch Kohelet. Studien zur Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie (BZAW 254), Berlin 1997. 25 Vgl. Markus Bockmuehl, The remembered Peter in ancient reception and modern debate (WUNT 262), Tübingen 2010; ders., Simon Peter in Scripture and Memory. The New Testament apostle in the early church, Grand Rapids 2012.

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Lektüre der Bibel kommt es darauf an, die vielen Leerstellen, die der Text lässt, nicht zuzukitten, sondern offenzulegen, die vielen Fragen, die er aufnimmt, nicht sogleich zu beantworten, sondern zunächst hören zu lassen, die vielen Zweifel, denen er Raum gibt, nicht zu verdächtigen, sondern zu verstehen. Es ist die Aufgabe der Exegese, die Augen beim Lesen gerade für diese Stellen im Buch der Bücher zu öffnen. Die Bibel will beim Lesen nicht ruhigstellen, sondern aufrütteln und den Weg zur Umkehr weisen. Sie lässt Gott als die entscheidende Bezugsgröße des irdischen Lebens hervortreten, das im Zeichen des himmlischen Lebens steht und deshalb bedroht wird, aber bewahrt werden soll. Zum Realismus der Bibel beider Testamente gehört, dass die Grenzen des Lebens nicht Adiaphora sind, sondern zur condition humaine gehören; das gilt am Ende auch für den Tod, der das ganze Leben überschattet. Also kommt es darauf an, sie anzunehmen, wo sie überschreiten zu wollen unmenschlich wäre, aber zugleich auf das Psalmwort zu setzen: »Mit meinem Gott überspringe ich Mauern« (Ps 18,10). Kontingenz und Providenz sind, biblisch betrachtet, zwei Seiten einer Medaille. Die Bibel als Ganze, im Kanonisierungsprozess aus theologischen Gründen komponiert27, hält freilich dafür, dass Gott selbst die Kraft und den Willen, das Herz und den Großmut hat, dort, wo Menschen die Verbindung zu ihm gestört oder gekappt haben, eine neue Beziehung zu stiften. Das geschieht nicht gegen den Willen der Menschen und des ganzen Volkes, aber zur Not, besser: zum guten Ende durch eine Herztransplantation, die das steinerne durch ein fleischernes Organ ersetzt (Jer 31,31–34)28. Diese Verbindung, so bezeugen es jedenfalls sehr viele Texte, lässt Gott nie abreißen, so wie auch die Verheißung der Erneuerung nicht auf den St. Nimmerleinstag verschoben, sondern immer neu wahrgemacht wird. Da aber die Menschen, wie die Bibel sie in vielen Ausschnitten zeigt, immer wieder sich von Gott trennen wollen, um selbst Gott sein zu können (Gen 3,5), kann jene Verbindung, die nie mehr gelöst werden wird, nur die Qualität einer neuen Schöpfung haben, einer Auferstehung von den Toten. Diese Option hat Jesus gezogen, wie die ersten Christinnen und Christen überzeugt sind. Er hat 26 Vgl. Oda Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB), Göttingen 22012. 27 Zum Prozess der Kanonisierung vgl. für den hebräischen Kanon Stephen B. Chapman, The Law and the Prophets. A Study in Old Testament Canon Formation (FAT 27), Tübingen 2000; für das Alte Testament Roger T. Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism, Grand Rapids 1985; für die Seputaginta Mogens Müller, The First Bible of the Church. A Plea for the Septuagint (JSOTS 206), Sheffield 1996; für das Neue Testament Hermann von Lips, Der neutestamentliche Kanon (ZGB), Zürich 2004. 28 Zur Auslegung vgl. Georg Fischer, Jeremia 26–52 (HThKAT), Freiburg i.Br. 2005, 172–176.

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damit, so die Evangelien, das aufgenommen, was tief in der Verheißungsgeschichte Israels, in der Bindung Gottes an die Erzeltern angelegt ist, die für ihn nicht tot sind, sondern leben, wenn er sich mit ihren Namen offenbart und anrufen lässt (Mk 12,18–27 parr.). Deshalb findet sich, speziell im Neuen Testament, in den Spuren alttestamentlicher Affirmationen der Heilsgegenwart, die Zusage des ewigen Lebens, also einer Verbundenheit mit Gott, die nicht zerbricht, selbst wenn ein Mensch stirbt – nicht deshalb, weil die humane Moralität unangefochten wäre, sondern weil Gottes Liebe unbedingt in dieses irdische Leben Eingang gefunden hat. Die spannungsreichen Verbindungen mit Gott, die in der Bibel angebahnt und aufgedeckt werden, entstehen nicht durch die Bibel selbst, sondern durch das, worauf sie im Leben der Menschen und des Gottesvolkes hinweist: auf das Gebet und den Gottesdienst, im Neuen Testament besonders auf die Taufe und die Eucharistie, aber auch auf die Taten der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, der Solidarität und Anerkennung, nicht zuletzt auf die Herzensbildung und die Verbindung der Selbstliebe mit der Gottes- und der Nächstenliebe29. b)

Die Beziehungen zwischen Israel und der Kirche

Im Zusammenhang mit der Einzigkeit Gottes gibt es ein zweites Thema, bei dem viele Texte der Bibel um die Einheit kämpfen: das Volk Gottes. Auch dessen Einheit ist nicht Uniformität; Gottes Volk ist kein monolithischer Block. Von Anfang an wird es – der kanonischen Überlieferung zufolge – aus zwölf Stämmen gebildet. In neutestamentlicher Zeit wird die Symbolik der Zwölf als Indikator der Ganzheit so wichtig, dass Jesus zwölf Jünger zu einem besonderen Kreis erwählt hat (Mk 3,14–19 parr.), nach Lukas zu dem seiner Apostel. Die Assoziation der Zwölf ist die Fülle, die Abrundung, die Zusammengehörigkeit. Die Zahl markiert eine Einheit, die in der Vielfalt besteht, und eine Vielfalt, die zur Einheit findet. Die Jakobsgeschichte, an der die Zahl haftet30, hält die Erinnerung an den Bruderstreit fest, zuerst mit Esau, dann unter den zwölf Brüdern, die nur durch den Großmut Josephs versöhnt werden konnten. In der frühjüdischen Literatur werden diese Spannungen aufgenommen. Sie spiegeln eine zerrissene Geschichte und verbünden sich mit der Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Wunden geheilt werden können31. 29 Vgl. Thomas Söding, Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments, Freiburg i.Br. 2016. 30 Vgl. Jean Daniel Macchi, Israel et ses tribus selon Genese 49 (OBO 171), Göttingen 2000. 31 Das erste Thema bearbeitet das Buch der Jubiläen; vgl. Klaus Berger, Das Buch der Jubiläen (JSHRZ II/3); Gütersloh 1981 (dort auch zur verwickelten Überlieferungsge-

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Die alttestamentlichen Geschichtsbücher stellen dar, wie diese gottgewollte Einheit im Lauf der Zeit zerbrochen ist, aber die Erinnerung an einen von Gott gestifteten Ursprung immer wieder wachgerufen worden ist, der nicht nur die Vergangenheit bestimmt hat, sondern ebenso die Zukunft bestimmen wird und deshalb auch die zerrissene Gegenwart zu heilen imstande sein soll. Noch in der Kristallisation eines heiligen Restes ist contra spem die Perspektive einer künftigen Größe, einer kommenden Erneuerung, einer glanzvollen Einigung angelegt32. Dass sie sich auf der Ebene der politischen Ereignisgeschichte nicht einstellt, ist eine bittere Einsicht, die sich in vielen prophetischen Analysen Bahn bricht. Aber die negativen Erfahrungen hindern nicht, im Tempel einen Ort zu sehen, da sich die Vergebung der Sünden, die Heilung der Wunden, die Einigung der Zerstrittenen darstellt, mag er auch zerstört sein und nur in der Erinnerung bestehen33. Nicht zuletzt finden sich im Gebet Formen, da die ersehnte Einheit sich zeigt, sei es auch nur den Betenden selbst34. Im Neuen Testament ist die Einheit der Kirche ähnlich stark betont wie die Einheit Israels im Alten Testament35. Ebensowenig wie dort ist hier Einheit mit Uniformität gleichzusetzen. Das paulinische Leitwort heißt koinonia (1Kor 10,16f.)36. Es begreift eine Einheit, die aus gemeinsamer Teilhabe vieler entsteht: an Jesus Christus selbst und durch ihn im Heiligen Geist an Gott. Dass es nur eine Taufe gibt – für Männer und Frauen, für Juden und Griechen, für Sklaven und Freie (Gal 3, 26ff.; 1Kor 12,13; Kol 3,12) – und nur eine Eucharistie, wann und wo immer sie gefeiert wird (1Kor 11,23–26), sind die deutlichsten Indikatoren dieser Einheit, die nichts reduziert und stranguliert, aber alles konzentriert: auf Jesus Christus und durch ihn auf Gott. Das Bild der Kirche als »Leib Christi« (1Kor 12,13–27) oder als »Leib in Christus« schichte mit Quellen in hebräischer, griechischer und äthiopischer Sprache). Das zweite Thema bearbeiten die »Testamente der Zwölf Patriarchen«, die Gen 49 fortschreiben; vgl. Marinus de Jonge / Harm W. Hollander / Henk Jan de Jonge / Theo Korteweg, The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I/2), Leiden 1978. 32 Die Verluste sind damit allerdings nicht schon wieder ausgeglichen; vgl. Rolf Rendtorff, Israels »Rest«. Unabgeschlossene Überlegungen zu einem schwierigen Thema der alttestamentlichen Theologie, in: Axel Graupner u.a. (Hg.), Verbindungslinien. Festschrift für Werner H. Schmidt, Neukirchen-Vluyn 2000, 265–279. 33 Vgl. Othmar Keel / Erich Zenger (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zur Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels (QD 191), Freiburg i.Br. 2002. 34 Vgl. Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013. 35 Vgl. Gerhard Lohfink, Braucht Gott die Kirche? Zur Theologie des Volkes Gottes, Freiburg i.Br. 1998. 36 Vgl. einerseits Josef Hainz, Koinonia. »Kirche« als Gemeinschaft bei Paulus (BU 16), Regensburg 1982 (allerdings nur auf die Ortsgemeinde bezogen); andererseits Ettore Franco, Comunione e partecipazione. La koinônia nell’epistolario paolino, Brescia 1986 (der die communio nicht nur lokal gedacht sieht).

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(Röm 12,3ff.) deckt auf, dass die Einheit nicht trotz der Vielfalt der Glieder, sondern durch sie entsteht und dass die Vielfalt nicht etwa der Einheit widerspricht, sondern aus ihr folgt, weil der eine Geist viele Gaben schenkt und sie zur Zusammenarbeit führt, damit sie anderen nützen können (1Kor 12,3–11)37. So sehr der Apostel auf die Versöhnung innergemeindlicher Konflikte setzt (1Kor 1–4)38 und auf die Befriedung von Streit zwischen ihm und einer Gemeinde (2Kor 2,5–11), so wenig scheut er Auseinandersetzungen, um für den Frieden zu kämpfen39. Paulus spricht sogar von einem Zusammenstoß mit Petrus in Antiochia (Gal 2,11–14), als der die Tischgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen aufkündigte, Paulus aber um jene Einheit der Kirche kämpfte, die gerade auf dem Apostelkonzil besiegelt worden war (Gal 2,1–10)40. Die lebendige Einheit der Kirche, um die Paulus kämpft, ist nicht nur in seinen Briefen mit einer Vielfalt an Biographien, Lebensstilen und Traditionen verknüpft, sondern ebenso in der Apostelgeschichte. Sie baut das Duo Petrus und Paulus zu jenem Gegenüber auf, das für die Entwicklung der Kirche prägend geworden ist41; sie gibt Stephanus42 und Philippus43 Raum; sie erwähnt Priska und Aquila44, Barnabas45 und Apollos46, die, wie viele andere, in der ersten Reihe der Glaubenszeugin37 Vgl. Thomas Söding, Der Leib Christi. Das paulinische Kirchenbild und seine katholische Rezeption im ökumenischen Blick der Moderne, in: Wilhelm Damberg / Ute Gause / Isolde Karle / Thomas Söding (Hg.), Gottes Wort in der Geschichte. Reform und Reformation der Kirche, Freiburg i.Br. 2015, 96–130. Die ambivalente Wirkungsgeschichte zeigt die Gefahr des Integralismus, aber auch die Chance, eine qualifizierte Vielfalt einzelner und gemeinschaftlicher Gaben zu erkennen. 38 Vgl. Peter Lampe, Die Parteien in Korinth (1Kor 1–4), in: Lukas Vischer / Ulrich Luz / Christian Link, Ökumene im Neuen Testament und heute, Göttingen 2009, 123f. 39 Vgl. Thomas Schmeller, Kreuz und Kraft. Apostolisches Durchsetzungsvermögen nach 1 und 2Kor, in: Wilfried Eisele (Hg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum. Festschrift für Michael Theobald (HBS 74), Freiburg i.Br. 2013, 241–263. 40 Vgl. Thomas Söding, Apostel gegen Apostel. Ein Unfall im antiochenischen Großstadtverkehr (Gal 2,11–14), in: Reinhard von Bendemann / Markus Tiwald (Hg.), Das frühe Christentum und die Stadt (BWANT 198), Stuttgart 2012, 92–113. 41 Vgl. Franz Mußner, Petrus und Paulus – Pole der Einheit (QD 76), Freiburg i.Br. 1976. 42 Vgl. Klaus Haacker, Stephanus. Verleumdet, verehrt, verkannt (Biblische Gestalten 28), Leipzig 2014. 43 Vgl. Axel von Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze (TANZ 30), Tübingen 2000. 44 Vgl. Peter Dschulnigg, Priska und Aquila. Ein missionarisches Ehepaar im Neuen Testament, in: Rüdiger Althaus (Hg.), Kirchenrecht und Theologie im Leben der Kirche. Festschrift für Heinrich J.F. Reinhardt , Essen 2007, 493–501. 45 Vgl. Markus Öhler, Barnabas – Der Mann der Mitte (Biblische Gestalten 12), Leipzig 2005. 46 Vgl. Heinz Giesen, Von Täufer- und Jesusanhängern zum Glauben an Christus. Apollos und die zwölf Jünger in Ephesus (Apg 18,24 – 19,7), in: Rudolf Hoppe (Hg.),

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nen und -zeugen stehen, um je mit ihren Gaben und Möglichkeiten für das Evangelium zu werben. Lukas zeichnet nach, wie Juden- und Heidenchristen ihre Konflikte ausgetragen, aber auch einen modus vivendi gefunden haben, der durch Respekt und Anerkennung getragen ist, sodass ein jüdisches Leben in der Kirche möglich geblieben ist, ohne dass die Heidenchristen ihre Freiheit einbüßen mussten47. Er hat ein Auge für die Lebensentwürfe selbstbewusster Frauen von Lydia48 bis zu den Töchtern des Philippus (Apg 21,9), von Maria, der Mutter Jesu (Apg 1,14), bis zu Maria, der Mutter des Johannes Markus, Gastgeberin der Urgemeinde in Jerusalem (Apg 12,12). Lukas verschweigt nicht, dass es gleich zu Anfang auch eine katastrophale Konfrontation gegeben hat, die nicht befriedet werden konnte, sondern mit einem Gottesgericht beendet wurde (Apg 5,1–11)49, und dass es selbst zwischen Paulus und Barnabas zum Krach gekommen ist, weshalb beide getrennte Wege gegangen sind (Apg 15,36–41). Er stellt aber auch den Streit um die Witwenversorgung in der Urgemeinde als Beispiel hin, wie durch eine gute Aufgabenkritik und eine gemeinsame Anstrengung eine einvernehmliche Lösung gefunden werden konnte (Apg 6,1–7)50. Ein wunder Punkt ist für viele neutestamentliche Schriften aber das Verhältnis zu der großen Mehrheit jener Juden, die nicht an Jesus glauben51. Im Rückblick zeigt sich in allen Evangelien, besonders bei Matthäus und Johannes, dass Jesus oft und gerne in harten Kämpfen mit jüdischen Protagonisten, besonders mit Pharisäern52 und Sadduzäern, gezeigt wird53. Der Apostelgeschichte zufolge setzen sich die Konflikte nachösterlich fort, in der Diaspora auch mit Repräsentanten lokaler Synagogen. Für Paulus ist das Nein der Juden zu Christus, das ein Ja zu Lukas – Paulus – Pastoralbriefe. Festschrift für Alfons Weiser (SBS 230), Stuttgart 2014, 129–143. 47 Vgl. Markus Öhler (Hg.), Aposteldekret und antikes Vereinswesen. Gemeinschaft und ihre Ordnung (WUNT 280), Tübingen 2011. 48 Vgl. Eva Eibel, Lydia und Berenike. Zwei selbständige Frauen bei Lukas (Biblische Gestalten 20), Leipzig 32012. 49 Den Kontrast zu den ungerechten Prozessen vor dem Hohen Rat sieht Boris Repschinski, Warum mussten Hananias und Saphira sterben?, in: Protokolle zur Bibel 18 (2009) 49–61. 50 Vgl. Gerd Theißen, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung der Urgemeinde?, in: Hermann Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion III: Frühes Christentum. Festschrift für Martin Hengel, Tübingen 1996, 323–343. 51 Umfassend dargestellt in: Päpstliche Bibelkommission, Das Jüdische Volk und seine Heilige Schrift im Licht der christlichen Bibel. 24. Mai 2001, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 152), Bonn 2001. 52 Vgl. Mary Marshall, The Portrayals of the Pharisees in the Gospels and Acts (FRLANT 254), Göttingen 2015. 53 Vgl. Günter Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Fragen. Fakten. Hintergründe, Stuttgart 2013.

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Gott sein soll (Röm 10,2), eine Anfechtung sondergleichen (Röm 9,2f.). Die harte Polemik, die – von neutestamentlicher Seite aus einseitig – die Differenzen zuspitzt54, hat ein Gutes: dass die Glaubensdifferenzen nicht verschleiert werden und dass herauskommt, um wie viel es geht. Sie kann aber weder historisiert noch theologisch normiert werden. Die erzählten und besprochenen, die zugespitzten und hochgestochenen Kontroversen, die sich allesamt um den Tod und die Auferstehung, die Heilsbedeutung und die Gottessohnschaft Jesu, dann um die Völkermission und die Kirchengründung drehen, haben eine wesentliche Voraussetzung: dass im Urchristentum dieselben »heiligen Schriften« wie im zeitgenössischen Judentum gelesen worden sind und als kanonisch gegolten haben55. Deshalb gibt es Auseinandersetzungen um das rechte Verständnis der Heiligen Schrift. Das exegetische Methodenspektrum ist identisch; das hermeneutische Vorzeichen macht den Unterschied: die Auslegung »in« Jesus Christus, »mit« ihm und »auf ihn hin« oder ohne ihn, möglicherweise gar gegen ihn. Mit der Heiligen Schrift teilen die jüdischen und christlichen Bewegungen der Anfangszeit, die starke Schnittmengen und Schnittstellen kennt, den Glauben an den einen Gott, die Propagierung des Gesetzesgehorsams, die zentrale Stellung Jerusalems, die Verwurzelung der Gegenwart in der Geschichte der Erzeltern, die Psalmen und vieles andere mehr. Den Unterschied macht die Christologie, die für die an Jesus Christus Glaubenden nicht nur das Gottesbekenntnis und die Gottesliebe, sondern auch die Liturgie, die Diakonie und die Katechese prägt. Aus der gemeinsamen Schrift und der unterschiedlichen Hermeneutik folgt im Zuge der Kanonisierung, die am besten als eminente Rezeption zu verstehen ist56, die Zweiteilung der christlichen Bibel in das Alte und das Neue Testament57. Diese Bibel bildet insofern eine Einheit, als sie – besonders in der katholischen Gestalt ihres Kanons, mit den integrierten deuterokanonischen (bzw. »apokryphen«) Büchern – eine große Erzählung bildet, die vom ersten zum himmlischen Paradies in der heiligen Stadt Jerusalem führt, die vom Himmel auf die Erde kommt, weil nach dem Sündenfall die Irrungen und Wirrungen, die jenseits von Eden stattfinden, durch die Sendung des Sohnes Gottes Orientierung am Reich Gottes finden. Aus diesem Grund ist eine dialogische Hermeneutik angezeigt, die nicht nur das Alte Testament im Licht des Neuen 54 Vgl. Oda Wischmeyer / Lorenzo Scornaienchi (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur (BZNW 170), Berlin 2011. 55 Vgl. Christoph Dohmen / Günter Stemberger, Hermeneutik der jüdischen Bibel und des christlichen Alten Testaments, Stuttgart 1996. 56 Vgl. Jean-Marie Auwers / Henk Jan de Jonge (Hg.), The Biblical Canons (BEThL CLXIII), Leuven 2003. 57 Vgl. Christoph Dohmen / Thomas Söding (Hg.), Eine Bibel – Zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie (UTB 1893), Paderborn 1995.

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Testaments, sondern ebenso das Neue Testament im Licht des Alten Testaments deutet – und diesen Prozess nicht beendet, sondern immer neu beginnt. Aus neutestamentlicher Sicht besteht eine wesentliche Aufgabe darin, das Verhältnis der Kirche zu Israel zu klären. In der Breite der Schriften gibt es keinen Zweifel, dass sich die Jüngerschaft wie Jesus selbst in der Geschichte des Gottesvolkes Israel verwurzelt weiß; aus genau diesem Grund wird die »Schrift« im Neuen Testament als Urkunde des Glaubens gelesen. In nicht wenigen Texten wird auch die Hoffnung laut, dass Gott selbst, wenn er seine Herrschaft vollendet, seine Verheißungen wahrmacht und »ganz Israel« retten wird (Röm 11,26); zwar hat nur Paulus diese Erwartung so auf den Punkt formuliert, sie ist aber in der synoptischen Theologie der Basileia58 und der johanneischen Theologie der Agape angelegt59. Am schwersten ist es dem Urchristentum gefallen, die Konflikte der Gegenwart in ein Verhältnis zum eigenen Glauben zu setzen. Die Option, im Judentum eine Alternative zu sehen, die genauso wie die Christusnachfolge, nur anders dem Willen Gottes entspricht, schien wegen des Bekenntnisses verbaut. Die Beobachtung, dass die erzählten und inszenierten Kontroversen der eigenen Orientierung dienen, erschließt sich nur auf einer Metaebene. Deshalb muss mit dem Neuen Testament über die Bibel hinausgegangen werden, wenn die Exegese der Geschwisterliebe zwischen Juden und Christen dienen soll. c)

Die Beziehungen zwischen den Menschen

Aus der Theozentrik, die dem Kanon den Stempel aufgedrückt hat, folgt von der ersten bis zur letzten Seite der christlichen Bibel eine Anthropologie der Gottebenbildlichkeit, die nicht nur alle Gegensätze zwischen Mann und Frau überformt, sondern auch allen Unterschieden der Herkunft und Bildung, der Gesundheit und Sittlichkeit, des Alters und Berufes vorgelagert ist60. In der zweiten Schöpfungsgeschichte ist die Einheit des Menschen als Gottes Geschöpf durch die Erzählung von der Erschaffung Adams und Evas vorgezeichnet (Gen 2,20–24). In der Geschichte jüdischer wie christlicher Theologie ist sie zwar oft als Begrün58 Schlüsselverse sind die Aufnahmen von Ps 118,26 in Mt 23,39 par. Lk 13,35; auch das Motiv der Verstockung, das weit verbreitet ist (Mk 4,10–12 parr.), zielt nach Jes 6 nicht auf Verdammnis, sondern paradox auf Vergebung. 59 Hier lautet die Schlüsselfrage, ob die Dualismen, die sich auch in der Kritik an den »Juden« zeigen, eine Begrenzung oder ein Instrument des Heilsuniversalismus sind; für den Primat der Befreiung plädiert Enno E. Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften. Studien zur Semantik der Liebe und zum Motivkreis des Dualismus (WUNT II/197), Tübingen 2005. 60 Vgl. Christian Frevel (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg i.Br. 2010.

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dung für die Unterordnung der Frau gedeutet worden, weil Adam als Mann und die Frau, die aus seiner Seite (oft: Rippe) geformt worden sei, als seine Gehilfin gedacht worden ist. Aber in der ursprünglichen Form begründet sie gerade nicht eine patriarchalische Geschlechterhierarchie, sondern die genuine Einheit von Mann und Frau – und dies nicht wie im platonischen Mythos, der eine ursprüngliche Zweigeschlechtlichkeit sekundär in ein männliches und ein weibliches Wesen aufgespalten sieht, sondern im Duktus der Genesis (vgl. Gen 1,26f.), die das volle Menschsein sowohl jeder Frau als auch jeden Mannes begründet (das Phänomen Transgender berührt die Bibel nicht). Aus dieser Schöpfungstheologie ergibt sich die Berufung zur Einheit, die die Zweigeschlechtigkeit nicht aufhebt, sondern fruchtbar werden lässt: »Darum wird der Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und sie werden ein Fleisch sein« (Gen 2,24). Diese Stelle61 wird oft so gedeutet, dass die Ehe zur Schöpfungsordnung gehört, auch wenn Polygamie über weitere Strecken des Alten Testaments vorausgesetzt ist und die Tora die Ehescheidung zu konzedieren scheint (Dtn 24,1–4). Jesus geht nach den Synoptikern auf gerade diese Stelle zurück, um die Monogamie als Konsequenz des Monotheismus auszuweisen, die Ehescheidung aber als Konzession an die Hartherzigkeit zu erweisen (Mk 10,2–12 parr.)62. Im Epheserbrief wird dieser Ansatz so weitergeführt, dass die Liebe Jesu zur Kirche in der Liebe zwischen Mann und Frau dargestellt wird (Eph 5,31f.)63. Paulus stellt klar, dass die Ehe keine Zwangsjacke sein darf, sondern eine Lebensform des Glaubens sein soll und deshalb auch um des Glaubens willen aufgelöst werden kann (1Kor 7,15f.)64. Dadurch holt er die Freiheit des Glaubens in die Gestaltung des Familienlebens hinein, das in der Antike den Alltag wie die Festtage dominierte65. Die Familien 61 Zur traditionsgeschichtlichen Einordnung vgl. Ruben Zimmermann, »… und sie werden ein Fleisch sein«. Gen 2,24 in der frühjüdischen und urchristlichen Rezeption, in: Axel von Dobbeler / Kurt Erlemann / Roman Heiligenthal (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. Festschrift für Klaus Berger, Tübingen/Basel 2000, 533–568. 62 Vgl. Markus Tiwald, APO DE ARCHS KTISEWS … (Mk 10,6): Die Entsprechung von Protologie und Eschatologie als Schlüssel für das Tora-Verständnis Jesu, in: Ulrich Busse / Matthias Reichardt / Michel Theobald (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung. Festschrift für Rudolf Hoppe (BBB 166), Göttingen 2011, 367–380. 63 Vgl. Gerhard Sellin, Der Brief an die Epheser (KEK 8), Göttingen 2008, 455f. 64 Vgl. Thomas Söding, In favorem fidei. Die Ehe und das Verbot der Ehescheidung in der Verkündigung Jesu, in: Markus Graulich / Martin Seidnader (Hg.), Zwischen Jesu Wort und Norm. Kirchliches Handeln angesichts von Scheidung und Wiederheirat (QD 264) Freiburg i.Br. 2014, 48–81. 65 Vgl. André Burguiere, Histoire de la famille I: Mondes loantains, mondes anciens, Paris 1986; Wilfried Schmitz, Haus und Familie im antiken Griechenland (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike 1), München 2007; Tanja S. Scheer, Griechische Ge-

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werden nicht zerstört – ihr Zusammenhalt wird neu gestiftet. Im Judentum sichert das Vierte Gebot die Solidarität der Generationen66; im frühen Christentum ist es übernommen und ähnlich wie im Diasporajudentum auf die Verhältnisse einer religiösen Minderheit übertragen worden. Durch den missionarischen Impetus entsteht eine starke Dynamik, die einerseits eine theozentrisch bestimmte Öffnung, andererseits aber eine ethisch-theologisch neue Sozialisierung ermöglicht67. Über die Familie hinaus führt die Ethik der Nächstenliebe68. Sie stiftet Verbindungen im Nahbereich, auch wo die Beziehungen gestört sind oder nur durch Kritik und Widerspruch verbessert werden können. Die Begründung ist theologisch: Gottes Heiligkeit strahlt aus, indem sie Israel heiligt (Lev 19,1f.17f.); im Neuen Testament wird dieser Ansatz basileia- und rechtfertigungstheologisch transponiert (Mk 12,28–34 parr.; Röm 13,8ff.; Gal 5,13f.). Die Konzentration auf den Nächsten löst im Ansatz das Problem der Priorisierung, das jede Ethik kennt. Martin Buber kommentierte: »mit denen du es je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst.«69 In erster Linie sind dies nach Lev 19 die Mitglieder des Gottesvolkes; dem entspricht im Neuen Testament die Konzentration auf die Mitglieder der Kirche. Sie hat einerseits eine religiöse Dimension, weil sie sich letztlich durch Gottes Berufung in sein Volk ergibt; sie hat aber andererseits auch eine soziale Funktion, weil vorrangig die Nahbeziehungen gestaltet werden müssen, insbesondere, wenn sie belastet sind. Die Ausweitungen folgen derselben Logik der Verantwortung. Die »Fremden«, auf die bereits das Heiligkeitsgesetz das Gebot der Nächstenliebe anwendet (Lev 19,34), sind Menschen, die seit langem im Lande leben, wenngleich nicht als geborene Juden 70. Die griechische Übersetzung lässt die Proselyten in den Blick treten, die von außen stammten und nicht von allen autochthonen Juden gleichermaßen willkommen geheißen wurden71. schlechtergeschichte (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike 11), München 2011; Judith Evans Grubbs, Women and the Law in Roman Empire. A Sourcebook on Marriage, Divorce and Widowhood, London 2002; Michel L. Satlow, Jewish Marriage in Antiquity, Princeton 2001. 66 Vgl. Werner H. Schmidt / Holger Delkurt / Axel Graupner, Die Zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik (EdF 281), Darmstadt 1993. 67 Vgl. Larry Siedentop, Inventing the Individual. The Origins of Western Liberalism, London 2014. 68 Vgl. Thomas Söding, Nächstenliebe. Gottes Gebot als Verheißung und Anspruch, Freiburg i.Br. 2015. 69 Martin Buber, Zwei Glaubensweisen (1950), in: ders., Werke I, München/Heidelberg 1962, 651–782, hier 701f. 70 Vgl. Thomas Hieke, Levitikus 16–27 (HThKAT), Freiburg i.Br. 2014, 755–759. 71 Vgl. Otto Kaiser, Von Ortsfremden, Ausländern und Proselyten. Der Umgang mit den Fremden im Alten Testament, in: ThPQ 157 (2009) 268–282.

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Die »Feinde«, die zu lieben Jesus nach der Berg- und der Feldpredigt auffordert (Mt 5,38–48 par. Lk 6,27–36)72, sind gleichfalls nahe: weil sie unmittelbar Gewalt ausüben und Unrecht tun. Sie zu lieben, ist deshalb ein Gebot, weil Gott ihnen seine Liebe schenkt, was allein daran erkannt werden könne, dass sie leben. Diese Liebe Gottes verwischt aber nicht, wie Jesus oft kritisiert wird, den Unterschied zwischen Gut und Böse73, sondern weckt gerade die Kraft, in eine Auseinandersetzung mit dem Bösen zu gehen, die nicht auf dem Prinzip der Vergeltung, sondern auf der Praxis kreativer, freilich auch leidensfähiger Barmherzigkeit beruht. Der Kanon hält das Liebesgebot in seinen diversen Facetten fest. Er dokumentiert nicht, wie Gotthold Ephraim Lessing meinte, eine »Erziehung des Menschengeschlechts« vom alttestamentlichen Partikularismus zum neutestamentlichen Universalismus74; so, wie er gewachsen ist, zeigt er vielmehr in einer Fülle von unterschiedlichen Anknüpfungspunkten, Beispielen, Motivationen und Begründungen die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, wie von der Jesustradition her geurteilt werden kann (Mk 12,28–34 parr.). Einmal wird das alltägliche Zusammenleben, einmal die besondere Herausforderung akzentuiert; durchweg ist die Ethik theozentrisch orientiert; durchweg ist sie personal und ekklesial konkretisiert; immer wieder wird sie über die Glaubensgemeinschaft hinaus geöffnet75. Im Neuen Testament wächst (nicht unbedingt auch die Praxis, aber) die Programmatik der Agape, weil sie interkulturelle Beziehungen stiften kann76, während im Alten Testament das Netzwerk der Gebote und ihrer Auslegung Halt gibt und Bewegung verschafft. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die im Namen Gottes aufgenommen und gestaltet, womöglich aber auch beendet werden sollen, beziehen sich der Bibel zufolge nicht nur auf das individuelle, sondern auch auf das politische Leben. Die Sphäre der Politik ist allerdings zu biblischen Zeiten nicht im modernen Sinn gefüllt, weil Herrschaft nicht wesentlich funktional, sondern religiös bestimmt ist77. Überdies unter72 Moraltheologisch erschlossen von Eberhard Schockenhoff, Die Bergpredigt. Aufruf zum Christsein, Freiburg i.Br. 2014. 73 So unter anderem (mit höchsten Respekt) Jacob Neusner, A Rabbi Talks with Jesus. An Intermillenial Interfaith Exchange, New York 1993. 74 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), in: ders., Werke in sechs Bänden VI, Köln 1965, 52–77. 75 Vgl. zur alttestamentlichen Ethik Eckart Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments (ThW 3/2), Göttingen 1994; zur neutestamentlichen Eduard Lohse, Theologische Ethik des Neuen Testaments (ThW 5/2), Göttingen 1988. 76 Vgl. Oda Wischmeyer, Liebe als Agape. Das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs, Tübingen 2015. 77 Vgl. Jan Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 3 2006; ders., Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000.

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scheiden sich die Verhältnisse im Alten Testament, das wenigstens in Teilen auf eine israelische Königsherrschaft im eigenen Land blickt, deutlich von denen im Urchristentum, das keine politische Macht hat, sondern aufbricht, um in aller Welt das Evangelium zu verbreiten, unabhängig vom politischen System78. Im Alten Testament gelingt die Unterscheidung, dass kein König Gott ist79, also jeder König ein sterblicher Mensch ist (Weish 7,1–6), der nur dank Gottes Hilfe den Herrschaftsauftrag in Weisheit und Gerechtigkeit auszuüben vermag (Weish 9,1–19), wie Salomo es der Überlieferung nach vorbildlich ausdrückt80. Diese Linie zieht das Neue Testament weiter aus, muss sich aber auf die Machtstrukturen des Imperium Romanum und seiner Nachbarn einstellen, jenseits von Opportunismus und Fundamentalopposition81. Auf einer anderen als der ethischen Ebene liegt die Frage, wie im Gottesvolk die Beziehungen zu den anderen Völkern gesehen werden: welche Auseinandersetzungen als notwendig erscheinen und welche Verbindungen geknüpft werden. Sowohl im Alten82 wie auch im Neuen Testament begründet die Überzeugung, eine besondere Sendung von Gott erhalten zu haben, die Notwendigkeit einer Unterscheidung von den Völkern, den »Heiden«, und der »Welt«. Diese Differenz ist um des Bekenntnisses zum einen Gott willen notwendig; sie führt zu spezifischen Riten und zu einem profilierten Lebensstil. Sie evoziert Ablehnungen aus der Umwelt, aber auch Nachfragen und Interessen; auf alles muss angemessen reagiert werden. Was als angemessen gilt, ist strittig. Im Alten wie im Neuen Testament gibt es diverse Positionen, die sich teils aus stark wechselnden Herausforderungen der Zeit, teils aus unterschiedlichen theologischen Optionen und Denkformen ergeben. Im Neuen Testament ist der missionarische Ansatz prägend geworden. Während innerkirchlich durchaus mit harten Bandagen gekämpft werden kann (Gal 1,6–9; 2/3Joh; Jud) und in der Rhetorik zwischen »Einst« und »Jetzt«, »Drinnen« und 78 Vgl. Paul Mikat. Konflikt und Loyalität. Bedingungen für die Begegnung von früher Kirche und römischem Imperium (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 402), Paderborn 2005. 79 Diese aufklärerische Differenzierung prophetischer Theologie unterläuft Jan Assmann, Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016. 80 Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, »Die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit leiten«. Zur Auslegung von Gen 1,26–28 in Weish 9,1–3, in: Stefan Fischer (Hg.), Weisheit und Schöpfung. Festschrift für James Alfred Loader, Frankfurt a.M. 2009, 211– 229. 81 Grundlegend: Wolfgang Schrage, Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament, Gütersloh 1971. Pauluskritisch positioniert sich Stefan Krauter, Studien zu Röm 13,1–7. Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit (WUNT I/243), Tübingen 2009. 82 Eine kritische Phase beleuchtet Thomas Willi, Israel und die Völker. Studien zur Literatur und Geschichte Israels in der Perserzeit (SBAB 56), Stuttgart 2012.

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»Draußen«, »Richtig« und »Falsch« gerne schwarz-weiß plakatiert wird, ist doch an vielen Stellen das Interesse ausgebildet, nicht nur möglichst effektive Formen der Evangeliumsverkündigung zu finden, die sich auf die Gegebenheiten vor Ort einlassen, sondern auch im Aufbruch zu den Völkern das Evangelium selbst im Dialog neu zu entdecken: wie weit Gottes Gnade reicht; wie nahe Gott denen ist, die nicht an ihn glauben; wie gut das Evangelium in der Sprache derer klingt, die zu Hörern des Wortes werden sollen83. Die Kirche, die klein anfängt, aber groß herauskommen will, ist dadurch konstituiert, dass sie eine Kirche für alle ist; deshalb ist sie vielsprachig, vielfältig und vielversprechend – jedenfalls will sie dies um Gottes willen sein, folgt man den neutestamentlichen Schriften. Im Alten Testament steht die Verheißung an Abraham, sein Nachkomme werde ein »Segen« sein für alle Völker (Gen 12,3), bestimmend am Anfang der Erzelterngeschichte84. Der Weg Israels unter den Völkern vollzieht sich, selbst wenn Abgrenzungen gesucht werden, in diesem Rahmen. Er wird in der Weisheit gefüllt, wenn sie ihre Internationalität ausspielt85, und in der Prophetie, wenn der Blick dafür geöffnet wird, dass der eine Gott auch der Gott der Ägypter und Assyrer ist (Jes 19,25)86 und die Hoffnung auf eine eschatologische Wallfahrt der Völker auflebt, die am Ende die Gegensätze auflöst, weil Gott allein von allen die Ehre gegeben wird (Jes 2,1–5; 45,15–24; Mi 4,1–3 u.ö.)87. 3.

Navigationskünste

So vielseitig und farbenprächtig die Bibel ist, so genau muss sie ausgelegt werden. Im antiken Judentum und Christentum galt die Allegorie 83 Auf einer Metaebene reflektiert von Knut Backhaus, Religion als Reise. Intertextuelle Lektüren in Antike und Christentum, Tübingen 2014. 84 Vgl. Andre Flury-Schölch, Abrahams Segen und die Völker. Synchrone und diachrone Untersuchungen zu Gen 12,1–3 unter besonderer Berücksichtigung der intertextuellen Beziehungen zu Gen 18; 22; 26; 28; Sir 44; Jer 4 und Ps 72 (FzB 115), Würzburg 2007. 85 Die »Worte von Weisen«, die in Spr 22,17 – 24,33 gesammelt sind, folgen im ersten Teil (Spr 22,17 – 23,11) im Wesentlichen wörtlich einer ägyptischen Sammlung, dem Weisheitsbuch des Amen-em-ope, das aus dem 10. Jh. v.Chr. stammt; im Buch der Sprichwörter wird es mit dem Glauben an den einen Gott kompatibel gemacht, aber in der Substanz nicht verändert. Die Worte Agurs (Spr 30) und Lemuels (Spr 31) zeigen nicht nur sprachliche Anklänge ans Aramäische, die lingua franca des Alten Orients, sondern sind auch in »Massa« lokalisiert, einem arabischen Ort. 86 Vgl. Stephan Lauber, »JHWH wird sich Ägypten zu erkennen geben, und die Ägypter werden an jenem Tag JHWH erkennen« (Jes 19,21). Universalismus und Heilszuversicht in Jes 19,16–25, in: ZAW 123 (2011) 368–390. 87 Vgl. Michael P. Meier, Völkerwallfahrt im Jesajabuch (BZAW 374), Berlin 2016.

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als hohe Kunst der Exegese, weil der geistige Sinn die Gegenwartsbedeutung des Textes zu erschließen schien und zugleich die Vielfalt der Texte auf den Glauben der einen Kirche beziehen sollte88. Auf diese Weise entstand ein grandioses Panorama schriftgemäßer Theologie, die vom Blick auf die Anfänge her Liturgie und Ethik, Dogma und Bildung tief zu erschließen vermochte89. Als der entscheidende Faktor, der die Gegenwartsbedeutung des Schrifttextes erschließt, gilt der Heilige Geist: derselbe, in dem die Schrift entstanden sei90. Gleichwohl hat das Modell Schwächen, die sich in der Moderne deutlich gezeigt haben. Der beliebte Vorwurf der Beliebigkeit ist verfehlt. Aber zum einen wird die Einheit von Schrift und Tradition sehr stark, die Differenz hingegen recht schwach betont, sodass Traditionskritik zwar in prophetischen Gestalten immer wieder laut wird, besonders bei den Heiligen, aber nicht methodisch in der Schriftauslegung angelegt ist. Zum anderen wird nicht systematisch klar, welche Bedeutung der buchstäbliche für den geistlichen Schriftsinn hat. Die Unterscheidung darf nicht hintergangen werden, wie dies in den ersten Konzepten historisch-kritischer Exegese der Fall gewesen ist, die der umfassenden Historisierung der Bibel das Wort geredet haben91, dabei aber ihrerseits eine Spielart des Historismus gewesen ist, der selbst historisch wurde92. Die entscheidende neue hermeneutische Herausforderung und Möglichkeit entsteht mit dem geschichtlichen Denken, das während des 19. Jh.s in die Philosophie wie die Theologie Einzug hält93. Wenn die Geschichte Ort der Offenbarung Gottes ist, muss die Diachronie hermeneutisch wesentlich sein, als Differenzierung, die eine neue Verbindung schafft. In diesem neuen Paradigma darf nicht verloren gehen, was der antiken Exegese Auftrieb gegeben hat: die Suche nach einem ganzheitlichen und insofern Einheit stiftenden Ansatz der Schriftauslegung, der die 88 Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, »Damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt« – Historische Kritik und geistige Schriftauslegung, in: Karl Kardinal Lehmann / Ralf Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (QD 266), Freiburg i.Br. 2014, 177–201. 89 Vgl. Rudolf Voderholzer, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013. 90 Vgl. zum Thema der Inspiration, so wie es von der Schrift selbst angelegt ist, Jonathan M. Whitlock, Schrift und Inspiration. Studien zur Vorstellung von inspirierter Schrift und inspirierter Schriftauslegung im antiken Judentum und in den paulinischen Schriften (WMANT 98), Neukirchen-Vluyn 2002. 91 Vgl. Hennig Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001. 92 Vgl. Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992. 93 Vgl. Peter Hünermann, Der Durchbruch geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert. Johann Gustav Droysen, Wilhelm Dilthey, Graf Paul Yorck von Wartenburg. Ihr Weg und ihre Weisung für die Theologie, Freiburg i.Br. 1967.

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Vielfalt nicht ins Beliebige abdriften lässt, sondern auf die personale wie die ekklesiale Integration von Glaube, Liebe und Hoffnung zielt, sodass die Einheit nicht integralistisch, sondern relational und insofern in sich plural erfasst wird, synchronisch wie diachronisch. Die Exegese kann ein entscheidendes Wort in diesem Gesprächsmodell spielen, weil die biblischen Texte von vornherein auf eine kreative Rezeption abzielen, deren Pointe immer das »Heute« des Evangeliums ist (vgl. Lk 4,21); die innerbiblischen Traditionsprozesse geben einen sehr guten Eindruck von der starken Auslegungs- und Aneignungsdynamik, die immer neue Möglichkeiten erschließt und dadurch eine lebendige Tradition inspiriert94. Die Auslegung der Schrift ist dadurch hermeneutisch motiviert und orientiert, dass sie in der Schrift selbst geschieht95. Diese schriftinterne Exegese, die ein wesentliches Moment der Fortschreibung ist, auch zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, ist dadurch möglich und nötig, dass die Schrift weder in klassischen Konzepten jüdischer noch christlicher Hermeneutik umstandslos mit Gottes Wort identifiziert wird, sondern dergestalt, dass sie Gottes Wort im Wort von Menschen niederlegt und damit das Wort von Menschen als Wort Gottes festschreibt96. Daher liegt die entscheidende theologische Auslegungsreferenz nicht im Text selbst, sondern jenseits des Textes. Gottes Wort aber ist nicht nur in ferner Vergangenheit laut geworden, auf dass Menschen es hören; es ist vielmehr, so der in der Bibel grundlegend bezeugte Glaube, jeder Zeit gegenwärtig, sodass es die Vergangenheit wie die Zukunft je neu aufschließt. Für das Christentum verkörpert Jesus Christus das Wort Gottes, in den Dimensionen, die der Johannesprolog eröffnet: von der Präexistenz über die Inkarnation und die Exegese Gottes während des Lebens und Sterbens bis zur Auferstehung und Erhöhung Jesu97. Dies begründet die bleibende theologische Aufgabe einer interpretatio Christiana des Alten Testaments, die aber halbiert wäre, wenn ihr nicht eine Auslegung der Hebräischen Bibel wie der Septuaginta entspräche, die nicht nur die Vorgeschichte des Christentums besser kennenlernen, sondern ein genuines Zeugnis der Offenbarung studieren will. In dieser Hermeneutik des Wortes Gottes erschließt sich, worin die unter historischen Umständen entstandene Heilige Schrift, die alle An94 Zur jüdischen Bibelhermeneutik vgl. Daniel Krochmalnik, Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, Augsburg 2006. 95 Vgl. Irmtraud Fischer, Von der Vorgeschichte zur Nachgeschichte. Schriftauslegung in der Schrift – Intertextualität – Rezeption, in: ZAW 125 (2013) 143–160. 96 Am stärksten vorgedacht ist dieses Konzept von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI, Wort Gottes. Schrift – Tradition – Amt, hg. von Peter Hünermann / Thomas Söding, Freiburg i.Br. 2005. 97 Vgl. Philippe Van den Heede, Der Exeget Gottes. Eine Studie zur johanneischen Offenbarungstheologie (HBS 86), Freiburg i.Br. 2017.

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zeichen ihrer Entstehungszeit an sich trägt, heute ihre Wirkung zu entfalten vermag, mitten im Streit der Interpretationen, der fruchtlos ist, wenn er der Selbstbehauptung dient, aber fruchtbar wird, wenn er das Ohr für das schärft, was als Wort Gottes vernommen und weitergegeben worden ist. Alle Versuche, die Bibel ihres historischen Gewandes zu entkleiden, um so ihre »ewigen Wahrheiten« zu sehen, sind von einem tiefen Missverständnis geleitet, weil sich die Wahrheit, von der man altwie neutestamentlich sprechen muss, wenn man die Schrifttexte ernst nehmen will, nicht jenseits, sondern inmitten der Zeit entbirgt, auf dass sie im Rahmen des Menschenmöglichen verstanden werden können. In ihrem Horizont aber werden von unterschiedlichen Standpunkten aus in jeweils spezifischen Aspekten Facetten des Evangeliums Gottes sichtbar, zumindest nach der Intention der Autoren, dem Sinn der Texte und der Rezeption durch ihre Lesegemeinden. So gut es gelingt, diese Momente exegetisch zu identifizieren, ihren Stellenwert im Ganzen der Heiligen Schrift zu bestimmen und ihre Transformationen in der Auslegung zu typisieren, so deutlich kann auch werden, worum der Bibel zufolge einen Streit zu führen sich lohnen kann und wo eine Verbindung zu knüpfen ratsam ist. In einer solchen Hermeneutik des Dialogs ist nicht theologische Nostalgie angesagt, sondern aufgeschlossene Schrifttheologie. Ihre verbindende Kraft, die Franz Rosenzweig der Bibel zuspricht, entwickelt sie vor allem dadurch, dass sie neu erkennen lässt, was Zusammenhang und Gemeinschaft ist, Zentrum und Peripherie – und dass dies nicht ein für alle Mal festgelegt ist, sondern sich wandeln kann: im Prozess der Schriftwerdung und im Auge derer, die den Text lesen. Im Zeichen des Monotheismus gibt es keinen Zusammenhang, der nicht Differenzen integrierte und produzierte, weil der unsichtbare Gott nicht in einem menschlichen Bild dargestellt werden kann; sub specie Dei ist jedes Zentrum Peripherie – nämlich Erde im Unterschied zum Himmel, und jede Peripherie ist Zentrum – nämlich Ort der Nähe Gottes. Das zu entdecken, braucht es die Bibel; es entdeckt zu haben, macht die Bibel nicht überflüssig, weil es keine Geltung gibt, die von der Genese absehen könnte, es würde denn eine Norm erstarren und damit Gott auf einen menschlichen Begriff bringen. Mit Franz Rosenzweig zusammen hat Martin Buber die Fünf Bücher Mose, das »Gesetz«, die »Tora«, als Bücher der »Weisung« übersetzt98. Beide haben damit einer nicht nur jüdischen, sondern auch einer christlichen Schrifttheologie und Schrifthermeneutik den Weg gewiesen. Die Heilige Schrift ist Wegweiser, weil sie darauf verweist, dass alle Wege eines menschlichen Lebens zu Gott führen und wie viele Wege Gott zu 98 Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Köln/Olten 1954.

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den Menschen findet. Dieses Wegenetz zu kartieren, ist die Aufgabe der Exegese; die Wege zu gehen, ist die Sache eines jeden Lesers und einer jeden Leserin selbst – in der Lesegemeinde, die durch das Buch der Bücher geschaffen wird, wie es in ihr entstanden ist. Abstract According to Franz Rosenzweig, the Bible has the task to bring generations together and to correlate the centre and the periphery of a community. This hermeneutical program inspires an exegesis which tries to deepen the JewishChristian dialogue and the theological orientation in a secular society. It calls exegetical investigations about principles and effects of Bible interpretation. This hermeneutical criteria should not be an import from philosophy or systematic theology but should come from a hermeneutical ambitious Bible reading itself, which is in dialogue with philosophy and systematic theology. Such an exegesis of the Scripture as a versatile whole needs an identification and interpretation of characteristic relations between God and human beings, between Israel and the church and between human beings themselves, both, in the Old as well as in the New Testament. This hermeneutical exegesis should not try to harmonize the different stories, prayers, laws, reflections etc., but should try to identify the position, context and perspective of each text and motive. The aim is to reconstruct or stimulate a dialogue between the different voices, which the texts testify. Their common interest becomes a witness of the experience of God, which deepens the human relations. In this approach, it becomes a topic of an ongoing dialogue of what centre and periphery is.

*** Thomas Söding, geb. 1956, Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum.

Irmtraud Fischer / Rainer Winter

Schrift und Tradition versus sola scriptura und den Leuten aufs Maul schauen? Der konfessionelle Streit um die Bedeutung der Schrift und deren Auslegung auf dem Hintergrund der neueren Rezeptionsdiskussion Der Unterschied zwischen dem katholischen und dem protestantischen Verständnis der Schrift und deren Auslegung lässt sich plakativ (das ist freilich immer undifferenziert!) wie folgt zusammenfassen: In den durch die Reformation geprägten Kirchen sind durch das sola scriptura-Prinzip die Heilige Schrift und deren Auslegung zwei völlig unterschiedliche Bereiche, während im Katholischen »die« Auslegungstradition in manchen Aspekten die Bedeutung der Schrift überlagert (hat). Wie können diese Gegensätze vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion gesehen und verstanden werden? 1.

Die Bibel und ihre Auslegungen: Zwei getrennte Bereiche?

Ab dem Zeitpunkt, an dem bestimmte Schriften kanonisiert werden, besteht die Notwendigkeit, diese auszulegen1. Bis zu diesem Ereignis ist eine Fortschreibung von Texten durch Einfügen von neuen Texten oder Weglassen von Textteilen, durch Zusammenführung unterschiedlicher Texte zu einem neuen Zusammenhang, durch redaktionelles Bearbeiten und durch die Kommentierung von Textteilen mit Glossen möglich. Erst das Verbot, nichts mehr hinzuzufügen und auch nichts wegzulassen (Dtn 4,2; 13,1; vgl. Offb 22,18f.), das mit einer Kanonisierung einhergeht, führt zur Notwendigkeit, derlei Aktualisierungen, die vorher in den Texten vorgenommen wurden, außerhalb derselben zu überliefern. Diese Schriftauslegungen, die das Phänomen Schriftgelehrsamkeit provozieren, bekamen in den einzelnen religiösen Gemeinschaften, für die die entsprechenden kanonischen Texte als bindend und fortlaufend lebenspendend geschätzt wurden, wiederum gewisse Bedeutung. 1.1

Schrift und »Tradition«

Gerade im Judentum wird diese Art der Schriftvermittlung durch Tora und Auslegungstradition sowie in den Diskussionen, die dann in die 1 Zur Definition und Diskussion von kanonischen Texten und der Notwendigkeit, diese auszulegen, siehe Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 103–129.

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Traktate des Talmuds Eingang fanden, prägend. Wahrscheinlich konnte sie dies auch deswegen werden, da Schriftauslegung schon in (später ebenso zu der Heiligen Schrift hinzugenommenen) »biblischen« Texten belegt ist. Dieses »Schriftauslegung in der Schrift«2 genannte Phänomen, das mit der Kanonisierung der Texte quasi selber kanonisiert wurde, bildete die Grundlage für die altjüdische Exegese: Ein Text legt den anderen aus, möglichst viele Stimmen sind zu hören, und durch kreative Auslegungen unterschiedlichster Art nähert man sich den Texten und ihren Inhalten von allen Seiten3. Jüdische Auslegung ist daher durch Vielfalt gekennzeichnet, während die Kirchen, die nicht durch die Reformation gegangen sind, zwar ebenfalls dem Doppelprinzip von Schrift und Schriftauslegung folgen, diese jedoch durch die Herausbildung und Deklaration einer dominanten Auslegungstradition wiederum engführen. Ist die frühe Kirche von ihrer eigenen Herkunft aus der jüdischen Exegese geprägt, entwickeln sich durch die Inkulturation des Christentums ins römisch-hellenistische Denken neue Zugänge, die schließlich zur Herausbildung neuer Exegesetraditionen und des vierfachen Schriftsinns4 führen. Noch viel gravierender wirkte sich auf die Schriftauslegung der Abschied vom hebräischen Bibeltext aus: Da das Christentum vor allem im griechischsprachigen Kontext missionierte und seine eigenen, später als kanonisch akzeptierten Schriften in Griechisch verfasste, benutzte es in den ersten vier Jahrhunderten vor allem die Septuaginta mit all ihren Eigenheiten, die in manchen Büchern keine Übersetzung im heutigen Sinn, sondern eher eine freie Übertragung darstellt. Die im 5. Jh. entstandene Bibelübersetzung von Hieronymus, die – wie jede Übersetzung – die Fragen und Antworten ihrer Zeit einträgt, wird ab der Spätantike zur »Vulgata«, zur populären Bibel schlechthin. Damit wird eine spezifische Auslegung5 Grundlage der Schrift, die wiederum 2 Die Bezeichnung »Schriftauslegung in der Schrift« ist freilich ein Terminus, der nur post festum zu verstehen ist. Zum Zeitpunkt, als etwa Rut Texte aus Tora und Vorderer Prophetie auslegt, waren diese sicher noch nicht samt und sonders »kanonisiert«. Zur Diskussion siehe Konrad Schmid, Innerbiblische Schriftauslegung. Aspekte der Forschungsgeschichte, in: Schriftauslegung in der Schrift (FS Odil Hannes Steck) (BZAW 300), hg. von Reinhard G. Kratz / Thomas Krüger / Konrad Schmid, Berlin 2000, 1–22. 3 Vgl. ausführlicher Irmtraud Fischer, Reception of Biblical Texts within the Bible. A Starting Point of Midrash?, in: Constanza Cordoni / Gerhard Langer (Hg.), Narratology, Hermeneutics, and Midrash. Jewish, Christian, and Muslims Narratives from the Late Antiquity through to Modern Times (Poetik, Exegese und Narrative 2), Göttingen 2014, 15–24. 4 Vgl. dazu den Beitrag von Ludger Schwienhorst-Schönberger unten S. 175–202. 5 Dies lässt sich etwa für anthropologische Vorstellungen der Zeit sehr gut nachweisen: Ciriaca Morano Rodríguez, Soziale Veränderungen und Entwicklungen des Frauenbildes im frühen Christentum. Philologische Zugänge zu lateinischen Bibelübersetzungen und -auslegungen, in: Emanuella Prinzivalli / Kari Elisabeth Børresen (Hg.), Christliche Autoren der Antike (Die Bibel und die Frauen 5.1), dt. Ausgabe hg. von Irmtraud Fischer / Andrea Taschl-Erber, Stuttgart 2016, 177–192.

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nach Traditionslinien ausgelegt wird. Die Vulgata stellt in der Katholischen Kirche bis heute die offizielle Bibel dar, auch wenn jene kirchlich approbierten Übersetzungen in die einzelnen Volkssprachen, die die Grundlage auch der liturgischen Texte bilden, seit dem Vaticanum II aus dem Hebräischen übersetzt werden. Der katholische Zugang, der Schrift und Tradition als Glaubensgrundlage definiert, betont die Notwendigkeit der Auslegung kanonisch gewordener Texte, die in gewissem Maße immer eine Verheutigung darstellt. Neue Fragestellungen, neue hermeneutische und methodische Zugänge, obsolet gewordene Bräuche und die Änderung von Anschauungen und Weltsichten bedingen gerade in jenen Gemeinschaften, für die eine Schrift als normativ und formativ gilt, eine kontinuierliche Aktualisierung der biblischen Botschaft. Religionsgemeinschaften sind unter diesem Blickwinkel eine Triebfeder für eine Verheutigung der Bibel, wenngleich gerade in konservativ-religiösen Kreisen häufig das Gegenteil, nämlich eine unveränderte und daher unverfälschte Weitergabe des Althergekommenen, behauptet wird. Ein Grundproblem einer derartigen Hochschätzung von Auslegung besteht im komplexen Entscheidungsprozess, welche Auslegungen Eingang in »die Tradition« finden. Oft werden bei diesem Prozess nicht nur – wie oben bereits erwähnt – gegenteilige Auslegungen verpönt oder gar verketzert, sondern es werden zudem die Machtverhältnisse verschleiert, die zur Aufnahme bestimmter Auslegungen in »die Tradition« und zur Aussonderung anderer als nicht überlieferungswürdig führen. Zu »der Tradition« werden also Auslegungen von Mächtigen und Einflussreichen hochstilisiert – wozu Arme, Frauen und Fremde in den seltensten Fällen zu zählen sind. »Die Tradition« ist damit nicht mit der Auslegung des Gottesvolkes durch die Zeit hindurch zu verwechseln, sondern sie ist die Sammlung von historischen Textdeutungen6, denen in einer bestimmten Epoche Autorität zugemessen wurde, da sie mit theologischen und (gesellschafts)politischen Ansichten von Entscheidungsträgern kompatibel war bzw. diese stützte. Wer also von Schrift und Tradition als Glaubensgrundlage ausgeht, muss sich zumindest bewusst sein, dass sich »die Tradition« durch die Geschichte hindurch häufig geändert hat, viele Traditionen in sich vereint, sehr viele aber auch ausgeschlossen und vergessen bzw. gezielt zum Verschwinden gebracht hat. Tradition ist also ein unendlich breiter und langer Strom, der nie mehr ganz erfasst werden kann, zumal im letzten halben Jahrhundert, in dem die historisch-kritische Exegese mit dem Vaticanum II endlich auch in die katholische Exegese Einzug halten durfte, der Blick von Auslegungstraditionen weg- und der Erfor6 Hier geht es nicht nur um Exegesegeschichte, sondern um Textdeutungen, die sich quer durch alle Medien hindurch nachweisen lassen (bildende und darstellende Kunst, Musik, Literatur, Film …).

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schung der Entstehung des Bibeltextes zugewendet wurde. Forschungen, die das Verhältnis der vielfältigen historisch belegbaren Auslegungsmöglichkeiten in Relation zu dem setzen, was sich als »die Tradition« durchsetzen konnte, fanden in der deutschsprachigen Exegese nur rudimentär statt und florieren erst seit gut einem Jahrzehnt wieder7. Ganz sicherlich ist »die Tradition« nicht die Summe der (sich der Aufklärung verweigernden) dominanten theologischen Ideen des 19. Jahrhunderts samt deren historischen Begründungen, wie dies in traditionalistischen katholischen Kreisen oft verengt wird. 1.2

Sola scriptura – aber in verständlicher Form

Durch den Humanismus geprägt hat die Reformation nach einem Jahrtausend Heiliger Schrift in lateinischer Sprache und Auslegungstradition in hellenistisch-römisch geprägter Geistigkeit im westlichen Christentum erstmals wieder auf den hebräischen Text für das Alte und auf den griechischen für das Neue Testament, also auf die Bibeltexte in den Ursprachen, zurückgegriffen. In den Kirchen der Reformation wurde in Bezug auf das AT zudem die Entscheidung für die Hebraica veritas getroffen, was alle ursprünglich griechisch verfassten (Jdt, Tob, Makk, Weish, Bar) oder überlieferten (Sir) Bücher von primär kanonischer Bedeutung ausschloss. Inkonsequent sind die Reformatoren in Bezug auf diese Entscheidung allerdings in der Kanonanordnung geblieben: Die reformatorischen Bibeln behalten samt und sonders die griechische Kanonform bei, folgen damit nicht dem Konzept der zweigeteilten Prophetie als Aktualisierung der Tora für das Leben im Land8 und bezeugen allesamt die Schlussstellung der Prophetie im atl. Kanon9. 7 Siehe dazu nur die Großprojekte Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible, Old Testament: The History of its Interpretation (3 Bde.), Göttingen 1996–2015; Alan J. Hauser / Duane F. Watson (Hg.), A History of Biblical Interpretation (bislang 2 Bde.), Grand Rapids 2003–2009; John Sawyer u.a. (Hg.), Blackwell Bible Commentaries (bislang 10 Bde.), Chichester 2003–2013; Hans-Josef Klauck u.a. (Hg.), Encyclopedia of the Bible and its Reception (bislang 15 Bde.), Berlin 2009–2017; die auf 21 Bände in vier Sprachen angelegte, gendersensible Rezeptionsgeschichte Irmtraud Fischer / Adriana Valerio / Christiana de Groot / Mercedes Navarro Puerto (Hg.), Die Bibel und die Frauen, Stuttgart 2010ff. sowie Mauro Pesce u.a. (Hg.), Annali di Storia dell∞Esegesi, Bologna 1984ff. und J. Cheryl Exum / David J.A. Clines (Hg.), Biblical Reception, Sheffield 2012ff. 8 Ausführlicher dazu argumentiert in: Irmtraud Fischer, Das Prophetieverständnis von Dtn 18 als kanonische Deutekategorie, in: Ilse Müllner / Ludger Schwienhorst-Schönberger / Ruth Scoralick (Hg.), Gottes Name(n). Zum Gedenken an Erich Zenger (HBS 71), Freiburg i.Br. 2012, 151–168. 9 Dass diese Kanonanordnung auch theologisch relevant ist, hat Klaus Koch in seiner sog. »Profeten-Anschluß-Theorie« mit all ihren antijüdischen Implikationen aufgezeigt: ders., Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schädlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh 1970, 35–37.

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Mit der Rückkehr zum hebräischen bzw. griechischen »Urtext« gewann einerseits die philologische Auslegung in der Originalsprache ihre immense Bedeutung für die Exegese zurück, andererseits wurden die patristischen Auslegungen, die auch das Bibelverständnis des Mittelalters massiv prägten, durchaus hoch geschätzt. Eine Abkehr von der typologischen Auslegungstradition und vom mehrfachen Schriftsinn mit einer beinahe ausschließlichen Hinwendung zum Literalsinn erfolgte nicht sofort10, sondern war erst ein Kind der sich immer deutlicher durchsetzenden historisch-kritischen Methode in und nach der Zeit der Aufklärung11. Die Konzentration auf den Text in der Originalsprache und dessen ursprüngliche Bedeutung, die man hoffte, lückenlos erschließen zu können, machte den biblischen Text mehr und mehr zur Ikone eines historischen Christuszeugnisses. Zug um Zug entstand ein immer tieferer Graben hin zur Auslegung ins Hier und Heute: Was man historisch-kritisch rekonstruierte, hatte nur mehr wenig Botschaft für die christlichen Gemeinden der letzten beiden Jahrhunderte. Gerade im katholischen Bereich, in dem doch nachkonziliar der »Tisch des Wortes reicher gedeckt« werden sollte (Vaticanum II, Sacrosanctum Concilium 51), fasste die biblische Predigt nie richtig Fuß: Bibelwissenschaft und aktualisierende Umsetzung in die Gemeindepastoral drifteten immer weiter auseinander – und dies bei einer Ausgangsituation, in der die Ortsgemeinden nie mit der gesamten Bibel vertraut waren und auch liturgisch nicht vertraut gemacht wurden. In den Kirchen der Reformation stellt(e?) sich diese Lage freilich anders da. Die Lese- und damit Verständniskompetenz wurde allen Christenmenschen zugetraut. Auch wenn es hochspezialisierte Bibelkundige gab, wurde das einfache Volk zum Lesen – und damit auch zum Auslegen – der Heiligen Schrift für das eigene Leben angehalten. Bibelwissen und Auslegungssachverstand wurden gleichsam demokratisiert, die Aktualisierung nicht mehr nur allein den Theologen überlassen. Bereits Luther trug diesem Grundsatz Rechnung, wenn er bei seiner Übertragung ins Deutsche »dem Volk aufs Maul schauen« wollte: Er erkannte offenkundig, dass ein kanonischer Text im strengen Sinne seine Qualität verliert, wenn er nur mehr kulturhistorisch oder religionsgeschichtlich von Interesse, für das alltägliche Leben jedoch nicht mehr relevant ist. Mit der fortschreitenden Monopolisierung der Bibelauslegung durch die historisch-kritische Forschung drifteten aber auch im protestantischen Bereich wissenschaftliche Exegese und Auslegung im Volk und für 10 So belegen etwa die reformatorischen Fresken- und Bilderzyklen anschaulich die Beliebtheit der typologischen Bibelauslegung bis weit ins 18. Jh. hinein. 11 Siehe dazu die immer noch lesenswerte Monographie von Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, NeukirchenVluyn, 3., erw. Auflage 1982.

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das Volk auseinander. Einen evidenten Beleg dafür liefern unfreiwillig die Autoren jener Kommentarwerke, die nach einer ausgefeilten Exegese nach allen Regeln der Kunst am Schluss noch eine »Bedeutungsspalte« mit dem Namen »Ziel«12 zu befüllen hatten, das dann aber herzlich wenig mit dem zuvor Gesagten zu tun hatte oder teils sogar in simpelste christozentrische Typologie versank. 1.3 Die Bibel und ihre Auslegung gehören zusammen: Das Zusammenspiel von Text und Lesenden So lässt sich resümieren, dass die Bibel und ihre Auslegung zusammengehören – allein schon deswegen, weil sie als kanonischer Text ausgelegt werden muss. Die Gewichtung der Auslegung kann freilich sehr unterschiedlich ausfallen. Das Judentum sieht darin einen Schatz, aus dem bei Bedarf aus dem Vollen geschöpft werden kann, da die gesamte Diskussion um den Text überliefert wird, nicht nur das Ergebnis derselben, wie dies in christlichen Kontexten etwa bei Lehrformulierungen häufig geschehen ist. Geschichtsvergessenheit in der Bibelauslegung führt nicht nur zu einem Unverständnis historischer Bedeutungszuschreibungen, wie sie sich etwa auch in der künstlerischen Rezeption widerspiegeln, sondern auch zu einem Abgeschnitten-Werden von der eigenen Herkunft. Die Auslegung der Bibel Jesu, der Hebräischen Bibel, im Neuen Testament ist ohne typologische oder allegorische Exegese unverständlich; allein vom historisch-kritischen Standpunkt her müsste sie sonst an manchen Stellen als schlichtweg falsch bezeichnet werden (Gal 4,21–31: Hagar als Mutter der Juden, Sara als Mutter der Christen). Die derzeitige Aufregung um den Versuch der Rückgewinnung der Kirchenväterexegese und deren Nachwirkung im Mittelalter13 zeigt das Problem an: Es geht nicht um eine Abwendung von historisch-kritischer Forschung, sondern um eine Wiedergewinnung der eigenen Geschichte, ohne die Jahrhunderte von theologischem Denken unverständlich bleiben. 1.4

Von der Wirkungsgeschichte zur Rezeptionsgeschichte

Wer sich im historisch-kritischen Paradigma den Auslegungen biblischer Texte in bestimmten Epochen und Kontexten widmete, tat dies 12 Vgl. den Aufbau der gediegenen Kommentarreihe Biblischer Kommentar – Altes Testament, Neukirchen-Vluyn; freilich unterliegen nicht alle Kommentare dieser Reihe dieser Kritik. 13 Exemplarisch dazu sei die Kontroverse: Wörtlich oder allegorisch? Wie ist das Hohelied zu interpretieren? Othmar Keel und Ludger Schwienhorst-Schönberger im Disput, Christ in der Gegenwart 65 (2013), 105–106, genannt.

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die längste Zeit unter dem Titel »Wirkungsgeschichte«14. Man betrachtete die Bibel als Subjekt, das seine Wirkung entfaltete15 – sicher auch in der theologisch guten Absicht des Missionarischen, dass nicht der Mensch allein Glauben bei anderen hervorrufen kann, sondern das Gotteswort seinen Erfolg selber bewirken könne. Nun ist zwar die Bibel zweifelsohne ein wirkmächtiger Text, sie kann diese Wirkung jedoch nicht aus sich selbst heraus entfalten, sondern bedarf der Lesung, der Verlesung, der Auslegung, der Verkündigung und der Beschäftigung mit ihr. Sie bewirkt Re-Aktionen bei den Menschen, die mit ihr in Verbindung kommen, insbesondere bei jenen, die sie als normativen und formativen Text nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart halten. Dieser Zugang zur »Wirkmächtigkeit« sieht nicht die Wirkkraft der Bibel im Zentrum, sondern die Deutungsmacht und -fähigkeit der LeserInnen16. Er bedeutet eine Kehrtwende von der produktionsästhetischen Konzentration auf das Werden der Bibel hin auf historische Verstehensweisen ihrer RezipientInnen. 2.

Von der Auslegung des Textes zu den Kontexten der Rezeption

In den Literatur- und Kulturwissenschaften ist die traditionelle Hermeneutik, die Kunst der angemessenen Auslegung von Texten, durch rezeptionsästhetische Überlegungen und Ansätze problematisiert und überwunden worden. Bereits Schleiermacher zeigte, wie das Verstehen von Textbedeutungen, das auf der Sprache und der zwischenmenschlichen Verständigung basiert, in der (biblischen) Hermeneutik zentral ist. Im Anschluss gründete Dilthey die Geisteswissenschaften auf der Interpretation und der reflektierenden Erfahrung. Entschieden verschieben dann die Rezeptionsästhetik und -theorie den Schwerpunkt der Textinterpretation auf die LeserIn in ihrem kulturellen, sozialen bzw. historischen Kontext. Dabei gibt es weiterhin sowohl Ansätze, die von einem »starken« Text ausgehen, der wohl unterschiedliche Möglichkeiten der 14 Wirkungsgeschichte ist allerdings – wie der Artikel von Hanspeter Schmitt unten S. 355–383 erweist – immer noch eine nützliche Deutekategorie, wenn sie breiter als im herkömmlichen Sinn gefasst wird. 15 Dass man bei manchen historisch bezeugten Auslegungen in Teufels Küche kam, wenn man sie als »Wirkung« der Bibel deklarieren musste, versteht sich von selbst: So bildete etwa der Abschnitt Gen 6,1–4 die entscheidende biblische Argumentation für die Hexenlehre, die in der Frühen Neuzeit tausenden Menschen das Leben kostete. 16 Insbesondere der Konstanzer Schule um Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß, Karlheinz Stierle und Rainer Warning; kurze Überblicke zur Thematik siehe Irmtraud Fischer, Forschungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte in nuce, in: Christl M. Maier (Hg.), Congress Volume Munich 2013 (VT.S 163), Leiden 2014, 182–216 sowie Detlef Dieckmann-von Bünau, Rezeptionsästhetik (AT) (erstellt: Sept. 2007), https://www. bibelwissenschaft.de/stichwort/33446/ (abgerufen am 17.04.2016).

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Interpretation eröffnet, aber nicht willkürlich gelesen und verstanden werden kann, als auch radikale Positionen, für die Textinterpretationen immer Formen des Gebrauchs von Texten sind. In der pragmatistischen Sichtweise erübrigt sich die Frage nach einer »wahren« Bedeutung von Texten. Die Leser/Leserinnen schaffen die Bedeutungen in ihren Praktiken der Rezeption. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden drei wichtige Richtungen diskutiert, die exemplarisch die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Diskussion zum Ausdruck bringen. Zunächst widmen wir uns der Rezeptions- und Wirkungsästhetik, die im Kontext der phänomenologischen Tradition entstanden ist. Dann diskutieren wir den Beitrag der Cultural Studies, die an den westlichen Marxismus und den Poststrukturalismus anknüpfen. Schließlich erörtern wir Michel de Certeaus »Kunst des Handelns« (1988). Die Rezeption ist für ihn ein kreativer Gebrauch von Texten. Ein zusammenfassendes Resümee steht am Ende der Analysen. 2.1 Die Ästhetik der Rezeption im Kontext der phänomenologischen Tradition Die konstitutive Rolle der Rezeption wurde von den AutorInnen, die von der Phänomenologie ausgehen bzw. ihr nahestehen, früh herausgearbeitet und betont. Jean-Paul Sartre argumentierte in seiner Studie »Was ist Literatur?« (1958), dass Lesen nicht nur Wahrnehmung, sondern ein »gelenktes Schaffen« sei. »Der Leser hat das Bewusstsein, gleichzeitig zu enthüllen und zu schaffen, im Schaffen zu enthüllen und durch Enthüllen zu schaffen«17. Ein literarisches Werk zu verfassen, bedeutet, einen Appell an die LeserInnen zu richten. Sie sollen ihm durch ihre Imagination zu »objektiver Existenz«18 verhelfen. Lesen ist also kein mechanischer Vorgang. Sartre schreibt den Lesenden »reine Freiheit«, »reine Schöpferkraft« und »bedingungslose Aktivität«19 zu. Der Schreibende vertraut sich der »Großherzigkeit des Lesers« an20. Dieser soll hervorbringen, was der Autor enthüllt. Sartre betont, dass der Leser aktiviert werden muss. Er soll konzentriert und aufmerksam die schöpferische Arbeit des Schreibenden nachvollziehen. Dies impliziert, dass in Sartres Konzeption das literarische Werk selbst eine intentionale Struktur hat, die aber nur im Prozess des Lesens zur Wirkung gelangen kann. Phänomenologisch betrachtet wird ihm auf diese Weise imaginativ Sinn verliehen. 17 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur? Ein Essay (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 65), Hamburg (11948) 1958, 28. 18 Ebd., 30. 19 Ebd., 31. 20 Ebd., 39.

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Auch Hans-Georg Gadamer stellt in »Wahrheit und Methode« (1960) fest, dass erst in der Rezeption ein künstlerisches Werk als gegenwärtig konstituiert wird. Ein Werk zu verstehen bedeutet, es als Teil eines Überlieferungsgeschehens zu betrachten, es in die Zusammenhänge von Geschichte, Sprache, Literatur etc. einzuordnen21. Er stellt aber heraus, dass Verstehen nicht rein reproduktiv, sondern immer auch produktiv ist. Denn der Sinn eines Textes deckt sich nicht mit den Intentionen eines Autors. In dessen Rezeption und Aneignung in unterschiedlichen historischen Kontexten entstehen neue Bedeutungen, die den Wahrheitsgehalt eines Textes erweitern. Hierbei verschmelzen der Horizont des Textes und der des Verstehenden, sodass ein neuer Horizont die Folge ist. So vermittelt die Rezeption eine neue Erfahrung, weil Erwartungen durchkreuzt werden. Um dies zu erreichen, müssen wir mit Texten aktiv umgehen und herausfinden, welche Fragen sie an uns richten. Gadamer betont wohl die Kreativität des Lesers, er bindet sie aber an die Geltung der Tradition zurück. Erst diese vermittelt uns eine »Teilnahme am gemeinsamen Sinn«. »Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit beständig vermitteln«22. Dagegen bestimmt Hans-Robert Jauß, der explizit mit seinem Programm einer »hermeneutischen Wiedergewinnung der Literaturgeschichte«23 an Gadamer anknüpft, die Rezeption als einen Prozess, bei dem die Lesenden eine aktive Rolle spielen. Die Wirkungsgeschichte, die Gadamer betont, wird durch die Rezeptionsgeschichte ersetzt. So stellt Rainer Warning fest: »Verstehen ist daher nicht mehr Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, sondern aktive Aneignung eines Werks über die Vermittlung vorausgehender Aneignungen, das heißt seiner Rezeptionsgeschichte«24.

Die Geschichtlichkeit eines literarischen Werks bestimmt sich durch seine bereits erfolgten Auslegungen. LiteraturhistorikerInnen müssen selbst zu aufnehmenden Lesenden werden, indem sie ein Bedeutungsgeschehen aktualisieren und ihre Interpretation des Werks dann im Kontext der bereits erfolgten Auslegungen verorten. 21 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 320. 22 Ebd., 274f. 23 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis (UTB 303), München 1975, 126–162. 24 Rainer Warning, Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: ders., Rezeptionsästhetik, 9–41, hier 23.

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Jauß führt den Begriff des Erwartungshorizonts ein, um die Verstehensprozesse systematisch erfassen und objektivieren zu können. AutorInnen unterstellen beim Publikum bestimmte Erwartungen25. Diese beziehen sich auf die Regeln einer Gattung, auf die Beziehungen zu bereits bekannten Werken und auf den Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit. Der dritte Faktor schließt ein, dass die LeserInnen ein neues Werk sowohl im engeren Horizont ihrer literarischen Erwartung als auch im weiteren Horizont ihrer Lebenserfahrung wahrnehmen können26. Im Prozess der Rezeption spielt aber auch das literarische Werk eine aktive Rolle. Durch seine Form und seinen Inhalt kann es bestehende Wahrnehmungsgewohnheiten erschüttern und Erwartungen enttäuschen. Sein ästhetischer Wert bemisst sich daran. Bereits die russischen Formalisten haben die Verfremdungseffekte beschrieben, die zu einer Entautomatisierung der Wahrnehmung führen. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wird dann die ursprüngliche Negativität eines Werks zur Selbstverständlichkeit eines neuen Horizonts. Für Jauß27 hat die Literaturgeschichte die Aufgabe, die »gesellschaftsbildende Funktion der Literatur«28 zu untersuchen. Welche gesellschaftlichen Folgen können literarische Erfahrungen haben? »Der Erwartungshorizont der Literatur zeichnet sich vor dem Erwartungshorizont der geschichtlichen Lebenspraxis dadurch aus, dass er nicht allein gemachte Erfahrungen aufbewahrt, sondern auch unverwirklichte Möglichkeiten antizipiert, den begrenzten Spielraum des gesellschaftlichen Verhaltens auf neue Wünsche, Ansprüche und Ziele erweitert und damit Wege zukünftiger Erfahrung eröffnet«29.

Jauß bestimmt den Prozess der Rezeption als Interaktion des Erwartungshorizonts der Literatur, der durch das System der Literatur kodiert ist, und der Lesenden, der lebensweltlich variabel ist30. Dadurch kommt die ästhetische Erfahrung zustande, die nicht nur die Erwartungen an literarische Texte, sondern auch das eigene Leben verändern kann. Bei Wolfgang Iser, dem damaligen Konstanzer Kollegen von Jauß, rückt die Interaktion von Text und LeserIn ins Zentrum der Betrachtung. »Bedeutungen literarischer Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und 25 26 27 28 29 30

Jauß, Literaturgeschichte, 132f. Ebd., 132f. Ebd., 148ff. Ebd., 149. Ebd., 150. Siehe dazu Warning, Pragmatik, 24f.

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keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt.«31

Er betont im Anschluss an Ingarden32, dass literarische Kunstwerke schematische Gebilde sind. Wenn z.B. Gegenstände oder Personen dargestellt werden, enthält die Darstellung zwangsläufig »Unbestimmtheitsstellen«33. In der Rezeption werden diese Stellen ausgefüllt bzw. konkretisiert. Diese Konkretisationen können jedoch unterschiedlich sein, da sie durch die dargestellten Gegenständlichkeiten nicht hinreichend bestimmt sind. Nach Iser beruht die ästhetische Wirkung auf dieser Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Einem Text sind die Bedingungen für unterschiedliche Realisierungen immanent. »Erst die Leerstellen gewähren einen Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstitution des Geschehens«34. Iser weist darauf hin, dass die Unbestimmtheit in literarischen Texten seit dem 18. Jh. zunimmt35. Den Lesenden eröffnet sich dadurch ein immer größerer Auslegungsspielraum. In »Der Akt des Lesens« (1976) entwickelt Iser seine Theorie ästhetischer Wirkung weiter. Im Zentrum steht der Lesevorgang, weil ein Text nur dann eine Wirkung entfalten kann, wenn er gelesen wird. Textpol und Lesepol sowie die sich zwischen ihnen ereignende Interaktion bilden deshalb den Grundriss, der die im Lesen sich entfaltende Wirkung literarischer Texte theoretisierbar machen soll36. Einem literarischen Text ist ein Wirkungspotential immanent, d.h. er enthält Instruktionen, die von den Lesenden verarbeitet werden37. So konstituieren sie dessen Sinn. Literarische Texte sind für Iser Kommunikationen, die in die Welt intervenieren, indem sie bestehende Bezugssysteme aktualisieren und umorganisieren. »Ästhetische Wirkung soll daher in dem dialektischen Dreischritt von Text und Leser sowie der sich zwischen ihnen ereignenden Interaktion analysiert werden. Sie heißt ästhetische Wirkung, weil sie – obwohl vom Text verursacht – vorstellende und wahrnehmende Tätigkeiten des Lesers in Anspruch nimmt, um ihn zu einer Einstellungsdifferenzierung zu veranlassen«38.

31 Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte, in: Warning, Rezeptionsästhetik, 228– 253, hier 229. 32 Roman Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion, in: ebd., 42–70, hier 43. 33 Ebd., 43. 34 Iser, Appellstruktur, 236. 35 Ebd., 241ff. 36 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636), München 1976, 7. 37 Vgl. ebd. 38 Ebd., 8.

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Jeder Text impliziert eine Leserrolle, die Teil seiner Struktur und den Rezipierenden vorgegeben ist39. Der Leser konstituiert den Text, wenn er diese Rolle übernimmt. Iser plädiert für ein funktionsgeschichtliches Textmodell der Literatur, das die pragmatische Dimension von Texten untersucht40. Es geht ihm weniger darum, was ein Text bedeutet, sondern was ein Text bewirkt. Nach seinem Verständnis stellen literarische Texte die Wirklichkeit nicht dar, sondern reagieren auf sie. Dabei beziehen sie sich auf Modelle von Wirklichkeit, deren Konventionen sie nutzen, um Situationen darzustellen. Iser bezeichnet diese Konventionen, die auch dem Leser mehr oder minder vertraut sind, als Repertoire41. Ein Repertoire greift auf außertextuelle Bezugssysteme zurück, die aus ihren sozialen Kontexten gelöst und einer tiefer gehenden Betrachtung unterzogen werden. Auf diese Weise problematisiert und reorganisiert der literarische Text kulturelle Auffassungen und soziale Normen. Den Lesenden werden durch diese Verfremdung des Vertrauten und Selbstverständlichen neue Möglichkeiten im Verständnis und im Handeln erschlossen, die im vertrauten Alltagsleben nicht sichtbar bzw. ausgeschlossen waren. Isers phänomenologische Analyse zeigt, dass der Prozess des Lesens zur Konsistenzbildung führt42. Lesende stellen Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Schemata und Zeichen eines Textes her, formen sie zu Gestalten, die die Aktivität des Lesens kohärent machen. Gleichzeitig erschaffen sie in Prozessen passiver Synthese Bilder. »So bringt das Bild etwas zur Erscheinung, das weder mit der Gegebenheit des empirischen Objekts noch mit der Bedeutung eines repräsentierten Gegenstandes identisch ist.«43

Das Bild vergegenwärtigt das Nicht-Gegebene bzw. das Abwesende44. Lesende nehmen nicht nur wahr. Ausgehend von den schematisierten Aspekten literarischer Texte erschaffen sie diese in ihrer Vorstellung45. Im Lesen wird die Totalität einer Welt konstituiert, die vorher noch nicht vorhanden war und von der die Lesenden keine Ahnung hatten. Iser arbeitet heraus, dass die literarische Kommunikation von einer Asymmetrie zwischen Leser und Text geprägt ist46. Der Leser kann nicht überprüfen, ob sein Verständnis des Textes angemessen ist. Aus39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. ebd., 62. Ebd., 88ff. Ebd., 115. Ebd., 193ff. Ebd., 220. Siehe dazu ebd., 222. Vgl. ebd., 245ff. Ebd., 257ff.

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gehend von den textuellen Merkmalen muss der Leser auch den Kontext konstruieren, in dem sie Sinn machen. Dabei wird der Leser aber vom Text geleitet. Es sind vor allem dessen Negationen (z.B. von herrschenden Normen) und Leerstellen, die den Bereich des Nicht-Gesagten und Ausgesparten markieren und zu einer Verdichtung von Texten führen. Sie gleichen die Asymmetrie zwischen Text und Leser aus. Denn sie erfordern und ermöglichen die »Beteiligung des Lesers am Vollzug des Textgeschehens«47. So müssen die Lesenden z.B. Leerstellen auffüllen, um unverbundene Textsegmente miteinander zu verknüpfen. Der formulierte Text wird auf diese Weise von Unformuliertem begleitet, quasi verdoppelt, was für Iser einen Bereich der Negativität markiert. »Leerstellen und Negationen […] initiieren eine Interaktion, in deren Verlauf die Konturen des Leergelassenen von den Vorstellungen des Lesers besetzt werden, wodurch sich auch die Asymmetrie zwischen Text und Welt aufzuheben beginnt und der Leser eine ihm fremde Welt zu Bedingungen erfahren kann, die nicht durch seinen Habitus determiniert sind«48.

Die Negativität ermöglicht es, uns von unserem eigenen Leben zu distanzieren und die Sichtweisen von anderen kennenzulernen. Wenn es daher den einen Sinn fiktionaler Texte nicht gibt, so ist dieser Mangel die produktive Matrix dafür, dass er in den verschiedenen Kontexten immer wieder Sinn zu geben vermag49. 2.2 Zwischen Interpretation und Gebrauch: Rezeption im Kontext der Cultural Studies Dagegen stehen bei den Cultural Studies nicht ästhetische Fragestellungen, sondern gesellschaftliche Zusammenhänge und soziale Subjekte im Zentrum der Analyse50. Texte treten immer nur in sozialen Kontexten auf, die ihre Bedeutung und Funktion mitbestimmen. Diese Perspektive führte zu einer charakteristischen Ausrichtung ihrer Kultur- und Medienforschung. Den Cultural Studies geht es darum, zu zeigen, wie LeserInnen bzw. ZuschauerInnen aktiv Bedeutungen konstruieren auf der Basis der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kompetenzen. So arbeitet Hall51, geschult durch die Semiotik, heraus, dass medi47 Ebd., 314. 48 Iser, Akt des Lesens, 348. 49 Ebd., 355. 50 Vgl. Karl H. Hörning / Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung (Stw 1423), Frankfurt a.M. 1999; Rainer Winter, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001. 51 Stuart Hall, Encoding/Decoding, in: ders. / Dorothy Hobson / Andrew Lowe / Paul Willis (Hg.), Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies 1972– 1979, London 1980, 128–138.

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ale Botschaften immer auch polysem strukturiert sind. Texte können immer anders interpretiert werden, was jedoch nicht bedeutet, dass sie gänzlich offen sind. Insbesondere John Fiske hat diese Perspektive vertieft52, indem er den Zusammenhang zwischen Polysemie und Popularität ins Zentrum seiner Medienanalysen rückte. Sein Hauptinteresse gilt den ZuschauerInnen, die Bedeutungen produzieren, indem sie die von der (ideologischen) Präferenzstruktur eines Textes nahegelegten Bedeutungen vor dem Hintergrund ihrer eigenen sozialen Lebenssituation modulieren. Damit verbunden kann die Entfaltung von Eigensinn sein, die zu einer Stärkung des Subjekts beiträgt. In seiner Weiterentwicklung des Hallschen Modells greift Fiske auf die poststrukturalistische Position von Jacques Derrida zurück. Die Dekonstruktion zeigt, dass Bedeutungen in Texten nie fixiert oder stabil sein können, was letztlich auf die dezentrierte Natur des sprachlichen Systems zurückzuführen sei, das durch die Bewegung der »différance« gekennzeichnet ist53. »Die ›différance‹ ist das systematische Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen, der Verräumlichung, mittels derer sich die Elemente aufeinander beziehen«54.

Im Sinne Derridas kann es beständige Bedeutungen in Texten nicht geben, allenfalls durch die Ideologien bzw. Interpretationsstrategien der LeserInnen kann es zu einem scheinbaren und kontextuell beschränkten Stillstand der »différance« kommen. Dekonstruktive Lektüren enthüllen die internen Widersprüche, die Lücken und die arbiträre Textualität. Derridas Blick ist jedoch auf die Diskurse der westlichen Rationalität im ganzen gerichtet, nicht auf historisch spezifische und soziale Auseinandersetzungen, um die es gerade Fiske geht, der mit Bezug auf Vološinov55 feststellt, dass der soziale Kampf bereits der Sprache und auch den Texten eingeschrieben sei. Die Instabilität der Bedeutung möchte er daher nicht nur auf die natürliche Polysemie der Sprache, auf deren entgrenztes ›Spiel der Differenzen‹ zurückführen, sondern auch auf die unterschiedlichen und vielfältigen sozialen Erfahrungen der ZuschauerInnen/LeserInnen, vor deren Hintergrund sie kulturelle Texte rezipieren 52 Vgl. dazu John Fiske, Television: polysemy and popularity, Critical Studies in Mass Communication 3 (1986), 391–408 (dt. Übersetzung von Thomas Hartl, in: Rainer Winter / Lothar Mikos [Hg.], Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske Reader, Bielefeld 2001, 85–110). 53 Vgl. Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1988. 54 Ders., Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta (Edition Passagen 8), Wien 1986, 67f. 55 Valentin N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, Frankfurt a.M. / Berlin / Wien 1975.

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und gebrauchen. Die Bedeutung eines Textes ist nicht in seiner Struktur verankert, sondern entfaltet sich im Zusammentreffen, in der Interaktion von Text und LeserIn, die beide in gesellschaftlich-kulturellen Kontexten positioniert sind. Fiskes Hauptthese ist, dass kulturelle Texte (so z.B. Fernsehtexte), wenn sie erfolgreich sein, d.h. von vielen gesehen werden sollen, offen und polysem sein müssen, damit die verschiedenen Gruppen und Kulturen Bedeutungen und Energien austauschen sowie gewinnen können, die ihren jeweiligen Identitäten entgegenkommen56. Diese Offenheit darf jedoch nicht mit einem »anything goes« gleichgesetzt werden, eine Position, wie sie Richard Rorty57 vertritt58. Vielmehr drückt sich, wie Hall gezeigt hat, im jeweiligen Text eine dominante Ideologie oder zumindest eine Präferenzstruktur aus, die Ausdruck der herrschenden und wirksamen Kultur der jeweiligen Gesellschaft ist. Das Neue an Fiskes Argumentation ist, dass er Ambivalenzen, Widersprüche und Polysemie in kulturellen Texten akzentuiert und seiner Analyse zugrunde legt. Fiske59 arbeitet heraus, dass sich sozial ungleich positionierte ZuschauerInnen das widersprüchliche Bedeutungspotential eines Textes auch unterschiedlich zunutze machen werden. Die Grundidee ist, dass jede kommunikative Äußerung die Spuren vergangener sozialer Konflikte und Aushandlungen in sich birgt; jede Neuverwendung aktualisiert diese und stellt sie neu zur Disposition. Vor diesem Hintergrund verschiebt Fiske das Interesse von den Sprachen und Konflikten in einem Text hin zur Interaktion von Text und ZuschauerIn, zum Spiel von Differenzen und Spuren im Sinne Derridas bzw. zur Zirkulation sozialer Energie im Sinne von Greenblatt60. Deshalb gilt sein besonderes Interesse den textuellen Merkmalen, die polyseme Lesarten möglich machen. Die Polysemie wird zum textuellen Äquivalent für soziale Differenzen. »The polysemy of the text is necessary if it is to be popular amongst viewers who occupy a variety of situations within the social structure […]. Polysemy is always bounded and structured, for polysemy is the textual equivalent of social difference and diversity«61.

Dies impliziert, dass die Bedeutung, die ein Text gewinnt, nicht in dessen Kontrolle liegt, sondern, wie Hartley es formuliert, »außer Kontrol56 Fiske, Fabrikation, 85–110. 57 Vgl. Richard Rorty, Der Fortschritt des Pragmatisten, in: Umberto Eco (Hg.), Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München 1994, 99–119. 58 Vgl. die differenzierte Kritik von Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 1992, an dieser Vorstellung einer unbegrenzbaren Interpretation. 59 Fiske, Fabrikation, 107. 60 Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990. 61 John Fiske, Television Culture, London 1987, 16.

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le« ist62. So bedingt die Vieldeutigkeit kultureller Texte, dass Bedeutungen immer umkämpft, umstritten und im Fluss sind. Fiske zeigt, dass z.B. ein TV-Text (wie alle Texte) ein Gebiet ist, auf dem um Bedeutung gekämpft wird. Dieser Kampf ist ein kontinuierlicher Prozess, der nie abgeschlossen ist. Bedeutungen werden kreiert, inszeniert, transformiert und neu ausgehandelt. Die textuellen Merkmale, die Fiske akzentuiert, stellen Kräfte dar, die der Hegemonie des Textes entgegengesetzt sind, sich seiner ideologischen Kontrolle verweigern. Die Offenheit, die Fiske hier in Anspruch nimmt, unterscheidet sich von der, die Umberto Eco in »Das offene Kunstwerk«63 beschrieben hat. Während dort das avantgardistische Kunstwerk durch eine offene Form gekennzeichnet ist, entsteht Offenheit bei TV-Texten durch die Möglichkeit, sie gegen den Strich, also gegen die dominante Ideologie oder Präferenzstruktur, lesen zu können. Diese Optionen beruhen einerseits auf den textuellen Merkmalen, andererseits auf sozialen Differenzen zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen bzw. innerhalb der Gruppe der KonsumentInnen. Den letzteren Aspekt berücksichtigte Eco schon früh in seinen Überlegungen zu einer semiologischen Guerilla64. Dass Texte anders gelesen und verstanden werden, als sie gemeint waren, und »Interpretationsvariabilität das Grundgesetz der Massenkommunikation«65 ist, fasst er aber nicht unter Offenheit. Für Eco sind TV-Texte in der Regel durch eine geschlossene, ideologische Form gekennzeichnet – was einleuchtet, vergleicht man sie mit Werken von Mallarmé oder Joyce. Anders als Eco setzt Fiske bei seiner Definition von Offenheit jedoch beim sozialen Gebrauch der Texte an, beim Zusammentreffen der Diskurse des Textes und der Diskurse des Publikums. Sein Hauptinteresse gilt den eigenständigen Sinnproduktionen der ZuschauerInnen, in denen sie das Fernsehen als semiotische Ressource verwenden, um abweichende und abirrende Bedeutungen zu produzieren. In der Interaktion von medialem Text und ZuschauerIn hängt es von den Diskursen, dem Wissen und den Kompetenzen der Zuschauenden ab, welche Bedeutung sie dem Text und auch sich selbst zuschreiben. Vor allem die ethnographischen Forschungen der Cultural Studies66 haben deutlich gemacht, dass in einer Kulturanalyse die Untersuchung der Rezeption von Texten genauso wichtig wie die Textanalyse ist, um 62 John Hartley, Encouraging signs, television and the power of dirt, speech and scandalous categories, Australian Journal of Cultural Studies 1 (1983), 62–82. 63 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (stw 222), Frankfurt a.M. 21973. 64 Ders., Für eine semiologische Guerilla, in: ders., Über Gott und die Welt, München 21985, 146–156 (orig. 1967); ders., Towards a Semiotic Enquiry into the Television Message, Working Papers in Cultural Studies 3 (1972), 103–121. 65 Ders., Guerilla, 152. 66 Vgl. Winter, Kunst des Eigensinns; ders., Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess, Köln, 2., erw. u. überarb. Auflage 2010.

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Aufschluss über die Bedeutungen und das Vergnügen in der Interaktion von medialem Text und ZuschauerIn zu bekommen. »Meanings are determined socially: that is, they are constructed out of the conjuncture of the text with the socially situated reader«67. Ein Cultural-Studies-Ansatz setzt also bei der Vielfalt sozialer Erfahrungen an, die zu unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen führen, die diskursiv und sozial vermittelt sind. »The production of meaning from a text follows much the same process as the construction of subjectivity within society. The reader produces meanings that derive from the intersection of his/her social history with the social forces structured into the text. The moment of reading is when the discourses of the reader meet the discourses of the text«68.

2.3 Die Kreativität des Wilderns: Rezeption als Aneignung bei Michel de Certeau Noch pointierter beschreibt Michel de Certeau in »Kunst des Handelns«69 Lesen als »Wildern in fremden Texten«. Das Alltägliche bestimmt er folgendermaßen: »Das Alltägliche setzt sich aus allen möglichen Arten des Wilderns zusammen«70. Während SchriftstellerInnen ihre eigenen Räume schaffen und aus einer minoritären Position heraus ihr Publikum finden müssen, sind LeserInnen Reisende, die Länder durchqueren, die ihnen nicht gehören. Dabei betrachtet de Certeau die offizielle Kultur (wie die Geschichtsschreibung) als ein Feld von Praktiken bzw. praktischen Operationen, die über spezifische Orte verfügen. Seine Untersuchung möchte dagegen »Operationstypen oder Aktivitätsformen ausfindig machen, die den Konsum im Raster einer Ökonomie charakterisieren, und in diesen Aneignungspraktiken die Indikatoren der Kreativität aufspüren, die sich gerade dort ausbreitet, wo die Fähigkeit, eine eigene Sprache zu finden, verschwunden ist«71.

Das Alltägliche entsteht durch die kulturellen Praktiken der Nicht-KulturproduzentInnen, durch deren unsichtbar bleibende »Fabrikation« im Bereich des Konsums: »Diese ist listenreich und verstreut, aber sie breitet sich überall aus, lautlos und fast unsichtbar, denn sie äußert sich nicht durch eigene Produkte, son67 Fiske, Television Culture, 80. 68 Ebd., 82f. 69 Michel de Certeau, Kunst des Handelns (Internationaler Merve-Diskurs 140), Berlin 1988. 70 Ebd.,12. 71 Ebd., 19f.

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dern in der Umgangsweise mit den Produkten, die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden«72.

Die Praktiken des Alltagslebens bestimmt de Certeau nicht nur als verborgen, versteckt oder nur schwer entzifferbar, sondern auch als taktisch, heterogen (singulär und plural), erfinderisch, trickreich oder eigensinnig. Es geht ihm darum, die Logik des Alltagslebens zu enthüllen, die sich in dessen Praktiken und Erzählungen artikuliert. Nach de Certeau ist das Alltagsleben gerade der Rest, der diskursiv wissenschaftlich nicht erfasst wurde. Er kritisiert an Foucaults Analyse der Dispositive der Macht73, die auf Archivarbeit und der Analyse von Dokumenten beruht, dass sie die Operationen privilegiert, die von der Historiographie festgehalten wurden. »Die Gesellschaft wäre somit aus bestimmten herausragenden Praktiken, die ihre normativen Institutionen organisieren, und aus zahllosen anderen Praktiken zusammengesetzt, die ›klein‹, ›minoritär‹ geblieben sind«74.

Die schriftlosen Prozeduren, die durch das Netz der Disziplin schlüpfen und über keinen eigenen Ort verfügen, nennt de Certeau Taktiken 75. »Wohnen, Umhergehen, Sprechen, Lesen, Einkaufen oder Kochen – all diese Aktivitäten scheinen den Merkmalen der Finten und taktischen Überraschungen zu entsprechen: gelungene Tricks des ›Schwachen‹ in der vom ›Starken‹ etablierten Ordnung, die Kunst, im Bereich des Anderen ›Coups zu landen‹, Jagdlisten, polymorphe und taktisch geschickte Beweglichkeit, poetische und kriegerische Glücksfälle«76.

Durch eine Ästhetik von Spielzügen oder ›Coups‹ (kunstvolle Operationen), verbunden mit einer Ethik der Beharrlichkeit, wird der etablierten Ordnung der Status der Gesetzmäßigkeit und der Vernünftigkeit verweigert77, ohne dass dies mit der Vorstellung verbunden sein muss, man könne sie wirklich ändern. Eher geht es darum, Freiräume im Alltagsleben zu eröffnen, Ausbruchsversuche zu unternehmen und kleine Fluchten zu leben. Daher versteht de Certeau unter der populären Kultur gerade den kreativen und listigen Gebrauch von Texten, Bildern und Gegenständen durch Personen, die diese weder produziert haben noch besitzen. 72 Ebd., 13. 73 Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. 74 Certeau, Kunst des Handelns, 109f. 75 Ebd., 112. 76 Ebd., 93f. 77 Ebd., 73.

Schrift und Tradition versus sola scriptura und den Leuten aufs Maul schauen?

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Die Prozesse der Aneignung und Wiederverwendung von Repräsentationen und Objekten sind heterogene und für die Macht zum großen Teil unsichtbare Operationen. Die KonsumentInnen bzw. die ›Beherrschten‹ sind »verkannte Produzenten«, die ihre eigenen Wege durch den »Dschungel der funktionalistischen Rationalität« finden und »trickreich differente Interessen und Wünsche« einbringen78. In dieser Lesart wird der »gemeine Mann« zum »Helden des Alltags«79, da er durch seine Operationen bzw. Umgangsweisen Widerstand leistet. Dieser wird nicht durch den subversiven Inhalt oder die formalen Qualitäten von (medialen) Texten hervorgebracht, sondern durch eine Kunst der Aneignung, die Vorgegebenes wie Räume oder Texte (wenn auch nur temporär) in etwas Eigenes verwandelt80. In taktischen Streifzügen werden differente Erfahrungen gemacht, die uns motivieren und Vergnügen bereiten. De Certeau tritt also für eine Kulturforschung ein, welche die textuelle Analyse mit einer Untersuchung von Gebrauchsweisen und Aneignungsformen synthetisiert. Nur so lässt sich ein Einblick in die ansonsten unsichtbar bleibenden Operationen und Fabrikationen der Rezipienten gewinnen. 2.4 Zusammenfassung: Von der Ästhetik der Rezeption zum sozialen Gebrauch Die behandelten Theorien und Ansätze teilen die Auffassung, dass die Rezeption nicht passiv erfolgt, sondern ein aktiver und schöpferischer Prozess ist. Die in der Phänomenologie verankerten Positionen von Sartre und Iser betrachten die Sinnkonstitution durch die Rezipierenden, aber als vom Text gesteuert und gelenkt. Trotzdem sind es die LeserInnen, die die Literatur zum Leben erwecken und ihre Wirkung entfalten lassen. Die ästhetische Wirkung von Texten zielt auf Veränderungen in kulturellen Erwartungen und Dispositionen sowie sozialen Normen. Die Möglichkeiten und der Freiheitsspielraum des Menschen sollen erweitert werden. Gadamer zeigt, dass das Verstehen von Kunstwerken immer auch einen produktiven Aspekt hat. In seiner Sichtweise ist es aber in die vorherrschende Tradition eingebunden. Jauß möchte die veränderlichen Rezeptionsweisen untersuchen. Er verzichtet aber auf empirische Forschungen. Stattdessen führt er den Begriff des Erwartungshorizonts ein, der ebenfalls auf die Phänomenologie zurückgeht, und bezeichnet das zu einer gegebenen Zeit etablierte Wahrnehmungsmuster, eine soziale Konstruktion, die literarische Werte, aber auch Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen enthält. Im Erwartungshori78 79 80

Ebd., 85. Ebd., 9. Vgl. Winter, Zuschauer.

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zont ereignet sich das Wahre und Faktische. Literatur artikuliert ihn, verändert und überschreitet ihn aber dadurch auch. Cultural Studies dagegen sind wenig an der Ästhetik von kulturellen Texten interessiert. In kulturellen Texten, nicht nur in der Literatur, sondern in Filmen, Fernsehformaten oder Werbeclips, drücken sich die sozialen Ideologien einer Zeit aus, die auch die Subjektivität der ProduzentInnen und RezipientInnen strukturieren. Jede Rezeption ist Teil der ideologischen Auseinandersetzungen einer Epoche. Auch Hall und Fiske gehen von einer Interaktion von Text und Rezipient aus. Der Text hat bei ihnen aber keine ästhetische Autonomie. Zum einen untersuchen sie massenmediale Texte, zum anderen blenden sie ästhetische Fragestellungen weitgehend aus. Eine kreative und eigensinnige Rezeption kann die Handlungsmacht stärken und zu einem »empowerment« beitragen. Michel de Certeau, dessen Werk von Fiske und anderen Vertretern der Cultural Studies intensiv rezipiert wurde, zeigt die erfinderischen, geschickten und trickreichen alltäglichen Praktiken auf, die im Verborgenen gedeihen und blühen. Das Lesen und die Rezeption medialer Texte gehören hierzu. Sie können Künste des Handelns sein, Freiräume schaffen und helfen, unser Leben sinnhaft zu gestalten. Der Text hat auch bei de Certeau keine Autonomie mehr inne. Er kann die Lektüre nicht steuern, es allenfalls probieren. Die LeserInnen wildern in Texten, untergraben deren Autorität und nutzen sie lustvoll für ihre eigenen Zwecke. Die Ästhetiken und Theorien der Rezeption haben eine neue Perspektive eingeführt, die Texte und ihre vielfältigen Rezeptionsweisen ins Zentrum stellt. Nicht nur die ExpertInnen, die ideale Lesarten konstruieren, sind von Bedeutung, sondern alle, die Kultur rezipieren, sie dadurch zum Leben erwecken und an der kreativen Fabrikation und Zirkulation von Bedeutungen Anteil haben. So rücken Spezialkulturen81 bzw. Interpretationsgemeinschaften ins Zentrum der Betrachtung, die ihre eigenen, gemeinsam geteilten Auslegungen und Bedeutungen produzieren. Sie sind an die Gemeinschaft der Auslegenden gebunden und können im Laufe der Geschichte verändert werden oder verschwinden. 3. Nur die ausgelegte, rezipierte Bibel bleibt »Bibel« im Sinne einer »Heiligen Schrift« Wo eine Rezeptionsgemeinschaft82 fehlt, die einen kanonischen Text weiterhin als für sie bedeutsam und bindend ansieht, erlischt dessen ka81 Rainer Winter / Roland Eckert, Mediengeschichte und kulturelle Differenzierung. Zur Entstehung und Funktion von Wahlnachbarschaften, Opladen 1990. 82 Zu Interpretationsgemeinschaften, die ihre Texte nach gewissen Grundsätzen auslegen, siehe Stanley E. Fish, Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive

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nonische Würde. Die Bibel bleibt also nur Bibel, wenn sie weiterhin rezipiert, neu ausgelegt und aktualisiert wird83. Dass sich dabei Auslegungskonventionen innerhalb dieser Gemeinschaften herausbilden, ist ein logisches Phänomen. Werden diese jedoch zu starren Richtlinien, verschließen sie neuen Deutungen den Eingang in den Traditionsstrom. Auslegung, die einerseits die biblische Botschaft nicht verrät und andererseits nicht in dem von den Mächtigen Gewünschten verharrt, ist eine Fahrt zwischen Skylla und Charybdis, zwischen »anything goes« und dem Versuch der Bestimmung der »Intention des Autors«. Diese Fahrt haben bereits Texte, die später biblisch geworden sind, unternommen, wenn sie etwa ohne Scheu Erzählungen aus dem Alten Orient, wie etwa die Flutgeschichten, verarbeitet und dabei inkulturiert haben. Ähnliches lässt sich über gemeinorientalische Rechtsvorstellungen sagen, die Israel nicht zur Gänze in seine Rechtskorpora aufgenommen hat84, oder über altorientalische Ikonographie, die Alt-Israel zwar nicht für theomorphe Bilddarstellungen verwendete, sie aber in seiner reichen Sprachbilderwelt für die metaphorische Rede von Gott nutzte. Zudem nahm sich das frühe Christentum die Freiheit, vom jüdischen Bilderverbot je länger desto deutlicher abzuweichen und die Ikonographie seiner römisch-hellenistisch geprägten Umwelt zu übernehmen. So wurde etwa die biblische Simsonerzählung vom Zerreißen des Löwens (Ri 14) durch die Übernahme der mit Herkules verbundenen Ikonographie dargestellt. Die romanische Darstellungform Marias mit dem Jesuskind am Schoß, der sedes sapientiae, ist Ägyptenkundigen von Isis mit dem Horusknaben bekannt. In der intermedialen Rezeption biblischer Figuren und Themen ist dieses Phänomen der nicht ausschließlichen Zuweisung auf eine Figur weit verbreitet. Auch in der Musik findet es sich – man denke etwa an jene Opern mit biblischem Sujet, deren Arien auch auf Libretti für Figuren aus anderen Kontexten Verwendung fanden85. Aber nicht nur inkulturierende Übertragungen von Figuren, Themen und Motivkonstellationen machen die Frage nach Texttreue und Communities, Cambridge 1980, 16: »… there is no single way of reading that is correct or natural, only ›ways of reading‹ that are extensions of community perspectives.« 83 Der Text ist in diesem Sinn »kein Objekt mehr, kein Ding-an-sich, sondern ein Ereignis« (ders., Literature in the Reader. Affective Stylistics, New Literary History 2 [1970], 123–162, zit. nach der gekürzten dt. Ausgabe in: Warning, Rezeptionsästhetik, 196–227, hier 202); auch diese Sichtweise könnte man als gut paulinisch bezeichnen, wenn er gegen ein Verständnis der Schrift als »toter Buchstabe« wettert und dem ein Verständnis mit neuem Geist entgegensetzt (vgl. Röm 2,29; 7,6; 2Kor 3,6–8). 84 So gibt es im AT keine Verstümmelungsstrafe, die in anderen Rechtssammlungen sehr wohl belegt sind. Siehe dazu Ludger Schwienhorst-Schönberger, »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Zu einem antijüdischen Klischee, BiLi 63 (1990), 163–175. 85 Michael Walter, Biblische Sujets in der Oper, in: Irmtraud Fischer (Hg.), Bibelund Antikenrezeption. Eine interdisziplinäre Annäherung (Exegese in unserer Zeit 23), Wien 2014, 198–229, hier 214.

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möglicher Bandbreite von Interpretation virulent, sondern auch reine Textexegesen, die teils unter Zuhilfenahme anderer biblischer Texte das Gegenteil des Geschriebenen herausholen. So ist etwa die patristische Auslegung von Gen 1–3, die exegetisch die Vormachtstellung des männlichen Geschlechts untermauerte, aus dem hebräischen Text nicht zu begründen und funktioniert nur durch auslegungsrelevante Einbeziehung des Abschnittes von der hierarchischen Diskussion um das Haupt von 1Kor 11. Weil dort der Mann das Haupt der Frau sein solle, wird diese Interpretation nicht nur in die Sündenfallerzählung (vgl. Gen 3,16), sondern auch in die Schöpfungstexte eingetragen, wodurch die Unterordnung des Weiblichen sodann ontologisch begründet wird86. Hier arbeitet auch das patristische Christentum mit dem auch im Judentum verwendeten Grundsatz, dass ein biblischer Text den anderen auslegt. Vom historisch-kritischen Standpunkt her gibt es massenhaft Fehlrezeptionen in der Theologiegeschichte, und »anything goes« war in so manchen ihrer Epochen ein weitaus häufiger angewandtes Motto als das Kriterium der Texttreue, an dem wir heute zumindest für die wissenschaftliche Exegese festhalten wollen. Abstract This article written by an Old Testament Scholar and a scientist for media and communication problematizes the relationship of the Bible and its interpretation against the background of recent debates of reception. It takes the fact of canonization as starting point: A »closed« text has to be adapted to changing times, cultures and societies. A clear separation between the Scripture and its exegesis and interpretation is essential in exegetic research, but is practically and historically not useful. The cultural studies have brought in mind that in concrete use of scripture »everything goes« – but all reception-communities have their rules to read a text – not only synagogues or churches.

*** Irmtraud Fischer, geb. 1957, Dr. theol., Dr. h.c. phil, ist Professorin für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Rainer Winter, geb. 1960, Dipl.-Psych. und Soziologe (MA, Dr. phil., Habil.), ist Professor für Medien- und Kulturtheorie und Vorstand des Instituts für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Alpen Adria-Universität in Klagenfurt am Wörthersee.

86 Diese »Argumentationshilfe« eines ntl. Textes zu den atl. Schöpfungstexten findet sich fast bei allen Kirchenvätern; siehe dazu: Prinzivalli/Børresen, Christliche Autoren.

Konrad Schmid

Die Schrift als Text und Kommentar verstehen Theologische Konsequenzen der neuesten literaturgeschichtlichen Forschung an der Hebräischen Bibel

1.

Die theologische Bedeutung der historischen Bibelkritik

Dass die Bibel zu lesen – und damit auch zu analysieren – sei wie jedes andere Buch auch, ist eine vergleichsweise junge Errungenschaft ihrer jahrhundertealten Auslegung1, die sich zwar weder im Judentum noch im Christentum allgemein und fraglos durchgesetzt hat, die aber für die neuzeitliche westliche Bibelkritik und akademische Theologie von grundlegender Bedeutung und dort auch allgemein akzeptiert ist. Für die Bibelkritik ist diese methodische Maxime notwendig, da nur so eine wissenschaftlich verantwortete Auslegung der Bibel, zumal in historischer Hinsicht, möglich ist. Für die Theologie ist diese Maxime deshalb entscheidend, da so der Überzeugung Rechnung getragen wird, dass die Theologie keine doppelten Standards in Bezug auf die Wahrheitsfrage aufbaut, sondern sich und ihre Grundlage – die Bibel – dem kritischen Forum der Vernunft stellt. Mit Gerhard Ebeling, der sich vor über 50 Jahren um eine grundlegende Klärung der Bedeutung der Bibelkritik für die Theologie bemüht hat2, ist zu betonen: »Die sogenannte Bibelkritik steht nur scheinbar im Widerspruch zur Bibelautorität. Recht verstanden, ist sie im Bereich der Exegese die Weise, wie die Autorität der Bibel zur Geltung gebracht wird.«3

Dieser Satz stellt die vielerorts in bibeltreuen und evangelikalen Kreisen virulente Skepsis gegen die Bibelkritik vom Kopf auf die Füße und hält fest: Bibeltreu ist nicht, wer die Bibelkritik abweist, sondern wer sie richtig anwendet. Denn nur so wird der Bibel überhaupt eine Chance 1 Vgl. J.W. Rogerson, Die Bibel lesen wie jedes andere Buch? Auseinandersetzungen um die Autorität der Bibel vom 18. Jahrhundert an bis heute, in: S. Chapman u.a. (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung (BThSt 44), Neukirchen-Vluyn 2001, 211–234. 2 G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche (1950), in: ders., Wort und Glaube I, Tübingen 1960, 1–49. 3 G. Ebeling, Diskussionsthesen zur Einführung in das Studium der Theologie, in: ders., Wort und Glaube I, Tübingen 1960, 447–457, hier 451.

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gegeben, in die moderne Welt hineinzusprechen. Und deshalb ist die aufklärerische Maxime des Verzichts auf eine Sakralhermeneutik nach wie vor grundlegend für die Theologie: »Die Auslegung der Bibel als des wichtigsten Buches geschieht grundsätzlich genauso wie die Auslegung jedes anderen Buchs.«4 Für das Urteil über naturwissenschaftliche und historische Auskünfte der Bibel heißt das, dass sich die Theologie ohne Zögern und auch gegen den Wortlaut der Bibel auf die moderne Wissenschaft einlassen kann: Die Theologie muss nicht kosmologische und geschichtliche Aussagen der Bibel gegen besseres Wissen für wahr halten, nur weil sie Teil des biblischen Kanons sind. Die Bibel ist nicht aus der Geschichte auszuklammern, sondern in deren Kontext zu verstehen. Und bezüglich historischer oder naturwissenschaftlicher Fragen steht die Bibel auf der Höhe ihrer und nicht der heutigen Zeit. Deshalb darf sie nicht als zeitlose Säulenheilige verehrt werden, sondern muss als ein sachlich dichter, aber historisch geprägter Gesprächspartner ernst genommen werden. Das ist, wohlgemerkt, kein Gebot nur der wissenschaftlichen Vernunft, sondern auch des christlichen Glaubens: »Das sola fide zerstört allen heimlichen Offenbarungsdoketismus, der der Geschichtlichkeit der Offenbarung dadurch ausweicht, dass er sie zu einer Geschichte sui generis macht, von deren heiligem Raum die historisch-kritische Methode ängstlich ferngehalten werden muss.«5

Weil die der Bibel angemessene Antwort nicht die blinde Unterwerfung, sondern der Glaube ist – und als Glaube kann nur der verstehende Glaube gelten, denn alles andere wäre kein Glaube, sondern selbstverschuldete Unmündigkeit –, deshalb darf keine Verstehenshilfe von der Bibel ferngehalten werden. Und deshalb ist die historische Bibelkritik keine Bedrohung der Bibel, sondern ein gerade auch in theologischer Hinsicht angemessenes, ja notwendiges Mittel im Umgang mit ihr. Die Theologie würde nicht nur ihres Wissenschaftscharakters verlustig gehen, wenn sie die Bibel als supranaturales Theofakt behandeln würde, sie würde sich auch gegen die Bibel selbst stellen. Es gab gemäß der erzählten Welt der Hebräischen Bibel nur einmal, vor langer und nur für kurze Zeit, einen göttlichen Autographen: die von Gott selbst geschriebene erste Ausgabe der Zehn Gebote (Ex 32,16). Allerdings wurde dieser Autograph von Mose zertrümmert (Ex 32,19), kurz nachdem er sie auf dem Berg Sinai erhalten hatte. Die Zweitausgabe hatte er dann selbst zu schreiben (Ex 34,27f). Die Bibel also verneint ihre eigene, unmittelbare göttliche Abkunft und legt ihren Leserinnen und Lesern so den kritischen Zugriff selbst nahe. 4 5

Ebeling, Diskussionsthesen, 451. Ebeling, Bedeutung, 45.

Die Schrift als Text und Kommentar verstehen

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Die Anwendung der historischen Kritik auf die Bibel hat eine grundlegende Transformation der Theologie initiiert, wie es klassisch Ernst Troeltsch festgehalten hat: »So hat die historische Methode auch die Theologie ergriffen, erst schüchtern und fragmentarisch mit allerhand Vorbehalten und Einschränkungen, dann immer energischer und umfassender, bis sie auch hier bewirken musste, was sie überall sonst bewirkt hat, eine prinzipielle Veränderung der gesammten [sic] Denkweise und der ganzen Stellung zum Gegenstande.«6

De facto muss man allerdings festhalten, dass dies für die Kirche so nicht immer stimmt, in der die historische Bibelkritik zuweilen ein höchst marginales Dasein fristet, und dass auch die Theologie außerhalb ihrer bibelwissenschaftlichen Teildisziplinen nicht immer historisch hinreichend informiert ist, wenn sie die Bibel thematisiert. Gleichwohl haben der historisch-kritische Zugang zur Bibel und vor allem die jüngsten Ergebnisse der redaktionsgeschichtlichen – oder, wie man heute etwas breiter aufgefasst oft auch sagt, literaturgeschichtlichen – Forschung7 neue Erkenntnisse generiert, die für die Einschätzung und die Begründung der theologischen Qualität der Bibel von entscheidender Bedeutung sind: Die Bibel ist Text und Kommentar in einem, sie umfasst bereits als Bibel eine Vielzahl innerbiblischer Auslegungen, was ihre theologische Qualität nicht mindert, sondern allererst etabliert. Im Folgenden soll diese Eigenart der Bibel näher beschrieben und in ihrer theologischen Bedeutung gewürdigt werden. 2.

Text und Kommentar in der Bibel

Die Bibel blickt auf eine lange Entstehungs- und eine lange Rezeptionsgeschichte zurück, wobei sich die Phasen der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte erstaunlicherweise – wie die Forschung der letzten Jahrzehnte deutlich gezeigt hat – überschneiden8. Möglicherweise ist dies beinahe sogar zu einem solchen Grad der Fall, dass man die Entstehungsgeschichte der Bibel als eine Teilmenge ihrer Rezeptionsgeschichte verstehen kann: Sobald die ersten Vorstufen biblischer Texte vorlagen, wurden sie auch schon rezipiert, und zwar literarisch produktiv rezi6 E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode der Theologie (1900), wieder abgedruckt in: F. Voigt (Hg.), Ernst Troeltsch Lesebuch (UTB 2452), Tübingen 2003, 2–25, hier 8. 7 Vgl. im Überblick R.G. Kratz, Art. Redaktionsgeschichte I. Altes Testament, TRE 28, Berlin / New York 1997, 367–378. 8 Vgl. z.B. W. Dietrich / H.-P. Mathys / T. Römer / R. Smend, Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart 2014; K. Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 22014.

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piert, so dass diese ersten Kommentare selbst Teil des biblischen Textes wurden9. Noch radikaler ist die rezeptionsgeschichtliche Prägung der Entstehungsgeschichte biblischer Texte einzustufen bei Textgut, das auf mündliche Vorstufen zurückgeht. Zwar wird man das Vorhandensein und den Umfang möglicher mündlicher Vorstufen der Bibel als nicht mehr so bedeutend ansehen, wie dies zu Zeiten von Hermann Gunkel noch geläufig war10, doch es ist nach wie vor bei einer stattlichen Anzahl von Prophetenlogien, Weisheitssprüchen, Psalmen oder auch Erzählungen damit zu rechnen, dass sie mündliche Vorstufen gekannt haben11. Schon der Vorgang der Erstverschriftung solch mündlichen Traditionsguts ist ein Rezeptionsvorgang mit hohem interpretativen Anteil, bei dem entscheidende theologische Profilierungen vorgenommen werden können. Besonders eindrücklich hat dies etwa Jörg Jeremias in seiner Kommentierung des Hoseabuchs, besonders für Hos 4–14, aufzeigen können12. So sind etwa die spezifische Reihung vormals mündlichen Guts wie auch Formulierungsanpassungen an die neu entstehenden Kontexte mögliche Mittel theologischer Interpretation, auch wenn die konkreten Rekonstruktionsmöglichkeiten solcher Vorgänge naturgemäß beschränkt bleiben müssen. Im Fall von Hos 4–14 ist zum Beispiel schon äußerlich auffällig, dass dieser Textzusammenhang nicht durch Überschriften unterbrochen ist, die Leserin oder der Leser also zur fortlaufenden Lektüre angewiesen wird. Die in Hos 4–14 verarbeiteten Textstücke sind so in einen neuen interpretativen Gesamtzusammenhang eingeordnet. 9 Vgl. R.G. Kratz, Innerbiblische Exegese und Redaktionsgeschichte im Lichte empirischer Evidenz, in: ders., Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels (FAT 42), Tübingen 2004, 126–156; Schmid, Literaturgeschichte; J. Gertz, Schriftauslegung in alttestamentlicher Perspektive, in: F. Nüssel (Hg.), Schriftauslegung (TdT 8), Tübingen 2014, 9–41. 10 Vgl. H. Gunkel, Die Grundprobleme der israelitischen Literaturgeschichte, OLZ 27 (1906), 1797–1800.1861–1866; ders., Die israelitische Literatur, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Berlin 1906, 51– 102 (Separatnachdrucke: Leipzig 1925 = Darmstadt 1963); vgl. dazu W. Klatt, Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode (FRLANT 100), Göttingen 1969, 166–192; R. Liwak (Hg.), Hermann Gunkel zur israelitischen Literatur und Literaturgeschichte (Theologische Studien-Texte 6), Waltrop 2004, IX–XXXI; M. Witte, Von der Analyse zur Synthese – Historisch-kritische Anmerkungen zu Hermann Gunkels Konzept einer israelitischen Literaturgeschichte, in: U.E. Eisen / E.S. Gerstenberger (Hg.), Hermann Gunkel revisited. Literatur- und religionsgeschichtliche Studien (Exegese in unserer Zeit 20), Münster 2011, 1–31. 11 Vgl. D.M. Carr, Schrift und Erinnerungskultur. Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung (AThANT 107), Zürich 2015. 12 Vgl. J. Jeremias, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983; ders., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1995.

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Die Wahrnehmung der Bibel als interpretative Literatur hat fraglos die historische Bibelkritik zu ihrer sachlichen Voraussetzung: Ohne diachronen Zugriff auf die Bibel ist es nur schwer möglich, Text und Kommentar in ihr zu unterscheiden. Natürlich lässt sich auch so sehen, dass die Bücher der Chronik eine Neuausgabe des großen erzählerischen Zusammenhangs von Gen–2Kön bieten – in der angelsächsischen Forschung spricht man von »rewritten bible«13 – und dass etwa das Jeremiabuch in Dan 9 ausgelegt wird14, doch damit wird man nur des geringsten Teils innerbiblischer Kommentartätigkeit ansichtig, da sich diese in einer Weise in den Text eingeschrieben hat, dass sie davon zunächst nicht oder nur schwer unterscheidbar ist. Zwar ist die Erkenntnis dieser Eigenart der Bibel so alt wie die historische Bibelkritik überhaupt, allerdings wurde sie zunächst eher als eine Not denn als eine Tugend aufgefasst: Wo Zutaten und Kommentare erkennbar wurden, trachtete man danach, den originalen Text von ihnen zu reinigen und so in seiner ursprünglichen Schönheit zu präsentieren. So machte etwa Bernard Duhm in seiner Jeremia-Übersetzung15 die echten Stücke Jeremias und Baruchs einerseits und die Ergänzungen andererseits durch einen eigenen Schrifttyp kenntlich: »Ich bitte, zunächst immer die Texte einheitlicher Schriftgattung für sich zu lesen und erst nachher die Beischriften; nur so erhält man den richtigen Eindruck von der wahren Meinung des älteren Autors und von dem Zusatzcharakter der Zusätze. Hoffentlich gewöhnt sich der Leser rasch an die Unterscheidung der angewendeten Schriftarten.«16

Diese theologisch wertende Zugangsweise zu den sekundären Stücken ist in der heutigen Forschungsdiskussion weitgehend überwunden. Dieser Wandel geht auf die Anfänge der redaktionsgeschichtlichen Fragestellung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zurück. Sie fragt entschieden nicht mehr nur ausschließlich nach den mutmaßlichen Grundschichten der biblischen Texte, sondern auch nach den unterschiedlichen Akzenten und Aussagelinien von deren literarischer, aber immer noch innerbiblischen Nachgeschichte. Man hat es bei den »Ergänzern« nicht mit stümperhaften Glossatoren, sondern mit schriftgelehrten Redaktoren zu tun, die die ihnen vorliegenden Traditionen im 13 Vgl. J. Zsengellér (Hg.), Rewritten Bible after Fifty Years. Texts, Terms, or Techniques? A Last Dialogue with Geza Vermes (JSJ.S 166), Leiden 2014; A. Feldman / L. Goldman (Hg.), Scripture and Interpretation. Qumran Texts That Rework the Bible (BZAW 449), Berlin/Boston 2014. 14 Vgl. O.H. Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996. 15 B. Duhm, Das Buch Jeremia, Tübingen/Leipzig 1903. 16 III. Vgl. ähnlich P. Volz, Der Prophet Jeremia (KAT X), Leipzig/Erlangen 1928, VII.

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Lichte ihrer eigenen Erfahrung reinterpretieren – im Modus der literarisch produktiven Fortschreibung. Der Bibelwissenschaft der letzten Jahrzehnte ist es dabei gelungen, deutlich zu machen, dass diese Fortschreibungen nicht eine Qualitätsminderung des zugrunde liegenden Quellentextes bedeuten, sondern diesem vielmehr eine interpretatorische und theologische Dichte verliehen haben, die die Bedingung der Möglichkeit dafür darstellt, dass sich die Bibel ihren Interpretationsgemeinschaften als autoritativer Text imponieren konnte. Damit einher ging eine grundlegend veränderte Einschätzung der persischen und hellenistischen Epochen der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel, die nun nicht mehr nur im Zeichen der Epigonalität stehen, sondern zur maßgeblichen Formierungsperiode der Hebräischen Bibel aufgestiegen sind. Die dichotomische Wahrnehmung der alttestamentlichen Zeit als Hebraismus und Judaismus, die die Forschung im 19. und beginnenden 20. Jh. geprägt hatte und auch heute noch hier und dort reproduziert wird17, lässt sich weder historisch noch theologisch aufrechterhalten. Vielmehr ist deutlich geworden, dass die Hebräischen Bibel zu weiten Teilen ein Produkt der intellektuellen Anstrengungen des nachexilischen Judentums ist. Auch wenn ansehnliche Textanteile noch in die Königszeit zurückreichen mögen, so liegt doch kein Buch der Hebräischen Bibel in einer anderen als seiner nachexilischen Gestalt vor. Nur über die interpretatorische Aneignung durch das Judentums ist die althebräische Literatur für spätere Epochen rezipierbar geworden, ansonsten wäre sie wohl der Vergessenheit anheimgefallen. 3.

Die Schrift als ausgelegte Schrift

Wie ist nun der interpretative Charakter der Hebräischen Bibel näher zu bestimmen? Nachfolgend soll an einigen Beispielen aufgezeigt werden, wie sich der schriftgelehrte Charakter der Schrift in unterschiedlichen Teilen der Hebräischen Bibel zeigt18. a)

Gesetze und Gesetzesfortschreibung im Pentateuch

Schriftgelehrte Prägung lässt sich zunächst in ausgedehntem Maß in den Gesetzen des Pentateuchs erkennen19. Das hat seinen Grund vor allem 17 Vgl. die umsichtige Analyse von L. Perlitt, Hebraismus – Deuteronomismus – Judaismus, in: G. Braulik u.a. (Hg.), Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel. FS Norbert Lohfink, Freiburg i.Br. 1993, 279–295. 18 Weitere Beispiele finden sich bei K. Schmid, Schriftgelehrte Traditionsliteratur: Fallstudien zur innerbiblischen Schriftauslegung im Alten Testament (FAT 77), Tübingen 2011 (Studienausgabe 2015). 19 Vgl. B.M. Levinson, Der kreative Kanon. Innerbiblische Schriftauslegung und religionsgeschichtlicher Wandel im alten Israel, Tübingen 2012; für die Spätzeit D.A.

Die Schrift als Text und Kommentar verstehen

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darin, dass das legislative Material des Pentateuchs im Laufe seiner literaturgeschichtlichen Entwicklung schon bald als Gottesgesetz interpretiert worden ist20. Die ältesten Rechtssätze des Bundesbuchs waren, altorientalischer Gepflogenheit entsprechend, in der 3. Person formuliert und galten als Königsgesetz. Erst mit dem Deuteronomium kam die Vorstellung auf, Gott als legislative Instanz zu proklamieren und das Gesetz als Gottes Gesetz zu interpretieren21. Dies brachte eine entscheidende Folge mit sich: War einmal das Gesetz mit göttlicher Qualität ausgestattet, so konnte es nicht mehr unbesehen verändert werden. Nur durch innerbiblische Auslegung war es möglich, ein solches Gesetz zu aktualisieren und in eine neue Gestalt zu bringen – was mit fortschreitender Zeit und neuen Problemlagen immer wieder erforderlich war22. Die Auslegung von Gesetzen war zwar schon vor dem Deuteronomium – im Bereich des Bundesbuches, aber auch in der altorientalischen Rechtsliteratur – ein bekannter Vorgang, aber die Behauptung eines göttlichen Ursprungs der Gesetze intensivierte diese Prozesse. Dtn 15,12–18: Wenn dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, sich dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen, und im siebten Jahr sollst du ihn von dir freilassen. 13 Und wenn du ihn von dir freilässt, sollst du ihn nicht mit leeren Händen ziehen lassen […]

Ex 21,2–7: Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre dienen, und im siebten soll er ohne Entgelt freigelassen werden. […]

Teeter, Scribal Laws. Exegetical Variation in the Textual Transmission of Biblical Law in the Late Second Temple Period (FAT 92), Tübingen 2014. 20 Vgl. E. Otto, Wandel der Rechtsbegründungen in der Gesellschaftsgeschichte des antiken Israel. Eine Rechtsgeschichte des ›Bundesbuches‹. Ex XX,22–XXIII,13 (StB 3), Leiden 1988; R. Albertz, Die Theologisierung des Rechts im Alten Israel, in: ders., Geschichte und Theologie. Studien zur Exegese des Alten Testaments und zur Religionsgeschichte Israels (BZAW 326), Berlin / New York 2003, 187–207; vgl. weiterführend R. Brague, The Law of God. The Philosophical History of an Idea (trans. L.G. Cochrane), Chicago 2007. 21 E. Otto, Treueid und Gesetz. Die Ursprünge des Deuteronomiums im Horizont neuassyrischen Vertragsrechts, ZAR 2 (1996), 1–52; B.M. Levinson / J. Stackert, Between the Covenant Code and Esarhaddon’s Succession Treaty. Deuteronomy 13 and the Composition of Deuteronomy, JAJ (2012), 123–140. Kritisch gegen die These der Rezeption neuassyrischer Vasallenverträge im Dtn C.L. Crouch, Israel and the Assyrians: Deuteronomy, the Succession Treaty of Esarhaddon, and the Nature of Subversion (SBL Ancient Near East Monographs 8), Atlanta 2014. 22 J.L. Ska, Introduction to Reading the Pentateuch, Winona Lake 2006, 52: »the Law was of divine origin, and its validity was therefore ‘permanent’; it could not be abrogated. Consequently, a ‘new law’ was considered to be a form of an old law. It was both identical and different. In practical terms, only a new ‘updated’ formulation was valid.”

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16 Und wenn er zu dir sagt: Ich will nicht von dir fortgehen, weil er dich und dein Haus liebt, weil es ihm bei dir gut geht, 17 so nimm den Pfriem und stoße ihn durch sein Ohr in die Türe, und er ist für immer dein Sklave. Mit deiner Sklavin sollst du es auch so machen. 18 Es soll dir nicht schwer fallen, wenn du ihn von dir freilassen musst; denn in den sechs Jahren, die er dein Sklave war, hat er dich nur halb so viel gekostet wie ein Tagelöhner. Und Jhwh, dein Gott, wird dich segnen in allem, was du tun wirst.

5 Wenn der Sklave aber sagt: Ich liebe meinen Herrn, meine Frau und meine Söhne, ich will nicht freigelassen werden, 6 so führe ihn sein Herr vor Gott (h∞lhym); er führe ihn an die Tür oder an den Türpfosten, und dort durchbohre ihm sein Herr sein Ohr mit einem Pfriem, und er ist für immer sein Sklave.

Die Reformulierung des älteren Sklavengesetzes aus Ex 21,2–7 in Dtn 15,12–18 zeigt einige bezeichnende Neuinterpretationen23: Die Sklaverei als solche wird in Ex 21 als selbstverständlich angesehen (»wenn du einen Sklaven kaufst«): In Dtn 15 hingegen wird sie zwar akzeptiert, aber doch kritisch gesehen (»sich dir verkauft«, d.h. »sich dir verkaufen muss«; »Bruder«). Bei der Freilassung wird der Sklave in Dtn 15 so ausgestattet, dass er eine eigene Existenz aufbauen kann und nicht sogleich wieder in die Schuldsklaverei zurückfällt. Will der Sklave aber für immer im Hause seines Herrn dienen, so wird dies durch einen Ritus besiegelt, der in Ex 21 offenbar sakraler Natur ist (»vor Gott«), während er in Dtn 15 in profanierter Gestalt erscheint. Besonders auffällig ist schließlich der Schlusspassus in Dtn 15, der einerseits eine motivierende Begründung für die Sklavenfreilassung formuliert und andererseits den göttlichen Segen für die Einhaltung dieses Gebots in Aussicht stellt: Offenbar versucht das Recht im Deuteronomium, sich durch Einsicht durchzusetzen, nicht durch eine exekutive Gewalt. Einen weiteren interpretativen Schritt unternimmt die Rezeption wohl beider Bestimmungen im Rahmen des Heiligkeitsgesetzes, in Lev 2524: Lev 25,39–46: 39 Und wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich dir verkaufen muss, sollst du ihm keine Sklavenarbeit auferlegen. 40 Wie ein Tagelöhner, wie ein Beisasse soll er bei dir sein, bis zum Jobeljahr soll er bei dir arbeiten. 41 Dann soll er von dir weggehen, er und mit ihm seine 23 Vgl. B.M. Levinson, The Manumission of Hermeneutics. The Slave Laws of the Pentateuch as a Challenge to Contemporary Pentateuch Theory, in: A. Lemaire (Hg.), Congress Volume Leiden 2004 (VT.S 109), Leiden 2006, 281–324. 24 Vgl. T. Hieke, Levitikus 16–27 (HThK.AT), Freiburg i.Br. 2014, 975–1046.

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Söhne, und er soll zu seiner Sippe zurückkehren und wieder zum Besitz seiner Väter kommen. 42 Denn meine Sklaven sind sie, die ich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten. Sie sollen nicht verkauft werden, wie man einen Sklaven verkauft. 43 Du sollst nicht mit Gewalt (bprk) über ihn herrschen, sondern sollst dich fürchten vor deinem Gott. 44 Die Sklaven und Mägde aber, die du besitzen darfst, sollt ihr von den Völkern kaufen, die rings um euch leben. Von ihnen sollt ihr Sklave und Magd kaufen. 45 Und auch von den Söhnen der Beisassen, die bei euch als Fremdlinge leben, dürft ihr sie kaufen und von ihrer Sippe, die bei euch lebt, die sie in eurem Land gezeugt haben, und sie dürfen zu eurem Besitz werden. 46 Und ihr dürft sie euren Söhnen als Besitz vererben. Ihr dürft sie für immer als Sklaven arbeiten lassen. Über eure Brüder aber, die Israeliten, sollst du nicht mit Gewalt herrschen, einer über seinen Bruder.

Lev 25 verbietet den Besitz von Sklaven aus Israel, denn, so hält es Lev 25,42 fest, die Menschen in Israel sind Sklaven Gottes, nicht Sklaven untereinander. Die Formulierung in Lev 25,43.46 »mit Gewalt (bprk) herrschen« ist aus Ex 1,13f (prk) aufgenommen und spielt auf die Unterdrückung Israels in Ägypten an25. So wie die Ägypter über Israel geherrscht haben, so dürfen Israeliten nicht über Israeliten herrschen. Nur der Besitz ausländischer Sklaven ist gemäß Lev 25 gestattet. Besonders im Bereich der legislativen Materialien der Hebräischen Bibel ist diese Zuordnung von Text und Kommentar von entscheidender theologischer Bedeutung: Biblisch gesehen ist nicht das Gesetz an sich normativ, sondern das Gesetz und seine Auslegung. Mit anderen Worten: Die Dynamik der Auslegung ist bereits selbst im Kanon verankert und weist so auch über diesen hinaus. Ein zeitloses göttliches Gesetz gibt es in der Bibel nicht, auch und gerade das göttliche Gesetz bedarf der fortwährenden Aktualisierung. b)

Prophetische Prophetenauslegung26

Mutatis mutandis stellt sich dasselbe Problem wie bei den Rechtssätzen auch bei der Prophetenliteratur: Auch hier bedürfen mit göttlicher Autorität ausgestattete Aussagen bisweilen der Aktualisierung, Ergänzung oder Korrektur. Offenkundig kommen dabei in der Prophetie auch Techniken zur Anwendung, die aus der Rechtstradition stammen 27. 25 Vgl. B.M. Levinson, The Birth of the Lemma: The Restrictive Reinterpretation of the Covenant Code’s Manumission Law by the Holiness Code (Leviticus 25:44–46), JBL 124 (2005), 617–639. 26 Der Ausdruck stammt von O.H. Steck, Prophetische Prophetenauslegung, in: H.F. Geißer u.a. (Hg.), Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung. Eine Zürcher Vorlesungsreihe zu Gerhard Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992, Zürich 1993, 198–244. 27 Vgl. E. Otto, Techniken der Rechtssatzredaktion israelitischer Rechtsbücher in der Redaktion des Prophetenbuches Micha, SJOT 5 (1991), 119–150.

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Nachgerade eine »Fortschreibungskette« findet sich beispielsweise in Jer 23,1–628. Sie setzt ein mit einer eigenständigen Einheit in 23,1f, die formgeschichtlich als prophetisches Gerichtswort gestaltet ist und mit der Gottesspruchformel abgeschlossen ist. Sie beinhaltet ein Gerichtswort gegen die Könige Judas (»Hirten«), die sich der Zerstreuung ihres Volkes schuldig gemacht haben. Jer 23,1f: Wehe den Hirten, welche die Schafe meiner Weide verkommen lassen und sie zerstreuen! Spruch Jhwhs. Darum spricht so Jhwh, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und versprengt und euch nicht um sie gekümmert. Siehe, ich werde die Bosheit eurer Taten an euch heimsuchen, Spruch Jhwhs.

Daran schließt sich in 23,3f ein Stück an, das offenkundig aus anderer Hand stammt, denn hier sind es nicht die Könige, die ihr Volk versprengt haben, sondern Gott selbst ist der Akteur hinter diesem Vorgang. Jer 23,3f stellen also mit aller Deutlichkeit klar, dass die Deportation Judas kein Versehen, sondern letztlich Teil von Gottes Geschichtsplan ist, der dann auch die Sammlung der Diaspora umfassen wird: 23,3f: Und ich selbst werde den Rest meiner Schafe aus allen Ländern sammeln, wohin ich sie versprengt habe, und ich werde sie wieder auf ihre Weide führen, und sie werden fruchtbar sein und sich mehren. 4 Und ich werde über sie Hirten aufstehen lassen, und sie werden sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und nicht mehr erschrecken, und man wird sich um sie nicht mehr kümmern müssen, Spruch Jhwhs.

Die Folgeverse in 23,5f setzen sich noch einmal vom Voraufgehenden ab und tragen die Präzisierung nach, dass die neuen Hirten, die Gott über sein Volk setzen wird, Davididen sein werden29: 23,5f: Siehe, es kommen Tage, spricht Jhwh, da werde ich David einen gerechten Spross aufstehen lassen. Und er wird als König herrschen und weise regieren und Recht und Gerechtigkeit üben im Land. 6 In seinen Tagen wird Juda geholfen werden, und Israel wird sicher wohnen. Und das ist der Name, mit dem man ihn nennen wird: Jhwh ist unsere Gerechtigkeit!

Die Fortschreibungssequenz spiegelt so den literarisch-produktiven Umgang des Jeremiabuches mit der Grundaussage in 23,1f wieder, die im 28 C. Levin, Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt (FRLANT 137), Göttingen 1985. 29 Zur weiteren Reinterpretation von Jer 23,5f in Jer 33,14–16 vgl. K. Schmid, Die Verheißung eines kommenden Davididen und die Heimkehr der Diaspora. Die innerbiblische Aktualisierung von Jer 23,5f in Jer 33,14–26, in: ders., Schriftgelehrte Traditionsliteratur. Fallstudien zur innerbiblischen Schriftauslegung im Alten Testament (FAT 77), Tübingen 2011 (Studienausgabe 2015), 207–221.

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Verlauf der Zeit offenbar der Aktualisierung bedurfte. So musste 23,3f dem Missverständnis wehren, Gott hätte mit der Zerstreuung Judas unter die Völker nichts zu tun, und 23,5f ergab sich aus der Notwendigkeit, die künftigen Könige aus der Davidsdynastie zu rekrutieren. Es ist sogleich klar, dass diese Fortschreibungen nicht Auslegungen des jeweiligen Vorgängertexts im engen Sinn darstellen, denn sie beschränken sich nicht auf die Entfaltung impliziter Sinnpotentiale, sondern formulieren neue Gesichtspunkte, die über die jeweiligen Vorgaben inhaltlich hinausgehen. Im Fall von Jer 23,1–6 haben sich die Fortschreibungsvorgänge jeweils literarisch unmittelbar an die Vorgängertexte angeschlossen. Doch es finden sich auch zahlreiche Beispiele in der Hebräischen Bibel, bei denen der gebende und der nehmende Teil literarisch weit auseinanderliegen. Die Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde in Jes 65,17–25 ist in deutlicher Aufnahme der Gegenüberstellung von »altem« und »neuem« Exodus in Jes 43,16–21 formuliert (»man wird der früheren Dinge nicht mehr gedenken«) und zeigt an, dass es in der »tritojesajanischen« Situation von Jes 65 gegenüber der »deuterojesajanischen« in Jes 43 nicht mehr zureicht, »nur« die Heilsgeschichte Israels zu reformulieren, nein, die Schöpfungsordnung als solche muss – gegenüber derjenigen von Gen 1 – erneuert werden30. Jes 43,16–19: So spricht Jhwh, der einen Weg bahnt im Meer und einen Pfad in mächtigen Wassern, 17 der Wagen und Pferde ausziehen ließ, Heer und Starke, […] 18 Gedenkt nicht mehr der früheren Dinge, und des Vergangenen achtet nicht. 19 Siehe, nun mache ich Neues; schon sprießt es, erkennt ihr es nicht?

Jes 65,13–17: Darum spricht der Herr Jhwh so: Siehe, meine Knechte werden essen, ihr aber werdet hungern! Siehe, meine Knechte werden trinken, ihr aber werdet dürsten! Siehe, meine Knechte werden fröhlich sein, ihr aber werdet zuschanden werden! […]

Gen 1,1: Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.

17 Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde; man wird der früheren Dinge nicht mehr gedenken, und niemand wird sich ihrer mehr erinnern.

Jes 65 reflektiert eine theologische Position, in der das Ideal der Einheit des Gottes aufgegeben worden ist. Auch Umkehr ist kein Heilsmittel mehr, wie noch in Jes 56–59, um die Heilshindernisse wie kultische und soziale Missstände im Gottesvolk zu beseitigen. Allein die Unterschei30 O.H. Steck, Der neue Himmel und die neue Erde. Beobachtungen zur Rezeption von Gen 1–3 in Jes 65,16b–25, in: J. van Ruiten / M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Isaiah. FS W.A.M. Beuken (BEThL 132), Leuven 1997, 349–365.

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dung von Knechten und Frevlern ist für die kommende Heilswende relevant. Diese Entscheidung ist von so fundamentaler Natur, dass die Gegenüberstellung von altem und neuem Exodus nicht mehr zureichend war, zumal der Exodus ein dezidiertes Volkskonzept darstellt. Die prophetische Position von Jes 65f hat aber in der weisheitlichen Literatur beherzten Widerspruch erfahren. Das Qoheletbuch erteilt weitgreifenden Hoffnungen auf ein künftiges eschatologisches Eingreifen Gottes in die Weltgeschichte eine klare Absage. Gegenüber Erwartungen eines »neuen Himmels« und einer »neuen Erde« aus zeitgleichen Texten des Jesajabuchs betont Qohelet, dass es »nichts Neues« gibt 31: Qoh 1,9–11: 9 Was gewesen ist, wird wieder sein, und was getan worden ist, wird wieder getan werden: es gibt nichts völlig Neues32 unter der Sonne. 10 Wohl sagt man: Siehe dies an! Das ist etwas Neues! Längst schon gab es das in den fernen Zeiten, die vor uns waren. 11 Es gibt keine Erinnerung an die Früheren, und auch an die Späteren, die es noch geben wird, an sie wird es keine Erinnerung geben bei denen, die zuletzt da sein werden.

Jes 65,17: Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde; man wird der früheren Dinge nicht mehr gedenken, und niemand wird sich ihrer mehr erinnern.

Einer weiteren Grundüberzeugung aus Jes 56–66 steht Qohelet ebenfalls mit Reserve gegenüber: Es gibt für Qohelet keine theologisch relevante Scheidung zwischen Frevlern und Frommen. Wohl gibt es Weise und Toren, Gerechte und Ungerechte, doch sie unterscheiden sich nicht in ihren Geschicken, namentlich im Tod33. Qoh 3,19: Das Schicksal der Menschen gleicht ja dem Schicksal der Tiere, und sie haben ein und dasselbe Schicksal. Beide müssen sterben, und alle haben ein und denselben Lebensgeist, und der Mensch hat dem Tier nichts voraus, denn flüchtig sind sie alle.

Im Tod sind alle gleich, es gibt keinen jenseitigen Ausgleich, wie man aufgrund von Texten wie etwa Ps 49 und 73 hoffen könnte (vgl. Qoh 9,1). 31 Vgl. T. Krüger, Dekonstruktion und Rekonstruktion prophetischer Eschatologie im Qohelet-Buch, in: A.A. Diesel u.a. (Hg.), »Jedes Ding hat seine Zeit …«. Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit. FS D. Michel (BZAW 241), Berlin / New York 1996, 107–129 = T. Krüger, Kritische Weisheit, Zürich 1997, 151–172. 32 Zur Ambiguität des hebräischen Textes (kl Δdç) vgl. T. Krüger, Kohelet (Prediger) (BK XIX, Sonderband), Neukirchen-Vluyn 2000, 110. 33 Vgl. T. Zimmer, Zwischen Tod und Lebensglück. Eine Untersuchung zur Anthropologie Qohelets (BZAW 286), Berlin / New York 1999.

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Deshalb sind die Menschen nach Qohelet auf die elementaren Lebensgewährungen und -ordnungen der Schöpfung gewiesen: Diese sind nicht optimal, aber auch nicht schlecht, sondern ambivalent. Damit trifft sich Qoh mit der theologischen Ausrichtung von Gen 1–1134, aber auch mit einigen Psalmenaussagen (vgl. Ps 104). Man erkennt so, dass die Hebräische Bibel zu bestimmten theologischen Fragen nicht bestimmte Positionen formuliert, sondern ein Geflecht von Positionen präsentiert, die untereinander zwar textlich interagieren, aber jeweils nicht mit höherer oder niederer Autorität ausgestattet sind. Die Bibel bezeugt so einen historisch und sachlichen differenzierten Umgang mit den theologischen Fragen, die sie thematisiert. Aber nur für ein fundamentalistisches Bibelverständnis kann dieser Befund als solcher theologisch problematisch sein. c)

Die interpretative Dynamik der Weisheitsliteratur

Auch in der Weisheitsliteratur finden sich vielfältige innerbiblische Auslegungsvorgänge. Wie in der Prophetie und auch in den Psalmen ergeben sich erste interpretative Dimension schon durch die Zusammenstellung von bestimmten Sprüchen, so etwa in Prov 26,4f: Antworte dem Toren nicht nach seiner Torheit, damit du nicht wirst wie er. Antworte dem Toren nach seiner Torheit, damit er sich nicht selbst für weise hält.

Das widersprüchliche Nebeneinander dieser beiden Sprüche ist offenkundig intendiert35, um das Problem der Diskussion mit »Toren« aufzuzeigen. Prov 26,4f lässt nur den Weg offen, den Toren aus seiner Torheit herauszuführen, indem dessen Torheit weder negativ noch positiv Einfluss auf das Gespräch nimmt36.

34 Vgl. T. Krüger, Die Rezeption der Tora im Buch Kohelet, in: L. SchwienhorstSchönberger (Hg.), Das Buch Kohelet. Studien zur Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie (BZAW 254), Berlin / New York 1997, 173–193. 35 Die Septuaginta macht es ihren Leserinnen und Lesern leicht, indem sie vor 26,5 ein ἀλλὰ einfügt: μὴ ἀποκρίνου ἄφρονι πρὸς τὴν ἐκείνου ἀφροσύνην ἵνα μὴ ὅμοιος γένῃ αὐτῷ ἀλλὰ ἀποκρίνου ἄφρονι κατὰ τὴν ἀφροσύνην αὐτοῦ ἵνα μὴ φαίνηται σοφὸς παρ᾽ ἑαυτῷ.

36 Vgl. auch die Diskussion bei M.V. Fox, Proverbs 10–31 (AncB 18B), New Haven 2009, 792–794. Seine Lösung lautet: »By virtue of their placement, v. 5 responds to v. 4 and has the last word. In the end, there may be no choice but to give the fool a tongue-lashing.« Anders A. Meinhold, Die Sprüche: Teil 2: Sprüche Kapitel 16–31 (ZBK 16.2) Zürich 1991, 438: »Eine wirkliche Gegensätzlichkeit entfällt, wenn beachtet wird, daß es in V. 4 um den Angesprochenen selbst, in V. 5 jedoch um den Selbstklugen geht.«

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Prov 10,1–5 gibt ein komplexeres Beispiel dafür ab, welche sinntragenden Beziehungen sich aus bestimmten Spruchanordnungen ergeben können37. Prov 10,1–5: […] Ein weiser Sohn macht seinem Vater Freude, ein dummer Sohn aber ist der Kummer seiner Mutter. 2 Unrecht erworbene Schätze nützen nichts, Gerechtigkeit aber rettet vor dem Tod. 3 Den Gerechten lässt Jhwh nicht hungern, aber die Gier38 der Frevler stößt er weg. 4 Trägheit macht arm39 die Hand der Fleißigen aber macht reich. 5 Wer im Sommer sammelt, ist ein verständiger Sohn, wer die Erntezeit verschläft, ist ein schändlicher Sohn.

Prov 10,1.5 umschließen eine Einheit von Sprüchen, die zwar zunächst als je für sich stehend erscheinen mögen, tatsächlich aber in einer überlegten Komposition aneinandergereiht worden sind. Die thematische Opposition von 10,1 »weise« – »dumm« wird in 10,5 expliziert: »Verständig« ist, wer im Sommer erntet, wer dies nicht tut, handelt schändlich. 10,2 schließt sachlich an diese Explikation an und warnt nun davor, dass das alleinige Achten auf ökonomische Effizienz gefährlich sein kann und betont die Notwendigkeit guten Handelns: Nur rechtens erworbenes Eigentum ist von Nutzen. 10,3 bearbeitet dann ein Problem, das sich aus der Position von 10,2 ergeben könnte: Was geschieht, wenn moralisch ausgerichtetes Handeln in ökonomische Schwierigkeiten führt? An dieser Stelle führt 10,3 Gott als Argument ein: Er wird den Frommen sättigen. 10,4 schließlich stellt klar, dass Gottes Zuwendung aber die in 10,5 geforderte Eigeninitiative nicht überflüssig macht: Wer nicht arbeitet, wird arm bleiben. Man erkennt so: Prov 10,1–5 erarbeitet eine in sich differenzierte Position zur Frage, wie weises Handeln konkret zu bestimmen ist und sichert diese Position gegen mögliche Seitenprobleme ab. Es ist denkbar und wahrscheinlich, dass Prov 10, 1–5 aus vormals eigenständigen Sprüchen zusammengestellt worden ist, aber die literarische Zusammenstellung als solche bringt wesentliche neue Sinndimensionen ein. 4.

Der Kanon als plurale Einheit

Der Kanon der Hebräischen Bibel40 ist als eine ausgesprochen vielstimmige Größe zu charakterisieren. Allein schon seine Eigenschaft als Bi37 Vgl. T. Krüger, Komposition und Diskussion in Proverbia 10, ZThK 89 (1995), 413–433 = ders., Kritische Weisheit, Zürich 1997, 195–214. 38 Vgl. die textkritische Diskussion bei Fox, Proverbs, 10–31, 512. 39 Der Text ist als r™∞ç ˛øsåh zu vokalisieren; vgl. Fox, Proverbs, 513. 40 Vgl. die neueren Darstellungen von T. Lim, The Formation of the Jewish Canon, New Haven 2013; M. Satlow, How the Bible Became Holy, New Haven 2014. Über

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bliothek verschiedener Bücher verleiht ihm einen pluralen Charakter. Doch auch für jede Schrift für sich – ausgenommen jene wenigen Beispiele biblischer Bücher, die literarisch einheitlich (oder weitgehend einheitlich) sein könnten – gilt, dass sie in sich inhaltlich plural strukturiert ist41. Die Fortschreibungsgeschichte der im Kanon versammelten Schriften macht diese zu jeweils bereits kommentierten Texten, deren innerbiblische Kommentare in aller Regel nicht bei den Sinnakzenten des ihnen vorgegebenen Grundtextes stehenbleibt sind – sonst wären sie kaum eingetragen worden –, sondern diesen ergänzt, korrigiert, abschwächt oder verstärkt. Die theologische Multipositionalität der Bibel42 ist also eine vermittelte: Die unterschiedlichen Aussagen eines Buches sind aufeinander bezogen und lassen sich aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Gewichtungen lesen. Doch die verschiedenen Positionen der Bibel sind nicht nur je für sich interessant, sondern durch den historisch-kritischen Zugriff ist es möglich, die interpretative Dynamik zu erschließen, die hinter der Entwicklung dieser unterschiedlichen Positionen steht und die selbst von theologischer Bedeutung ist. Sie zeigt an, dass theologische Sachthemen sich entwickeln können und müssen und dass mit veränderten Zeiten und Situationen neue Blicke und Einschätzungen auf sie nötig werden. 5. Schriftgemäße Interpretation im Horizont innerbiblischer Schriftauslegung Welche Folgerungen sind nun im Blick auf die Auslegung der Schrift heute angesichts ihrer beschriebenen Qualität als Text und Kommentar zu ziehen?43 Am wichtigsten ist zunächst der Aspekt, dass die Dynamik die unterschiedlichen Anordnungen informieren R.T. Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism, Grand Rapids 1985; P. Brandt, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (BBB 131), Berlin/Wien 2001. Zu den großen Septuagintahandschriften vgl. K. Schmid, Christologien antiker Bibelcodices. Biblisch-theologische Beobachtungen zu den Bücheranordnungen im Codex Sinaiticus, im Codex Alexandrinus und im Codex Vaticanus, in: G. Thomas / A. Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus. FS M. Welker, Leipzig 2007, 43–55. 41 Vgl. dazu M. Welker, Was ist Pluralismus?, in: Wertepluralismus. Sammelband der Vorträge des Studium Generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Wintersemester 1998/99, Heidelberg 1999, 9–23; ders., Christentum und strukturierter Pluralismus, in: A. Feldtkeller (Hg.), Konstruktive Toleranz – gelebter Pluralismus. Erfahrungen mit dem Zusammenleben von Religionen und Kulturen, Frankfurt a.M. 2001, 89–107. 42 Vgl. dazu K. Schmid, Gibt es Theologie im Alten Testament? Zum Theologiebegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft (ThSt(B) 7), Zürich 2013. 43 Vgl. dazu O.H. Steck, Gott in der Zeit entdecken. Die Prophetenbücher des Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche (BThSt 42), Neukirchen-Vluyn 2001.

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der Auslegung mit dieser Eigenschaft der Schrift als Text und Kommentar bereits in ihr selbst verankert ist. Dieser Umstand ist nicht nur sachlich und theologisch, sondern auch wirkungsgeschichtlich von entscheidender Bedeutung für die Bibel: Wäre sie nicht beständig fortgeschrieben und ausgelegt worden, wären ihre Texte und Bücher alsbald verrottet und vergessen worden. Es war ihre fortwährende Auslegung auf je neue Situationen hin, die der Bibel während ihrer Formierungsphase das schiere Überleben gesichert hat44. In hermeneutischer Hinsicht ist diese Eigenschaft der Bibel von grundlegender Bedeutung: Es ist entsprechend unbiblisch, biblische Positionen als solche ins Feld zu führen. Biblische Positionen sind – im Kontext der Bibel wahrgenommen – mit anderen biblischen Positionen vermittelt und in weiterführende Perspektiven eingebettet worden. Die innerbiblische Auslegung hat an der Kanonsgrenze einen markanten, aber letztlich historisch zufälligen Abschluss gefunden45. Die Dynamik der Auslegung weist über die Kanonsgrenze hinaus und hat einen kreativen Prozess der nachbiblischen Auslegung ausgelöst, der in den letzten zwei Jahrtausenden die außerordentlich breite Wirkungsgeschichte der Bibel in Religion, Kunst, Literatur und Musik aus sich heraus gesetzt hat, deren Erforschung derzeit einen gewissen Schwerpunkt der Bibelwissenschaften und der entsprechenden Nachbardisziplinen darstellt. Methodisch und arbeitstechnisch stellt diese Forschungsperspektive große Herausforderungen an die beteiligten Disziplinen, doch sind ihre Gegenstände nur in der interdisziplinären Zusammenarbeit angemessen zu erfassen46. Abstract In the past few decades, it has become more and more obvious that the Bible is not only a text, but a text including its first commentaries. This fact is illustrated by three samples from the realm of legal, prophectic, and sapiental texts. The multiperspectivity of the Bible created by such processes of inner-biblical exegesis is relevant for its proper understanding: The Bible does not formulate single positions on specific topics or questions, but it can be read from different angles providing perspectives from different situations. The dynamic that produced the Bible should be continued in current processes of its interpretation.

44 Vgl. hierzu – am Beispiel der Prophetie – J. Jeremias, Das Proprium der alttestamentlichen Prophetie, ThLZ 119 (1994), 485–494 = ders., Hosea und Amos: Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 20–33. 45 Vgl. A. Teeter, The Hebrew Bible and/as Second Temple Literature: Methodological Reflections, DSD 20 (2013), 349–377. 46 Vgl. z.B. H. Spieckermann, From Biblical Exegesis to Reception History, HeBAI 1 (2012), 327–350. Zu nennen ist auch das neue Lexikon Encyclopedia of the Bible and its Reception (EBR).

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Konrad Schmid, geb. 1965, Dr. theol., ist Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Bibelwissenschaft

Christoph Dohmen

»Libri Veteris Testamenti integri in praeconio evangelico assumpti« (Vat II DV 16) Der erste und größte Teil der christlichen Bibel in katholischer Sicht

Im Vorwort der ersten Auflage seiner »Einleitung in das Alte Testament« hat Erich Zenger vor nun schon über zwanzig Jahren die Besonderheit dieser Einleitung am atl. Kanon festgemacht: »Es ist im deutschsprachigen Raum die bislang erste umfangreiche Einleitung, die den ›großen‹ Kanon des Alten Testaments, wie er in der katholischen Tradition bis heute gültig ist, behandelt; es werden also auch die sog. deuterokanonischen Bücher vorgestellt«1.

Dieser »große« Kanon des AT stellt einen wesentlichen Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten dar2, ohne dass die Differenz, die in Bezug auf die deuterokanonischen – bzw. in protestantischer Terminologie: apokryphen – Bücher besteht, eigens thematisiert worden wäre. Luthers Verständnis der veritas hebraica3 hat zwar dazu geführt, dass die Bücher Tobit, Judit, 1/2 Makkabäer, Weisheit Salomos, Jesus Sirach, Baruch (sowie Zusätze in Ester und Daniel) dekanonisiert wurden, was aber nicht bedeutet, dass der rabbinische Kanon 4 für die Kirchen der 1 E. Zenger, Vorwort, in: ders. u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 1995, 9. 2 Die Herausgeber des aus dem »Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen« hervorgegangenen Bandes zum Thema von Schriftverständnis und Schriftauslegung (W. Pannenberg / T. Schneider [Hg.], Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Tradition, Freiburg i.Br. / Göttingen 1992) benennen dieses Problem im Vorwort als wichtige Grundlage der Frage nach der kritischen Funktion der Schrift: »Unterschiedlich beantwortet wird aber schon die Frage nach dem Umfang des biblischen Kanons, jedenfalls im Hinblick auf das Alte Testament. Während die reformatorischen Bekenntnisse der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den rabbinischen Kanon als maßgeblich anerkannten, hielt das Konzil von Trient an dem umfangreicheren alexandrinischen Kanon fest« (5; Hervorhebungen C.D.). 3 Vgl. K. Haacker / H. Hempelmann, Hebraica Veritas. Die hebräische Grundlage der biblischen Theologie als exegetische und systematische Aufgabe, Wuppertal 1989; C. Markschies, Hieronymus und die »Hebraica Veritas« – Ein Beitrag zur Archäologie des protestantischen Schriftprinzips, in: M. Hengel / A.M. Schwermer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, Tübingen 1994, 131–181; J.A. Loader; Die Problematik des Begriffs hebraica veritas: HTS 64 (2008) 227–251. 4 Zu den Fragen und Problemen in Bezug auf einen »rabbinischen Kanon« vgl. G. Stemberger, Entstehung und Auffassung des Kanons im rabbinischen Denken, in: ders.,

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Reformation maßgeblich ist, denn auch, wenn dieselben Bücher hier und da enthalten sind, so fußt Luthers atl. Kanon doch gerade nicht auf der Anordnung des TaNaK, sondern auf der Anordnung der LXX bzw. Vulgata. Das ist aber keine zu vernachlässigende Nebensächlichkeit, vielmehr bilden die Anordnung der Bücher zusammen mit der Auswahl der Bücher die entscheidenden Merkmale eines Kanons. Auf der anderen Seite spiegelt der Kanon der katholischen Kirche gerade in Bezug auf den Kanonumfang nicht den alexandrinischen Kanon wider5. Die Beobachtungen der ökumenischen Differenz in Bezug auf den atl. Kanon werfen die Frage auf, ob eine christliche Einigung in dieser Frage möglich ist. Im Zusammenhang mit der Revision der katholischen Einheitsübersetzung6 ist die Frage wieder brisant geworden; denn nachdem schon in der Einheitsübersetzung von 1980 das NT und die Psalmen ökumenisch verantwortet waren, gab es Wünsche, die ökumenische Zusammenarbeit auch auf weitere Teile des AT auszuweiten. Auch wenn das ökumenische Miteinander bei der Revision bedauerlicherweise nicht fortgeführt wurde7, muss wohl konstatiert werden, dass die Kanonfrage für eine ökumenische Bibelausgabe nicht so leicht zu lösen gewesen wäre8. Die theoretischen Möglichkeiten einer Einigung, die sowohl Umfang als auch Ordnung des Kanons zu berücksichtigen hätten, führen letztendlich auf die Notwendigkeit einer Klärung in Bezug auf Ursprung und Bedeutung des Kanons hin, wenn man den Kanon nicht zum Gegenstand ökumenischer Kompromisse erklären will. Judaica minora I, Tübingen 2010, 69–87; ders., Jabne und der Kanon, JBTh 3 (1988) 163–174. 5 »Die Annahme eines ›alexandrinischen Kanons‹, den die frühe Kirche übernommen haben soll, ist eine Hypothese des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich als Irrweg erwiesen hat.« (M. Hengel / R. Deines, Die Septuaginta als »christliche Schriftensammlung« und das Problem ihres Kanons, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I., 36; vgl. auch K. De Troyer, Die Septuaginta und die Endgestalt des Alten Testaments, Göttingen 2005, 12, die angesichts zahlreicher Unsicherheiten fragt, was der Grund sei, der rechtfertige, von einem alexandrinischen Kanon zu sprechen). 6 Zu den Einzelheiten des Revisionsprozesses vgl. J. Wanke (Hg.), Die Revision der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift 2006–2016. Eine Rechenschaft, Stuttgart 2017. 7 Vgl. zu den Gründen und Hintergründen T. Söding, Wie kann es weitergehen? Nach dem evangelischen Ausstieg aus der Einheitsübersetzung, CiG 57 (2005) 317f.; M. Theobald, Eine Partnerschaft zerbricht. Zum Austritt der EKD aus der »Einheitsübersetzung«, Orientierung 70 (2006) 18–23. 8 Das zeigt recht eindrücklich die »Bibel in gerechter Sprache« (2006), die eine eigenartige Kanonformation bietet: zuerst die drei Teile der Hebräischen Bibel (Tora – Propheten – Schriften), dann Apokryphen / Deuterokanonische Schriften und schließlich das Neue Testament. Diesem »Mischkanon« fehlt jeglicher Bezug zu einer Glaubensgemeinschaft, da es weder im Judentum noch im Christentum eine Gruppe gab und gibt, deren Glauben in diesem Kanon gründen würde. Der Bezug zu einer Glaubensgemeinschaft ist aber der neueren Kanonforschung zufolge konstitutiv für jeden Kanon.

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Ursprung und Bedeutung des christlichen Kanons

Bei der Frage nach dem Ursprung des Kanons kann man von der Zusammenstellung oder Sammlung von Schriften ausgehen, die später und lange den maßgeblichen Grundstock unterschiedlicher biblischer Kanonformationen gebildet haben: Tora und Propheten. Auch wenn man für die Herausbildung eines christlichen Alten Testaments von einzelnen Stufen der Kanonwerdung, d.h. der Anerkennung ausgehen kann9, ist trotzdem festzuhalten, dass die Tora nicht losgelöst von den nachfolgenden Propheten als verbindliche Größe anerkannt wurde, ungeachtet einer genauen Bestimmung, welche Bücher von Josua bis Maleachi genau zu einer Sammlung unter dem Titel »Propheten« gehörten. Die Herausbildung einer festen Größe »Tora« scheint eher Folge eines diskursiven Miteinanders unterschiedlicher Traditionen in einem gemeinsamen Überlieferungsprozess zu sein, in dem die Größen »Tora« und »Propheten« einen konstitutiven Rahmen für die Sammlung und Gestaltung von Schriften bilden10. Ganz abgesehen davon, dass die Entstehung des biblischen Kanons heute nicht mehr monokausal erklärt werden kann11, bildet die Einsicht der neueren Kanonforschung, dass der Kanon ein Phänomen der Hl. Schrift selbst ist und kein später an die Schriften zur Kontrolle oder Bewertung (Zensur) angelegter Maßstab12, einen Fixpunkt, hinter den man nicht mehr zurückgehen kann. Die damit gegebene Bindung an die Glaubensgemeinschaft lässt das Wachstum der Schriften bzw. Schriftensammlungen verstehen und erklärt, warum es unterschiedliche Kanonformationen13 gegeben hat und gibt. Dies ist auch und gerade im Hinblick auf die Entstehung der christlichen Bibel wichtig; denn wenngleich das frühe Christentum die Bibel Israels als Hl. Schrift anerkannt hat, was aus dem uneingeschränkten 9 Vgl. H.P. Rüger, Das Werden des christlichen Alten Testamentes, JBTh 3 (1988) 175–189 sowie O.H. Steck, Kanon des hebräischen Alten Testamentes, in: Pannenberg/ Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I, 11–33. 10 Vgl. bes. St.B. Chapman, The Law and the Prophets. A Study in the Old Testament Canon Formation (FAT 27), Tübingen 2000. 11 Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise Georg Steins These vom Kanon der Hebräischen Bibel als einem hybriden Konzept: ders., Zwei Konzepte – ein Kanon. Neue Theorien zur Entstehung und Eigenart der Hebräischen Bibel, in: ders. / J. Taschner (Hg.), Kanonisierung – Die Hebräische Bibel im Werden (BThSt 110), Neukirchen-Vluyn 2010, 32. 12 Vgl. bes. B.S. Childs, Biblische Theologie und christlicher Kanon, JBTh 3 (1988) 13: »Mit dem Begriff des Kanons ist im wesentlichen nicht eine späte kirchliche Festlegung des Umfangs der normativen Schriften gemeint (eigentliche Kanonisierung), sondern ein tief im Schrifttum selbst wurzelndes Bewußtsein.« 13 Vgl. dazu die instruktive Studie mit den verschiedenen Übersichten von P. Brandt, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen Bibel (BBB 131), Berlin/Wien 2001.

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Gebrauch der Schrift zu erschließen ist, darf man nicht spätere Kanonformen als Vergleichspunkt heranziehen (s. unten). Das gilt insbesondere für die Anordnung der Bücher im Kanon, da die Ordnung der Bücher aus sogenannten Kanonlisten nicht unmittelbar abzulesen ist und die rein materielle Möglichkeit und Notwendigkeit, mehrere Bücher zusammenzufassen (z.B. in einer Schriftrolle), nicht gegeben ist14. Vor dem Aufkommen des Kodex in der Spätantike wird die Zuordnung verschiedener Schriften untereinander wohl zuerst an entsprechenden intertextuellen Signalen abzulesen sein. Darüber hinaus sind »Zusammenfassungen« wie die Größen Tora – Propheten als solche, d.h. als Rahmen für unterschiedliche Sammlungen15, zu beachten, auch wenn Inhalt und Anordnung der jeweiligen »Zusammenfassung« nicht genau bestimmt werden können, was im Folgenden näher erläutert werden soll. 2.

Die Bedeutung Markions für eine christliche Bibel

Am Anfang einer christlichen Bibel, die eine zweigeteilte Einheit von Altem und Neuem Testament bildet, steht fraglos Markion, auch wenn er weder einen neuen bzw. anderen ntl. Kanon vorgelegt noch das AT verworfen hat16, sondern christliche Schriften als Hl. Schrift, und zwar alternativ zu der bis dahin auch für die Christen allein gültigen Hl. Schrift, der Bibel Israels, etablieren wollte. Auch wenn es Markion nicht um die Festlegung eines Kanons ging17, so hat er doch wesentlich dazu beigetragen, dass es zu der zweigeteilten Bibel gekommen ist, weil er »christlichen Schriften« die Bedeutung der bis dahin allein als »heilige Schriften« geltenden Bibel Israels zugesprochen hat18. Insofern gilt das berühmte Diktum des Kirchenhistorikers Hans Freiherr von Campen14 Zur Bedeutung der materiellen Bedingungen eines Kanons vgl. K. van der Toorn, Scribal Culture and the Making oft the Hebrew Bibel, Cambridge 2007 sowie Brandt, Endgestalten, 57ff. 15 Vgl. dazu den Ansatz eines entsprechenden »core canon« bei Chapman, Law, 284f. 16 Beide Begriffe, Altes und Neues Testament, sind als Buchbezeichnung – vor Markion – nicht sicher nachweisbar; nach W. Kinzig, Kainh diathkh. The Title of the New Testament in the Second and Third Centuries, JThS 45 (1994) 519–544 geht die Bezeichnung »Neues Testament« sogar auf Markion zurück. 17 Vgl. C. Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 259: »So können wir aus diesen Zeugnissen schließen, daß Marcion offensichtlich auch nicht intendierte, einen neuen ›Kanon‹ heiliger Schriften vorzulegen, sondern die philologisch korrekte Edition eines gründlich korrumpierten Textes erstellen wollte.« 18 Zu den unterschiedlichen Deutungen Markions und der modernen Diskussion um Markionismus vgl. C. Dohmen, Zwischen Markionismus und Markion. Auf der Suche nach der christlichen Bibel. Aktualität einer scheinbar zeitlosen Frage, BZ 61 (2017) 182–202.

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hausen im Grunde weiter, auch wenn die Sache heute differenzierter gesehen und beurteilt werden muss: »Idee und Wirklichkeit einer christlichen Bibel sind von Markion geschaffen worden, und die Kirche, die sein Werk verwarf, ist ihm hierin nicht vorangegangen, sondern – formal gesehen – seinem Vorbild nachgefolgt«19.

Im Horizont seines dualistischen Denkens ging Markion davon aus, dass Jesus einen anderen Gott verkündigt habe als den Schöpfergott, von dem die Bibel Israels in ihren Schriften kündet20. Deshalb forderte Markion in logischer Konsequenz, dass das Christentum an die Stelle der Bibel Israels eine eigene Hl. Schrift setzen müsse. Die Idee einer verbindlichen Glaubensurkunde21 nimmt Markion von der vorliegenden Bibel Israels und bestätigt damit indirekt ihre Geltung und Autorität in der frühen Kirche. Der kühne Vorstoß Markions, die Bibel Israels, die einzige Hl. Schrift des Christentums im 1. Jh., durch eine Sammlung von Schriften zu ersetzen, die die Christusbotschaft beinhalten und betreffen, hat die Kirche dazu gedrängt, ihr eigenes Verhältnis zur Bibel Israels in Verbindung mit der mündlichen und schriftlichen Christusverkündigung zu klären. Hier liegt der entscheidende Punkt der Reaktion auf Markion, nicht in der Frage der Konstituierung eines jeweils unterschiedlichen »neutestamentlichen Kanons«, was C. Markschies zu Recht, wenn auch in einem anderen Kontext betont22. Im direkten Gegensatz zu Markion können für die Kirche die Zeugnisse der Christusverkündigung nur in Verbindung mit der Bibel Israels und nicht losgelöst von ihr anerkannt werden. Die Kirche unterstreicht somit in der zweigeteilten Hl. Schrift von AT und NT, die sie infolge der Auseinandersetzung mit Markions Vorstoß hervorgebracht hat, dass sie Jesus von Nazareth nur aus der Einheit und Einzigkeit des Gottes verstehen und verkündigen kann, der sich Israel schon kundgetan hat. Dieser Gott, der eine und einzige, ist es, der sich in und durch Jesus offenbart hat. Die eine Hl. Schrift der Christen in ihren zwei Teilen hält diesen Glauben an den Gott Israels, den Schöpfer der Welt, den Jesus bezeugt und verkündigt hat, für alle Zeiten unaufgebbar und unumstößlich fest. Als christliche Bibel ist daher nicht das NT anzusehen, das selbst nur durch die Zusammenführung mit der Bibel Israels in der zweieinen Bibel aus 19 H. Freiherr von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968, 174. 20 Vgl. J.M. Lieu, Marcion and the Making of a Heretic. God and Scripture in the Second Century, Cambridge 2015, 323ff. 21 Dass das Faktum einer solchen Urkunde wichtiger ist als der Inhalt dieser »Schrift«, ist daran zu erkennen, dass spätere markionitische Gemeinden sich gerade nicht auf eine Zusammenstellung Markions (Lk und Pl-Briefe) berufen haben; vgl. Markschies, Theo logie, 258f. 22 Vgl. ebd., 259f.

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AT und NT Teil der einen christlichen Bibel wurde. Die Terminologie von Altem und Neuem Testament hält eben diesen Zusammenhang, die untrennbare Einheit dieser beiden Teile, fest. 3.

Die Propheten als Rahmen

Die Idee einer zweigeteilten Einheit der Schrift stammt offensichtlich von der Bibel Israels, die es auch im 1. Jh. als zweieine »Tora-Propheten-Bibel« gab, was entsprechende Bezeichnungen in der frühchristlichen Literatur bestätigen23. Es erscheint plausibel, dass die entstandene Einheit der christlichen Bibel aus AT und NT dem Muster der vorgegebenen Hl. Schrift (Tora und Propheten) folgt, was sich durch zahlreiche Intertextualitätssignale zwischen beiden Teilen bestätigt. Bei der dabei vollzogenen »Zusammenfassung« von Tora und Propheten zu einem »Alten Testament« darf man im Blick auf einen Kanon allerdings nicht die Kanonstruktur des TaNaK zur Erklärung gegenüberstellen und mutmaßen, dass die Schriften, die dort im dritten Teil (Ketubim) stehen, in einer älteren Fassung des christlichen AT nicht vorgekommen seien. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Schriften wie die Psalmen, Ijob, Kohelet, Rut, Hohes Lied etc. in den Teil »Propheten« integriert waren. Das erklärt sich problemlos aus der festen Form der zweigeteilten Einheit »Tora – Propheten«, an der man offensichtlich auch angesichts neuer Bücher festgehalten hat. Solche Bücher als prophetische Bücher zu verstehen, ist sowohl für prophetisch orientierte pharisäische Kreise24 als auch in ähnlicher Weise für die frühchristliche Theologie nachvollziehbar25. So erklären sich dann auch durch die Schriftgrundlage Gemeinsamkeit und Differenz von Christentum und Judentum der Zeit26. Vor diesem Hintergrund ist schließlich auch die spätere Kanonformation des christlichen AT zu verstehen, die Geschichtserzählungen und Weisheitsschriften mit der Schriftprophetie zusammenbringt. Die oft angenommene Umstellung von »Propheten« und »Schriften« durch 23 Vgl. »Mose und die Propheten« oder »Gesetz und Propheten« als Bezeichnungen für die Schrift. 24 Vgl. A.I. Baumgarten, Die Pharisäer und die Gräber der Propheten, in: A. Bedenbender (Hg.), Judäo-Christentum. Die gemeinsame Wurzel von rabbinischem Judentum und früher Kirche, Leipzig/Paderborn 2012, 13–32. 25 Hier sei nur daran erinnert, dass »Propheten« als eine mögliche Bezeichnung für die Offenbarungsurkunde, die Bibel Israels, in ntl. Schriften (z.B. Mt 2,23; Lk 1,70; Röm 1,1; Hebr 1,1) begegnet. 26 Dies ist im Kontext des Ansatzes des »Judäo-Christentums« von Daniel Boyarin besonders deutlich, da er davon ausgeht, dass erst am Ende der Spätantike aus diesem vielgestaltigen Judäo-Christentum das orthodoxe Christentum und das rabbinische Judentum hervorgingen; vgl. ders., Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums, Berlin 2009.

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die Christen, die bei der Zusammenstellung von AT und NT in der christlichen Bibel die Prophetie nahe ans NT gebracht hätte27, ist weder zu belegen noch plausibel zu erklären; denn an eine solche Umstellung oder Hintanstellung der Prophetie im AT kann man nur denken, wenn man den dreiteiligen TaNaK späterer rabbinischer Tradition gegenüberstellt. Für die Zeit der Entstehung der christlichen Bibel aus AT und NT legt sich dieser Vergleich aber gerade nicht nahe, weil sich ein dreiteiliger Kanon in der uns bekannten Form noch nicht durchgesetzt hatte oder nur eine mögliche Alternative innerhalb sich herausbildender Kanonformationen28 darstellte. Für ein (früh-)christliches Verständnis des AT ist einerseits wichtig, dass sich – ausgehend von einem großen Teil »Prophetie«, der auch Weisheitsschriften inkludiert – eine prophetische Perspektive für das gesamte AT aufdrängt29, andererseits führt die Zusammenführung der Tora-Propheten-Schrift zu einem einzigen AT in der zweigeteilten Einheit der AT-NT-Bibel dazu, das AT als Ganzes (neu) zu verstehen. Die sich aufdrängende Notwendigkeit, die große Einheit des AT christlich zu interpretieren, bedingt, dass der Eigencharakter der Teile aufgegeben wird: So wird die Tora und auch die Prophetie zur Geschichtsüberlieferung, einer rück- und vorausblickenden, näherhin zur Vorgeschichte der Christusbotschaft des NT30. 4.

Das Hervortreten der Schrift aus der Tradition

Der skizzierte Entstehungs- bzw. Wachstumsprozess des biblischen Kanons zeigt, dass die Genese der Schrift Teil der Geschichte einer Glau27 Vgl. E. Brocke, Von den »Schriften« zum »Alten Testament« – und zurück?, in: E. Blum u.a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, Neukirchen-Vluyn 1990, 581–594, die dezidiert von einer christlichen Umstellung ausgeht, während I. Fischer, Das Prophetienverständnis von Dtn 18 als kanonische Deutekategorie, in: I. Müllner / L. Schwienhorst-Schönberger / R. Scoralick (Hg.), Gottes Name(n). Zum Gedenken an Erich Zenger (HBS 71), Freiburg i.Br. 2012, 151–168; dies., Gotteskünderinnen, Stuttgart 2002, 32–38 die Folgen einer solchen Umstellung für das Verständnis der Kanonformation des AT zu deuten versucht. 28 Vgl. dazu Brandt, Endgestalten, 125ff. 29 Vgl. zu einer Propheten-Perspektive neben der Tora-Perspektive in der Bibel Israels C. Dohmen, Das Prae der Bibel Israels, in: ders. / G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996, 152f. Diese Perspektive lässt das frühe Christentum besser in seinem historischen Kontext verorten, was die Diskussion um das sog. »Judäo-Christentum« zeigt; vgl. Bedenbender (Hg.), Judäo-Christentum. 30 Gerade die in christlichen Bibelausgaben oft vorgenommenen Unterteilungen des AT in »Geschichtliche Bücher – Lehrbücher – Prophetische Bücher« u.ä. nach dem auf Luther zurückgehenden Schema »Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft« reduziert die Tora auf eine Darstellung einer Epoche der Geschichte Israels und die Schriftprophetie auf die Ankündigung (Verheißung) künftiger Ereignisse.

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bensgemeinschaft ist, die Texte hervorbringt, später neu liest, ständig interpretiert und fortschreibt und so die eigene Identität über konkrete Situationen hinweg in der wachsenden Schrift finden kann31. Das bedeutet, dass Schrift und Tradition nicht zwei getrennte Größen sind. Die Hl. Schrift ist nicht nur aus der Tradition einer Glaubensgemeinschaft hervorgegangen, sondern sie ist insofern einTeil dieser, als die Tradition im Sinne lebendiger Überlieferung sich durch die Schrift weiterentwickelt. Das Judentum hat immer schon eine engere Verbindung von Schrift und Tradition gesehen, die ihren besonderen Niederschlag in der Annahme von mündlicher und schriftlicher Tora32 gefunden hat. »Die scharfe Kontrastierung einer autonomen Bibel mit ihrer Verwendung im nachbiblischen Judentum gelingt nur, wenn man die Bibel als statische Größe ansieht, die als einmal Vorgegebenes in der ursprünglichen Intention ihrer Autoren verwendet werden muss oder aber als bloßes ›Lexikon‹ missbraucht wird. Wenn wir hingegen die innerbiblische Entwicklung ernst nehmen, das stete Umsetzen früherer Aussagen in neue Fragestellungen, einen Prozess, der auch jenseits der Grenzlinien weiterging, die retrospektiv eine Kanontheorie zog, wenn wir ›Bibel‹ als ein dynamisches, offenes Ganzes sehen, dann wird die Feststellung, dass an die Bibel fremde Fragen und Positionen von außen herangetragen werden, völlig relativ«33.

In einem Prozess von produktiver Rezeption entstehen die Schriftensammlungen, die später als biblischer Kanon verstanden werden. Das Konzept einer mündlichen Tora, der Auslegung also, die neben der schriftlichen Tora steht34, bringt zum Ausdruck, dass der Auslegung dieselbe Dignität zukommt wie der »Schrift« selbst, das heißt, dass die Auslegung der Rabbinen in demselben Sinne Offenbarung ist wie die schriftliche Tora. Schriftliche und mündliche Tora rücken also recht nahe zusammen, wenn man unter dem Gesichtspunkt der Kanonizität nicht gar von einer Gleichwertigkeit sprechen muss. Und doch verschmelzen sie nie zu einer einzigen Größe, sondern bleiben eben als schriftliche und mündliche Tora zwei unterschiedene, wenngleich aufs Engste aufeinander bezogene Größen. Der mündlichen Tora kommt es 31 Vgl. J. A. Sanders, Canon and Community, Philadelphia 1984. 32 Vgl. dazu G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 92011, 43–58. 33 G. Stemberger, Zum Verständnis der Schrift im rabbinischen Judentum, in: H. Merklein / K. Müller / G. Stemberger (Hg.), Bibel und jüdischer und christlicher Tradition, Frankfurt a.M. 1993, 212f. 34 Beide werden als untrennbarer Teil der einen Tora, die Mose am Sinai empfangen habe, verstanden; vgl. G. Stemberger, Der Umgang mit der schriftlichen Tradition in Judentum und Christentum. Zur Hermeneutik der Schrift, in: C. Böttrich / J. Thomanek / T. Willi (Hg.), Zwischen Zensur und Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. 2009, 38.

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schließlich auch zu, den hermeneutischen Schlüssel zu liefern, um die schriftliche Tora zu lesen und zu verstehen. »In einer Zeit, da auch andere dieselbe Schrift besitzen, ist die mündliche Tora zum wesentlichen Unterscheidungsmerkmal geworden, zum ›Mysterium‹ Israels. Wenn auch andere sich auf die schriftliche Tora berufen, entscheidet allein die mündliche Tora – und dazu gehört ja auch das Wissen, wie man die Tora lesen muss –, wer das wahre Israel ist (yPea 2,6)«35.

Die »anderen«, die dieselbe Schrift benutzen, sind die Christen, die auch ihre eigene Tradition hervorbringen. Die ersten Christen deuten ihre Glaubenserfahrung durch die Bibel Israels, und im Licht dieses Glaubens lesen und deuten sie dann auch die Bibel Israels. Juden und Christen unterscheiden sich im Umgang mit der Hl. Schrift also zumindest im 1. Jh. nicht. Hier wie da geht es nicht um Erklärung oder Auslegung der Schrift, sondern um deutende Schriftanwendung, die »weniger dem Verständnis des Textes als der Propagierung eines Gruppenanliegens (dient), auch wenn in der Folge behauptet wird, damit den eigentlich verbindlichen Inhalt erhoben zu haben«36.

Die Schriften der Christusverkündigung, die im Christentum später zum NT werden, stehen zuerst einmal in ihrer Beziehung zur Hl. Schrift, der Bibel Israels, formal mit der mündlichen Tora auf einer Stufe. Wenn – wie oben skizziert wurde – die Christen ihre Christusverkündigung, die zugleich auch als hermeneutische Tradition ein christliches Verstehen der Bibel Israels begründet, zu einem eigenen Teil der Hl. Schrift gemacht haben, dann sind sie damit anscheinend weitergegangen als das rabbinische Judentum, das der mündlichen Tradition zwar einen hohen Rang – mit quasi kanonischer Würde – zuerkannt hat, sie aber dennoch nicht mit der schriftlichen Tora ganz gleichgesetzt hat. Der Diskurs, der zwischen schriftlicher und mündlicher Tora im Judentum besteht, ist im Christentum in die Bibel hinein verlegt worden. Damit hat das Christentum allerdings ein neues Problem hervorgebracht: Nicht nur die Bibel Israels ist als AT christlich zu deuten, weil das NT mit ihr verbunden ist, sondern das NT kann als »Schriftanwendung« nur vom (vorausgehenden) AT her gelesen werden37. 35 Stemberger, Umgang, 38. 36 J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des Zweiten Tempels, Würzburg 1990, 127. 37 Vgl. zur hermeneutischen Bedeutung der »Prae-Position« des AT Dohmen, Das Prae der Bibel Israels, 154–158.

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Keine Schrift ohne Tradition

Die Einsicht in die Bedeutung der Zusammengehörigkeit von Schrift und Tradition im Entstehungsprozess des biblischen Kanons erscheint auf den ersten Blick wie eine Bestätigung der klassischen katholischen Position von »Schrift und Tradition«, der das protestantische »Solascriptura-Prinzip« entgegenzustehen scheint. Doch man muss konstatieren, dass die klassische Trennung, wie sie auf katholischer Seite nicht zuletzt als Reaktion auf Luthers sola scriptura formuliert wurde, dem Sachverhalt nicht gerecht und eine Verabsolutierung des sola scriptura sogar von protestantischen Theologen als problematisch betrachtet wird38. Gleichwohl ist zu beobachten, dass die katholische Kirche sich vor allem im Zweiten Vatikanischen Konzil um ein eigenes »Schriftprinzip« bemüht hat. An zentraler Stelle heißt es: »die heilige Theologie stützt sich auf das geschriebene Wort Gottes, zusammen mit der heiligen Überlieferung«39. Im Kontext des Konzils ist zu beachten, dass hier allerdings kein additives Verständnis mehr im Sinne von Hl. Schrift und Tradition vorliegt, denn es heißt hier »una cum«, womit eine organische Einheit und keine Addition oder Reihung gemeint ist40. In diesem Fall stimmt die lehramtliche Äußerung also mit der wissenschaftlichen Erkenntnis in Bezug auf das Werden der Hl. Schrift überein. Die Schrift gründet in der Tradition, zugleich begründet die Schrift auch die Tradition. Erst dann und nur dann, wenn Schrift und Tradition als untrennbare Einheit gesehen werden, kann das AT als konstitutive Glaubensurkunde verstanden werden41. 6.

Umbruch und Aufbruch

Das katholische Schriftverständnis ist wesentlich durch das 2. Vatikanum geprägt worden, und es hat die Bibel in der katholischen Kirche 38 Vgl. H.-G. Link, Der Kanon in ökumenischer Sicht, JBTh 3 (1988) 83–96, bes. 90–93. 39 Vat II DV 24. 40 Das wird aus den anderen Stellen, an denen die Wendung vorkommt (z.B. LG 22; SC 48), deutlich; vgl. E. Dirscherl / C Dohmen, Die Heilige Schrift als »Anima Sacrae Theologiae …« Exegetische und systematische Reflexionen zum Verhältnis von Hl. Schrift, Tradition und Inspiration, in: G. Hotze / E. Spiegel (Hg.), Verantwortete Exegese, Berlin 2006, 54f. 41 Wenngleich F. Crüsemanns Darstellung vom AT als Wahrheitsraum des NT das Verhältnisse der Testamente sehr gut beleuchtet, bleibt sein methodischer, an der paulinischen Weisung, nicht über die Schrift hinauszugehen, orientierter Ansatz hermeneutisch problematisch, da er »Schrift« und »Tradition« radikal voneinander trennt; vgl. ders., Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, Gütersloh 2011; ders., »Nicht über das hinaus, was geschrieben steht« (1 Kor 4,6). Ein Grundsatz paulinischer Hermeneutik, in: C. Jochum-Bortfeld / R. Kessler (Hg.), Schriftgemäß, Gütersloh 2015, 27–33.

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neu entdecken lassen. Den Boden für diese Gedanken haben die beiden großen Bibelenzykliken der Päpste Leo XIII. (Providentissimus Deus von 1893) und Pius XII. (Divino afflante Spiritu von 1943) bereitet42, so dass der Blick auf die Vorgeschichte der Konzilstexte ebenso wie auf die Nachgeschichte, die sich vor allem in den Dokumenten der Päpstlichen Bibelkommission (PCB) von 1993, 2001, 2008 und 201443 niedergeschlagen hat, wie es G. Steins eindrücklich aufzeigt44, zu lenken ist, wenn man das heutige katholische Verständnis des AT – und auch der ganzen christlichen Bibel – erfassen will. Im Blick auf das AT ist vor allem dessen Verbindung mit dem NT im Kontext der genannten kirchlichen Dokumente ins Zentrum gerückt worden, was im Folgenden an zwei Beispielen veranschaulicht werden soll. In der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung »Die Verbum« (DV) des Zweiten Vatikanischen Konzils45 findet sich neben einem eigenen Kapitel über das AT (Art. 14–16) eine geradezu durchgängige Frage nach der Einheit von AT und NT. Sie wird vor allem in DV 12 und 16 thematisiert. In Art. 12 werden zwei Aussageintentionen für die Arbeit des Exegeten unterschieden: »Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte«46. 42 Zur historischen Einordnung und zum Umfeld der beiden Bibelenzykliken vgl. H.W. Seidel, Die Erforschung des Alten Testaments in der katholischen Theologie seit der Jahrhundertwende (BBB 86), Frankfurt a.M. 1993, 63–67.239–245; K. Unterburger, Papst Leo XIII. Enzyklika Providentissimus Deus (1893), in: O. Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016, 583–592; K. Unterburger, Papst Pius II. Enzyklika Divino afflante Spiritu (1943), in: ebd., 613–622. Zur Entwicklung der katholischen Lehre in Bezug auf die Bibelwissenschaft vgl. jetzt auch E. Schmidt, »… das Wort Gottes immer mehr zu lieben«. Joseph Ratzingers Bibelhermeneutik im Kontext der Exegesegeschichte der römisch-katholischen Kirche (SBS 233), Stuttgart 2015. 43 1. »Die Interpretation der Bibel in der Kirche« vom 23. April 1993 (VAS 115); 2. »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel« vom 24. Mai 2001 (VAS 152); »Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns« vom 11. Mai 2008 (VAS 184); »Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift. Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten« vom 22. Februar 2014 (VAS 196); zur katholischen Bibelhermeneutik in diesen Dokumente vgl. C. Dohmen, Art. Päpstliche Bibelkommission (Jan. 2017), in: Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet (WiBiLex), bes. »4. Eine Neuausrichtung«. 44 Vgl. G. Steins, Leuchtende Worte! Die Fortschreibung von Dei Verbum in römischen Dokumenten zur Bibelauslegung, BiLi 88 (2015) 177–195. 45 Zu den bibelhermeneutischen Hintergründen vgl. L. Hell / K. Schelkens, Vatikanum II. Die Verbum, in: Wischmeyer (Hg.), Handbuch, 623-632. 46 Zitiert nach LThK2 13, 551.

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Diese Unterscheidung der beiden Aussageintentionen führt den im vorausgehenden Art. 11 behandelten Gedanken von der Inspiration der Schrift fort, wo es heißt, dass »die Bücher des Alten wie des NT in ihrer Ganzheit mit all ihren Teilen als heilig und kanonisch« gelten, da »das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist und vorliegt, (…) unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden« (ist)47.

In der Hl. Schrift liegt somit, wie Art. 12 zu Beginn formuliert, Gottes Wort in Menschenwort vor. Daraus ergibt sich die notwendige Unterscheidung von Art. 12 zwischen dem, was die biblischen Schriftsteller zu sagen beabsichtigten, und dem, was Gott – durch ihre Worte – uns sagen wollte. Bevor man sich der Frage zuwenden kann, wie diese Unterscheidung exegetisch umzusetzen ist, muss der Hintergrund des so formulierten Gedankens kurz skizziert werden. Die Enzyklika Divino afflantes Spiritu hat in der für sie wichtigen Diskussion um übertragene, geistliche Sinne der Hl. Schrift festgehalten, dass zuerst der Literalsinn – durch exegetische Methoden wie bei jeder anderen profanen Literatur48 – herauszuarbeiten ist, dann erst ein möglicher geistlicher Sinn. In diesem Zusammenhang wird auf die Aussageabsicht Gottes abgehoben: »Wie darum der Exeget den Literalsinn der Worte, den der heilige Schriftsteller beabsichtigte und ausdrückte, auffinden und erklären muss, so auch den geistigen, sofern nur gebührend feststeht, dass Gott diesen Sinn wirklich gewollt hat.« (Nr. 23)

Wie dieser Sinn, den Gott gewollt hat, zu eruieren sei, darüber schweigt sich die Enzyklika aus. Zwei sich ergänzende Aspekte lassen die Richtung erkennen, in der eine Antwort zu suchen ist. Zum einen weist die Enzyklika selbst darauf hin, dass ein möglicher geistlicher Sinn in der von der Hl. Schrift realisierten Relation zwischen AT und NT zu finden sei, zum anderen hebt sie hervor, dass der »theologische Lehrgehalt« (doctrina theologica) zwischen der Aussageintention der biblischen Schriftsteller und der Aussageintention Gottes vermittle49. Auch wenn 47 LThK2 13, 545.547. 48 »Diesen Literalsinn der Worte sollen sie mit aller Sorgfalt durch die Kenntnis der Sprachen ermitteln, unter Zuhilfenahme des Zusammenhangs und des Vergleichs mit ähnlichen Stellen – Hilfsmittel, die man alle auch bei der Erklärung profaner Schriften heranzuziehen pflegt, damit der Gedanke des Schriftstellers klar zum Ausdruck kommt.« (Papst Pius XII., Divino afflantes Spiritu, Nr. 20). 49 »Gewiss sollen sie derartiges [Geschichte, Archäologie, Philologie etc.; Einfügung C.D.], soweit es der Exegese nützlich ist, in zweckdienlicher Weise vorbringen; aber vor allem müssen sie zeigen, welches der theologische Lehrgehalt der einzelnen Bücher und

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es an der Konkretion mangelt, was genau mit dem »theologischen Lehrgehalt« gemeint ist, so führt das Kriterium »was Gott sagen wollte«, deutlich auf die zu Beginn des 20. Jh.s geführte Sensus-plenior-Debatte. Das von A. Fernandez 1925 begründete Programm des sensus plenior, dem es um ein spezifisch christliches Verstehen der Bibel ging, wurde von J. Coppens50 aufgenommen und so verstanden, dass der sensus plenior kein neuer oder zusätzlicher Sinn sei, sondern ein Sinn, den Gott bei der Offenbarung seines Wortes habe aussagen wollen, ohne dass die biblischen Schriftsteller ihn selbst erkannt hätten. Dieser Sinn könne allein dadurch, dass ein Text in Verbindung mit anderen biblischen Texten oder im Kontext der Entwicklung der Offenbarung Gottes gelesen und erklärt werde51, ermittelt werden. Wenn in DV 12 nun zwischen den Aussageintentionen der biblischen Schriftsteller und Gottes differenziert wird, dann scheint hier das Programm des sensus plenior auf52. Folgt man schließlich N. Lohfink, der DV 12 genau analysiert und im Text einen »weißen Fleck« entdeckt hat, dann werden die Verbindungslinien noch deutlicher. Der »weiße Fleck« ergibt sich nämlich dadurch, dass der Konzilstext recht genau beschreibt, wie die Aussageintention der biblischen Schriftsteller exegetisch zu ermitteln sei, nicht aber, wie das zu ermitteln sei, was Gott durch sie uns hat sagen wollen. Der entscheidende Satz, bei dem zur Aussageintention Gottes übergeleitet wird, lautet: »Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, dass man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens«53.

Texte in Glaubens- und Sittenfragen ist.« (Nr. 21) »Diesen geistigen Sinn also, den Gott selbst gewollt und angeordnet hat, sollen die katholischen Exegeten mit der Sorgfalt aufhellen und darlegen, die die Würde des Wortes Gottes fordert; andere übertragene Bedeutungen dagegen als echten Sinn der Heiligen Schrift vorzutragen, mögen sie sich gewissenhaft hüten.« (Nr. 24) 50 Vgl. J. Coppens, Les Harmonies des deux Testaments. Essai sur les divers Sens des Écritures et sur l’Unité de la Révélation, Tour 1949. 51 Vgl. Seidel, Erforschung, 289–294; R.E. Brown, The Sensus Plenior of Sacred Scripture, Baltimore 1955, 123ff. 52 Zu den Einzelheiten und Hintergründen bei der Entstehung des Konzilstextes vgl. den entsprechenden Kommentar von A. Grillmeier in: LThK2 13, 539f. und K. Lehmann, Dei Verbum – Gottes Wort – Eine Botschaft des Heils für die ganze Welt, in: ders. / R. Rothenbusch (Hg.), Gotteswort in Menschenwort (QD 266), Freiburg i.Br. 2014, 25–50 sowie C. Dohmen, Inspirierter Text – inspirierter Sinn?, in: R. Rothenbusch / K. Ruhstorfer (Hg.), Eingegeben von Gott. Zur Inspiration der Bibel und ihrer Geltung heute (QD 296), Freiburg i.Br. 2019 (im Druck). 53 Dei Verbum 12: LThK2 13, 557.

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»Die eigentliche Anweisung an den Exegeten ist hier die, den Sinn der einzelnen Texte von Inhalt und Einheit der Schrift als ganzer her zu erheben. Der Gesamtkanon der Hl. Schriften ist also gewissermaßen als einziges Sinngefüge, als einziges Buch zu nehmen, in dem alles aufeinander bezogen ist und sich gegenseitig erhellt«54.

Das Dokument der PCB von 1993 führt den Gedanken des Konzils in diesem Punkt pointiert weiter, wenn es im Abschnitt »Probleme der Hermeneutik« den sensus plenior behandelt (II. B. 3). Das Dokument definiert ihn als »tieferen Sinn eines Textes (…), der von Gott gewollt ist, aber vom menschlichen Autor nicht klar ausgedrückt wurde«55. Da das Dokument – langer kirchlicher Tradition folgend – davon ausgeht, dass im Allgemeinen im NT der wörtliche Sinn der geistliche ist, wird vom geistlichen Sinn meistens in Bezug auf das AT gesprochen56. Die Unterscheidung von geistlichem und wörtlichem Sinn versteht das Dokument als eine mögliche Bezeichnung für den sensus plenior. So zeichnet sich ab, dass es beim sensus plenior um ein christliches Verstehen des AT geht. Am Ende des entsprechenden Abschnitts formuliert das Dokument präzise und tiefsinnig die theoretische Grundlage des Verständnisses der Einheit von AT und NT in der christlichen Bibel: »Diese (die Wahrheit, die dem biblischen Verfasser selbst in ihrer ganzen Tiefe nicht bewusst war; Einfügung C.D.), wird erst mit der Zeit umfassender offenbart, einerseits dank späterer göttlicher Heilssetzungen in der Geschichte, die die Tragweite der Texte besser zeigen, andererseits auch dank der Aufnahme der Texte in den Kanon der Hl. Schrift. So wird ein neuer Kontext geschaffen, der Sinnmöglichkeiten erscheinen lässt, die der ursprüngliche Kontext im Dunkeln gelassen hatte«57.

Mit dem sensus plenior wird im Dokument der PCB nicht ein Relikt der Exegesegeschichte wachgehalten, sondern ein wichtiger Aspekt biblischer Hermeneutik hervorgehoben. In Bezug auf ein katholisches Verständnis des AT kann man natürlich kritisch anmerken, dass der Eigenwert des AT bzw. der Bibel Israels zu kurz kommt, da das AT immer (nur) zusammen mit dem NT und auf dieses hin gesehen wird. Wenn man aber berücksichtigt, was – als Fortsetzung und Weiterführung – im Dokument der PCB von 2001 formuliert wird, dann muss man zumindest einräumen und erkennen, dass hier mit sehr anschaulichen und einprägsamen Bildern hervorgehoben wird, dass das NT nur vom AT her und in Einheit mit ihm verstan54 55 56 57

N. Lohfink, Der weiße Fleck in »Dei Verbum« Art. 12, ThZ 101 (1992) 27. Die Interpretation der Bibel in der Kirche (VAS 115), 73. Vgl. ebd. 72. Ebd., 74.

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den werden kann58. Dahinter steht das bis heute kirchenamtlich leider noch nicht weitergeführte Verständnis von der doppelten Leseweise des AT in der christlichen Bibel59. Dei Verbum kommt entschieden das Verdienst zu, die Einheit der Bibel aus AT und NT hervorgehoben zu haben. Gleichwohl muss man feststellen, dass die Konzilsväter die sich daraus ergebende entscheidende hermeneutische Frage, wie der erste und größte Teil der christlichen Bibel, den die Christen mit den Juden gemeinsam haben, zu verstehen sei, nicht beantwortet, ja nicht einmal gestellt haben. Das dem AT in DV gewidmete Kapitel IV60 kreist um traditionelle Vorstellungen von Verheißung (AT) und Erfüllung (NT) und belässt es in Bezug auf die biblische Hermeneutik bei der augustinischen Formel vom Neuen Bund, der im Alten Bund verborgen und dem Alten, der im Neuen erschlossen sei61, ohne das Verständnis dieser Formel tiefer auszuloten. Die weitere Entwicklung der Fragestellung blieb den nachkonziliaren Dokumenten der PCB vorbehalten. Im Kontext der das Dokument von 1993 bestimmenden Frage nach der Interpretation der Bibel kommt dem Verhältnis von AT und NT eine entscheidende Rolle zu. So wird das spezifisch katholische Verständnis von Schrift und Tradition (s. oben) als hermeneutische Option reflektiert. »Die katholische Exegese geht die biblischen Schriften mit einem Vorverständnis an, das die moderne wissenschaftliche Kultur und die religiöse Tradition, die von Israel und der christlichen Urgemeinde her stammt, eng miteinander verbindet. Ihre Interpretation steht somit in Kontinuität mit der Interpretationsdynamik, die innerhalb der Bibel selbst zutage tritt und sich im Leben der Kirche fortsetzt«62.

Konsequent wird daraus der methodisch wichtige Schluss gezogen, dass eine innerbiblische Exegese, die die vielfältigen intertextuellen Bezüge zwischen AT und NT sowie innerhalb beider Teile wahr- und ernst nimmt, das Eigene und Besondere der biblischen Schriften zu erkennen und zu erklären vermag. Folgerichtig wird dann gesehen, dass die Bibel im AT wie im NT spannungsreich verschiedene Perspektiven nebeneinander stehen lässt. 58 Vgl. unter Nr. 84: »Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist.« oder unter Nr. 21: »Das Alte Testament besitzt aus sich heraus einen ungeheuren Wert als Wort Gottes. (…) Umgekehrt kann das Neue Testament nur im Lichte des Alten Testaments voll verstanden werden.« 59 Vgl. dazu C. Dohmen, Das Konzept der doppelten Hermeneutik, in: ders./Stemberger, Hermeneutik, 211ff. 60 Vgl. DV, Kapitel IV, Nr. 14–16. 61 Vgl. DV, Nr. 16. 62 Die Interpretation der Bibel in der Kirche (VAS 115), 75.

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»Es ist gerade eine Eigenart der Bibel, kein strenges System zu bilden, sondern im Gegenteil in der Dynamik von Spannungen zu stehen. Die Bibel hat verschiedene Weisen, die gleichen Ereignisse zu interpretieren oder die gleichen Probleme zu bedenken. Sie lädt somit ein, Vereinfachungen und geistige Enge zurückzuweisen«63.

Das sich darin zeigende pluralische Verständnis64 lenkt zur Glaubensgemeinschaft hin, die sich auf die Bibel bezieht. »Die Hl. Schrift steht in fortwährendem Dialog mit den Glaubensgemeinschaften: sie ist ja aus ihren Glaubenstraditionen hervorgegangen. Ihre Texte haben sich in der Beziehung zu diesen Traditionen entwickelt und andererseits zu ihrer Entwicklung beigetragen. Daraus folgt, dass die Auslegung der Hl. Schrift innerhalb der Kirche stattfindet, in ihrer Pluralität und in ihrer Einheit, und in ihrer Glaubenstradition«65.

Der letzte Satz dieses Abschnittes zeigt, dass man im Dokument von 1993 diesen wichtigen Gedanken vom Verhältnis von Glaubenstradition und Heiliger Schrift in Bezug auf das AT noch nicht zu Ende gedacht hat. Aber als ganz organische Fortführung rückt genau dies im nachfolgenden Dokument der PCB von 2001 in den Mittelpunkt des Interesses. Das Dokument »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel« stellt die Frage nach dem Verständnis des AT aber in einen größeren Rahmen, der sich aus der Verbindung zum Anliegen des jüdisch-christlichen Dialogs (vgl. VAT II Nostra Aetate 4) ergibt. In der Einleitung zum Dokument erklärt die Kommission selbst, dass sie diesen Text als Beitrag zur Vertiefung des Verhältnisses zum Judentum nach der Schoa verstanden wissen will66. Im Text wird daher nicht nur die Bedeutung des AT für das Verstehen des NT thematisiert, sondern auch das Problem, wie und unter welchen Bedingungen dieselben Texte jeweils unterschiedlich verstanden werden (können)67. Zuvor hatte Papst Johannes Paul II. in seiner Rede vor der Rabbinerkonferenz in Mainz 1980 den hermeneutischen Schlüssel für ein katholisches Verständnis des AT skizziert und dabei den Asymmetriegedanken68 zugrunde gelegt: 63 Ebd., 79f. 64 Vgl. ebd., 80. 65 Ebd., 81. 66 Vgl. Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (VAS 152), Nr. 1. 67 Vgl. z.B. »Die christlichen Leser sind überzeugt, dass ihre Deutung des Alten Testamentes, so sehr sie sich auch von derjenigen des Judentums unterscheiden mag, doch einer Sinnmöglichkeit der Texte entspricht.« (Nr. 64) 68 Vgl. dazu C. Dohmen, Israelerinnerung im Verstehen der zweieinen Bibel, in: ders. (Hg.), In Gottes Volk eingebunden, Stuttgart 2003, 11f.

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»Die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott niemals gekündigten (vgl. Röm 11,29) Alten Bundes und dem des Neuen Bundes ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und dem zweiten Teil ihrer Bibel«69.

Dieser Satz wird im Dokument (Nr. 86) sogar zitiert, dennoch stehen Teile des Dokuments in der Gefahr, die Asymmetrie aus dem Blick zu verlieren und stattdessen dem Gedanken Vorschub zu leisten, dass das NT die (eigentliche) christliche Bibel sei und das AT eben die Hl. Schrift des jüdischen Volkes. In der Sache und in der Konsequenz widersteht das Dokument dem zwar und hält ganz korrekt an der zweigeteilten Einheit der christlichen Bibel fest, doch die Gefahr liegt in der ntl. Perspektive, wie sie sich z.B. schon in den beiden Überschriften des ersten Teils zeigt: »A. Das Neue Testament erkennt die Autorität der Heiligen Schrift des jüdischen Volkes an« oder »B. Das Neue Testament erklärt seine Übereinstimmung mit der Schrift des jüdischen Volkes«. Hier scheint man von einem Anerkennungsprozess des NT in Bezug auf die ihm vorausgehende und inhaltlich zugrunde liegende Hl. Schrift des jüdischen Volkes auszugehen. Das Dokument scheint in diesem Punkt auf die unscharfe Formulierung aus DV 16 zurückzuschwenken, wo davon die Rede ist, dass die Bücher des Alten Bundes als Ganzes in die Verkündigung des Evangeliums aufgenommen wurden70. Gleichwohl wird man, wenn man den Gesamtduktus des vorliegenden Dokumentes sowie seine Verbindung zu DV betrachtet, hier keinen bewussten Rückschritt unterstellen dürfen, sondern Nachwirkungen einer jahrhundertelangen Vernachlässigung des AT im Christentum oder, genauer gesagt, einer leider bis heute immer wiederzufindenden theologischen Relativierung des AT ausgehen. Ihr entgegenzutreten, um das Verständnis des AT in katholischer Kirche und Theologie weiter zu vertiefen, bedarf es vor allem einer breiten Kenntnis und Anerkenntnis der biblischen Wurzeln des christlichen Glaubens. Abstract The understanding of Holy Scripture and thus of the OT has been radically renewed in the Catholic Church by the Second Vatican Council and the important documents of the Pontifical Biblical Commission, especially »The Interpretation of the Bible in the Church« (1993) and »The Jewish People and Their Sacred Scriptures in the Christian Bible« (2001). Scripture and tradition 69 Zitiert nach: H.H. Henrix / R. Rendtorff (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945–1985, Paderborn/München 1988, 75. 70 Vgl. DV 16: Libri tamen Veteris Testamenti integri in praeconio evangelic assumpti. Vgl. dazu auch den Kommentar von H. Hoping, in: HThK Vat. II, Bd. 3, Freiburg i.Br. 2005, 781f.

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are no longer considered as two separate entities, but as two sides of the same thing. Within these documents the Church brings together Scriptural hermeneutics with the insight that Scripture is founded on and emerges from tradition, likewise, however, Scripture also establishes tradition.

*** Christoph Dohmen, geb. 1957, Dr. theol., ist Professor für Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg.

Tobias Nicklas

Die Kanonisierung des Neuen Testaments als Prozess von Gemeindebildung?

»Das Studium des Heiligen Buches ist gleichsam die Seele der Theologie«, so lesen wir in Abschnitt 24 der Dogmatischen Konstitution über die Offenbarung Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils. Die Katholische Kirche hat mit dieser Aussage, die erst im vergangenen Jahr in § 21 eines Dokuments »Die Rolle der Theologie in der Kirche«1 der päpstlichen Theologenkommission an prominenter Stelle wiederholt wurde, die Auslegung der Bibel nicht nur ins Zentrum der Theologie gestellt, sondern sie auch ganz eng an die Kirche und ihr Denken über Gott gebunden. Damit öffnet sie, ohne schon das Prinzip »Sola Scriptura« zu übernehmen, gleichzeitig den Raum für den Dialog mit den Kirchen der Reformation über die Rolle der Bibel in Theologie und Kirche. Wenn damit Bibel und Kirche eng miteinander verbunden sind und gleichzeitig der Prozess der Kanonisierung von Altem und Neuem Testament ganz eng mit dem Prozess des Werdens der christlichen Bibel zusammenhängt2, liegt die Frage, inwiefern sich die Kanonisierung der Texte, die wir heute in einer christlichen Bibel finden, (auch) als ein Prozess von Gemeinde- bzw. Kirchenbildung verstehen lässt, durchaus nahe. Oder besser: Inwiefern kann der komplexe Prozess der Kanonisierung der Schriften, die wir heute in einer christlichen Bibel gesammelt finden, auch als ein Prozess beschrieben werden, bei dem Gemeinde bzw. Kirche »gebildet wird«, d.h. zu sich findet, zu »Kirche« wird? Ich werde mich im Folgenden vor allem auf Aspekte der Kanonisierung der Schriften des Neuen Testaments beziehen, ohne dabei ganz den ersten Teil der christlichen Bibel, das Alte Testament, ausblenden zu können. Die Frage ist, so gestellt, nicht unproblematisch, steht sie doch in der Gefahr, einen historischen Prozess – die Kanonisierung bestimmter Schriften – mit einem Begriff in Bezug zu setzen, der eine geschichtliche und eine theologische Größe beschreibt, die zunächst ein1 Deutscher Text in: Th. Söding (Hg.), Die Rolle der Theologie in der Kirche. Die Debatte über das Dokument der Theologenkommission (QD 268), Freiburg/Basel/ Wien 2015, 10–71. 2 Ich würde beides nicht gleichsetzen wollen, weil der Prozess der Kanonisierung noch nicht gleichzeitig bedeutet, dass damit überall die Möglichkeiten bestehen, eine konkrete christliche Vollbibel in unserem Sinne zu produzieren.

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mal nicht einfach in eins fallen. Die Frage, was »Kirche« bzw. »Gemeinde« ist – das griechische ekklēsia steht für beides3 –, kann also Gegenstand einer sich an konkret historischen Gegebenheiten oder einer an Idealen Systematischer Theologie orientierter Beschreibung sein. Dabei scheint mir die Frage, wie »Kirche« gebildet wird bzw. zu sich findet, zunächst einmal als systematische Frage zu verstehen zu sein. Im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des neutestamentlichen Kanons steht für mich jedoch zunächst die andere Dimension im Vordergrund: Aus historischer Perspektive auf konkrete Entwicklungen möchte ich zunächst bereits den Plural »Kirchen« bzw. »Gemeinden« verwenden, wobei ich unter »Gemeinde« die sich an einem bestimmten Ort versammelnde Gemeinschaft von Christusanhängerinnen und Christusanhängern, unter »Kirche« ein (wie auch immer organisiertes) Netz solcher Gemeinschaften verstehe4. In meinem Verständnis der Geschichte des antiken Christentums wiederum ist es kaum angemessen, von »Kirche« im Singular zu sprechen. Wenn wir davon ausgehen können, dass bereits das Bild, das die Apostelgeschichte von der Urgemeinde Jerusalems zeichnet, ein Ideal darstellt, das historisch wohl nie erreicht wurde, während die Briefe des Apostels Paulus vor allem gemeindliche Realität im Konflikt spiegeln, so ist es wohl kaum angemessen, unseren historischen Überlegungen das Ideal einer von Anfang an auch im heutigen Sinne »rechtgläubigen« und in sich einigen Mehrheitskirche, von der sich verschiedene häretische (und damit zu vernachlässigende) Gruppen abspalten, zugrunde zu legen. Für die historische Rückfrage eignen sich deswegen wohl eher Bilder, in denen von der Vielfalt von Gruppen von Christusanhängern die Rede ist. Diese entwickelten Prinzipien der Einheit befanden sich gleichzeitig aber auch in z.T. konfliktreichen Diskursen und Auseinandersetzungen miteinander5. Einige Gruppen, die sich selbst sicherlich auch als ekklēsia, 3 Ursprünglich steht der Ausdruck bekanntlich für die Versammlung freier Bürger einer griechischen Polis. 4 Fragestellungen, welcher dieser »Kirchen« oder »kirchlichen Gemeinschaften« aus der Sicht (katholischer, evangelischer oder orthodoxer) systematischer Theologien wirklich zukommt, »Kirche im Vollsinn« zu sein, blende ich bewusst aus. 5 Eine gute Übersicht über verschiedene gängige Modelle, die Geschichte verschiedener Gruppen von Christusanhängern zu beschreiben, bietet D. Brakke, The Gnostics: Myth, Ritual, and Diversity in Early Christianity, Cambridge, Mass. / London 2010, 5–18. Ich selbst habe in den vergangenen Jahren das folgende Modell entwickelt, das versucht, die Vorstellung zu überwinden, dass bestimmte Gruppen, die sich auf Dauer durchsetzen konnten, von vorneherein als wichtiger als andere zu betrachten sind. Zudem müssen unsere Ideen fester Gruppenidentitäten relativiert werden: »Wir sehen von außen auf eine Gruppe von Tänzern, die sich fortwährend bewegen und in unterschiedlichen Phasen des Tanzes mit unterschiedlichen Partnern tanzen. Je nachdem, aus welcher Distanz und aus welcher Perspektive wir uns dem Tanz nähern, entstehen verschiedene Muster – nicht jeder tanzt mit jedem oder berührt sich mit jedem, einige Teilneh-

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Gottesvolk, die Heiligen, der »neue Weg«, Anhänger der wahren »Erkenntnis« und ähnlich verstanden haben6, mögen nach wenigen Generationen untergegangen sein, sie aber von Anfang an – und dann aufgrund von systematischen Vorstellungen über das Wesen der einen Kirche – aus unseren historischen Darstellungen auszuklammern, würde unsere Konstruktionen vergangener Realitäten jedoch fehlgehen lassen. So werde ich im Folgenden alleine anhand ausgewählter Quellen einige Linien nachzeichnen, die versuchen zu zeigen, inwiefern Vorgänge der Entwicklung und Abgrenzung eines neutestamentlichen Kanons in Relation zu Entwicklungen des Selbstverständnisses antiker Gemeinden bzw. Kirchen zu stehen kommen. Dabei formuliere ich entlang von Thesen. Mit den von mir gewählten Beispielen wiederum versuche ich verschiedene Perspektiven, d.h. nicht alleine »großkirchliche« Stimmen, zu Wort kommen zu lassen: 1. Die bereits gegen Ende des 2. Jahrhunderts erkennbaren Stimmen, die die Abgrenzung von Schriftensammlungen fordern und zu begründen suchen, aus denen sich später die Schriftensammlungen des kanonischen Neuen Testaments bilden, ziehen damit Grenzen zu Gruppierungen von Christusanhängern, die diese Schriftensammlungen nicht in der gleichen Weise verwenden und anerkennen. Dieser Prozess ist wichtig für die Entwicklung der häufig so genannten »Proto-Orthodoxie« in Abgrenzung zu anderen Gruppen von Christusanhängern. Dies lässt sich bereits mit Hilfe wichtiger Passagen bei Irenäus von Lyon belegen, der in seiner Schrift Gegen die Häretiker die Sammlung der vier Evangelien verteidigt. Einerseits lehnt er eine ganze Reihe von Schriften mer formen Gruppen, einige Paare bleiben wenigstens für einen Teil des Abends beisammen, andere vermeiden den Kontakt und beeinflussen sich schon dadurch gegenseitig. Das Zueinander wirkt komplex, von bestimmten Perspektiven chaotisch, manchmal jedoch werden Ordnungen sichtbar. Ich denke, es macht Sinn, ein derartiges Bild auch auf unsere Vorstellungen antiker christlich-jüdischer Beziehungen zu übertragen. Unsere Perspektive heute jedoch ist höchst problematisch, wir sehen nie den ganzen Tanz, sondern – vielleicht nur durch das Schlüsselloch aufgenommene Schnappschüsse einzelner Szenen … Unsere Konstruktionen von Geschichte müssen deswegen immer berücksichtigen, dass sie nur Fragmente vergangener Realitäten vorfinden – und wir das große Ganze nur in Ansätzen zu erfassen vermögen« (T. Nicklas, Parting of the Ways: Probleme eines Konzepts, in: St. Alkier / H. Leppin (Hg.), Heiden – Juden – Christen? Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius [WUNT 400], Tübingen 2018, 21–42. 6 Der Begriff »Christen« taucht ja bekanntlich erst in recht späten Texten des Neuen Testaments (Apg und 1Petr) auf, vom »Christentum« spricht erst Ignatius von Antiochien. Stattdessen finden sich Begriffe wie die genannten in Texten wie Mt, dem Corpus Paulinum, der Apg, der Offenbarung des Johannes, außerkanonischen Apokalypsen wie der Ascensio Isaiae und der Offenbarung des Petrus, aber auch so genannter »gnostischer« Literatur.

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als durch häretische Gruppierungen produzierte Fälschungen ab, andererseits verteidigt er die theologische Notwendigkeit der Vierzahl der Evangelien mit (z.T. recht weit hergeholten) Vergleichen wie der Rede von den vier Weltgegenden, den vier Hauptwindrichtungen oder den vier Kerubim am Throne Gottes (haer. 3,11,8). Dies wiederum geht einher mit einer Polemik gegen Gruppen, die nur einem dieser Evangelien anhängen: »Das sind nun allerdings die Grundlehren des Evangeliums, die den einen Gott, den Erbauer des Weltalls, verkünden, denjenigen, der auch von den Propheten verkündet worden ist und durch Mose die Ordnung des Gesetztes eingeführt hat, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Neben ihm kennen sie (sc. die Grundlehren) keinen anderen Gott und keinen anderen Vater. Im Fall der Evangelien ist diese Zuverlässigkeit so groß, daß auch die Häretiker selbst in der Form Zeugnis für sie ablegen, daß sie alle von ihnen (sc. den Evangelien) ausgehen, um zu versuchen, ihre eigene Lehre dadurch zu bewahrheiten. In der Tat benutzen die Ebionäer das Evangelium nach Matthäus und nur dieses, wobei ihnen aber gerade aus diesem Evangelium nachgewiesen wird, daß sie falsche Annahmen über Gott machen. Markion schneidet am Lukasevangelium herum; was bei ihm davon beibehalten wird, zeigt ihn als Lästerer gegen den allein existierenden Gott. Diejenigen aber, die Jesus von Christus trennen und sagen, Christus habe nicht leiden können, sondern Jesus sei es gewesen, der gelitten hat, bevorzugen das Evangelium nach Markus, und wenn sie es mit der Liebe zur Wahrheit lesen, können sie auf den rechten Weg gebracht werden. Die Valentinianer gebrauchen aber äußerst häufig das (Evangelium) nach Johannes, um ihre Syzygien (paarweise Vereinigungen) zu beweisen; und gerade aus diesem läßt sich aufdecken, daß an ihren Lehren nichts richtig ist, wie ich schon im ersten Buch bewiesen habe« (haer. 3,11,7)7.

Mit seinen Aussagen zur Sammlung der vier Evangelien scheint Irenäus weniger eine bereits bestehende, weithin anerkannte Praxis zu reflektieren, sondern zu definieren, was unter (aus seiner Sicht) »rechtgläubigen« Christen Praxis sein soll. Diese Definition zieht im wahrsten Sinne des Wortes Grenzen. Wer anstelle der vier Evangelien nur eines (oder auch andere, mehrere) verwendet, steht außerhalb der Gemeinschaft. Und wer ein Evangelium anders versteht, als Irenäus dies tut, ist ebenfalls draußen. Vor allem das zweite Argument ist wichtig, weil Irenäus nur so die vier Evangelien des neutestamentlichen Kanons retten kann: Nicht sie selbst und das, was sie aussagen, ist »häretisch«, sondern nur ihre Auslegungen bei einigen Gruppen, die sie verwenden. Irenäus definiert damit im Grunde eine »Textgemeinschaft«, d.h. er grenzt die Kirche der Rechtgläubigen als Gruppe ein, für deren Identität nicht nur der Bezug 7 Übersetzung: N. Brox, Irenäus von Lyon: Adversus Haereses III (FC 8/3), Freiburg/ Basel/Wien 1995, 107–109 (Rechtschreibung angepasst).

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auf die vier Evangelien entscheidend ist, sondern die auch die Deutungshoheit über diese Texte beansprucht8. Andere Gruppen mögen diese zwar auch verwenden, solange sie aber nicht mit der als »rechtgläubig« definierten Deutung der Texte durch Irenäus übereinstimmen, werden sie ausgegrenzt. Dass einem anderen Text seine Verwendung durch »häretische« Gruppierungen zum Verhängnis werden konnte, zeigen nicht nur die altkirchlichen Diskussionen um die Verwendung des Johannesevangeliums bei den Valentinianern9, sondern konkret das Beispiel des Petrusevangeliums: Als Serapion, Bischof von Antiochien zwischen etwa 190 und 209 n.Chr., beim Besuch der Gemeinde von Rhossos ein Evangelium nach Petrus vorgelegt wurde und man ihn fragte, ob die Verlesung dieses Textes erlaubt sei, stimmte er zunächst zu. Als er jedoch, zurück in Antiochien, erfuhr, dass dieser Text von »Doketen« verwendet wurde, verfasste er eilends ein (bei Eusebius von Caesarea, h.e. 6,12,1–6 erhaltenes) Schreiben an die Gemeinde, in dem er diesen Text als häretisch ablehnte10. Wir können heute natürlich nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob und wieweit tatsächlich die Verwendung des Textes durch »Doketen« (oder auch Anhänger Marcions)11 dazu beitrug, dass das Petrusevangelium sich nicht als kanonische Schrift durchsetzte. Vielleicht mag dies einfach auch daran gelegen haben, dass der Text erst zu spät bekannt wurde12, dass seine angeblich petrinische Autorschaft zu durchsichtig war oder der Text einfach zu wenig spezifisch Neues bot, um für weitere Kreise attraktiv zu werden. Trotzdem wird klar, dass die Verwendung eines Textes durch »Häretiker« wenigstens im ausgehenden 2. Jahrhundert für dessen Akzeptanz in der werdenden »Proto-Orthodoxie« problematisch werden konnte. In späteren Zeiten, in denen der Umfang autoritativer und später als kanonisch bezeichneter Schriften sich klarer 8 Zur verwendeten Begrifflichkeit vgl. B. Stock, The Implications of Literacy: Written Language and the Models of Integration in Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton, N.J. 1983, 60–62 (textual communities) und ders., Textual Communities. Judaism, Christianity, and the Definitional Problem, in: ders. (Hg), Listening for the Text: On the Uses of the Past, Baltimore/London 1990, 140–158 sowie J. Rüpke, Historische Religionswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart 2007, 51. 9 Zum Überblick vgl. M. Hengel, Die johanneische Frage (WUNT 67), Tübingen 1993, 37–50. 10 Text mit Kommentierung unter anderem bei T.J. Kraus / T. Nicklas (Hg.), Das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse (GCS NF 11; Neutestamentliche Apokryphen 1), Berlin / New York 2004, 12–16. 11 Der erhaltene Text des Serapion erwähnt einen gewissen »Marcian«, was natürlich Verschreibung für Marcion sein könnte. 12 Hierzu z.B. das Urteil des Eusebius von Caesarea, h.e. 3,2, das Petrusevangelium sei wie andere petrinische Apokryphen nie durch einen »der altehrwürdigen« noch einen der »kirchliche[n] Schriftsteller unserer Zeit« verwertet worden.

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herauskristallisiert hatte13, musste deswegen die Frage nach der Deutungshoheit in den Vordergrund gestellt werden. Auch die Durchsetzung eines Corpus Paulinum bedeutete natürlich eine Grenzziehung: Bereits die Schriften des Paulus selbst bezeugen, wie groß die Opposition gegen die spezifisch paulinische Heidenmission zur Zeit des Paulus gewesen sein mag. Wir tendieren heute dazu, diese vor allem aus Kreisen jüdischer Christusanhänger kommende Opposition im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung und später als nur noch marginal anzusehen. Ich würde dem entgegen halten und stattdessen behaupten, dass diese Gruppen auch aufgrund der Entscheidung, ein Corpus paulinischer Schriften zunächst als autoritativ und schließlich als kanonisch anzuerkennen, marginalisiert wurden – was einen deutlichen Unterschied zur üblichen Auffassung ausmacht. Dass Gruppen von Christusanhängern mit antipaulinischen Tendenzen noch weit über das 1. Jahrhundert hinaus nicht nur tätig, sondern auch zu beachtlicher literarischer Produktion fähig waren, zeigt u.a. der in mehreren Fassungen überlieferte pseudo-clementinische Roman, in dem uns heute noch im Kanon nicht mehr aufscheinende Perspektiven jüdischer Christusanhänger erkennbar werden14. So lesen wir etwa in dem den (griechischen) Pseudoclementinischen Homilien vorangestellten Brief des Petrus an Jakobus (2,3–5): »Denn einige Heiden haben meine [d.h. die petrinische; T.N.] dem Gesetz entsprechende Verkündigung verworfen und sich einer gesetzlosen und lächerlichen Lehre des feindlichen Menschen angeschlossen. Noch dazu haben einige, obwohl ich noch lebe, versucht, durch manch schillernde Deutungen meine Worte bis hin zur Auflösung des Gesetzes zu entstellen, als ob ich auch selbst so dächte, es aber nicht offen ausspräche. Das sei ferne. Denn solches hieße, dem Gesetz Gottes zuwiderzuhandeln, das durch Mose gesprochen und von unserem Herrn in seiner ewigen Gültigkeit bezeugt worden ist.«15 13 Ich differenziere bewusst zwischen (in konkreten Kontexten) »autoritativen« und »kanonischen« Schriften, weil beide Größen nicht einfach in eins gesetzt werden können: Wie wir später sehen werden, gibt es Schriften, die nie kanonisch anerkannt wurden, jedoch in bestimmten kirchlichen Kontexten »Autorität« erlangten, während es auch umgekehrt möglich ist, dass bestimmte kanonische Schriften in bestimmten Kontexten kaum einmal als Autorität herangezogen wurden. Ausführlicher hierzu auch die Gedanken in T. Nicklas, Christian Apocrypha and the Development of the Christian Canon, in: Early Christianity 5 (2014) 220–240. 14 Die konkrete historische Einordnung ist wegen der komplexen Entstehungsgeschichte der heute vorliegenden Versionen hoch umstritten. Einen guten Überblick bietet z.B. F.S. Jones, Introduction to the Pseudo-Clementines, in: ders., Pseudoclementina Elchasaiticaque inter Judaeochriatiana. Collected Studies (Orientalia Lovaniensia Analecta 203), Leuven / Paris / Walpole, Mass. 2012, 7–49. 15 Übersetzung: J. Wehnert, Pseudoklementinische Homilien. Einführung und Übersetzung (KAL 1/1), Göttingen 2010, 43–44.

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Wenn man bedenkt, dass hier (Pseudo-)Petrus an Jakobus den Herrenbruder schreibt, welcher gleichzeitig als »Herr und Bischof der Heiligen Kirche« (1,1) angesprochen ist, und wenn man bedenkt, dass die Chiffre »feindlicher Mensch« nicht nur hier, sondern auch in den (lateinischen) Pseudoclementinischen Rekognitionen mehrfach (R 1,70,1.8; 1,71,3; 1,73,4: homo inimicus) für Paulus steht, dann macht es Sinn, diese Passage als Gegenperspektive zur Darstellung des antiochenischen Zwischenfalls in Gal 2,11–21 zu lesen16. Obwohl wahrscheinlich noch sehr spät ein Text wie der Jakobusbrief mit seiner Kritik an einer an Paulus orientierten Glaubenshaltung ohne Werke (und damit verbunden mit seiner Kritik an der paulinischen Interpretation von Gen 15,6) Eingang in den neutestamentlichen Kanon gefunden hat17, ist für Perspektiven wie die in den Pseudoclementinen geäußerten nun nicht nur im Kanon, sondern auch in einer sich am Kanon orientierenden Kirche kein Raum mehr18. 2. Natürlich geht mit der Definition des Kanons (und der damit einhergehenden Selbstdefinition der Kirche als Textgemeinschaft) auch eine Bindung kirchlicher Lehre bzw. sich als rechtgläubig verstehender Theologie, aber auch kirchlicher Praxis an diesen Kanon, hier verstanden als Kanon des Alten und des Neuen Testaments, einher. Diese Bindung verläuft jedoch nicht einfach einlinig: Zwar werden bestimmte, nicht mehr mit dem Kanon vereinbare Lehren wie Praktiken ausgeschlossen, jedoch kommen nicht einfach alle Stimmen des Kanons in gleicher Weise zum Tragen. Zudem be16 Zum Antipaulinismus der Pseudoclementinen vgl. unter anderem J. Wehnert, Antipaulinismus in den Pseudoklementinen, in: T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul (NTOA 102), Göttingen 2013, 170–190. 17 Zur Diskussion des Verhältnisses zwischen Jakobusbrief und Corpus Paulinum vgl. z.B. D.C. Allison, Jr., Jas 2:14–16: Polemic against Paul. Apology for James, in: ebd., 123–149. Die Vorstellung, die Entstehung des neutestamentlichen Kanons inklusive der Katholischen Briefe mit dem Jakobusbrief an ihrer Spitze, sei vor allem als Problem der Herausgabe eines Buches im 2. Jahrhundert (anstelle mehrerer wachsender Sammlungen) zu verstehen, wie sie von D. Trobisch vertreten wird (Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel [NTOA 31], Freiburg, CH / Göttingen 1996), habe ich jüngst widerlegt: T. Nicklas, Neutestamentliche Kanongeschichte als Geschichte eines Buches?, in: I. Muñoz Gallarte / R. Romero / J. Peláez (Hg.), Nova et Vetera: Philological Studies in Honor of Professor Antonio Piñero, Cordoba 2016, 575–595. Zudem zeigt die kurz vor dem Abschluss stehende Dissertation von C. Bemmerl, dass die Rezeption des Jakobusbriefs erst mit Origenes greifbar wird und altkirchliche Autoren der vorkonstantinischen Zeit Bezüge wie die von Trobisch am Endtext des Kanons erkannten nirgends setzen. 18 Einher damit geht die wachsende Polemik gegen jüdische Christusanhänger in Traktaten wider die Häretiker. Zur Polemik etwa bei Epiphanius von Salamis vgl. J. Verheyden, Epiphanius on the Ebionites, in: P.J. Tomson / D. Lambers-Petry (Hg.), The Image of the Judaeo-Christians in Ancient Jewish and Christian Literature (WUNT 158), Tübingen 2003, 182–208.

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dient sich die Kirche schon früh Formulierungen zur Festlegung ihrer Lehre, die im Kanon keinen Anhalt finden. So wird deutlich, dass die Entscheidung für einen Kanon Alten und Neuen Testaments sowie die damit einhergehende Deutung, dass Altes und Neues Testament vom selben Gott sprechen, in der Alten Kirche dualistische Vorstellungen, die etwa zwischen einem obersten, guten Gott und einem unfähigen oder bösartigen Demiurgen unterscheiden, unmöglich macht19. Auch das Gegenteil, die Lehre, Jesus sei erst bei seiner Taufe im Jordan als Gottessohn »adoptiert« worden, ist mit den Kindheitsevangelien des Matthäus und Lukas und dem Johannesprolog natürlich nicht mehr denkbar20. Gleichzeitig bedeutet die (erfreuliche) Vielfalt menschlicher Stimmen im Kanon, in denen sich Gottes Wort äußert21, nicht, dass mit der Entscheidung für den Kanon bereits alle großen Fragen kirchlicher Lehre und Praxis beantwortet sind. Interessanterweise ist die Tradition ja zumindest in der katholischen Kirche mit Aussagen kanonisch gewordener Texte recht unterschiedlich umgegangen – ich vermeide hier bewusst ein Urteil über die Entwicklungen in anderen Konfessionen. Obwohl natürlich heute Frauen katholische Theologie studieren, ja zumindest in vielen Ländern höchste akademische Ämter als katholische Theologinnen erreichen können, sind ihnen auch weiterhin bestimmte Dimensionen theologischer Lehre – etwa in der Predigt in der Eucharistiefeier – verschlossen. Hier haben sich also Forderungen eines kanonisch gewordenen Textes wie 1Tim 2,12 (auch gegen andere Aussagen des Kanons, nach denen Frauen etwa als Prophetin [1Kor 11,5] oder Apostolin [Röm 16, 19 Zur Geschichte dualistischer Vorstellungen unter Christusanhängern von der Spätantike bis zur Bewegung der Katharer und, damit einhergehend, einer Vielzahl voneinander zu differenzierender dualistischer Modelle vgl. Y. Stoyanov, The Other God: Dualist Religions from Antiquity to the Cathar Heresy, New Haven, Conn. / London 2000. Dabei wird deutlich, dass viele dieser dualistischen Bewegungen sich (neben aus großkirchlicher Sicht apokryphen Schriften) weiter auf das Neue Testament bezogen, sein Verhältnis zum Alten Testament aber anders bestimmten. 20 Vgl. stattdessen die Taufszene im Evangelium der Ebioniten, in der die Himmelsstimme auch das »Heute habe ich dich gezeugt« aus Ps 2,7 mit ausspricht. Text bei J. Frey, Die Fragmente des Ebionäerevangeliums, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I: Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012, 607–620, hier 619. 21 Mit dem II. Vatikanischen Konzil würde ich von der Schrift als »Gottes Wort im Menschenwort« sprechen, allerdings dafür plädieren, das Verhältnis zwischen Gottes Wort und Menschenwort weiter auszudifferenzieren. Hierzu T. Nicklas, Das Studium der Schrift ist die Seele der Theologie. Eine Thesenreihe, in: T. Söding (Hg.), Die Rolle der Theologie in der Kirche. Die Debatte über das Dokument der Theologenkommission (QD 268), Freiburg/Basel/Wien 2015, 92–115, hier 103–106.

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7]22 wirken) recht weitgehend durchgesetzt, während die wenig später folgenden Aussagen, dass der Bischof der »Mann einer Frau« – wie auch immer dies konkret zu deuten ist – sein soll (1Tim 3,2), keine Rolle spielen23. Wie auch immer man diese und andere Diskrepanzen theologisch beurteilen mag, sie zeigen, dass kirchliche Lehre bzw. kirchliche Praxis und Kanon nicht einfach einlinig miteinander verbunden sind: Hier hat sich vielmehr die Deutehoheit der Textgemeinschaft so weit durchgesetzt, dass der Wortlaut des kanonischen Textes in der Praxis keine Rolle mehr spielt24. Das Verhältnis zwischen Textgemeinschaft und für die Textgemeinschaft gültiger Deutehoheit zeigt sich aber auch auf anderer Ebene: So gehen die Formulierungen entscheidender kirchlicher Lehraussagen, auch wenn sie auf dem Boden biblischer Aussagen bleiben wollen, bereits in früher Zeit über die expliziten Aussagen der Schriften des Kanons hinaus. Besonders evident ist dies bei der Formulierung des Verhältnisses von Gottvater und Sohn im Symbolum Nicaenum des Jahres 325 mit Hilfe des nicht im Neuen Testament zu findenden Ausdrucks »wesensgleich« – o`moou,sioj. A. Grillmaier schreibt dazu in seinem klassischen Standardwerk »Jesus der Christus im Glauben der Kirche«: »Zu betonen ist vor allem, daß die Väter von Nicaea mit dem Homoousios nicht den Gottesbegriff der Offenbarung und des kirchlichen Kerygmas ›hellenisieren‹, d.h. ›durch einen philosophisch-technischen Usia-Begriff‹ überlagern wollten. ›Es ging ihnen vielmehr um eine Klärung der Sohnesaussagen der Heiligen Schrift‹«.

Und etwas später: »Ohne schon alle Implikationen und Probleme durchzudenken, hatten die Väter von Nicaea den Mut, die biblisch-kirchliche Tradition vom ›Sohne Gottes‹ in voller Strenge aufrechtzuerhalten, dies zum Teil mit unbiblischen Worten.«25 22 Dass in Röm 16,7 tatsächlich von der Apostolin Junia die Rede ist und dies auch in der alten Kirche einhellig so anerkannt wurde, zeigt E.J. Epp, Junia. The First Woman Apostle, Minneapolis 2005. 23 Zur hochkomplexen Nachgeschichte von 1Tim 3,2 vgl. jetzt D.G. Hunter, ‚A Man of One Wife‘: Patristic Interpretations of 1Tim 3:2, 12, and Titus 1:6 and the Making of Christian Priesthood, in: ASE 32 (2015) 333–352. 24 Dies ist vielleicht noch deutlicher im Falle mancher Forderungen der Tora (z.B. Kult- und Speisegesetze), die selbstverständlich als für die katholische Kirche nicht gültig verstanden werden. 25 A. Grillmaier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche 1: Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalzedon (451), Freiburg/Basel/Wien ³1990, 409 und 410.

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In einer Auseinandersetzung, in der verschiedene Gruppen ihre Argumente mit der Schrift belegen wollten, wählen die Väter von Nicaea einen nicht in der Schrift zu findenden, zudem aufgrund seiner Verwendung in »gnostischen« Kreisen nicht unproblematischen Begriff, um eine entscheidende Frage zu klären. Dabei wollen sie, obwohl sie begrifflich die Schrift verlassen, um einen alleine mit der Begrifflichkeit der Schrift nicht aufzulösenden Konflikt zu klären, auf dem Boden der Schrift verbleiben – und üben damit natürlich eine Deutehoheit aus, die, wie die lange Nachgeschichte zeigt, von den Gegnern Nicaeas nicht anerkannt wurde. 3. Obwohl die Definition des Kanons gewisse Grenzen setzt und setzte, führt die Polysemie der Schriften des Kanons, ja ihre Vielstimmigkeit dazu, dass der Kanon an sich noch nicht die Einheit der Kirche trägt. Mit anderen Worten: Verschiedene kirchliche Gemeinschaften argumentieren als Textgemeinschaften mit Texten des gleichen Kanons – und scheiden bzw. unterscheiden sich gerade darüber, weil sie die Deutehoheit der anderen nicht anerkennen. Sosehr die Definition des Kanons Grenzen wie die oben erwähnten zog und bestimmte Lehren wie bestimmte Lebensformen innerhalb der damit gesetzten Grenzen unmöglich machte oder doch erschwerte, sowenig hat diese Definition des Kanons allein immer die Einheit der Kirchen, die sich auf diesen Kanon beziehen, bewahren können, wie sich an wenigen Beispielen zeigen lässt: Zu den bekanntesten Texten des Kanons, die in ihrer Auslegungsgeschichte mit der Frage der Einheit der Kirche in Bezug gesetzt wurden, gehört das bereits erwähnte Gal 2,11–21, die paulinische Darstellung des antiochenischen Zwischenfalls26. Zwar ist mit dem Wegfall der Pseudoclementinen eine radikal antipaulinische Interpretation des Textes ausgeschlossen, die Frage nach dem Verhältnis von Petrus und Paulus jedoch wurde in Zeiten, in denen beide bereits als Heilige verehrt wurden, zu einem immer größeren Problem. Um den Konflikt in seiner Schärfe zu relativieren, wollte etwa Tertullian hier nicht einen Konflikt in der Lehre, sondern nur in Fragen des Verhaltens sehen (Tertullian, praescr. 23,10–11). Clemens von Alexandrien (hyp. frg. 4) ging gar so weit, den Kephas aus Gal 2 nicht mit Petrus, sondern mit einem der siebzig Jünger aus Lk 10,1 zu identifizieren, um die Vorstellung Petrus und Paulus seien in Konflikt miteinander gestanden, zu vermeiden27. 26 Zur altkirchlichen Auslegung dieser Szene vgl. M. Meiser, Galater (NTP 9); Göttingen 2007, 97–120. 27 Die altkirchlichen Beispiele folgen W. Grünstäudl / T. Nicklas, Art. »Petrus II (in der Literatur)«, in: RAC XXVII (2015) 399–427, hier 423–424.

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Unter dem Druck paganer Polemik gegen die beiden streitenden Apostel – in Porphyrios’ Schrift Contra Christianos – behauptete schließlich Hieronymus (in Gal. praef. und 2,11–14) gar, die beiden Apostel hätten sich nur ein Scheingefecht geliefert28, eine Ansicht, der Augustinus (ep. 28; 82) widerspricht. Mehr als ein Jahrtausend später erkannte Martin Luther in dieser Szene ein Zeichen dafür, dass Petrus in der Gefahr gewesen sei, in Glaubenssachen zu irren: In einem solchen Falle sei die Korrektur durch Paulus nötig gewesen, der Petrus davon bewahrt habe, ein häretischer Hirte der Kirche zu sein, welcher als Sünder aus seinem Amt hätte entfernt werden müssen (vgl. WA 2/302, Z. 21–25; Leipziger Disputation mit Eck)29. Das Verhältnis zwischen Luther und dem Papst wird gespiegelt im Verhältnis zwischen Paulus und Petrus, in dem Luther sich natürlich mit Paulus identifiziert. Die Disputation um die gemeinsame Schrift kann in diesem Falle die Spaltung der Kirche nicht aufhalten. Dass der Bezug auf Schrifttexte in anderen Fällen jedoch durchaus einheitsstiftend wirken kann, sei bewusst mit einem anderen Beispiel angedeutet: Die Passio des Maximian und Isaac erzählt vom Märtyrertod des Maximian, während sein Mitgefangener Isaac im Gefängnis stirbt. § 11 des Textes diskutiert ausführlich das Problem, ob denn nun Maximian dem Isaac, welcher deutlich kürzer leiden musste als ersterer, überlegen sei und deswegen größeren himmlischen Lohn zu erwarten habe. Der Text gibt darauf die folgende Antwort (MPL 8.771): Absit fratres ut dividantur quia aequali praelio pugnaverunt; nam si per diversas horas venientes ad vineam Dominus de pacto mercedis aequavit, quomodo dispares judicat quos uno tempore laborantes invenit? Sed quod Isaac prior videtur excedere, inde magis eos dico Dominum comparasse, ut sicut ille huic confessionis incitamentum suggesserat, sic eum et hic provocaret pariter ad coronam. Ambos voluit Dominus sibimetipsos esse doctores, ut de vicissitudine documenti fecisset aequales; ne unus in omnibus antecederet, et unus in omnibus videretur se ipse sequentem. Nunc vero ambo se invicem praecesserunt, et ambo se invicem consecuti sunt.

28 Zur Polemik des Porphyrios gegen Petrus und Paulus sowie die Reaktion des Hieronymus in seinem Galaterkommentar vgl. M. Becker, Porphyrios, Contra Christianos. Neue Sammlung der Fragmente, Testimonien und Dubia mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen (Texte und Kommentare 52), Berlin/Boston 2016, 79–80.115–123. 29 Der Text lautet: Sed hoc volui, quod Petrus, quando in causa fidei prebuit scandalum, si non fuisset emendatus per Paulum, merito debuit moveri a prelatura: nam hereticus pastor aut is qui simulat in periculum fidei graviter peccat. Nam hac simulatione Petri funditus peribat fides Christi, ut Paulus dicit. Zur Diskussion der Passage vgl. auch J. Riches, Galatians Through the Centuries (Blackwell Bible Commentaries), Oxford 2008, 108, der im Anschluss daran (108–110) auch Calvins Interpretation der Stelle diskutiert.

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»Fern sei, Brüder, dass sie getrennt werden, weil sie in der gleichen Schlacht kämpften; denn wenn der Herr durch den Lohnvertrag die, die zu verschiedenen Stunden zum Weinberg kommen, gleichstellte, wie kann es sein, dass er die unterschiedlich beurteilt, die er zu gleicher Zeit bei der Arbeit findet? Aber weil Isaac früher zu sterben scheint, um wieviel mehr sage ich, dass der Herr sie einander an die Seite stellte: So wie jener diesen zum Bekenntnis angespornt hatte, genauso ermutigte auch dieser ihn zur Krone (des Martyriums). Der Herr wollte, dass beide einander zu Lehrern würden, um sie aufgrund der Gegenseitigkeit der Belehrung gleichwertig zu machen; damit nicht einer in allem vorausgehe und einer in allem ein Folgender scheine. Jetzt aber gingen beide wahrhaft einander voraus, und beide folgten einander.« (Übersetzung von mir)

Die ausführliche Diskussion des Einzelfalls ist auffällig – warum sollten zwei Märtyrer, die letztendlich beide für ihr Christuszeugnis den Tod erlitten, miteinander verglichen werden? Sind sie nicht – wenigstens aus heutiger Sicht – beide als Heilige anzusehen? Die Passage wird dann verständlich, wenn sie in ihren historischen Entstehungskontext eingebettet wird: Das Martyrium von Maximian und Isaac ist in die Jahre 346–348 unserer Zeitrechnung einzuordnen, bei den beiden Märtyrern handelt es sich nicht um »großkirchliche Christusanhänger«, sondern um Mitglieder der donatistischen Kirche30, die sich in dieser Zeit in einer besonderen Krise befand: Nicht alle Donatisten erlitten in dieser Situation das gleiche Schicksal, nicht alle mussten auf vergleichbare Weise leiden. Wie ist es jedoch möglich, die »wahre, getreue Märtyrerkirche, die das Heiligkeitsideal der Märtyrerzeit bewahrte«31, zu bleiben, wenn verschiedene Menschen in vergleichbaren Situationen unterschiedlich viel und auf unterschiedliche Weise leiden müssen?32 Demgegenüber betont unser Text am Beispiel des Maximian und Isaac, dass beide ja in der gleichen Schlacht kämpfen – und deswegen, vergleichbar den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16), auch von Gott als gleichwertig betrachtet werden. Die Auslegung von Mt 20 steht hier also im Dienst der Einheit einer Kirche, die in der Gefahr steht, durch Druck von außen auseinanderzubrechen. Als Textgemeinschaft entwickelt sie eine Deutung von Mt 20, welche ihr in ihrer Situation nach innen ein Bild von Kirche vermittelnd und Einheit stiftend wirken soll, während nach außen in Auseinandersetzung mit der Großkirche (vgl. Akten der Synode zu Karthago des Jahres 411 [Gesta 3,266], aber auch bei Augustinus, Contra Ep. Parm. 1,14 und 2,2 sowie Contra litt. 30 Genauer zu Details M.A. Tilley, Donatist Martyr Stories: The Church in Conflict in Roman North Africa, Liverpool 1996, 61–62. 31 N. Brox, Kirchengeschichte des Altertums, Düsseldorf ²1986, 69. 32 Genauer M.A. Tilley, The Bible in North Africa: The Donatist World, Minneapolis 1997, 73.

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Petil. 3,2,3) ein Ringen um die Deutehoheit über Mt 13,24–30 – kann die Kirche das Unkraut unter dem Weizen bei sich behalten? – belegt ist33. 4. Dem biblische Kanon kommt in der antiken Kirche zwar eine herausragende Rolle zu, zumindest die Alte Kirche hat sich jedoch nie allein auf die Bücher des Kanons bezogen, vielmehr spielten in unterschiedlichen »Lebenskontexten« auch andere Schriften, von denen wir viele heute (anachronistisch) als »apokryph« einordnen, eine wichtige Rolle. Bereits die Definition der Bücher des neutestamentlichen Kanons durch Athanasius von Alexandrien in seinem berühmten 39. Osterfestbrief des Jahres 367 n.Chr. unterscheidet nicht nur zwischen kanonischen und apokryphen Schriften, sondern auch von denen, »die nicht kanonisiert wurden, die aber von unseren Vätern dazu bestimmt worden sind, dass die sie lesen, die neu hinzukommen und in der Lehre der Frömmigkeit unterwiesen werden wollen: die Weisheit Salomos, die Weisheit des Sohnes des Sirach und Esther und Judith und Tobias sowie die Didaskalia der Apostel … und auch der Hirte (des Hermas).«34

Zumindest für Athanasius gibt es also eine dritte Kategorie von Büchern, welche klar von den Texten des Kanons unterschieden werden, denen gleichzeitig aber bei der Unterweisung von Taufbewerbern offenbar eine wichtige Rolle zukommt. Diese »dritte Kategorie« christlicher Schriften, die bei unterschiedlichen Autoren unterschiedlich bezeichnet werden kann und der durchaus nicht überall die gleiche Rolle zukommt, wurde in den vergangenen Jahren zunehmend in ihrer Bedeutung für die christliche Literaturgeschichte »wieder«-entdeckt; bereits jetzt jedoch zeigt sich, dass es schwer ist, wirklich von einer einheitlichen Kategorie zu sprechen. Während Francois Bovon in Anlehnung an byzantinischen Sprachgebrauch von Büchern, welche als »wertvoll für die Seele« (yucwfelh/) gelten können, gesprochen und damit die Bedeutung vieler nichtkanonischer Schriften für die Erbauung der Gläubigen hervorgehoben hat35, ist es mir wichtig, dass vielen außerkanonischen Texten nicht nur erbauliche Funktion zukommt, sondern sie »Erinnerungslandschaften« kreieren, die für die

33 Hierzu Tilley, Bible, 124 (und 206 Anm. 117). 34 Übersetzung: C. Markschies, Haupteinleitung, in: ders./Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen I, 161–162 (nach der koptischen Version). 35 Hierzu F. Bovon, Beyond the Canonical and the Apocryphal Books, the Presence of a Third Category: The Books Useful for the Soul, in: ders., The Emergence of Christianity. Collected Studies III (WUNT 319) Tübingen 2013, 147–160.

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Identitätsbildung von Teilkirchen, wohl aber auch in manchen Fällen »wertvoll für die Kirche« waren und sind36. In diesem Zusammenhang sind etwa einige heute üblicherweise als »apokryph« eingeordnete Apostelakten zu nennen: Aus der syrischen Doktrin des Addai ist vor allem die auch in der Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea erwähnte Abgar-Legende bekannt (h.e. 1,13)37. Die Doktrin, die in ihrem überlieferten Bestand wohl auf den Beginn des 5. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung zurückgehen dürfte, jedoch auch ältere Traditionen beinhaltet, kann als eine Gründungslegende der syrischen Kirche von Edessa gelesen werden, die somit auf den Jünger Thaddäus/Addai, ja indirekt bis auf die Zeit Jesu zurückgeführt wird. Dieser Text erhebt an keiner Stelle den Anspruch, kanonisch zu sein – stattdessen bietet er die Definition eines neutestamentlichen Kanons der syrischen Kirche (z.B. mit dem Diatessaron anstelle der Vierevangeliensammlung) und sucht wichtige Aspekte kirchlichen Lebens ihrer Entstehungszeit bereits der apostolischen Ära zu verankern. Vor allem aber verweist sie auf zwei für das Selbstbewusstsein der Kirche Edessas entscheidende Reliquien: den Briefwechsel Jesu mit König Abgar und das an Abgar gesandte Porträt Jesu. Die Bedeutung beider Reliquien zeigt sich auch in einem anderen Text38: Auf ihrer Pilgerfahrt ins Heilige Land (wohl um 381–384 n.Chr.) gelangt Egeria, möglicherweise eine Nonne aus Galizien oder Aquitanien, auch nach Edessa. Während sie sich normalerweise für die Orte interessiert, an denen sich in der Bibel erzählte Ereignisse lokalisieren lassen, zieht sie um das Grab des Thomas und des Briefes Jesu willen auch nach Edessa (Itin. Eger. 17,1). Nach dem Besuch des Thomasgrabes wird sie vom Bischof von Edessa eingeladen (19,5). Dieser zeigt ihr den Palast, den Abgar mit einer Statue des Königs ausstattete, die der Bischof mit folgenden Worten erklärt: »Siehe den König Aggarus, der, ehe er noch den Herrn sah, an ihn glaubte, dass er wahrhaft Gottes Sohn sei« (19,6; bewusst anspielend auf Eusebius, 36 Hierzu ausführlich meine Beiträge T. Nicklas, New Testament Canon and Ancient Christian “Landscapes of Memory”, in: Early Christianity 7 (2016) 5–23 sowie ders., Neutestamentlicher Kanon, christliche Apokryphen und antik-christliche Erinnerungskulturen, in: New Testament Studies 62 (2016) 588–609. 37 Zur folgenden Passage ausführlicher A. Desreumaux, Das Neue Testament in der Doctrina Addai, in: J.-M. Roessli / T. Nicklas (Hg.), Christian Apocrypha: Receptions of the New Testament in Ancient Christian Apocrypha (NTP 26), Göttingen 2014, 233– 249; zu Einleitungsfragen ders., Doctrine de l’Apôtre Addaï, in: F. Bovon / P. Geoltrain (Hg.), Écrits apocryphes chrétiens I (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1997, 1473– 1525, hier 1473–1481. 38 Zur Diskussion dieses Textes im Hinblick auf die Frage der Bedeutung außerkanonischer Literaturen auch in der antiken Großkirche vgl. T. Nicklas, Beyond Canon: Christian Apocrypha and Ancient Pilgrimage, in: ders. / C. Moss / C.M. Tuckett / J. Verheyden (Hg.), The Other Side: Apocryphal Perspectives on Ancient “Orthodoxies” (NTOA), Göttingen 2017, 23–38.

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h.e. 1,13; Mt 13,13 und Joh 20,29). Mit Hilfe des Briefes sei Edessa noch zur Zeit Abgars auf wunderbare Weise von einer Belagerung durch die Perser gerettet worden – und noch heute beschütze er die Stadt vor Feinden (19,8–13). Auch an anderen Orten Edessas erfährt Egeria von Legenden in Zusammenhang mit der Abgar-Sage. Sie schließt: »Auch das war mir besonders angenehm, dass ich die Briefe, sowohl den des Aggarus an den Herrn wie den des Herrn an Aggarus, die uns der hl. Bischof vorgelesen hatte, von diesem Heiligen für mich erhielt. Und mag ich auch in der Heimat Abschriften davon haben, so schien es mir doch willkommener, sie auch dort von ihm zu empfangen, wenn sie etwa weniger vollständig zu uns in die Heimat gekommen sein sollten; denn sicher ist der Text, den ich erhielt, vollständiger.«39

Wenn auch die Doktrin des Addai ein speziell für die Kirche Edessas, also regional wichtiger Text ist, so zeigt das (wohl noch ältere) Zeugnis der Egeria, aber auch die Tatsache, dass die Abgarsage über Eusebius und die Doktrin des Addai hinaus auch in äthiopischer, arabischer, armenischer, koptischer, lateinischer, persischer und altkirchenslavischer Version überliefert ist40, dass der Text auch jenseits seiner Bindung an eine Regionalkirche von Bedeutung gewesen sein muss. Für den Prozess der Bildung von Teilkirchen mit ihren besonderen Erinnerungsorten, an diese gebundenen Riten, ihrer Bindung an die Figur mindestens eines Apostels, dessen Grab dabei häufig markiert wird, sind aber auch andere Texte von Belang: Zu nennen sind etwa die Titusakten Kretas oder die Barnabasakten Zyperns (sowie das etwas später zu datierende Barnabas-Enkomium des Mönches Alexander)41, aber auch armenische Überarbeitungen der Doktrin des Addai, in denen besonderer Wert auf das Wirken des Addai in Armenien gelegt wird42. Mit anderen Worten: Das Neue Testament stiftet Ursprungserzählungen, auf die sich kirchliche Textgemeinschaften beziehen können. Ganz explizit bezeichnet Mk 39 Übersetzungen aus dem Itin. Eger aus H. Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land: Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.–7. Jh.), Stuttgart 2002, 121–124 (Rechtschreibung aktualisiert). 40 So J. Wasmuth, Die Abgarlegende, in: Markschies/Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen I, 222–230, hier 224. 41 Zu diesen beiden Texten vgl. T. Nicklas, Die Akten des Titus: Rezeption „apostolischer“ Schriften und Entwicklung antik-christlicher „Erinnerungslandschaften“, in: Early Christianity 8 (2017) 459–480 sowie ders., Die Akten des Barnabas: Neuinterpretation und Übersetzung, in: B. Landau (Hg.), Memorial F. Bovon (WUNT ), Tübingen 2019 (im Druck). 42 Zu nennen wären in diesem Zusammenhang etwa die Geschichte Armeniens des Moses von Khorene oder das armenische Martyrium des Thaddäus. Ausführlicher hierzu V. Calzolari, Réécriture des texts apocryphes en Arménien: L’exemple de la légende de l’apostolat de Thaddée en Arménie, in: Apocrypha 8 (1997) 97–110.

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1,1 das Folgende als avrch/ des Evangeliums Jesu Christi, hält sich Lukas an die Überlieferung derer, die avp v avrch/j Augenzeugen und Diener des Wortes waren (Lk 1,2), und setzt Joh 1,1 gar bei der avrch/ der ganzen Schöpfung ein. Auch die Apostelgeschichte, die Briefliteratur und selbst die Apokalypse thematisieren Ursprünge der Kirche wie auch Ursprung und Identität einzelner Teilkirchen. Und doch reichen im Verlauf einer Geschichte, in der Rang und Autorität von Teilkirchen in Bezug zu ihrer apostolischen Gründung gesetzt wurden, die Texte des Neuen Testaments als identitätsstiftende Erzählungen von den Ursprüngen nicht aus. Diese jedoch lassen sich nicht nur auf größere Regionen beziehen, sondern auch auf konkrete Orte, die zu Teilen christlicher Erinnerungslandschaften werden, deren Bedeutung gerade in Welten, in denen das geschriebene und gelesene Buch nicht allein bedeutsam ist, bis heute nicht unterschätzt werden sollte: Ausführlich ließe sich in diesem Zusammenhang die Geschichte der außerkanonischen Schriften beschreiben, die sich an Pilgerorte im Heiligen Land, an die entstehenden Itinerarien der Heiligen Familie in Ägypten oder aber auch wichtige Gedenkstätten der Apostel Petrus und Paulus in Rom binden43. Mit anderen Worten: Auch nach der Definition des Kanons sind und bleiben für verschiedene Teilkirchen, Gemeinden, aber auch (z.B. klösterliche) Gemeinschaften über den Kanon hinausgehend weitere Texte von Bedeutung, die wenigstens in einigen Fällen und für gewisse Zeiten gesamtkirchliche Relevanz erlangen. Textgemeinschaft und ihr untergeordnete Teilgemeinschaften beziehen sich über die Schriften des Kanons hinaus auch auf weitere Schriften, von denen viele heute als apokryph bezeichnet werden, obwohl ihnen besser das Attribut »wertvoll für die Kirche« oder »wertvoll für die Kirchen« zukäme. Doch auch wichtige theologische Entwicklungen lassen sich nicht einfach nur vom Kanon her verstehen: In einer Kirche, die ab dem 4. Jahrhundert mehr und mehr zur Volkskirche wurde, die vom Staat gefördert wurde und die nun mit einer Vielzahl von Mitgliedern leben musste, die nicht nur oder in erster Linie aus Überzeugung übergetreten waren, sind die Visionen eines himmlischen Jerusalem, in dem alle Geretteten auf gleiche Weise Gott schauen werden (Offb 22,4), nicht mehr adäquat: Auch die Bilder vom Jenseits mussten, um ihrer pädagogischen Funktion gerecht zu bleiben, angepasst, hierarchisiert werden44. Ein Text wie die Visio Pauli mit ihrer hierarchisch gegliederten heiligen Stadt und einer sehr komplex beschriebenen Hölle, in der auch Chris43 In Ansätzen habe ich dieses Programm skizziert in meinen Aufsätzen »New Testament Canon« bzw. »Neutestamentlicher Kanon«. 44 Zur pädagogischen Funktion christlicher Höllendarstellungen vgl. M. Henning, Educating Early Christians through the Rhetoric of Hell (WUNT II/382, Tübingen 2014.

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tusanhänger, ja selbst Mitglieder der kirchlichen Hierarchie ihren Platz finden, wurde vielleicht auch deshalb in Spätantike und Mittelalter – bis hinein in Dantes Divina Comoedia – weithin rezipiert und prägte (direkt wie indirekt über seine Bilder) christliche Jenseitsvorstellungen bis in die Neuzeit45. 5. Mit der Definition des neutestamentlichen Kanons wurde zwar deutlich, dass die Zahl der heiligen Schriften, auf die sich die gesamte Kirche bezieht, begrenzt ist, die Bibel als Buch ist deswegen jedoch noch keineswegs bei den einzelnen Gläubigen angekommen. Während davon auszugehen ist, dass noch vor den ersten explizit als solchen markierten Listen eines Kanons des Neuen Testaments im 4. Jahrhundert46 zumindest in gebildeten christlichen Kreisen der Mitte des 3. Jahrhunderts ein Bewusstsein einer begrenzten Liste Schriften des Neuen Testaments entwickelt war, die von ihrem Status denen des Alten Testaments vergleichbar waren und als inspiriert und auf apostolische Zeiten zurückgehend verstanden wurden, können wir noch keineswegs davon ausgehen, dass dieser Kanon und vor allem das für uns heute selbstverständlich damit verbundene, ihn materiell zum Ausdruck bringende Buch, die Bibel, für alle Christen der Antike und des Mittelalters die gleiche Bedeutung hatte. Der uns heute kaum mehr vorstellbare Aufwand, eine Vollbibel zu produzieren47, dürfte noch weit in die Spätantike hinein dazu geführt haben, dass eine solche nicht in allen christlichen Gemeinden vorlag und man stattdessen mit Einzelbüchern und Teilsammlungen arbeitete, welche keineswegs immer den ganzen Umfang der im heutigen Kanon zu findenden Bücher umfassen mussten 48. Selbst wo solche Bücher tatsächlich vorlagen, dürften sie zudem für die Mehrzahl der Christen nicht als Buch, dessen Text man las und als 45 Hierzu detaillierter T. Nicklas, Jenseits im Kontext. Tradition und Wandel in christlichen Jenseitsvisionen der Spätantike, in: A. Merkt / M. Hartl (Hg.), Metamorphosen des Todes. Bestattungskulturen und Jenseitsvorstellungen im Wandel – Vom alten Ägypten bis zum Friedwald der Gegenwart (Regensburger Klassikstudien 2), Regensburg 2016, 79–93. 46 Ich würde das Fragmentum Muratori, das wohl deutlich früher, ins Rom der zweiten Hälfte oder des Endes des 2. Jahrhunderts, einzuordnen ist, nicht als eine solche Kanonliste verstehen. Hierzu J.-D. Kaestli, La place de Fragment de Muratori dans l’histoire du canon. À propos de la thèse de Sundberg et Hahneman, in: CrST 15 (1994) 609–634. 47 Hierzu z.B. knapp D.C. Parker, Codex Sinaiticus. Geschichte der ältesten Bibel der Welt, Darmstadt 2012, 33–46. 48 Aufschlussreich hierzu z.B. die wenigen erhaltenen Zeugen spätantiker Bibliothekskataloge christlicher Klöster, zu finden in der Übersicht bei C. Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen ²2009, 314–331.

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Schrift studierte, zugänglich gewesen sein. Vielmehr dürfte einerseits das Buch als materiales Objekt, das man als »Heilige Schrift« sehen konnte und welches (zumindest theoretisch) berührbar »präsent« war, entscheidend gewesen und dabei die genaue Kenntnis seines konkreten Inhaltes (wie auch der konkreten kanonischen Abfolge der Bücher) zurückgetreten sein. Andererseits – und damit zusammenhängend – dürfte für die große Zahl der Genannten, die nicht die Möglichkeit einer Gesamtlektüre bzw. eines Gesamtstudiums der Bibel oder längerer biblischer Texte hatten, wie wir das für gebildete kirchliche Kreise unserer Zeit allzu selbstverständlich voraussetzen wollen, die Begegnung mit den kanonischen Texten über das Hören einzelner Passagen und deren Auslegung in Katechese, vor allem Homilien, erfolgt sein49. Vielleicht noch einprägsamer als das rein gesprochene Wort dürfte jedoch die ikonographische Darstellung einzelner Szenen und die Begegnung über den Gesang (nicht nur gewesen) sein50. Wenn biblische Texte den Glaubenden in gesungener Form vor allem als »living voice« begegneten51, die Programmatik der liturgisch verwendeten Gesänge jedoch weder den gesamten biblischen Kanon reflektiert noch einfach an den Grenzen des Kanons Halt macht52 und wenn auch wichtige Aspekte paulinischer Theologie, des Hebräerbriefs oder der Katholischen Briefe kaum einmal ikonographisch umgesetzt werden, während bei Evangelienszenen häufig kaum erkennbar ist, welche konkrete Fassung welcher Parallele dargestellt ist, das Bildprogramm sich gleichzeitig aber zumindest vor der Reformation für Mariendarstellung und Heilige öffnet, so ist nachvollziehbar, dass die konkreten Grenzen des Kanons bis heute zumindest für das Glaubensleben vieler orthodoxen und katholischen Christinnen und Christen und ihrer Gemeinden keine allein entscheidende Rolle spielen. Man kann dies natürlich als Zeichen einer defizitären »Volksfrömmigkeit«53 auffassen, die mit dem Ideal gemeindlichen bzw. kirchlichen Lebens nichts zu tun hat und überwunden werden muss; dann jedoch besteht 49 Wichtige Impulse hierzu wird der Tagungsband der Konferenz Liturgical Reception of the Bible: Dimensions and Perspectives for Interdisciplinary Research (23.–26. September 2015 im Rahmen des Novum Testamentum Patristicum, Organisation: H. Buchinger und C. Leonhard), der wohl im Jahr 2019 in Göttingen erscheinen wird, bieten. 50 Zur Tatsache, dass die christliche Ikonographie keineswegs alleine von kanonischen Erzählungen inspiriert ist, vgl. die Materialsammlung bei D.R.Cartlidge / J.K. Elliott, Art and Christian Apocrypha, London 2001. 51 So Peter Jeffery auf der oben in Anm. 49 erwähnten Tagung. 52 Ich verweise hier vor allem auf die Bedeutung mariologischer Themen in liturgischer Musik, die sich häufig auf spätantike Marienapokryphen bezieht. Zu diesen häufig kaum studierten Texten vgl. E. Norelli, Marie des apocryphes. Enquête sur ma mère de Jésus dans le christianisme antique (Christianismes antiques), Genf 2009. 53 Zur Kritik an diesem Begriff vgl. A. Holzem, Volksfrömmigkeit. Zur Verabschiedung eines Begriffs, in: ThQ 182 (2002) 258–270.

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die Gefahr, Christentum zu einer reinen Gelehrtenreligion werden zu lassen, die mit gemeindlicher Realität und menschlichen Bedürfnissen nur mehr wenig zu tun hat. Fazit So sehr die fünf Thesen des Beitrags das Verhältnis zwischen Kanonisierung, Kanon, Bibel, Kirche, Kirchen, Gemeinden wie letztendlich den einzelnen Gläubigen als differenziert, niemals einlinig, ja in Teilen gebrochen darstellen, so sehr ist jeweils auch der Umkehrschluss nicht zu vernachlässigen: Gerade weil die Kanonbildung Grenzen zieht, stiftet sie Angebote gemeindlicher Identität. Mit der Kanonbildung werden die Kirchen, die diesen Kanon akzeptieren, zur Textgemeinschaft im skizzierten Sinne. In Texten, die die ganze Welt von ihrem Ursprung bis hin zu ihrem Ziel erklären wollen, die Angebote bieten, Mensch und Gemeinde zu sein im Angesicht des Gottes Israels, der auch als der Gott Jesu Christi verstanden wird, müssen Gemeinden und Kirchen versuchen, sich immer wieder zu finden. Die bei aller Grenzziehung verbleibende Vielfalt der Texte wie ihre letzte Offenheit machen dies jedoch nicht leicht. Sie führen dazu, dass die biblischen Texte zwar in der Lage sind, auch jenseits von Regionalkirchen und über die Grenzen von Gemeinden eine Form von Communio zu stiften, die sich nicht alleine an Fragen von kirchlicher Lehre und Organisation orientiert, sondern über die man – auch über die Grenzen von Teilkirchen und Konfessionen hinweg – eine gemeinsame komplexe Ursprungserzählung teilen kann, die aus einer Vielfalt von Sinn stiftenden Ursprungserzählungen besteht. Die Geschichte des Umgangs mit diesen Erzählungen hat jedoch gezeigt, dass diese Communio – das deutsche »Gemeinde« und »Gemeinschaft« hängen ja eng zusammen – auch an Fragen des Verständnisses dieser biblischen Texte immer wieder zerbrechen kann und zerbrochen ist. Der Kanon verbindet also Gemeinden bzw. Kirchen – die Frage nach der Deutehoheit über die Schriften dieses Kanons hat sie oft genug getrennt und trennt sie bis heute. Diese Deutehoheit kann wie im Fall des Symbolum Nicaenum so weit gehen, dass sie den Boden der Formulierungen der im Kanon vorfindlichen Schriften verlässt, um Eindeutigkeit in der Vielstimmigkeit zu erzielen. Die in den kanonischen Schriften zu findenden Ursprungserzählungen blieben jedoch im Verlauf der Geschichte nicht einfach nur am geschriebenen Text der Bibel hängen, der »kanonische Prozess«54 des Wei54 Dieser Begriff wurde (im Zusammenhang mit dem Wachsen der Schriften Israels) von J.A. Sanders geprägt, der jedoch davon ausgeht, dass der »kanonische Prozess« mit der Kanonisierung der Schriften beendet ist. Hierzu J.A. Sanders, The Issue of Closure in the Canonical Process, in: L.M: McDonald / J.A. Sanders (Hg.), The Canon Debate, Peabody, Mass. 2002, 252–263.

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terwachsens, neu Erzählens, Entwickelns und Fortschreibens der in der Bibel geschriebenen Texte, die häufig wieder in die mündliche Erzählung zurückdrängen, in neue Kontexte und Welten hinein, geht weiter. Dabei eroberten und erobern die biblischen Texte in einer Weise Medien jenseits des geschriebenen Wortes, mit denen sie Menschen erreichen, für die Geschriebenes nicht die Bedeutung haben kann wie für die Gebildeten unserer Zeit. Die Grenzen eines Kanons der Schriften verlieren sich bei diesem Prozess zwar nicht in die Bedeutungslosigkeit hinein. Weil sie in Bildern und Musik jedoch nicht in gleicher Weise festgehalten werden können wie zwischen den Deckeln eines Codex, beginnen sie zu verschwimmen. Abstract The article formulates a series of theses regarding the relation between the process of canonization and the development of the church. First, the definition of a limited number of authoritative texts (which came to be canonical in the church) can be connected to the delimitation of orthodoxy and heresy. This, however, does not mean that the different voices in the canon played comparable roles in this process. Instead, in its newly formulated dogmata, the church sometimes used phrases, which could not be connected to Biblical wording. Even if the Biblical canon defines limits of what church/community can be, its texts’ polysemy made it possible that different communities read the same texts in different ways. Although the Biblical canon played a decisive role for the churches of late antiquity there were always writings »beyond the canon« which also played an important role. And, finally, even after the definition of the New Testament canon for many believers the Bible was not yet available as a book.

*** Tobias Nicklas, geb. 1967, Dr. theol., ist Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Universität Regensburg.

Lutz Doering

Die Rezeption jüdischer Schriften im Neuen Testament*

1.

Autoritative jüdische Schriften im 1. Jahrhundert

Die Schriften des Neuen Testaments sind von einem dichten Netz intertextueller Bezüge geprägt. Wenn in dieser Hinsicht im Folgenden von der Rezeption »jüdischer Schriften« und nicht »der jüdischen Bibel« gesprochen wird, wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass es im 1. Jh. keinen einheitlichen, abgeschlossenen Kanon der jüdischen Bibel gegeben hat. Wohl waren »Kanonisierungsprozesse« im Gang; sie hatten bis zum 1. Jh. zu verschiedenen Sammlungen autoritativer Schriften geführt, die jeweils in einem bestimmten jüdischen Milieu in Geltung standen. Weitgehend unumstrittener Bestandteil solcher Sammlungen war der Pentateuch. Auch eine Gruppe prophetischer Schriften wurde in breiten Kreisen für autoritativ gehalten.1 Am unbestimmtesten war die Gruppe weiterer »Schriften« (später als »Hagiographen« bezeichnet); sie wuchs um die Psalmen herum, die allerdings aufgrund der Zuschreibung zu David auch als Prophetie verstanden werden konnten,2 und umfasste auch lange umstrittene Schriften wie das Buch Kohelet oder das Hohelied. Der um 130 v.Chr. geschriebene Sirach-Prolog drückt diese mindestens teilweise noch offene Konstellation aus mit Wendungen wie »das Gesetz, die Propheten und die anderen ihnen fol* Mein besonderer Dank gilt den Studierenden der Westfälischen Wilhelms-Univer-

sität Münster, die im Wintersemester 2015/16 am Hauptseminar »Die Rezeption jüdischer Schriften im Neuen Testament« teilgenommen und mit ihren Fragen und Diskussionsbeiträgen die Überlegungen des vorliegenden Aufsatzes geschärft haben. 1 Nicht jedoch in der Gemeinschaft der Samaritaner, die sich spätestens nach der Zerstörung des samaritanischen Heiligtums auf dem Garizim durch Johannes Hyrkanos I um 110 v. Chr. vom Judentum trennte und als heilige Schrift allein den Pentateuch in einer spezifischen Textrezension anerkennt. Ob auch die Sadduzäer nur den Pentateuch als heilige Schrift betrachteten, wie etwa Origenes meint (Cels. 1,49), ist umstritten und aufgrund ihrer ideologischen Nähe zu den Qumrantexten, unter denen prophetische Texte breit bezeugt sind (s. unten), eher unwahrscheinlich: Dass sie die in wenigen Kapiteln der Hebräischen Bibel (Jes 24–27; Dan 12) angedeutete Auferstehung der Toten ablehnten (Mk 12,18–27 parr.; vgl. Apg 23,8), muss nicht heißen, dass sie gar keine prophetischen oder weiteren Schriften für autoritativ hielten. 2 Vgl. Mt 13,35; Apg 2,30; auch die Existenz von kontinuierlichen Pescher-Auslegungen zu Pss (1Q16; 4Q171; 4Q173) legt ein Verständnis der Pss als prophetischer Texte nahe.

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genden (Bücher)« oder »und die anderen väterlichen Bücher« bzw. »und die übrigen Bücher«. Im Neuen Testament werden häufig »das Gesetz und die Propheten« genannt.3 Daneben begegnen auch Wendungen wie »die Schriften«,4 »die Schrift«5 oder verwandte Bezeichnungen.6 Solche Sammlungen autoritativer Schriften konnten nicht nur weniger Bücher als die späteren Kanon-Umfänge der hebräischen oder der griechischen Bibel einschließen,7 sondern durchaus auch mehr. So finden sich unter den Qumran-Handschriften Hinweise darauf, dass Texte, die zur Kategorie »Rewritten Scripture« gerechnet werden, wie etwa das Jubiläenbuch oder Erweiterungen prophetischer Stoffe, manchen Gruppen als autoritativ galten.8 Ähnliches ist auch etwa vom Buch der Wächter (1Hen 1–36) zu sagen, das nicht nur einen Kern der sich entfaltenden Henoch-Literatur bildet, sondern auch im Judasbrief als autoritative Schrift zitiert wird.9 Andererseits zitiert Paulus wohl nur aus solchen Schriften, die später Teil des hebräischen Kanons geworden sind.10 Dass 3 ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται: Mt 5,17; 7,12; 22,40; Lk 16,16; Joh 1,45; Apg 13,15; 24, 14; Röm 3,21; vgl. Apg 28,23. In Lk 24,44 ist angefügt: καὶ ψαλμοῖς »und Psalmen«. 4 αἱ γραφαί: Mt 21,42; 26,54; Mk 12,24 par.; 14,49 par.; Lk 24,32.45; Joh 5,39; Apg 17,2.11; 18,24.28; Röm 15,4; 1Kor 15,3f. 5 ἡ γραφή: z.B. Joh 2,22; 7,38.42; Apg 8,32; Röm 4,3; 9,17; 10,11; auch 11,2; Gal 3,8.22; 4,30; 1Tim 5,18. Teilweise ist unklar, ob nicht die einzelne Schriftstelle gemeint ist (vgl. 2Tim 3,16); Letzteres ist deutlich der Fall z.B. in Mk 12,10; Lk 4,21; Joh 13,18. In anderen Fällen liegt die Vorstellung einer Einheit zugrunde, die aber noch nicht notwendig als abgeschlossen gedacht wurde. 6 τὰ λόγια τοῦ θεοῦ »die Worte Gottes«: Röm 3,2; ἱερὰ γράμματα »die heiligen Schriften«: 2Tim 3,15. Die meisten dieser Bezeichnungen finden sich ähnlich auch in antiker jüdischer Literatur; vgl. die Übersicht bei T.H. Lim, The Formation of the Jewish Canon, New Haven 2013, 3. 7 So fehlt etwa das Buch Ester unter den in Qumran gefundenen Schriften. 8 Für das Jubiläenbuch ist auf die wahrscheinliche Bezugnahme in CD-A 16,2–4 zu verweisen, für das Josua-Apokryphon 4Q379 auf die Auflistung eines Exzerpts aus dieser Schrift neben Passagen aus Dtn und Num in 4Q175 (= 4QTest). Die Einsicht in den autoritativen Status solcher Schriften schließt nicht aus, dass ihre Autorität geringer veranschlagt wurde als etwa diejenige der Mose-Tora; so für Jub etwa Lim, Formation, 131–134, obwohl Lims Bezeichnung von Jub als »Authoritative Explanation« mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. 9 S. unten 4.7. – Ob autoritative Schriften diese Autorität grundsätzlich »durch einen regelmäßigen gottesdienstlichen Gebrauch« erhielten, wie F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, Tübingen 32011, 41, meint (der freilich von »heiligen Schriften« spricht), ist fraglich. Wir wissen wenig über den Verlauf solcher jüdischen »Gottesdienste«: dass in ihnen die Tora verlesen wurde, ist deutlich; wieweit dies für andere Schriften einschließlich der Propheten gilt, ist unsicher (vgl. M. Wolter, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 190f., der konstatiert, dass die »Einbeziehung auch von Prophetentexten … vor Lk 4,16–20 nirgends belegt« ist [191]). Es sind daher auch andere Formen der Lektüre und des Studiums für die Autoritätsgewinnung eines Textes zu erwägen. 10 Vgl. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, Tübingen 1986, 47. Das erfordert aber die Annahme, dass Paulus in 1Kor 2,9 (mit Parallelen unter anderem in AscJes

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Josephus um 90 n.Chr. zweiundzwanzig autoritative Schriften nennt (Ap 1,38ff.), belegt nicht, dass dieser Kanon11 bereits abgeschlossen und allgemein verbindlich war; vielmehr zeigt das etwa zeitgleiche 4. EsraBuch, dass man in den Kreisen, aus denen dieses hervorging, neben den (hier) vierundzwanzig öffentlichen Büchern auch noch siebzig esoterische Schriften für autoritativ hielt (4Esr 14,42–48). Wir haben somit mit einem Nebeneinander von verschiedenen Stufen und Zwischenergebnissen der Kanonwerdung zu rechnen, die in unterschiedlichen Gruppen in Geltung standen, und dieses Nebeneinander kommt auch in den Schriften des Neuen Testaments zum Ausdruck. 2.

Zur Textform rezipierter Schriften

Nicht nur der Umfang der autoritativen Schriften, auch ihre Textform war uneinheitlich. Als wichtiges Ergebnis der Qumran-Forschung ist festzuhalten, dass gegen Ende der Zeit des Zweiten Tempels mehrere Formen des hebräischen Textes nebeneinander bestanden. Neben Vorund Seitenformen des Masoretischen Textes sind der präsamaritanische Texttyp sowie der der »Septuaginta«-Vorlage nahe stehende Texttyp zu nennen; auch gab es zahlreiche Handschriften, die eine eigenständige Textform repräsentieren.12 Doch auch die griechischen Schriften lagen in verschiedenen Rezensionen vor. Die gern gegebene Auskunft, die neutestamentlichen Autoren hätten »die Septuaginta« benutzt, ist, wenn auch nicht ganz falsch, so doch vereinfachend. Zwar haben die meisten Autoren neutestamentlicher Schriften erkennbar auf eine griechische Übersetzung und nicht den hebräischen Text zurückgegriffen, doch zeigen die Zitate im Neuen Testament, dass unterschiedliche Rezensionen des griechischen Textes verwendet wurden, teilweise von einem einzelnen Autor wie etwa Paulus.13 Neben der ältesten greifbaren griechischen 11,34 und Ps.-Philo, LAB 26,13) ein traditionelles Wort aufnahm, das er wegen der Ähnlichkeit mit Jes 64,3 für ein Schriftwort (in dem ihm sonst üblichen Sinn) hielt; vgl. ebd., 37–41. 11 In dem vermutlich Ri und Rut sowie Jer und Klgl verbunden waren. 12 Nach A. Lange lassen sich sieben Texttypen in den sicher »biblische« Bücher bezeugenden Handschriften aus Qumran unterscheiden (ders., Handbuch der Textfunde vom Toten Meer, Bd. 1: Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und anderen Fundorten, Tübingen 2009, 16f.): (1) protomasoretisch, (2) semimasoretisch (d.h. dem ersten Typ nahe stehend, ohne ihn zu vertreten), (3) präsamaritanisch, (4) dem Masoretischen Text ebenso nahe stehend wie dem Samaritanischen Pentateuch, (5) der Vorlage der Septuaginta nahe stehend, (6) eigenständig (non-aligned; dies ist übrigens die größte klassifizierbare Gruppe) sowie (7) texttypologisch nicht klassifizierbar. Zum Verständnis des Begriffs »Texttyp« vgl. ebd., 14f. 13 Vgl. F. Wilk, The Letters of Paul as Witnesses to and for the Septuagint Text, in: W. Kraus / G.R. Wooden (Hg.), Septuagint Research: Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures, Atlanta 2006, 253–261.

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Übersetzung (»Old Greek«) begegnen auch im Neuen Testament Anzeichen einer jüdischen rehebraisierenden Rezension, die man im Fachjargon als kaige-Rezension bezeichnet.14 Zugleich hat die jüngere Forschung festgestellt, dass der sogenannte Antiochenische Text nicht erst auf eine Rezension unter Lukian (um 300 n. Chr.) zurückgeht, sondern ältere Wurzeln hat und dem Old Greek nahesteht.15 Verkompliziert wird das Problem noch dadurch, dass manche der von Christen kopierten Kodizes der »Septuaginta« durch dominant gewordene Lesarten der neutestamentlichen Schriftzitate beeinflusst sein können. 3.

Zur Verfügbarkeit rezipierter Texte

Schließlich ist nach der Verfügbarkeit autoritativer Texte zu fragen. Solche können einerseits aus dem Gedächtnis zitiert sein, dem sie sich etwa durch liturgische Lesung eingeprägt hätten. Andererseits ist aufgrund des planvollen Einsatzes von Schriftrezeption mit schriftlichen Vorlagen zu rechnen. Grundsätzlich denkbar ist dabei der Gebrauch von thematischen Sammlungen von Schriftzitaten, sogenannten Testimonien, die sowohl für Qumran als auch die Alte Kirche nachgewiesen sind.16 Allerdings ist im Neuen Testament eine solche thematische Vorsortierung von Schriftbezügen nur selten aufzuzeigen, so dass in vielen Fällen mit der unmittelbaren Benutzung »biblischer« Handschriften zu rechnen ist. Dabei ist zu beachten, dass jüdische Schriften im 1. Jh. auf einzelne Schriftrollen geschrieben waren und solche Rollen vergleichsweise teuer waren. Ihre Verfügbarkeit war begrenzt; wenngleich nicht 14 Aufgrund der konkordanten Übersetzung von μg / μgw »(und) auch« mit καίγε »und auch«. Grundlegend ist die Arbeit von D. Barthélemy, Les devanciers d’Aquila, Leiden 1963, die die Textform der griechischen Zwölfprophetenrolle vom Naḥal Ḥever auswertet. Bemerkungen zur jüngeren Forschung, die einige Aspekte der Theorie Barthélemys problematisiert hat (unter anderem die Einheitlichkeit der Rezension, ihren Zusammenhang mit »rabbinischer« Hermeneutik und ihr Verhältnis zum Old Greek sowie den späteren Revisionen [Aquila, Symmachus und Theodotion = »den Drei«]), finden sich bei P. Gentry, Old Greek and Later Revisors: Can We Always Distinguish Them?, in: A. Voityla / J. Jokiranta (Hg.), Scripture in Transition (FS R. Sollamo), Leiden 2008, 301–327. 15 Vgl. S. Kreuzer, Die Bedeutung des Antiochenischen Textes für die älteste Septuaginta (Old Greek) und für das Neue Testament, in: M. Karrer / S. Kreuzer / M. Sigismund (Hg.), Von der Septuaginta zum Neuen Testament. Textgeschichtliche Erörterungen, Berlin 2010, 13–38. 16 Aus der jüngeren Forschung vgl. M.C. Albl, »And Scripture cannot be broken«: The Form and Function of Early Christian Testimonia Collections, Leiden 1999, der auch im Hintergrund des neutestamentlichen Schriftgebrauchs Testimonien sieht. Für Qumran s. 4Q175 (allerdings wohl ein »Autograph«, d.h. hier ein Exzerpt, das vom Schreiber selbst zusammengestellt wurde), für die Alte Kirche den Barnabasbrief oder Cyprians Ad Quirinum.

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auszuschließen ist, dass neutestamentliche Autoren die eine oder andere Schriftrolle selbst besaßen, ist doch damit zu rechnen, dass sie auch auf solche Exemplare zurückgreifen mussten, die sich im Besitz jüdischer Synagogen oder frühchristlicher Gemeinden befanden.17 Einige Forscher nehmen an, dass Autoren wie Paulus sich selbst Sammlungen mit Textexzerpten angefertigt hätten;18 gelegentlich wird mit der Annahme, diese Exzerpte seien einer Vielzahl von örtlich verfügbaren Rollen entnommen worden, die Verwendung unterschiedlicher Rezensionen erklärt.19 4. Zur Schriftrezeption einzelner neutestamentlicher Autoren und Texte 4.1

Paulus

Dass Christus »für unsere Sünden« gestorben und am dritten Tag auferstanden ist, galt schon der von Paulus empfangenen und weitergegebenen Überlieferung als »den Schriften gemäß« (1Kor 15,3f.). Ferner deutete die früheste christliche Tradition den Kelch des Herrenmahls auf den in Jer 31,31–34 angekündigten »neuen Bund«, ohne diesen Text wörtlich zu zitieren (1Kor 11,25; vgl. Mk 14,24). Die Rückbindung des Christusgeschehens an die Schriften Israels ist daher bereits für die früheste christusgläubige Gemeinde von grundlegender Bedeutung. Sie führt damit zum einen grundsätzlich die eschatologisch-gegenwartsbezogene Schriftinterpretation weiter, die auch in anderen Gruppen des antiken Judentums geübt wurde (vor allem im Jachad der Qumrantexte), setzt aber zum anderen aufgrund des konsequent christologischen Bezugspunkts eigene Akzente. Paulus knüpft an diese früheste christliche Schriftauslegung an und entwickelt sie weiter. Seine »vorchristliche« schriftgelehrte Bildung mag ihn dabei beeinflusst haben (s. unten); formativ war wohl auch sein langjähriger Aufenthalt in der antiochenischen Gemeinde (vgl. Gal 1,21; 2,1.11). Wie erwähnt, zitiert Paulus wohl nur aus Büchern, die zum späteren Kanon der Hebräischen Bibel gehören;20 hierbei greift er auf alle drei Schriftengruppen zurück: Pentateuch, Propheten und weitere Schriften. Die häufigsten Zitat-Aufnahmen stammen aus dem Jesajabuch (D.-A. 17 Vgl. H.Y. Gamble, Books and Readers in the Early Church: A History of Early Christian Texts, New Haven 1995, 190ff. Später wurde in christlichen Gemeinden freilich das Kodex-Format bevorzugt. 18 Vgl. Koch, Schrift, 98–101. 19 Vgl. C.D. Stanley, Paul and the Language of Scripture: Citation Technique in the Pauline Epistles and Contemporary Literature, Cambridge 1992, 73–79, hier 78. 20 S. oben Anm. 10; dort auch zur möglichen Ausnahme in 1Kor 2,9.

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Koch zählt 28), gefolgt von den Psalmen (20) sowie den Büchern Deuteronomium und Genesis (je 15).21 An Formen der expliziten Aufnahme22 begegnet zum einen die Paraphrase von bekannten Texten aus dem Pentateuch, etwa zu Schöpfung (1Kor 11,8f.12; 15,38–41), Sündenfall (1Kor 15,21; 2Kor 11,3; Röm 5,12), Abraham (Gal 3,16; 4,22f.29f.; Röm 4,9ff.13.18–22), Exodus und Wüstenzeit (1Kor 10,1–11) oder der Gesetzesübergabe an Mose (Gal 3,19; 2Kor 3,7.13). Sodann finden sich etwa 70 Schriftworte, die mit Zitationsformeln eingeleitet werden oder »durch syntaktische Inkongruenz nach Nennung einer Größe der Schrift als Zitate markiert«23 sind. Ferner gibt es einige Zitat-Kombinationen und Mischzitate, teilweise zu kommentierten Reihen von Zitaten verbunden, die exegetischen (so in Röm 4) oder thematischen (so etwa in 1Kor 10) Kommentaren aus Qumran ähnlich sind. Paulus bringt eine Reihe von Auslegungs-Methoden zur Anwendung, die auch im zeitgenössischen Judentum gängig sind. So finden sich Allegoresen zu Schriftaussagen, wie sie auch bei hellenistisch-jüdischen Auslegern vorkommen (so 1Kor 9,9f. zu Dtn 25,4 oder Gal 4,22– 25 zu dem durch Gen 16,15; 21,2.9 belegten Sachverhalt, dass Abraham zwei Söhne hatte); Typologien, in denen die Heilszeit mit der Urzeit (etwa Schöpfung: 2Kor 4,6; Sündenfall: 1Kor 15,21f.; Röm 5,12– 21) oder der Bundesgeschichte Israels (z.B. 1Kor 10,1–11; Gal 4,28; 2Kor 3,7–11) in Beziehung gesetzt wird; weitere Analogien zwischen einem in der Schrift genannten Sachverhalt und gegenwärtiger Erfahrung (z.B. Röm 11,2–6; 1Kor 9,13f.; 2Kor 11,3); Erläuterungen von Begriffen und Aussagen (reihenartig etwa in Röm 10,6ff.) sowie Syllogismen und Enthymeme, etwa Schlüsse e contrario (z.B. Gal 3,12) oder a minori ad maius (z.B. 2Kor 3,7–11), teilweise mit Kombination mehrerer Schlussverfahren (z.B. Röm 4,2–10). Ferner modifiziert Paulus gelegentlich die zitierten Worte der Schrift durch Umstellung, Änderung, Auslassung oder Zusatz bzw. Kombination oder Mischung von Zitaten; seine Schriftrezeption steht darin dem Umgang mit der Schrift in einigen Qumrantexten (vor allem der Damaskusschrift) nahe und zeigt Berührungen mit der Übersetzungstechnik einiger Bücher der Septuaginta und der Targumim.24 Gegenüber der verbreiteten Tendenz, die Grund21 Vgl. Koch, Schrift, 32–35. In geraumem Abstand folgen die Zwölf Propheten mit acht Zitaten, Ex mit fünf, Lev mit vier, Prov mit drei, 3Reg und Hi mit je zwei; vier Zitate sind unklarer Herkunft. 22 Das Anschließende folgt F. Wilk, Schriftbezüge im Werk des Paulus, in: F.-W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 479–490, hier 482ff. 23 Ebd., 483. Nach Koch, Schrift, 32–35, verteilen sich diese wie folgt: Jes 23, Pss 15, Dtn und Gen je 13, dazu Zwölfprophetenbuch sechs, Ex vier, Lev drei, 3Reg zwei Zitate, Hi ein Zitat; drei explizite Zitate sind unklarer Herkunft. 24 Vgl. ausführlich Koch, Schrift, 102–198.

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lagen der Schriftkenntnis des Paulus zunächst der »hellenistischen Synagoge« zuzuschreiben,25 d.h. der Aneignung im Zusammenhang jüdischer Versammlungspraxis in der Diaspora, weisen diese Techniken mindestens auch, wenn nicht gar überwiegend, auf palästinische Kontexte, mit denen Paulus als »Hebräer von Hebräern« und »Pharisäer nach dem Gesetz« (Phil 3,5) vertraut gewesen sein dürfte.26 Auch implizit nimmt Paulus auf die Schrift Bezug, wenngleich dies im Einzelnen schwerer zu erhärten ist. Methodisch muss man hier zunächst zwischen einer autor- bzw. textbezogenen und einer rezipientenbezogenen Perspektive unterscheiden. Von einigem Einfluss vor allem in der englischsprachigen Forschung war der Vorschlag von R. Hays, »echoes of Scripture« in einer kreativen Spannung dieser Perspektiven zu vernehmen, wobei dem gegenwärtigen Verstehen heuristische Priorität zukommt, dieses zugleich aber der Kontrolle durch den Text sowie durch Vermutungen über die historische Kommunikationssituation unterzogen wird. Hays rechnet mit unterschiedlich »lauten« Echos der Schrift und formuliert sieben Kriterien, die er – allerdings nur implizit – in seiner Lektüre anbringt.27 Andere plädieren für einen primär historischen Zugang und stützen sich dabei auf die vom Autor intendierten impliziten Schriftbezüge, da die Schriftkompetenz der Erstrezipienten unklar sei. So unterscheidet F. Wilk zwischen »Anspielungen«, bei denen Paulus »eine Formulierung der Schrift unter Beachtung ihres (kontextuell bedingten) Sinngehalts in die eigenen Ausführungen integriert«, »Reminiszenzen«, bei denen sich Paulus »der Ausdruckweise oder Begrifflichkeit der Schrift bedient hat, ohne den spezifischen Sachgehalt des jeweiligen Referenztextes wachzurufen«, »motivische Entsprechungen« zu Schrifttexten, »obwohl beide sprachlich kaum übereinstimmen«, sowie dem »Echo«, bei dem »der Kontext eines Schriftworts sich sprachlich und/oder sachlich im Umfeld der betreffenden paulinischen Anführung widerspiegelt.«28 Wichtig ist die Einsicht, dass Paulus für implizite 25 So etwa Koch, Schrift, 92. 26 So Wilk, Schriftbezüge, 484. Im Hintergrund steht zum einen die Frage, ob für einen Pharisäer der Erwerb gruppenspezifischer Bildung abgesehen von palästinischen Kontexten überhaupt möglich war, insofern der Pharisäismus der jüdischen Gruppenbildung in Palästina zugehört, und zum anderen, welchen Quellenwert man der Notiz Apg 22,3 zuschreibt, in der es über Paulus heißt: »aufgewachsen in dieser Stadt [sc. Jerusalem], zu den Füßen Gamaliels mit aller Sorgfalt unterwiesen im väterlichen Gesetz«. Eine umsichtige Darstellung, die sowohl die Verortung des Paulus in der Diaspora als auch die Bezüge zu Palästina würdigt, findet sich bei J. Frey, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen 22012, 25–65, hier 26–44. 27 Vgl. R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 29– 33. Die sieben Kriterien lauten: (1) availability, (2) volume, (3) recurrence, (4) thematic coherence, (5) historical plausibility, (6) history of interpretation, (7) satisfaction. 28 Wilk, Schriftbezüge, 485f.

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Bezüge auch auf Schriften zurückgreift, die er sonst nicht zitiert, wie etwa das Buch Ezechiel.29 Als Beispiele des Schriftgebrauchs bei Paulus soll hier vor allem seine Rezeption von Jes und Dtn knapp vorgestellt werden. Die Verkündigung des Jesajabuchs sieht Paulus, wie F. Wilk und – für Röm – R. Wagner mit unterschiedlichen Methoden und Akzenten dargelegt haben, in Kongruenz zu seiner eigenen Predigt auf die Gegenwart zielen.30 Besonders Wilk hat dabei die Vertiefung herausgearbeitet, die die Theologie des Paulus als Entfaltung von Schriftauslegung anhand des Jesajabuchs erfuhr. In seinen früheren Briefen setze Paulus das Jesajabuch für verschiedenartige Argumentationen ein, besonders aber in Aussagen zu seinem apostolischen Selbstverständnis, in dem er die Erfüllung von Weissagungen des Jesajabuchs sieht. Dies gehe etwa aus der Zitation von Jes 49,8 in 2Kor 6,2 und den Anspielungen auf Jes 49,1.5f.; 42,6 in Gal 1,15f. hervor. Mit diesen Aufnahmen habe Paulus nicht einfach sein Selbstverständnis dem des Gottesknechts nachgebildet, sondern die Texte als Weissagungen gedeutet, die in seiner Einsetzung zum Heidenapostel erfüllt werden.31 Auf dem Höhepunkt seiner Durchdringung des Jesajabuchs stehe der Römerbrief. Hier werde Jes »als herausragende, ja führende Stimme im Chor der Schriften«32 in den – längere Argumentationseinheiten des Röm jeweils abschließenden – Zitatenketten Röm 9,25–29; 10,19ff. und 15,9–12 präsentiert, in denen auch Hosea, Deuteronomium und die Psalmen aufgenommen sind. Das übergreifende Thema dieser Zitate ist die Frage nach der Treue Gottes zu Israel, mit Blick auf die Berufung Christusgläubiger aus Israel (Röm 9,27ff. / Jes 10,22f.; 1,9), auf Israels Ungehorsam (Röm 10,16 / Jes 53,1), auf die Hinwendung zu den Völkern (Röm 10,20f. / Jes 65,1f.) sowie auf das Miteinander von Menschen aus Israel und den Völkern in der Gemeinde (Röm 15,12 / Jes 11,10). Dabei liest Paulus das Jesajabuch »als Prophetie, die die Berufung der Gemeinde aus 29 So etwa Ez 11,19f.; 36,25ff. in 2Kor 3,2–6, wo aber auch Einfluss von Jer 31 [38], 31.33 möglich ist. Umstritten ist, ob Paulus Jer explizit (z.B. Jer 9,22f. in 1Kor 1,31; 2Kor 10,17) und/oder implizit (z.B. Jer 1,5 in Gal 1,15f.) rezipiert hat (bestritten etwa von Koch, Schrift, 35f.45ff.); zur möglichen Jer-Rezeption bei Paulus vgl. L. Doering, The Commissioning of Paul: Light from the Prophet Jeremiah on the Self-Understanding of the Apostle?, in: H. Najman / K. Schmid (Hg.), Jeremia’s Scriptures: Production, Reception, Interaction, and Transformation, Leiden 2017, 544–565. 30 F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus, Göttingen 1998; J.R. Wagner, Heralds of the Good News: Paul and Isaiah “in Concert” in the Letter to the Romans, Leiden 2002. 31 Vgl. F. Wilk, Paulus als Interpret der prophetischen Schriften, KuD 45 (1999), 284–306, bes. 298ff.; ders., Paulus als Nutzer, Interpret und Leser des Jesajabuches, in: S. Alkier / R.B. Hays (Hg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen 2005, 93–116, bes. 109–113. 32 Wilk, Paulus als Nutzer, Interpret und Leser, 101.

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Juden und ›Heiden‹ als Erweis der Treue Gottes zu Israel verstehen lehrt.«33 Hat bereits Wagner auf Entsprechungen zwischen der paulinischen Rezeption von Jes und Dtn im Röm hingewiesen,34 widmet sich D. Lincicum genauer der paulinischen Dtn-Rezeption und verortet sie im Kontext anderer jüdischer Stimmen aus der Zeit des Zweiten Tempels.35 Drei Schwerpunkte ergeben sich. Zum einen greift Paulus Dtn als ethische Autorität auf, etwa in der Rezeption von Teilen der »zweiten Tafel« des Dekalogs (Röm 13,9 / Dtn 5,17ff.21), in der Gewinnung eines Standards für die Reinheit der Gemeinde (1Kor 5,13 / Dtn 17,7), in der Frage des Lohns des Apostels (1Kor 9,9 / Dtn 25,4), in der kumulativen Wertung der Apostelbesuche als Zeugenaussagen (2Kor 13, 1 / Dtn 19,15) sowie als Motivation für den Verzicht auf menschliche Vergeltung (Röm 12,19 / Dtn 32,35).36 Sodann wird Dtn als theologische Autorität aufgenommen. Insonderheit rezipiert Paulus in 1Kor 8,6 das Schma˛ Israel (Dtn 6,4) in einer Weise, in der der »Herr unser Gott«, der »einer« ist, auf »einen Gott, den Vater« und »einen Herrn Jesus Christus« gedeutet wird, wobei beide Glieder der Aussage durch Schöpfungsaussagen näherbestimmt, dabei aber durch den Gebrauch unterschiedlicher Präpositionen funktional differenziert werden. Es handelt sich also um eine aktualisierende Interpretation des Schma˛, die der neuen Einsicht in die christologische Wirklichkeit entspricht.37 Schließlich ermöglicht Dtn eine Sicht auf die Geschichte Israels, wobei vor allem Dtn 27–32 rezipiert werden. Zum einen hebt Paulus dabei in seiner Entfaltung der Glaubensgerechtigkeit unter christologischer »Neuschreibung« von Dtn 30,12ff. die Nähe des Wortes hervor (Röm 10,6ff.). Sodann tritt Dtn (32,21) in der Argumentation bezüglich Gottes Hinwendung zu den Völkern dem Jesajabuch zur Seite (Röm 10,19). Schließlich bietet Paulus eine christologische Deutung des Fluchs, der nach Dtn 27,36 auf dem Gesetzesübertreter lastet, insofern Christus »uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft« hat, »indem er selbst zum Fluch geworden ist« (Gal 3,13; vgl. Dtn 21,23).38 Die jüngste Forschung sieht Paulus somit in engem Zusammenhang mit anderen zeitgenössischen jüdischen Auslegern, zunehmend auch 33 Wilk, Paulus als Nutzer, 108, mit dem Hinweis, dass sich in diesen Rahmen auch die übrigen Jes-Zitate des Röm einordnen lassen. 34 Wagner, Heralds, 351–356. 35 D. Lincicum, Paul and the Early Jewish Encounter with Deuteronomy, Tübingen 2010. 36 Vgl. ebd., 122–137. 37 Vgl. ebd., 138ff.; umfassende Diskussion in E. Waaler, The Shema and The First Commandment in First Corinthians: An Intertextual Approach to Paul’s Re-reading of Deuteronomy, Tübingen 2008. 38 Vgl. Lincicum, Paul, 142–168.

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palästinischer Provenienz. Gleichzeitig ist an einigen der genannten Beispiele deutlich geworden, in welcher Weise Paulus aufgrund seines christologischen Ansatzes her spezifische Interpretationen der Schriften vornimmt. Beides wird deutlich in der in 1Kor 9,10 und Röm 4,23f. begegnenden, durchaus programmatischen Aussage, dass die Schrift »um unseretwillen« (δι᾿ ἡμᾶς) geschrieben ist (vgl. auch Röm 15,4 »uns zur Lehre«; 1Kor 10,11 »uns zur Warnung geschrieben«). Damit ist zum einen ein Gegenwartsbezug der Schrift festgestellt, wie er sich jeweils auch in Qumrantexten und im rabbinischen Judentum findet. Zugleich knüpft Paulus jedoch an die früheste christliche Deutung der Heilsankündigungen auf Christus an, ohne freilich selbst einen christologischen Schriftbeweis im engeren Sinne zu entwickeln oder die Erfüllung der Schrift(en) aufzuweisen.39 Nur an einer Stelle, in 2Kor 3,12–18, äußert er sich ausdrücklich zum Proprium einer christologischen Schriftlektüre. Dabei behauptet Paulus unter interpretierender Aufnahme des Motivs der »Decke« auf dem Angesicht des Mose (Ex 34,33.35), dass »bis zum heutigen Tag dieselbe Decke auf der Verlesung des alten Bundes (τῆς παλαιᾶς διαθήκης) bleibt, die nicht aufgedeckt wird, weil sie in Christus abgetan wird« (2Kor 3,14). Daher liege »bis heute, wenn Mose verlesen wird, eine Decke auf ihrem Herzen« (3,15). Der Sinn der Schrift bleibe somit für die Israeliten verhüllt, deren »Denken« bereits am Sinai »verhärtet« wurde (3,14a); erst wenn er/es (d.h. Mose? Oder Israel?) sich »zum Herrn wendet«,40 werde die Decke abgetan (3,16). Zwar geht unser Begriff »Altes Testament« auf 2Kor 3,14 zurück, doch bleibt die Begrifflichkeit des Paulus noch in einer dynamischen Schwebe: Er entwickelt die Wendung »alter Bund« antithetisch zu seiner Aussage in 2Kor 3,6, wo er davon spricht, dass Gott »uns« – da meint er vor allem sich selbst – »befähigt hat, Diener des neuen Bundes« zu sein, »nicht des Buchstabens, sondern des Geistes«. Insofern »der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht«, kontrastiert Paulus den Dienst des neuen Bundes als Dienst des Geistes mit dem durch Mose repräsentierten Dienst, »der zum Tod führt und dessen Buchstaben in Stein gemeißelt waren« (3,6f.). Zwar ist in 2Kor 3,14 metonymisch mit dem »alten Bund«, insofern er ja verlesen werden kann, eine Gruppe von Schriften gemeint, doch sollte die vom Sachverhalt des »neuen Bundes« abgeleitete Begriffsbildung im Blick bleiben, die auf die Qualifizierung der Lesung als einer dem Verstehensrahmen des »Buchstabens« verhafteten abhebt. Auch ist umfangmäßig das, was hier verlesen wird, 39 Vgl. Koch, Schrift, 285ff.328. 40 Vgl. T. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther, Neukirchen-Vluyn/Ostfildern 2010, 219f., der vier Optionen des Verständnisses des Verbs im Singular vorstellt und sich für »Mose« entscheidet.

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nicht das »Alte Testament« späteren Verständnisses, sondern genauer die Tora.41 Überblickt man die Schwerpunkte der paulinischen Schriftauslegung, so kann man, wie deutlich geworden sein dürfte, klare quantitative wie qualitative Akzente bei den Themenkreisen Gerechtigkeit Gottes (bzw. Gesetz) und bleibende Erwählung Israels sehen, die sachlich miteinander verbunden sind. In Röm 3,21 sagt Paulus programmatisch, dass die Gerechtigkeit Gottes »nun ohne das Gesetz … offenbar geworden ist, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten«. Insofern fungiert die »Schrift« bei Paulus in der von ihm gebotenen Auswahl und Textgestalt sowie in dem von ihm vorausgesetzten neuen Verstehenshorizont in der Tat – in Anlehnung an eine Formulierung von D.-A. Koch – als »Zeugin des Evangeliums«.42 4.2

Markusevangelium

Im Markusevangelium bilden Schriftzitate »die tragenden Teile für die Erzählung des Evangeliums und ihren Plot«.43 Sie werden an Schlüsselstellen eingespielt, so etwa am Anfang des Evangeliums (Mk 1,2f.), in der Entfaltung des Motivs der Gottessohnschaft Jesu (1,11; 9,7; 15,39), in Jesu Wertung seines Leidens und Sterbens (12,10f.; 14,27) sowie dem Ausdruck seiner Todesangst (14,34), im Bekenntnis Jesu vor dem Synedrion (14,62), das zum Todesbeschluss führt, und zuvor schon in der Frage nach dem Messias (12,36), in den Umständen der Kreuzigung (15,24) und in Jesu letzten Worten (15,34). Ferner wird das Unverständnis sowohl der Jünger (8,18) als auch zuvor schon derer, die »draußen« sind (4,12f.), aus den Schriften begründet. Der Stellung zu den Geboten (7,6f.10; 10,4.6ff.19) sowie die Frage nach dem höchsten Gebot (12,29ff.) werden mit Zitaten der Schrift erörtert. In der apokalyptischen Rede wird mit Worten der Schrift sowohl von der unmittelbar bevorstehenden Not (13,14) als auch von den noch ausstehenden Zeichen des Kommens des Menschensohns (13,24ff.) gesprochen. Neben wörtlichen Zitaten finden sich mehrere explizite Verweise auf die Schrift oder ihre Inhalte (z.B. Mk 1,44 / Lev 14,2–32: Reinigungsriten für den Aussätzigen; Mk 2,25f. / 1Sam 21,2–7: David isst die Schaubrote; Mk 9,11ff. / Mal 3,23f.: das Kommen des Elia). Gegenüber 41 Vgl. zu 2Kor 3,6.12–18 die Diskussion ebd., 183–187.211–232. 42 So in einer gendersensitiven Abwandlung des programmatischen Titels von Koch, Zeuge; vgl. die zusammenfassende Entfaltung ebd., 341–353. 43 G. Guttenberger, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, Berlin 2004, 49; vgl. 54. Damit wird im Wesentlichen die Sicht bestätigt, die grundgelegt wurde in der Studie von A. Suhl, Die Funktion der alttestamentlichen Zitate im Markusevangelium, Gütersloh 1965.

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den Sadduzäern, die mit einem Zitat aus der Mose-Tora zur Leviratsehe (Mk 12,19 / Dtn 25,5f.) die Auferstehung problematisieren, zeigt der markinische Jesus auf, dass auch die Tora die Auferweckung belege (Mk 12,26 / Ex 3,6). Jesu Tod wird sowohl in Mk 14,21 (vom »Dahingehen« des Menschensohns, »wie von ihm geschrieben steht«) als auch in Mk 14,49 (»auf dass die Schriften erfüllt werden«) als schriftgemäß nachgewiesen. Letzteres ist die einzige Stelle, an der im Mk πληρόω in Bezug auf die Schrift(en) verwendet wird.44 Daneben gibt es eine große Anzahl von Anspielungen (im oben genannten Sinn) sowie von motivischen Entsprechungen wie etwa der »Wüste« oder des »Wegs«. Die enge Verflechtung von Schriftzitaten mit dem Narrativ im Mk zeigt sich bereits am Anfang des Buchs. Dort folgt auf die Wendung »Anfang des Evangeliums von Jesus Christus[, dem Sohn Gottes]«45 (Mk 1,1) ein Mischzitat aus Ex 23,20, Mal 3,1 sowie Jes 40,3 (Mk 1,2f.), das durch seine Einleitung »wie geschrieben steht im Propheten Jesaja« begründende Funktion hat.46 Strittig ist, ob diese Begründung auf V. 1 zurückverweist47 oder auf V. 4 vorausdeutet.48 Stilistisch betrachtet, signalisiert das artikellose »Anfang« in Mk 1,1 einen Titel oder eine Überschrift. Καθὼς γέγραπται in 1,2 weist wahrscheinlich in seiner Begründungsstruktur – wie generell überwiegend und auch sonst im Mk (9,13; 14,21) – nicht voraus, sondern zurück, während ἐγένετο (1,4) an Erzählanfänge in der »Septuaginta« anklingt.49 Das Mischzitat dürfte sich einerseits auf Johannes den Täufer beziehen, weist aber anderseits auf die Beziehung des Täufers zu Jesus hin. Mk 1,4 kann daher gut als Beginn der erzählerischen Entfaltung des mit dem Zitat ausgedrückten Sachverhalts verstanden werden, auf das in V. 9 das ähnlich durch καὶ ἐγένετο eingeleitete Auftreten Jesu und seine Taufe durch Johannes folgen. Umstritten bleibt, ob dieser »Anfang« auf den »Prolog« (Mk 1,1–13 oder 1,1–15) zu beschränken ist oder als Erzähleinleitung in das gesamte Evangelium ein44 Die andere Verwendung von πληρόω im Evangelium steht in Bezug auf »die Zeit« (ὁ καιρός): Mk 1,15. 45 Die Lesung υἱοῦ θεοῦ (gen. obj.) in Mk 1,1 ist bekanntlich unsicher (siehe NestleAland28, Apparat). 46 Ähnliche begründende Zitateinleitungen finden sich auch in Texten aus Qumran (z.B. CD-A 11,18.20f. bwtk [˜k] yk; 4Q174 1–2 i 3.12; 1QS 5,17; 8,14; CD-A 7,19 bwtk rçak; CD-A 7,8.14.16 rma rçak) oder in rabbinischen Texten (z.B. mSot 8,1 rmanç hmk; mBer 1,3.5; MekhY zu Ex 13,17 [73 Horovitz/Rabin] u.ö. rmanç; MekhY zu Ex 14,5 [88 Horovitz/Rabin] u.ö. bytkd); vgl. W. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Schriftauslegung, Bd. 1, Leipzig 1899, 6.88f. 47 So z.B. H.-J. Klauck, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, Neukirchen-Vluyn 1997, 27f.; Guttenberger, Gottesvorstellung, 55–65. 48 So z.B. M.E. Boring, Mark 1:1–15 and the Beginning of the Gospel, Semeia 52 (1990), 43–81, bes. 50f. 49 Dort freilich in der Regel καὶ ἐγένετο oder ἐγένετο δέ.

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weist50 – eine Frage, die im vorliegenden Rahmen weder geklärt werden kann noch muss. Die Zuschreibung des Mischzitats51 an den »Propheten Jesaja« ist technisch inkorrekt, insofern nur V. 3 aus Jesaja stammt. Es ist jedoch denkbar, dass es sich nicht um einen einfachen Irrtum handelt, sondern dass Markus am Beginn seines Evangeliums einen betont jesajanischen Akzent setzen will, der der generellen Bedeutung (Deutero-)Jesajas für das Evangelium entspricht.52 4.3

Matthäusevangelium

Matthäus übernimmt zunächst die Schriftrezeption des Markusevangeliums, dazu die umfangmäßig geringere des der Spruchquelle Q zugeschriebenen Stoffs. Unter Letzterem sind v.a. die mit »es ist geschrieben« (γέγραπται) eingeleiteten Schriftzitate aus Dtn 6,13 [= 10,3].16; 8,3; Ps 91,11f. zu nennen, mit denen Jesus in der Versuchungsgeschichte dem Teufel begegnet (Mt 4,4.6f.10), das Mischzitat Ex 23,20; Mal 3,1 in Jesu Zeugnis über den Täufer (Mt 11,10), die Anspielungen auf verschiedene Passagen des Jesajabuchs in Jesu Antwort auf die Anfrage des Täufers (11,4f.), die phrasenweise Einflechtung von Mi 7,6 in Jesu Wort über das Bringen des Schwerts (Mt 10,34ff.), von Ps 6,9 im Wort über das »Herr, Herr«-Sagen (Mt 7,23) sowie von Ps 118,26 im Wort über Jerusalem (Mt 23,39). Matthäus knüpft an diesen Jesus zugeschriebenen Schriftgebrauch an, wenn er Jesus mehrfach Kenntnis und Verständnis der Schrift seiner Gegenspieler mit den Worten »habt ihr nicht / niemals gelesen« (οὐκ / οὐδέποτε ἀνέγνωτε; Mt 12,3.5; 19,4; 21,16.42; 22,31) in Frage stellen lässt. Wichtigstes Merkmal des Schriftgebrauchs im Mt ist die Behauptung der Schrifterfüllung. Matthäus geht hier weit über die vereinzelte Erfüllungsaussage in Mk 14,49 hinaus. Dies kommt insbesondere in den sogenannten Erfüllungszitaten zum Ausdruck.53 Diese Zitate sind 50 Ersteres etwa nach Klauck, Vorspiel, 29; Guttenberger, Gottesvorstellung, 62ff., Letzteres etwa nach E.-M. Becker, Das Markusevangelium im Rahmen antiker Historiographie, Tübingen 2006, 104–111. Nach J. Marcus, Mark 1–8, New York 2000, 143.145 leitet Mk 1,1 sowohl den »Prolog« (Mk 1,1–13 oder 1,1–15) als auch das gesamte Evangelium ein. 51 Zur kulturgeschichtlichen Kontextualisierung von Mischzitaten vgl. S.A. Adams / S.M. Ehorn (Hg.), Composite Quotations in Antiquity, Vol. 1: Jewish, Graeco-Roman, and Early Christian Uses, London 2015. 52 Vgl. z.B. Marcus, Mark 1–8, 147. Für das deutero-jesajanische Motiv des Neuen Exodus im Mk vgl. R.E. Watts, Isaiah’s New Exodus and Mark, Tübingen 1997. Das Problem der Zuschreibung zu »Jesaja« wird auch nicht durch die Annahme einer Testimoniensammlung gelöst, derer sich Mk bedient haben könnte. 53 So mit dem Formulierungsvorschlag von W. Rothfuchs, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums. Eine biblisch-theologische Untersuchung, Stuttgart 1969. Die ältere deutsche Forschung spricht von »Reflexionszitaten«; im Englischen dominiert die Bezeichnung »formula quotations«.

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durch eine relativ einheitliche Einleitungsformel charakterisiert: (ἵνα) πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν διὰ (…) τοῦ προφήτου λέγοντος »(damit) erfüllt werde, was gesagt ist durch den Propheten (…), nämlich«. Die Gruppe umfasst die folgenden zehn Stellen: Mt 1,22f. (Jes 7,14); 2,15 (Hos 11,1); 2,17 (Jer 31,15); 2,23 (?)54; 4,14ff. (Jes 8,23–9,1); 8,17 (Jes 53, 4); 12,17–21 (Jes 42,1–4); 13,35 (Ps 78,2); 21,4f. (Jes 62,11; Sach 9,9); 27,9 (Sach 11,13). In einigen Fällen (Mt 2,17; 4,14; 8,17; 12,17; 27,9) wird der betreffende Prophet mit Namen genannt (in 27,9 fälschlich als »Jeremia«); in 2,23 ist von »den Propheten« die Rede. In 1,22 und 2,15 wird das durch den Propheten Geredete auf den »Herrn« (ὑπὸ κυρίου) zurückgeführt. Neben der Erfüllungsformel sind diese Zitate darin verbunden, dass sie einen Kommentar durch den Evangelisten darstellen, ferner, dass ihre Textform sich durch relative Eigenständigkeit gegenüber der »Septuaginta« auszeichnet. Zugleich ist aber festzuhalten, dass die Erfüllungszitate keine abgeschlossene Gruppe bilden, sondern mit anderen Befunden im Mt in Wechselbeziehung stehen. Hermeneutisch verwandt sind die Zitate Mt 2,5f. mit der Begründung der Geburt Jesu in Betlehem: »denn so ist geschrieben durch den Propheten«, worauf das bearbeitete Mischzitat Mi 5,1.3; 2Sam 5,2 folgt; ferner Mt 3,3, wo die Erfüllungsformel ersetzt ist durch die Wendung »denn dies ist, was gesagt ist (οὗτος γάρ ἐστιν ὁ ῥηθείς) durch den Propheten …« und die Zitation von Jes 40,3 folgt.55 Die Forschung zum matthäischen Schriftgebrauch wurde lange Zeit von der Annahme einer signifikanten Differenz zwischen der Textform der Erfüllungszitate und derjenigen der sonstigen Zitate geprägt. Die von der »Septuaginta« teils erheblich abweichende Textform der Erfüllungszitate war hierbei erklärungsbedürftig. Während K. Stendahl für diese eine »Schule des Matthäus« verantwortlich machte,56 verbuchte sie G. Strecker insgesamt auf eine Testimoniensammlung, die der angebliche »Heidenchrist« Matthäus verwendet haben soll.57 Zwar ist eine Testimoniensammlung, wie bereits gesehen, grundsätzlich denkbar, doch wäre der Einschluss einiger Zitate in einer solchen Sammlung schwer erklärbar, da sie erst im matthäischen Kontext ihren Sinn entfalten.58 54 Ob hier überhaupt ein Zitat vorliegt, ist fraglich; die Einleitung erfolgt mit ὅτι, nicht mit λέγοντος. Aufnahme von Ri 13,5.7; 16,17 und/oder Jes 11,1 wäre denkbar. 55 Vgl. ferner noch Mt 13,14f., demzufolge sich eine Weissagung Jesaias (Jes 6,9f.) an den außenstehenden Unverständigen »erfüllt« (ἀναπληροῦται αὐτοῖς ἡ προφητεία Ἠσαΐου ἡ λέγουσα). 56 K. Stendahl, The School of Matthew and its Use of the Old Testament, Uppsala 1954, 11–35.95–127.183–217. 57 G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, Göttingen 31971, 49–85. 58 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. I, Düsseldorf/NeukirchenVluyn 52002, 194: »Was sollten etwa Zitate wie Hos 11,1 (= 2,15), Jer 31,15 (= 2,18), Sach 9,9 (= 21,5) oder 11,13 (= 27,9) anderes bezeugen als gerade die Geschichten, in denen sie jetzt stehen?«

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Der Unterschied zwischen der Textform der Erfüllungszitate und derjenigen anderer Zitate relativiert sich jedoch, wenn man erkennt, dass Matthäus auch bei Letzteren im Wesentlichen seinen Quellen folgt.59 Man wird daher nicht einfach behaupten können, die »Bibel des Mt ist die LXX«.60 Vielmehr lässt sich zeigen, dass Matthäus für die Erfüllungszitate im Wesentlichen eine (in Richtung auf den Hebräischen Text) revidierte Septuaginta-Übersetzung benutzt, die er selbst auf den Erzählkontext hin bearbeitet. Eine vergleichbare revidierte Textform lässt sich auch für die meisten der anderen von Matthäus hinzugefügten Zitate nachweisen.61 In einigen diesem Befund entgegenstehenden Fällen (wie etwa Mt 21,16) kann man zeigen, dass die der Septuaginta folgende Form bereits der von Matthäus aufgenommenen Tradition entstammte.62 Die weiterhin erklärungsbedürftigen Ausnahmen sind die Zitate von Dtn 8,3 in Mt 4,4 und von Dtn 19,15 in Mt 18,16, die deutlich der (unrevidierten) Septuaginta folgen und wahrscheinlich von Matthäus stammen.63 M. Menken schlägt deshalb vor, dass Matthäus für das Buch Dtn eine unrevidierte Septuaginta-Textvorlage zur Verfügung stand, für die anderen Bücher (Jesaja, Jeremia, Zwölfpropheten, Psalmen) hingegen revidierte Textformen.64 Inwieweit Matthäus dabei in jedem Fall auf entsprechende Buchrollen zurückgreifen konnte, ist unklar. Nach U. Luz hatte er für diejenigen Texte, die er nicht zuordnete (Pss in Mt 13,35) oder irrtümlich zuschrieb (Jer bzw. Sach in Mt 27,9) keine Rollen zur Verfügung, sondern griff auf frühchristliche Tradition zurück. Luz rechnet dort, wo Zitate in ihrem gegenwärtigen Kontext überschießen, mit der Möglichkeit, dass diese (und nur diese) in kleineren Testimoniensammlungen verfügbar gewesen waren.65 Somit hätte Matthäus auf eine uneinheitliche Gruppe von Textformen, aber auch von »medialer« Vermittlung jüdischer Schriften zugegriffen: Einiges hätte er aus Mk übernommen, anderes aus christlicher Tradition bzw. kleineren Testimoniensammlungen, wieder anderes teils aus revidierten, teils aus unrevidierten »Septuaginta«-Rollen. Wenn man angesichts dessen die Rede von »der Bibel des Matthäus« überhaupt aufrechterhalten möchte, muss man diese Vielgestaltigkeit des matthäischen Zugangs zu jüdischen Schriften wahrnehmen, wie sie für die Zeit durchaus typisch ist. 59 So z.B. G. Stanton, A Gospel for a New People: Studies in Matthew, Edinburgh 1992, 354–358. 60 Gegen Luz, Matthäus I5, 195, von dem das Zitat stammt. 61 Vgl. M.J.J. Menken, Matthew’s Bible: The Old Testament Text of the Evangelist, Leuven 2004, 280f. 62 Vgl. ebd., 274–278. 63 Vgl. ebd., 239ff.271–274. 64 Vgl. ebd., 281f. 65 Vgl. Luz, Matthäus I5, 195f. Kritisch Menken, Matthew’s Bible, 279f.

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Welche Funktion haben die Erfüllungszitate? Während es für Strecker um die »historisch-biographische Faktizität« der Jesusüberlieferung geht,66 steht für andere die apologetische Auseinandersetzung mit dem Judentum im Vordergrund.67 Allerdings ist die Vorstellung, Matthäus und seine Gemeinde hätten bereits »die Trennung von Israel« erlebt68 bzw. befänden sich extra muros des Judentums, in jüngster Zeit mit Recht problematisiert worden. Zwar dürfte die Aufnahme von »Heiden« in die matthäische Gemeinde in den Augen der im Evangelium angesprochenen »Pharisäer« problematisch gewesen sein, doch »Matthäus selbst hat in seiner Position … gerade keine Abwendung vom Glauben Israels gesehen.«69 Die Erfüllungszitate setzen starke Akzente bei der christologischen Entfaltung sowie – damit verbunden – der Öffnung gegenüber der Völkerwelt (Letzteres besonders in Mt 4,14ff.; 12,18– 21). Dass dies in Auseinandersetzung mit der jüdischen Mitwelt geschieht, ist kaum zu bestreiten; wichtiger noch scheint aber zu sein, dass die Erfüllungszitate Teil des matthäischen Programms sind, die Jesusgeschichte »im Resonanzraum der Schrift« erklingen zu lassen.70 Ihre Konzentration in den Kindheitsgeschichten sowie Mt 4–13 mag damit zu tun haben, dass Matthäus für den Passionsbericht bereits einen entwickelten markinischen Schriftbezug vorfand.71 4.4

Lukasevangelium und Apostelgeschichte

Das lukanische Doppelwerk stellt die Jesusgeschichte sowie die Erzählung von den Anfängen der Kirche in gewisser Weise als Fortsetzung der Schriften Israels dar. Dies wird durch mehrere Kategorien von Schriftbezügen realisiert. Zum einen sind sprachlich-wörtliche Aufnahmen zu nennen, also Zitate und Anspielungen, dann jedoch auch die von den griechischen Schriften geprägte Sprache, die ein Charakteristikum der lukanischen Werke darstellt. Sodann sind strukturell-motivische Entsprechungen zu erwähnen, also etwa motivische Parallelen in den Geburtsgeschichten des Täufers und Jesu zu Geburtsgeschichten in den Schriften Israels. Schließlich ist auf kompositionelle Entsprechungen hinzuweisen, etwa auf die Einbettung von Hymnen wie Magnificat (Lk 66 Strecker, Weg, 85. 67 Vgl. B. Lindars, New Testament Apologetic: The Doctrinal Significance of the Old Testament Quotations, London 1961; als eine (negative) Funktion auch nach L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 31978, 549f. 68 So Luz, Matthäus I5, 198 u.ö. 69 M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 2015, 19. 70 So Konradt, ebd., 1. Goppelt, Theologie, 550f., sieht die Erschließung heilsgeschichtlichen Verstehens als die positive Seite der Erfüllungszitate, vor allem in der Zeichnung Jesu als des »Niedrigen und Barmherzigen«. 71 Vgl. Stanton, Gospel, 359.

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1,46–55) oder Benedictus (1,68–79) nach Art »biblischer« Lieder wie Ex 15, Dtn 32, Ri 5 oder 1Sam 2.72 Im lukanischen Doppelwerk tritt der Schriftgebrauch auf der Kommunikationsebene zwischen Erzähler und implizitem Leser (im Vergleich zu Mt) zurück. Bemerkenswerterweise sind die ersten drei ausdrücklichen Zitate in Lk 2,22ff. und 3,4ff. – und nur sie – auf dieser Ebene angesetzt. In Lk 2,22ff. ist der Befund kompliziert: PentateuchZitationen, Kenntnis jüdischer Tradition sowie kreative Bearbeitung durch den Evangelisten scheinen miteinander verschränkt zu sein. Zunächst wird von der Voraussetzung gesprochen, die einen Besuch des Säuglings Jesus mit seinen Eltern in Jerusalem ermöglicht: »als die Tage ihrer (Pl.) Reinigung erfüllt waren«. Mit dem Plural-Pronomen wird vielleicht nicht Joseph, sondern das Kind eingeschlossen, insofern es nach einer unter anderem im Jubiläenbuch belegten Tradition die Reinigungszeiten der Wöchnerin mit abzuwarten hatte.73 Bekanntlich verbindet Lukas die »Darstellung« Jesu mit dem Reinigungsopfer der Wöchnerin: Man bringt Jesus nach Jerusalem hinauf, »um ihn dem Herrn vorzustellen«. Begründet wird dies mit einem Rückverweis auf »das Gesetz des Herrn«, wobei die Stelle unklar bleibt: Ex 13,2.12a über die Heiligung der Erstgeburt klingen an, ohne genau zitiert zu sein.74 Während der Ko-Text in Exodus (v.a. Ex 13,13c.15b) die monetäre »Auslösung« der männlichen Erstgeburt des Menschen betont, findet sich bei Lukas die Wendung ἅγιον τῷ κυρίῳ κληθήσεται »wird ›heilig dem Herrn‹ genannt werden«, womit werkimmanent auf frühere Verwendung dieser Verbform rekurriert wird: Das von Gabriel angekündigte Kind »wird ›Sohn des Höchsten‹ genannt werden« (Lk 1,32); »das Heilige, das geboren wird, wird ›Sohn Gottes‹ genannt werden« (1,35; vgl. auch 1,76 über den Täufer). Der Akzent in Lk 2,23 liegt auf der Realisierung der Bezeichnung Jesu als »heilig«, deren Anlass die Heiligung der Erstgeburt ist, deren Sachgrund aber auf Jesu vorgängiges (vgl. 1,35) Wesen weist. In 2,24 folgt der Hinweis auf das Opfer »gemäß dem im Gesetz des Herrn Gesagten«, nämlich das Reinigungsopfer, wobei von vornherein auf das von Lev 12,8 zugestandene Armen-Opfer rekurriert wird (»zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben«).75 Die 72 D. Rusam, Das Alte Testament bei Lukas, Berlin 2003, spricht von den Techniken der »verbalen«, der »diegetischen« und der »narrativ-motivischen Allusion« (zusammenfassend ebd., 40). 73 Vgl. Jub 3,8–13; 4Q265 7 11–17, wonach die Protoplasten die Reinigungszeiten der Wöchnerin abwarten, bevor sie in den (als Heiligtum vorgestellten) Garten Eden gebracht werden. Wolter, Lukasevangelium, 135, weist daneben auf griechische Vorstellungen hin. 74 Vgl. die Übersicht bei Rusam, Das Alte Testament, 57f. 75 Lk 2,24 weicht leicht ab, indem es »ein Paar Turteltauben« nennt; vgl. Lev 5,11. Strittig ist die Bewertung dieser Abweichung: Gedächtniszitat, bewusster Anklang an

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Zitationen erweisen somit Jesu Eltern als gesetzeskonform (summarisch Lk 2,39), steuern aber auch einen christologischen Akzent bei und plausibilisieren den Plot, insofern sie einen Grund für Jesu Anwesenheit in Jerusalem liefern. Lk 3,4ff. hingegen fungiert innerhalb des proleptisch auf Jesus weisenden schriftgemäßen Wirkens des Täufers. Dieser wird schon in 3,2 mit einer auf Jer 1,1f. anspielenden Wendung (»es geschah das Wort Gottes zu Johannes …«) im Stil eines Propheten (vgl. Lk 7,26) vorgestellt. Seine Verkündigung der »Umkehr-Taufe zur Vergebung der Sünden« (3,3) schattiert die christliche Taufe voraus (vgl. Apg 2,38). Dieses Wirken wird in Entsprechung zu dem bei Jesaja Geschriebenen (ὡς γέγραπται …) mit einer bearbeiteten Zitation von Jes 40,3ff. präsentiert. Lukas kennt wahrscheinlich aus christlicher Tradition eine Formulierung von Jes 40,3, in der τὰς τρίβους τοῦ θεοῦ ἡμῶν »die Pfade unseres Gottes« durch τὰς τρίβους αὐτοῦ »seine Pfade« ersetzt ist, die das Verständnis der vorangehenden Wendung »den Weg des Herrn« auf Jesus ermöglicht. Das Fehlen von πάντα (»alles was krumm ist« heißt es in den Septuaginta-Handschriften) sowie der Plural αἱ τραχεῖαι in Lk 3,5 kann man auf eine rehebraisierende Rezension des griechischen Jesajatextes zurückführen, doch die Wendung εἰς ὁδοὺς λείας »zu ebenen Wegen« dürfte lukanische Anpassung sein, die das für Lukas wichtige Weg-Motiv auch hier einbringt.76 Von Lk 4 an verbindet die Erzählung das irdische Wirken Jesu mit der Erfüllung der Schriften, sowohl vorausweisend (proleptisch) als auch rückweisend (analeptisch). Der letztere Aspekt dominiert in den Reden der Apg. Das kann hier aus Raumgründen nicht im Einzelnen dargestellt werden.77 Dabei ist zu beachten, dass der christologische Akzent78 nicht der einzige Beitrag ist, den der Schriftbezug in Lk–Apg leistet. Nach G.J. Steyn79 wird die Schrift in den Petrus- und Paulusreden der Apg eher theozentrisch als christologisch gebraucht. Die Apostel legten sie prophetisch aus; das generelle Ziel der Zitationen sei heilsgeschichtLev 5 (Sündopfer) oder Irrelevanz der genauen Identifizierung der Schriftstelle; vgl. zu den Optionen Rusam, Das Alte Testament, 58ff., der sich für Letzteres entscheidet. 76 Vgl. ebd., 156f. Letzteres legt nahe, dass die von der »Göttinger Septuaginta« (J. Ziegler) bevorzugte Lesung in Jes 40,4 εἰς ὁδοὺς λείας Angleichung an die Formulierung in Lukas ist. 77 Vgl. zu beiden Aspekten Rusam, Das Alte Testament, 61 und passim. 78 Vgl. zu diesem die Positionen von M. Rese, Alttestamentliche Motive in der Christologie des Lukas, Gütersloh 1969, demzufolge der »Beweis aus der Prophetie« nicht als angemessener Generalbegriff für den lukanischen Umgang mit den Schriften angesehen werden kann, und D.L. Bock, Proclamation from Prophecy and Pattern: Lucan Old Testament Christology, Sheffield 1987, der meint, Lukas gebrauche die Schrift für seine Entwicklung der Darstellung Jesu vom Messias-Gottesknecht hin zum Herrn aller. 79 G.J. Steyn, Septuagint Quotations in the Context of the Petrine and Pauline Speeches of the Acta Apostolorum, Kampen 1995, 237ff.

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lich, wobei Themen, die aus einem realen geschichtlichen Kontext erwachsen, auf Gottes Plan bezogen werden, der wiederum mit dem Herrn in Beziehung steht. Grundsätzlich könne sich die Schrift in diesen Reden auf jüngste oder länger zurückliegende Ereignisse, auf das Jesus-Kerygma, auf die Reaktion der Hörer oder auf noch ausstehende Ereignisse beziehen. Aus dem Nachweis, dass die prophetische Deutung der Schriften zuverlässig ist, entsteht die Gewissheit, dass auch in der Gegenwart des impliziten Lesers noch ausstehende Weissagungen eintreffen werden.80 4.5

Johannesevangelium

Eine grundsätzlich andere Situation bietet sich im Joh dar. Dort ist die Rezeption der Schriften Israels vollkommen in den Dienst der Christologie gestellt. Nach Joh ist Jesus der einzige Offenbarer (Joh 1,18; 3,13; 6,46; 14,6 usw.). Daraus ergibt sich das Problem, in welcher Weise die Schriften Israels überhaupt Offenbarung sein können. Die Lösung liegt in ihrem Zeugnis-Charakter: Die Schriften »geben Zeugnis« (μαρτυροῦσαι) von Jesus (5,39); Jesus ist es, »von dem« Mose und die Propheten »geschrieben haben« (ὃν ἔγραψεν; 1,45; vgl. 5,46). Der Text der Schrift wird von Johannes primär, aber nicht exklusiv in der Form der Septuaginta zitiert.81 Ob sich Johannes mehr für das »Dass« des Schriftzeugnisses als für seine Einzelheiten interessiert, ist umstritten.82 Immerhin stellt er Jesus als den gerechten Leidenden mit mehreren Psalm-Zitaten vor (Joh 2,17 / Ps 69,10; Joh 12,27 / Ps 6,4f.; Joh 13,18 / Ps 41,10; Joh 15,25 / Ps 69,5; Joh 19,24 / Ps 22,19; Joh 19,36 / Ps 34,21), ferner als Sacharjas »Durchbohrten« (Joh 19,37 / Sach 12,10). Des Weiteren werden Schriftverse zum Kommen des davidischen Messias referiert, die allerdings im Joh Missverständnisse zeitigen (Joh 7,42 / 2Sam 7,12; Joh 12,13 / Ps 118,26; Joh 12,15 / Sach 9,9; Joh 12,34 / Ps 89,37). Am Unglauben angesichts der Zeichen Jesu erfüllt sich das Wort Jesajas (Joh 12,38 / Jes 53,1; Joh 12,40 / Jes 6,10); Johannes der Täufer ist die Stimme des von Jesaja geweissagten Rufers (Joh 1,23 / Jes 40,3). Auch Typologien werden mit Zitaten belegt, etwa dass Jesus das wahre Manna (Joh 6,31 / Ps 78,24) oder Passalamm (Joh 19,36 / Ex 12,46) ist; da80 Vgl. Rusam, Das Alte Testament, 494f. 81 Vgl. M.J.J. Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel: Studies in Textual Form, Kampen 1996. 82 Die erste Sichtweise vertritt J. Beutler, The Use of »Scripture« in the Gospel of John, in: R.A. Culpepper / C.C. Black (Hg.), Exploring the Gospel of John (FS D.M. Smith), Louisville 1996, 147–162, hier 158; dagegen argumentiert M.J.J. Menken, Observations on the Significance of the Old Testament in the Fourth Gospel, in: ders., Studies in John’s Gospel and Epistles: Collected Essays, Leuven 2015, 91–111, hier 96.

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neben begegnen Typologien auch in erkennbaren Paraphrasen, etwa zur Erhöhung der Schlange durch Mose (Joh 3,14f. / Num 21,8f.). Zahlreich sind die Anspielungen im Joh. So spielt Joh 1,1 unzweifelhaft auf Gen 1,1 an und ordnet damit den präexistenten Logos dem Beginn der Schöpfung zu. Das absolute ἐγώ εἰμι, das Jesus spricht (Joh 6, 20; 8,24.28.58; 13,19; vgl. 4,26; 18,5.8), spielt wörtlich auf die Selbstzusicherung der göttlichen Präsenz nach (Deutero-)Jesaja an;83 auch Ex 3,14 (in der Textform der Septuaginta) und Dtn 32,39 können alludiert sein.84 Joh 10,1–18 spielt auf Texte an, die von Gott als Hirten Israels sprechen.85 Wenn »das Gesetz« (z.T.: »euer«, »ihr Gesetz«) von Jesus zeugt (Joh 1,45; 8,17f.; 10,34; 12,34; 15,25), dann wenden sich »die Juden« gegen dieses Gesetz im johanneischen Sinn, wenn sie es benutzen, um Jesus der Gotteslästerung zu bezichtigen und ihn töten zu lassen (19,7; vgl. 18,31). Während in Joh 1–12 die Erfüllung der Schrift durch Jesus implizit an seinem Wirken dargestellt wird, findet sich in Joh 12,38 das erste Mal eine – mit der matthäischen verwandte, aber etwas variabler gebrauchte – Erfüllungsformel, die fortan noch mehrere Male begegnet (13,18; 15,2586; 17,1287; 19,24.36). Semantisch auffällig ist demgegenüber die Wendung in 19,28: ἵνα τελειωθῇ ἡ γραφή »auf dass die Schrift vollendet werde«, womit wohl eine Steigerung impliziert ist (»völlig erfüllt«).88 Sie entspricht zugleich johanneischer Konzeption: Im selben Vers wird konstatiert, dass Jesus wusste, »dass alles vollendet war« (vgl. auch 19,30 »es ist vollendet«); grundsätzlich »vollendet« Jesus im Joh das Werk des Vaters (4,34; 5,36; 17,4). Somit kommt auch das Zeugnis der Schrift an sein Ende. Welche Stelle Jesus hier mit »mich dürstet« aufgreift, bleibt freilich umstritten.89 M. Menken versteht die Erfüllungs-Aussagen im Joh so, dass die Schrift vor Jesus in dem von Jesus aufgewiesenen Sinn »leer« war und erst »gefüllt« werden muss. Die Autoren der Schriften hätten somit keine Einsicht in die letzten Bezüge ihrer eigenen Schrift. Dies lässt sich in gewissem Sinn mit der Pescher-Exegese vergleichen, wie sie in 1QpHab 7,1–8 dargestellt ist; demzufolge hat Gott den Propheten manches vorenthalten und letzte Erkenntnis 83 Jes 41,4; 43,10.25; 46,4; 48,12; 51,12; 52,6. 84 Vgl. C.H. Williams, I Am He: The Interpretation of ∞Anî Hû∞ in Jewish and Early Christian Literature, Tübingen 2000, 255–303. 85 Gen 49,24; Ps 23; Ez 34; vgl. Ps 78,70ff. von David. 86 Die Stelle spricht vom »Wort, das in ihrem Gesetz geschrieben ist«, zitiert aber möglicherweise Ps 35,19 oder 69,5. 87 Hier heißt es lediglich: »auf dass die Schrift erfüllt werde«. 88 So Menken, Observations, 98. 89 Vgl. die Diskussion bei R.E. Brown, The Death of the Messiah, New York 1994 [Bd. 2], 1072ff., der Ps 22,16 favorisiert, aber eine sekundäre Referenz etwa auf Ps 69,22 (das sich auf die Gabe von Essig bezieht) nicht ausschließen will.

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über ihre Worte erst dem Lehrer der Gerechtigkeit als »Geheimnis« offenbart.90 Joh sieht daneben die Schrift dynamisch auf den präexistenten Sohn bezogen. So heißt es innerhalb des Abschnitts, in dem der Unglaube gegenüber den Zeichen Jesu als Erfüllung der Prophetie des Jesaja (Jes 53,1; 6,10) gedeutet wird, dass Jesaja »dies sagte, weil er seine (= Jesu) Herrlichkeit sah und von ihm sprach« (Joh 12,41). Ähnlich sagt Jesus, Abraham habe gejubelt, »dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und war froh« (8,56). Diese starke christologische Fokussierung lässt danach fragen, inwieweit die Schrift überhaupt bleibende Funktion hat. Nach der Auferstehung fallen die Schrift und das »Wort« Jesu zusammen, wie es etwa im Vorausblick in Joh 2,22 formuliert ist: Die Jünger »glaubten der Schrift und dem Wort, das ihnen Jesus geredet hatte«. Gemäß 18,9.32 kann Jesu Wort selbst »erfüllt« werden. Den Hinweis in 20,31 »dies ist geschrieben (ταῦτα δὲ γέγραπται) …« kann man so verstehen, dass der autoritativen Schrift das vorliegende Evangelium »zumindest gleich – wenn nicht gar: übergeordnet« wird.91 Auf der anderen Seite hält Joh 10,35 unbestritten fest, dass »die Schrift nicht aufgelöst werden kann«.92 Das Joh denkt insofern heilsgeschichtlich, als es sich der schon genannten Typologien bedient,93 doch ist zuzugeben, dass die Heilsgeschichte in starkem Maß auf die Christologie hin orientiert und gleichsam in ihr »aufgehoben« ist. 4.6

Hebräerbrief

Der Hebräerbrief spricht nicht von den »Schriften« oder der »Schrift«, sondern vom »Reden« Gottes. So stellt er das Reden Gottes (λαλήσας) »einst … zu den Vätern durch die Propheten« dem Reden (ἐλάλησεν) »in diesen letzten Tagen … zu uns durch den Sohn« gegenüber (Hebr 1,1f.). Der Hebr verwendet für die expliziten Zitate eine griechische Übersetzung, die an zahlreichen Stellen von den Hauptzeugen der Septuaginta abweicht, aber vielfach mit dem bei Philon von Alexandrien belegten Wortlaut übereinstimmt, v.a. bei den Pentateuch-Zitationen; generell stehen die Textformen der Zitate im Hebr einer ägyptischen Texttradition nahe, zeigen aber auch Eingriffe seitens des Autors.94 Der 90 Vgl. Menken, Observations, 98f. 91 W. Kraus, Johannes und das Alte Testament. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, ZNW 88 (1997), 1– 23, hier 18. 92 Die kontextuelle Limitierung der Bemerkung wie auch ihre Abwertung als möglicher redaktioneller Zusatz bei Kraus, ebd., 22 mit Anm. 114, sind nicht überzeugend. 93 Vgl. Menken, Observations, 102–109. – Der Begriff τύπος begegnet im Joh allerdings nur in der Bedeutung »Male« (sc. der Nägel): 20,25. 94 Vgl. G.J. Steyn, A Quest for the Assumed LXX Vorlage of the Explicit Quotations in Hebrews, Göttingen 2011.

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Hebr bietet etwa 36 explizite Zitate;95 etwa 16 davon stammen aus den Psalmen,96 elf aus dem Pentateuch,97 sieben aus Büchern der Schriftpropheten98 und zwei aus weiteren Büchern.99 Daneben gibt es zahlreiche Aufnahmen von Schriftstellen, die zwar zum Teil phrasenweise wörtlich wiedergegeben, aber nicht als Zitat markiert sind.100 Der so bestimmte Schriftgebrauch dient im Hebr zum einen der Bestimmung, »wie von Christus und über die Welt zu reden sei«.101 So werden in Hebr 1,5–14 sieben Zitate als Gottesrede an den Sohn eingesetzt, um die Überlegenheit des von Gott in den Weltkreis eingeführten Sohns über die Engel zu erweisen, und Hebr 2,5–10 zeigt an Ps 8,5ff. das Leiden und Sterben sowie die Erhöhung des Sohns auf. Hebr 7 rückt die Melchisedek-Gestalt in den Mittelpunkt, einerseits durch Paraphrase von Gen 14, andererseits durch Zitat von Ps 110 [109],4; Ziel ist dabei die Herausstellung des besonderen Priesteramts Christi. Des Weiteren dienen Zitate zum Aufweis der den Rezipienten geltenden Verheißung. In Hebr 3,7–4,13 wird diesbezüglich Ps 95 [94],7–11 zitiert und ausgelegt, wobei das Motiv der Ruhe als Ziel der Wüstenwanderung (κατάπαυσις) mit dem des Ruhens Gottes am siebten Tag (κατέπαυσεν; Gen 2,2) verbunden wird, so dass noch eine (Sabbat-)Ruhe (σαββατισμός) vorhanden ist, wobei das »Heute« von Ps 95 [94],7 den Rezipienten gilt (Hebr 4,9). S.E. Docherty hat auf die Berührungspunkte dieser Auslegungsweise mit jüdischer Exegese hingewiesen.102 Ferner 95 So die Zählung bei A. Rascher, Schriftauslegung und Christologie im Hebräerbrief, Berlin 2007, 22f. 96 Ps 2,7 in Hebr 1,5; 5,5; Ps 104 [103],4 in Hebr 1,7; Ps 45 [44],7f. in Hebr 1,8f.; Ps 102 [101],26ff. in Hebr 1,10ff.; Ps 110 [109],1 in Hebr 1,13; Ps 8,5ff. in Hebr 2,6ff.; Ps 22 [21],23 in Hebr 2,12; Ps 95 [94],7–11 in Hebr 3,7–11; Ps 95 [94],7f. in Hebr 3,15; 4,7; Ps 95 [94],11 in Hebr 4,3.5. In Hebr 1,6 könnte Ps 97 [96],7 aufgenommen sein (so Rascher, ebd., 22), doch ist Aufnahme von Dtn 32,43 / Od 2,43 wahrscheinlicher, s. die folgende Anm. 97 Hebr 1,6 / Dtn 32,43 (in einer Od 2,43, aber auch Ps 97 [96],7 nahestehenden Fassung); Hebr 4,4 / Gen 2,2; Hebr 6,14/ Gen 22,17; Hebr 8,5 / Ex 25,40; Hebr 9,20 / Ex 24,8; Hebr 10,30 / Dtn 32,35f.; Hebr 11,18 / Gen 21,12; Hebr 12,20 / Ex 19,12f.; Hebr 12,21 / Dtn 9,19; Hebr 13,5 / Dtn 31,6. 98 Hebr 2,13 / Jes 8,17f.; Hebr 8,8–12 / Jer 31 [38],31–34; Hebr 10,16f. / Jer 31 [38],33f.; Hebr 10,37f. / Jes 26,20 (= Od 5,20) + Hab 2,3f.; Hebr 12,26 / Hag 2,6. 99 Hebr 1,5 / 2Sam [2Reg] 7,14; Hebr 12,5f. / Prov 3,11f. 100 So z.B. Num 12,7 in Hebr 3,2.5, Gen 14,17–20 in Hebr 7,1–3 oder Dtn 29,17 in Hebr 12,15. 101 M. Karrer, Der Weltkreis und Christus, der Hohepriester. Blicke auf die Schriftrezeption des Hebräerbriefs, in: W. Kraus / K.-W. Niebuhr (Hg., unter Mitarbeit von L. Doering), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie: Mit einem Anhang zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, Tübingen 2003, 151–179, hier 178. 102 S.E. Docherty, The Use of the Old Testament in Hebrews: A Test-Case in Early Jewish Bible Interpretation, Tübingen 2009, 181–198, unter Hinweis auf die Arbeiten im Gefolge A. Goldbergs an rabbinischen Texten, vor allem durch A. Samely.

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benutzt der Hebr Schriftrezeption in seiner Behauptung der Ablösung des alten Bundes durch einen »besseren«. Hebr 8,5f. zitiert Ex 25,40, den Hinweis auf den Mose auf dem Berg gezeigten τύπος des Heiligtums, welches auf den dem Sohn übertragenen »höheren Dienst« bezogen wird, dem ein »besserer Bund« korrespondiert. Dies wird in Hebr 8,8–13 untermauert mit einem Zitat samt kurzer Auslegung von Jer 31 [38],31–34. In Hebr 10,15–18 wird Jer 31 [38],33f. nochmals zitiert und hier auf die mit dem neuen Bund verknüpfte Vergebung der Sünden hin ausgelegt. Der Hebr ist der einzige Text im Neuen Testament, der über das Stichwort »neuer Bund« hinaus Jer 31,31–34 zitiert. Schließlich findet sich im Hebr Schriftgebrauch zur Vorstellung von Paradigmen. So wird in Hebr 6,13f. Abraham (Gen 22,17) als Paradigma der Ausdauer angeführt, und in Hebr 11 werden in Form von Paraphrasen Gestalten der narrativen Abschnitte des Pentateuch, der vorderen Propheten und anderer Schriften als Paradigmen für den Glauben vorgestellt. 4.7

Erster Petrusbrief und Judasbrief

Aus der Gruppe der Katholischen Briefe sollen hier als letztes Beispiel die signifikanten Befunde zur Schriftrezeption im ersten Petrusbrief und im Judasbrief vorgestellt werden. Der erste Petrusbrief ist ein mit Bezügen auf die jüdischen Schriften außerordentlich gesättigter Text. Es lassen sich in ihm bis zu 15 einzelne – teilweise miteinander verknüpfte – Zitate und (unmarkierte) zitatähnliche Anspielungen ausmachen.103 In den meisten Fällen folgt der Autor der Textform, wie sie durch die wichtigsten Textzeugen der Septuaginta belegt ist, doch gibt es Ausnahmen, wie etwa 1Petr 4,8 – bei dem allerdings auch die Meinung vertreten wird, es handele sich um ein auf dieser Stelle basierendes Sprichwort (vgl. auch Jak 5,20)104 – oder 1Petr 2,6.8, wo eine an den hebräischen Text angeglichene Rezension von Jes 28,16; 8,14 (zum »Eckstein«) im 103 Im Folgenden wird in Klammern auf Griechisch die Markierung eines Zitates angegeben: 1Petr 1,16 (διότι γέγραπται) / Lev 19,2 (vgl. auch Lev 11,44f.); 1Petr 1,24f. (διότι) / Jes 40,6ff.; 1Petr 2,3 / Ps 34 [33],9; 1Petr 2,6 (διότι περιέχει ἐν γραφῇ) / Jes 28,16; 1Petr 2,7 / Ps 118 [117],22; 1Petr 2,8 / Jes 8,14; 1Petr 2,9 / Ex 19,6 (vgl. auch Ex 23,22 LXX) + Jes 43,20f.; 1Petr 2,10 / Hos (1,6.9;) 2,25; 1Petr 2,22 / Jes 53,9; 1Petr 2,24f. / Jes 53,4ff.12b; 1Petr 3,10ff. (γάρ) / Ps 34 [33],13–17; 1Petr 3,14f. / Jes 8,12f.; 1Petr 4,8 (ὅτι) / Prov 10,12; 1Petr 4,18 / Prov 11,31; 1Petr 5,5 (ὅτι) / Prov 3,34. Diskussion der Stellen (mit Ausnahme von 1Petr 2,9) bei K.H. Jobes, The Septuagint Textual Tradition in 1 Peter, in: W. Kraus / R.G. Wooden (Hg.), Septuagint Research: Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures, Atlanta 2006, 311–333. Die vier Zitate in 1Petr 1,16.24f.; 2,6.22 sind besprochen in J. Ådna, Alttestamentliche Zitate im 1. Petrusbrief, in: Karrer/Kreuzer/Sigismund (Hg.), Von der Septuaginta zum Neuen Testament (s. oben Anm. 15), 229–247. 104 So z.B. Jobes, Septuagint, 316.

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Hintergrund steht. Der Befund an der letzten Stelle gewinnt dadurch an Komplexität, dass beide Verse auch in Röm 9,33 (vgl. 10,11b) zitiert sind. Abhängigkeit des 1Petr von Röm 9,33 wird in der Regel mit Hinweis darauf abgelehnt, dass der 1Petr vollständiger aus Jes 28,16 zitiert und eine andere Konfiguration der Jesaja-Zitate mit Zwischenschaltung von Ps 118 [117],22 bietet. Während einige Exegeten den Gebrauch eines »Stein«-Testimoniums annehmen, gehen andere davon aus, dass Paulus und der Verfasser des 1Petr eine gleichlautend revidierte JesajaRolle verwendeten, während wieder andere der Ansicht sind, dass der Verfasser des 1Petr die seit Paulus im christlichen Diskurs verbundenen Zitate von Jes 28,16; 8,14 durch Nachschlagen in einer Jesaja-Rolle vervollständigt hat.105 In der Fortsetzung im 1Petr schließen sich zitatartige Anspielungen auf Ex 19,6 (vgl. Ex 23,22 LXX) und Jes 40,42f. an, mit denen Würdeprädikate Israels auf die Adressaten übertragen werden (1Petr 2,9). Die Konstitution als Gottesvolk wird mit weiteren zitatähnlichen Anspielungen auf Hos (1,6.9;) 2,25 bekräftigt.106 Schwerpunkte der Zitate liegen somit im Pentateuch, insbesondere bei Stellen, die die Heiligkeit des Volks betreffen (Ex 19,6; Lev 19,2), bei den Propheten, insbesondere Jesaja, sowie unter den sonstigen Schriften bei den Psalmen (zwei Zitate aus Ps 34 [33]) und den dem Autor offenbar wichtigen Proverbien (drei Zitate). Der explizite Schriftgebrauch geht über christologische Zwecke hinaus und schließt insbesondere Ekklesiologie und Paränese ein. Der Brief steckt ferner voller Anklänge an Texte und Konzepte der jüdischen Schriften. So greift der Briefgruß in 1Petr 1,2 den Gruß enzyklischer Briefe in Dan 4,1 (Theodotion); 6,26 auf, der ähnlich auch im Judasbrief und weiteren jüdischen und christlichen (Rund-)Briefen begegnet. Zweimal werden Episoden aus dem Buch Genesis aufgerufen: in 1Petr 3,6 der Sachverhalt, dass Sara Abraham »Herr« genannt hat (Gen 18,2) und in 1Petr 3,20 der Hinweis auf die acht geretteten Personen in den Tagen Noahs (Gen 7,13ff.). Konzeptionelle Anklänge liegen etwa in der Besprengung mit Bundesblut (1Petr 1,2 / Ex 34,7f.; vgl. 29,21) oder im Anfang des Gerichts beim Haus Gottes (1Petr 4,17 / Ez 9,6; Jer 25,29). Beispiele »biblischer« Phraseologie (»Reminiszenzen«)107 hingegen finden sich eingeflochten etwa in der Wendung »am Tag der Heimsuchung« (1Petr 2,12 / Jes 10,3) oder in der Beschreibung des 105 Die erste Lösung nach Albl, Scripture, 265–285, die zweite nach Wagner, Heralds, 133ff., die dritte nach D.-A. Koch, The Quotations of Isaiah 8,14 and 28,16 in Roman 9,33 and 1Peter 2,6.8 as Test Case for Old Testament Quotations in the New Testament, ZNW 101 (2010), 223–240. 106 Vgl. L. Doering, “You are a Chosen Stock”: The Use of Israel Epithets for the Addressees in First Peter, in: Y. Furstenberg (Hg.), Jewish and Christian Communal Identities in the Roman World, Leiden 2016, 243–276. 107 So in der Terminologie von F. Wilk im oben S. 111, Anm. 28, belegten Zitat.

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Umhergehens des Teufels »wie ein brüllender Löwe« (1Petr 5,8 / Ps 22, 14). Möglicherweise sind hier auch Aufnahmen der Phraseologie jüdischer Texte, die nicht in den Kanon der Hebräischen Bibel eingegangen sind, zu verzeichnen, etwa in 1Petr 1,3 (»nach seinem großen Erbarmen«), wo Sir 16,12 aufgenommen sein könnte, oder in 1Petr 2,25 (»zum … Aufseher [ἐπίσκοπον] eurer Seelen«), was der Wendung »ein wahrer Aufseher seines Herzens« (Sap 1,6) nachempfunden sein könnte. Dies führt uns weiter zu konzeptionellen Bezügen zu Teilen der Henoch-Literatur, vor allem aus dem Wächterbuch und aus 1Hen 108. Am deutlichsten ist die konzeptionelle Aufnahme des Ortes des Gefängnisses der Geister, die einst ungehorsam geworden waren und denen durch den auferweckten Christus im Geist gepredigt wurde (1Petr 3,19f.); hier steht 1Hen 10,11–15 im Hintergrund. G. Nickelsburg hält es für möglich, dass 1Petr 3,3 mit dem Anlegen von Gold auf 1Hen 8,1 anspielt, wonach Goldschmuck zu den verbotenen Offenbarungen Asaels gehört. Nach Nickelsburg weist 1Petr auch zahlreiche motivische und terminologische Bezüge zu 1Hen 108 auf; es sei daher zu erwägen, dass »something like the text of 1 Enoch 108 was part of ›Peter’s‹ theological repertoire.«108 Das bringt uns noch einmal zur Frage des Verhältnisses von »Schriftgebrauch« und jüdischer Tradition, die bereits einen Verstehensrahmen für die Schrift vorzeichnete. Es ist in dieser Hinsicht von Bedeutung, dass auch das Jubiläenbuch Ex 19,6 und Lev 19,2 aufgreift, um den Gottesvolkgedanken durch die Heiligkeits-Erfordernis »anzuschärfen«. Und es dürfte kein Zufall sein, dass Texte aus Qumran das Ecksteinwort Jes 28,16 sowie weitere »Stein«- bzw. »Fundament«-Texte in Verbindung mit der Vorstellung der Gemeinschaft als Tempel verwenden, wie es auch in 1Petr 2,4–8 zu sehen ist. Es ist wahrscheinlich, dass frühchristliche Texte – direkt oder indirekt – an derartigen Diskursen »angewandter« und »verstandener« Schrift partizipieren, so dass »Schriftrezeption« immer auch in diesem breiteren Kontext zu betrachten ist. Der Judasbrief nimmt paraphrasierend oder stichwortartig Bezug auf verschiedene autoritative Schriften, unter anderem auf die Bücher Genesis (Bestrafung von Sodom und Gomorrha: Jud 7 / Gen 19,4– 25; Kain: Jud 11 / Gen 4,3–8), Exodus (Rettung aus Ägypten: Jud 5 / Ex 12–15) und Numeri (Vernichtung der Wüstengeneration: Jud 5 / Num 14,29–37; Bileam: Jud 11 / Num 22ff.; Korach: Jud 11 / Num 16). Für das Rechten des Erzengels Michael mit dem Teufel (dazu gleich mehr) greift der Verfasser auf ein Wort zurück, das auch in der analogen Szene Sach 3,2 erscheint. Bemerkenswert ist jedoch die Aufnahme von verschiedenen »pseudepigraphischen« Texten im Jud, vor allem des Wächterbuchs (1Hen 6–36) inklusive seiner Einleitung (1Hen 108 G.W.E. Nickelsburg, 1 Enoch 1: A Commentary on the Book of Enoch, Chapters 1–36; 81–108, Minneapolis 2001, 86.560 (Zitat).

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1–5).109 Hier ist insbesondere das Zitat von 1Hen 1,9 in Jud 14f. zu nennen, das mit προεφήτευσεν … Ἑνὼχ λέγων explizit eingeleitet wird (als einziges Schriftzitat im ganzen Brief). Es handelt sich um einen Teil der Theophanie Gottes als des »divine warrior«,110 der mit seinen Myriaden von Engeln zum Gericht kommt; der Jud zitiert dies unter Zuspitzung auf den Aspekt des eschatologischen Gerichts an den Gottlosen. Die Textform des Zitats weicht in einigen Punkten vom Codex Panopolitanus aus Achmim (5./6. Jh.) ab; sie belegt wohl die Existenz einer frühen griechischen Übersetzung des Wächterbuchs,111 die seine Rezeption in christlichen Kreisen befördert haben dürfte. Über Jud 14f. hinaus ist vor allem für den Fall und die Bestrafung der (Wächter-)Engel in Jud 6 auf (wahrscheinliche, s. unten) Rezeption des Wächterbuchs (vgl. 1Hen 6–7; 10,4–15; 12,4; 13,1; 18,14.16; 21,3.6.10) zu plädieren. Auch die Benennung der Gegner als »wandernde Sterne« (Jud 13) kann mit der Darstellung der gefallenen Wächterengel als dislozierte »Sterne« (vgl. 1Hen 18,14; 21,6) in Verbindung gebracht werden. Ob weitere Teile der Henoch-Literatur alludiert werden, ist unsicher: Die Einführung Henochs als des »Siebten nach Adam« in Jud 14 könnte sich Texten wie der Wochenapokalypse (1Hen 93,3) oder den Gleichnisreden Henochs (1Hen 37,1; 60,8) verdanken, könnte aber ebenso auch aus Gen 5 erschlossen sein; immerhin teilt der Jud mit den genan ten Henochbüchern ein Bewusstsein für die genealogische Position Henochs. Themen des Wächterbuchs sind auch in der späteren HenochLiteratur aufgenommen, so dass nicht immer klar erkennbar ist, ob eine Tradition direkt dem Wächterbuch entnommen ist.112 Des Weiteren ist wahrscheinlich in Jud 9 das verlorengegangene Schlussstück der Assumptio Mosis (nach anderen: des Testaments des Mose) aufgerufen, in dem es nach Ausweis patristischer Quellen um den Streit zwischen Michael und dem Teufel um den Leichnam des Mose ging.113 Im Ganzen 109 Dass dies nicht zufällig ist, sondern sich einer auf die in diesem Brief angegriffenen »Gegner« zielenden Strategie verdankt, wird gezeigt von J.D. Charles, Jude’s Use of Pseudepigraphical Source Materials as Part of a Literary Strategy, NTS 37 (1991), 130– 145. Ich halte es aber für sinnvoller, von der Rezeption von 1Hen im Jud zu sprechen, als den Brief im Ganzen als einen (christianisierten) Teil der Henochliteratur zu verstehen; so aber R. Heiligenthal, Zwischen Henoch und Paulus. Studien zum theologiegeschichtlichen Ort des Judasbriefes, Tübingen 1992, bes. 62–94. 110 Nickelsburg, 1 Enoch 1, 143. 111 J. Frey, Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus, Leipzig 2015, 105ff., hat jüngst die Argumente für die Benutzung einer aramäischen Vorlage durch den Jud geprüft und für nicht stichhaltig befunden. 112 So ist das Motiv der Bindung der Wächterengel etwa auch in 1Hen 88,1–3; 90,23 (Buch der Traumgesichte) und 1Hen 67,4; 69,28 (Buch der Gleichnisreden) genannt, das der fallenden Sterne etwa auch in 1Hen 86,1; 90,24 (Buch der Traumgesichte). 113 Vgl. zuletzt Frey, Jud/2Petr, 84ff. Nach Klemens v. Alexandrien, Adumbrationes in Ep. Judae Catholica (GCS 17, 207); Origenes, De princ. 3,2,1 (GCS 22, 244) nimmt

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sehen wir somit, dass der Judasbrief später nicht kanonisch gewordene Texte als autoritativ aufnimmt und im Fall von 1Hen 1,9 sogar mit einer Einleitungsformel zitiert.114 5.

Schlussbemerkung

Die jüngere Forschung betrachtet den Schriftgebrauch im Neuen Testament differenziert im Kontext (sonstiger) jüdischer Schriftauslegung: Die Autoren neutestamentlicher Schriften sind in ihrer Mehrzahl Juden und bleiben in bestimmter Weise von jüdischer Schriftauslegung geprägt. Vergleichbare Verständnisse von Schrift und Gegenwart sowie Ähnlichkeiten in der Auslegungsmethodik werden herausgearbeitet, doch hält man sich zunehmend mit plakativen Gattungszuschreibungen wie »Pescher« oder »Midrasch« zurück. Die christologische Schriftauslegung wird dabei weniger als früher im Gegensatz zum »Judentum« gesehen, sondern primär als legitimes und vorrangiges Anliegen christusgläubiger Juden; Schriftauslegung kommt selbstverständlich auch bei der Bearbeitung des Problems, der Ablehnung der Christusbotschaft durch die Mehrheit Israels zum Einsatz. Allerdings lässt sich Schriftauslegung im Neuen Testament nicht auf Christologie reduzieren.115 Manche Texte bearbeiten bestimmte exegetische Probleme der aufgenommenen Texte, so etwa Hebr 3–4 die Frage der »Ruhe«. Andere ziehen Schriftauslegung für eine Reihe weiterer Themen heran, unter denen die Ekklesiologie und damit die (im Einzelnen unterschiedlich beantwortete) Bezogenheit der Gemeinde auf Israel herausragen. Es bleibt zwar richtig, dass im Jud auf die AssMos Bezug. Hingegen vertritt R.J. Bauckham, Jude, 2 Peter, Waco 1983, 67–76, die Ansicht, der aufgenommene Text sei das »Testament des Mose« gewesen; dazu kritisch J. Muddiman, The Assumption of Moses and the Epistle of Jude, in: A. Graupner / M. Wolter (Hg.), Moses in Biblical and Extra-Biblical Traditions, Berlin 2007, 169–180. 114 Dass der 2Petr, der den Jud in beträchtlichem Maß ausschreibt, diesem in der Aufnahme von 1Hen (weitgehend) sowie AssMos nicht folgt, muss nicht an einem engeren Verständnis »kanonischer« Schriften liegen. Vielmehr lässt sich dies damit erklären, »dass der Autor diese Traditionen – selbst wenn er sie selbst möglicherweise kannte und die Bezüge des Jud verstand – bei seinen intendierten Lesern nicht voraussetzen konnte oder sie (vor allem Jud 9) für diese als verwirrend ansah« (Frey, Jud/2Petr, 153). Immerhin nimmt 2Petr 2,4 die Tradition der gefallenen Engel auf. »Henoch« und Teile der Henoch-Literatur werden als »Schrift« behandelt in Barn 4,3; 16,5; vgl. ferner Klemens v. Alexandrien, Adumbrationes in Ep. Judae Catholica (GCS 17, 208) und Tertullian, De cultu feminarum 1,3 (CChr [Lat.] 1, 346f.). Tertullian weiß an genannter Stelle zu berichten, dass »einige« 1Hen wegen fehlender Aufnahme »in den jüdischen (Bücher-) Schrank« nicht als Schrift anerkannten. Vorbehalte gegen 1Hen finden sich sodann bei Origenes, Contra Celsum 5,54 (GCS 3, 58) sowie in seinem Johanneskommentar 6,25. Sie dürften sich jedoch »erst viel später weiter verbreitet haben« (Frey, Jud/2Petr, 153). 115 Vgl. S.E. Docherty, New Testament Scriptural Interpretation in its Early Jewish Context, NT 57 (2015), 1–19.

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Neuen Testament keine Kommentierung ganzer »biblischer« Bücher vorliegt, wie sie etwa den kontinuierlichen Pescharim in Qumran entspricht. Aber die Behauptung, eine grundsätzliche Differenz bestehe darin, dass in den Qumrantexten, anders als im Neuen Testament, die hermeneutische Bewegung immer vom Text zur Deutung gehe,116 ist simplifizierend. In den »thematischen Kommentaren« (wie 4Q174, 4Q177 – 4QFlor, 4QCatena A, nach A. Steudel = 4QMidrEschata.b) werden die ausgelegten Texte gerade unter sachlichen Gesichtspunkten gruppiert.117 Zwar kann man im Neuen Testament einen deutlichen Schwerpunkt bei solchen jüdischen autoritativen Schriften sehen, die später in den Kanon der Hebräischen Bibel aufgenommen wurden. Doch sollte man weder die gelegentliche Bezugnahme auf »deuterokanonische« Texte wie Sir oder Sap noch die Rezeption »pseudepigraphischer« Texte wie von Abschnitten aus 1Hen übersehen, die sich freilich nur in einigen Texten (1Petr und vor allem Jud) finden. Dort können solche Texte gelegentlich durchaus mit Zitationsformeln eingeleitet werden, wie das Zitat von 1Hen 1,9 in Jud 14f. zeigt. Der Unterschied in der (späteren) kanonischen Dignität der Texte mag für manche Autoren greifen; als generelles Kriterium für unterschiedliche Verfahrensweisen mit aufgenommenen Texten im Neuen Testament taugt er nicht.118 Abstract This article provides a survey of the reception of Jewish scriptures in the New Testament. It starts with the observations that authoritative Jewish texts circulated in different collections and in different textual forms in the first and early second century, and that these scriptures were available to New Testament authors in different formats: from memory, as complete scrolls (either owned or consulted) or as excerpts. The article then discusses in some detail the reception of Jewish scriptures in selected New Testament texts: in the Gospels and Acts, in Paul’s letters, in Hebrews, as well as in First Peter and Jude. It finally places the New Testament in the context of ancient Jewish reception of authoritative scriptures and notes that while New Testament authors predominantly quote those authoritative scriptures that found their way into the canon of the Hebrew Bible one should not overlook occasional references to the so-called ›Apocrypha‹ (or ›deuterocanonical‹ texts) and ›Pseudepigrapha‹. 116 So Luz, Matthäus I5, 192. 117 Die Handschrift 4Q175 (4QTest) ist ein bezeichnendes Beispiel für diese Auswahl, insofern sie wohl Belegtexte für drei positive endzeitliche Gestalten (Prophet, König und Priester; vgl. 1QS 9,11) und eine negative Figur zusammenstellt. 118 Dies kritisch zu Hahn, Theologie II, 52: »Soweit andere [sc. nicht anerkannte, L.D.] Texte herangezogen werden, fehlt die ausdrückliche Einführung als Schriftzitat. Die Stellen werden also nicht in gleicher Weise als autoritative Texte angesehen.« Ebd., 53 führt Hahn dafür Jud 14 an, ohne die Zitationsformel zu erwähnen.

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Lutz Doering, geb. 1966, Dr. theol., ist Professor für Neues Testament und antikes Judentum an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum.

Judentum

Günter Stemberger

Rabbinische Schriftauslegung und mündliche Tradition

Bis vor wenigen Jahrzehnten sprach man in der katholischen Theologie von Heiliger Schrift und Tradition als »zwei Quellen der Offenbarung«1, wogegen man gewöhnlich die protestantische Lehre des »sola scriptura« gegenüberstellt. Man vergleicht die rabbinische Vorstellung der zweifachen Tora, der schriftlichen und der mündlichen Tora, gerne mit der traditionellen katholischen Position, wogegen die karäische Bewegung der protestantischen Auffassung entspricht oder ihr zumindest sehr nahe kommt. So sehr das als Grobvergleich passt, so ist doch die Wirklichkeit viel differenzierter, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen. 1.

Offenbarung am Sinai

Nach rabbinischer Vorstellung umfasst die Offenbarung am Sinai mehr als den schriftlichen Text der Tora. Die mündliche Tora gehört wesentlich zur umfassenden Einheit von Tora und ist ebenfalls von Gott gegeben und nicht, wie man vielleicht glauben könnte, deren rein menschlicher Aspekt2. Dies besagt programmatisch der bekannte Text von mAv 1,1: »Mose empfing Tora (qibbel tora) vom Sinai«, und nicht »die Tora« (et ha-tora). Die unbestimmte Formulierung ist bewusst gewählt, um den allumfassenden Umfang der Offenbarung am Sinai zu betonen. Damit ist noch nicht die »mündliche Tora« als eine gleichsam selbständige Einheit neben der »schriftlichen Tora« benannt. Der Begriff und wohl auch die Vorstellung dahinter wird erst spät populär. Der einzige frühe Beleg findet sich in Sifra Beḥuqqotai Pereq 8,12 (Weiss 112c) als Auslegung zu Lev 26,46: 1 So auch noch im ersten Entwurf des Offenbarungsdokuments des Zweiten Vatikanums, während die offizielle Endfassung der Konstitution Dei Verbum II,10 die Einheit von Tradition und Schrift betont: »Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes« (Übersetzung auf der Homepage des Vatikan). 2 Grundlegend dazu P. Schäfer, Das Dogma von der mündlichen Torah, in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978, 153– 197.

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Günter Stemberger

»Das sind die Satzungen, Vorschriften und Gesetze (we-ha-torot)«. »Die Satzungen«, das sind die Auslegungen (midrashot); »und die Vorschriften«, das sind die Rechtssprüche (dinim). »Und die Torot«: Das lehrt, dass Israel zwei Torot gegeben wurden, eine schriftlich und eine mündlich. Es sagte R. Aqiva: Wurden denn Israel nur zwei Torot gegeben? Es wurde ihnen doch viele Torot gegeben! Denn es heißt: »Das ist die Tora des Brandopfers« (Lev 6,2); »das ist die Tora des Speiseopfers« (6,7); »das ist die Tora des Schuldopfers« (7,1); »das ist die Tora des Heilsopfers« (7,11). »Das ist die Tora, wenn ein Mensch in einem Zelt stirbt« (Num 19,14). »Die der Herr zwischen sich und den Israeliten gegeben hat«: [Mose verdiente es, zum Mittler (shaliaḥ) zwischen Israel und seinem Vater im Himmel zu werden.] »Auf dem Sinai durch die Hand Moses« (Lev 26,46): Das lehrt, dass die Tora, die Halakhot, die Feinheiten (diqduqin) und die Erklärungen (perushin) durch Mose vom Sinai gegeben wurden.

Die Übersetzung folgt MS Vatikan 31 (die ältere Handschrift Vatikan 66 bricht davor ab). Die in eckige Klammern gesetzte Aussage über Mose als Mittler fehlt hier und passt auch nicht zu frühen rabbinischen Vorstellungen über Mose3. Wichtig ist hier, dass die Aussage von den zwei Torot noch nicht Gemeingut ist, sonst würde die Aqiva zugeschriebene Aussage nicht dagegen ankämpfen4. Zu beachten ist aber auch, dass das Verb des abschließenden Satzes, nitna, »gegeben wurde«, im Singular steht, dass also die Tora einschließlich der Halakhot und ihrer Erklärungen als Einheit gesehen wird und man die einzelnen Elemente nicht voneinander trennen kann. Die gesamte Tora, nicht nur der in den fünf Büchern Mose enthaltene Text, stammt vom Sinai. Ähnlich heißt es in Sifre Dtn 343,4 zu Dtn 33,2, nachdem zuvor die Völker die Tora wegen ihres Inhalts (jeweils ein Satz aus dem Dekalog) abgelehnt hatten, von den Israeliten in der Wüste: »Sie nahmen die Tora mit ihrer Erklärung und ihren Details an«. Dieser Auffassung entsprechend heißt es dann im palästinischen Talmud hinsichtlich von traditionellen Normen, deren Herkunft man nicht kennt: Es sagte R. Zeira im Namen des R. Jochanan: Wenn dir eine Halakha in die Hände kommt und du ihre Eigenart nicht kennst, schiebe sie nicht zugunsten einer anderen Sache beiseite; denn wie viele Halakhot wurden Mose am Sinai gesagt, und sie alle sind in die Mischna versenkt … Es sagte R. Zeira im Namen des R. Eleazar: »Schreibe ich ihm auch den Großteil meiner Tora …« (Hos 8,12). Aber wurde denn ein Großteil der Tora auf3 Diese Aussage findet man in den späteren Handschriften London und New York (vormals Breslau) sowie im Druck von Venedig und von daher dann auch in der gewöhnlich zitierten Ausgabe Weiss. Siehe dazu G. Stemberger, Judaica Minora II, Tübingen 2010, 584–586. 4 Siehe dazu M.S. Jaffee, Torah in the Mouth. Writing and Oral Tradition in Palestinian Judaism, 200 BCE – 400 CE, Oxford 2001, 90–92.

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geschrieben? Vielmehr sind die Worte, die aus der Schrift ausgelegt werden, zahlreicher als die Worte, die mündlich ausgelegt werden. Ist das so? Vielmehr ist es so: Beliebter sind die Worte, die mündlich ausgelegt werden, als jene, die aus der Schrift ausgelegt werden (yPea 2, 4 [6], 17a).

Nicht nur wurden Mose am Sinai über den Text der schriftlichen Tora hinaus auch eine Fülle an Halakhot gesagt, die in der Mischna überliefert wurden, sondern diese mündlichen Überlieferungen sind auch umfangreicher als die Bücher der Tora und offenbar deshalb auch »beliebter«, d.h. wertvoller. Wenig später heißt es im selben Text in einer Auslegung kleiner sprachlicher Details von Dtn 9,10: »Auf den Tafeln standen alle die Worte, die der Herr … mitten aus dem Feuer zu euch gesprochen hatte«: R. Jehoschua ben Levi sagte: »Auf ihnen« [würde genügen, doch es heißt] »und auf ihnen« (we- ˛alehem), »alle«, [doch es heißt] »wie alle« (ke-khol), »Worte«, [doch es heißt] »die Worte« (ha-devarim). [Das bedeutet:] Schrift, Mischna, Talmud und Aggada, sogar das, was ein erfahrener Schüler einst vor seinem Meister vortragen wird, das wurde schon Mose am Sinai gesagt. Was ist der Beleg? »Da gibt es etwas, wovon einer sagt: Siehe, das ist neu«. Da erwidert ihm sein Kollege [bzw. die Fortsetzung des Verses]: »Auch das gab es schon seit Ewigkeit« (Koh 1,10) (Parallele WaR 22,1).

Ähnlich wie hier und zuvor schon in Sifra, doch wieder aus einem anderen Vers abgeleitet, betont später der babylonische Talmud den Umfang der Tora vom Sinai: Es sagte R. Levi bar Laḥma im Namen des Resch Laqisch: Was bedeutet es, wenn geschrieben steht: »Ich will dir die Steintafeln übergeben und die Tora und das Gebot, die ich geschrieben habe, damit du sie lehrst« (Ex 24,12). »Die Steintafeln«, das ist die Tora. »Und die Tora«, das ist die Mischna. »Und das Gebot«, das sind die Gebote. »Die ich geschrieben habe (katavti)«, das sind die Propheten und die Schriften (ha-ketuvim). »Damit du sie lehrst«, das ist die Lehre (talmud). Das lehrt, dass sie alle Mose am Sinai gegeben wurden (bBer 5a, MS Oxford 366)5. 5 Fast wörtlich gleich MSS München und Florenz; MS Paris erklärt die Tafeln als »die Schrift« (miqra). Die Druckausgabe (Wilna) liest anders: »›Die Tafeln‹, das sind die zehn Gebote; ›Tora‹, das ist die Schrift (miqra); ›und das Gebot‹, das ist die Mischna; ›die ich geschrieben habe‹, das sind die Propheten und die Schriften; ›damit du sie lehrst‹, das ist die Gemara. Das lehrt, dass sie alle Mose vom Sinai gegeben wurden«. Zu den Varianten und ihren möglichen historischen Kontexten siehe A. Shweka, The Tablets of Stone, the Law, and the Commandment (hebräisch), Tarbiz 81 (2013) 343–366; ders. (A. Choueka), Was the Torah Given ›One Scroll at a Time‹ or ›Sealed‹? (hebräisch), Sidra 30 (2015) zur rabbinischen Diskussion, ob die Tora Mose als ganze am Sinai oder dort nur versiegelt gegeben und erst in den nächsten vierzig Jahren erklärt wurde.

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Die Rabbinen empfinden jeweils den Wortlaut der Schriftverse als Pleonasmus. Da es dergleichen im vollkommenen Text der Tora nicht geben kann, suchen sie die zusätzliche Information zu erschließen, die in den vermeintlich überschüssigen Wörtern enthalten ist. Die konkrete Ausdeutung entspricht natürlich schon vorgefasster Meinung, dass eben nicht nur die fünf Bücher Moses, sondern die Gesamtheit aller biblischen Texte, die halakhische Lehre der Mischna und alle weitere Lehre (talmud) Teil der Mose am Sinai gegebenen Weisung war. Schon die Gesetzestafeln enthalten nicht nur die zehn Gebote, wie das ihrer späteren bildlichen Darstellung und auch dem Drucktext des Talmud entspricht, sondern den gesamten Pentateuch. Das Stichwort »Tora« ist somit frei für die Deutung auf die Mischna, die insgesamt Tora ist, ein Begriff, der sonst den Pentateuch bzw. den gesamten Tanach bezeichnet. Damit ist natürlich auch jeder Vorwurf hinfällig, wonach die Rabbinen den Text der Tora um ihre eigenen Lehren erweitert und dafür Offenbarungsautorität beansprucht hätten. Somit ist alles schon seit dem Sinai da. Das betont auch die oft in rabbinischen Texten zu findende Wendung »Halakha für Mose vom Sinai« (halakha le-Moshe mi-Sinai)6. Damit bezeichnet man alte halakhische Traditionen, für die man keine biblische Begründung anführen kann. So heißt es z.B. in mPea 2,6: Es sagte Nahum der Schreiber: Ich habe von R. Meascha überliefert, der es von seinem Vater empfangen hatte; dieser hatte es von den Paaren, die es von den Propheten empfangen hatten: Es ist Halakha für Mose vom Sinai – wer sein Feld mit zwei Arten Weizen besät und ihn auf einer Tenne drischt, gibt eine Ackerecke; bei zwei Tennen gibt er zwei Ackerecken.

In dieser Stelle beruft man sich zumindest auf eine Traditionskette, die in biblische Zeit zurückführt. Gewöhnlich wird jedoch einfach apodiktisch festgestellt, dass etwas gleichsam Offenbarungsautorität genießt. Dass es dabei gewöhnlich um weniger zentrale halakhische Normen geht, liegt in der Natur der Sache – für wirklich zentrale Normen kann man sich ja fast immer auf biblische Texte berufen; doch gehört in diesen Bereich auch die biblisch fast nicht belegte Ausgestaltung des Eherechts einschließlich der Pflicht, eine Eheurkunde (Ketubba) auszustellen, in der eine Frau dem Mann angetraut wird »gemäß dem Gesetz (ke-dat) Moses und der Juden« (yKet 4, 8,29a; siehe schon Tob 7,12: 6 Dazu siehe G. Stemberger, Mose in der rabbinischen Tradition, Freiburg 2016, 107– 110. Ausführlich: C. Hayes, Halakhah le-Moshe mi-Sinai in Rabbinic Sources: A Methodological Case Study, in: S.J.D. Cohen (ed.), The Synoptic Problem in Rabbinic Literature, Providence, RI 2000, 61–117; D.W. Halivni, Revelation Restored. Divine Writ and Critical Responses, Boulder, Col. 1997, 54–75.

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»Nimm sie als deine Frau gemäß dem Gesetz und der Anordnung, die im Buch Moses geschrieben ist«7). Hier und in mehreren anderen Texten vertreten die Rabbinen die Vorstellung, dass in der Offenbarung vom Sinai schon alle spätere mündliche Tradition eingeschlossen war. Doch gibt es auch die These, dass erst die Sünde mit dem Goldenen Kalb es notwendig machte, dass über die Tora hinaus weitere biblische Schriften entstanden (bNed 22b): R. Adda bar Chanina sagte: Hätte Israel nicht gesündigt, wären ihm nur die fünf Fünftel der Tora und das Buch Josua gegeben worden, das die Aufteilung des Landes Israel enthält. Was ist der Beleg? »Denn viel Weisheit geht aus viel Ärger hervor« (Koh 1,18).

Es geht aus der Aussage nicht hervor, ob die zusätzlichen Schriften sachlich Neues bringen oder, wie es die rabbinische Auffassung der Propheten will, darin nur verdeutlicht und ausgelegt wird, was eigentlich schon in der Tora enthalten ist. Doch bewirkt die Sünde vom Goldenen Kalb noch mehr: Die ersten Tafeln, die vom Finger Gottes beschrieben waren (Ex 31,18), werden zerbrochen; die zweiten muss Mose selbst schreiben (Ex 34,27f), sie haben also nicht mehr dieselbe Qualität wie die ersten. Anders als die ersten Tafeln sind sie nicht mehr das Werk Gottes (tBQ 7,4). Auch enthalten sie mehr als die ersten Tafeln, wie ShemR 47,7 erklärt, wonach Gott zu Mose nach dessen vierzigtägigen Fasten sagt: Auf den ersten Tafeln waren nur die zehn Gebote. Jetzt aber, da du dich kasteit hast, gebe ich dir Halakhot, Midrashot und Haggadot; denn es heißt: »Schreibe dir diese Worte« (Ex 34,27). Warum sagte der Heilige, gepriesen sei er: »Schreibe dir«? Es steht doch geschrieben: »Und die Schrift war die Schrift Gottes, eingegraben auf den Tafeln« (32,16), und es ist geschrieben: »Und er schrieb auf die Tafeln wie bei der ersten Inschrift« (Dtn 10,4). Vielmehr sagte der Heilige, gepriesen sei er, so zu ihm: »Schreibe dir« Tora, Propheten und Schriften, damit sie schriftlich seien; doch Halakhot, Midrasch, Haggadot und Talmud sollen mündlich sein. Als Mose das erfuhr, begann er zu sagen: »Dass ich gedemütigt wurde, war für mich gut (denn so lernte ich deine Gesetze); lieb ist mir die Tora deines Mundes« (Ps 119,71f).

Anders als in einer Reihe von Texten, für die schon Gottes Offenbarung an das Volk (Ex 20) allumfassend war, ist für diesen Midrasch erst der Inhalt der zweiten Tafeln oder auch allgemeiner der erneuten Offenbarung nach Israels Sündenfall viel umfassender als zuvor; zu den schrift7 J.A. Fitzmyer, Tobit (Commentaries on Early Jewish Literature), Berlin / New York 2003, 234, führt zur Stelle einige Bibelstellen an, vor allem Lev 18, die jedoch alle kaum geeignet sind, jüdisches Eherecht inhaltlich aufzufüllen. Auch die Rabbinen tun sich schwer, das »Gesetz der Juden« hier inhaltlich aufzufüllen (mKet 7,6; vgl. tKet 7,6).

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lichen Texten der Bibel kommen nun auch Halakhot, Midrashot und Haggadot, die jedoch mündlich bleiben sollen. Die Vorstellung, dass erst auf die Sünde mit dem Goldenen Kalb eine erweiterte Offenbarung folgt, ist nicht nur der rabbinischen Tradition vorbehalten, sondern Teil einer breiteren jüdischen Tradition, wie dies die frühe (juden-)christliche Diskussion um die deuterōsis (δευτέρωσις) zeigt8. Die Constitutiones Apostolorum (spätes 4. Jh., syrisches Christentum), die aber viel frühere Schriften wie die Didascalia Apostolorum (1. Hälfte 3. Jh.) aufnehmen, sehen in der deuterōsis einen Teil der Bibel selbst. Sie warnen vor dem Lesen heidnischer Bücher; die Bibel (»das Gesetz Gottes«) allein genügt: Doch wenn du das Gesetz liest, lass beiseite, was ihm hinzugefügt wurde, wenn schon nicht alles, so doch gewisse (Abschnitte), nämlich die des Zweiten Gesetzes (τινων τῶν τῆς δευτερώσεως). Diese lese nur in Bezug auf die Geschichte, um Gott zu erkennen und zu preisen, der dich von diesen und so zahlreichen Banden befreit hat. Halte dir vor Augen und erkenne, was das natürliche Gesetz ist und was zur deuterōsis gehört, die in der Wüste denen, die das Kalb gemacht hatten, zusätzlich gegeben wurde. Das Gesetz ist nämlich, was der Herr und Gott gesprochen hat, bevor das Volk Götzen diente, d.h. der Dekalog. Doch welche Bande ihnen auferlegt wurden, nachdem sie gesündigt hatten, damit belaste dich nicht. Denn unser Erlöser ist zu nichts anderem gekommen, als dass er das Gesetz und die Propheten erfülle (Mt 5,17) und die Bande der nachträglich hinzugefügten deuterōsis aufhören oder geändert werden (Const. Ap. 1,6,7–10).

Wie die Constitutiones an anderer Stelle erklären, hat Jesus selbst viele der späteren Gesetze wie etwa die Beschneidung auf sich genommen. »Der Gesetzgeber wurde selbst die Fülle des Gesetzes, nicht indem er das natürliche Gesetz aufhob, sondern indem er das durch die deuterōsis Hinzugefügte aufhören ließ, wenn auch nicht alles« (Const. Ap. 6,22,5), da er Taufe, Opfer und Priestertum nicht aufhob, sondern umwandelte (6,23,5). Wenn Const. Ap. 2,5,6 vom Bischof fordert, dass »er Gesetz und deuterōsis auseinanderhalte und zeige, was das Gesetz der Gläubigen und was die Bande der Ungläubigen sind, damit niemand sich den Banden unterwerfe«, wird deutlich, dass in den hier angesprochenen christlichen Gemeinden die Frage, was aus der biblischen Tradition weiterhin für Christen bindend sei und was nicht, noch durchaus nicht allgemein geklärt und in der Praxis durchgesetzt war9. 8 Dazu siehe Ch.E. Fonrobert, The Didascalia Apostolorum: A Mishnah for the Disciples of Jesus, JECS 9 (2001) 483–509; A. Yadin-Israel, »Qabbalah, Deuterōsis«, and Semantic Incommensurability: A Preliminary Study, in: R.S. Boustan et al. (ed.), Envisioning Judaism, Studies in Honor of Peter Schäfer on the Occasion of his Seventieth Birthday, Tübingen 2013, II, 917–939, bes. 933–935. 9 Wenn hier deuterōsis ein Teil des biblischen Textes selbst ist und nicht, wie gewöhnlich bei den Kirchenvätern, nachbiblische jüdische Tradition bezeichnet, hat dies eine

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Auch nach den etwas früheren Pseudoklementinen ist nicht die gesamte Tora auf Dauer verbindlich: Das Gesetz Gottes wurde durch Mose siebzig weisen Männern ungeschrieben übergeben, um es weiterzugeben, damit man sich in der weiteren Abfolge (διαδοχῆ) danach verhalten (πολιτεύεσθαι) könne. Nach der Hinwegnahme Moses wurde es von irgendjemand aufgeschrieben, nicht aber durch Mose (Hom. 3,47,1).

Erst die schriftliche Fassung hat es ermöglicht, dass auch viel Falsches gegen Gott in das von Mose den Siebzig »mit den Erklärungen« (ἐπιλύσεσιν) übergebene Gesetz eingefügt wurde (Hom. 2,38,1); erst der wahre Prophet Jesus könne diese falschen Abschnitte erkennen und ausscheiden. Damit wird natürlich auch hier ein Teil der Tora als überholt angesehen; für unsere Perspektive wesentlich ist jedoch, wie sehr hier die auf Mose zurückgehende mündliche Tradition betont wird, die auch Erklärungen zur Tora umfasst und die erst im Lauf der Verschriftlichung verfälscht wurde. Eine gewisse Nähe zu rabbinischen Vorstellungen von der schon am Sinai wurzelnden mündlichen Tora und ihrer höheren Wertigkeit gegenüber dem schriftlichen Text ist hier nicht zu übersehen10. Kirchenväter, die sich weniger mit judenchristlichen Traditionen in der eigenen Gemeinde abmühen mussten, sahen dagegen in der deuterōsis nicht einen Teil der Hebräischen Bibel, obwohl natürlich auch sie sich der Frage stellen mussten, was davon auch für christliche Gemeinden noch Norm des Handelns sein konnte. Sie bezogen sie vielmehr klar auf nachbiblische jüdische Traditionen. Eine in der Forschung oft vertretene Deutung auf die Mischna könnte sich zwar darauf berufen, dass man deuterōsis als wörtliche Übersetzung von Mischna im Sinn von »zweiter Lehre« verstehen konnte, ist aber zu eng und setzt voraus, dass man rabbinische Schriften (und nicht nur manche von deren Inhalten) auch auf christlicher Seite kannte, was wenig wahrscheinlich ist. Nur gewisse Parallele im rabbinischen Sprachgebrauch, in dem Propheten und Hagiographen gerne als Qabbala zitiert werden (so z.B. schon oft in der Mekhilta de-R. Jischmael), als »traditionelle Schriften« bzw. als »empfangene« Überlieferung, während gewöhnlich damit außerbiblische Tradition gemeint ist. Siehe dazu A. Yadin-Israel, Qabbalah (siehe oben Anm. 8), 922–932. 10 Aus der umfangreichen Literatur dazu sei hier nur genannt: G. Strecker, Das Judenchristentum in den Pseudoklementinen, Berlin ²1981, bes. 162–187; A.I. Baumgarten, Literary Evidence for Jewish Christianity in the Galilee, in: L.I. Levine (ed.), The Galilee in Late Antiquity, New York 1992, 39–50; A.Y. Reed, When Did Rabbis Become Pharisees?, in: R.S. Boustan et al. (ed.), Envisioning Judaism (siehe oben Anm. 5), 859–895, hier 885–893; dies., »Jewish Christianity« after the »Parting of the Ways«, in: A.H. Becker / A.Y. Reed (ed.), The Ways that Never Parted: Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages, Tübingen 2003, 189–231; dies., »Jewish Christianity« as Counter-history?, in: G. Gardner / K.L. Osterloh (ed.), Antiquity in Antiquity: Jewish and Christian Pasts in the Graeco-Roman World, Tübingen 2008, 173–216.

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Epiphanius von Salamis scheint auch die Mischna oder ihre Tradition im Blick zu haben: »Denn die Überlieferungen der Alten heißen bei den Juden deuterōseis. Diese sind vier: Eine läuft unter dem Namen Moses [das Deuteronomium? Doch deutet der Zusammenhang auf ein nichtbiblisches Werk!], die zweite nach dem sogenannten R. Aqiva, die dritte nach Adda oder Juda, die vierte nach den Söhnen der Hasmonäer« (Haer. 33,9; vgl. 15,2). Bei Juda ist wohl an Jehuda ha-Nasi zu denken, den Redaktor der Mischna; doch die zuletzt genannte hasmonäische Tradition passt nicht dazu und legt nahe, dass auch er nur vage Kenntnisse vom Hörensagen hat. Allgemeiner auf jüdische Schriftauslegungen bezieht sich schon Eusebius, nach dem Juden die heiligen Schriften mit ihren mythischen deuterōseis erklären; er spricht dabei direkt von jüdisch-mythischer Rede (Comm. in Isa. 1,19: ὁ Ἰουδαϊκὸς λόγος μυθικός [cf. Tit 1,14: Ἰουδαϊκοῖς μύθοις καὶ ἐντολαῖς ἀνθρώπων]; in 1,96 paraphrasiert er παραδόσεις ἀνθρώπων [siehe Mk 7,8] mit δευτερώσεις πρεσβυτέρων). Sehr abfällig äußert sich Hieronymus in Kommentierung von Mt 15,6 in seinem Brief an die Gallierin Algasia: »quantae traditiones pharisaeorum sint, quas hodie δευτερώσεις vocant, et quam aniles fabulae, revolvere nequeo. Neque enim libri patitur magnitudo et pleraque tam turpia sunt, ut erubescam dicere« (ep. 121,10). Als Beispiel für das Nichtige und Schändliche nachbiblisch-jüdischer Tradition bringt er die rabbinische Beurteilung von Menstruationsblut. Kaum anders wird der Begriff in Justinians Novelle 146 vom Jahr 557 verwendet, in der der Kaiser für die Synagogenlesung die Septuaginta empfiehlt, doch auch andere Übersetzungen erlaubt und dann anfügt: Doch die bei ihnen so genannte deuterōsis11 verbieten wir völlig, da sie nicht in die heiligen Bücher aufgenommen und nicht von oben über die Propheten überliefert ist, sondern eine Erfindung von Menschen, die allein irdischen Ursprungs und worin nichts Göttliches enthalten ist. Sie sollen die heiligen Worte lesen, indem sie die Bücher selbst öffnen, ohne das in ihnen Gesagte zu verbergen und dafür von außen kommendes ungeschriebenes leeres Gerede zu übernehmen (τὰς ἔξωθεν δὲ παραλαμβάνοντες ἀγράφους κενοφωνίας), das sie selbst zum Verderben der einfacheren Gemüter ersonnen haben.

Damit übernimmt der Gesetzgeber die traditionelle christliche Polemik gegen jede nachbiblische jüdische Auslegungstradition; ein Verständnis dafür, dass das Judentum als lebendige Religion natürlich auch seine Bi11 Ich vermeide bewusst die Übersetzung »Mischna«, die z.B. A. Linder, The Jews in Roman Imperial Legislation, Detroit 1987, 409 bietet: »What they call Mishnah«, ein Verständnis, das auch viele Auslegungen dieser Novelle vertreten. Die Mischna wurde nie im jüdischen Gottesdienst gelesen; auch ist ihr gesetzlicher Schwerpunkt kaum geeignet, den eigentlichen Sinn biblischer Texte zu überdecken. Vielmehr ist an jede Form midraschischer Auslegung gedacht.

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bel weiterhin auslegt und für die eigene Zeit ausbaut, ist hier nicht zu erwarten. 2.

Der Vorrang der mündlichen Tora

Wenn auf christlicher Seite die deuterōsis abgelehnt wird, sei es als der nicht mehr geltende Teil der schriftlichen Tora im Umfeld judenchristlicher Traditionen, sei es als die traditionelle jüdische Auslegung der Tora, genießt die mündliche Tora im rabbinischen Judentum höchste Wertschätzung. Damit stellt sich dann allerdings den Rabbinen und wohl auch ihren innerjüdischen Kritikern die Frage: Warum ist nur ein kleiner Teil der Offenbarung schriftlich gegeben worden und damit auch fester umrissen, kontrollierbarer geblieben als die angeblich so viel wichtigere mündliche Tora? Auf diese Frage antwortet die Fortsetzung des schon zitierten Textes aus yPea 2,4: Es sagte R. Avin: Hätte ich dir den Großteil meiner Tora geschrieben, da würde sie nicht »wie ein Fremder erachtet« (Hos 8,12). Was steht zwischen uns und den Völkern? Die einen ziehen ihre Bücher hervor, und die anderen ziehen ihre Bücher hervor. Die einen ziehen ihre Pergamente hervor, und die anderen ziehen ihre Pergamente hervor. Es sagte R. Chaggai im Namen des R. Samuel bar Nachman: Es wurden Worte mündlich vorgetragen, und es wurden Worte schriftlich vorgetragen. Und wir wissen nicht, welche davon beliebter sind. Doch da geschrieben steht: »Gemäß diesen Worten (wörtlich: nach dem Mund dieser Worte) schließe ich mit dir und mit Israel einen Bund« (Ex 34,27), besagt das, dass das Mündliche beliebter ist.

R. Avin begründet also den Vorzug der mündlichen Tora damit, dass es bei Niederschrift des Großteils der Tora keinen Unterschied zwischen Israel und den Völkern, hier eindeutig den Christen gäbe: Beide berufen sich auf dieselbe schriftliche Tora. Was Israel auszeichnet, ist allein die mündliche Tora. Da diese mündlich bleibt und damit auch nicht übersetzt werden kann, können Christen nicht den Juden den Anspruch streitig machen, das wahre Israel zu sein, wie es im Tanchuma Ki Tissa 34 (MS Cambridge Add. 1212) heißt: »Dann sprach der Herr zu Mose: Schreibe dir diese Worte auf« (Ex 34,27). Das bedeutet es, wenn es heißt: »Wollte ich ihm den Großteil meiner Tora schreiben, da würden sie wie ein Fremder erachtet« (Hos 8,12). Es sagte R. Jehuda beR. Schalom: Als der Heilige, gepriesen sei er, zu Mose sagte: »Schreibe dir«, wollte Mose, dass auch die Mischna schriftlich sei. Doch der Heilige, gepriesen sei er, sah voraus, dass die Völker der Welt einst die Tora übersetzen, sie auf Griechisch lesen und sagen würden: Wir sind Israel. Soweit wäre (der Anspruch) ausgeglichen. Da sagte der Heilige, gepriesen sei

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er, zu den Völkern: Ihr sagt, dass ihr meine Kinder seid. Ich weiß nicht. Doch wer mein Geheimnis (mistorin, Mysterium) bei sich hat, das sind meine Kinder. Und was ist (das Geheimnis)? Das ist die Mischna, die mündlich gegeben wurde.

Die enge Parallele Tanchuma Wa-yera 5 ergänzt: Wozu das Ganze? Weil die Mischna das Mysterium des Heiligen, gepriesen sei er, ist und der Heilige, gepriesen sei er, sein Mysterium nur den Gerechten offenbart; denn es heißt: »Das Geheimnis des Herrn gehört jenen, die ihn fürchten« (Ps 25,14).

Das wahre Israel sind damit eindeutig die Juden; sie, nicht die Kirche sind die wahren Gerechten; der Beweis dafür ist gerade die von christlicher Seite so geschmähte mündliche Tora, die es auch ermöglicht, die Christen wie Juden gemeinsame schriftliche Tora richtig zu verstehen. Trotz vieler Parallelen, die jüdische und christliche Auslegung der heiligen Schriften verbinden, entzündet sich gerade in der Auslegung der Schrift immer wieder die Kontroverse um den richtigen Zugang zur Schrift. Von christlicher Seite wirft man der jüdischen Auslegung in Anlehnung an 2Kor 3,6 einerseits vor, nur den Buchstaben zu sehen, der tötet, anstatt den Geist, der lebendig macht; andererseits und im Widerspruch zum ersten Vorwurf beschuldigt man jüdische Ausleger, fantasievolle Fabeln in die Schrift hineinzulesen. Natürlich kennt rabbinische Auslegungstradition beide Aspekte: auf der einen Seite ein genaues Achten auf jedes kleinste Detail des hebräischen Textes, wie schon am Beispiel von Lev 26,46 oder Dtn 9,10 gezeigt wurde, auf der anderen Seite aber auch eine bewusst allegorische bzw. typologische Auslegung, wie besonders, aber nicht nur, in der Deutung des Hohenlieds oder von Kohelet. Beim Bemühen um die Berücksichtigung auch einzelner Buchstaben für die Deutung können die im Allgemeinen des Hebräischen nicht kundigen Kirchenväter nicht mitreden; durch die fast ausschließliche Verwendung der Septuaginta fehlt ihnen das sprachliche Rüstzeug und trotz gemeinsamer Bibel der gemeinsame Text. Dass auch bei der Ausdeutung kleinster sprachlicher Details des hebräischen Textes nicht der Text allein die Auslegung bestimmt, sondern traditionelle Voraussetzungen mitspielen, haben wir ebenfalls schon gesehen. Ein einziges Beispiel aus einer Unzahl von möglichen möge genügen, um zu zeigen, wie bei aller Texttreue mündliche Tradition die Auslegung bestimmt und von christlicher Deutung abhebt. Ps 68 gilt bis heute als besonders problematisch12, was man auch an vielen Vorschlä12 H.-J. Kraus, Psalmen, Neukirchen-Vluyn 61989, 628: »Es gibt im Psalter wohl kaum ein Lied, das in seiner Textverderbnis und Zusammenhanglosigkeit den Interpreten vor so große Aufgaben stellt wie Ps 68«.

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gen, den hebräischen Text zu korrigieren und entsprechend zu übersetzen, sieht. Änderungen des traditionellen Textes sind für den rabbinischen Ausleger unmöglich; er muss auch in schwierigen Fällen mit dem gegebenen Konsonantentext zurechtkommen. Ps 68,19 heißt ganz wörtlich übersetzt: »Du zogst hinauf zur Höhe, nahmst Gefangenschaft gefangen (shavita shevi Singular), du nahmst Gaben entgegen für den Menschen« (μdab). Moderne Übersetzungen verstehen ∞adam als Gattungsbezeichnung und übertragen, wie z.B. die Einheitsübersetzung: »du nahmst Gaben entgegen von den Menschen«. So macht es auch schon Eph 4,8, wo das Psalmzitat gegenüber der Septuaginta abgewandelt wird. Statt »du nahmst Geschenke im Menschen« (ἔλαβες δόματα ἐν ἀνθρώπῳ – die hebräische Präposition wird lokal verstanden) liest Eph 4: »Er gab den Menschen Geschenke« (ἔδωκεν δόματα τοῖς ἀνθρώποις). Zudem liest Eph 4 die Verben seinem Kontext gemäß als dritte und nicht als zweite Person. Während das Subjekt der biblischen Aussage eindeutig Gott ist, ist es hier Jesus, der nach seinem Abstieg auf die Erde wieder aufstieg; die Geschenke sind die von Jesus gebrachte Gnade. Man darf wohl annehmen, dass hinter dieser Umwandlung des griechischen Zitats schon eine ältere Tradition steht. Diese findet man, nur anders ausgewertet, auch in der rabbinischen Auslegung (bShab 88b–89a). Hier ist Mose das Subjekt. Er steigt in den Himmel auf und erhält von den Engeln Geschenke als Wiedergutmachung dafür, dass sie ihn respektlos »Mensch« genannt haben: »Was ist der Mensch (∞enosh), dass du an ihn denkst, des Menschen Kind (ben ∞adam), dass du dich seiner annimmst« (Ps 8,5). Die Wendung ba-∞adam des Psalms wird so auf Mose als Menschen schlechthin bezogen, der auch schon in der Frage der Engel (so verstehen die Rabbinen den Text) von Ps 8,5 gemeint war13. Die »Gefangene« wird im Talmudtext nicht explizit ausgelegt, kann dem Kontext nach aber nur die Tora sein, wie andere rabbinische Texte deutlich sagen: Mose »nahm die Tora gefangen« (Tanchuma Buber Wayyiqra 6). Diese rabbinische Auslegung ist erst relativ spät, dann aber breit belegt; den christlich beanspruchten Text von Ps 68,19 holen somit die Rabbinen zurück, und das sicher in Kenntnis und Abwehr der christlichen Auslegung. Nicht Christus, sondern Mose ist hier angesprochen, nicht die Gnade, sondern die Tora ist die Beute bzw. das Geschenk, das er vom Himmel mitbringt. Auch die Bewegungsrichtung ist natürlich anders, nicht ein Abstieg vor dem im Psalm genannten Aufstieg, sondern umgekehrt. Mündliche Tradition bestimmt die rabbinische Ausle13 Eine andere Deutung von ba- ∞adam bietet ShemR 28,1: »Zu Mose sagte der Heilige, gepriesen sei er: Die Tora wird dir nur durch das Verdienst Abrahams gegeben; denn es heißt: ›du nahmst Gaben entgegen für den Menschen‹. Der Mensch, von dem hier gesprochen wird, ist Abraham; denn es heißt: ›Der größte Mensch unter den Anakitern‹ (Jos 14,15)«. Das Verdienst Abrahams, das die Gabe der Tora begründet, ist hier nicht genannt, ist aber sicher die Bindung Isaaks (Gen 22).

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gung und rückt das Verständnis des Bibelverses gegenüber anderen Ansprüchen zurecht14. Rabbinische Auslegung ist wie jede andere Auslegung nicht nur durch die Vorgaben des ausgelegten Textes, sondern zugleich auch durch die eigene Vorstellungswelt, durch Tradition bestimmt. Wenn man rabbinisch davon ausgeht, dass auch die Fülle traditioneller Auslegung schon zugleich mit der schriftlichen Tora am Sinai gegeben wurde, Tradition also Teil der göttlichen Offenbarung ist, hat diese Tradition auch eine besondere Autorität. Zugleich kann die rabbinische Auslegung der Tora, eines Textes von unendlicher Bedeutungsfülle, nicht auf eine einzige richtige Auslegung abzielen. Auch die Tradition hat ihre unzähligen Facetten. Richtig angewandt, nämlich innerhalb eines gemeinsamen Grundkonsenses zur Bibel, vermittelt die Tradition große Freiheit der Auslegung. Nur dort, wo verbindliche religiöse Praxis auf dem Spiel steht, Halakha, hört diese Freiheit auf. Man darf natürlich den Text nicht so auslegen, dass er gegen die traditionelle Lebensform gewandt werden kann. Hier ist die Tradition normativ. In allem Übrigen herrscht große Freiheit, nur durch den weiten Rahmen jüdischer Glaubensüberzeugungen und Grundvorstellungen eingegrenzt. Abstract For the early rabbis oral tradition is an integral part of the revelation at Sinai; only later it becomes an independent entity besides the written Torah, an idea popular in later rabbinic texts: Everything is already included in the revelation at Sinai. Other texts state that only the sin of the Golden Calf made it necessary to enlarge the Bible beyond the Torah. Jewish-Christian texts know this idea of »second revelation« (deuterōsis) within the Bible: Christ did away with it and kept only the original revelation. Most Church fathers, however, understand deuterōsis as secondary, valueless additions to the biblical revelation and reject all Jewish traditional interpretation. For the rabbis, on the other hand, oral tradition is the »mystery« of Israel; it distinguishes Israel from the Christians who also claim to be the true Israel.

*** Günter Stemberger, geb. 1940, Dr. theol., ist emeritierter Professor für Judaistik an der Universität Wien.

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Ausführlicher zu dieser Stelle G. Stemberger, Mose (siehe oben Anm. 6), 122–128.

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Der Streit um die messianische Auslegung der Schrift zwischen Juden und Christen in den mittelalterlichen Religionsgesprächen

Seit Justin dem Märtyrer wurde um die rechte Schriftauslegung nicht allein in Predigten und Traktaten gerungen, sondern auch in Dialogform. Neben Justins »Dialog mit dem Juden Tryphon«, der ausschließlich in einer mittelalterlichen Handschrift überliefert ist1, berichten über stattgehabte mündliche und schriftliche Dialoge Autoren seit Tertullian2. Dennoch kam das Genre »Dialog« zeitweise nahezu zum Erliegen, sei es, weil die Trennungsprozesse zwischen den einstigen Dialogpartnern aus Judentum und Christentum3 bzw. Christen und paganen Römern4 weit fortgeschritten waren, sei es, dass sich das Christentum nach dem Ende des (west-)römischen Reichs neu orientieren musste5, sei es, dass sich mit dem entstehenden Islam neue Konfliktfelder öffneten6. Erst mit dem Erscheinen des Talmud im westlichen Mittelmeerraum und der einhergehenden »Textualisierung« des Judentums im 11. Jahrhundert7 kommt in die christlich-jüdische Auseinandersetzung um die 1 Vgl. Justin Martyr, Dialogue avec Tryphon, ed. Ph. Bobichon, 2 Bde., Freiburg/CH 2003. 2 Vgl. z.B. Tertullian, Adversus Judaeos, 1,1 (ed. R. Hauser = Fontes Christiani 75, 162); vgl. auch L. Ciccolini, La Controverse de Jason et Papiscus: le témoignage de l’Ad Vigilium episcopum de Iudaica incredulitate faussement attribué à Cyprien de Carthage, in: S. Morlet et al. (ed.), Les dialogues Adversvs Ivdaeos. Permanences et mutations d’une tradition polémique, Paris 2013, 159–174; M. Ribreau, Quand deux allégories débattent devant les censeurs: fonctionnement rhétorique et argumentatif de l’Altercatio Ecclesiae et Synagogae, in: ebd., 175–197. 3 Zum Parting of the Ways vgl. J.D.G. Dunn (ed.), Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, Tübingen 1992; A.H. Becker / A. Yoshiko Reed (ed.), The Ways that Never Parted. Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages, Tübingen 2003. – Vgl. auch Severus of Minorca, Letter on the Conversion of the Jews, ed. and translated by S. Bradbury, Oxford 1996, 80–125. 4 Vgl. A.D. Lee, Pagans and Christians in Late Antiquity. A Sourcebook, London; New York 2000; M. Fiedrowicz, Christen und Heiden. Quellentexte zu ihrer Auseinandersetzung in der Antike, Darmstadt 2004. 5 Vgl. aus jüngerer Zeit z.B. U. Heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder, Berlin/Boston 2011. 6 Vgl. Johannes Damaskenos und Theodor Abū Qurra, Schriften zum Islam: Kommentierte griech.-dt. Textausgabe, [hg.] von R. Glei / A.Th. Khoury, Würzburg/Altenberge 1995, 74–83 (= Perì Hairéseon, Cp. 100). 7 So die These von Talya Fishman; vgl. dies., Becoming the People of the Talmud. Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures, Philadelphia 2011.

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richtige Auslegung der gemeinsamen Schrift neue Bewegung. Einerseits entstehen sowohl im europäischen Judentum als auch im lateinischen Christentum neue Versuche der Bibelauslegung, die anscheinend einen nicht immer dokumentierten Austausch voraussetzen, wenngleich dieser in erster Linie der Versicherung der eigenen Position dient, andererseits gibt es vereinzelte Zeugnisse erneut stattgehabter Gespräche und Disputationen zwischen Christen und Juden8. Zur ersteren Gruppe zählen Bibelkommentarwerke wie das von Shlomo ben Yitzhaq (ca. 1040–1105), besser bekannt unter dem Akronym »Raschi«, der in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts einen fortlaufenden, von seinen Schülern vollendeten Kommentar zur Bibel schrieb9, in dem er nicht nur gelegentlich auf christliche Auslegungen einging, sondern auch – insbesondere nach den Erfahrungen der Pogrome von 109610 – gegen das Christentum und dessen Bibelauslegungen polemisierte. Hier sei insbesondere auf seinen Psalmenkommentar verwiesen, dessen Auslegungen teilweise einer jüdischen Selbstzensur zum Opfer fielen11, die aber dennoch in einer Nebentradition in hebräischen Handschriften12 sowie durch den mittelalterlichen christlichen Polemiker Ramon Martí13 weiterhin überliefert wurden. Auch in umgekehrter Richtung wurde insbesondere in der Viktorinerschule von Paris vereinzelt auf jüdische Schriftauslegung zurückgegriffen. Insbesondere Hugo von St. Viktor († 1141) sowie sein Schüler Andreas 8 Zwar keinen Hinweis auf einen aktiven Dialog, aber die Möglichkeit eines solchen liefert an unerwarteter Stelle der bedeutende Halakhist des 12. Jahrhunderts, Moshe ben Maimon (Moses Maimonides), der in Mishne Tora ausdrücklich auf die Möglichkeit gemeinsamer Bibellektüre von Juden mit Christen (anders als mit Muslimen) verweist, weil beide Religionen die gleiche Schriftgrundlage hätten; vgl. dazu St. Schreiner, ›Ein Zerstörer des Judentums …?‹: Mose ben Maimon über den historischen Jesus, in: G. Tamer (Hg.), Die Trias des Maimonides. Jüdische, arabische und antike Wissenskultur, Berlin / New York 2005, 323–345, hier 327f; G.K. Hasselhoff, Moses Maimonides interkulturell gelesen, Nordhausen 2009, 98. 9 Vgl. dazu A. Grossman, Rashi, Oxford et al. 2012 (hebr. 2006). 10 Vgl. R. Chazan, God, Humanity, and History: The Hebrew First Crusade Narratives, Berkeley et al. 2000; Jer. Cohen, Sanctifying the Name of God. Jewish Martyrs and Jewish Memories of the First Crusade, Philadelphia 2004; E. Haverkamp (Hg.), Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs, München 2005. 11 Diese Fassung liegt der ansonsten vorbildlichen Edition Mayer I. Grubers: M.I. Gruber, Rashi’s Commentary on Psalms, Leiden et al. 2004 zugrunde. 12 Diese Fassung liegt der Neuauflage der Mikra∞ot Gedolot ‘Haketer’. A Revised and augmented scientific edition of ‘Mikra∞ot Gedolot’ Based on the Aleppo Codex and Early Medieval MSS, Psalms, 2 parts, ed. by Men. Cohen, Ramat-Gan 2003–2004 (repr. 2008/2011) zugrunde. 13 Vgl. dazu G.K. Hasselhoff, Die Rashi-Texte in Ramon Martís Pugio fidei, in: Judaica 70 (2014), 165–173; ders., Einleitung, in: Raimundus Martini, Texte zur Gotteslehre. Pugio fidei I–III, 1–6. Lateinisch – Hebräisch/Aramäisch – Deutsch, hg., übersetzt und eingeleitet von G.K. Hasselhoff, Freiburg u.a. 2014, 23–31.

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(† 1175), aber auch Peter Comestor (ca. 1100–1178), Stephen Langton (ca. 1150/5–1228), Alexander Neckam (1157–1215/7) und Herbert of Bosham (12. Jh.) eigneten sich jüdische Exegesen an, wenngleich sie zugleich auch ihrer Distanz zu dieser Auslegungsweise nachhaltig Ausdruck verliehen14. Zur zweiten Gruppe, der in dieser Untersuchung besonderes Augenmerk gelten soll, gehören eine Reihe aufgezeichneter Religionsdialoge zwischen Christen und Juden, die in besonderer Weise von einem Ringen zwischen den Disputanten um die rechte Schriftauslegung zeugen. Hierbei ist zwischen vier Kategorien von Dialogen zu unterscheiden15: Zum einen der Dialog im Handbuch, wie er exemplarisch bei Theodor Abū Qurra (ca. 750/60 – ca. 820) zu finden ist, der Dialoge als Handlungsanweisungen schrieb16, zum anderen rein fiktionale Dialoge, wie sie beispielsweise bei Petrus Alfonsi (ca. 1070 – nach 1121) und Petrus Abaelardus (1079–1142) vorliegen, in denen entweder das »alte« und das »neue« Ich miteinander ins Gespräch treten (Petrus Alfonsi17) oder aber ein Gespräch imaginiert wird (Petrus Abaelard18), zum dritten Dialoge, die schriftliche Ausarbeitungen zu vorherigen 14 Vgl. B. Smalley, The Bible in the Middle Ages, Oxford 31984 (zuerst 1954); H. Hailperin, Rashi and the Christian Scholars, Pittsburgh/PA 1963; ders., De l’utilisation par les chrétiens de l’œuvre de Rachi (1125–1300), in: Rachi. Ouvrage collectif, Avant-Propos de M. Sperber, Paris [1974], 163–200; G. Dahan, Les intellectuels chrétiens et les juifs au moyen age, Paris 1999 (= 1990); R. Berndt, André de Saint-Victor († 1175). Exégète et théologien, Turnhout 1991; E. De Visscher, Reading the Rabbis. Christian Hebraism in the Works of Herbert of Bosham, Leiden/Boston 2014; sowie jüngst M. Leyra Curiá, In hebreo. The Victorine Exegesis of the Bible in the Light of its Northern-French Jewish Sources, Turnhout 2017. 15 Vgl. dazu ausführlicher G.K. Hasselhoff, Modelos de diálogos inter-religiosos na história da Igreja, in: Teocomunicação. Revista quadrimestral de Faculdade de Teologia da PUCRS 42 (2012), 144–178; zur Gattung mittelalterlicher Dialoge vgl. auch B.R. Voss, Der Dialog in der frühchristlichen Literatur, München 1970; C. Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge 1200–1400: Literaturhistorische Studie und Repertorium, Leiden/Boston 2007. 16 Vgl. Johannes Damaskenos und Theodor Abū Qurra, Schriften zum Islam, 85– 183 (Opuscula Islamica und Disputatio Saraceni et Christiani). 17 Der Text liegt vor bei K.-P. Mieth, Der Dialog des Petrus Alfonsi: Seine Überlieferung im Druck und in den Handschriften; Textedition, Ms.-Diss. Berlin 1982; Petrus Alfonsi, Diálogo contra los judíos, introducción de John Tolan; texto latino de K.-P. Mieth; traducción de Esp. Ducay; coordinación de Ma. Jesús Lacarra, Huesca 1996. – Carmen Cardelle de Hartmann, Zürich, und ein Team von Mitarbeitern bereiten derzeit eine kritische Neuausgabe des Textes vor. 18 Petrus Abaelardus, Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum: Textkritische Edition von Rud. Thomas, Stuttgart – Bad Cannstatt 1970. – Vergleichbare Dialoge verfassten in den späteren Jahrhunderten auch Ramon Llull, Libro del gentil y los tres sabios, estudio preliminar por A. Gutiérrez Gutiérrez y P. Pernil Alarcón; texto, traducción y notas por M. Conde Salazar, Madrid 2007, und Nikolaus von Kues (Nicolaus de Cusa, De Pace Fidei cum epistula ad Ioannem de Segobia, ed. R. Klibansky / Bascour [Opera Omnia 7], Hamburg 1959).

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»echten« Dialogen darstellen, wie sie seit Gilbert Crispin und Odo von Cambrai (bzw. von Kamerijk) in verschiedensten Ausführungen vorliegen19, und zum vierten Berichte und (stenografische) Protokolle von Disputationen, die an der Grenze zu Inquisitionsprotokollen entlanglaufen (so der Bericht von der Pariser »Talmuddisputation« von 1240) oder diese überschreiten (so die Protokolle der »Disputation« von Tortosa 1413/1420). Für unsere Frage nach dem Streit um die messianische Auslegung der Schrift zwischen Juden und Christen im Mittelalter scheinen mir die dritte und die vierte Gruppe besonders ergiebig zu sein, denen wir uns im Folgenden zuwenden wollen. 1.

Gilbert Crispin, Disputatio iudei et christiani

Der erste Autor, dem wir uns zuwenden wollen, ist der 1045 in der Normandie geborene Gilbert Crispin, der bereits als Kind in die Benediktinerabteit von Bec (bei Rouen) kam, wo als Prioren und Lehrer sowohl Lanfranc (1005/10–1089) als auch Anselm von Aosta (bzw. Canterbury, 1033–1109) wirkten. Im Jahr 1078/9 ging Gilbert gemeinsam mit Lanfranc nach England, das wenige Jahre zuvor von den Normannen erobert worden war, und wo jener als Erzbischof von Canterbury amtierte. Im Jahr 1085 wurde Gilbert zum Abt von Westminster gewählt und blieb es bis zu seinem Tod im Jahr 1117. Als solcher gab er Anselm von Canterbury, dem Nachfolger Lanfrancs als Erzbischof mehrfach Asyl. Neben anderem verfasste Gilbert zwei Dialoge, einen 19 Ein schönes Beispiel für die nicht immer leicht zu markierende Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit stellen die Berichte von Disputationen in Ceuta (1179) und Mallorca (1286) dar (vgl. O. Limor [Hg.], Die Disputationen zu Ceuta [1179] und Mallorca [1286]. Zwei antijüdische Schriften aus dem mittelalterlichen Genua [MGH: Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 15], München 1994). Beide Berichte weisen Merkmale auf, die darauf hindeuten, dass der Aufzeichnung ein »echter« Dialog zwischen zwei theologischen »Laien« voranging. Gleichzeitig ist der Bericht zu Mallorca in Teilen eine wörtliche Kopie des um ein Jahrhundert älteren Dialogs; vgl. dazu zusammenfassend Hasselhoff, Modelos, 161–164. – Anna Sapir Abulafia’s Annahme, die Dialoge überzeichneten und verfälschten die Position der Juden in diesen Dialogen, ist zwar nachvollziehbar, erscheint mir aber zu einseitig; vgl. zuletzt dies., The Service of Jews in Christian-Jewish Disputations, in: Morlet et al. (ed.), Les dialogues Adversvs Ivdaeos, 339–349; diese Position ist auch breit entfaltet in dies., Christians and Jews in the Twelfth-Century Renaissance, London / New York 1995. 20 Die lateinischen Protokolle wurden 1957 von Antonio Pacios Lopez ediert, die Disputation ist teilweise auch in hebräischer Sprache im Shevet Yehuda von Shlomo ibn Verga (ed. Max Wiener) dokumentiert; für weitere Literatur vgl. G.K. Hasselhoff, Dicit Rabbi Moyses. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, Würzburg, 2., erw. Aufl. 2005, 255 Anm. 122.

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mit einem Juden21, einen mit einem Heiden22. Obgleich umstritten ist, ob diese Dialoge stattgefunden haben, nennt Gilbert im Prolog zumindest für den Juden-Dialog eine plausible historische Situation, die eine Datierung um das Jahr 1092/3 wahrscheinlich macht23: Er habe mit einem Juden, der in Mainz seine geistige Ausbildung erhalten habe, vielfältige wirtschaftliche und auch theologische Kontakte gehabt. Einmal sei es auch zu einem ausführlicheren Dialog gekommen, in dem der Jude seine Fragen vorgebracht habe und er als Christ geantwortet habe. Dieses Gespräch habe er nun im Nachhinein verschriftlicht24. Formal gliedert sich der nun vorliegende Dialog mit Fragen des Juden und ausführlicheren Antworten des Christen in zwei Teile. Im ersten Teil finden sich sieben Redegänge, die um zwei Hauptfragen kreisen: die Frage nach der richtigen Interpretation der Tora und die Person Jesu Christi. Ein kürzerer zweiter Teil schließt sich an, der ähnliche Fragen von einem anderen Tag des Gesprächs wiedergibt. Die Authentizität dieses zweiten Teils steht – nicht zuletzt aufgrund der Überlieferungslage: eine gegen mehr als 30 Handschriften25 – infrage, weswegen hier nur der erste Teil näher beleuchtet werden soll. Der Dialog wird mit der Frage des Juden eröffnet, warum den Juden von Christen der Vorwurf gemacht werde, das Gesetz (lex) zu befolgen, wenn es doch von Gott gegeben und daher vernünftig sei26. Die Antwort des Christen verweist insbesondere auf Widersprüche der Schrift bzw. der biblischen Gesetze. 21 A. Sapir Abulafia / G.R. Evans (ed.), The Works of Gilbert Crispin, Abbot of Westminster, London 1986, 8–53.54–61; Gilbert Crispin, Religionsgespräche mit einem Juden und einem Heiden: Disputatio iudaei et christiani; Disputatio christiani cum gentili de fide Christi; lateinisch – deutsch, übersetzt und eingeleitet von K.W. Wilhelm / G. Wilhelmi, Freiburg u.a. 2005, 32–135 (diese zweite Ausgabe folgt der Edition B. Blumenkranz’ von 1956; beide verwendeten Ausgaben sind hinsichtlich der Textkonstituierung problematisch). 22 Gilbert, Disputatio (ed. Sapir Abulafia / Evans, 61–87; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 136– 195). – Bedenkenswert zu diesem Dialog ist H. Westermann, ›Unius dei cultus‹ oder ›noster deus et vester deus‹? – Referenztheoretische Überlegungen zum monotheistischen Gottesbegriff Gilbert Crispins ›Disputatio Christiani cum gentili de fide‹, in: Theologie und Philosophie 88 (2013), 372–388. Zur Aufeinanderbezogenheit beider Dialoge vgl. B. Goebel, Vernunft und Autorität in den Religionsgesprächen Gilbert Crispins, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 11 (2012), 29–71. 23 Vgl. auch M. Borgolte, Christen und Juden im Disput. Mittelalterliche Religionsgespräche im ›spatial turn‹, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), 359–401, hier 379– 389. 24 Vgl. auch K. Jacobi, Gilbert Crispin – Zwischen Realität und Fiktion, in: ders. (Hg.), Gespräche lesen: Philosophische Dialoge im Mittelalter, Tübingen 1999, 125– 137. 25 Vgl. Sapir Abulafia / Evans (ed.), The Works of Gilbert Crispin, 1f.54. 26 Vgl. Gilbert, Disputatio [I] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 10f; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 40).

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Die Anspielungen und die figürliche Rede werden jedoch durch den von Gott gesandten Menschen enthüllt, der den Menschen geschenkt habe, die Schriften zu verstehen27. Diese Antwort kann der jüdische Gesprächspartner so nicht stehen lassen, weswegen er auf den Widerspruch verweist, dass es keine zeitliche Abfolge innerhalb des göttlichen Plans geben könne, weil das im Widerspruch zu Ps 62,12 und 119,89 stehe. Zudem sei es eher der ratio entsprechend, das Gesetz wörtlich zu befolgen28. Der vom Christen ins Spiel gebrachte Christus sei durchaus vertrauenswürdig und ein herausragender Profet29, aber es könne nicht an ihn geglaubt werden, weil das ebenso im Widerspruch zu Dtn 6,4 stehe wie die Rede von Vater, Sohn und Geist. Deswegen glaube er nicht an den christlichen Christus, sondern an den Messias (Christus), dass und wenn er kommen werde: Non igitur credo in Christum neque spes mea est in Christo [...] Sed Christum credo et Christo credam, cum venerit30. Wenn der Christus kommen werde, dann erfülle sich auch die messianische Verheißung Jesajas von der Völkerwallfahrt zum Zion und dem messianischen Frieden (Jes 2,2–4). In seiner Antwort bestätigt der Christ zunächst den Einwand des Juden, dass das Gesetz nicht außer Kraft gesetzt sei mit einem Hinweis auf Mt 5,17. Allerdings gelte es, einem Verbot wie dem des Verzehrs von Schweinefleisch den geistigen Sinn abzugewinnen, der in der Enthaltsamkeit liege. Zudem sei auch das Schweinefleisch in den guten Werken der Schöpfung eingeschlossen. Gleiches führt er auch zu weiteren Geboten aus31. Von hier aus leitet er über zu einer Interpretation des Weltgerichts32. Im Anschluss an diese ethisch-eschatologischen Ausführungen geht er über zur Zweinaturenlehre, die er mit Joh 1,1.14 begründet33. Hieraus ergebe sich, dass Jesus Christus aus eigener Kraft (virtute34) Sohn Gottes sei, aber aus 27 Vgl. Gilbert, Disputatio [I] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 11–15; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 42–44). 28 Vgl. Gilbert, Disputatio [II] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 15; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 44). – Zum Aspekt der ratio an dieser Stelle vgl. A. Fidora, Das philosophische Religionsgespräch im Mittelalter: Von Gilbert Crispin und Peter Abaelard zu Ramon Llull, in: B.F.W. Springer / A. Fidora (Hg.), Religiöse Toleranz im Spiegel der Literatur: Eine Idee und ihre ästhetische Gestaltung, Münster u.a. 2009, 71–81, hier 72. 29 Vgl. Gilbert, Disputatio [II] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 16; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 46). 30 Gilbert, Disputatio [I] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 16; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 46). 31 Vgl. Gilbert, Disputatio [II] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 17–23; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 50–58). 32 Vgl. Gilbert, Disputatio [II] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 24f; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 58–60). 33 Vgl. Gilbert, Disputatio [II] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 25; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 60). 34 Vgl. Gilbert, Disputatio [II] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 25; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 62).

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Gnade (gratia) Mensch geworden sei. Da er aber nun Gott sei, sei seine Verehrung auch kein Götzendienst35. Hier hakt der Jude nach, indem er nach Vernunftgründen (ratio) fragt, wie in Gott ein derartiger Wechsel vonstatten gehen könne, dass er Mensch werde. Das widerspreche Aussagen Gottes selbst (vor allem Ex 33,20). Daran schließt er an, dass es vermessen sei, aus Jes 7,14 lesen zu wollen, dass die Jungfrau einen Gott gebäre. Die Aussage sei lediglich auf den menschlichen Messias/Christus bezogen. Auch die kirchliche Lehre, dass Maria Jungfrau bleibe, sei eine Fehlinterpretation dieser Schriftstelle36. Auf diesen Einwand antwortet der Christ mit dem Verweis auf verschiedene Profetenworte. So habe Jeremia in Bar 3,36f37 von Christus als Gott gesprochen, und nach Ez 42,2f sei klar, dass die dort erwähnte Pforte für Maria stehe, die nur für Gott geöffnet war, der durch sie hindurch ging38. Auch das nobiscum deus (»Emmanuel«) aus Jes 7,14 beziehe sich nicht, wie der Jude es behauptet hatte, auf die Sendungsworte der Messfeier, sondern nach Jes 9,6 auch auf Jesus Christus. Um Sünden vergebend wirken zu können, sei es unabdingbar, dass Jesus Christus sündenfrei, d.h. ohne Erbsünde, aus einer Jungfrau geboren wurde. Entscheidend sei dabei, dass der Weg aus Gott in das Menschliche geführt habe, damit so die Menschheit erhöht werde (suscepit39). Die Rede des Christen wird ihrerseits von dem Juden mit dem Einwand gekontert, dass Ezechiel lediglich von einem Tor (de porta loquitur40), nicht aber von einer Frau spreche. Zudem sei die Verheißung Abrahams auf dessen Nachkommen bezogen, was hinfällig sei, wenn Christus keinen menschlichen Vater habe41. Dem hält der Christ entgegen, dass eine buchstäbliche Auslegung von Ez 44,2f nicht möglich sei, denn bei Jes 66,1 und Jer 23,24 sei deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Gott unfassbar und größer als alles Irdische sei. Gerade deswegen sei das Tor die Jungfrau Maria, in die Gott hineinging. Wie es in Ps 35 Vgl. Gilbert, Disputatio [II] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 26; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 62). 36 Vgl. Gilbert, Disputatio [III] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 27f; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 64–66). 37 Zu dem Widerspruch, dass Baruch nicht Jeremia sei, vgl. unten bei Anm. 47. 38 Vgl. Gilbert, Disputatio [III] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 28f; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 68). 39 Vgl. Gilbert, Disputatio [III] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 30f, hier 31; ed. Wilhelm/ Wilhelmi, 72). 40 Gilbert, Disputatio [IV] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 36; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 80). 41 Es fällt auf, dass die rabbinische Bestimmung der Abstammung durch eine Frau (bQid 68b) hier nicht thematisiert wird. Entweder handelt es sich um ein bewusstes Verschweigen, oder aber, diese Lehre war keine im Europa des 12. Jahrhunderts bekannte und gängige; zu der Problematik vgl. auch Sh.J.D. Cohen, The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties, Berkeley et al. 1999, 263–307.

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19,6 heiße, sei aus ihr der Bräutigam, also Jesus Christus, herausgetreten und sei, wie Jeremia es bezeuge (teste42), auf Erden erschienen und habe unter den Menschen gelebt43. Das ansonsten verschlossene Tor zeige die Jungfrauenschaft Mariens an. Um die Größe des Inkarnationsgeheimnisses (hoc incarnationis dominice mysterium44) zu verdeutlichen, bringe Jesaja zusätzlich das Bild vom Tau, der vom Himmel komme und ein Werk Gottes sei (Jes 45,8). Aus diesem allen ergebe sich, dass der Herr sowohl Vater als auch Sohn sei: Dominus ergo est pater, dominus est et filius45. An diese Aussage schließt sich eine knappe Erläuterung der Trinitätslehre an, die weitgehend ohne biblische Belege auskommen muss, auch wenn für den Geist noch drei Schriftstellen angeführt werden46. Auf diese Ausführung antwortet der Jude, dass sich mit einer derartigen Lesart beliebige weitere Belege bringen ließen: que ita quoquo modo poteritis interpretari47, allerdings habe er den Eindruck, dass die Schriftgrundlage nicht die gleiche sei, denn z.B. das Jeremiawort aus Bar 3,38 finde sich in seiner Bibel nicht. Auch die Auslegung von Jes 7,14 auf eine immerwährende Jungfrauenschaft hin gebe der Text nicht her48. In seiner sehr knappen Antwort verweist der Christ darauf, dass die Kirche die Bibel von den Juden übernommen und unverändert (immutatum49) tradiert habe; sie stütze sich dabei auf das Werk der 70 Übersetzer zur Zeit des Ptolemäus und die akribische Übertragung dieser griechischen Bibel ins Lateinische. Im Blick auf Jeremia ergänzt er, dass dieser seine Profetie dem Baruch diktiert habe50 (und zu ergänzen wäre: weswegen auch das Baruchbuch kanonischen Rang einnehme.) Die 70 Übersetzer konzidiert der Jude als mit den 70 Männern des Mose nach Num 11 übereinstimmend, allerdings betont er den Vorrang des hebräischen Bibeltextes51. Der Christ seinerseits weist diese Interpretation der 70 Männer zurück und betont die Inspiration der Übersetzung. Von da aus leitet er über zu mehreren profetischen Verheißungen, deren Kulminationspunkt Jes 9,5f ist, womit das Kind der Jungfrau aus 42 Gilbert, Disputatio [IV] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 37; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 84). 43 Erneut dient Bar 3,38 als Beleg; vgl. oben Anm. 37 und unten bei Anm. 47. 44 Gilbert, Disputatio [IV] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 37; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 84). 45 Gilbert, Disputatio [IV] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 38; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 86). 46 Gilbert, Disputatio [IV] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 38; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 86); für den Geist angeführt werden Gen 1,2, Ps 33,6; SapSal 1,5 [!]. 47 Gilbert, Disputatio [V] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 39f; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 88). 48 Gilbert, Disputatio [V] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 40; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 90). 49 Gilbert, Disputatio [V] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 41; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 92). 50 Vgl. Gilbert, Disputatio [IV] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 41; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 92). – Zu dieser Passage vgl. auch G. Dahan, Les questions d’exégèse dans les dialogues contre les juifs XIIe–XIIIe siècles, in: Morlet et al. (ed.), Les dialogues Adversvs Ivdaeos, 319–337, hier 331f. 51 Vgl. Gilbert, Disputatio [VI] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 42; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 92–94).

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Jes 7,14 gemeint sei52. Da jedoch die Geburt des Kindes eine Zeugung voraussetzt, wird diese mit einer Kombination aus Ps 2,7 und 110,3 belegt53. Aus dem Psalter lasse sich auch die Zweinaturenlehre belegen, denn Ps 85,12 belege das Hervorgehen aus der Erde. Da nach Ps 116,11 aber alle Menschen Lügner seien, Jesus aber kein Lügner, sondern selbst die Wahrheit sei, sei er also Gott und Mensch. Zudem gebe Jes 53,1–10 eine Beschreibung des Lebenswerks dieses Gott-Menschen54, wie es im Leben, Reden und Sterben Jesu nachvollziehbar sei55. Es sei also deutlich, dass die Verheißungen in Jesus Christus erfüllt seien, der die Erwartung (oder: Hoffnung) der Heiden (expectatio gentium, Gen 49,1056) sei. Wer das nicht glaube, müsse wie die Heiden nach Ps 97,7 zugrunde gehen und wie die Juden nach Ps 69,29 aus dem Buch der Lebenden getilgt werden. Diese Zuspitzung kontert der Jude damit, dass die diversen Abbildungen Jesu zu ebendiesem Zugrundegehen der Christen nach Ps 97,7 führen würden, denn hierin sei ein Verstoß gegen Ex 24,4f zu sehen. Dagegen wendet der Christ in seiner letzten Antwort des Dialogs ein, dass dann bereits Mose gegen das Bilderverbot verstoßen habe, denn er habe ja dezidierte Anweisungen zur Gestaltung der Kultgegenständige (einschließlich der Cherubim) gegeben. Auch der Bau des Tempels nach 1Kön 6 und die Visionen des Jesaja (Jes 6) und Ezechiel (Ez 1) widersprächen dem Bilderverbot. Es sei daher vielmehr so, dass sich das Bilderverbot gegen heidnische Anbetung richte, während beispielsweise die Verehrung eines geweihten Kreuzes der Anbetung des Schemels der Füße (scabellum pedum57) nach Ps 95,5 gleiche. Mit einem nochmaligen Verweis auf Gen 49,10 endet der I. Teil des Dialogs58. Unabhängig von der Frage, ob der Dialog Crispins das tatsächlich geführte Gespräch wiedergibt, werden Differenzen der (messianischen) Hermeneutik zwischen den beiden Vertretern der beiden Religionen deutlich. Der Jude des Dialogs besteht auf einer literalen Auslegung biblischer Texte und betont die Grenzen einer spirituellen Interpretation. Dagegen setzt der Christ seine durch kirchliche Dogmatik gepräg52 Vgl. Gilbert, Disputatio [VI] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 42–44; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 96–100). 53 Vgl. Gilbert, Disputatio [VI] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 45; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 100). 54 Vgl. Gilbert, Disputatio [VI] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 45–48; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 102–104). 55 Gilbert, Disputatio [VI] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 48f; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 104–108). 56 Gilbert, Disputatio [VI] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 50; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 110). 57 Gilbert, Disputatio [VII] (ed. Sapir Abulafia / Evans, 52; ed. Wilhelm/Wilhelmi, 116). 58 Zur Authentizität des II. Teils, der hier nicht untersucht werden soll, vgl. oben bei Anm. 25.

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te geistliche Schriftauslegung, die insbesondere um die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer Menschwerdung Gottes nach biblischen Zeugnissen kreist. Im Zentrum stehen dabei die Interpretation der Tor-Vision aus Ez 44,2 sowie die beiden klassischen Loci Jes 7,14 und Gen 49,1059. 2. Odo Camaracensis, Disputatio contra iudeum Leonem nomine de adventu Christi filii dei Einen anderen Ansatz als Gilbert wählt sein Zeitgenosse Odo60, der mit verschiedenen Beinamen bekannt wurde61: Gebürtig aus Orléans (um 1060) trat er dem Benediktinerorden bei und amtierte von 1095 bis 1105 als Abt von St. Martin in Tournai (bzw. Doornik). Am 28. Juni 1105 wurde er zum Bischof von Cambrai (bzw. Kamerijk) geweiht und amtierte bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1110 oder seiner Enthebung durch Papst Paschalis II. (amtierte 1099–1118) im Jahr 1113. Odo starb kurz darauf am 19. Juni 1113 in der Abtei Anchin bei Douai62. Eine seiner hinterlassenen Schriften ist seine Disputation mit bzw. gegen den Juden Leo63. Diese zwischen 1106 und 1113 abgefasste Schrift hat einen doppelten Anlass. Zum einen soll sie eine Antwort auf die Bitte des Adressaten, des Mönchs Acardus aus Fémy (bei Cambrai), sein, einen Vortrag über die Inkarnation Christi zusammenzufassen, den der Bischof in dem dortigen Kloster gehalten hatte. Zum anderen möchte Odo ein Gespräch, das er mit einem ansonsten unbekannten Juden namens Leo geführt haben will64, wiedergeben. Darum verbindet er beide Anlässe und legt seine Position in Form eines Dialogs dar. Schon diese Ausgangslage verdeutlicht, dass es sich um keine verbale Wiedergabe des Gesprächs oder des Standpunktes des Juden Leo han59 Dabei kommt, wie gesehen, Jes 7,14 weit größeres Gewicht zu. 60 Zur Nähe beider vgl. z.B. G. Dahan, La polémique chrétienne contre le judaïsme au Moyen Age, Paris 1991, 72f. 61 Vgl. die Übersicht in R. Schönberger u.a., Repertorium edierter Texte des Mittelalters aus dem Bereich der Philosophie und angrenzender Gebiete, Berlin, 2., völlig überarbeitete uns erweiterte Aufl. 2011, 2972–2974. 62 Zu seiner Biografie vgl. M. Gerwing, Art. O.(doardus) von Cambrai, in: LMA 9 (1999), 1358. 63 Der Dialog ist ediert in: Patrologia Latina (= PL) 160, Sp. 1103–1112; ohne Spaltenangaben leicht greifbar in W. Bunte, Religionsgespräche zwischen Christen und Juden in den Niederlanden (1100–1500), Frankfurt a.M. u.a. 1990, 18–49 (mit deutscher Übersetzung); eine englische Übertragung liegt vor in: I.M. Resnick (ed.), Odo of Tournai. On Original Sin and a Disputation with the Jew Leo, Concerning the Advent of Christ, the Son of God, Philadelphia 1994, 85–97; eine Neuausgabe wird derzeit von Johannes Groß, Bochum, vorbereitet. 64 Vgl. Odo, Disputatio (ed. PL, 1103; Bunte 18): contra Iudeum quemdam fueram exsecutus.

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deln kann65. Dennoch scheint vereinzelt dessen Position durch, weswegen der Dialog kurz dargestellt werden soll. Gleichwohl sei vorweggenommen, dass in der vorliegenden Form eine explizite Schriftauslegung in den Hintergrund tritt66. Der Dialog wird von dem Juden Leo mit der provokativen Frage nach dem Nutzen (utilitas) der Ankunft Christi eröffnet67, die mit der Gegenfrage nach dem Nutzen des jüdischen Messias beantwortet wird. In einem kurzen Summarium werden die biblisch-profetischen Charakteristiken des Messias (Allherrschaft, ewiger Frieden, Sammlung der Völker in Jerusalem) benannt und die Nichterfülltheit dieser Beschreibung in Jesus Christus festgestellt. Dagegen stellt der Christ, dass die Erwartung der Christen an Christus das himmlische Glück (felicitas ... celestis) sei, während die Juden nur auf irdisches Glück aus seien68. Das verneint Leo mit dem Hinweis, dass das mosaische Gesetz Sündenvergebung impliziere, wie sie beispielsweise durch den Profeten Natan auch gegenüber David ausgesprochen wurde (2Sam 12,13). Dem Christen reicht diese Art der Sündenvergebung nicht aus, weil sie die rectitudo iustitie (»Richtigkeit (oder: »rechte Ordnung«) der Gerechtigkeit«) nicht ausreichend (satis) beachte – es fehle die Erhebung zur gloria (»Herrlichkeit«)69. Das sei auch an David sichtbar, der zwar seinem Sohn Abschalom vergeben habe, ihn aber danach nicht mehr sehen wollte (vgl. 2Sam 14). Über die Sündenvergebung hinaus bedürfe es nämlich auch der satisfactio, die durch Christus gegeben sei70. Es schließt sich eine ausführliche Diskussion von Möglichkeiten der Sündenvergebung, der Definition von Sünde – die kleinste Sünde wird mit brevis cogitatio vana (»kurzer eitler Gedanke«) bezeichnet71 –, der Gestaltung des Himmelreichs bzw. himmlischen Jerusalems und der Jungfrauengeburt an, die weitgehend ohne Schriftbezug auskommt. Eine Ausnahme stellt die fol65 Darauf deutet auch der Schlusssatz der Abhandlung (ed. PL, 1112; Bunte 48) hin: Has, frater Acarde, Iudeo reddidi rationes de adventu Christi, cogentibus me quedam subtilius disputare quibusdam Catholicis qui interant pro Iudei parte. 66 Zu dem Dialog vgl. A. Sapir Abulafia, Twelfth-Century Humanism and the Jews, in: O. Limor / G.G. Stroumsa (ed.), Contra Iudaeos. Ancient and Medieval Polemics Between Christians and Jews, Tübingen 1996, 161–175, hier 163–166; I.M. Resnick, Odo of Tournai and the Dehumanization of Medieval Jews: A Reexamination, in: Jewish Quarterly Review 98 (2008), 471–484, die beide Vorbehalte gegenüber der Authentizität der Argumente Leos äußern. 67 Vgl. Odo, Disputatio (ed. PL, 1103; Bunte 18). 68 Vgl. Odo, Disputatio (ed. PL, 1103; Bunte 20). 69 Odo, Disputatio (ed. PL, 1104; Bunte 20). 70 Vgl. Odo, Disputatio (ed. PL, 1104; Bunte 20); hier und im Folgenden wird die in der Literatur häufig betonte Nähe zu Anselm von Canterbury greifbar; vgl. zuletzt A.J. Novikoff, The Medieval Culture of Disputation. Pedagogy, Practice, and Performance, Philadelphia 2013, bes. 179f. 71 Odo, Disputatio (ed. PL, 1105; Bunte 24).

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gende, eingefügte Bibelauslegung in der Begründung des Christen für die Zweinaturenlehre dar: Ideo nostras miserias suas facit, peccata nostra sibi ascribit, sermones nostros in suam personam transfert in Psalmis et prophetis, ut ibi: Deus, Deus meus, quare me delinquisti? Longe a salute mea, verba delictorum meorum (Psal. xxi), cum in persona sua nec a Deo derelictus erat, nec illa delicta habebat, sed quia nos reputat in se, hoc quod nos habemus dicit de se. Zu diesem Zwecke macht er unsere Mühsale zu den seinen, schreibt unsere Sünden sich zu, überträgt unser Sprechen auf seine Person in den Psalmen und Propheten, wie an dieser Stelle: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Weil von meinem Heil ist [sic!] die Sache mit meiner Sündenschuld (Ps 21,2 Vulgata) zu einem Zeitpunkt, wo er in seiner Person weder von Gott verlassen war noch die genannte Sündenschuld besaß; aber weil er uns auf sich anrechnet, sagt er das, was wir nicht haben, von sich72.

Diese Auslegung bleibt durch den Juden unhinterfragt. Den Abschluss des Dialogs bildet die Feststellung des Juden Leo, dass er zwar viel Neues gelernt habe, er aber nicht wagen könne, sich auf eine derartige Interpretation einzulassen: Quia veritatem rei nostre non audeo committere verbis vestris73. Zusammenfassend ist für Odo und seinen Dialog festzuhalten, dass bei ihm die Grenze zur Schriftauslegung durch logisch-rationale Argumentation überschritten wird, während der von ihm eingeführte Jude diese Argumentationsebene noch nicht erreicht hat. Gleichwohl konzidiert Odo, dass auch im mosaischen Recht eine Sündenvergebung angelegt ist, die jedoch ohne Anerkennung des Werkes Christi keine Satisfaktion hinsichtlich einer himmlischen Herrlichkeit gewährleisten könne. Die Schrift selbst spielt, wenn überhaupt, nur noch eine dokumentarische Rolle, ein Streit um ihre Geltung unterbleibt aber – darin unterscheidet sich Odo von seinen zeitgenössischen Dialogführenden. 3.

Rupert von Deutz, Anulus sive dialogus inter christianum et iudeum

Einen sehr eigentümlichen und möglicherweise durch die Rückschau des Gesprächspartners verifizierten74 Bericht über einen Dialog zwi72 Odo, Disputatio (ed. PL, 1108; Bunte 34); Übersetzung: Bunte, 35 (sämtliche Hervorhebungen bei Bunte unterstrichen). 73 Odo, Disputatio (ed. PL, 1112; Bunte 48). 74 Es ist in der Forschung umstritten, ob der Bericht Hermanns von Cappenberg über die eigene Konversion auf die berichtete Disputation mit Rupert zurückgeht; vgl. F. Rädle, Wie ein Kölner Jude im 12. Jahrhundert zum Christen wurde. Hermannus

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schen einem Juden und einem Christen verfasste der Benediktinerabt Rupert von Deutz (ca. 1070 – 4. März 1129)75 in seinen letzten Lebensjahren (1125–1127 oder 1129?). In drei Büchern gibt er in seiner mit Anulus (»Ring«) betitelten Schrift einen Bericht von einem Dialog mit einem Juden. Die Darstellung des Dialogs ist langatmig und wirkt sehr stereotyp, enthält aber dennoch einige hervorhebenswerte Momente76. Im Folgenden soll das Schwergewicht der Darstellung auf dem dritten Buch liegen. Nach der Selbstvorstellung der beiden Gesprächspartner zu Beginn von Buch I wird insbesondere die Frage »Beschneidung oder Taufe« entfaltet. Für den Christen ist dabei selbstverständlich, dass der Messias Jesus Christus durch die Beschneidung zum Segen aller Völker (omnes gentes77) wird. Das Substitut der Taufe dient entsprechend der Sündenvergebung78. Der Erlöser sei bereits im Buch des Profeten Sacharja (Sach 9,11) angekündigt79, was der Jude zunächst bestreitet. Deswegen wird im II. Buch entsprechend der Glaube im Gegensatz zum Gesetz thematisiert. Zu diesem Zweck wird die Person Abrahams zum Gegenstand des Gesprächs. Die Verheißung Abrahams kam jedoch erst in Jesus Christus zur Erfüllung80, war dann aber die Erfüllung der Verheißung aus Gen 49,10. Der (noch immer ungläubige) Jude bringt nach der – erfolglosen – Frage nach Geboten und Opfern schließlich den Schabbat ins Spiel, der von den Christen falsch bzw. nicht geheiligt werde. Das versucht der Christ dadurch zu widerlegen, dass wie auch andere Verheißungen der Schabbat als geistlich erfüllt betrachtet werden müsse. Buch III eröffnet Ruperts Christ mit der Feststellung, dass carnalia legis sacrificia non iussa / sed permissa, non postulata fuere sed ab hominibus ultro illata.

quondam Iudaeus De conversione sua, in: Fr. Niewöhner / F. Rädle (Hg.), Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit, Hildesheim u.a. 1999, 9–24. – Zum Verhältnis von Rupert zu Hermann vgl. auch A. Sapir Abulafia, The Ideology of Reform and Changing Ideas concerning Jews in the Works of Rupert of Deutz and Hermannus Quondam Iudeus, in: Jewish History 7,1 (1993), 43–63. 75 Zu Ruperts Biografie vgl. M.L. Arduini, Rupert von Deutz (1076–1129) und der »Status christianitatis« seiner Zeit. Symbolisch-prophetische Deutung der Geschichte, Köln u.a. 1987, 23–101. 76 Der Text wurde ediert von Rhabanus Haacke, in: M.L. Arduini, Ruperto di Deutz e la controversia tra Cristiani ed Ebrei nel secolo XII con testo critico dell’Anulus seu dialogus inter Christianum et Iudaeum, Rom 1979, 183–242; er ist auch ohne kritischen Apparat und mit einer deutschen Übersetzung zugänglich in Bunte, Religionsgespräche, 104–247. 77 Rupert, Anulus I (ed. Haacke, 189; Bunte 118). 78 Vgl. Rupert, Anulus I (ed. Haacke, 193; vgl. 203; Bunte 128; vgl. 154). 79 Vgl. Rupert, Anulus I (ed. Haacke, 196f; Bunte 136–138). 80 Vgl. Rupert, Anulus II (ed. Haacke, 213; Bunte 176).

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die fleischlichen Opfer des Gesetzes nicht befohlen, sondern erlaubt waren. Sie waren nicht gefordert, sondern von den Menschen aus freien Stücken dargebracht81.

Ergänzend fragt der Christ weiter nach dem ersten Opfer der Bibel, das vom Juden als das von Kain und Abel benannt wird. Der Christ verweist nun darauf, dass Abels Opfer eine Parallele in dem Opfer Melchisedeks aus Gen 14,18f habe, das seinerseits einen höheren Wert habe als Tieropfer (zu ergänzen wäre: des Tempelkults). Der Grund für gleichwelches Opfer (sacrificium) bzw. gleichwelche Gabe (munus) sei die Sünde im Paradies82. Allerdings seien alle blutigen Opfer nicht sündenvergebend, sondern allein das von Brot und Wein, das als erstes durch Melchisedek sichtbar gemacht wurde und in dessen Ordnung als Priester der ewige Priester stehe (vgl. Ps 110,4)83. Darauf folgt eine christologische Auslegung aller Verse des 110. Psalms: V. 4 wird auf das Kreuzesgeschehen übertragen; V. 7 verknüpfe das Leiden mit der Himmelfahrt; V. 1 beschreibe die Herrschaft Gottes, die ihren Ausgang in Jerusalem nehme, von wo aus das Zepter (V. 2) ausgestreckt werde; V. 3 verweise auf die Herrschaft über Lebende und Tote, V. 5f auf das Gericht84. Dieser Auslegung begegnet der Jude mit dem schon bei Crispin gehörten Vorwurf der Beliebigkeit85. Dagegen stellt der Christ, dass diese Auslegung schon in der Vision von Ezechiel (Ez 1,16) angedeutet sei, weil die ineinander stehenden Räder auf das Evangelium verwiesen, womit zugleich das Priestertum nach Melchisedek und die sündenvergebende Kraft des Abendmahls beschrieben seien. Der Jude seinerseits wendet nun ein, dass nach Lev 4,26 auch der Priester im Tempel Sünden vergeben könne86. Für den Christen ist die Erwiderung einfach: Der alte Vertrag (pactum) gelte nicht mehr, sondern die Verheißung aus Jer 31,31–33 sei an dessen Stelle getreten87. Das wiederum kann der Jude nicht gelten lassen und fragt nach einer Begründung. Die bestehe, so der Christ, in der Bedingtheit aller alttestamentlichen Bestimmungen: quoniam conditionaliter dictae sunt88. Der Jude seinerseits beharrt auf dem Wortlaut der angeführten Leviticus-Stelle, dass der Priester vergebend wirken könne und weist den Anspruch einer sündenbefreienden Aneignung des Priestertums Melchisedeks zurück89. Dagegen stellt der Christ drei Formen von Vergebung: die einfache Sündenvergebung, die 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 224; Bunte 202); Übertragung: Bunte, 203. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 225; Bunte 204). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 226; Bunte 206). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 226f; Bunte 206–210). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 227; Bunte 210). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 229; Bunte 214). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 229f; Bunte 214–216). Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 230; Bunte 216). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 231; Bunte 218).

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große Sündenvergebung, die zur gloria eterna führe, sowie diejenige zur Erlösung der Seele im Totenreich90. Für den Juden ist eine derartige Verehrung Christi nichts anderes als ein Fortführen des Götzenkultes. Wie schon bei Gilbert Crispin, aber mit Bezug auf weitere Textstellen, wird dieser Vorwurf vom Christen zurück auf Mose gelenkt, der Cherubim anfertigen (Ex 25,18–20) und die eherne Schlange errichten (Num 21,8f) ließ, die Aaron jedoch verbergen sollte. Das Bilderverbot nach Dtn 4,15f sei jedoch von Mose in Unkenntnis der Menschwerdung erlassen, von der ja seinerseits Bar 3,38 berichte. Wegen der Menschwerdung Gottes jedoch könne auch ein Bild Jesu angefertigt und angebetet werden, weil es wie die eherne Schlange nicht auf diese, sondern auf Gott selbst verweise, der seinerseits ja unsichtbar sei91. Für den Juden liegt in dieser Darstellung ein Zwei-Gott-Kult vor, der gegen Dtn 6,4 verstoße. Der angebetete Christus sei als nichts anderes als ein Götze92. Diesen Vorwurf wiederum kann der Christ nicht gelten lassen und stellt dagegen, dass er nicht simulacra gentium (»Schattenbilder der Heiden«) sondern das veritatis signum (»das Zeichen der Wahrheit«) verehre93. Es folgen nun mehrere Reden und Gegenreden zur Bilderverehrung, die hier jedoch übergangen werden können. Wichtiger scheint zu sein, dass gegen Ende des Dialogs die Rede auf Speisevorschriften kommt, die der Christ mit Verweis auf Ez 20,21–25 als schlechte Gebote (praecepta non bona) ansieht94. Den Einwurf des Juden, dass er dann Hundefleisch oder Frosch (rana) oder Kröte (rubeta) essen könne95, weist er als der ratio widersprechend zurück96. Außerdem hätten die Väter (patres) das Aposteldekret (Apg 15,28f) erlassen, was derartige Speisen verbiete97. Da dem Juden diese Väter anders als der Mose der Schrift unbekannt sind, stellt der Christ zum Abschluss des Dialogs diese Väter als von gleicher Art wie die ungebildet berufenen Profeten dar, und der Jude wird zur Konversion aufgefordert, die jedoch nicht erfolgt98. Soweit der Dialog. Es wird deutlich, dass erneut (wie bei Gilbert Crispin) im Zentrum der Argumentation die Frage nach literaler im Gegensatz zur spirituellen Schriftauslegung steht. Zwar werden dabei eine Reihe gleicher Texte bemüht, aber das eigentliche Zentrum ist die christologische Interpretation von Ps 110. Rupert liest aus diesem Psalm die 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 232; Bunte 220). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 234f; Bunte 226–228). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 236; Bunte 230). Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 236; Bunte 230). Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 240; Bunte 240). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 240; Bunte 240). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 240; Bunte 242). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 240f; Bunte 242). Vgl. Rupert, Anulus III (ed. Haacke, 241f; Bunte 242–246).

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gesamte Heilsgeschichte vom Sündenfall bis zum Weltgericht. Anders als für andere Bibelstellen wird hierauf keine substantielle Erwiderung wiedergegeben99. Das Gespräch endet ohne Konsens oder Ergebnis, sondern bleibt bei der einseitigen Wahrheitsbehauptung stehen. 4.

Die Disputationen des 13. Jahrhunderts

Bei den bisherigen Beispielen handelte es sich immer um Berichte von eher zufälligen Begegnungen, in denen zwei oder drei Personen über ihre Glaubensweisen disputiert hatten. Ein Wechsel, der sich bereits mit Petrus Alfonsis (Selbst-)Dialog angedeutet hatte100, wird ab dem 13. Jahrhundert zu einem neuen Paradigma der Gespräche: Disputationen um Fragen des jüdischen und christlichen Glaubens hatten nicht länger nur die rechte Auslegung biblischer Texte im Blick, sondern wurden begleitet von einem Einbezug des und einer Kritik am Talmud. Die Disputationen fanden nicht länger im privaten Bereich statt, sondern es waren Disputationen unter Zwang und in aller Öffentlichkeit. Hier sind insbesondere die folgenden drei Disputationstypen zu nennen: zum einen die Disputation von Paris 1240, die – mittelbar – mit einer öffentlichen Verbrennung jüdischer Schriften endete, zum anderen die Disputationen von Paulus Christianus (auch: Pau Cristiá), deren bekannteste die von Barcelona 1263 ist und in der es allem Anschein nach zu keinem »Sieg« einer Seite kam, und schließlich die sich über einen Zeitraum von nahezu zwei Jahren erstreckende, an einen Prozess erinnernde Zwangsdisputation in Tortosa (1413/4), die wir hier jedoch übergehen müssen, weil sie einerseits zu umfangreich, andererseits zu wenig ergiebig für unsere Fragestellung ist. Während es bei der Pariser Talmuddisputation nicht um Fragen der Bibelauslegung, sondern ausschließlich um die Autorität des Talmud ging101, haben die sie begleitenden Übersetzungen durchaus auch etwas 99 Hier ist allerdings darauf hinzuweisen, dass in der zeitgenössischen jüdischen Exegese wie z.B. Midrasch Tehillim (MidTeh) eine derartige Interpretation durch Verschweigen übergangen wird. 100 Vgl. dazu oben bei Anm. 17. 101 Zu den Prozessen vgl. zusammenfassend G. Dahan (ed.), Le brûlement du Talmud à Paris 1242–1244, Paris 1999, sowie J. Galinsky, The Different Versions of the “Talmud Trial” of Paris in 1240, in: E. Carlebach / J.J. Schacter (ed.), New Perspectives on Jewish-Christian Relations: In Honor of David Berger, Leiden 2012, 109–140; The Trial of the Talmud: Paris, 1240. Hebrew Texts translated by J. Friedman. Latin Texts translated by J.C. Hoff, Historical Essay by R. Chazan, Toronto 2012 (vgl. jedoch dazu meine Besprechung in: Journal of Transcultural Medieaval Studies [= JTMS] 1 [2014 ], 334–336); U. Cecini / E. Vernet i Pons (ed.), Studies on the Latin Talmud, Bellaterra 2017; sowie demnächst A. Fidora / G.K. Hasselhoff (ed.), The Talmud in Dispute in the High Middle Ages, Turnhout (in Vorbereitung).

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mit dem Streit um die Schrift zu tun. Um die Irrtümer des Talmud zu belegen, wurde von einer nur schwer greifbaren Gruppe von Übersetzern, zu der zum einen der Konvertit Nikolaus Donin aus La Rochelle gehörte, der mit seiner Denunziation des Talmuds bei Papst Gregor IX. die Vorgänge in Gang setzte, die in der Verbrennung des Talmud kulminierte102 , zum anderen möglicherweise der Prior des Pariser Dominikanerkonvents, Theobaldus de Saxonia, i.e. Thibaud de Sézanne103, sowie ein oder mehrere Übersetzer, die jedoch anonym blieben, gehörten, die eine Auswahl aus dem Talmud in insgesamt drei verschiedenen Versionen vorlegten104. Im Schatten dieser »großen« Talmudübertragungen wurden jedoch auch einige Exzerpte aus Rashis Bibelkommentaren in die lateinische Sprache übertragen105. In einer der mittelalterlichen Handschriften sind in den Marginalien die Kommentare des Übersetzers oder eines Benutzers des Archetyps der Handschriftentradition notiert106 und bezeichnen Rashis Auslegungen u.a. als error (»Irrtum«) und stultitia (»Dummheit«)107. Sieht man von der Polemik ab, so bleibt festzuhalten, dass die Übertragungen aus Rashis Kommentaren gelesen wur102 Auch wenn C. Sirat, Les manuscrits du Talmud en France du Nord au XIIIe siècle, in: Dahan (ed.), Le brûlement du Talmud, 121–139, v.a. 127, überzeugend dargelegt hat, dass weniger als zehn Talmudexemplare überhaupt verbrannt worden sein können, hält sich hartnäckig die legendarische Zahl von 24 Wagenladungen, die spätestens im Jahr 1242 verbrannt sein sollen. 103 Zu Thibaud vgl. grundlegend G. Dahan, Les traductions latines de Thibaud de Sézanne, in: ders. (ed.), Le brûlement du Talmud, 95–120. 104 Die Talmudübertragungen werden derzeit im Rahmen des ERC-Projekts »The Latin Talmud« in Barcelona von Óscar de la Cruz und Ulisse Ceccini für den Druck im Corpus Christianorum vorbereitet. Vgl. dazu insbesondere A. Fidora, The Latin Talmud and Its Influence on Christian-Jewish Polemic, in: JTMS 1 (2014), 337–342; ders., The Latin Talmud and its Translators: Thibaud de Sézanne vs. Nicholas Donin?, in: Henoch 37 (2015), 17–28; ders., Textual Rearrangement and Thwarted Intentions. The Two Versions of the Latin Talmud, in: JTMS 2 (2015), 63–78. – Übersetzt wurden aus den folgenden Traktaten des Babylonischen Talmud z.T. recht umfangreiche Auszüge: Berakhot, Shabbat, Bava Qamma, Bava Metsia, Bava Batra, Sanhedrin, Makkot, Shevuot, Avoda zara, sowie summarisch aus den Ordnungen Moed, Nashim (unter Einschluss des Traktates Nidda aus der VI. Ordnung Teharot und dem nebentalmudischen Sefer Kallah) und Qodashim. 105 Die Exzerpte sind in mehreren Einzeleditionen durch Gilbert Dahan und mich zwischen 1978 und 2017 ediert worden; eine zusammenfassende Ausgabe mit englischer Übersetzung in der Reihe »Context and Transmission« (Brepols) ist in Vorbereitung. Für bibliografische Angaben zu den Einzelausgaben vgl. G.K. Hasselhoff, Rashi’s Glosses on Isaiah in Bibliothèque nationale de France, MS 16,558, in: Cecini / Vernet i Pons (ed.), Studies on the Latin Talmud, 111–128. 106 In der mutmaßlich ältesten Handschrift aus Paris (Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 16.558) finden sich die meisten Annotationen, aber auch die einer anderen stemmatischen Tradition zugehörigen Handschriften aus Girona, Arxiu Capitular, lat. 19b, und Carpentras, Bibliothèque Inguimbertine, lat. 153, werden vereinzelte Marginalien überliefert. 107 Für Nachweise vgl. die in Anm. 105 genannten Editionen.

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den, wenngleich sich Spuren dieser Übertragung in der christlichen exegetischen Literatur der Folgejahre bislang nicht nachweisen ließen. In der kurzzeitig tätigen Pariser »Übersetzerschule«108 wurden in der Folgezeit möglicherweise noch weitere jüdische exegetische und weitere Texte übertragen. Hier ist zum einen eine fast vollständige Übertragung von Rashis Hoheliedkommentar zu nennen, die anonym tradiert wurde109, zum anderen die Übertragung von Moses Maimonides’ enzyklopädischen Werks »Führer der Unschlüssigen«, das nach Meinung eines Teils heutiger Interpreten als eine großangelegte jüdische Bibelhermeneutik zu lesen ist110. Die Übersetzung, die möglicherweise durch Albertus Magnus (ca. 1200–1280) initiiert wurde – zumindest war er einer ihrer ersten Leser – diente neben der Lösung philosophischer Fragen insbesondere auch der Etablierung einer »neuen« christlichen Bibelhermeneutik, wie sie sich bei den Dominikanertheologen Thomas von Aquino (1224/5–1274) und Meister Eckhart (1260–1329) findet. Es lässt sich also durchaus sagen, dass es im Zuge der ersten Pariser Talmuddisputation nicht nur zu einem nahezu ohne Gesprächspartner durchgeführten Streit um die Bibelauslegung kam, sondern auch zu einer Aneignung jüdischer exegetischer Methoden und Praktiken durch einflussreiche Theologen aus der Tradition des Dominikanerordens. Eine andere Rolle spielten Dominikaner aus dem Konvent in Barcelona im Rahmen der Disputationen des Konvertiten Paulus Christianus (Pau Cristiá)111. Die bekannteste seiner Disputationen ist die vor dem katalanischen König Jaume (Jakob) I., die in Barcelona an vier Tagen ab dem 20. Juli 1263112 stattfand und zu der es zwei Berichte gibt, einen kurz gehaltenen Bericht in lateinischer Sprache113, sowie einen aus108 Für die Begrifflichkeit vgl. G.K. Hasselhoff, Lateinische Übertragungen jüdischer religiöser Texte im 13. Jahrhundert als Beitrag zu einer Friedenskultur? – Eine Skizze, in: A. von Scheliha / E. Goodman-Thau (Hg.), Zwischen Formation und Transformation. Die Religionen Europas auf dem Weg des Friedens, Göttingen 2011, 121–130. 109 Vgl. Secundum Salomonem: A Thirteenth Century Latin Commentary on the Song of Salomon, ed. with an Introduction by S. Kamin / A. Saltman, Ramat-Gan 1989. 110 Vgl. v.a. H.A. Davidson, Moses Maimonides. The Man and His Works, Oxford 2005; zu den lateinischen Übersetzungen vgl. Hasselhoff, Dicit Rabbi Moyses; dort auch die Nachweise für die im nächsten Satz genannten Theologen. 111 Zu dem wenigen Bekannten seiner Biografie vgl. J. Shatzmiller, La deuxième controverse de Paris: Un chapitre dans la polémique entre chrétiens et juifs au Moyen Age, Paris/Louvain 1994, 15–22; U. Ragacs, Die zweite Talmuddisputation von Paris 1269, Frankfurt a.M. u.a. 2001, 24–42. 112 Die übrigen Disputationstage waren der folgende Montag, sowie Donnerstag und Freitag derselben Woche (23., 26.–27. Juli). Ein Fortsetzung fand die Disputation am übernächsten Schabbat (4. August) in der Synagoge von Barcelona mit Predigten und Reden von Jaume I., Raimundus de Penyafort, Pablo Christiani und Nachmanides. 113 Die lateinischen Texte sind ediert von H. Denifle, Quellen zur Disputation Pablos Christiani mit Mose Nachmani zu Barcelona, in: Historisches Jahrbuch 8 (1887), 225–

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führlichen hebräischen Bericht (vikkuach) aus der Feder des hochangesehenen spanischen Kabbalisten und Rabbiners Moshe ben Nachman (Moses Nachmanides) Nachmanides114 , der die jüdische Seite in der Disputation vertrat. Nach dessen Bericht geht es an den vier Tagen im Wesentlichen um die Frage, ob der Messias in Jesus von Nazaret bereits gekommen sei oder nicht115. Der Christ bezieht für die Diskussion einen Großteil seines Argumentationsmaterials aus dem rabbinischen Schrifttum116 . Dennoch geht es in der Disputation dann auch um die unterschiedliche Auslegung von Bibeltexten. In der Diskussion des ersten Tages ist der erste herangezogene Text Gen 49,10. Da Israel, so Paulus Christianus, im Exil lebe – also kein »Zepter« (shevet) mehr habe –, sei das ein Beleg dafür, dass der Messias bereits gekommen sei117. Dagegen stellt Nachmanides, dass der eigentliche Sinn der Stelle sei, dass die Königsherrschaft Judas nicht dauerhaft verloren sei, sondern, wenn es einen König geben werde, dieser aus dem Stamm Juda komme. Es sei jedoch auch so, dass es schon vor Jesu Auftreten Zeiten ohne staatliche Souveränität gegeben habe118 . Paulus zieht seinerseits eine Auslegung aus bSanh 5a heran, um zu belegen, dass die Begriffe shevet und mechoqeq für die Exilarchen in Babylon und Palästina verwendet wurden. Da diese aber nicht mehr ordiniert würden, sei das ein Beleg für seine These119. Dieses Argument wird von Nachmanides 244 (Edition einzelner lateinischer Quellen mit einer polemischen, stark antijüdischen Einleitung); F.Y. Baer, The Disputations of R. Yehiel of Paris and of R. Moshe ben Nahman, in: Tarbiz 2 (1930/31), 172–187, hier 185–187 mit einer Neuedition des lateinischen Berichts. 114 Vgl. Nachmanidis disputatio publica pro fide Judaica (a. 1263) e Codd. MSS. recognita additâ ejusdem expositione in Jesaiam LIII., ed. M. Steinschneider, Berlin 1860 (hebr.); The Writings of Our Teacher Moshe ben Nahman, ed. by Ch.D. Chavel, Vol. I, Jerusalem 1963 (hebr.); die heute allgemein anerkannte Paragrafenzählung richtet sich nach der letztgenannten Edition; eine kommentierte deutsche Übersetzung liegt vor bei: H.-G. von Mutius, Die christlich-jüdische Zwangsdisputation zu Barcelona. Nach dem hebräischen Protokoll des Moses Nachmanides, Frankfurt a.M. / Bern 1982. – Ursula Ragacs, Wien, arbeitet seit längerem an einer Neuedition des Berichts. 115 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 6. 116 Für eine Analyse der Texte noch immer grundlegend Mutius, Die christlich-jüdische Zwangsdisputation; zur Frage des Messias vgl. auch G. Stemberger, Die Messiasfrage in den christlich-jüdischen Disputationen des Mittelalters, in: JBTh 8 (1993), 239– 250, sowie die detaillierten Untersuchungen von J. Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval Anti-Judaism, Ithaca 1982; ders., Living Letters of the Law. Ideas of the Jew in Medieval Christianity, Berkeley et al. 1999, und R. Chazan, Daggers of Faith: Thirteenth-Century Christian Missionizing and Jewish Response, Berkeley et al. 1989; ders., Barcelona and Beyond: The Disputation of 1263 and Its Aftermath, Berkeley et al. 1992. 117 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 11. 118 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 12. 119 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 13.

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mit einem erneuten Verweis auf die andauernde Möglichkeit der Königswürde Judas zurückgewiesen120 . Nachdem sich in den Gang der Disputation der Frater Pere de Genova eingemischt hatte, fährt Nachmanides fort, Belege für die andauernde Möglichkeit der Königsherrschaft Judas aus Gen 49,8, 1Chr 5,2 und 1Kön 12,20 zu geben121. Der nachfolgende Disput über eine Aggada kann im Blick auf unsere Fragestellung übergangen werden, weil die Diskussion sich nicht um die Auslegung einer Bibelstelle dreht122. Im dritten Redegang des ersten Tages geht es um die Frage der Auslegung von Jes 52,13–15. Paulus bezieht diese Perikope auf den Messias123 , Nachmanides dagegen ganz auf Israel124 . Daraufhin hält ihm Paulus in allgemeiner Form die rabbinische Tradition vor, die den Text auf den Messias beziehe125 . Das sei zwar richtig, so Nachmanides, aber nach der Tradition würde der Messias aus der Nachkommenschaft Davids (»Meshiach ben David«) anders als Jesus auch nicht getötet. In einem weiteren Gang wird erneut über eine aggadische Passage aus bSanh 98a diskutiert, die keine bibelexegetische Relevanz hat und an deren Ende die Disputation vertagt wird. Der zweite Tag wird mit einem Vier-Augen-Gespräch zwischen Nachmanides und dem König eröffnet, in dem der Jude eine weitere Erläuterung der angeführten Aggada aus bSanh 98a gibt. In der Öffentlichkeit wird die Disputation zur Frage der Möglichkeit der Tilgung der »Erbsünde« fortgesetzt. Die in Gen 3,16–19 genannten Strafen seien für die Menschen noch immer gültig, so Nachmanides, also könnten sie durch Jesus als Messias nicht aufgehoben sein, und von der Hölle fänden sich auch keine Aussagen126 . Auf den nachfolgenden, nicht auf das Gesagte bezogenen Versuch, einen neuen Redegang einzuleiten, interveniert Nachmanides erneut beim König und stellt dar, dass der Messias keineswegs das Hauptthema des Judentums sei127 . Auf die erneute Frage des Christen, ob Nachmanides glaube, dass der Messias bereits gekommen sei, verneint dieser und bringt Belege aus Jer 31,33 und Jes 2,4 und stellt dar, dass die dort beschriebene messianische Zeit nicht angebrochen sei128 , sondern im Gegenteil das Christentum viel 120 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 14. 121 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 18. 122 Vgl. zu dieser Stelle U. Ragacs, Reconstructing Medieval Jewish-Christian Disputations, in: R. Szpiech (ed.), Medieval Exegesis and Religious Difference. Commentary, Conflict, and Community in the Premodern Mediterranean, New York 2015, 100–112. 241–246. 123 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 25. 124 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 26. 125 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 27. 126 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 45. 127 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 47. 128 Es fällt auf, dass die Argumentation in dieser Passage mit der bei Gilbert Crispin berichteten inhaltlich übereinstimmt; vgl. oben bei Anm. 30.

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Unheil gebracht habe. Auch andere messianische Erwartungen seien nicht erfüllt129. Die lange Rede des Nachmanides mündet darin, dass diesem zunächst ein Redeverbot erteilt wird130. Daraufhin zitiert Paulus einen Text aus dem Midrasch Tanchuma (Tan), in dem Jes 52,13 dahingehend ausgelegt wird, dass der Gottesknecht als erhabener als sogar die Dienstengel bezeichnet werde131. Auch hier verweist Nachmanides darauf, dass dieses auch für Israel gelte132 . In einem weiteren Redegang bringt der Christ Dan 7,24 an und bezieht die 70 Wochen auf die Zeit von Exil und Zweitem Tempel, das Allerheiligste dagegen auf Jesus133 . Das scheitere jedoch an der Chronologie, so darauf der Jude, denn Jesus starb vor der Zerstörung des Tempels134 . Auch das Heranziehen von Dan 9,25 durch Paulus ändere nichts an dieser Tatsache; mehr noch, so Nachmanides, der hier genannte Messiasfürst sei Serubabbel135. Das ergebe sich aus Dan 12,11f136 . Die sich anschließende Diskussion um die Bedeutung von yom (»Tag«) kann hier ebenso übergangen werden wie die Diskussion um eine Aggada, derzufolge der Messias das Paradies betreten habe, mit der der zweite Disputationstag zu Ende geht, weil erneut kein Streit um die Auslegung von Bibeltexten geführt wird. Am dritten Tag der Disputation verrennt sich Paulus darin, einen Maimonidestext zu finden, der so nicht existiert137. Zum Abschluss dieses Redegangs präsentiert Nachmanides eine Deutung von Dtn 30,1–7, derzufolge die dort beschriebenen Feinde die Christen und die Widersacher die Muslime seien138 . Der vierte Disputationstag wird mit dem erneuten Versuch des Nachmanides eröffnet, sich der Disputation entziehen zu können, was ihm jedoch verweigert wird. Stattdessen soll er auf die Frage antworten, ob der Messias vollkommener Mensch und wahrer Gott sei. Mit Verweis auf Jes 11,1 und Gen 49,10 betont Nachmanides daraufhin den Widerspruch, dass Jesus nicht Gottessohn und zugleich Davidssohn sein könne, da er hinsichtlich der Königsherrschaft über die Mutter nicht erbberechtigt sei, weil es genügend patrilineare Nachkommen Davids 129 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 49. 130 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 51. 131 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 52. 132 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 53. 133 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 56. – Zu diesem Redegang vgl. auch R. Chazan, Daniel 9:24–27: Exegesis and Polemics, in: Limor / Stroumsa (ed.), Contra Iudaeos, 143–159, hier 152–159. 134 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 57. 135 Vgl. Nachmanides, Vikkuach §§ 58f. 136 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 61. 137 Für eine ausführlichere Interpretation dieses Geschehens vgl. Hasselhoff, Dicit Rabbi Moyses, 222–225. 138 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 78.

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gebe139. Für den weiteren Verlauf des letzten Disputationstags zeichnet Nachmanides im Anschluss noch Auseinandersetzungen über drei weitere messianisch interpretierbare Textstellen auf, für die die Argumentation nach einem analogen Schema zu den bisherigen Diskussionen verläuft. Zunächst erbittet Paulus eine Interpretation von Ps 110,1, weil dieser Satz kaum zu David gesprochen sein könne. Nachmanides dagegen verweist auf den Kontext und legt den Vers auf David im Tempel aus140. Lev 26,12 sei ebenfalls nicht messianisch zu deuten, sondern verweise auf das zukünftige Wandeln der observanten Juden im Garten Eden141 . Das Schweben des Geistes über den Schöpfungswassern schließlich verweise auf den Geist der Buße, die der Messias nach dem Ende der irdischen Reiche veranlassen werde142 . In der Forschung bleibt umstritten, wie der Ausgang der Disputation zu Barcelona zu bewerten ist. Wie schon die beiden mittelalterlichen Berichte reklamieren auch in der Neuzeit beide Seiten den »Sieg« für sich. Die in der Folge angeordneten Zwangsmaßnahmen (Konfiskation und Zerstörung jüdischer Schriften) der dominikanischen Inquisition lassen jedoch den Schluss zu, dass die Dominikaner sich nicht zuletzt durch die »Niederlage« Pablo Christianis am dritten Tag sowie der versammelten Inquisition samt König am Morgen des 4. August in der Synagoge nicht als der eigentliche Sieger fühlen konnten. In der Folge der Disputation verlagerte sich die Auseinandersetzung mit dem Judentum (auch) in den akademischen Bereich. Hier ist an erster Stelle das umfangreiche Oeuvre des Raimundus Martini (Ramon Martí) zu nennen, der eine große Anzahl inkriminierter hebräischer Texte in sein Werk Pugio fidei übernahm und in mehreren Anläufen neu deutete143. Unbeschadet dessen zeigt der Bericht der Disputation aus jüdischer Feder, dass die Debatte sich auch weiterhin zumindest teilweise um die gleichen Texte und ähnliche Auslegungen drehte. Deutlich wird auch, dass hier von der jüdischen Seite die Applikation »messianisch« auf Jesus gedeuteter Texte mit unterschiedlichen, jeweils auf die Situation bezogenen Argumenten zurückgewiesen wird, wobei die Kernaussage ist, dass Jesus von Nazaret nicht der in die Texte hineingelesene Messias sein könne, weil zu viele mit den Texten verknüpfte Bedingungen an das Messias-Sein nicht erfüllt seien.

139 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 88. 140 Vgl. Nachmanides, Vikkuach §§ 89–96. 141 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 97f. 142 Vgl. Nachmanides, Vikkuach § 99f. 143 Dieses Werk wird derzeit von einem internationalen Forscherteam für die Neuedition nach Ramon Martís Autograf vorbereitet; vgl. dazu Raimundus Martini, Texte zur Gotteslehre; G.K. Hasselhoff / A. Fidora (ed.), Ramon Martí∞s Pugio fidei – Texts and Studies, Santa Coloma de Queralt 2017.

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5.

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Zusammenfassung und Ausblick

Auch wenn die beispielhaft dargestellten Dialoge möglicherweise eine recht schmale Basis darstellen und zudem überwiegend aus christlicher Feder stammen, dürften sie dennoch eine Tendenz der Exegese des 12. und 13. Jahrhunderts repräsentieren: Im 12. Jahrhundert war es noch möglich, dass Juden und Christen gemeinsam miteinander über die Auslegung biblischer Texte diskutierten. Das Gefälle zwischen den jeweiligen Disputanten dürfte den Verfassern und ihren Adressaten geschuldet sein; sowohl Gilbert Crispin als auch Odo von Cambrai bringen zugleich bleibende Differenzen zum Ausdruck und lassen Respekt hierfür erkennen. Lediglich Ruperts Dialog ist in der Tendenz anders, aber hier scheint die Form das Ergebnis – Konversion des Gegenübers, sollte tatsächlich eine Verbindung zur Konversion Herrmanns bestehen – vorwegzunehmen. Das häufig vorgebrachte Argument, dass, da die jeweiligen Juden nicht vom Standpunkt rabbinischer Lehre bzw. aus dem Talmud argumentieren, die Dialoge daher jeglicher historischer Grundlage entbehrten, scheint dabei nicht in den Blick zu nehmen, dass sich die Kenntnis des Talmud erst ab dem 11. Jahrhundert in kleinen Kreisen des europäischen Judentums verbreitete, und entsprechend erst ab der Mitte des 12. Jahrhunderts überhaupt von Christen wahrgenommen wurde bzw. wahrgenommen werden konnte144 . Durch die an die spätere Inquisition erinnernden Talmuddisputationen wurde das veränderte und sich verändernde Judentum Gegenstand christlicher Polemik. Dennoch fällt auf, dass auch jetzt noch die Frage nach der richtigen Schriftauslegung die Diskussion bestimmte. Schon zuvor diskutierte Bibeltexte wie Gen 49,10 gerieten dabei auf neue Weise in den Blick. Lediglich die Mittel der Auslegung hatten sich – zumindest in der polemischen Literatur dominikanischer Autoren – geändert. So verwundert es auf zweiten Blick nicht, dass ein Autor wie Raimundus Martini, der zu Beginn des dritten Drittels des 13. Jahrhunderts die Disputationen in seinen polemischen Werken fortführte, in erster Linie mit biblischen auctoritates argumentiert, die er dann mit einem umfassenden Arsenal rabbinischer Texte zu belegen versucht. Festzuhalten bleibt, dass die Auslegung alttestamentlicher Texte auf den »Messias« Jesus von Nazaret durch christliche Theologen im 12. und 13. Jahrhundert im Diskurs mit Juden der Zeit auf Ablehnung stieß. Die von diesen vorgebrachten Argumente, seien sie indirekt oder 144 Zu Schule von St. Viktor vgl. oben in der Einleitung vor Anm. 14. – Es fällt zudem auf, dass erst bei Petrus Venerabilis (ca. 1092/4–1156) überhaupt der Begriff »Talmud« in einem christlichen Text auftaucht; vgl. dazu R.F. Glei, Die Polemik des ‘Christlichen Abendlandes’ gegen Judentum und Islam, in: D. Ansorge (Hg.), Pluralistische Identität. Beobachtungen zu Herkunft und Zukunft Europas. Darmstadt 2016, 68–83.

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direkt vermittelt, lassen erkennen, dass es oftmals nicht um den »messianischen« Gehalt ging, sondern vielmehr um die konkrete Applikation. Gleichwohl sollte die von Nachmanides vorgebrachte Mahnung nicht vergessen sein, dass für das Judentum des 12. und 13. Jahrhunderts die Frage nach dem Kommen des Messias nicht die vordringlichste war145 . Abstract The article scrutinises religious dialogues between Christians and Jews from the eleventh to the thirteenth century. In the earlier dialogues the question of the correct understanding of scripture was in the focus of dispute. Against the common opinion the author holds that these reports might go back to real interfaith dialogues. With the appearance of the Talmud in Europe the tone and the Christian attitude towards Jews had changed. Now the disputations turned to accusations and new means of argumentation: Christian speakers employed the Talmud (and further Jewish writings) against the Jewish Bible interpretation.

*** Görge K. Hasselhoff, geb. 1971; Dr. theol., ist Privatdozent für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Fakultät 14 Humanwissenschaften und Theologie der TU Dortmund.

145 Der Artikel entstand während einer Gastprofessur im ERC-Projekt »The Latin Talmud« (FP7/2007–2013/ERC Grant Agreement n. 613694) an der UA Barcelona.

Kirchengeschichte

Ludger Schwienhorst-Schönberger

Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick

In allen Darstellungen der Geschichte der christlichen Bibelwissenschaft wird die moderne, neuzeitliche, gewöhnlich als »historisch-kritisch« bezeichnete Form der Schriftauslegung, die sich in allen maßgeblichen Richtungen der evangelischen wie der katholischen Theologie als exegetisches Standardmodell etabliert hat, deutlich von der patristischen und der darauf basierenden mittelalterlichen Schriftauslegung unterschieden. Bei aller inneren Pluralität der Modelle lässt sich zu Recht behaupten, dass es sich um zwei unterschiedliche Wissenschaftsparadigmen handelt. Wer eine Geschichte der Exegese schreibt, wird darüber hinaus weitere Differenzierungen vornehmen. Jede Epoche der Theologiegeschichte hat spezifische Formen der Schriftauslegung hervorgebracht. Diese standen und stehen in enger Wechselwirkung mit der Philosophie, der Philologie, der Kultur-, Geistes- und Sozialgeschichte ihrer jeweiligen Zeit. Es gibt inzwischen ausgezeichnete Darstellungen der Geschichte der Schriftauslegung1. Bei aller notwendigen Differenzierung ist die Unterscheidung zwischen den zwei eingangs genannten bibelhermeneutischen Modellen, das der Patristik und des Mittelalters auf der einen und das der Neuzeit auf der anderen Seite, nicht unbegründet. Auch in neueren überblicksartigen Darstellungen ist sie anzutreffen2. Sie findet ein Echo in einigen Reflexionen zur Bibelhermeneutik. So hat beispielsweise Joseph Ratzinger in einem seiner frühen Aufsätze die These aufgestellt, dass in der für die katholische Exegese wichtigen Dogmatischen Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils zwei Modelle der Schriftauslegung weitgehend unvermittelt nebeneinander stehen, die bei näherer Betrachtung allerdings »in ihrem Ursprung wie in ihrer Zielrichtung 1 H. de Lubac, Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture, 4 Vol. I,1; I,2; II,1; II,2 (Théologie 41; 42; 59), Paris 1959–1964; H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung. Bd. I–IV, München 1990–2001; C. Kannengiesser, Handbook of Patristic Exegesis, 2 Bde. (The Bible in Ancient Christianity 1), Leiden/Boston 2004; M. Sæbø (ed.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation (Vol. I–V), Göttingen 1996–2015; O. Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016. 2 So etwa auch bei F. Nüssel (Hg.), Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 105–177.

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einander durchaus gegenläufig sind.«3 Damit meint er die historischkritische Methode auf der einen und die »Auslegung von der Überlieferung, vom Glauben der Kirche her« auf der anderen Seite4. Ratzinger spricht von einem Antagonismus zweier Sichtweisen, der noch nicht wirklich überwunden sei5. Leonhard Hell und Karim Schelkens deuten die Bibelhermeneutik von Dei Verbum als den »Versuch einer wechselseitigen Verschränkung von einschränkungslos wissenschaftlicher Exegese und kirchlich gebundener Schriftauslegung« und konstatieren, dass die »Umsetzung« dieses Versuches »wohl zum Schwierigsten gehören« dürfte, »das das Konzil der Theologie aufgegeben hat«6. Einem lange Zeit verbreiteten Selbstverständnis der historisch-kritischen Exegese zufolge galt die patristische Exegese als wissenschaftlich weitgehend überholt. Diese Einschätzung wird inzwischen nicht mehr von allen Bibelwissenschaftlern geteilt. Aus der Mitte der zeitgenössischen Exegese selbst werden Stimmen laut, die mit guten Gründen für eine neue Sicht auf die sogenannte »vor-kritische« Tradition der christlichen Schriftauslegung plädieren. Als eine prominente Stimme sei die des evangelische Neutestamentlers Ulrich Luz angeführt. Er hat eine beeindruckende »Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments« vorgelegt, in der er für eine neue Wertschätzung der »Hermeneutik der 3 J. Ratzinger, Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theologie, ThQ 148 (1968), 257–282, hier 260. 4 Ebd., 260. Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle der Schriftauslegung in Dei Verbum?, in: J.-H. Tück (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg/Basel/Wien 22013, 517–529. 5 Als ein Beleg dafür sei auf den Katechismus der Katholischen Kirche verwiesen. Ausgabe: Catechismus Catholicae Ecclesiae, Città del Vaticano 1997. Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, München u.a. 2005. Im 3. Artikel des ersten Teils »Die Heilige Schrift« (Nr. 115–119) wird der mehrfache Schriftsinn kurz und präzise dargestellt. Dabei wird auch das bekannte Distichon des Augustinus von Dänemark zitiert (siehe dazu weiter unten). Im unmittelbaren Anschluss daran wird aus Dei Verbum 12 zitiert: »Aufgabe des Exegeten … ist es, nach diesen Regeln auf eine tieferes Verstehen und Erklären des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten …«. Im KKK 119 bezieht sich »nach diesen Regeln« eindeutig auf den vierfachen Schriftsinn, wie er im zitierten mittelalterlichen Merkvers zur Sprache kommt. In Dei Verbum 12 jedoch bezieht sich secundum has regulas auf ein weit umfassenderes Ensemble von exegetischen Regeln und Prinzipien, von denen zumindest einige als typisch für die historisch-kritische Exegese anzusehen sind. Von exegetischer Seite hat die Nichterwähnung der Methoden der modernen Bibelwissenschaft im Katechismus der Katholischen Kirche Verwunderung und Kritik ausgelöst. Auf der anderen Seite ist allerdings kritisch anzumerken, dass die weitgehende Nichtbeachtung der patristischen und mittelalterlichen Schriftauslegung mit ihrer Lehre vom vierfachen Schriftsinn in den Lehrbüchern moderner Bibelwissenschaft ebenso ein Problem darstellt. Es herrscht nach wie vor eine gewisse wechselseitige Sprachlosigkeit vor, die der theologischen Aufarbeitung bedarf. 6 L. Hell / K. Schelkens, Art. Vaticanum II. Dei Verbum (1965), in: Wischmeyer, Bibelhermeneutiken, 631.

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Väter« plädiert und die bisher dominierende negative Sicht geistlicher Schriftauslegung kritisiert: »Vor allem die protestantische, aber in einem hohen Maß auch die heutige katholische Bibelwissenschaft beschäftigt sich wenig mit den Kirchenvätern. Das ist nicht nur eine Folge des reformatorischen ›Sola Scriptura‹, sondern mehr noch eine Folge der historisch-kritischen Exegese, welche die Frage nach dem ursprünglichen Sinn eines Textes in den Mittelpunkt stellt und darum hinter die Interpretation der Kirchenväter zurückfragt. Man war stolz über die ›Fortschritte‹ in der Exegese, welche das, was die Kirchenväter zu sagen hatten, als ›vorkritisch‹, antiquiert und überholungsbedürftig erscheinen ließen. Zusätzlich belastend wirkt die Aufspaltung der Disziplinen: Niemand mehr ist imstande, sowohl die Bibel als auch ihre Auslegungsgeschichte zu überblicken. Erst in neuester Zeit zeichnet sich hier eine Trendwende ab. Die Verdrängung und Ausblendung der kirchlichen Tradition ist ein großer Verlust, insbesondere für die Hermeneutik. Auch die ökumenische Bedeutung der Kirchenväter ist groß, ganz besonders für das Gespräch mit der Orthodoxie. Verstehen wir das Studium der ›Wirkungsgeschichte‹ als eine ökumenische Aufgabe, welche uns auf das Gespräch mit Vertretern anderer Kirchen und anderer Auslegungstraditionen vorbereitet, so ist die Beschäftigung mit den Kirchenvätern unentbehrlich. Sie ist zudem eine Aufarbeitung unserer eigenen Verlustgeschichte.«7

Als hermeneutische Prinzipien, die aus der Kirchenväterexegese wieder zu gewinnen sind, nennt Luz »die Ganzheitlichkeit des Verstehens, die Einheit von Exegese und Applikation, die Offenheit des Sinns der Texte und die Verbindung von Bibelauslegung, Glauben und Kirche.«8

Der vorliegende Beitrag weiß sich dieser Option verbunden. Lange Zeit wurde die Sicht der modernen Exegese auf ihre Geschichte von der Idee des Fortschritts beherrscht, wie sie das Selbstverständnis der Naturwissenschaften prägt. So wie medizinische Behandlungsmethoden aus dem 14. Jahrhundert als überholt gelten und – sieht man von alternativen Heilungsmethoden einmal ab – in der modernen Medizin keine Rolle mehr spielen, so blieb auch die patristische und mittelalterliche Schriftauslegung in der konkreten exegetischen Arbeit weitgehend unberücksichtigt. Sie war höchstens ein Forschungsfeld für wenige Experten der Theologiegeschichte. Seit einigen Jahren deutet sich ein Wandel an. Nicht nur dahingehend, dass inzwischen weitere, zahlreiche Arbeiten zur Erforschung der Auslegungsgeschichte erschienen sind, sondern auch in 7 U. Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 467. 8 Ebd., 468.

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dem Sinne, dass der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte biblischer Texte mit größerer Offenheit und Wertschätzung entgegengetreten wird. Die Gründe dafür sind vielfältig und in anderen Zusammenhängen auch von meiner Seite verschiedentlich dargestellt worden9. Schaut man sich die konkrete Praxis zeitgenössischer Exegese allerdings näher an, so zeigt sich, dass von einer Integration hermeneutischer und methodologischer Einsichten patristischer und mittelalterlicher Schriftauslegung in das Standardrepertoire gegenwärtiger Exegese kaum die Rede sein kann. Zwar finden sich inzwischen in beinahe jedem Tagungsband, der ein biblisches Buch oder Thema behandelt, auch auslegungsgeschichtliche Beiträge; diese sind jedoch den exegetischen Beiträgen im eigentlichen Sinne gewöhnlich nachgeordnet. Ein ähnliches Bild zeigt sich in den exegetischen Methodenbüchern. Zwar wird heute niemand mehr sagen, dass »das Ziel jeder Exegese« darin bestehe, »einen Text auf Eindeutigkeit hin einzuengen«10, eine hermeneutisch reflektierte Integration der Prinzipien patristischer Schriftauslegung jedoch wird man – soweit mir bekannt – in den zeitgenössischen exegetischen Methodenbüchern vergeblich suchen. Das Stichwort Rezeptionsgeschichte begegnet in den neueren Methodenbüchern inzwischen durchgehend, die exegetischen Methodenschritte jedoch bleiben davon weitgehend unberührt. Der einzige mir bekannte exegetische Kommentar, bei dem die Auslegungsgeschichte integraler Bestandteil der Auslegung selbst ist, ist der vierte Band des Matthäuskommentars von Ulrich Luz. Wird in den meisten anderen Kommentaren der Reihe die Auslegungsgeschichte in der Regel in exemplarischer Auswahl am Ende nach der »richtigen« Auslegung präsentiert und zum Teil auch bewertet, so ist es im Matthäuskommentar von Luz gewöhnlich umgekehrt. Besonders gilt dies für den vierten Band. Vor allem hier entwickelt der Autor seine Auslegung nicht selten von Beginn an im Gespräch mit der Auslegungsgeschichte. Die patristischen und mittelalterlichen Theologen, die immer auch zugleich Exegeten waren, werden ebenso ernst genommen wie die modernen Autoren. Den darin sichtbar werdenden Mentalitätswechsel hat Luz im Vorwort des genannten Bandes ausdrücklich hervorgehoben: »Meine Grunderfahrung in der Beschäftigung mit der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Passionstexte war, dass es hier Schätze von Erfahrungen mit den biblischen Texten zu heben gilt, die für uns wieder wichtig werden könnten. Dabei war mir besonders wichtig, scheinbar Fremdes und längst Überwundenes ernst zu nehmen. Dazu gehört für mich als modernen Exegeten z.B. die allegorische Auslegung der biblischen Texte oder für mich 9 L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses. Zur Bedeutung der Kirchenväterhermeneutik, ThGl 101 (2011), 402–425. 10 G. Fohrer / H.W. Hoffmann / F. Huber / L. Markert / G. Wanke, Exegese des Alten Testaments. Einführung in die Methodik (UTB 267), Heidelberg 31979, 155.

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als Protestanten die oft genug zu Unrecht als ›Werkgerechtigkeit‹ abqualifizierte mittelalterliche Passionsfrömmigkeit. Die Erfahrung des Reichtums der Wirkungsgeschichte führte mich auch dazu, noch mehr als bisher den Reichtum der biblischen Texte selbst zu entdecken, welche mit ihren Sinnpotenzen, ihrer Offenheit und ihrer Kraft diese Wirkungsgeschichte angestoßen und bestimmt haben. Die Leser/innen werden entdecken, dass die Frage nach ›richtigen‹ und ›falschen‹ Exegesen des Textes in diesem Kommentar eine sehr geringe Rolle spielt.«11

Von exegetischer Seite plädiert vor allem Marius Reiser mit Nachdruck für eine Erneuerung der Väterhermeneutik: »Die Beschränkung der Exegese auf die historische Forschung und Betrachtungsweise, die eine zeitlang durchaus heilsam war, ist heute zu einer unbefriedigenden Beschränktheit geworden. Wir haben die Warnung Friedrich Nietzsches vor den Gefahren der Historie allzu lange in den Wind geschlagen … Die historische und literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise muss wieder ergänzt werden durch eine theologische und geistliche Deutung, die auf den Gesamtsinn und die Einheit in der Vielfalt der biblischen Aussagen achtet.«12

Ähnliche Vorschläge werden schon seit Jahren von Seiten der Dogmatik13, vereinzelt auch der Patrologie14 erhoben, allerdings ohne dass sie ein breiteres Echo in der exegetischen Arbeit gefunden hätten15. 11 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 4. Teilband: Mt 26–28 (EKK I/4), Zürich/Neukirchen-Vluyn 2002, VIII. 12 M. Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (WUNT 217), Tübingen 2007, 48. Verwiesen sei insbesondere auf die Kapitel »Allegorese und Metaphorik. Vorüberlegungen zu einer Erneuerung der Väterhermeneutik« (119–152) und »Hat die spirituelle Exegese eine eigene Methode?« (373–388). – Mit dem vierfachen Schriftsinn hat sich von exegetischer Seite auch Christoph Dohmen befasst: C. Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn – Möglichkeiten und Grenzen neuerer Zugänge zu biblischen Texten, in: Th. Sternberg (Hg.), Neue Formen der Schriftauslegung? (QD 140), Freiburg/Basel/Wien 1992, 13– 74. Der Beitrag endet mit den Worten (Hervorhebung im Original): »vom vierfachen zum vielfachen Schriftsinn!« Vgl. C. Dohmen, Hermeneutik des Alten Testaments, in: ders. / G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 133–213, für unsere Fragestellung insbesondere 159–180. 13 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: K. Lehmann, Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Exegese, in: J. Schreiner (Hg.), Methoden biblischer Exegese, Würzburg 1971, 40–80; J. Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Wegen der Exegese heute, in: ders. (Hg.), Schriftauslegung im Widerstreit (QD 117), Freiburg/Basel/Wien 1989, 15–44; W. Kasper, Prolegomena zur Erneuerung der geistlichen Schriftauslegung, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. von H. Frankemölle / K. Kertelge, Freiburg/Basel/Wien 1989, 508– 526; R. Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik, Freiburg 1998.

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Ludger Schwienhorst-Schönberger

Der vorliegende Beitrag will von exegetischer Seite eine Anregung geben, in diese Richtung weiter nachzudenken. Die bleibende Aktualität der patristischen Schriftauslegung sehe ich weniger in einzelwissenschaftlichen exegetischen Erkenntnissen. Was Philologie, diachrone Textanalysen und vor allem historische Rekonstruktionen betrifft, so ist das zeitgenössische Expertenwissen dem der Tradition gewöhnlich weit überlegen. Was jedoch die Grundfragen des Verstehens der Heiligen Schrift angeht, so haben die patristische Schrifthermeneutik und die in ihrer Tradition stehenden Hermeneutiken unserer Zeit Wesentliches zu sagen. In Fragen der Bibelhermeneutik hat es zu Beginn der Neuzeit einen Bruch gegeben, von dem sich die Theologie noch nicht wirklich erholt hat. Bibelhermeneutische Fragen stehen – ob ausgesprochen oder nicht – im Hintergrund fast aller theologischen Diskussionen. Sie können nicht mit dem Rekurs auf einzelne exegetische Erkenntnisse geklärt werden, wenn die Stellung der exegetischen Erkenntnis im Gesamtgefüge der jeweils vorausgesetzten Schrifthermeneutik strittig ist. Als wesentliche und wieder ernst zu nehmende Prinzipien patristischer Schriftauslegung habe ich in anderen Zusammenhängen genannt: »(a) die Lehre von der Einheit der Schrift und die damit verbundene Annahme ihrer Widerspruchsfreiheit, (b) den mehrfachen Schriftsinn, insbesondere die Unterscheidung zwischen dem ›wörtlichen‹ (›historischen‹) und dem ›geistigen‹ (›pneumatischen‹) Sinn in Analogie zu den zwei Naturen Christi, der menschlichen und der göttlichen Natur, (c) die Unterscheidung zwischen der Aussageabsicht des Hagiographen und der Bedeutung des Textes, (d) die Lehre von der Inspiration der Hagiographen, der Schrift und der Rezipienten im Rahmen der kirchlichen Rezeptionsgemeinschaft, (e) das Verständnis von Schriftauslegung als geistiges (pneumatisches) Geschehen im Rahmen einer geistigen (›gläu14 C. Jacob, Allegorese: Rhetorik, Ästhetik, Theologie, in: Th. Sternberg (Hg.), Neue Formen der Schriftauslegung? (QD 140), Freiburg/Basel/Wien 1992, 131–163: »Lange genug hat man die patristische Schriftauslegung als eine schlechte und willkürliche Exegese eingestuft« (131). Jacob weist darauf hin, »dass die Schriftauslegung der alten Kirche differenzierter als bisher zu beurteilen ist« (162). Er stellt die Frage, ob »man sich auch eine ›Wiedereingliederung‹ der Allegorese in die heutige Theologie vorstellen« könnte (160) und hält als Ergebnis seiner Erörterungen vorsichtig fest: »Es ist also gar nicht so absurd zu fragen, ob es in Zukunft möglich sein wird, Exegese und Allegorese nicht in einem unversöhnlichen Gegensatz, sondern als zwei in ihrer eigenen Hermeneutik sinnvolle und wertvolle Interpretationsansätze zu sehen« (163). Ferner vor allem M. Fiedrowicz, Theologie der Kirchenväter. Grundlagen frühchristlicher Glaubensreflexion, Freiburg/Basel/Wien 2007, 97–187: »Die spirituelle Exegese der Kirchenväter war mehr als nur eine unverbindlich-erbauliche Meditation über die Schrift. Ihrem Anspruch nach zielte sie darauf, die tiefste Intention der göttlichen Offenbarung im Schriftwort zu erfassen« (103). 15 Vgl. allerdings K. Kremser, Augustins Auslegung des Psalms 131 (130) im Horizont neuzeitlicher Bibelwissenschaft (SBS 234), Stuttgart 2015.

Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick

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bigen‹) Lebensform, (f) das Glaubensbewusstsein der Kirche (regula fidei) als regulierende Instanz der Auslegung, (g) die Ausrichtung der Schriftauslegung auf die Auferbauung der Kirche und des Einzelnen in ihr (aedificatio ecclesiae)16. Zu den hermeneutischen Prinzipien patristischer Schriftauslegung gehört der vierfache Schriftsinn. Er stellt eine Entfaltung des oben genannten zweifachen Schriftverständnisses dar17. Der folgende Beitrag konzentriert sich zunächst auf eine Darstellung dieses Prinzips, stellt anschließend mit der Schrifthermeneutik des Thomas von Aquin eine prominente Modifikation desselben im Kontext eines veränderten Wissenschaftsverständnisses vor und schließt mit einem Ausblick auf mögliche Rezeptionen im Kontext gegenwärtiger Exegese. 1

Zweifacher, dreifacher, vierfacher Schriftsinn

Der vierfache Schriftsinn wird gerne mit folgendem Merkvers, der dem Dominikaner Augustinus von Dänemark aus dem 13. Jahrhundert zugeschrieben wird, erläutert: »Littera gesta docet, quid credas allegoria moralis quid agas, quo tendas anagogia.« »Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; der moralische Sinn, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie.«

Das Distichon gilt als missverständlich18. Es erweckt den Eindruck, als gäbe es in der Heiligen Schrift mehrere nebeneinanderliegende Sinne19. Das Missverständnis wird genährt durch die auch bei Fachleuten verbreitete Redeweise von den vier Schriftsinnen (sensus)20. 16 Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle, 519f. 17 Zur Bibelhermeneutik des Mittelalters schreibt Th. Prügl, Art. Mittelalter: Einführung, in: Wischmeyer, Bibelhermeneutiken, 127: »Eine zentrale Rolle nahmen stets die verschiedenen Schriftsinne sowie generell das Phänomen übertragener bzw. metaphorischer Sprache und die Bedeutungsvielfalt des biblischen Textes ein.« 18 Reiser, Bibelkritik, 139 spricht von einem in jeder Hinsicht verunglückten mittelalterlichen Merkvers: »Zur Einführung in die gemeinte Sache ist dieser Merkvers denkbar ungeeignet.« 19 H. de Lubac, Geist aus der Geschichte. Das Schriftverständnis des Origenes (Übersetzung von: Histoire et Esprit. L’intelligence de l’Ecriture d’après Origène, Paris 1950), Einsiedeln 1968, 354: »Genau gesprochen kann also nicht von mehreren ›geistlichen Sinnen‹ die Rede sein, so wenig man strenggenommen von mehreren Worten Gottes sprechen kann. Ein einziges Wort, ein einziger Geist, ein einziger Sinn.« 20 H. de Lubac, Ein altes Distichon. Die Lehre vom »vierfachen Schriftsinn« (1948), in: ders., Typologie, Allegorie, Geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung (Theologica Romanica 23), Freiburg/Basel/Wien 1999, 319–341. Im Anschluss daran auch Reiser, Bibelkritik, 139–145.

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Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es – genau genommen – nicht um vier verschiedene Beudeutungen (sensus – »Sinne«) eines Wortes oder Textes geht, sondern um vier Verstehensweisen (intelligentiae vel intellectus), die auf die Bibel als Ganze und nicht durchgehend auf jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Text der Schrift sinnvoll anzuwenden sind. Einige Modelle rechnen mit einem dreifachen, andere mit einem vierfachen Schriftverständnis. Sowohl dem dreifachen als auch dem vierfachen Schriftverständnis liegt die grundlegende Unterscheidung eines zweifachen Schriftverständnisses zugrunde, nämlich eines historischen (interpretatio historica) und eines geistigen Verständnisses (intelligentia spiritalis). Das geistige Verständnis wiederum lässt sich in zwei oder drei Verstehensweisen untergliedern: (a) in das allegorische (oder mystische) und tropologische (oder moralische) Verständnis und (b) in das allegorische, tropologische und anagogische Verständnis. Zusammen mit dem historischen Verständnis ergibt sich so ein drei- bzw. vierfaches Schriftverständnis. Das drei- bzw. vierfache Schriftverständnis bezieht sich nicht auf beziehungslos nebeneinander stehende Bedeutungen, sondern auf ein und dieselbe Wirklichkeit, die unter verschiedenen, auseinander hervorgehenden Gesichtspunkten verstanden werden kann21: Dreifaches Schriftverständnis (u.a. Origenes, Hieronymus) (1)

HISTORISCH (interpretatio historica) (2) Tropologisch (moralisch) GEISTIG (intelligentia spiritalis) (3) Allegorisch (mystisch)

*** Vierfaches Schriftverständnis (u. a. Cassian, Augustinus) (1)

HISTORISCH (interpretatio historica) (2) Allegorisch GEISTIG (intelligentia spiritalis)

(3) Tropologisch (moralisch) (4) Anagogisch

21 Vgl. Lubac, Typologie, 329: »So ist es immer dieselbe Wirklichkeit unter einem je neuen Gesichtspunkt.«

Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick

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Die Terminologie ist in der Tradition nicht einheitlich. Daran zeigt sich, dass es weniger um ein Schema mit feststehenden Begriffen als vielmehr um eine hermeneutische Grundeinsicht geht, die mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und unter wechselnden kulturellen und geistesgeschichtlichen Konstellationen weiter entfaltet werden konnte. Thomas Prügl spricht im Anschluss an Gilbert Dahan von einer pluralisierenden Lektüre: »Solche ›lecture plurielle‹ erschöpft sich nicht in dem schematisch starren Modell der vier Schriftsinne, vielmehr versucht der mittelalterliche Ausleger, dem Sinnüberschuss des Schrifttextes mit allen Mitteln, die ihm die Auslegungspraxis bietet, auf die Spur zu kommen, unabhängig davon, auf welcher ›Ebene‹ (der historisch-literalen, der metaphorischen, der allegorischen oder moralischen) er sich befindet … Man wird … in keiner mittelalterlichen Auslegung eine Begrenzung des Sinns auf nur eine Möglichkeit oder auf eine exklusive Eindeutigkeit bzw. einzige Sinnaussage finden … Das Charakteristikum mittelalterlicher Schriftauslegung ist daher nicht so sehr der geistliche Schriftsinn an sich, als vielmehr der ›hermeneutische Sprung‹ (›le saut herméneutique‹); nicht die materiale, womöglich gar dogmatische Information, die methodisch über verschiedene Schriftsinne und Bedeutungsebenen gewonnen werden könnte, sondern eben der sich in der Interpretation vollziehende ›Überstieg‹ von einer Ebene zur anderen, bzw. die Übertragung (translatio) eines Textes, Bildes oder Gedankens in eine bzw. mehrere Bedeutungen. Der hermeneutische Sprung ereignet sich im Vollzug der Auslegung, wenn der Ausleger Zusammenhänge erkennt, die er aus der intensiven Beschäftigung mit dem Text und einem vorausgehenden Glaubenswissen entdeckt. Die Berechtigung der dabei gefundenen Verbindung wird mit der Schriftinspiration, der daraus resultierenden ›geistlichen Dichte‹ und der implizit anzuwendenden Glaubensregel (regula fidei) legitimiert.«22

Nach Origenes sind in der Heiligen Schrift zunächst zwei Bedeutungsebenen zu unterscheiden: ein Sinn, »der offen zutage liegt«, ein anderer Sinn, »der den meisten verborgen ist«23. Den ersten Sinn nennt Origenes den Wortsinn (secundum litteram) oder auch den historischen Sinn, den zweiten Sinn nennt er den geistigen oder auch den göttlichen Sinn der Schrift (secundum spiritualem sensum). Diese Unterscheidung ist für Origenes grundlegend. An einigen Stellen spricht er aber auch in Analo22 Th. Prügl, Art. Mittelalter, in: Wischmeyer (Hg.), Bibelhermeneutiken, 128f. Prügl bezieht sich dabei auf G. Dahan, Lire la Bible au Moyen Âge. Essai d’herméneutique médiévale, Genève 2009. Für den hier beschriebenen Vorgang einer assoziativen und zugleich reflektierten intertextuellen Lektüre vgl. das am Ende dieses Beitrags angeführte Beispiel Thomas von Aquin. 23 Origenes, De principiis I, praef. 8. Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien, herausgegeben und übersetzt von H. Görgemanns / H. Karpp, Darmstadt 1976.

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gie zur Trichotomie des Menschen von einem dreifachen Schriftverständnis: Der Einfältige versteht die Schrift »dem Fleische nach«, der weiter Fortgeschrittene von ihrer »Seele« her, der Vollkommene nährt sich aus dem »Geist« der Schrift24. Das vierfache Schriftverständnis lässt sich im Anschluss an Johannes Cassian am Beispiel Jerusalems wie folgt veranschaulichen: »Ein und dasselbe Jerusalem kann auf vierfache Weise verstanden werden: dem historischen Sinn nach als Stadt der Juden, der Allegorie nach als Kirche Christi, der Anagogie nach als jene himmlische Gottesstadt, die unser aller Mutter ist, der Tropologie nach als Seele des Menschen, die häufig unter dieser Bezeichnung des Herrn getadelt oder gelobt wird.«25 Bezeichnung

Lateinische Bezeichnung

Auslegungsart

»Jerusalem«

Wörtlicher Sinn

littera, historia

wörtliche, historische Auslegung

Stadt in Israel (»irdisches Jerusalem«) Historie

Allegorischer Sinn

allegoria

Auslegung auf den Glauben (dogmatische Auslegung)

Bild der Kirche

Auslegung auf die Liebe (moraltheologische Auslegung)

Bild der menschlichen Seele

Tropologischer Sinn

tropologia, sensus moralis

Glaubensinhalt

Ethik Anagogischer Sinn

anagogia

Auslegung auf die Hoffnung (eschatologisch e Auslegung)

Bild des Himmels (»himmlisches Jerusalem«) Eschatologie

Bei aller terminologischen Schwankung, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, ist entscheidend, den Geist der Lehre vom vierfachen Schriftsinn zu erfassen, geht es dabei doch nach Henri de Lubac

24 25

Origenes, De principiis IV, 2, 4. Cassian, Conlationes, 14, 8.

Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick

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»um nichts Geringeres als um den Gesamtbau des christlichen Denkens, um die Auffindung der Theologie in ihrer Fülle aus der Schrift, der ›theologica pagina‹.«26

1.1

Littera gesta docet

Der erste Halbvers Littera gesta docet hält fest, dass der christliche Glaube auf historischen Begebenheiten beruht. Darin unterscheidet er sich – dem christlichen Verständnis nach – von den antiken Mythen. Die Kirchenväter gingen davon aus, dass die biblischen Erzählungen weitgehend auf historischen Tatsachen beruhen. Ihr Zutrauen in die Historizität biblischer Erzählungen war weitaus größer als das der neuzeitlichen Exegese. Allerdings lässt sich dabei kein prinzipieller Gegensatz zwischen der traditionellen und der modernen Exegese behaupten. Denn auch die Kirchenväter wussten sehr wohl, dass nicht alle Erzählungen der Bibel in einem streng historischen Sinn zu verstehen sind. Nach Origenes gibt es Schriftstellen, die das »Leibliche« überhaupt nicht enthalten, sondern nur die »Seele« und den »Geist«27. Damit meint er, dass es sich bei ihnen nicht um historische Erzählungen im eigentlichen Sinne des Wortes handelt. Die Schöpfungs- und Paradieserzählungen der Genesis sowie die Versuchung Jesu und einige apokalyptische Schilderungen rechnet Origenes zur Gattung fiktionaler Rede28. »Hier beweist Origenes ein feines Gespür für fiktionale Gattungen und ist moderner als Augustinus oder Luther.«29 Manchmal, so Origenes, »webt die Schrift in die Geschichtsdarstellung Unwirkliches mit hinein, was teils gar nicht geschehen kann, teils zwar geschehen könnte, aber nicht geschehen ist.«30

Das Beispiel zeigt, dass die Kirchenväter durchaus ein historisches Bewusstsein besaßen, auch wenn die Maßstäbe ihrer Kritik andere waren als die unsrigen. Von daher habe ich an anderer Stelle dafür plädiert, die moderne historisch-kritische Methode mit ihrer spezifischen Ausrichtung auf die historische Fragestellung in das hermeneutisch umfassendere Modell der patristischen Schriftauslegung zu integrieren31. Die vorneuzeitliche Exegese als fundamentalistisch zu bezeichnen, wie hin und 26 Lubac, Typologie, 328f. 27 Origenes, De principiis. IV, 2, 5. 28 Origenes, De principiis. IV, 2, 8. 29 Reiser, Bibelkritik, 145. 30 Origenes, De principiis. IV, 2, 9. 31 In diese Richtung zielen auch Überlegungen von N. Lohfink, Über die Irrtumslosigkeit der Schrift, in: StdZ 174 (1964), 161–181. Wieder abgedruckt in: ders., Studien zur biblischen Theologie, Stuttgart 1993, 13–39. Vgl. dazu Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle, 526–529.

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wieder zu hören ist, zeugt von einer völligen Unkenntnis der Sache. Gerade vom Ansatz eines vierfachen Schriftverständnisses her ergibt sich hinsichtlich der historischen Fragestellung ein gewisser Spielraum, da die Wahrheit der Schrift nicht im historischen Verständnis aufgeht. Auch Erzählungen, die nur dem äußeren Gewande nach historisch sind, können eine tiefe Wahrheit enthalten. Entscheidend ist, dass die Bibel nicht durchgehend als fiktionale Literatur zu verstehen ist, wie es in den antiken Göttergeschichten aus christlicher Perspektive der Fall ist. Mögen die Hagiographen zur Verdeutlichung ihres Anliegens auch fiktionale Elemente in ihre Erzählungen hineingewoben haben, so lösen sie damit doch das historische Gewebe der Schrift als Ganzer nicht auf. Wer meint, den geschichtlichen Sinn zugunsten des geistigen Sinns verachten zu müssen, gleicht einem Menschen, der unter dem Vorwand, sich für die Seele zu interessieren, seinen Körper vernachlässigt32. 1.2

Quid credas allegoria

So sehr die Historie also das Fundament der in der Bibel bezeugten Wahrheit bildet, so geht es der Heiligen Schrift dennoch nicht um das historische Faktum an sich, sondern darum, das historische Faktum zu verstehen. Auf das rechte Verständnis der Geschichte zielt das Zeugnis der Heilige Schrift. Das bringt die zweite Vershälfte des Distichons zum Ausdruck: Quid credas allegoria. Die Aussage bezieht sich auf die Mysterien des Glaubens. Diese stehen nicht neben der Geschichte, sondern zeigen sich in der Geschichte. Sie sind der Inhalt des Glaubens. Dass Jesus gelebt hat, ist ein historisches Faktum, das von niemandem bestritten wird. Doch nur derjenige, der in ihm den Sohn Gottes erkannt hat, hat – nach christlichem Verständnis – das historische Faktum verstanden. Nicht jedem wurde dieses Verständnis zuteil. Pilatus, so Origenes, hat Jesus dem Fleisch nach gesehen, den göttlichen Logos in ihm jedoch nicht erkannt. Vom vierfachen Schriftverständniss her gesehen hätte Pilatus nur den historischen Sinn der Schrift erkannt. Es wäre die von jeder Deutung freigelegte rein historische Ebene. Dass damit der Sinn der Schrift nicht erfasst wird, dürfte unmittelbar einsichtig sein. Verständlich wird vor diesem Hintergrund, dass das in einer frühen Phase der historisch-kritischen Exegese verfolgte Ziel, ein von allen »sekundären« Deutungen bereinigtes ursprüngliches Evangelium freizulegen und als normativ auszugeben, in den Kirchen und ihren Gläubigen große Irritationen auslöste. Inzwischen ist allseits anerkannt, dass ein solches Unterfangen schon aus rein historischen und erkenntnistheoretischen Gründen zum Scheitern verurteilt ist. Derartige historische Rekonstruktionen sind selbst hochgradige Formen der Deutung. Die mit einer frühen 32

Vgl. Lubac, Typologie, 325, Anm. 22.

Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick

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Phase historischer Bibelkritik einhergehende Mentalität ist allerdings immer noch anzutreffen. Vor diesem Hintergrund lassen sich einige der oben angeführten Spannungen und Antagonismen verstehen. 1.3

Moralis quid agas

Was folgt aus der verstandenen Geschichte für die Gestaltung des Lebens? Darauf antwortet das moralische Verständnis. Die Bibel ist kein reines Lehrbuch der Moral. Ihre Moral gründet in der Geschichte, in der die Geheimnisse des Glaubens erfasst werden. So geht aus der verstandenen Geschichte hervor, was zu tun ist: Moralis quid agas. Es geht also nicht um irgendeine Moral, sondern um die Moral der Geschichte. Als ein Beispiel sei auf die Auslegung des Josuabuches durch Origenes verwiesen. Die zum Teil grausam erscheinenden Erzählungen der Landeroberung stellten für die Exegese immer eine besondere Herausforderung dar. Die moderne Bibelwissenschaft hat ein differenziertes Instrumentarium literarhistorischer, kanontheologischer und archäologischer Einsichten gebündelt und ist dabei zu gut nachvollziehbaren Interpretationen gelangt33. Aber auch die Deutungen der Tradition waren alles andere als fundamentalistisch. Mit Hilfe des zweifachen Schriftverständnisses unterscheidet Origenes in den Erzählungen eine historische (»wörtliche«) und eine geistige Ebene des Verstehens. Seiner Deutung zufolge sind die Kriege, die Josua geführt hat, für Christen in einem geistigen Sinn zu verstehen. Der Kampfplatz ist im Inneren eines jeden Menschen zu suchen: »Außer dir selbst sollst du außen kein Schlachtfeld suchen. In dir ist der Kampf, den du führen, im Inneren ist das morsche Gebäude, das du abreißen musst; dein Feind kommt aus deinem Herzen.«34 »In uns nämlich sind alle diese Völker von Lastern, welche die Seele dauernd und unablässig angreifen. In uns sind die Kanaanäer, in uns sind die Perisiter, hier sind die Jebusiter.«35

Origenes begründet die Deutung mit Verweis auf den durch die christliche Rezeption erweiterten literarischen Kontext, der Altes und Neues Testament umfasst. Hinzu kommt die Namensparallele »Josua – Jesus«; 33 Vgl. E. Noort (ed.), The Book of Joshua (BETL CCL), Leuven/Paris/Walpole 2012. 34 Homilie 5,2. Zitiert hier und im Folgenden nach der Übersetzung von T.R. Elßner / T. Heither, Die Homilien des Origenes zum Buch Josua. Die Kriege Josuas als Heilswirken Jesu (Beiträge zur Friedensethik 38), Stuttgart, 2006. In der lateinischen Übersetzung des Rufinus lautet das Zitat (hom in Jesu Nave 5,1–2): »Praeter temet ipsum extrinsecus nihil requires. Intra te est proelium, quod gesturus es; intrinsecus est mala illa aedificatio, quae subruenda est; hostis tuus de corde tuo procedit.« 35 Homilie 1,7.

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beide Namen sind im Griechischen identisch: Ἰησοῦς. So kann er weiterführend sagen: »Das ist nicht meine, sondern Christi Stimme; höre, wie er selbst sagt: ›Aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerungen‹ (Mt 15,19). Du siehst, welch großes Heer von Feinden in deinem Herzen gegen dich aufsteht. Ihnen müssen wir zuerst eine Niederlage beibringen, zuerst müssen wir sie niederwerfen. Wenn wir es geschafft haben, ihre Mauern zu Fall zu bringen und sie selbst dem Untergang zu weihen, so dass keiner von ihnen übrig bleibt (vgl. Jos 11,14), … dann wird uns von Josua/Jesus die Ruhe geschenkt, so dass jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum ausruhen kann, weil niemand mehr da ist, der die Kinder Israels aufschrecken könnte (vgl. Mi 4,4).«36

Das wäre die tropologische Deutung des Buches. Im Bilde einer Geschichte erzählt uns das Buch Josua, was wir zu tun haben. Nach Thomas R. Elßner besitzt es für Origenes letztlich »keine wirkliche Relevanz mehr, ob die Erzählungen in Jos 6–8 geschichtliche Ereignisse wiedergeben. Deshalb verlässt er die Ebene des Literalsinns sogleich und wählt eine metaphorische Ebene mit geistlich-christlichem Gehalt. Letztere ist von bleibender Aussagekraft. Mehr noch: Der von Origenes entfaltete geistliche Gehalt ist von vornherein auch als primärer Schriftsinn intendiert. Nur missverständliches Lesen könne dann Texte wie Jos 6–8 allein als Wiedergabe exakter historischer Begebenheiten begreifen. Daher bewahrt der geistliche Sinn des Textes den sachkundigen Leser davor, dass ihn Texte wie Jos 6–8 zu höchst problematischen Handlungen provozierten. Jedoch hat Origenes auf seine Weise einerseits bereits erkannt, dass die biblischen Erzählungen des Josuabuches nicht mit historischen Berichten verwechselt werden dürfen. Andererseits betreibt er schließlich mit seinem hermeneutischen Vorverständnis eine Ethisierung der militärischen Kämpfe zur Einnahme des von Gott verheißenen Landes. Kampf ja, aber nur gegen die eigenen Sünden. Dem liegt eine Grundannahme zugrunde, nach der, wenn alle Christen gegen ihre eigenen Begierden und Laster vorgingen, die christliche Gemeinde auch als ein Gegenentwurf gegenüber einer unbefriedeten Welt wahrgenommen und für diese attraktiv wird.«37 36 Homilie 5,2: »Non mea vox ista, sed Christi est; audi enim ipsum dicentem: De corde enim procedunt cogitationes malae, homicidia, adulteria, fornicationes, furta, falsa testimonia, blasphemiae. Vides quantus et qualis exercitus hostium tuorum adversum te de tuo corde procedit. Isti nobis prima strage fundendi sunt, isti prima acie prosternendi. Horum si subruere moenia ipsosque ad internitionem caedere potuerimus, ita ut non relinquamus ex eis …, tunc nobis per Iesum dabitur illa requies, ut unusquisque requiescat sub vite sua et sub ficu sua, cum iam non sit, qui exterreat filios Israhel.« 37 T.R. Elßner, Josua und seine Kriege in jüdischer und christlicher Rezeptionsgeschichte (Theologie und Frieden 37), Stuttgart 2008, 253f.

Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick

1.4

189

Quo tendas anagogia

Die in der Bibel erzählte und bezeugte Geschichte dreht sich nicht im Kreis. Sie hat ein Ziel, dem das Gottesvolk auf seiner irdischen Pilgerschaft entgegengeht: das himmlische Jerusalem. Dieses Ziel zu erkennen und sich darauf auszurichten, erschließt das anagogische Verständnis: Quo tendas anagogia. Um das bereits genannte Beispiel erneut aufzugreifen: Das Buch Josua zeigt uns nach Origenes nicht nur den Weg in das verheißene irdische Land, das heißt: »in das Leben in dieser Welt«, sondern auch in das Land unserer ewigen Seligkeit: »So können wir schließlich am zehnten Tag des ersten Monats in das Land der Verheißung, das heißt in die vollkommene Seligkeit, eingehen.«38 1.5

Universales Sinngefüge

Die Tradition fand in der Schrift zahlreiche Anhaltspunkte für das vierfache Schriftverständnis und die in ihr angelegte Zahlensymbolik. Zu allen in ihr enthaltenen Zahlen – eins, zwei, drei und vier – fand der suchende Geist geistreiche Deutungen. Das ganze Unterfangen hat etwas Spielerisch-Ästhetisches an sich. Es entstand ein geistiger Kosmos, »wobei die Bibel wie ein immer wieder in neuem Licht schillernder Kristall betrachtet wird.«39 Die allegorische Ausdeutung der biblischen Heilsgeschichte teilt die Maxime delectare et prodesse literarischer Ästhetik der Antike40. Bildungshungrige Leser sahen sich eingeladen und herausgefordert, immer neue und feinere Anspielungen zu entdecken. Zusammenhänge wurden deutlich, die bisher noch niemand entdeckt hatte. In den vier Flüssen des Paradieses (Gen 2,10–14) fand sich ein Hinweis auf das vierfache Schriftverständnis ebenso wie in den vier Lebewesen der Thronwagenvision Ezechiels (Ez 1,4–14), die ihrerseits wiederum als Verweis auf die vier Evangelisten verstanden wurden. Den zweifachen Schriftsinn, die grundlegende Unterscheidung zwischen dem historischen und dem geistigen Schriftverständnis, hörte man aus Ps 62,1 heraus: »Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört.«41 In der Entfaltung des geistigen Schriftverständnisses in das dreifache Verständnis des allegorischen, des tropologischen und des anagogischen Sinnes wiederum sah man eine Entsprechung zu den drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, wobei die Abfolge der letzten beiden Tugenden 38 Homilie 4,4. 39 Jacob, Allegorese, 149. 40 Zu diesem Aspekt vgl. vor allem Jacob, Allegorese. 41 Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, »Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört« (Ps 62,12). Sinnoffenheit als Kriterium einer biblischen Theologie, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 25 (2010): Wie biblisch ist die Theologie?, Neukirchen-Vluyn 2011, 45–61.

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entsprechend dem Schema Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft umgestellt werden konnte. So wie die drei göttlichen Personen in der Einheit des göttlichen Wesens gründen, so die drei geistigen Sinne in der Einheit des Literalsinnes. Mit diesen und vielen weiteren Deutungen entstand ein universales Sinngefüge, das die Kohärenz von Schrift, Schriftverständnis und Glaube sowohl in der Bibel selbst als auch in der von ihr inspirierten Ikonographie und Architektur zum Ausdruck brachte. »Es geht um nichts Geringeres als um den Gesamtaufbau des christlichen Denkens, um die Auffindung der Theologie in ihrer Fülle aus der Schrift, der ›theologica pagina‹. Man wird also immer von den Fakten auszugehen haben, da das Dogma auf diesen beruht, die Moral ihrerseits ruht auf dem Dogma und die Erreichung des letzten Zieles setzt das sittlich gelebte Dogma voraus. Aber mehr noch: Die Abfolge ist nicht nur logisch, sondern dynamisch. Jeder Sinn erzeugt den nächsten. So ist es immer dieselbe Wirklichkeit unter einem je neuen Gesichtspunkt. Das ›Geheimnis‹ ist nicht nur angekündigt, vorgezeichnet oder gewährleistet durch die Fakten; diese selbst haben einen Innenraum, sind schwanger vom Geheimnis-Gehalt.«42

1.6

Kein starres Modell

Das vierfache Schriftverständnis würde missverstanden, wenn man meinte, es könne und müsse auf jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Text der Schrift angewandt werden. Schon bei der Erörterung des historischen Schriftsinnes (Litera gesta docet) konnten wir sehen, dass es nach Origenes in der Heiligen Schrift durchaus Texte gibt, die keine historischen Fakten erzählen. Diese Beobachtung ist wichtig, da in fundamentalistischen Kreisen hin und wieder die Ansicht anzutreffen ist, die moderne Bibelwissenschaft würde die Historizität der Bibel in grundsätzlicher Weise infrage stellen und sich damit vom wörtlichen Schriftverständnis der Tradition radikal absetzen. Ein solches Urteil ist nachweislich falsch. Auch die vorneuzeitliche Schriftauslegung wusste, dass nicht alles, was in der Bibel steht, in einem wörtlichen Sinn zu verstehen ist. Ebenso sind auch die anderen Sinndimensionen nicht an allen Stellen der Bibel anzutreffen. Hugo von Sankt Viktor macht das unmissverständlich deutlich. Im Lichte des von ihm vertretenen dreifachen Schriftverständnisses schreibt er in seinem für Theologiestudenten verfassten Studienbuch: »In erster Linie muss man wissen, dass die Heilige Schrift auf dreierlei Weise verstanden werden kann: historisch, allegorisch und tropologisch. Natürlich muss nicht alles, was sich in der Heiligen Schrift findet, so zur Erklärung 42

Lubac, Typologie, 328f.

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gedreht werden, dass man den Eindruck erhält, jede Stelle enthalte gleichzeitig den historischen, den allegorischen und den tropologischen Sinn. Zwar kann man diese dreifache Bedeutung an vielen Stellen nachweisen, doch sie überall zu sehen ist schwer oder sogar unmöglich … Die Heilige Schrift ist deshalb so zu behandeln, dass wir nicht überall den historischen Sinn suchen, nicht überall den allegorischen und nicht überall den tropologischen, sondern dass wir vielmehr den einzelnen Stellen entsprechend die jeweilige Deutung zuweisen, wie die Vernunft es erfordert. Allerdings können sich auch oft alle Deutungen gleichzeitig in ein und demselben Wortlaut finden, wie wenn die Wahrheit des geschichtlichen Sinns, durch die allegorische Deutung, auf einen mystischen Sinn hinweist und ebenso, durch die tropologische Deutung aufzeigt, wie wir handeln sollen.«43

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Thomas von Aquin

Für Thomas von Aquin wird die Lehre vom vierfachen Schriftsinn zu einem Problem. Er sieht mit ihr den Wissenschaftscharakter der Theologie in Gefahr. Während das Wort des Dichters durchaus dunkel und vieldeutig sein darf, so müssen doch die Aussagen der Wissenschaft klar und eindeutig sein. Wenn aber Theologie eine Wissenschaft sein will und wenn die Grundlage dieser Wissenschaft die Heilige Schrift ist, dann dürfen sich die Sätze der Schrift nicht im poetischen Dunkel der Mehrdeutigkeit verlieren. Thomas diskutiert damit ein Problem, das auch in der gegenwärtigen Exegese angesichts der Pluralisierung von Bedeutungen regelmäßig zur Sprache kommt. Zum Selbstverständnis der modernen historischkritischen Exegese gehört(e) das Anliegen, biblische Texte auf ihre klar abgrenzbare Ursprungsbedeutung hin zu erforschen und sie daraufhin festzulegen44. Wie inzwischen vielfach erkannt, ist dieses Projekt in dieser Form nicht mehr durchführbar. Es steht in Spannung zur Einsicht in die Mehrdeutigkeit literarischer Texte. Hinzu kommt das Wissen um den hypothetischen Charakter historischer Rekonstruktionen. Ist damit aber nicht bereits der Keim zur Auflösung identitätsstiftender Bedeutungen überhaupt gelegt? Löst sich in der Konsequenz dieses Ansatzes nicht der biblische Kanon von innen her auf? Ein radikal rezeptionsästhetischer Ansatz tendiert zu einer nicht mehr abgrenzbaren Pluralisierung von Bedeutungen und somit zur dekonstruktivistischen Verflüssigung und Auflösung identitätsstiftender kanonischer Texte. Zu einem Kanon gehört nicht nur die äußere Abgrenzung eines Textbestandes, sondern auch eine innere Begrenzung der Interpretation. Konservative 43 Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon. De studio legendi. Studienbuch. LateinischDeutsch (FC 27), übersetzt und eingeleitet von Thilo Offergeld, Freiburg/Basel/Wien 1997, 318–323 (Didasc. 5,2). 44 Siehe oben Anm. 10.

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Kritiker des rezeptionsästhetischen Ansatzes, die sich dem Anliegen der historisch-kritischen Exegese in besonderer Weise verbunden wissen, weisen auf diese Gefahr hin. Um es mit einfachen Worten zu sagen: Wenn biblische Texte keine klar abgrenzbaren Bedeutungen mehr aufweisen und wenn es nicht mehr die Aufgabe der Exegese sein kann, diese zu erforschen und gegenüber Fehlinterpretationen abzugrenzen – kann dann nicht jeder kommen und das aus der Bibel herauslesen, was ihm passt? Wird damit nicht die Bibel ihrer identitätsstiftenden Funktion beraubt und Exegese als (normative) Wissenschaft aufgelöst?45 In ähnlicher Weise wurde vor dem Horizont des neu aufgekommenen aristotelischen Wissenschaftsparadigmas der mehrfache Schriftsinn für Thomas von Aquin zu einem Problem. Nach Thomas darf sich eine theologische Argumentation nur auf den eindeutigen Literalsinn stützen. Wird der Aquinate damit – wie oft behauptet – zum Vorläufer der modernen historisch-kritischen Exegese? Hat er sich vom geistlichen Sinn der Schrift verabschiedet? Es ist beeindruckend zu sehen, wie sich Thomas mit diesem Problem auseinandersetzt. Auf der einen Seite kann er eine mehr als tausendjährige Tradition der Schriftauslegung, die Lehre und Leben der Kirche zutiefst geprägt hat und die im Neuen Testament selbst praktiziert wird, nicht über Bord werfen. Auf der anderen Seite steht Thomas vor der großen Herausforderung, den Wissenschaftscharakter der Theologie neu zu begründen. Von daher verwundert es nicht, dass seine Lehre von der 45 Luz, Hermeneutik, 9f hat diese Dynamik eindrücklich beschrieben: »Viele evangelische Kirchen, die sich traditionell auf die Bibel berufen und die nun mit der Möglichkeit einer schier unbegrenzten Vielfalt in der Schriftinterpretation konfrontiert sind, befinden sich in einem Prozess rapider Selbstauflösung. Meine eigenen Reformierten Schweizer Kirchen sind ein gutes Beispiel dafür … Deshalb ist meine erste hermeneutische Grundfrage eine ekklesiologische: Wie kann man eine Kirche auf eine Bibel bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist?« (Hervorhebung im Original). In seiner Hermeneutik ringt er um eine intellektuell redliche Position zwischen den Extremen. Meines Erachtens geht letztlich kein Weg an der Sinnfestlegung durch die Interpretationsgemeinschaft vorbei. Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit. Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testament?, in: F.-L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg/Basel/Wien 2001, 48–87. Die Sinnfestlegung darf aber nach katholischem Verständnis nicht willkürlich erfolgen, sondern muss Gründe für ihre Entscheidung (in Konfliktfällen) nennen. Der ekklesiologische Aspekt der Schriftauslegung ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Schrift nicht in allen Fällen eindeutig und klar ist. Das wird inzwischen auch weitgehend von der evangelischen Theologie so gesehen. Vgl. J. Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUT 46), Tübingen 2004; L. Schwienhorst-Schönberger, Sola scriptura? Luthers Schriftverständnis aus katholischer Sicht, in: C. Danz / J.-H. Tück (Hg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Freiburg/Basel/Wien 2017, 152–174.

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Schriftauslegung eine Entwicklung durchgemacht hat46. Wenngleich das von ihm verfolgte Anliegen in allen seinen diesbezüglichen Äußerungen klar erkennbar bleibt und seine Lehre von der Schriftauslegung in ihrem Kern durchaus kohärent ist, lassen sich seine bibelhermeneutischen Aussagen doch nicht in allen terminologischen Einzelheiten exakt aufeinander abstimmen. Die reifste Form findet seine Darstellung in der Summa theologiae47. Bezeichnend ist, dass die Lehre von der Schriftauslegung gleich zu Beginn der Summa erörtert wird, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, ob die Theologie eine Wissenschaft sei (I, 1, 2). In gewisser Weise verfolgt Thomas damit ein ähnliches Anliegen wie die Theologen der ersten Jahrhunderte. Ging es den Kirchenvätern mit der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn unter anderem auch darum, primitiv erscheinende Texte der Heiligen Schrift als philosophisch anschlussfähig zu erweisen48, so geht es Thomas, nun allerdings im Kontext eines gewandelten Wissenschaftsverständnisses, in analoger Weise darum, die auf der Heiligen Schrift basierende sacra doctrina als eine argumentative Wissenschaft (doctrina argumentativa) auszuweisen. Sahen sich die Kirchenväter genötigt, im Horizont einer platonischen Philosophie die bisweilen anstößig und primitiv erscheinenden Bedeutungen biblischer Texte auf eine geistige Tiefendimension hin zu erschließen, so steht Thomas vor der Herausforderung, angesichts des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses die mit dem geistigen Schriftverständnis verbundene Tendenz zur Pluralisierung von Bedeutungen in Grenzen zu halten. Das Anliegen des Aquinaten wird deutlich, wenn wir den Gedankengang der ersten acht Artikel der ersten Quaestio der Summa rekapitulieren, bevor wir uns mit dem neunten und zehnten Artikel seiner Schrifthermeneutik im engeren Sinne zuwenden. Im ersten Artikel legt Thomas dar, dass das Heil der Mensch nach einer Lehre (doctrina) verlangt, die über die rein philosophischen Wissenschaften hinausgeht und auf göttlicher Offenbarung beruht. Dieser Feststellung schließt sich im zweiten Artikel die entscheidende Frage an, ob die Theologie überhaupt eine Wissenschaft sei (Utrum sacra doctrina sit scientia). Thomas bejaht die Frage und betont dabei die Einheit der Theologie. Die Theologie zerfällt nicht in beziehungslos nebeneinander stehende Einzeldiszipli46 Sie wird dargestellt von M.A. Reyero, Thomas von Aquin als Exeget. Die Prinzipien seiner Schriftdeutung und seine Lehre von den Schriftsinnen, Einsiedeln 1971. 47 Grundlegend dazu der Artikel von Th. Prügl, Thomas von Aquin. Summa theologiae, I, 1, 9–10, in: Wischmeyer (Hg.), Bibelhermeneutiken, 191–206 (dort auch die neueste Literatur). 48 Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, Schrifthermeneutik und Rationalität des christlichen Glaubens bei Origenes – mit einem Ausblick auf Kant, in: N. Fischer / J. Sirovátka (Hg.), Vernunft – Religion und Offenbarungsglaube. Zur Erörterung einer seit Kant verschärften Problematik, Freiburg/Basel/Wien 2015, 103–116.

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nen, sondern betrachtet alles, was ist, sub ratione Dei. Im vierten Artikel zeigt Thomas, dass die Theologie eine sowohl spekulative als auch praktische Wissenschaft ist, wobei ihrem spekulativen Charakter eindeutig der Vorrang zukommt: Sie beschäftigt sich zunächst mit den göttlichen Dingen und erst in zweiter Linie mit den menschlichen Handlungen. Im fünften Artikel hebt Thomas den Vorrang der Theologie vor allen anderen Wissenschaften hervor, da sie das letzte Ziel des menschlichen Lebens, die ewige Seligkeit (beatitudo aeterna), in den Blick nimmt, während alle anderen Wissenschaften nur Teilziele dieses Weges verfolgen. Der sechste Artikel stellt den weisheitlichen Charakter der Theologie heraus, während der siebte Artikel schließlich Gott als den »Gegenstand dieser Wissenschaft« (subjectum huius scientiae) bestimmt. Mit den folgenden drei Artikeln steuert Thomas auf die uns interessierende bibelhermeneutische Frage zu. Nachdem er die Behauptung aufgestellt hat, die Theologie sei eine Wissenschaft (scientia), steht die Frage im Raum, ob sie auch im Stande ist, in ihren Darlegungen argumentativ vorzugehen: Utrum sit haec doctrina argumentativa. Thomas bejaht die Frage, weist allerdings darauf hin, dass sich die Theologie in ihrem argumentativen Voranschreiten auf Autoritäten beruft, »weil die Prinzipien dieser Lehre aus der Offenbarung stammen (eo quod principia huius doctrinae per revelationem habentur).« Damit kommen nun die kanonischen Schriften in den Blick und es stellen sich zwei gewichtige Fragen, die Thomas im neunten und im abschließenden zehnten Artikel erörtert. Die Frage des neunten Artikels lautet: »Darf sich die Heilige Schrift der Metaphern bedienen (Utrum sacra Scriptura debeat uti metaphoris)?« Die Brisanz der Frage kommt sogleich mit dem ersten Einwand in den Blick: »Es scheint, dass die Heilige Schrift (Sacra scriptura) keine Metaphern verwenden darf, denn was die Eigentümlichkeit der niedrigsten Lehre (doctrina) ist, darf nicht jener Wissenschaft zukommen, die unter allen anderen (Wissenschaften) den höchsten Rang einnimmt. Der Gebrauch verschiedener Bilder und Gleichnisse (procedere autem per similitudines varias et repraesentationes) aber ist das Eigentümliche der Poetik, die doch die niedrigste unter allen Lehren ist. Also ist der Gebrauch von Bildern für diese Wissenschaft nicht angebracht.«

Thomas gibt im corpus articuli darauf die Antwort, dass es der Heiligen Schrift durchaus zukommt, »wenn sie die göttlichen und geistigen Dinge mit Hilfe sinnenfälliger Bilder (sub similitudine corporalium) überliefert.« Für den Menschen sei es natürlich, »dass er durch Sinnliches zum Geistigen gelange (ut per sensibilia ad intelligibilia veniat). Denn alle unsere Erkenntnis nimmt ihren Ausgang von den

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Sinnen. Deshalb kommt es der Heiligen Schrift zu, dass uns die geistigen Dinge unter sinnenfälligen Metaphern (sub metaphoris corporalium) überliefert werden.«

Die biblische Sprache gewinnt für Thomas aufgrund ihrer Metaphorik »revelatorische Kraft … Thomas versteht mit Dionysius die Metapher als ein Vehikel, das eine zweifache intellektuelle Bewegung ermöglicht: Sie führt den Verstand in eine Tiefendimension von Wirklichkeit, die die Sprache in direkter Rede nicht erreichen kann, und sie bewirkt dadurch ein ›Sichtbarwerden‹ von Wahrheit, so dass durch die Öffnung dieser Tiefenschicht eine Selbstmitteilung Gottes und ein Teilhaben an ihm möglich wird.«49

Im zehnten und letzten Artikel der ersten Quaestio geht es um den mehrfachen Schriftsinn: »Hat in der Heiligen Schrift ein und dasselbe Wort einen mehrfachen Sinn (Utrum sacra Scriptura sub una littera habeat plures sensus)?« Wenn das der Fall sein sollte, so Thomas im ersten Einwand, besteht dann nicht die Gefahr, dass mit der Bibel alles und damit letztlich nichts bewiesen werden kann? Damit aber wäre der Wissenschaftscharakter der Theologie dahin. Mit dem mehrfachen Schriftsinn, so der von Thomas angeführte Einwand, »lässt sich aus vielen Sätzen der Heiligen Schrift gar nichts beweisen (non procedit argumentatio), sondern es ist höchstens Anlass zu Trugschlüssen gegeben. Die Heilige Schrift aber muss mit letzter Zuverlässigkeit die Wahrheit zeigen können, ohne alle Gefahr der Täuschung. Also kann mit derselben Schriftstelle (sub una littera) kein mehrfacher Sinn (plures sensus) verbunden sein« (S.th. I, 10 ad 1).

Wie reagiert Thomas auf diese ernst zu nehmende Anfrage? Zur Lösung des Problems greift er auf einen Gedanken Augustins zurück. Er relativiert die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, indem er ihr als einer Hermeneutik von Texten eine Hermeneutik der Dinge voranstellt. Bedeutungen, so Thomas, haben nicht nur Worte (voces), sondern auch Dinge (res). Das Eigentümliche der Theologie besteht nach Thomas darin, dass in ihr nicht nur Worte, sondern auch Dinge etwas bezeichnen. Der literarische beziehungsweise historische Sinn (sensus historicus vel litteralis), für Thomas die »erste Bedeutung« (prima significatio), ist jene Bedeutung, die sich auf Dinge (res) bezieht. Der geistige Sinn (sensus spiritualis) ist jene Bedeutung (significatio), die den Dingen zukommt. Diese gründet (fundatur) auf dem literarischen Sinn. Der geistige Sinn (der Dinge) differenziert sich in drei Sinne: in den allegorischen (sensus 49

Prügl, Thomas von Aquin, 201.

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allegoricus), den moralischen (sensus moralis) und den anagogischen Sinn (sensus anagogicus). Damit ergibt sich folgendes Schema: sensus allegoricus

sensus moralis

sensus anagogicus

sensus spiritualis RES sensus historicus vel litteralis VOX

Nun führt Thomas als weiterführende Überlegung die Autorintention (intentio auctoris) in den Gang der Argumentation ein. Diese, so Thomas, sei mit dem literarischen Sinn (des Wortes) identisch. »Autor der Heiligen Schrift ist Gott (auctor autem sacrae Scripturae Deus est).« Lateinisch auctor ist hier im Sinne von Urheber zu verstehen. Im Blick sind also nicht die Hagiographen, die scriptores litterarii, sondern im Blick ist derjenige, der die Offenbarung und deren in der Schrift niedergelegtes Zeugnis in Gang gesetzt hat: Gott. Da Gott alles in einem erfasst (qui omnia simul suo intellectu comprehendit), kann er mit dem einen intendierten literarischen Sinn zugleich die daraus hervorgehenden geistigen Sinne miterfasst haben. In diesem Sinn kann man mit Augustinus sagen, dass eine Schriftstelle auch gemäß ihrem literarischen Sinn mehrere Sinne (Bedeutungen) habe: Non est inconveniens, ut Augustinus dicit 12 Conf., si etiam secundum litteralem sensum in una littera Scripturae plures sint sensus. Deutlich ist das Bemühen des Aquinaten zu erkennen, auf der Ebene der Worte (voces) keine verwirrende Vieldeutigkeit zuzulassen. Damit wahrt er den Wissenschaftscharakter der Theologie. Die Worte sind eindeutig. Auf den eindeutigen Wortsinn hat sich die Theologie, wenn sie argumentativ verfährt, zu beschränken. Die Pluralität der Sinne liegt also nicht in den Worten, sondern in den mit den Worten bezeichneten Dingen. Die Pluralität der geistigen Sinne gründet in dem einen Wortsinn. Den gewichtigen ersten und grundlegenden Einwand gegen die Pluralität der Sinne beantwortet Thomas wie folgt: »Ein mehrfacher Sinn (multiplicitas sensuum) führt weder zur Äquivokation (non facit aequivocationem) noch zu irgendeiner anderen Art von Mehrdeutigkeit (aliam speciem multiplicitatis). Denn dieser mehrfache Sinn entsteht, wie gesagt, nicht dadurch, dass ein Wort (una vox) vieles bedeutet (multa significet), sondern dadurch, dass die durch die Worte bezeichneten Dinge

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(ipsae res significatae per voces) selbst wieder Zeichen für andere Dinge sein können (aliarum rerum possunt esse signa). Also kann daraus innerhalb der Heiligen Schrift keine Verwirrung (confusio) entstehen, da alle (möglichen) Sinne (omnes sensus) in einem einzigen gründen, nämlich im Wortsinn (fundentur super unum, scilicet litteralem). Aus diesem allein kann ein Beweis gezogen werden (ex quo solo potest trahi argumentum), nicht aber aus den Sinnen, die zum allegorischen50 gerechnet werden (non autem ex iis quae secundum allegoriam dicuntur), wie schon Augustinus im Brief gegen den Donatisten Vinzentius bemerkt. Das tut der Heiligen Schrift in keiner Weise Abbruch, weil unter dem geistigen Sinn (sub spirituali sensu) keine einzige glaubensnotwendige Wahrheit enthalten ist, die nicht anderswo in der Heiligen Schrift im Wortsinn (per litteralem sensum) klar und deutlich überliefert würde« (S. th. I, a. 10 ad 1).

Vor dem Hintergrund der Tradition fällt auf, dass sich bei Thomas das Gewicht der vier Schriftsinne auf den Wortsinn verschiebt. In diesem Sinne wird er oft als früher Vorläufer der historisch-kritischen Exegese angesehen, die sich in ähnlicher Weise darum bemüht, den Wortsinn eines biblischen Textes und die Intention des Autors zu erfassen. Die Positionierung des Aquinaten in der Geschichte der Schriftauslegung ist in der Forschung umstritten. Einige betonen die Kontinuität seiner Schrifthermeneutik mit der Tradition vor ihm51, andere heben die innovativen Aspekte hervor und sprechen von einer behutsamen Entwicklung in Richtung einer historischen Exegese52. Thomas Prügl fragt: »Hat sich Thomas damit von den geistlichen Schriftsinnen emanzipiert, hat er diese gar als nicht mehr zeitgemäß kritisiert? Darf man Thomas gar als Wegbereiter einer historischen Methode reklamieren? Dies würde sein Anliegen verfehlen. Thomas stellt diese exegetischen Überlegungen an den Anfang eines theologischen Lehrbuchs. Die Unterweisung in der Offenbarung 50 Mit allegorisch sind hier die im obigen Schema angeführten drei geistigen Sinne gemeint. Allegorisch steht hier also für den sensus spiritualis. Das Wort allegorisch kann (auch in anderen Zusammenhängen) alle über den literarischen Sinn hinausgehenden geistigen Sinne bezeichnen oder aber im eingeschränkten Sinn und in Abgrenzung vom moralischen und anagogischen Sinn nur einen der drei geistigen Sinne. 51 So Lubac, Exégèse médiévale, Bd. II,2, Paris 1964, 285–302 in kritischer Auseinandersetzung mit B. Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1952, 3 1978. Im Anschluss an Lubac auch Voderholzer, Einheit der Schrift, 412–415. 52 Vgl. Prügl, Art. Thomas von Aquin, 206: »Neo-Thomisten und Rezipienten des thomasischen Werks in der Neuzeit haben die beiden letzten Artikel der ersten Quaestio der Theologischen Summe als Empfehlung des Literalsinns und entsprechend als Absage an den geistlichen Schriftsinn gelesen. Da Thomas von Aquin im 19. Jahrhundert als theologische Leitfigur vom kirchlichen Lehramt empfohlen und seiner Lehre eine quasi dogmatische Verbindlichkeit zugeschrieben wurde, richteten sich auch die Hoffnungen der modernen katholischen Exegeten auf diese Ausführungen am Beginn der Summa, da man den Literalsinn und seine starke Betonung als ermöglichende Entscheidung für eine historisch kritische Exegese sehen wollte.«

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als ›heiliger Lehre‹ zielt auf ein methodisches Lesen und Verstehen der Offenbarungsurkunde. Dieses Verstehen vollzieht sich am besten im Literalsinn, auch weil er jenem Verstehensvorgang entspricht, der mit anderen Wissenschaften kompatibel ist.«53

Zu einem ähnlichen Urteil gelangt Jean-Pierre Torrell: »Dass die wörtliche Bedeutung mehr und mehr als die einzige einer streng theologischen Diskussion angemessene angesehen wird, ist weitgehend Thomas zu verdanken, doch dies hindert ihn nicht daran, auf die spirituelle Bedeutung zurückzugreifen.«54

Das erste theologische Werk, das Thomas verfasst hat, ist ein Kommentar zu Jeremia, Klagelieder und Jesaja. Als Charakteristikum dieses Werkes wird in der Forschung seine Vorliebe für die wörtliche Exegese hervorgehoben55. Beispielsweise sieht Thomas in dem in Jes 8,4 angekündigten puer einen Sohn des Propheten und seiner Frau. Er folgt damit der jüdischen Deutung, die es ablehnt, in den Worten eine Ankündigung Christi zu sehen. Jean-Pierre Torrell hat jedoch darauf hingewiesen, dass man die von Thomas selbst hinzugefügten Randbemerkungen (collationes) seines Kommentars unbedingt berücksichtigen muss, um sich ein angemessenes Bild von seiner Exegese zu machen. Hier, so Torrell, kann man ihn bei der Arbeit beobachten und erkennen, was ihn bei der Kommentierung bewegte. Torrell hat die 24 collationes des Autographen untersucht und ist dabei zu folgendem Ergebnis gekommen: »Sie sind ebenso wichtig wie der Kommentar, zeigen sie doch, dass bei Thomas bereits am Beginn seiner Laufbahn die Hauptzüge des Stils seiner Bibelkommentare durchbrechen: Der Kommentar gibt der wörtlichen Auslegung den Vorrang, die collationes hingegen vermitteln sein Bemühen um Spiritualität.«56

Die eingehende Untersuchung von Torrell gelangt zu interessanten Beobachtungen. Bei den Kommentierungen am Rand scheint Thomas assoziativ vorgegangen zu sein. Es finden sich darunter durchstrukturierte Meditationen über das Wort Gottes und die Haltung, die der Mensch diesem gegenüber einzunehmen hat. Thomas nennt die Abfolge Hören, Glauben, Meditieren, Mitteilen, Erfüllen. Auf diesem Weg, so Thomas, hat auch die Jungfrau Maria das Wort Gottes zur Welt gebracht:

53 Ebd., 206. 54 J.-P. Torrell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg/Basel/Wien 1995, 79. 55 Ebd., 50. Das Folgende im Anschluss an Torrell, Magister Thomas, 49–56. 56 Ebd., 52.

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»Sie hat es zuerst gehört … dann hat sie es geglaubt … darauf hat sie es bewahrt und in ihrem Herzen getragen … danach hat sie es geboren und schließlich hat sie es genährt und gestillt.«57

Die collationes sind reich an Schriftzitaten. Thomas praktiziert hier eine assoziative Form der Intertextualität. Von den 130 Bibelversen der 24 collationes stammen 25 aus dem Psalter, 12 aus Jesaja, 10 aus dem Buch der Sprichwörter. »Die Psalmen haben also, verglichen mit den anderen zitierten Büchern, bei Thomas einen großen Vorrang. Als Erklärung können wir darin einmal ein Echo seiner Gebete sehen; er hat nicht ausschließlich mit einer Konkordanz gearbeitet, das Material, das ihm als erstes einfiel, ist vielmehr jenes, über das er am längsten meditiert hat. Damit reiht er sich in die lange patristische Tradition ein, in der die Psalmen das bei weitem am häufigsten zitierte Buch sind. Thomas selber hat uns jedoch den Grund dieser Bevorzugung in seiner Vorrede zum Psalmenkommentar angegeben: ›Alles, was das letzte Ziel der Menschwerdung betrifft, ist in den Psalmen in solcher Klarheit ausgedrückt, dass man glaubt, das Evangelium und nicht die Worte eines Propheten zu lesen‹.«58

Beachtenswert ist, dass nach den Psalmen und den Sprichwörtern am häufigsten das Hohelied und Kohelet mit acht respektive sieben Belegen zitiert werden. Das Neue Testament zitiert Thomas weitaus seltener. Darin zeigt sich eine Hochschätzung der alttestamentlichen Weisheit und einer damit verbundenen Betonung des moralischen Schriftsinnes (sensus moralis). Torrell gelangt zu der abschließenden Bewertung, dass an den collationes sichtbar wird, »wie weit diese spirituellen Erweiterungen des Kommentars von den Erfahrungen der Propheten und Weisen, der Apostel und der Evangelisten durchdrungen sind. Die thomasische Spiritualität hat ohne Zweifel einen biblischen Grundton.«59

»Anders als früher gelegentlich behauptet«, so Thomas Prügl, »wollte Thomas keineswegs den geistlichen Schriftsinn aus der Theologie verbannen. Als eine Jahrhunderte alte Auslegungspraxis, verbürgt durch die Autorität der Kirchenväter, hat der geistliche Schriftsinn seinen angestamm57 Ebd., 54. 58 Ebd., 56. Zu diesem Verständnis des Psalters vgl. A.F. Weber, Der Psalter als ein Weg des Aufstiegs in Gregor von Nyssas »In inscriptiones Psalmorum« (ÖBS 48), Frankfurt a.M. u.a. 2017. Vgl. ders., Aufstieg in die Höhe. Psalter- und Psalmenexegese bei Gregor von Nyssa, BZ 51 (2007), 216–234. 59 Torrell, Magister Thomas, 56.

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ten Platz in der Theologie. Die Ausführungen des Thomas zu Beginn der Summa theologiae stellen weniger eine Kritik oder gar einen Rückzug vom geistlichen Schriftsinn dar als vielmehr eine Apologie desselben. Thomas erörtert den geistlichen Schriftsinn nicht, um ihn zu diskreditieren oder zu eliminieren, sondern um ihn in ein zeitgemäßes Theologieverständnis einzubinden.«60

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Ausblick

Eine Einbindung des geistigen Schriftsinnes in ein zeitgemäßes Theologieverständnis steht auch heute an. Es gibt einige neuere Ansätze, die in diese Richtung weisen61. Sie eingehend zu diskutieren, wäre ein eigenes Thema. Henri de Lubac, dem das große Verdienst zukommt, die Geschichte der patristischen und mittelalterlichen Exegese erforscht zu haben, hält eine ungeschichtliche Repristination für ein Ding der Unmöglichkeit. Doch, ihren »Geist zu erhalten oder wiederzuerlangen, bedeutet nicht, sie ihrem Buchstaben nach wiederzubeleben.«62 60 Prügl, Art. Thomas von Aquin, 201f. 61 Neben den unter Anm. 13–15 genannten Arbeiten sei verwiesen auf A. Chapelle, À l’école de la théologie, Bruxelle 2013; B. de Baenst, L’Écriture, âme de la théologie. La parole et le langage chez Albert Chapelle. Préface de Jean Radermakers, Paris 2014; P. Piret, L’Écriture et l’Esprit. Une étude théologique sur l’exégèse et les philosophies, Bruxelles 1987. Mit der in jüngster Zeit zu beobachtenden Wiederentdeckung der Lectio divina bekommt die Frage noch einmal ein besonderes Gewicht. Vgl. dazu N. Calduch-Benages, Saboreando la Palabra. Sobre la lectura orante o creyente (lectio divina), Estella 2012; M. Casey, Lectio divina. Die Kunst der geistlichen Lesung, Sankt Ottilien 2 2010; E. Borghi (ed.), Ascoltare, rispondere, vivere. Atti del Congresso Internazionale »La Sacra Scrittura nella vita e nella missione della Chiesa« (Roma, 1–4 dicembre 2010), Milano 2011. 62 Lubac, Typologie, 338. Ähnlich sucht auch Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit, 34 nach einer neuen Synthese. Diese fordert »den aufmerksamen und kritischen Einsatz einer ganzen Generation. Er kann sich … nicht einfach auf das Mittelalter oder auf die Väter zurückziehen und sie dem Geist der Neuzeit entgegenhalten. Aber er kann umgekehrt auch nicht auf die Einsichten der großen Glaubenden aller Zeiten verzichten und so tun, als ob die Geschichte des Denkens im Ernst erst mit Kant beginne. An dieser Horizontbeschränkung leidet meines Erachtens weithin die neuere Debatte um das Problem biblischer Hermeneutik. Die Väterexegese ist nicht damit abgetan, dass man sie als ›allegorisch‹ bezeichnet, und die Philosophie des Mittelalters nicht damit zu erledigen, dass man sie als ›vorkritisch‹ einordnet.« Eine reflektierte und ausgewogene Synthese beider Modelle findet sich im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche vom 30. September 2010, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2010, insbesondere im Teil »Die Hermeneutik der Heiligen Schrift in der Kirche« (Nr. 29–49): »Wie die Synodenversammlung gesagt hat, ergibt sich ein wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung einer angemessenen Schrifthermeneutik auch aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz. Tatsächlich besitzt die Theologie der Kirchenväter noch heute großen Wert, weil in ihrem Mittelpunkt das

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De Lubacs Anliegen wurde von einigen bedeutenden Gelehrten der modernen Bibelwissenschaft geteilt. Der französische Neutestamentler Louis-Hugues Vincent war begeistert von de Lubacs Histoire et Esprit. L’intelligence de l’Ecriture d’après Origine. In einem Brief vom 26. April 1950 schreibt er, dass auch sein »lieber und verehrter Lehrmeister« Marie-Joseph Lagrange (1855–1938), Gründer der École Biblique (1890), einer der wichtigsten Wortführer der modernen Bibelwissenschaft in der Katholischen Kirche, der mit seinem Anliegen, der historischen Kritik in der katholischen Bildungswelt ein Heimatrecht zu erstreiten, gegen starke Widerstände zu kämpfen hatte63, dem ohne weiteres zustimmen würde. Pater Lagrange, so heißt es in dem Brief, wurde nie müde, »seine Hörer vor dem zu warnen, was er gern als ›les vaines prétentions de l’historicisme exégetique‹ (die eiteln [sic!] Anmaßungen des exegetischen Historizismus) bezeichnete. In den letzten Wochen, die ich im Oktober– November 1937 in Saint-Maximin in seiner Nähe verbrachte, sagte er mir mehrmals und mit Nachdruck – kurz nach einer persönlichen Begegnung mit Paul Claudel, der für die historische Methode keinerlei Nachsicht kennt64 –, wie höchst wünschenswert es wäre, dass sich die historisch-kritischen und die geistig-allegorisierenden Exegeten oder was auch immer für ein Etikett sie für sich beanspruchen, statt sich in feindlicher Haltung in dem jeweils eigenen Gebiet zu verschanzen, zu einem in gegenseitigem Verständnis gründenden und für beide Seiten fruchtbaren Bündnis zusammenfänden. Er ahnte übrigens, mehr als ich es damals tat, dass die aktuellen Tendenzen sowie die Bedürfnisse der Gläubigen eine solche Zusammenarbeit in der Schriftauslegung forderten.« 65

Studium der Heiligen Schrift in ihrer Ganzheit steht … Auch wenn die patristische und mittelalterliche Tradition natürlich nicht die philologischen und historischen Ressourcen besaß, die der modernen Exegese zur Verfügung stehen, erkannte sie doch die verschiedenen Sinngehalte der Schrift … Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese« (Nr. 37). Wichtige Beiträge zu dem Schreiben finden sich in: S. Carl (ed.), Verbum Domini and the Complementarity of Exegesis and Theology, Grand Rapids 2015. Vgl. ferner Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle, 526, Anm. 17. 63 Zu Lagrange vgl. B. Montagnes, Art. Marie-Joseph Lagrange. La Méthode historique (1903/1904), in: Wischmeyer, Bibelhermeneutiken, 603–611. Vgl. ferner H.-W. Seidel, Die Erforschung des Alten Testaments in der katholischen Theologie seit der Jahrhundertwende, hg. von C. Dohmen (BBB 86), Frankfurt a.M. 1993. 64 Ein Phänomen, das auch bei Schriftstellern unserer Tage anzutreffen ist. Vgl. Arnold Stadler, Salvatore, Frankfurt a.M. 2008. Dazu Th. Söding, Konkursverwalter und Schrotthändler? Zur Metakritik der historisch-kritischen Exegese in Arnold Stadlers »Salvatore«, in: J.-H. Tück (Hg.), »Auch der Unglaube ist nur ein Glaube«. Arnold Stadler im Schnittfeld von Theologie und Literaturwissenschaft, Freiburg/Basel/Wien 2017, 61–76. 65 Zitiert nach Lubac, Typologie, 258.

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Das eingangs66 zitierte Statement eines evangelischen Neutestamentlers aus dem Jahre 2014 zeigt, dass diese Aufgabe eine nach wie vor bleibende und zugleich ökumenische ist. Abstract This contribution provides an overview of the fourfold sense of Scripture and then explains the different levels of understanding according to the fourfold sense. For Thomas Aquinas the manifold sense of Scripture grew increasingly problematic. In light of the emergence of the Aristotelian scientific paradigm in his day, he considered the status of Theology as a scientific discipline to be put at risk by the confusing plurality of Scriptural senses. Therefore, he modified the traditional model associated with Platonic philosophy by postulating the sensus historicus vel litteralis to be the foundation of all further senses of Scripture. He succeeded in doing so without forfeiting the hermeneutical principles of the patristic interpretation of Scripture. Thomas never intended to ban the spiritual sense of Scripture from Theology. This contribution argues towards a renewed consideration of the basic hermeneutical principles of so-called premodern Scriptural interpretation in contemporary exegesis.

*** Ludger Schwienhorst-Schönberger, geb. 1957, Dr. theol., ist Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien.

66

Siehe oben 177 mit Anm. 7.

Peter Walter

Ad fontes Humanistische Schriftauslegung am Beispiel des Jacques Lefèvre d’Etaples und des Erasmus von Rotterdam Die im spätmittelalterlichen Italien entstandene Bildungsbewegung, die seit dem frühen 19. Jahrhundert als »Humanismus« bezeichnet wird, suchte in den nun erstmals wieder umfassend zugänglich gemachten Werken der antiken griechischen und römischen Literatur, die metaphorisch als »Quellen« bezeichnet wurden1, ethische und ästhetische Orientierung vor allem in lebenspraktischen Fragen. Sie breitete sich zügig über ganz Europa aus, und ihre Vertreter konzentrierten sich im 15. und 16. Jahrhundert gerade im nördlichen Mitteleuropa auf die Schriftauslegung, sodass man dort zu Recht von einem »Bibelhumanismus«2 sprechen kann3. Der bedeutendste und bekannteste Vertreter ist ohne Zweifel der Niederländer Erasmus von Rotterdam (1466–1536). Der nur wenig ältere französische Kollege Jacques Lefèvre d’Etaples, latinisiert Jacobus Faber Stapulensis (1455/1460–1536), steht in der allgemeinen Wahrnehmung dahinter zurück. An beiden lässt sich sehr schön die unterschiedliche Ausrichtung der humanistischen Schriftauslegung zeigen, sowohl, was die philologische Basis, als auch, was die exegetische Praxis betrifft. 1. 1.1

Schaffung neuer philologischer Grundlagen Die Bibelausgaben und Übersetzungen Lefèvres

Der an der Pariser Artistenfakultät lehrende Lefèvre d’Etaples4 hatte sich durch die Herausgabe, Paraphrasierung und Kommentierung zahlrei1 Zum antiken Sprachgebrauch und dessen Rezeption bei Erasmus vgl. P. Walter, »Quelle« oder »Steinbruch«? Über den Umgang der Dogmatik mit der Bibel, in: K. Kardinal Lehmann / R. Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (QD 266), Freiburg/Basel/Wien 2014, 79–103, hier 79f., 83f. 2 Vgl. C. Augustijn, Humanismus (KIG II, H2), Göttingen 2003, 47–49. 3 Für einen Überblick vgl. G. Bedouelle / B. Roussel (Hg.), Le temps des Réformes et la Bible (BiToTe 5), Paris 1989; E. Rummel (Hg.), Biblical Humanism and Scholasticism in the Age of Erasmus (Brill’s Companions to the Christian Tradition 9), Leiden/Boston 2008. 4 Vgl. G. Bedouelle, Lefèvre d’Etaples et l’Intelligence des Ecritures (THR 152), Genève 1976; H. Heller, Art. Lefèvre d‘Etaples, in: P.G. Bietenholz (Hg.), Contemporaries

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cher lateinischer Übersetzungen von Werken des Aristoteles sowie als Editor einer Gesamtausgabe des Nikolaus von Kues und wichtiger Werke der mystischen Tradition (Dionysius Areopagita, Raimundus Lullus, Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau, Mechthild von Hackeborn, Jan van Ruysbroek) einen Namen gemacht, als er sich der Bibel zuwandte. Sein erstes bibelphilologisches Werk ist das »Quincuplex Psalterium« (Fünffacher Psalter), das von Henri Estienne d. Ä. 1509 in Paris gedruckt wurde. 1513 folgte eine zweite Auflage, die 1515 in Rouen nachgedruckt wurde5. Den Hauptteil der Ausgabe bildet die synoptische Zusammenstellung von drei – nach traditioneller, von Lefèvre geteilter Auffassung – von dem Kirchenvater Hieronymus stammenden bzw. bearbeiteten Übersetzungen: 1. Das »Psalterium Gallicanum«: die von Hieronymus nach dem Text der Septuaginta revidierte altlateinische Fassung, die zunächst in der Liturgie Galliens, dann der Kirche allgemein verwendet wurde und dadurch die weiteste Verbreitung fand; 2. das »Psalterium Romanum«: die altlateinische, nach der Septuaginta angefertigte und von Hieronymus bearbeitete Übersetzung, die in Rom und Italien in liturgischem Gebrauch war; 3. das »Psalterium Hebraicum«: Übersetzung des Hieronymus nach dem hebräischen Text, die nicht in der Liturgie, sondern bei der Schriftauslegung verwendet wurde6. Eine Synopse dieser drei lateinischen Übersetzungen existierte, wie Lefèvre im Vorwort einräumt7, bereits in zahlreichen mittelalterlichen Handschriften. Im Anschluss an den Psalmtext bietet Lefèvre in der Regel jeweils eine kurze Inhaltsangabe (»Titulus«), eine kursorische Kommentierung (»Expositio continua«), Zitate von ähnlich lautenden Bibelstellen (»Concordia«, nur für die Psalmen 1–25 ausgeführt) sowie Bemerkungen zu einzelnen, hauptsächlich philologischen Fragen (»Adverte«). Im auch drucktechnisch abgesetzten Anhang bietet Lefèvre zwei weitere Übersetzungen: 4. das »Psalterium vetus«: die altlateinische Übersetzung vor der Revision des Hieronymus, die Lefèvre oder jemand anderes nach Augustins »Enarrationes in Psalmos« rekonstruiert hat; 5. das »Psalterium conciliatum«: ein von Lefèvre aus den vorliegenden Übersetzungen kompilierter Mischtext, der das »Psalteof Erasmus, Bd. II, Toronto/Buffalo/London 1986, 315–318. Umfassende Bibliographie der Werke Lefèvres mit 336 Nrn. bei E.F. Rice, Jr. (Hg.), The Prefatory Epistles of Jacques Lefèvre d’Etaples and related texts, New York / London 1972, 535–568. 5 Vgl. Rice, Epistles, 556, Nrn. CCXXIX–CCXXXI. Faksimileausgabe der 2. Auflage: J. Lefèvre d’Etaples, Quincuplex Psalterium. Fac-similé de l’édition de 1513 (THR 170), Genève 1979. Dieser Nachdruck enthält keinerlei Einleitung. Als solche fungiert: G. Bedouelle, Le Quincuplex Psalterium de Lefèvre d'Etaples. Un guide de lecture (THR 171), Genève 1979. 6 Zum heutigen Forschungsstand vgl. S.P. Brock, Art. Die altlateinischen Übersetzungen des Alten Testaments, TRE VI (1980), 177f., hier 177. 7 Vgl. Lefèvre, ep. 66: Rice, Epistles, 192–201, hier 197.

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rium Gallicanum« zugrunde legt. Diese Ausgabe des Psalters, für die Lefèvre sich auf das Vorbild des Origenes beruft8, bietet den des Hebräischen und Griechischen nicht kundigen Zeitgenossen einen Einblick in die Varianten. Von humanistischer Seite wurde die Ausgabe im Allgemeinen begrüßt, wenn auch im Detail kritisiert. Zwingli und Luther, der in Lefèvre sowohl hinsichtlich der christologischen Psalmenauslegung als auch in gnadentheologischen Fragen einen Gesinnungsgenossen sah, haben das Werk ausgiebig benutzt9. Was die Interpretation der Psalmen angeht, vertrat Lefèvre eine dezidiert christologische, die er im Vorwort scharf von der jüdischen abgrenzte. Davon wird bei der Vorstellung seiner exegetischen Prinzipien noch die Rede sein. 1512 brachte Lefèvre, ebenfalls bei Henri Estienne, eine Ausgabe der Paulusbriefe heraus10, die neben den 14 kanonischen Briefen und ausführlichen Kommentaren dazu auch apokryphe Texte, wie etwa den Brief an die Laodicener und den Briefwechsel mit Seneca, enthält, die Lefèvre für authentisch erachtete. Dafür stellte er die Urheberschaft des Hieronymus an der lateinischen Übersetzung, der sog. Vulgata, in Frage, da der Kirchenvater diese in seinen Kommentaren an manchen Stellen kritisiere11. Die Ausgabe bietet neben dem Text der »vulgata aeditio« in synoptischer Anordnung, wenn auch in kleinerer Schrifttype, eine eigene Übersetzung nach dem griechischen Text (»intelligentia ex graeco«) in eleganterem Latein, die im Allgemeinen jedoch nahe am VulgataText bleibt12. Im Anschluss daran bietet Lefèvre einen eher paraphrasierenden Kommentar sowie textkritische Erörterungen unter Zugrundele8 Vgl. ebd., 197. 9 Vgl. Bedouelle, Psalterium, 223–240. 10 Da das Titelblatt dieses Werkes nur den Inhalt aufzählt (vgl. Rice, Epistles, 558, Nr. CCXLV), aber keinen Obertitel enthält, wird es bibliothekarisch unterschiedlich zitiert. Der Nachdruck der Erstausgabe trägt den Titel: I. Faber Stapulensis, S. Pauli epistolae XIV ex vulgata, adiecta intelligentia ex graeco, cum commentariis. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Paris 1512, Stuttgart - Bad Cannstatt 1978. Für die weiteren Ausgaben vgl. Rice, Epistles, 558f., Nrn. CCXLVI–CCLII. 11 Vgl. Lefèvre, ep. 96, in: Rice, Epistles, 295–302, hier 299. Ausführlich begründet Lefèvre diese Auffassung in seiner »Apologia quod vetus interpretatio epistolarum beatissimi Pauli quae passim legitur, non sit tralatio Hieronymi«: Lefèvre, Pauli epistolae, fol. α.ijv–α.iiijr. Die heutige Forschung gibt Lefèvre Recht. Vgl. V. Reichmann, Art. Die altlateinischen Übersetzungen des Neuen Testaments, TRE VI (1980), 172–176, hier 175f. 12 Vgl. C.-H. Graf, Essai sur la vie et les écrits de Jacques Lefèvre d’Etaples. Thèse présentée à la Faculté de Théologie protestante de Strasbourg […] pour obtenir le grade de licencié en théologie, Strasbourg 1842, 29–34; J.B. Payne, Erasmus and Lefèvre d’Etaples as Interpreters of Paul, ARG 65 (1974), 54–83, hier 59f.; J.-C. Margolin, The Epistle to the Romans (Chapter 11) According to the Versions and/or Commentaries of Valla, Colet, Lefèvre, and Erasmus, in: D.C. Steinmetz (Hg.), The Bible in the Sixteenth Century (DMMRS 11), Durham/London 1990, 136–166, hier 158.

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gung des griechischen Textes (»examinatio nonnullorum circa literam«). Bei diesen scheint er nicht nur von den von Erasmus entdeckten und 1505 erstmals edierten textkritischen »Adnotationes« Lorenzo Vallas13 abhängig zu sein14. Im Abstand von zehn Jahren veröffentlichte Lefèvre einen Kommentar zu den vier Evangelien, der zunächst den Text der Vulgata bietet, sodann kürzere Anmerkungen zur Übersetzung, die auf dem Vergleich mit dem griechischen Text beruhen, sowie schließlich den eigentlichen sehr kurzen Kommentar15. Während diese Ausgabe noch in Frankreich erschien16, konnte der fünf Jahre später gedruckte Kommentar zu den Katholischen Briefen, der denselben Prinzipien folgte, nur in Basel herauskommen17.Ob er dafür auf die mittlerweile in mehreren Auflagen erschienene Ausgabe des Neuen Testamentes des Erasmus zurückgegriffen hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Zwischen 1523 und 1530 veröffentlichte Lefèvre eine französische Übersetzung zunächst des Neuen, dann auch des Alten Testamentes nach der Vulgata (!), die schließlich auch als Gesamtbibel erschien18. Außerdem brachte der Drucker Simon du Bois um 1525 ohne bibliographische Angaben Lefèvres französische Übersetzung der Episteln und Evangelien für alle 52 Sonntage mit jeweils einer kurzen »exhortation« heraus19. 13 Laurentii Vallensis tam graecae quam latinae linguae peritissimi in Latinam Noui testamenti interpretationem ex collatione Graecorum exemplarium Adnotationes apprime vtiles, Paris: Jean Petit 1505. 14 Die Verwendung der »Adnotationes« Vallas durch Lefèvre wurde bislang nicht systematisch untersucht. Ansätze bei Bedouelle, Lefèvre, 80–83. Margolin, Epistle, der die Anmerkungen Vallas, Colets und Lefèvres jeweils mit denjenigen des Erasmus, aber nicht untereinander vergleicht, hilft hierbei nicht weiter. Die Griechischkenntnisse Lefèvres werden recht unterschiedlich eingeschätzt. Während Graf, Essai, 29, und Bedouelle, Lefèvre, 83 mit Anm. 13, diese eher für beschränkt halten, sieht Margolin, Epistle, 159, 165, sie positiver. 15 Vgl. Commentarii Initiatorii in Quatuor Evangelia, Meaux: Simon de Colines, 1522 (vgl. Rice, Epistles, 562, Nr. CCLXXVI). Das an »Christianos lectores« gerichtete Vorwort: Lefèvre, ep. 134: Rice, Epistles, 434–442. 16 Von den vier Folgeauflagen erschienen zwei in Basel bei Andreas Cratander (1523 und 1526) sowie zwei in Köln bei Eucharius Cervicornius (um 1531) und Peter Quentel (1541). Vgl. Rice, Epistles, 562f., Nrn. CCLXXVII–CCLXXXX. 17 Iacobi Fabri Stapulensis […] Commentarii in Epistolas Catholicas, Basel: Andreas Cratander / Johannes Behelius, 1527. Eine weitere Ausgabe folgte posthum in Antwerpen: Johannes Crinitus für Johannes Gymnicus, 1540. Vgl. Rice, Epistles, 566f., Nrn. CCCXXIf. Zu den Prinzipien vgl. die Widmungsvorrede und die Anweisungen für die Leser: Lefèvre, ep. 140 und 141, in: Rice, Epistles, 478–483, 484–486. 18 Vgl. Rice, Epistles, 563–568. 19 Vgl. ebd., 566, Nrn. CCCXVII–CCCXX. Faksimile-Edition der Erstausgabe: J. Lefèvre d’Etaples et ses disciples, Épistres & évangiles pour les cinquante & deux sepmaines de l’an. Fac-similé de la première édition Simon du Bois, hg. von M.A. Screech (THR 63), Genève 1964; kritische Edition einer ebenfalls anonymen Ausgabe aus den

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Mit diesen Ausgaben unterstützte Lefèvre das Reformwerk seines Gönners Guillaume Briçonnet (gest. 1534) durch Hilfen für eine schriftgemäße Predigt. Briçonnet hatte ihm als Kommendatarabt von SaintGermain-des-Prés ermöglicht, sich 1508 aus dem Lehrbetrieb in dieses Kloster zurückzuziehen, und berief ihn, nachdem er Bischof von Meaux geworden war, 1523 zu seinem »Vicarius in spiritualibus«. Nachdem König Franz I. nach der Schlacht von Pavia (1525) von Kaiser Karl V. gefangen genommen worden war, geriet der Reformkreis in Meaux in Schwierigkeiten20. Lefèvre entzog sich durch die Flucht nach Straßburg. Nach seiner Rückkehr (1526) ernannte der König ihn zum Bibliothekar der königlichen Bibliothek in Blois und zum Lehrer seiner Kinder. 1530 zog Lefèvre sich an den Hof von Königin Marguerite von Navarra in Nérac zurück, wo er 1536 verstarb. Die biblischen Arbeiten Lefèvres wurden vielfach kritisiert. Von der Kritik des Erasmus wird noch zu sprechen sein. Teilweise wurde Lefèvres Bibelübersetzung als fehlerhaft dargestellt, wie von dem Mitarbeiter der Complutenser Polyglotte Diego López de Zúñiga (Jacobus Lopes Stunica), teilweise wurde versucht, ihm theologische Irrtümer und Häresien nachzuweisen, wie von der Pariser Theologischen Fakultät, deren Syndikus Noel Beda ihn für den Urheber der lutherischen Irrtümer hielt, weswegen man eigentlich eher von »Fabricianern« als Lutheranern sprechen müsse21. Nachdem einzelne biblische Arbeiten Lefèvres zunächst in unterschiedlichen lokalen Indices gelistet worden waren, landeten sie schließlich auch in dem 1564 auf Geheiß des Trienter Konzils veröffentlichten Römischen Index der verbotenen Bücher, auf dem sie bis ins 19. Jahrhundert verblieben22. 1.2

Das Neue Testament des Erasmus von Rotterdam

Während Lefèvre die in Liturgie und Theologie gebrauchte VulgataÜbersetzung der Psalmen unter Heranziehung anderer lateinischer Übersetzungen und des Neuen Testaments mit Hilfe des griechischen Textes zu verbessern suchte, unternahm Erasmus von Rotterdam23 im frühen 1530er Jahren: J. Lefèvre d’Etaples et ses disciples, Epistres et Evangiles pour les cinquante et deux dimenches de l’an. Texte de l’édition Pierre de Vingle. Édition critique avec introduction et notes, hg. von G. Bedouelle / F. Giacone, Leiden 1976. 20 Vgl. G. Bedouelle, Attacks on the Biblical Humanism of Jacques Lefèvre d’Etaples, in: Rummel, Humanism, 117–141. 21 Vgl. ebd., 129–133, 136f. 22 Vgl. ebd., 140. 23 Zu ihm, gerade unter theologischem Gesichtspunkt, vgl. C. Augustijn, Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung, München 1986; C. Christ - von Wedel, Erasmus von Rotterdam. Ein Porträt, Basel 2016. Zu den im Folgenden genannten Werken vgl. P. Walter, Art. Erasmus von Rotterdam. G. Theologische Schriften, in: Deutscher

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Falle des Neuen Testaments eine Neuübersetzung. Obwohl er insgesamt vier Jahre an der Universität Paris studierte (1495–99), sind er und Lefèvre sich anscheinend nicht begegnet. Erst 1511 kam es zu mehreren Treffen in Saint-Germain-des-Prés, wobei es aber zu keinem Austausch über ihre exegetischen Projekte gekommen sei. Ein solcher wurde einige Jahre später im Streit um die richtige Übersetzung von Hebr 2,7 schriftlich ausgetragen24. 1526 besuchte Lefèvre Erasmus in Basel auf der Rückreise vom Straßburger Exil nach Paris25. Bereits bei ihrer ersten Begegnung war Erasmus kein Unbekannter mehr. Er hatte, um nur einige Werke zu nennen, eine stattliche Sammlung antiker Sprichwörter (»Adagia«, Paris 1500, Venedig 1508 u.ö.) vorgelegt und mit dem »Handbüchlein eines christlichen Streiters« (1504) eine Einführung in das geistliche Leben veröffentlicht, die bewusst für Laien bestimmt war. Hier und in dem seinem englischen Freund Thomas Morus gewidmeten »Lob der Torheit« (1511) kritisiert er die Mönche, die sich für die besseren Christen halten, und geißelt eine veräußerlichte, auf Messhäufigkeit, Reliquienverehrung, Wallfahrten usw. konzentrierte Frömmigkeit mit beißendem Spott, so sehr, dass man später behauptete, er habe das Ei gelegt, das Luther ausgebrütet hat26. Mit der Veröffentlichung des Neuen Testamentes, mit dem er die biblische Exegese auf eine neue Basis stellte, stand Erasmus im Zenit seines Ruhmes. Der zeittypisch ausführliche Titel dieser Ausgabe informiert ziemlich präzise über den Inhalt: »Das gesamte Neue Testament, von Erasmus von Rotterdam sorgfältig durchgesehen und verbessert nicht nur nach dem griechischen Urtext, sondern auch nach dem Zeugnis vieler alter korrekter lateinischer sowie griechischer Handschriften, schließlich nach Zitaten, Verbesserungen und Auslegungen der zuverlässigsten Autoren, insbesondere Origenes, Chrysostomus, Cyrillus, Vulgarius [d.i. Theophylakt], Hieronymus, Cyprian, Ambrosius, Hilarius und Augustinus, zusammen mit Anmerkungen, die den Leser darüber informieren, was aus welchem Grund verändert wurde«27. Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, hg. von F.J. Worstbrock, Bd. I, Berlin / New York 2008, 742–764. 24 Siehe unten S. 221f. 25 Vgl. G. Bedouelle, Lefèvre d’Etaples et Erasme: une amitié critique, in: J.-F. Pernot (Hg.), Jacques Lefèvre d’Etaples (1450–1536). Actes du colloque d’Etaples les 7 et 8 novembre 1992 (Colloques, congrès et conférences sur la Renaissance 5), Paris 1992, 23– 42, hier 28. 26 Erasmus zitiert diesen Vorwurf mehrfach. Vgl. P.S. Allen u.a. (Hg.), Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, 12 Bde., Oxford 1906–1958, hier Bd. V, 609, 11 (ep. 1528); IX, 358, 68f. (ep. 2906). 27 Novum instrumentum omne, diligenter ab Erasmo Roterodamo recognitum et emendatum, non solum ad graecam veritatem, verumetiam ad multorum utriusque linguae codicum, eorum veterum simul et emendatorum fidem, postremo ad probatissimorum autorum citationem, emendationem et interpretationem, praecipue, Origenis,

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Erasmus legt hier erstmals eine aufgrund von Handschriftenvergleich28 hergestellte gedruckte Ausgabe des griechischen Neuen Testaments vor mit einer synoptisch gegenübergestellten, von ihm angefertigten lateinischen Übersetzung und Anmerkungen, die deren Abweichungen gegenüber der überlieferten lateinischen Übersetzung, der Vulgata, begründen29. Ziel dieses Werkes ist es, wie Erasmus in seiner Widmungsvorrede an Papst Leo X. schreibt, den Christen, welche nach seiner Auffassung lange aus den Tümpeln einer oft ungenauen bzw. verderbten Übersetzung und aus den Rinnsalen der scholastischen Theologie schöpfen mussten, die reine Quelle der »christlichen Philosophie« (»philosophia christiana«), wie er in Anlehnung an die Kirchenväter das Leben aus dem Glauben nennt, wieder zugänglich zu machen. Denn in den evangelischen und apostolischen Schriften ist das himmlische Wort, das einst vom Vater zu uns kam, noch immer lebendig, atmet es, handelt es und spricht es noch immer wirksamer und gegenwärtiger als irgendwo anders30. Deshalb nennt Erasmus in der »Ratio verae theologiae« Christus selbst »purissimus ille fons omnis lucis et innocentiae«31. Chrysostomi, Cyrilli, Vulgarii, Hieronymi, Cypriani, Ambrosii, Hilarii, Augustini, una cum Annotationibus, quae lectorem doceant, quid qua ratione mutatum sit, Basel: Johannes Froben 1516. Nachdruck: Erasmus von Rotterdam, Novum Instrumentum, Basel 1516. Faksimile-Neudruck, hg. von H. Holeczek, Stuttgart - Bad Cannstatt 1986. Bei diesem Nachdruck sind die Zierleiste und Initialen der ersten Seite des Römerbriefs, die als einzige im gesamten Buch in roter Farbe gedruckt sind, leider nur schwarz-weiß gehalten. Vgl. die korrekte Wiedergabe bei W.P. Eckert, Erasmus von Rotterdam. Werk und Wirkung, Bd. I, Köln 1967, 231. 28 Zu den benutzten griechischen Handschriften vgl. P. Andrist, Structure and History of the Biblical Manuscripts Used by Erasmus for His 1516 Edition, in: M. Wallraff / S. Seidel Menchi / K. von Greyerz (Hg.), Basel 1516. Erasmus’ Edition of the New Testament (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 91), Tübingen 2016, 81–124 (ausschließlich Basler Handschriften); A.J. Brown, The Manuscript Sources and Textual Character of Erasmus’ Greek New Testament, in: ebd., 125–144 (bezieht auch in England benutzte Handschriften mit ein). 29 Zu den Annotationes, die von kurzen Bemerkungen bis zu ganzen Essays reichen, vgl. E. Rummel, Erasmus’ Annotations on the New Testament. From Philologist to Theologian (ErasSt 8), Toronto/Buffalo/London 1986; M. van Poll - van de Lisdonk, Die Annotationes in Novum Testamentum im Rahmen von Erasmus’ Werken zur Bibel, in: Wallraff / Seidel Menchi / von Greyerz, Basel 1516, 175–186. Jan Krans, der sowohl den griechischen Text als auch die lateinische Übersetzung eher als verbesserungsbedürftig einstuft, rühmt die Annotationes als philologische Pioniertat. Vgl. J. Krans, Deconstructing the Vulgate. Erasmus’ Philological Work in the Capita and the Soloecismi, in: Wallraff / Seidel Menchi / von Greyerz, Basel 1516, 187–206, hier 204. 30 Vgl. Erasmus an Leo X., 1.2.1516: Allen, Opus, Bd. II, 185, 42–55 (ep. 384). Zur Gegenüberstellung von Quelle und Rinnsalen vgl. Walter, Quelle, 80. 31 Erasmus, Ratio: Holborn, Werke, 203, 23f. Die Bezeichnung Christi als Quelle häuft sich im Folgenden: ebd., 204, 4 (»Christianae philosophiae purissimu[s] fon[s]«), 8 (»limpidissim[us] fon[s]«), 12 (»unicus ille fons«).

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Um auch denen, die des Griechischen nicht kundig sind, die Lektüre zu ermöglichen, hat Erasmus dem Text eine eigene lateinische Übersetzung beigegeben und muttersprachliche Übertragungen gefordert. Henk Jan de Jonge hat die plausible These aufgestellt, Erasmus habe den griechischen Text nur deshalb mitveröffentlicht, um eine Überprüfung der Zuverlässigkeit seiner Übersetzung zu ermöglichen32. Das Werk enthält neben der bereits genannten Widmungsvorrede mehrere Einleitungsschriften33: »Paraclesis« (Aufforderung zur Bibellektüre), »Methodus« (Anleitung zur Schriftauslegung) und »Apologia« (Verteidigung gegen Kritiker). In der »Methodus«, von der bald eine wesentlich erweiterte und ihrerseits vielfach aufgelegte Separatausgabe erschien (»Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam« [Methodenlehre, um auf kürzestem Wege zur wahren Theologie zu gelangen], Löwen 1518), entwickelt Erasmus seine Auslegungsprinzipien. Ausgehend von der Einsicht, dass die Hl. Schrift als Text nicht nur grammatischen, sondern auch rhetorischen Regeln folgt, versucht er, die antike Rhetorik für die Schriftauslegung fruchtbar zu machen34. Die Textausgabe, an deren Verbesserung Erasmus in weiteren vier Auflagen (1519, 1522, 1527, 1535)35 gearbeitet hat, stieß sowohl bei Verfechtern der Vulgata als auch bei Humanisten wie bei neutestamentlichen Textkritikern bis heute auf teilweise heftige, keineswegs nur unberechtigte Kri32 Vgl. H.J. de Jonge, Novum Testamentum a nobis versum. The Essence of Erasmus’ Edition of the New Testament, JThS 35 (1984), 394–413; ders., Wann ist Erasmus’ Übersetzung des Neuen Testamentes entstanden?, in: J. Sperna Weiland / W.T.M. Frijhoff (Hg.), Erasmus of Rotterdam. The Man and the Scholar. Proceedings of the Symposium held at the Erasmus University, Rotterdam, 9–11 November 1986, Leiden u.a. 1988, 151–157. Diese These wurde mittlerweile von der Forschung akzeptiert. Vgl. van Poll - van de Lisdonk, Annotationes, 176; M. Vessey, Basel 1514. Erasmus’ Critical Turn, in: Wallraff / Seidel Menchi / von Greyerz, Basel 1516, 3–26, hier 21f. und vor allem Krans, Deconstructing. 33 Für die im Folgenden genannten Einleitungsschriften ist nach wie vor maßgeblich: Desiderius Erasmus Roterodamus, Ausgewählte Werke, in Gemeinschaft mit A. Holborn hg. von H. Holborn, München ²1964, 137–305. Lat./dt.: übers., eingel. u. mit Anmerkungen versehen von G.B. Winkler, in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von W. Welzig, Bd. III, Darmstadt 52016. 34 Vgl. P. Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam (TSTP 1), Mainz 1991. Vgl. auch G.B. Winkler, Erasmus von Rotterdam und die Einleitungsschriften zum Neuen Testament. Formale Strukturen und theologischer Sinn (RGST 108), Münster 1974; M. O’Rourke Boyle, Erasmus on Language and Method in Theology (ErasSt 2), Toronto/Buffalo 1977. 35 Ab der 2. Auflage hat Erasmus den ungewohnten Begriff »Instrumentum«, den er damit begründete, dass so ein schriftlich niedergelegtes Testament bezeichnet werde, wieder durch den hergebrachten ersetzt. Vgl. Walter, Theologie, 125. In der im Erscheinen befindlichen Neuausgabe: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata, Amsterdam u.a. 1969ff. (im Folgenden: ASD) liegen in der VI. Abteilung von den geplanten zehn Teilbänden bis auf den ersten alle vor.

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tik36. Andrew J. Brown hat die zehn am häufigsten geäußerten Kritikpunkte zusammengestellt. Er relativiert jedoch den von neutestamentlichen Textkritikern gern geäußerten Vorwurf, Erasmus habe aufgrund seiner Verwendung von ausschließlich späten byzantinischen Handschriften einen minderwertigen Text hergestellt, mit dem Argument, dass die Gleichsetzung von spät = minderwertig keineswegs stichhaltig sei. Späte Handschriften könnten durchaus einen Text präsentieren, dessen frühe Zeugnisse verloren gegangen seien, und alte Handschriften müssten nicht unbedingt einen besseren Text bieten. »It remains possible that the text which Erasmus produced 500 years ago is, at numerous passages, better than some of the more recent editions which have attempted to replace it.«37 Erasmus war keineswegs der Erste und der Einzige, der den griechischen Text des Neuen Testaments edierte. Im Januar 1514, als er noch nicht in Basel angekommen war, um dort die Drucklegung seines »Novum Instrumentum« vorzubereiten, kam als Erster von insgesamt sechs der fünfte Band der Complutenser Polyglotte, der das Neue Testament enthielt, in Alcalà de Henares (lat. Complutum) bereits aus der Druckpresse, das Gesamtwerk war 1517 abgeschlossen38. Doch dauerte es noch drei Jahre, bis Papst Leo X. dieses approbierte und der Verkauf beginnen konnte, der bis 1521 noch zusätzlich durch kriegerische Streitigkeiten in Kastilien behindert wurde. So erschien nicht nur das Neue Testament des Erasmus früher, sondern auch die von Daniel Bomberg und Felice da Prato 1516/17 in Venedig gedruckte hebräische »Biblia Rabbinica«39 sowie die ebenfalls in Venedig 1518 von Aldus Manutius herausgebrachte Septuaginta. Lediglich das Vorrecht, die erste gedruckte Polyglott-Bibel zu sein, kann der Complutenser Bibelausgabe nicht streitig gemacht werden. Welche Handschriften deren Edition des Neuen Testaments zugrunde lagen, ist nach wie vor nicht geklärt. Ähnlich wie Erasmus scheint man diejenigen griechischen Manuskripte verwendet zu haben, die vor Ort zur Hand waren. Jedoch scheinen sich die Editoren bei der Textkonstitution keineswegs, wie immer wieder behauptet, an der Vulgata orientiert zu haben40. Erasmus hat wohl nicht erst, wie er selber im Vorwort zur vierten Auflage seines Neuen Testaments von 36 Zu den zahlreichen zeitgenössischen katholischen Kritikern vgl. E. Rummel, Erasmus and his Catholic Critics (BHRef 45), 2 Bde., Nieuwkoop 1989. 37 Vgl. Brown, Sources, 137–142, Zitat 142. 38 Für das Folgende sei verwiesen auf den reich dokumentierten Beitrag von I. García Pinilla, Reconsidering the Relationship between the Computensian Polyglot Bible and Erasmus’ Novum Testamentum, in: Wallraff / Seidel Menchi / von Greyerz, Basel 1516, 59–75. 39 Genauer müsste man sagen: die erste von Christen verantwortete hebräische Bibel; denn die erste hebräische Bibel überhaupt wurde 1488 in Brescia gedruckt. 40 Vgl. ebd., 65f.

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1527 schreibt, für diese den griechischen Text des Konkurrenzunternehmens eingesehen, sondern bereits früher, zumindest indirekt, davon Kenntnis gehabt41. Für die zahlreichen zeitgenössischen Kritiker an den bibelphilologischen Arbeiten des Erasmus soll stellvertretend einer der schärfsten, ein Mitarbeiter an der Complutenser Polyglotte, vorgestellt werden. Diego López Zúñiga (latinisiert Jacobus Lopes Stunica, gest. 1531)42, über dessen Leben wenig bekannt ist, hat eine Reihe von kritischen Werken gegen Erasmus und, wie bereits gesagt, gegen Lefèvre d’Etaples geschrieben, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden müssen43. Er beginnt mit philologischen Ausstellungen an der hastig gedruckten und auch deswegen keineswegs fehlerfreien Erstauflage des »Novum Instrumentum«, die aber erst erscheinen, nachdem die zweite bereits auf dem Markt ist. Erasmus ist verärgert über die ihm vorgeworfene philologische und theologische Inkompetenz. Mancher Kritik kann er entgegnen, dass er Fehler, die er durchaus zugibt, bereits von sich aus verbessert habe. Zúñiga bringt einen nationalistischen Zungenschlag ins Spiel, wenn er meint, seine Heimat gegen eine vermeintliche Herabsetzung durch Erasmus verteidigen zu müssen44, dieser wiederum antijudaistische Motive, indem er die angeblich jüdische Abstammung Zúñigas behauptet und ihm jüdische Rhetorik unterstellt, die die Dinge verdrehe45. In einer zweiten Phase ging Zúñiga einen Schritt weiter und nahm die ganze erasmische Ausrichtung ins Visier, vor allem die kirchen- und kleruskritischen Passagen in dessen Schriften, die angebliche Infragestellung der päpstlichen Autorität, der Beichte, des Ehesakramentes usw. In der Vorrede zu seinen »Erasmi Roterodami blasphemiae et impietates« nennt er diesen den Bannerträger und Fürsten der Lutheraner46. In 41 Vgl. ebd., 75. 42 Vgl. W.B. Jones / T.B. Deutscher, Art. López Zúñiga, in: Bietenholz, Contemporaries II (1986), 348f. Zur nach wie vor ungeklärten Frage des Umfangs seiner Mitarbeit an der Complutenser Polyglotte vgl. García Pinilla, Reconsidering, 63f. 43 Für das Folgende vgl. Rummel, Critics, Bd. I, 145–177. 44 Vgl. ebd., 152f. Darin sieht Marcel Bataillon in seiner Studie über die überaus positive Erasmus-Rezeption in Spanien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Hauptbeweggrund für den ausdauernden Kampf Zúñigas gegen Erasmus. Einen Racheakt der durch Erasmus um ihren Erfolg gebrachten Philologen von Alcalà hingegen hält er für unwahrscheinlich. Dafür sei der Anteil Zúñigas an der Polyglotte zu unbedeutend, und die hauptsächlichen Mitarbeiter hätten das Werk des Erasmus, trotz seiner Fehler, mit Sympathie aufgenommen. Vgl. M. Bataillon, Érasme et l’Espagne. Recherches sur l’histoire spirituelle au XVIe siècle. Préface de J.-C. Margolin, Genève 1998 [Reprint de la thèse de 1937], 98–102. 45 Vgl. Rummel, Critics, Bd. I, 152, 166. 46 »[…] hominemque [sc.Erasmum] non Luterianum esse solum sed Luteraniorum signiferum ac principem lectori aperte commonstrarimus.« Erasmi Roterodami blasphemiae et impietates per Iacobum Lopidem Stunicam nunc primum propalatae ac proprio volumine alias redargutae, Rom: Antonius Bladus, 1522, fol. Aiiv.

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einer letzten Phase kehrte Zúñiga wieder zu philologischen Ausstellungen zurück und listete auch alle Stellen auf, an denen Erasmus seine Kritik angenommen habe. Der Nachlassverwalter Zúñigas machte Erasmus schließlich weitere unpublizierte Manuskripte zugänglich. Da diese verschollen sind, lässt sich nicht mehr feststellen, was Erasmus davon übernommen hat. 2 2.1

Regeln der Schriftauslegung und exegetische Arbeit Lefèvre

Trotz des ihnen gemeinsamen Bemühens um eine zuverlässige Textbasis gingen Lefèvre d’Etaples und Erasmus bei der Auslegung unterschiedliche Wege. In der Widmungsvorrede zu seinem »Quincuplex Psalterium«47 lehnt Lefèvre die traditionelle Lehre vom vierfachen Schriftsinn zwar nicht rundweg ab48, setzt ihr aber seine Auffassung von einem zweifachen Literalsinn entgegen49. Er unterscheidet einen uneigentlichen und einen eigentlichen Literalsinn. Der erstere ist die Wahrnehmung derer, die wegen ihrer Blindheit nichts sehen und das Göttliche fleischlich verstehen, der letztere diejenige, der Sehenden und Erleuchteten; jener ist vom menschlichen Sinn hervorgebracht, dieser von Gottes Geist eingegossen; jener drückt den menschlichen Geist nieder, dieser erhebt ihn. Interessanterweise beruft Lefèvre sich für diese Einsicht auf die Erfahrung von Ordensleuten, welche die wörtliche Schriftauslegung traurig und hilflos macht und deren Frömmigkeit wie ein mit kaltem Wasser übergossenes Feuer in sich zusammenfallen lässt50. An einer Reihe von Beispielen aus den Psalmen macht er deutlich, dass es ihm um deren christliche und auf Christus bezogene Interpretation geht, die sich natürlich von der jüdischen unterscheidet. Während diese etwa Ps 2,1–2 auf David als den »Gesalbten des Herrn« bezieht, sieht jene darin einen Hinweis auf Jesus Christus51. Die Psalmen rein nach dem uneigentlichen Literalsinn zu interpretieren, bedeutet, »David eher zu ei47 Der Text findet sich bei Rice, Epistels, ep. 66, 193–197. 48 Zumindest in der zweiten Auflage macht er die einschränkende Bemerkung: »non quod alios sensus, allegoricum, tropologicum et anagogicum, praesertim ubi res exposcit negare velim« (Rice, Epistles, 194 Anm. e). Vgl. auch H. de Lubac, Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture, Bd. 2/2 (Theol[P] 59), Paris 1964, 418f. 49 Zum Folgenden vgl. ebd., 412–422; Bedouelle, Lefèvre, 173–189. 50 »Quapropter duplicem crediderim sensum litteralem: hunc improprium, caecutientium et non videntium qui divina solum carnaliter passibiliterque intelligunt, illum vero proprium, videntium et illuminatorum […]« (Lefèvre, ep. 66: Rice, Epistles, 194). 51 Vgl. ebd., 195. Der Editor weist in den Anm. jeweils auf die Quellen hin, denen Lefèvre seine Informationen zur jüdischen Auslegung entnommen haben kann.

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nem Historiker als zu einem Propheten zu machen«52. Der eigentliche Literalsinn ist derjenige, den Paulus und die übrigen Apostel dargelegt haben. Da er der vom Heiligen Geist intendierte Sinn der biblischen Texte ist, ist er von allegorischer und tropologischer Auslegung zu unterscheiden. Letztere, so könnte man sagen, werden von den Interpreten als Auslegungsmethoden an die Texte herangetragen, ersterer ist darin enthalten, muss allerdings auch mit Hilfe des Heiligen Geistes »herausgelockt« werden53. Henri de Lubac, dem die nach wie vor unübertroffene Geschichte des vierfachen Schriftsinnes zu verdanken ist, stellt zu Recht fest, dass die von Lefèvre und auch von den Reformatoren praktizierte christologische Psalmenexegese, welche die Prophetenrolle Davids als des Verfassers der Psalmen zur Voraussetzung hat, keineswegs, wie gelegentlich behauptet, frühreformatorisch ist, sondern eine lange Vorgeschichte hat54. Auch die von Lefèvre verwendete Begrifflichkeit eines eigentlichen und uneigentlichen Literalsinnes hat ihre Vorläufer in Jean Gerson55 und den spätmittelalterlichen Exegeten Nikolaus von Lyra, Mathias Doering und vor allem Paulus von Burgos, deren Werke zusammen mit der Glossa ordinaria überliefert wurden56. Eine Nachgeschichte hat die von Lefèvre praktizierte Schriftauslegung entsprechend dem geistlichen Literalsinn in der im 20. Jahrhundert in der römischkatholischen Exegese intensiv geführten Debatte um einen »sensus plenior« der Heiligen Schrift. Gemeint ist damit »ein von Gott intendierter Sinn eines biblischen Textes […], welcher dem Hagiographen bei dessen Abfassung nicht notwendig bewusst war und erst im Verlauf der weiteren Offenbarungs- bzw. Dogmengeschichte – sei es durch Interpretation eines alttestamentlichen Textes im Neuen Testament, sei es durch verbindliche kirchliche Auslegung – zutage getreten ist.«57 Die von Gottes Geist geleitete christologische Interpretation der Heiligen Schrift zielt für Lefèvre auf das Einswerden des Glaubenden mit Christus, das er mit einem wohl von Nicolaus Cusanus entlehnten Begriff als »Christiformitas« beschreibt58. Diese kann nur von Gott geschenkt werden. Um sie empfangen zu können, bedarf es freilich beim 52 Ebd., 195. Lefèvre setzt voraus, dass der uneigentliche Literalsinn historische Informationen enthält, dass er aber nach der Ankunft Christi nur noch tötender Buchstabe ist. Vgl. de Lubac, Exégèse, 415. 53 »Sensus igitur litteralis et spiritualis coincidunt, non quem allegoricum aut tropologicum vocant, sed quem spiritus sanctus in propheta loquens intendit. Et huic eliciendo sensui, quantum spiritus Dei dedit, invigilavimus.« (Lefèvre, ep. 66: Rice, Epistles, 195f.). 54 Vgl. de Lubac, Exégèse, 413f. Vgl. auch Bedouelle, Lefèvre, 181, Anm. 9. 55 Vgl. F. Hahn, Zur Hermeneutik Gersons, in: ZThK 51 (1954), 34–49, hier 48. 56 Vgl. G. Ebeling, Lutherstudien, Bd. 1, Tübingen 1971, 124f. Paulus von Burgos spricht ausdrücklich von einem »sensus literalis proprius«, den er als »propheticus« charakterisiert. Vgl. ebd., 125, Anm. 176. 57 P. Walter, Art. Sensus plenior, LThK IX (³2000), 467 (Abkürzungen aufgelöst). 58 Vgl. Bedouelle, Lefèvre, 228f.

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Empfangenden einer gewissen Offenheit. Diese Vorbereitung geschieht durch gute Werke, die den Menschen nicht rechtfertigen, sondern auf die Rechtfertigung und die »Christiformitas« bzw. »diviniformitas« vorbereiten. Lefèvre vergleicht sie mit dem Augenaufschlag, den es braucht, damit das Sonnenlicht von der Pupille wahrgenommen werden kann59. Wenn Lefèvre auch mit dem protestantischen Formalprinzip des »sola scriptura« übereinstimmt, so unterscheidet er sich doch im Hinblick auf das Materialprinzip der Rechtfertigung »sola fide«60. 2.2

Erasmus von Rotterdam

Erasmus scheint sich von der von Lefèvre vertretenen Auffassung eines zweifachen Literalsinnes durch die schlichte Feststellung abzugrenzen: der »sensu[s] historicu[s]« sei »simplex«61. Da er im Folgenden die drei geistlichen Schriftsinne aufzählt und kurz charakterisiert62, kann »simplex« auch »ungekünstelt« bedeuten im Unterschied zu den besondere hermeneutische Fertigkeiten voraussetzenden geistlichen Sinnen. Aber im Vergleich zum Sprachgebrauch Lefèvres und seiner Gewährsleute, die von einem »duplex sensus litteralis« sprechen, erscheint die Wortwahl des Erasmus in bewusstem Gegensatz dazu gewählt und durch die nähere Bestimmung des »sensus grammaticus«63 als »historicus« noch verstärkt. Erasmus scheint die letztere Bezeichnung zu bevorzugen64 und in späteren Schriften häufig auch »sensus germanus« bzw. »sensus rectus« zu gebrauchen65. Um die Erschließung des Literalsinns der Heiligen Schrift, aber auch darum, zu erkennen, wann weitere Auslegungsweisen nötig oder ange59 Vgl. Faber, Pauli epistolae, Paris 1515, fol. 68v, zit. nach: Bedouelle, Lefèvre, 228 Anm. 40. 60 Vgl. ebd., 233, Anm. 13. Zur Rolle der guten Werke bei der Rechtfertigung für Lefèvre vgl. F. Hahn, Faber Stapulensis und Luther, ZKG 57 (1938), 356–432, hier 378–382. 61 Erasmus, Ratio: Holborn, Werke, 284, 3f. 62 Vgl. ebd., 284, 4–7. Vgl. dazu P. Walter, Erasmus von Rotterdam und der mehrfache Schriftsinn, in: ders., Syngrammata. Gesammelte Schriften zu Humanismus und Katholischer Reform, hg. von G. Wassilowsky (RGST. Supp.-Bd. 6), Münster 2015, 99– 112, hier 105f. 63 Vgl. Erasmus, Ratio: Holborn, Werke, 280, 26; ders., Ecclesiastes: ASD V-5, 220, 450f. [zit. in Anm. 64], 226, 565. Für die hier und in den folgenden Anmerkungen angegebenen Stellen wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. 64 Vgl. auch Erasmus, Ecclesiastes: ASD V-5, 220, 450f.: »grammaticum siue literalem aut, si mauis historicum [sc. sensum]«; vgl. auch ebd., 208, 164: »sensus historicus siue grammaticus«; 220, 445: »historicum siue grammaticum [sc. intellectum]«. – »sensus historicus«: Erasmus, Ratio: Holborn, Werke, 189, 14; 275, 3–7; 284, 26; Erasmus, Ecclesiastes: ASD V-5, 114, 225; 116, 249; 210, 215.229; 240, 933.935; 242, 945. 65 »germanus«: Erasmus, Ecclesiastes: ASD V-4, 362, 909; V–5, 182, 618; 200, 2f.; 252, 196; »rectus«: ASD V-5, 182, 620.624.634; 248, 111.

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bracht sind, kreisen die gesamten hermeneutischen Überlegungen des Erasmus. Grundlegend ist die Kenntnis der biblischen Sprachen, auch wenn nicht jeder zu einem selbständigen Urteil in philologischen Fragen fähig sein muss. Erasmus selbst gibt zu, dass er mit dem Hebräischen seine Schwierigkeiten hat, weswegen er sich dafür der Hilfe anderer bedient66. Außerdem muss der Ausleger die geographischen, historischen, kulturellen und andere für die Auslegung hilfreiche Realien kennen67. Da die gesamte Bibel schließlich Wort Gottes im engeren Sinn, d.h. Anrede Gottes an die Menschen, ist, hat Erasmus zu ihrer Interpretation die Regeln der antiken Rhetorik, wie sie sich etwa bei Quintilian finden, fruchtbar zu machen versucht68. Ebenso wie für Lefèvre hat auch für Erasmus die Schriftauslegung zutiefst geistliche Voraussetzungen. Bereits im »Enchiridion militis Christiani« (1504) betrachtet Erasmus die Heilige Schrift als das einzigartige Medium der Begegnung zwischen Gott und Mensch: »Denk daran, dass die Heiligen Schriften in der Tat reine Orakel sind, die aus der Tiefe des göttlichen Geistes hervorkommen. Du wirst spüren, dass du auf unaussprechliche Weise von der Gottheit angeweht, erfüllt, hinweggerafft und verwandelt wirst, wenn du dich fromm, mit Verehrung, demütig nahst.«69 Seiner Ausgabe des Neuen Testamentes hat er eine eigene Schrift, »Paraclesis«, vorangestellt, in welcher er zu dessen Lektüre aufruft: »Nach diesen Schriften sollen wir von ganzem Herzen dürsten, sie sollen wir ins Herz schließen, in ihnen ausdauernd verweilen, sie mit Lob überhäufen, mit ihnen uns vornehmlich abmühen, in sie sollen wir verwandelt werden, da ja unsere Lektüre in unser Verhalten übergeht. Wer das nicht erreicht – aber wer kann es nicht, wenn er nur will –, der möge diese Schriften wenigstens als Schrein des göttlichen Herzens verehren.«70 Denn nichts, weder Reliquien noch Bilder, vergegenwärtigt Christus so deutlich und wahr wie die Evangelien71. Der Sache nach stimmt Erasmus mit dem überein, was Lefèvre als »Christiformitas« bezeichnet, auch wenn er diesen Begriff nicht zu verwenden scheint. Diesem Ziel entsprechend geht es Erasmus immer um eine geistliche Schriftauslegung, um ein Fruchtbarwerden der Bibel für das geistliche Leben ihrer Leser. Das Mysterium der Heiligen Schrift ist, wie Erasmus im »Enchiridion« mit den biblischen Bildern vom Manna und dem Wasser aus dem Felsen (Ex 16–17) verdeutlicht, hinter bzw. unter dem 66 Vgl. J. Chomarat, Grammaire et rhétorique chez Erasme (Les Classiques de l’humanisme, Études 10), Paris 1981, 321–326. 67 Vgl. Walter, Theologie, 106–121. 68 Für die Anwendung der rhetorischen Regeln auf die Schriftauslegung durch Erasmus vgl. ebd., 153–200. 69 Erasmus, Enchiridion militis Christiani: Holborn, Werke, 33, 19–22. 70 Erasmus, Paraclesis: Holborn, Werke, 148, 29–34. 71 Vgl. ebd., 149, 1–3. Zum Ganzen vgl. Walter, Theologie, 62–67.

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Buchstaben verborgen und muss zutage gefördert werden72. Die Heilige Schrift bringt nur wenig Frucht, wenn man beim Buchstaben stehenbleibt, wie umgekehrt heidnische Dichtungen eine nützliche Lektüre darstellen, wenn man sie allegorisch versteht73. »Ja, vielleicht wird eine allegorisch ausgelegte poetische Fabel mit etwas mehr Frucht gelesen als eine Erzählung der Heiligen Schrift, wenn du an der Oberfläche bleibst.«74 Deshalb empfiehlt Erasmus unter den christlichen Schriftauslegern jene als Vorbilder, die so weit wie möglich vom Buchstaben abrücken; für ihn sind dies neben Paulus Origenes, Ambrosius, Hieronymus und Augustinus75. Erasmus stützt seine Anweisung zur geistlichen Schriftauslegung vor allem auf das Wort des johanneischen Jesus: »Das Fleisch nützt nichts, der Geist ist es, der lebendig macht« (Joh 6,6476), welches »im Lauf von fast zwei Jahrtausenden […] die christliche Kirche immer neu zum Übergang von der dem Fleischbereich der Geschichte zugewandten Bibelauslegung zur Bibelauslegung im Geistbereich der Geschichte ermutigt [hat].«77 Erasmus deutet dieses Wort im Rahmen seiner »platonischen« Sicht der Welt und des Menschen, nach der es darum geht, jeweils vom Sichtbaren zum Unsichtbaren vorzudringen78. Dieses »Grundgesetz der christlichen Frömmigkeit«79 »gilt auch für alle literarischen Werke, die sich aus einem schlichten Sinn und einem Mysterium wie aus Leib und Seele zusammensetzen, und bei denen unter Missachtung des Buchstabens vor allem auf das Mysterium zu schauen ist«80. Erasmus entwickelt eine Theorie der Allegorese, welche er auf Augustinus, Dionysius Pseudo-Areopagita und ganz besonders auf Orige72 Vgl. Erasmus, Enchiridion: Holborn, Werke, 30, 22f.; 30, 30–31, 30. Zum Hintergrund dieser Deutung bei Origenes vgl. A. Godin, Érasme lecteur d’Origène (THR 190), Genève 1982, 63, 101. 73 Vgl. Erasmus, Enchiridion: Holborn, Werke, 32, 18–21. 74 »Immo fortasse plusculo fructu legetur fabula poetica cum allegoria quam narratio sacrorum librorum, si consistas in cortice.« (ebd., 70, 29f.). 75 Vgl. ebd., 33, 31–33. 76 Erasmus zitiert dieses Wort in gegenüber dem biblischen Text umgekehrter Reihenfolge. Er gleicht es dadurch dem paulinischen »Der Buchstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht« (2Kor 3,6) an. 77 H. Riedlinger, Der Übergang von der geschichtlichen zur geistlichen Bibelauslegung in der christlichen Theologie, in: ders. (Hg.), Die historisch–kritische Methode und die heutige Suche nach einem lebendigen Verständnis der Bibel (Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), München/Zürich 1985, 89–115, hier 95f. Joh 6,64 ist der von Erasmus im »Enchiridion« am häufigsten zitierte Beleg, an zweiter Stelle rangiert 2Kor 3,6. Vgl. Holborn, Werke, Register. 78 Vgl. dazu A. Auer, Die vollkommene Frömmigkeit des Christen. Nach dem Enchiridion militis Christiani des Erasmus von Rotterdam, Düsseldorf 1954, 63–95; zu den platonischen und origenischen Quellen vgl. Godin, Érasme, 43–76. 79 Auer, Frömmigkeit, 80. 80 Erasmus, Enchiridion: Holborn, Werke, 70, 13–16.

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nes zurückführt. Von Letzterem übernimmt Erasmus im Wesentlichen auch die Begründung der Notwendigkeit allegorischer Auslegung aufgrund der »Unvernünftigkeit« bzw. »Unmöglichkeit« des Wortlautes eines Schrifttextes, etwa anthropomorpher Schilderungen Gottes im Alten Testament. Im Unterschied zu Origenes geht es Erasmus freilich vor allem um dessen ethische Fruchtbarmachung81. Erasmus führt für die allegorische Auslegung der Schrift allerdings auch ästhetische Gründe ins Feld: Eine Sache erfreut und erquickt umso mehr, je mehr man sich um sie mühen muss. Aus diesem Grund hat Gott, der Autor der Heiligen Schrift, in derselben seine Heilswahrheit nicht nur klar und deutlich niedergelegt, sondern wie ein guter Schriftsteller bzw. Redner dies auch in versteckter und verschlüsselter Form getan, das heißt, er hat sich rhetorischer Stilmittel bedient. Diesen Aspekt, der im »Enchiridion« eher im Hintergrund stand82, beleuchtet Erasmus in der »Ratio verae theologiae«. Auch hierfür stützt er sich hauptsächlich auf Origenes. Die göttliche Weisheit hat gleichsam Stolpersteine in den biblischen Text eingebaut, damit die Leser auf den darin enthaltenen tieferen Sinn aufmerksam werden83. Der wahre Sinn einer Schriftaussage, deren »Unsinn« auf der Ebene der wörtlichen Auslegung feststeht, ergibt sich für Erasmus aufgrund des Analogieprinzips, welches für ihn als Grundlage der grammatisch-rhetorischen Textauslegung zu gelten hat und das auf die Interpretation der Heiligen Schrift übertragen bedeutet, diese im Kontext der kirchlichen Lehre aus sich selbst heraus, d.h. mittels Beleuchtung dunkler Aussagen durch klare, zu interpretieren84. Gott selbst ist für Erasmus Garant dieser Auslegung, da er den Wortlaut des Textes so eingerichtet hat, dass ein entsprechend vorgebildeter und geistlich disponierter Leser zu den Tiefenschichten vordringen kann85. Erasmus lehnt sowohl ein Übermaß an Allegorese, was er dem sonst von ihm favorisierten Origenes und dessen Nachahmern, besonders Ambrosius und Hilarius, vorwirft, als auch die völlige Missachtung derselben ab und plädiert für eine maßvolle Verwendung86. In seinem letzten großen, 1535 erschienenen Werk »Ecclesiastes sive de ratione concionandi« setzt Erasmus bei der Erörterung der allegorischen Schriftauslegung insofern einen neuen Akzent, als er die Allegorie hier konsequent als eine Spezies der Gattung »Metapher« betrachtet. 81 Vgl. dazu Walter, Theologie, 208–211. 82 Vgl. ebd., 210f. 83 Vgl. Erasmus, Ratio: Holborn, Werke, 274, 30 – 275, 1 (Erweiterung aus dem Jahr 1523). Im Hintergrund steht, wie Godin, Érasme, 275f. herausgearbeitet hat, Origenes, De principiis 4,2,9. Beispiele bei Walter, Theologie, 214–216. 84 Zum erasmischen Analogieprinzip vgl. Walter, Theologie, 154–160. 85 Vgl. ebd., 216f. 86 Vgl. ebd., 217–223.

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Der Metapher kommt unter allen Redefiguren der Primat zu, da keine wirkungsvoller überzeugt, die Sache augenscheinlicher präsentiert, kraftvoller die Affekte beeinflusst, eindrucksvoller, anmutiger und ansprechender wie auch abwechslungsreicher ist als sie87. Hinsichtlich aller in der Schrift begegnenden Tropen gilt die Grundregel: »Es ist keine tropische Auslegung zu Hilfe zu holen, wenn die schlichte Aussage einen frommen und gesunden Sinn hat und mit den übrigen Schriftaussagen übereinstimmt, es sei denn die tropische Auslegung unterstütze die einfache Aussage.«88 Erasmus hält sich auch in dieser Spätschrift an die in seinen früheren Veröffentlichungen zum Thema aufgestellten theologischen und ästhetischen Kriterien. Erasmus illustriert dies am Beispiel des Hohenliedes. Dieses biblische Buch verlange, da sein Wortsinn wenig fromm sei, eine allegorische Auslegung; die Deutung von Bräutigam und Braut auf Jesus Christus und die Kirche, wie sie die Kirchenväter vornahmen, ist nach Erasmus legitim, wohingegen er eine marianische Auslegung ablehnt, da es für ihn nicht angeht, die dem Wortsinn nach erotischen Aussagen auf die allerkeuscheste Jungfrau zu beziehen89. Erasmus hat nicht nur über die Grundlagen der Schriftauslegung reflektiert, sondern diese auch praktiziert, zum einen in der heute weitgehend vergessenen Form der Paraphrase, zum andern in der des Kommentars. Zwischen 1517 und 1524 veröffentlichte er in regelmäßiger Folge Paraphrasen zum gesamten Neuen Testament mit Ausnahme der Offenbarung des Johannes90. Während es ihm bei seiner Übersetzung um eine möglichst getreue Wiedergabe des Textes ging, soll die Paraphrase in freierer, den Gesetzen der lateinischen Sprache entsprechender und zugleich dunkle Aussagen erklärender Weise den Inhalt verständlich machen. Es geht darum, das Gesagte anders zu sagen, ohne anderes zu sagen91, wobei die Fiktion entsteht, als spräche der Autor selber92. Erasmus relativierte später den damit gegebenen Anspruch, indem er den kommentierenden Charakter herausstellte93. Die Paraphrasen sollen 87 Vgl. Erasmus, Ecclesiastes: ASD V-5, 154, 22–25. Zur erasmischen Metapherntheorie vgl. Walter, Theologie, 226–234, 239–246. 88 Erasmus, Ecclesiastes: ASD V-5, 182, 620–622. 89 Vgl. ebd., 208, 168–187. 90 Da in der kritischen Edition bisher nur ASD VII-6 erschienen ist, sind die Paraphrasen des Erasmus weiterhin zu konsultieren in: Desiderii Erasmis Roterodami Opera omnia emendatiora et auctiora, ed. J. Clericus, Bd. 7, Leiden 1706, Nachdruck Hildesheim 1962. 91 »[…] sic aliter dicere vt tamen non dicas alia […]«. Erasmus, Vorrede zur Römerbriefparaphrase: Allen, Opus, Bd. III, 138, 30f. (ep. 710). 92 »[…] Paulus ipse loqui videatur.« Ebd., 138, 47f. 93 »Est enim paraphrasis non translatio, sed liberius quoddam commentarii perpetui genus, non commutatis personis.« Erasmus an Luis Núñez Coronel, 21.4.1522: Allen, Opus, Bd. V, 47, 37–39 (ep. 1274). Vgl. auch ebd., 172, 395–397 (ep. 1333: Vorwort zur Paraphrase des Johannesevangeliums).

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die Bibel nicht ersetzen, sondern sie den Menschen näherbringen, so wie man Speisen kocht, damit sie lieber und mit größerem Vergnügen gegessen werden94. Die Paraphrasen erreichten eine beachtliche Breitenwirkung sowohl im lateinischen Original als auch in volkssprachlichen Übersetzungen. In England sollte laut königlichem Erlass von 1547 in jeder Pfarrkirche ein Exemplar der Evangelienparaphrasen in Übersetzung zum allgemeinen Gebrauch aufliegen95. Im deutschsprachigen Raum wurde der Anfangserfolg der übersetzten Paraphrasen zu den neutestamentlichen Briefen durch das Erscheinen von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments gebremst, so dass die Übertragung der Evangelienparaphrasen lange auf sich warten ließ96. Zeitweise scheint Erasmus vorgehabt zu haben, den gesamten Psalter zu kommentieren, hat jedoch nach Ps 4 die fortlaufende Kommentierung aufgegeben und sich, ohne erkennbares Prinzip und in lockerer Folge, einzelnen Psalmen, insgesamt elf, zugewandt97. Auch wenn er stets um die Aufhellung philologischer und historischer Details bemüht blieb, war die Zielrichtung seiner Psalmenauslegung eine geistliche. Mit fast der gesamten christlichen Tradition hielt er an der christo- und ekklesiologischen Deutung der Psalmen fest. Im Vordergrund stand für ihn freilich die tropologische Auslegung, welche die zum Grundbestand des christlichen Betens, vor allem der Geistlichen, gehörenden Texte für das Leben fruchtbar machen möchte. Da er nur rudimentäre Hebräischkenntnisse besaß, war er auf die Mithilfe von Hebraisten angewiesen. In drei Fällen verfasste er, ausgehend vom Text eines Psalms, Traktate zu aktuellen Fragen, so über die Reinheit der Kirche (Ps 14 [15]), den Türkenkrieg (Ps 28 [29]) und die Einheit der Kirche (Ps 83 [29]). In der »Consultatio de bello Turcis inferendo« (Basel 1530) stellt Erasmus ausführlich die osmanische Expansion dar, die die Christen durch ihre Uneinigkeit und Feigheit ermöglicht haben. Die »Türken« sind, wie er mit dem zentralen Stichwort von Ps 28 (29) darlegt, eine »vox Domini«, um die Christen zur Umkehr zu rufen. Jene verdanken ihre Siege nicht ihrer Tugend, sondern den Untugenden der Christen, die ihren Gegnern in nichts nachstehen. Ein gerechter Krieg gegen die Osmanen kann 94 Erasmus, Vorwort zur Paraphrase des Lukasevangeliums: Allen, Opus, Bd. V, 322, 422–425 (ep. 1381). 95 J. Craig, Forming a Protestant Consciousness? Erasmus’ Paraphrases in English Parishes, 1547–1666, in: H.M. Pabel / M. Vessey (Hg.), Holy Scripture Speaks. The Production and Reception of Erasmus’ Paraphrases on the New Testament (ErasSt 14), Toronto/Buffalo/London 2002, 313–359. 96 Vgl. H. Holeczek, Erasmus deutsch, Bd. 1, Stuttgart - Bad Cannstatt 1983, 109– 128. 97 Edition: ASD V-2 und 3.

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nur erfolgreich sein, wenn die christlichen Völker und ihre Führer die Ursache für Gottes Zorn, ihre Sündigkeit, überwinden. Erasmus, der hier seinen Pazifismus modifiziert, schließt einen Krieg nicht völlig aus, fordert aber die Christen auf, durch ein wahrhaft christliches Leben die Gegner zu bekehren. Den Kommentar zu Ps 83 (84) nutzt Erasmus, um für die Wiederherstellung der Eintracht der Kirche zu werben (»Liber de sarcienda Ecclesiae concordia« [Basel 1533]). Die Krankheit der Spaltung sei noch nicht zur Unheilbarkeit fortgeschritten. Es bedürfe eines AufeinanderZugehens beider Lager, welches Erasmus mit dem Ausdruck συγκατάβασις (Herablassung) bezeichnet, den griechische Kirchenväter für die Inkarnation des Logos gebraucht haben. Er fordert Reformen, die vor allem den geistlichen Charakter des kirchlichen Amtes wieder deutlich werden lassen, und plädiert dafür, Gebräuche, wie das Gebet für die Verstorbenen, die Anrufung der Heiligen, die Bilder- und Reliquienverehrung, die Beichte usw., die von den Lutheranern als Missbräuche gebrandmarkt werden, als Zeugnisse echter Frömmigkeit zu tolerieren. Seine Hoffnung für eine Einigung setzt er auf ein allgemeines Konzil. Die Schrift, die noch zu seinen Lebzeiten zahlreiche Nachdrucke erlebte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, war das Manifest der Vermittlungstheologie des 16. Jahrhunderts98. Es verwundert nicht, dass die Werke des Erasmus ebenso auf dem römischen Index der verbotenen Bücher landeten wie diejenigen Lefèvres99. 3

Lefèvre und Erasmus im Vergleich

Von den beiden hier betrachteten humanistischen Schriftauslegern ist Erasmus von Rotterdam sicher der versiertere Philologe. Der Unterschied ihres exegetischen Ansatzes lässt sich am besten an ihrem Streit um die Auslegung von Hebr 2,7 festmachen, wo Ps 8,6 zitiert wird100. Obwohl der Hebräerbrief hier der Septuaginta folgt, wo es heißt: »du 98 Vgl. P. Walter, Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit. Erasmus und sein Umkreis, in: ders., Syngrammata, 113–134, hier 118–124, 129–131. 99 Während seine Werke von dem Index Pauls IV. (1559) in Bausch und Bogen verworfen wurden, gestattete derjenige von Pius IV. (1564) purgierte Ausgaben. Da solche jedoch von den theologisch einschlägigen Werken nicht erschienen sind, blieb die Situation unverändert. Vgl. S. Seidel Menchi, Erasmus als Ketzer. Reformation und Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts (SMRT 49), Leiden / New York / Köln 1993, 287, Anm. 43. 100 Vgl. die Rekonstruktion des Streites bei Bedouelle, Lefèvre, 218–223; ders., Introduction, in: Collected Works of Erasmus, Bd. LXXXIII, Toronto/Buffalo/London 1998, xi–lvi, hier xvii–xxii.

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hast ihn für kurze Zeit geringer gemacht als die Engel«, plädiert Lefèvre, der davon überzeugt ist, dass dieser Brief ursprünglich auf Hebräisch abgefasst war, in der Erstausgabe seines Kommentars zu den Paulusbriefen dafür, der Psalmenübersetzung »iuxta Hebraeos« entsprechend zu lesen: »du hast ihn ein wenig geringer gemacht als Gott«. Erasmus hält sich dagegen in seinem »Novum Instrumentum« an den griechischen Text und sieht darin mit Thomas von Aquin die Wahrheit der Inkarnation ausgesprochen, letztlich kann er zwischen den beiden Fassungen keinen wesentlichen Unterschied in der Aussage erkennen. Lefèvre reagiert darauf in der zweiten Auflage seines Pauluskommentars mit heftigen Vorwürfen. Wenn Erasmus zur Stützung seiner Auffassung Ps 21 (22),7 (»Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet.«) auf Jesus bezieht, dann ist dies für Lefèvre »gottlos und Christi ebenso wie Gottes unwürdig, dem Geist widerstreitend und dem tötenden Buchstaben folgend«101 . Für Lefèvre ist der Sinn eines Bibelverses aus dem Gesamt der Schrift zu erheben und muss der Würde seines Gegenstandes, hier dem Gottessohn, entsprechen. Erasmus reagiert darauf 1517 mit seiner »Apologia ad Iacobum Fabrum Stapulensem«, in der er zum einen dessen philologische Fähigkeiten bezweifelt und zum anderen seine eigene Rechtgläubigkeit herausstellt. Er wiederholt seine Auffassung, dass zwischen den beiden Fassungen von Ps 8,6 bezogen auf Jesus Christus kein Unterschied bestehe und das theologische Problem mittels der Lehre von der Idiomenkommunikation, des Austauschs von Aussagen über die göttliche und die menschliche Natur des Gottmenschen, zu lösen sei. Während Lefèvre Philologie und Theologie vermischt, versucht Erasmus beide auseinanderzuhalten und Probleme durch Unterscheidung zu lösen, wobei er durchaus auch das Prinzip der Schriftanalogie anwendet, d.h. unklare durch klare Stellen zu erklären sucht. Abstract Jacques Lefèvre d’Étaples and Erasmus of Rotterdam, who both died in 1536, are two main representatives of the so-called »Bible humanism« of Central European humanists who concentrated their philological and exegetical work on the Bible. Both published improved and corrected Latin translations of the New Testament (Lefèvre also of the Psalms), thus criticizing the old Latin translation of the so-called Vulgata. In order to demonstrate the accuracy of his own translation of the New Testament, Erasmus published it together with the Greek text in 1516. This first printed Greek edition was prepared from manuscripts available to Erasmus. In interpreting the biblical text both humanists went slightly different ways. While Lefèvre showed a tendency to base his inter101 Lefèvre, [Kommentar zu den Paulusbriefen], Paris 1515, fol. 226v; zit. Bedouelle, Lefèvre, 221, Anm. 21.

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Ad fontes

pretation on traditional dogmatic presuppositions, Erasmus favoured philological methods. Nevertheless, both tried to offer spiritual help not only for clerics but for all Christian believers.

*** Peter Walter, geb. 1950, Dr. theol., war von 1990 bis 2015 Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg und Direktor des Arbeitsbereichs Quellenkunde der Theologie des Mittelalters (Raimundus-Lullus-Institut).

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Differenz oder Harmonie Die Herausbildung der konfessionellen Unterschiede im Schriftverständnis vor spätmittelalterlichem Hintergrund

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts galt das Schriftprinzip1 als ein entscheidendes konfessionelles Differenzmerkmal. Die evangelischen Kirchen als Kirchen des Wortes und des Schriftprinzips grenzten sich von der römisch-katholischen Kirche ab, in der die kirchliche Tradition weiter eine herausragende Bedeutung behielt. Das ökumenische Gespräch und auch die jeweilige kritische Selbstreflexion haben gezeigt, dass die damit gezeichneten Unterschiede bis zu einem gewissen Grade idealtypischer Art waren. Die evangelische Theologie konnte sich mit den Entdeckungen der Aufklärung der Einsicht nicht verschließen, dass die Heilige Schrift sowohl in der Entstehung ihrer einzelnen Bestandteile als auch in ihrer Kanonizität historisch bedingt ist2. Umgekehrt setzte sich mit dem Zweiten Vatikanum in der katholischen Theologie die Vorstellung durch, dass es Schrift und Tradition nur im Miteinander geben könne3. Damit wird man heute das, was im 16. Jahrhundert als konfes1 Streng genommen ist das Schriftprinzip in der im 20. Jahrhundert debattierten Form seinerseits allerdings ein Produkt des 19. Jahrhunderts; s. W. Sparn, Art. Schriftprinzip, LThK³ 9, Freiburg u.a. 2000, 266–268, 266. 2 S. hierzu W. Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 11–21; J. Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004 (HUTh 46). Als besonderes Problem für den Umgang mit der Schrift als einem normativen Text hebt C. Landmesser, Die Schrift und ihre Pluralität. Eine hermeneutische Anmerkung, in: ders. / H. Zweigle (Hg.), Allein die Schrift? Die Bedeutung der Bibel für Theologie und Pfarramt, Neukirchen-Vluyn 2013 (Theologie interdisziplinär 15), 29–45, die innere Pluralität des Neuen Testaments hervor und weist auf den konstruktiven Charakter von Normverwendungen hin: »Weder ›die Schrift‹ noch ›die Tradition‹ können als eigenständige Autoritäten unabhängig von Interpretationen in einem theologischen Diskurs aufgerufen werden. Wird dies dennoch getan, dann werden schlicht die je eigenen Interpretationen von Schrift und Tradition verabsolutiert. Was wir über Schrift und Tradition sagen, das sind immer Resultate und Momente unseres eigenen Interpretationshandelns« (44). 3 Vgl. die auf die Dogmatische Konstitution »Dei Verbum« bezogene Rede von J. Ratzinger von einem »katholische[n] Sola scriptura (…) totum in traditione« (LThK2, Bd. 13, 524). Aus dieser Situation zieht Th. Dieter, Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die Ökumene, in: Luther als Schriftausleger. Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die Ökumene, Erlangen 2010 (Veröffentlichungen der Luther-Akademie Sondershausen-Ratzeburg 7), 135–158, 157, die berechtigte Folgerung, dass der

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sionsunterscheidendes Merkmal gesehen wurde, als bloße Akzentunterscheidung auf einem gemeinsamen Weg Biblischer Theologie verstehen dürfen4. Ein Blick auf die Wurzeln dieses Unterschieds kann diesen in doppelter Hinsicht beleuchten: Zum einen lässt sich nachzeichnen, dass das, was sich in der Neuzeit in Konfessionen manifestierte, innermittelalterlich durchaus schon in unterschiedlichen Akzentsetzungen innerhalb der gemeinsamen Kirche vorlag. Zum anderen aber, und dies ist wohl für die evangelische Selbstsicht der bemerkenswerteste Punkt, lässt sich zeigen, dass die starke Entgegenstellung der Schrift zur Tradition ihren gewichtigsten Anhalt in der Kanonistik des späten Mittelalters hatte und zunächst auch von hier aus in der reformatorischen Bewegung aufgenommen wurde. 1.

Konfessionelle Festlegungen

Die Grundlagen für die neuzeitlichen konfessionellen Differenzen wurden durch die Lehrentscheidungen des 16. Jahrhunderts gelegt. Das Konzil von Trient nahm die Herausforderung auf, wie sie sich durch die Betonung der Heiligen Schrift in der reformatorischen Theologie stellte. Schon die Confessio Augustana hatte, freilich soteriologisch zugespitzt, formuliert: »Darüber wirt geleret, das alle satzungen und tradition, von Menschen der meinung gemacht, das man dadurch Gott versune odder vergebung der sunde verdiene oder gerecht fur Gott geschetzt werde, dem Evangelio und der lere vom glauben an Christum entgegen sind.«5

eigentliche Gegensatz nicht mehr im Verhältnis von Schrift und Tradition sondern von »Schrift und Lehramt« liege; vgl. auch Bernd Jochen Hilberath, Luthers Schriftprinzip als bleibende Herausforderung für die römisch-katholische Theologie und Kirche, ebd. 111–134. 4 S. Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Kanon – Heilige Schrift – Tradition. Gemeinsame Erklärung, in: W. Pannenberg / Th. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis, Bd. 1: Kanon – Schrift – Tradition (DialKir 7), Freiburg u.a. / Göttingen1992, 371–397, besonders 385–388. Den Unterschied benennt noch das amerikanische Dokument »Scripture and Tradition«: »Lutherans hold that Scripture alone is the ultimate norm by which traditions must be judged. Catholics hold that the decisive norm by which doctrines or traditions are judged is Scripture together with living apostolic tradition, which is perpetuated in the church through the influence of the Holy Spirit.« (H.C. Skillrud u.a. [Hg.], Scripture and Tradition [Lutherans and Catholics in Dialogue 9], Minneapolis 1995, 49f). Aus selbstkritischer katholischer Perspektive sind die auf gemeinsamer Grundlage bleibenden Unterschiede beschrieben bei Burkhard Neumann, Sola Scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip und seine Anfrage an die katholische Theologie, Catholica (M) 52 (1998), 277–296, 290–296. 5 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014, 110,1–4.

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Welche Brisanz diesem Satz innewohnte, war offenbar den Verfassern der Confutatio, die noch unmittelbar auf dem Augsburger Reichstag auf den von den evangelischen Ständen vorgelegten Bekenntnistext reagierten, gleich bewusst. So forderten sie, diese Lehre sei »gentzlich aufzuheben«6. Damit war aber der Notwendigkeit, die dogmatisch noch ganz offene Frage der Zuordnung von Schrift und Tradition zu klären, keineswegs Abhilfe geschafft. Dies sollte im »Dekret über die Annahme der heiligen Bücher und Überlieferungen« des Konzils von Trient vom 8. April 1546 erfolgen7. Die darin formulierte Lehre basiert auf einer Zweistufigkeit vom Evangelium selbst und seiner Vermittlung. Aus Sicht der Konzilsväter von Trient ist die »puritas ipsa Evangelii«8, die Reinheit des Evangeliums, dieser Vermittlung vorgegeben. Schon hierin zeigt sich, dass das, was aus reformatorischer Sicht auseinandertrat: das Evangelium selbst und die Tradition, innerhalb der werdenden römisch-katholischen Kirche zusammengehalten werden sollte. Denn das eine reine Evangelium bildete für Trient erst die Grundlage für eine zweifache Form der Übertragung: Die Lehre Jesu Christi war »in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen« auf die folgenden Generationen gekommen. Die mündlichen Traditionen wiederum wurden in der Weise näher bestimmt, dass sie »aus dem Mund Christi selbst oder von den Aposteln selbst durch Diktat des Heiligen Geistes gleichsam durch die Hände übertragen« worden seien9. Damit ist bei unbefangener Lektüre gegenüber dem evangelischen Schriftprinzip zweierlei festgehalten: erstens, dass es im Christentum solche Lehren gibt, die nicht unmittelbar auf die Lehre Jesu Christi zurückgehen, zweitens, dass diese in einer an die apostolische Amtsnachfolge gebundenen Tradierungsweise erhalten sind. In mehreren Beiträgen hat Josef Rupert Geiselmann im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils darauf aufmerksam gemacht, dass der beschlossene Text des Dekrets eine Abschwächung gegenüber dem vorherigen Entwurfstext darstellte10. An der entscheidenden Stelle hatte es 6 Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530, hg. v. H. Immenkötter (CCath 33), Münster 1979, 114. 7 DH 1501–1508. 8 DH 1501. 9 DH 1501: »in libris scriptis et sine scripto traditionibus (…) ab ipsius Christi ore (…) aut ab ipsis Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manu traditae«. 10 J.R. Geiselmann, Das Konzil von Trient über das Verhältnis der Heiligen Schrift und der nicht geschriebenen Traditionen. Sein Mißverständnis in der nachtridentinischen Theologie und die Überwindung dieses Mißverständnisses, in: M. Schmaus (Hg.), Die mündliche Überlieferung. Beiträge zum Begriff der Tradition, München 1957, 123–206, 133–150. Geiselmann zeigt bei dieser Gelegenheit auch den Hintergrund der partim – partim Formel im pseudodionysischen Traktat De ecclesiastica hierarchia auf (ebd. 140) und verweist auf Johannes Eck als einen der wichtigen Vertreter einer solchen Position (ebd. 141–147).

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im Vorschlag vom 22. März 1546 noch geheißen, die Lehren seien »teils in geschriebenen Büchern, teils in ungeschriebenen Traditionen« enthalten gewesen11. Das hätte in der Tat eine klarere materiale Aufteilung der Inhalte bedeutet, als sie im endgültigen Dekret erscheint. Diese Varianz zwischen Entwurf und Beschluss ist aber nicht belastbar genug, um in der Entscheidung des Konzils eine wirkliche Öffnung für das reformatorische Sola scriptura zu sehen12. Theologiehistorisch angemessen lässt es sich vielmehr am ehesten so verstehen, dass die Konzilsväter sich bemühten, Schrift und Tradition so in einem Harmoniemodell zusammenzudenken, dass es dem neuen Problemstand, der stärker die Unterschiedenheit beider Größen wahrnehmen ließ, gerecht würde. Hierzu diente insbesondere die zentrale Unterscheidung des Evangeliums selbst von den Medien, die es für die Kirche bewahren. Diesem Harmoniemodell stellte die evangelische Seite aber bald ein scharfes Differenzmodell entgegen. In seiner Kritik des Beschlusses von Trient erklärte Martin Chemnitz: »Wir legen dar, dass wir nicht einfach alle Traditionen verwerfen, die mit diesem Titel und Namen bei den Alten gerühmt werden. Diejenigen nämlich, die in der Schrift enthalten sind oder mit ihr übereinstimmen, lehnen wir nicht ab. Sondern vornehmlich stehen diejenigen Traditionen in Frage, die (…) durch kein Zeugnis der Schrift bewiesen werden können.«13

11 CT V, 31: »partim (…) in libris scriptis, partim sine scripto traditionibus«. 12 Treffend fasst J.W. Barbeau, Scripture and Tradition at the Council: Reapplying the »Conciliar Hermeneutic«, AHC 33 (2001), 127–146, 128f, zusammen: »(1) Trent intended to promulgate a ‚two source theory‘ of Tradition in spite of its irenic emendation of earlier drafts, and (2) Trent was received according to a two source notion of Tradition, though (3) Trent’s imprecise language leaves open the subsequent legitimacy, i.e., orthodoxy, of a ‚single source‘ notion of Tradition«; zur Begründung des zentralen ersten Satzes aus den Debatten von Trient s. ebd. 142–145; ähnlich hat, gleichfalls aufgrund einer genauen Analyse der Konzilsdebatten, auch bereits R.A. Daunis, Schrift und Tradition in Trient und in der modernen römisch-katholischen Theologie, KuD 13 (1967) 132–200, 139–152, argumentiert. Mit der »konziliaren Hermeneutik« schließt Barbeau an K. Hagen, A Conciliar hermeneutic of Trent on Tradition, AHC 9 (1977), 401–411, an, der allerdings, ohne in der Intensität wie Barbeau die Debatten in Trient zu untersuchen, zu einer Lösung gekommen ist, welche stärker die fortdauernde und überzeitliche Entsprechung von Schrift und Tradition betont. 13 M. Chemnitz, Examen Concilii Tridentini Locus 2: De traditionibus. Sectio 8 (ders., Examen Concilii Tridentini, hg. v. E. Preuß, Berlin 1861 98: »[…] ostendimus, nos non simpliciter omnes traditiones rejicere, quae hoc titulo et nomine apud veteres celebrantur. Quae enim aut in Scriptura continentur, aut Scripturae consentaneae sunt, illas non improbamus. Sed de illis potissimum traditionibus quaestio est, quae […] nullo Scripturae testimonio probari possunt«); vgl. ausführlicher zu der Schriftlehre des Examens: J.R.A. Menick, Sola scriptura and the Regula fidei : the Reformation scripture principle and early oral tradition in Martin Chemnitz’ Examination of the Council of Trent, SJTh 63 (2010), 253–271.

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Das Gegenüber von Schrift und Tradition wurde so in einer gewissen Differenziertheit formuliert und festgeschrieben. Die Akzeptanz von der Schrift entsprechenden Traditionen lief der Sache nach auf eine Ausschließlichkeit der Schrift als Kriterium hinaus, und genau so hat es dann die Konkordienformel auch gefasst, in welcher sich ein Großteil der lutherisch gewordenen Territorien und Städte14 1577 auf ein gemeinsames Bekenntnis einigten. Hiernach sollten die biblischen Schriften »die einige Regel und Richtschnur« der christlichen Lehre sein, »Andere schrifften aber (…) sollen der heiligen Schrifft nicht gleich gehalten, sondern alle zumal mit einander derselben unterworffen (…) werden«15. Diese Lehre nahm Leonhard Hütter 1610 in sein verbreitetes Compendium locorum theologicorum auf16 und unterfütterte sie durch die Bestätigung der völligen Suffizienz der Schrift17. Mit diesen Lehrfestlegungen war dem römisch-katholischen Harmoniemodell zum Verständnis der Zuordnung von Schrift und Tradition ein Differenzmodell entgegengestellt. Wo man in Trient von einer grundsätzlichen Herkunft von Tradition und Schrift aus der einen Quelle des mündlich vorgetragenen reinen Evangeliums ausging, war auf lutherischer Seite festgehalten, dass eben diese Reinheit nur in den kanonischen Schriften gesichert war, an welchen dementsprechend jede mündliche Tradition zu messen sei. Es wäre nun allerdings unzureichend, nur das Harmoniemodell als Erbe des Mittelalters zu sehen. Beide Konfessionen transformieren auf je unterschiedliche Weise mittelalterliche Denkmodelle. 2. Die Dominanz des Harmoniemodells in der mittelalterlichen Theologie Außer Frage steht, dass das dominierende Modell der mittelalterlichen Theologie das einer Harmonie von Schrift und Tradition war. Harmonie bedeutet dabei im strikten Sinne, dass die in den späteren konfessionellen Kontroversen thematisierte Differenz gar nicht gesehen wurde. Ulrich Köpf hat gezeigt, dass in der Theologie des 13. Jahrhunderts die Begriffe theologia und sacra pagina oder sacra scriptura austauschbar waren18. Man kann die mittelalterlichen Theologien gar nicht verstehen, 14 Zu der Problematik einer allgemeinen Rezeption der Konkordienformel im Luthertum s. I. Dingel, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, Gütersloh 1996. 15 Bekenntnisschriften 1216,9.15–17. 16 L. Hutter, Compendium I,10 (ders., Compendium locorum theologicorum, hg. v. W. Trillhaas, Berlin 1961, 3,5–10). 17 Hutter, Compendium I,8 (ders., Compendium [Ed. Trillhaas] 2,20–26). 18 U. Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert (BHTh 49), Tübingen 1974, 23. Für den tatsächlichen Umgang mit der Bibel, ihre

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wenn man sie von vorneherein durch das Raster der konfessionellen Unterscheidungen hindurch wahrnimmt und die in ihnen getroffen Zuordnungen hieran misst. Die Harmonie, die Trient durch seine Lehrentscheidung neu herstellen musste, war für die meisten mittelalterlichen Denker die fraglose Voraussetzung – und nur unter spezifischen, weiter unten darzustellenden Umständen trat sie auseinander. Zu den wichtigen Unterschieden zwischen mittelalterlicher und konfessioneller Theologie gehört auch, dass für Thomas von Aquin die Frage nach der Schrift als Quelle der Theologie in diesem Sinne gar nicht Teil der Grundlegung der Theologie war, sondern wiederum deren selbstverständliche Voraussetzung. Dies zeigt etwa der dem allgemeinen Befund entsprechende Wechsel zwischen den Begriffen »sacra doctrina« und »sacra Scriptura« in den Artikeln von ST I q. 119. Ebenso wenig wie diese Begriffe einander entgegenstanden, gab es einen begrifflichen Gegensatz von Schrift und Tradition. Thomas konnte vielmehr geradezu von traditiones Scripturae sprechen20. In einzelnen Aussagen hat er auch eine so offenkundige Präferenz für die Heilige Schrift formuliert21, dass kein Geringerer als Adolf von Harnack über ihn erklären Lektüre, ihren Gebrauch und ihre Kommentierung außerordentlich instruktiv ist Guy Lobrichon, La Bible au Moyen Age, Paris 2003 (Les médévites français 3). 19 S. in der Überschrift zu ST I q. 1: sacra doctrina (Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia [Ed. Leonina] 4, Rom 1888, 6), in der zu articulus 9 dieser quaestio: sacra scriptura (ebd. 23). 20 Thomas, Summa contra gentiles l. 4 c. 34 (Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia [Ed. Leonina] 15, Rom 1930, 119). 21 Auch É. Ménard, La tradition. Révélation, Écriture, Église selon Saint Thomas d’Aquin, Bruges / Paris 1964 (Studia 18), 144f, weist darauf hin, dass Thomas auch in seinen Schriftkommentaren gelegentlich den Gedanken einer ausschließlichen Geltung der Schrift vertreten habe; vgl. im selben Sinne F. Posset, Sola scriptura – Martin Luther’s invention? Commemorating the 500th anniversary of the Printed Edition of the Constitutions of the Order of St. Augustine in Nuremberg in 1504–1605, Aug(L) 56 (2006), 123–127, 123. Signifikant in diesem Sinne ist die Lectura super Epistolam ad Galatas c. 1 l. 2 Nr. 27 : »Dicendum quod nihil aliud evangelizandum est, quam illud quod continetur in evangeliis, et in epistolis, et in sacra scriptura implicite vel explicite. Nam sacra scriptura et evangelium evangelizat esse credendum Christo explicite. Unde quidquid continetur in eis implicite, quod facit ad doctrinam eius, et ad fidem Christi, evangelizari et doceri potest« (s. Thomae Aquinatis Super Epistolas S. Pauli Lectura, hg. v. R. Cai, Bd. 1, Turin/Rom 1953, 569). Der faktische Umgang mit der Schrift in der Bilderfrage zeigt freilich, dass das implicite einen weiteren Rahmen an Traditionsbeständen zu integrieren erlaubt, als dies in der reformatorischen Differenzhermeneutik angelegt ist. An dieser Stelle kann nicht weiter auf die interessanten Überlegungen von K. White, Aquinas on Oral Teaching, The Thom. 71 (2007), 505–528, zur philosophisch grundsätzlichen Unterscheidung von Oralität und Schriftlichkeit bei Thomas eingegangen werden. Neben der fundamentaltheologischen Frage nach der Zuordnung von Schrift und Tradition ist bei Thomas auch auf die Fülle und Intensität seiner Bibelauslegungen hinzuweisen (s. Th.G. Weinandy u.a. [Hg.], Aquinas in Scripture. An introduction to his Biblical Commentaries, London / New York 2005. Eine nach dogmatischen Kategorien treffende Zusammenfassung bietet B. Decker, Schriftprinzip und Ergänzungstradi-

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konnte: »Nur die hl. Schrift ist ihm absolut sichere Offenbarung gewesen. Alle übrigen Autoritäten galten ihm nur als relative.«22 Man wird aber vorsichtig sein müssen, die inklusiv intendierten Aussagen des Thomas23 über eine herausragende Bedeutung der Schrift als exklusiv gegen die Tradition gerichtet zu verstehen. Er kannte durchaus auch die Möglichkeit, dass in der christlichen Lehre solche traditiones legitimerweise Gültigkeit erlangen, die nicht in der Heiligen Schrift selbst festgehalten sind. So formulierte er in ST 3 q. 25 a. 3 zur Frage der Verehrung des Bildes Christi fiktiv ein Argument, nach welchem im Gottesdienst allein zu gelten habe, was Gott bestimmt hat24, und antwortete hierauf: »Zum vierten Argument ist zu sagen, dass die Apostel durch die vertraute Eingebung des Heiligen Geistes, den Gemeinden bestimmte Dinge zur Bewahrung übergaben, die sie nicht schriftlich hinterließen, sondern die in der Beachtung der Kirche durch die Nachfolge der Glaubenden geregelt sind.«25 tion in der Theologie des Hl. Thomas von Aquin, in: Schrift und Tradition, Essen 1962 (Mariologische Studien 1), 191–221, 213: »Thomas kennt also ohne Zweifel eine die Heilige Schrift inhaltlich ergänzende göttlich-apostolische Überlieferung, eine traditio constitutive divino-apostolica. Damit hat er aber noch nicht die Tradition als zweite Offenbarungsquelle der Heiligen Schrift im Sinne des tridentinums und der nachtridentinischen Theologie koordiniert. Denn verglichen mit der von ihm ständig als entscheidende Offenbarungsquelle benutzten Heiligen Schrift ist die von ihm postulierte Tradition eine – aufs Ganze gesehen – äußerst selten herangezogene Hilfsquelle.« 22 A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Dritter Band: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas II und III, Tübingen 51932, 497 Anm. 1; hierauf weist St.H. Pfürtner, Der reformatorischer ›Sola scriptira‹ – theologischer Auslegungsgrund des Thomas von Aquin?, in: C.-H. Ratschow (Hg.), Sola scriptura. Ringvorlesung der theologischen Fakultät der Philipps-Universität, Marburg 1977, 48–80, 54, hin. 23 H. Schüssler, Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter, Wiesbaden 1977 (VIEG 86), 51, übernimmt zur Charakterisierung der Zuordnung von Schrift und Tradition bei Thomas das treffende Bild der »prästabilierten Harmonie«. 24 ST III q. 25 a. 3 (Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia [Ed. Leonina] 11, Rom 1903, 278). 25 ST III q. 25 a. 3 ad 4 (ebd. 11, Rom 1903, 279): »Ad quartum dicendum quod Apostoli, familiari instinctu Spiritus Sancti, quaedam ecclesiis tradiderunt servanda quae non reliqerunt in scrpitis, sed in observatione Ecclesiae per successionem fidelium sunt ordinata.« Vor diesem Hintergrund ist auch die von Pfürtner, Sola scriptura 55, mit ebd. 77 Anm. 26, zugunsten eines thomasischen Sola scriptura herangezogene Aussage aus ST I q. 1 a. 8 ad 2 herangezogene Aussage zu verstehen: »Auctoritatibus autem canonicae Scripturae utitur proprie, ex necessitate argumentando. Auctoritatibus autem aliorum doctorum ecclesiae, quasi arguendo ex propriis, sed probabiliter. Innititur enim fides nostra revelationi Apostolis et Prophetis factae, qui canonicos libros scripserunt, non autem revelationi, si qua fuit aliis doctoribus factae« (Ed. Leonina) 4,22). Diese Feststellung unterscheidet nicht nicht kanonische und kanonische Schriften, sondern lediglich (wie Pfürtner, ebd. 55, durchaus richtig festhält, ohne aber die Differenz zur an-

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Gestützt wurde dieses Argument für die Bewahrung der Traditionen seinerseits durch einen biblischen Beleg: Thomas verwies auf 2Thess 2,15, wo die Vulgata für das Griechische παραδόσεις traditiones bietet, so dass tatsächlich eine Bestätigung der mündlichen Tradition erscheint: »Bleibt standhaft und bewahrt die Traditionen, die ihr gelernt habt, sei es durch Predigt, sei es durch einen Brief«26 Mit diesem Gedankengang ist einerseits deutlich, dass auch dem hohen Mittelalter wenigstens gedanklich die Vorstellung von einem Erweiterungen durch die Tradition ausschließenden Schriftprinzip gegenwärtig war, dass aber andererseits für ein repräsentatives Modell wie das des Aquinaten die Vorstellung einer Ergänzung durch mündliche Traditionen völlig selbstverständlich war. Hieran konnte später das Tridentinum anknüpfen. Dass ausgerechnet die Bilderfrage Thomas Anlass gab, über die Frage der Tradition zu reflektieren, hat seinerseits einen Anhalt in der gültigen kirchlichen Lehrbildung. Denn die klarste Lehrentscheidung zur Gültigkeit von nicht schriftlichen Traditionen hatte vor dem Tridentinum das siebte Ökumenische Konzil getroffen, das im Jahr 787 anlässlich der Bilderfrage tagte. Zu seinen Entscheidungen gehörte auch die Verurteilung derjenigen, die die schriftliche wie mündliche Überlieferung verwarfen27. Entsprechend war an hervorgehobenen Stellen immer wieder die Berufung auf die Lehre der Väter zur entscheidenden theologischen Markierung geworden, etwa auf dem Konzil von Lyon, als es um das Verständnis des Filioque ging28, oder, für Thomas als Lehrer an der Pariser Universität möglicherweise noch markanter, in dem Lehrschreiben Gregors IX. an die Pariser Theologen vom 7. Juli 1228, in welchem der Papst vor den philosophischen Neuerungen warnte und sich auf die heiligen Väter berief, die das Verständnis der sacra pagina bestimmen sollten29. Stellt man die genannte begriffliche Weite in Rechnung, dann ist damit nicht allein eine hermeneutische Erschließung der Schrift gemeint, sondern eine konstitutive Bedeutung für das Gesamtverständnis der Theologie. Vor diesem Hintergrund wird man als kirchlich bestimmte und von Thomas entfaltete Lehre des hohen deren Möglichkeit klar zu markieren) apostolische und nachapostolische Zeit. Der Relativsatz »qui canonicos libros scripserunt«, bestimmt zwar die Offenbarungsträger, sagt aber eben gerade nicht, dass sie alle ihnen zuteil gewordene Offenbarung ausschließlich schriftlich tradiert hätten. Interessant ist freilich, dass Thomas dasselbe oben angeführte Zitat aus einem Schreiben Augustins an Hieronymus folgen lässt, das in D. 9 c. 5 die Autorität der Heiligen Schrift unterstützen soll. Selbst hier also zeigt sich, dass die Herausstreichung der Autorität der Heiligen Schrift mit juridischen Fragen zusammenhängt. 26 »State, et tenete traditiones quas didicistis, sive per sermonem, sive per epistolam« (Ed. Leonina) 11,279). 27 DH 609. 28 Konzil von Lyon, 2. Sitzung (DH 850). 29 DH 824.

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Mittelalters das Zusammenspiel aus Schrift und Tradition festhalten dürfen. Auch Luther war eine solche Auffassung durch seine eigene Ausbildung präsent, denn sie war in das von ihm reich benutzte Collectorium Gabriel Biels eingegangen. Im Zusammenhang des Sakraments der Firmung erklärte dieser, dass »Gott viel macht, was nicht geschrieben ist (Joh 20), schließlich ist der Kirche vieles von den Aposteln überliefert und durch die Abfolge der Bischöfe auf uns geraten, was nicht im Kanon der Bibel aufgeschrieben ist.«30

Gerade die Beiläufigkeit, mit der der Tübinger Gelehrte diese Ansicht vortragen konnte, zeigt den Grad der Selbstverständlichkeit, den sie im ausgehenden Mittelalter besaß. 3. Formationen des Differenzmodells im Mittelalter im Horizont rechtlicher Fragestellungen Freilich ist die mittelalterliche Lehre vom Verhältnis von Schrift und Tradition so eindeutig nicht, wie es durch den Verweis auf Thomas und seine Vorgeschichte den Anschein haben könnte. In der englischsprachigen Forschung wird deutlicher als in der deutschsprachigen hervorgehoben, dass das Kirchenrecht hier eine andere Ausrichtung hatte. So spricht Scott S. Ickert zu Recht von einem »appeal to sola scriptura in medieval canon law«31. Tatsächlich gibt das Decretum Gratiani in D. 9 c. 5 ein hochbrisantes Zitat aus einem Schreiben des Kirchenvaters Augustin wieder: 30 Biel, Collectorium IV d. 7 q. un. A. 1: »(…) multa fecit Deus, quae scripta non sunt, Ioh. 20, multa denique tradita sunt ecclesiae ab apostolis et per successionem episcoporum ad nos derivata, quae non sunt scripta in canone Bibliae« (Gabrielis Biel Collectorium circa quattuor libros Sententiarum. Libri Quarti pars prima (dist. 1–14), hg. v. W. Werbeck / U. Hofmann, Tübingen 1975, 290, 54–56); zur Verbreitung solcher Auffassungen im späten Mittelalter s. J. Beumer, Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. I/4: Die mündliche Überlieferung als Glaubensquelle, Freiburg u.a. 1962, 62–69. 31 S. Ickert, Catholic Controversialist Theology on sola scriptura: The case of Jacob van Hoogstraten, CHR 74 (1988) 13–33, 16; vgl. in ähnlichem Sinne auch I.Chr. Levy, A Contextualized Wyclif: Magister Sacrae paginae, in: M. Bose / J.P. Hornbeck II (Hg.), Wycliffite Controversies, Turnout 2011, 33–57, 33f. Dass Schüssler, Primat 18, diese Tendenz zu einem Schriftprinzip von »einer entgegenstehenden Aussagenreihe« »gleichsam durchkreuzt« sieht, ist zwar insofern berechtigt, als es in der Tat im Decretum zahlreiche Aussagen zur ekklesialen Autorität gibt. Aber es wird der Wirkung des Decretum insofern nicht gerecht, als dieses weniger durch eine geschlossene Systematik als durch die additive Zusammenstellung von Autoritäten wirkte und so trotz der bekanntlich angestrebten concordantia Anlass für divergente Rezeptionen geben konnte.

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»Ich habe gelernt, allein jenen Büchern, die man kanonisch nennt, diese Ehre zukommen zu lassen, mit Gewissheit zu glauben, dass keiner ihrer Schreiber in Irrtum gefallen ist«32.

Im achten Kapitel derselben Distinctio zog es hieraus, ebenfalls mit einem Augustinzitat, in Gestalt einer rhetorischen Frage die Folgerung: »Wer weiß nicht, dass die heilige kanonische Schrift des Alten wie des Neuen Testaments (…) allen späteren bischöflichen Schreiben in der Weise vorzuziehen ist, dass man über sie überhaupt nicht zweifeln oder nachforschen kann, ob wahr oder ob sie richtig sei, was auch immer in ihr schriftlich niedergelegt ist?« 33

Hier wird also – aus dem antidonatistischen Kampf Augustins stammend – eine Andeutung einer möglichen Spannung zwischen Schrift und Tradition formuliert, welche sich auch an anderen Stellen des Decretums wie C. 25 q. 1 c. 8 findet, wo es heißt, dass selbst der Papst nichts gegen das Alte und Neue Testament beschließen dürfe34. Diese Aussagen sind zwar nicht allzu sehr zu pressen: Streng genommen handelt es sich hier bei der Heiligen Schrift nur um ein Ausschlusskriterium: Ausdrücklich darf der Papst in solchen Fragen, die die Evangelien offenlassen, Entscheidungen treffen (C. 25 q. 1 c. 6)35. Die Schrift ist also nicht positive Richtschnur für alle Lehre, sondern negatives Kriterium gegen Entscheidungen, die von ihr abweichen – entscheidend bleibt, dass das gängige Harmoniemodell zwar nicht bestritten, aber doch durch eine Differenzperspektive ergänzt wird. Diese wurde in der Dekretistik aufgenommen. Hermann Schüssler meinte hier sogar, im Unterschied zu Gratian, von einem entwickelten »Schriftprinzip« sprechen zu können36. Er macht dies an einer Argumentation im Zusammenhang von Decretum D. 20 c. 1 fest: Zu Beginn dieser distinctio hat Gratian die Frage gestellt, ob die Kirchenväter gegenüber päpstlichen Dekretalen vorzuziehen seien37. Die Glossa ordinaria nämlich kommentierte diese Stelle nun unter Verweis auf eine Ar32 Corpus Iuris Canonici, Bd. 1, hg. v. E. Friedberg, Leipzig 1879, 17; das Zitat aus einem Schreiben Augustins an Hieronymus (Epistola 82 [CSEL 6,354]); auf dieses Zitat als Hintergrund für Luthers Schriftprinzip verweist auch M. Ohst, Luthers »Schriftprinzip«, in: Luther als Schriftausleger (s. oben Anm. 3) 21–39, 21. 33 Corpus Iuris Canonici [Ed. Friedberg] I 18f: »Quis nesciat sanctam scripturam canonicam, tam veteris quam novi testamenti (…) posterioribus omnibus episcoporum litteris ita praeponi, ut de illa omnino dubitari et disceptari non possit, utrum verum vel utrum rectum sit, quicquid in ea scriptum constiterit esse?« (vgl. mit kleinen Abweichungen Augustin, De baptismo l. s c. 3 [CSEL 51, 178,11–16]). 34 Corpus Iuris Canonici (Ed. Friedberg) I 1009. 35 Ebd. I 1008. 36 Schüssler, Primat 31. 37 Corpus Iuris Canonici (Ed. Friedberg) I 65.

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gumentation Gratians im zweiten Teil des Decretums zur Raubehe, in welcher Gratian eine pseudohieronymische Autorität gegenüber einer Entscheidung eines Konzils von Meaux aus dem Jahre 845 vorgezogen hatte, »weil sie sich auf das Zeugnis des göttlichen Gesetzes stützt«38. Hieraus zogen die Kommentatoren Johannes Teutonicus und Bartholomäus von Brixen zu D. 20 c. 1 die allgemeine, nun auch ihrerseits die Autorität der Kirchenväter unter die der Schrift stellende Konsequenz: »Hier scheint es, dass eher nach dem zu urteilen ist, der sich auf eine Autorität eines Kanons stützt als nach jenem, der sich auf die Autorität des Hieronymus oder Augustin stützt. Das ist wahr, außer wenn Augustin durch eine Autorität des Neuen oder Alten Testaments oder irgendeinen Kanon unterstützt wird«39.

Dass auch hier allerdings nicht mehr als eine Tendenz zu einer umfassenden Schriftautorität gegeben ist, macht die letzte Bemerkung deutlich, nach der neben den beiden Testamenten auch ein Kanon steht: Dass die Heilige Schrift gegen die kirchlichen Lehrfestlegungen stehe, ist hiermit also noch nicht gesagt, vielmehr wird beiden ein autoritativ vergleichbarer Status zugestanden. Dennoch zeigt sich, dass der rechtliche Kontext die Frage nach den Autoritäten geschärft hat und dabei zumindest tendenziell immer mehr die Autorität der Heiligen Schrift in den Vordergrund rückte, in ganz deutlicher Weise dann bei Panormitanus, der in seinem Kommentar zu X 5,1,17 erklärte, »dass die Aussage eines jeden Heiligen, die durch Autoritäten des Neuen oder Alten Testaments bestärkt wird, einer päpstlichen Festlegung vorgezogen wird, auch in der Entscheidung von Rechtsfällen«40.

Mit dieser kanonistischen Tendenz zu einer auch im Differenzfall gegenüber kirchlicher Autorität vorzuziehenden Geltung der Schrift liegt auch der Schlüssel für Thematisierungen einer solchen Differenz in theologischen Kontexten zutage, sei es im Mittelalter, sei es auch in der Reformation. Den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer solchen 38 Gratian zu C. 36 q. 2 c. 11 (ebd. I 1292). 39 S. Decretum mit der Glossa ordinaria von Johannes Teutonicus in der Bearbeitung von Bartholomaeus Brixiensis, Venedig: Nicolaus Jenson 1477, zu D. 20 c. 1: »hic videtur, quod potius iudicandum sit secundum illum, qui innititur auctoritati canonis, quam secundum illum, qui innititur auctoritati hiero. uel augustini quod verum est, nisi aug. iuvetur auctoritate ve. vel no. te. vel etiam aliquo canone«; vgl. zur gesamten Argumentation Schüssler, Primat 31. 40 ABBATIS | PANORMITANI | COMMENTARIA | In Quartum, & Qunitum Decretalium Libros, Venedig: Juntas 1617, 80ra: »quod dictum alicuius Sancti, fulcitum authoritatibus Noui vel Veteris Testamenti, præfertur constitutioni papali, etiam in decisionib. causarum«; vgl. hierzu Schüssler, Primat 178.

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Differenzvorstellung bildete jeweils der kirchenrechtliche Konflikt, der eine Klärung der Kriterien erforderlich machte – »Luthers Schriftprinzip (…) ist also«, wie Martin Ohst zu Recht festhält, »zunächst einmal eine reine Kampflehre«41. Hier bot sich die Schrift als in jedem Falle unfraglicher Referenzpunkt an. Rechtliche Vorstellungen sind als Rahmen auch dort erkennbar, wo nicht unmittelbar die Frage einer vermeintlichen Häresie die Debatte um die Geltung der Schrift bestimmte. So formulierte Dante Alighieri, dass sich das göttliche Recht allein in den beiden Testamenten der Bibel finde42. Er gebrauchte hier nicht wie später Luther in der Leipziger Disputation die Formulierung vom ius divinum43, sondern sprach von der lex divina, aber die Wendung der Berufung auf die Schrift gegen kirchliche Traditionen bestimmte doch auch seine Argumentation, und zwar, wie dann im Reformationsjahrhundert, genau an einer Frage, die die Stellung des Papstamtes betraf: Seine Gedankenführung findet sich im dritten Buch der Monarchia, welches der Frage nach dem Verhältnis von Papst und Kaiser, genauer der Frage, ob die Macht des Letzteren unmittelbar von Gott stamme oder durch dessen Stellvertreter vermittelt sei, nachgeht44. Eines der Argumente, mit denen Dante sich hier auseinanderzusetzen hatte, war die Behauptung der Konstantinischen Schenkung45, der zufolge Konstantin Papst Silvester als Dank für ihm widerfahrene Heilung nicht allein zum Oberhaupt der ganzen Christenheit gemacht, sondern ihm auch den Lateranpalast sowie die Herrschaft über den gesamten Westen vermacht habe46. Rechtlich gesehen handelte es sich bei diesem Text zwar nur um eine Palea, eine Zufügung zum Decretum (D. 96 c. 14)47, aus der Mitte des 41 Ohst, Schriftprinzip 23. 42 Dante Alighieri, Monarchia III,13,4 (ders., Monarchia. Lat./dt. Studienausgabe, hg. v. R. Imbach / Chr. Flüeler, Stuttgart 1989, 234–236). 43 S. WA 59, 464.977 u.ö. 44 Dante Alighieri, Monarchia III,1,5 (ders., Monarchia [Ed. Imbach/Flüeler] 180). 45 S. hierzu Dante Alighieri, Monarchia III,10,1 (ebd. 216). 46 S. Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung). Text (MGH. Fontes juris Germanici antiqui 10), hg. v. H. Fuhrmann, Hannover 1984 (= 1968), 7; bis heute grundlegend für Erforschung und Einordnung des Constitutum: H. Fuhrmann, Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte des Constitutum Constantini, DA 22 (1966) 63–178; eine neuere Zuordnung der Entstehung bei J. Fried, Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution of Wolfram Brandes, »The Satraps of Constantine« (Millennium-Studien 3), Berlin / New York 2007; Nikolaus von Kues (Nicolai de Cusa Opera omnia, XIV,3: De Concordantia catholica. Liber tertius, hg. v. G. Kallen, Hamburg 1959, 328–337 [§§ 294–312]) und L. Valla (ders., De falso credita et ementita Constantini donatione, hg. v. W. Setz, München 1986 [= Weimar 1976] [MGH. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 10]) widerlegten die Historizität des Textes schon im 15. Jahrhundert. 47 Corpus Iuris Canonici (Ed. Friedberg) I 342–345.

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12. Jahrhunderts48, aber immerhin war die frühmittelalterliche Fälschung hierdurch zum Bestandteil des Kirchenrechts geworden. Eben dieser Kontext führte Dante offenbar auf die rechtsförmige Frage nach der lex divina und die Behauptung, dass diese ausschließlich in der Bibel, nicht aber in kirchenrechtlichen Traditionen enthalten sei. Für Wilhelm von Ockham hatte die juristische Komponente bei der Zuordnung von Schrift und Tradition eine weit existentiellere Bedeutung. Auseinandersetzungen an seiner Oxforder Universität hatten dazu geführt, dass er auf Anklage seines ehemaligen Universitätskanzlers zu einem Häresieprozess an den Papsthof in Avignon vorgeladen worden war49. Wenngleich dieses Verfahren selbst im Sande verlief, führte es zu einem dauerhaften Zerwürfnis Ockhams mit dem Papst: 1328 floh er gemeinsam mit franziskanischen Brüdern nach vier Jahren aus Avignon, weil er mittlerweile zu der Überzeugung gelangt war, dass der Papst mit seinen Auffassungen von der Armut selbst den Weg der christlichen Wahrheit verlassen hatte50. Eben dies brachte ihn aber in die Situation, neu über die Frage der in der Kirche und Theologie gültigen Autoritäten nachzusinnen51. Der wohl markanteste Satz aus diesem Zusammenhang entstammt dem Breviloquium, einer trotz des Namens durchaus in respektablem Umfang vorliegenden Schrift, in welcher sich Ockham zu der Frage des Verhältnisses von kaiserlicher und päpstlicher Macht äußerte. Diese Fragestellung ist aufgrund dessen, dass Ockham selbst sich mittlerweile in der Obhut des vom Papst nicht anerkannten Kaisers Ludwig des Bayern befand, für den vorliegenden Zusammenhang von geringerer Bedeutung. Wichtiger ist, dass Ockham hier nun – bezeichnenderweise in einem ähnlichen Zusammenhang wie Dante – erklärte: »Wenn nämlich der Papst seine Macht, die er aus göttlichem Recht zu haben behauptet, allein durch Dekrete und Dekretalien beweisen wollen sollte, wird ihm die Antwort zuteil werden, dass dieser Beweis (…), wenn er nicht durch göttliche Schriften befestigt werden können sollte, als verdächtig anzusehen ist.«52 48 S. hierzu J. Petersmann, Die kanonistische Überlieferung des Constitutum Constantini bis zum Dekret Gratians. Untersuchung und Edition, Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 30 (1974) 356–449, 356, 390–399; R. Weigand, Fälschungen als Paleae im Dekret Gratians, in: Fälschungen im Mittelalter, Bd. 2, Hannover 1988 (MGH. Schriften 33/II), 301–318, 310f. 49 S. V. Leppin, Wilhelm von Ockham. Gelehrter – Streiter – Bettelmönch, Darmstadt ²2012, 156–182. 50 Leppin, Ockham 182f. 51 S. hierzu V. Leppin, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 (FKDG 63), 292–314. 52 W. Ockham, Breviloquium I,8 (ders., Opera Politica IV, hg. v. H.S. Offler, Oxford 1997, 106,7–10): »Si enim papa potstatem suam, quam ex iure divino asserit se habere, solummodo per decreta et decretales probare voluerit, respondebitur sibi quod haec probation (…), nisi scripturis possit muniri divinis, est habenda suspecta.«

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Diese klare Stellungnahme ist wiederum in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Sie bewegt sich ganz im rechtlichen Rahmen. Die feine Unterscheidung zwischen Dekreten und Dekretalien zeigt die juristische Kompetenz, die sich Ockham angeeignet hatte, seit er gezwungen war, sich mit Häresievorwürfen auseinanderzusetzen53. Dass er ihnen – mit einem Begriff, der fast zwei Jahrhunderte später im Zentrum des Streits zwischen Luther und Johannes Eck in Leipzig stehen sollte – das ius divinum entgegenstellte und dies an die göttlichen Schriften, nach dem Kontext offenkundig die Bibel, band, zeigt, in welchem Maße hier innermittelalterlich die häresiologische Kontroverse die Frage nach einer Differenz zwischen Schrift und Tradition aufwarf. Dessen ungeachtet konnte Ockham in anderen Kontexten mit großer Selbstverständlichkeit auch auf ein Modell der Harmonie zwischen Schrift und Tradition rekurrieren. So entfaltete er in Dialogus I c. 2, seinem kirchenpolitschen Hauptwerk, geradezu eine Hierarchie von unterschiedlichen möglichen Quellen katholischer Wahrheit: An erster Stelle rangierte selbstverständlich die Heilige Schrift. Nach ihr aber kam die durch Sukzession vermittelte apostolische Tradition, und an letzter Stelle Heiligenviten und Kirchenchroniken54. Man ginge also fehl, dem Franziskaner des 14. Jahrhunderts ein Schriftprinzip reformatorischer Art zuzusprechen. Gleichwohl zeigt er, welche Möglichkeiten innerhalb der mittelalterlichen Denkkultur gegeben waren, Differenzmodelle von Schrift und Tradition zu entwerfen, wenn die Schärfe der Kontroverse den Rekurs auf einen unhinterfragbaren Grund notwendig machte, den »keiner, wenn er als katholisch anerkannt sein will, zu verneinen sich anmaßt«55. Noch im 14. Jahrhundert kam es dann auch zu einer umfassenden Darlegung eines Schriftverständnisses in einem ausführlichen Traktat durch Johann Wyclif. Seine Schrift »De veritate sacrae scripturae« entstand wohl 1377/78, also in jener Zeit, als er aufgrund von fünf gegen ihn gerichteten päpstlichen Bullen mit dem Vorwurf der Häresie konfrontiert war56. Nun musste er seine Position der Reform der Kirche ge53 S. hierzu Leppin, Geglaube Wahrheit 271–273: An den Eucharistietraktaten, die Ockham unter dem Eindruck des beginnenden Häresieprozesses verfasste, lässt sich unmittelbar ablesen, dass er nun verstärkt auf das Kirchenrecht zurückgriff. 54 Ockham, Dialogus I c. 2, in: MONARCHI& | S.ROMANI IMPERII, | SIVE TRACTATVVM | DE IVRISDICTIONE IMPERIALI SEV REGIA | (…) TOMVS SECVNDVS, Frankfurt 1614, 412; zu der weitern Möglichkeit spezieller Offenbarungen s. Leppin, Geglaubte Wahrheit 308. 55 Ockham, Breviloquium I, c. 8 (ders., Opera Politica IV, hg. v. H.S. Offler, Oxford 1997, 106,5f): »scripturas sacras (…), quas neuter, si voluerit catholicus reputari, negare praesumet.« (Das oben mit »keiner« wiedergegebene »neuter« ist an dieser Stelle dadurch bedingt, dass Ockham von zwei Größen, Papst und Kaiser spricht. 56 S.D.C. Wood, The Evangelical Doctor. John Wycliffe and the Lollards, Welwyn 1984, 59. Auch I.Chr. Levy, Holy Scripture and the Quest for Authority among Three Late Medieval Masters, JEH 61 (2010) 40–68, 45.50, macht auf den Hintergrund im

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gen deutlich erkennbare Widersacher, ja, gegen Gregor XI. selbst verteidigen. Wiederum ist also der rechtliche Kontext formgebend und zeigt sich auch etwa in dem reichlichen Gebrauch des Terminus lex: Die Heilige Schrift ist »lex Christi, testamentum dei et fides ecclesie«: »Gesetz Christi, Vermächtnis Gottes und der Glaube der Kirche«57. Als solche ist die Schrift nicht nur heilbringend, sondern auch absolut vollständig (completissima et saluberrima)58. Ihre Anordnungen sind wortwörtlich zu erfüllen und bilden die alleinige Richtschnur für alle Regelungen in der Kirche59: Das bedeutet nun aber auch in einer letzten Konsequenz, die Wyclif in dem wenig später (1378/79) entstanden Traktat De ecclesia zog: »Daher müssen wir für solche [Riten], die in der Heiligen Schrift nicht ausdrücklich gelehrt werden, wenn sie aufgrund irgendeiner Evidenz nach den Regeln der Topik nahegelegt werden, nicht viel streiten, sondern die ausdrücklichen Schlussfolgerungen aus der heiligen Schrift selbst auf alle Weisen verteidigen.«60

Verbindlichkeit, so die naheliegende Folge dieser Auffassung, konnte also nur beanspruchen, was durch die Schrift selbst gesichert war, die die Grundlage jeglicher katholischen Meinung zu bilden hat61. Wyclifs Überzeugung war so scharf, dass er das Argument, etwas dürfe Geltung beanspruchen, weil es in der Schrift nicht verboten sei, mit der Gegenfrage beantwortete, wo bestimmte Regeln in der Schrift begründet seien62. Die Schrift wurde hier also nicht nur wie in der oben angeführStreit um Häresie aufmerksam (vgl. auch ders., Contextualized Wyclif 50), betont aber zugleich zu Recht, dass Wyclifs Schriftlehre nicht unmittelbar ursächlich für den Vorwurf der Häresie war. 57 Wyclif, De veritate sacra scripturae 5 (Johann Wiclifs De veritate sacrae scripturae, hg. v. R. Buddensieg. Erster Band, Leipzig 1904, 100,16); vgl. G.A. Benrath, Wyclifs Bibelkommentar, Berlin 1966 (AKG 36), 324. 58 Wyclif, De veritate sacrae scripturae c. 7 (Johann Wiclifs De veritate sacrae scripturae [Ed. Buddensieg] 1,156,1–3. 59 Wyclif, De veritate sacrae scripturae c. 29 (Johann Wiclifs De veritate sacrae scripturae, hg. v. R. Buddensieg. Dritter Band, Leipzig 1904, 59,7–10). 60 Wyclif, De ecclesia c. 14 (Iohannis Wyclif Tractatus de ecclesia, hg. v. J. Loserth, London 1886, 318,31–319,2): »Unde pro illis que non expresse docentur in scruiptura sacra, si quadam evidencia topica suadentur, non debemus multum contendere sed conclusions expressas ipsius scripture omnibus modis defendere«. 61 Wyclif, De veritate sacrae scripturae c. 1 (Wiclif, De veritate sacrae scripturae [Ed. Buddensieg] 1,1,7). Angesichts dieser Äußerungen kann es nicht überraschen, dass schon Zeitgenossen Wyclif vorwarfen, einem Sola-scriptura-Prinzip zu folgen (s. A. Hudson, The Primature Reformation. Wycliffite Texts and Lollard History, Oxford 1988, 228 Anm. 2): Dass Hudson selbst sich skeptisch zeigt, ob man dieses Prinzip so bei Wyclif wiederfinden könne, mag durch ihre primäre Einordnung dieser Bestimmung als Kritik mitbedingt sein. 62 Wyclif, De ecclesia c. 14 (ders., De ecclesia [Ed. Loserth] 316,11–15).

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ten Stelle im Decretum als bloßes Ausschlusskriterium behandelt, sondern sie sollte die positive Gestaltungsgrundlage für alles, was im Raum der Kirche galt, bilden63. Dergleichen bewegt sich nun nicht nur im Horizont allgemeiner Theorie, sondern in diesem Falle in dem sehr konkreten Kontext, ob Kleriker über Besitz verfügen dürfen. In diesen Überlegungen Wyclifs geschieht also zweierlei: Das überwiegend gepflegte Harmoniemodell von Schrift und Tradition wird zum einen in ein radikales Differenzmodell transformiert, in welchem die Schrift menschlichen Regelungen grundsätzlich entgegentritt und jede Bestimmung auf ihre Grundlage in der Schrift selbst hin zu prüfen ist. Zum anderen folgen hieraus Forderungen für die Reform der Kirche – und zwar durchaus radikale: Der Besitzverzicht des Klerus hätte die Grundlagen der Einbindung der Kirche in die mittelalterliche Gesellschaft tangiert und zu einem umfassenden Umbau geführt, für den der Name Reformation jedenfalls nicht abwegig wäre64. 63 In dieser Hinsicht ist V. Westhelle, Luther on the Authority of Scripture, Lutheran Quarterly 19 (2005) 373–391, 375, zu korrigieren, der zu Recht Wyclif unter einer ganzen Anzahl mittelalerlicher Autoren auflistet, die das Sola-scriptura-Prinzip vertraten, ihnen allen aber, unter Einschluss Wyclifs, ein Verständnis der Schrift als bloß »negative principle« zuschreibt. 64 Hier ist auch der in diesem Zusammenhang nicht näher auszuführende Aspekt zu beachten, dass Wyclifs Schriftverständnis durchaus über eine reine Kriteriologie hinausging: Benrath, Wyclifs Bibelkommentar 162, hat gezeigt, dass Wyclif in seiner Johannesauslegung geradezu eine Identität von Christus und Heiliger Schrift vertritt, sie also in hohem Maße in den Kontext der Erlösungslehre hineinzieht. Dies ist mit dem Befund zu verbinden, dass eine solche direkte Identifikation des Wortes Gottes mit Christus in Luthers Werk relativ selten vorkommt (s. D.W. Lotz, Sola scriptura: Luther on Biblical Authority, Interpretation 35 [1981], 258–273, 261) – Wyclif wie Luther sind hier nicht mit der christozentrisch enggeführten Schriftlehre der Wort-GottesTheologie zu verrechnen, wie es Lotz, ebd. 264 trotz seines Hinweises macht, wenn er bei Luther eine Lehre von einer dreifachen Gestalt des Wortes Gottes wiederentdeckt. Es können hier auch nicht die vielen weiteren Bezugnahmen auf das Schriftprinzip in spätmittelalterlichen Debatten, vor allem im Rahmen des Konziliarismus aufgeführt werden, auf die Levy, Contextualized Wyclif 48f, verweist; vgl. P. d’Ailly, Sermo in concilio gernali Constantantiensi in medio Quadragesimae (Tractatus et sermones compilati a | reverendissimo domino domino Pe | tro de Ailliaco, Straßburg: Jordan von Quedlinburg ca. 1490, x 4r a), der 2Kor 10,5, die Gefangenschaft des Intellekts in den Gehorsam Christi, auf die Zuordnung von Recht und Theologie verwendet und daraus folgert, dass das menschliche Recht dem göttlichen unterzuordnen sei, sowie J. Gerson, De vita spirituali animae: »Si aliqau lex humana, canonica vel civilis non possit concludi ex lege divina nisi coassumendo propositionem vel consequentiam legi divinae impertinentem, consequenter impertinens est an transgressio illius legis sit mortalis aut non mortalis (…). Quod si quis praelatorum vellet hujusmodi legem aut diceret habere robur legis divinae, sibi fas esset per theologos aut alios hoc cognoscentes resistere in facie et dicere quod non recte ambulat ad veritatem Evangelii« (ders., Oeuvres complètes, hg. v. P. Glorieux, Bd. 3, Paris u.a. 1962, 162). Die Anspielung auf Gal 2,11 (»in faciem ei restiti«) macht deutlich, dass diese Aussage auch gegenüber dem Papst als Nachfolger Petri gilt.

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4. Die Entstehung des reformatorischen Differenzmodells im rechtlichen Horizont In der Kirche des Mittelalters war also trotz der unfraglichen Dominanz des Harmoniemodells das Differenzdenken in Bezug auf Schrift und Tradition nicht unbekannt. Es hatte seinen Ort vor allem im kanonistischen Bereich und machte sich daher theologisch besonders dort bemerkbar, wo ein Kampf um Häresie ausgefochten wurde und die der Häresie beschuldigten Denker sich ihrer Grundlagen vergewissern mussten. Diese vor allem durch die englischsprachige Mediävistik erarbeitete Klärung der Verhältnisse im Mittelalter und die damit verbundene Konzentration auf die Fragen des Rechts ermöglicht nun auch eine Neubestimmung der Genese des reformatorischen Schriftprinzips. Wie stark diese mit der Frage nach dem Kirchenrecht verbunden war, zeigt Luthers Reaktion auf den Dialogus des Silvester Prierias, der ihn in umfassender Weise als Häretiker darstellte und als Spitzensatz die Auffassung enthielt: »Wer sich nicht an die Lehre der römischen Kirche und des Papstes hält als die unfehlbare Glaubensregel, von der auch die Heilige Schrift ihre Kraft und ihre Autorität bezieht, ist ein Häretiker.«65

Diesem in der mittelalterlichen Theologie alles andere als selbstverständlichen Satz antwortete nun Luther mit den Mitteln, die ihm das Kirchenrecht zur Verfügung stellte: Er zitierte eben jenen Augustinsatz aus D. 9 c. 5, der oben schon angeführt wurde: »Ich habe gelernt, allein jenen Büchern, die man kanonisch nennt, diese Ehre zukommen zu lassen, mit Gewissheit zu glauben, dass keiner ihrer Schreiber in Irrtum gefallen ist«66.

Bereits 1518 also deutete er ein Verständnis von Schrift und Tradition an, der beides in eine Konstellation der Differenz voneinander setzte. Nimmt man ernst, dass auch Luther in der Konfliktsituation mit den obersten Instanzen der Kirche – Silvester Prierias hatte sein Gutachten ja im Zusammenhang des päpstlichen Prozesses und als Magister Sacri Palatii geschrieben – genötigt war, nach behaftbaren Kriterien zu suchen, so wird man den Befund kaum anders deuten können als so, dass Luther hier auf seinen reichen Umgang mit der Schrift und die Mög65 Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), Bd. 1, hg. v. P. Fabisch / E. Iserloh, Münster 1988, 55: »Quicunque non innititur doctrine Romane ecclesie, ac Ropmani pontificis, tanquam regule fidei infallibili, a qua etiam sacra scriptura robur trahit et auctoritatem, hereticus est«. 66 Luther, Ad dialogum Silvestri Prierati (WA 1, 647,22–24).

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lichkeiten des Kirchenrechts zugleich zurückgriff: Die Entstehung des für den Protestantismus in seiner späteren Formierung kennzeichnenden Differenzmodells verdankt sich also auch diesem kirchenrechtlichen Horizont. Zwar war es zweifellos übertrieben, dass der Greifswalder Systematische Theologe Friedrich Korpatschek 1904 das Schriftprinzip als »vulgärkatholisch« bezeichnete67. Präzedenzlos aber war es nicht, dass Luther und der Wittenberger Kreis sich gegen die kirchliche Hierarchie auf die Schrift beriefen. Tatsächlich war es die Konfliktsituation der frühen reformatorischen Jahre, die Luther immer mehr zu der Überzeugung gelangen ließ, dass er die Schrift allen anderen Zeugnissen gegenüber vorziehen müsse. Noch vor seiner Antwort auf Prierias hatte er sich im Sommer 1518 gegen Johannes Tetzel und dessen Verteidigung der Ablässe gewandt. In aller Schärfe formulierte er hier: »Wan schon ßo vil und noch mehr tausent, und sie alle heylige lerer, hetten diß ader das gehalten, ßo gelten sie doch nichts gegen eym eynigen spruch der heyligen schrifft, als sant Paulus zun Galatern sagt: Wenn euch gleich ein engel vom hymel adder wirselbs anders predigeten, dan yhr vor gehoert habt, so lastts euch ein vormaledeyet dinck seyn. Wan nu die selben lerer hetten gleych gesagt (das sie doch nit thun), das die puß, yn Christus worten gepoten, wurdt durch das ablaß abgelegt, ßo solt man yhn gar nichts glauben, darumb das die schrifft spricht: gottis wort mag niemant ablegen ader wandelen.«68

Die Schrift »Eine Freiheit des Sermons päpstlichen Ablass und Gnade belangend«, in der sich diese Sätze finden, enthielt noch keineswegs eine ausgefeilte Lehre von den zulässigen Autoritäten. Erkennbar war – auch im Zusammenhang der zitierten Stelle – eine Distanz gegenüber den scholastischen Gelehrten. Daneben aber bemühte Luther sich auch um ein rechtes Verständnis der Kirchenväter69. Eine ausformulierte und zugespitzte Sola-scriptura-Lehre, wie sie Wyclif geboten hatte und die Reformatoren selbst später bieten würden, lag in diesen wenigen Andeutungen einer vom Häresieverdacht geprägten70 Konfrontation noch nicht vor. Luther bewegte sich aber offenkundig in einem Horizont, in welchem eine Konzentration auf die Schrift allein sich wegen der Häre67 Fr. Kropatschek, Das Schriftprinzip der lutherischen Kirche. Geschichtliche und dogmatische Untersuchungen, 1. Bd.: Die Vorgeschichte. Das Erbe des Mittelalters, Leipzig 1904, 440. Hintergrund der einlinigen Zuordnung bei Kropatschek ist ein Missverständnis der inklusiven Rede von Heiliger Schrift im Mittelalter, die eben nicht im späteren reformatorischen Sinne gegen die Tradition ausgerichtet sein musste, sondern diese graduell einschließen konnte. 68 Luther, Eine Freiheit des Sermons (WA 1, 384,32–385,3). 69 Luther, Eine Freiheit des Sermons (WA 1, 385,28–386,11). 70 S. Luther, Eine Freiheit des Sermons (WA 1, 392,29f).

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sieanklage nahelegte und bediente sich hierzu der kanonistisch eingespielten Differenzhermeneutik. Zum vollen Austrag kam der Konflikt zwischen den unterschiedlichen im Mittelalter vorgeprägten Optionen erst mit der Leipziger Disputation71. Im Zentrum der Debatte stand hier ein Begriff, der oben schon im Zusammenhang der Theorieentwicklung Wilhelms von Ockham begegnete: das ius divinum. Schon in der vorauslaufenden schriftlichen Debatte mit Eck hatte Luther das ius divinum klar von den decreta hominum unterschieden und mit der Heiligen Schrift verbunden72. Wie in den mittelalterlichen Debatten war das Thema dabei die Frage der päpstlichen Autorität, welcher Luther eine Begründung in einem solchermaßen gefassten ius divinum bestritt. Durch Verweis auf die Entsprechung seiner Sätze mit den in Konstanz verurteilten Aussagen des Jan Hus trieb Eck nun Luther dazu, die Irrtumsfähigkeit der Konzilien auch in Glaubensdingen zu behaupten73 und zu bestreiten, dass das Konzil in der Lage sei, ein ius divinum zu begründen74. Dem hielt Eck entgegen, dass das legitim versammelte Konzil »non humano sensu sed spiritu divino« »nicht im Menschensinn, sondern im göttlichen Geist« geleitet werde75. Der Ingolstädter Professor also ruhte mit seinen Argumenten auf dem Grundgedanken auf, dass Konzil wie Bibel gleichermaßen das Vertrauen entgegengebracht werden könne, aus dem Geist Gottes zu sprechen, während Luther das Konzil zu einem menschlichen Gremium erklärte, dem eben diese Dignität nicht zugesprochen werden konnte. Klassisch standen einander so das Modell einer Harmonie aus Schrift und Tradition auf der einen Seite und das einer Differenz beider auf der anderen entgegen. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen wurde dieser Gegensatz weiter geschärft und ausgebildet – seine Wurzeln hatte er in den unterschiedlichen Optionen der mittelalterlichen Christenheit. 5.

Fazit

Für das evangelische Selbstverständnis ist die Beobachtung der Bedeutung der spätmittelalterlichen Kanonistik für die Entwicklung des 71 S. hierzu ausführlicher V. Leppin, Die Genese des reformatorischen Schriftprinzips. Beobachtungen zu Luthers Auseinandersetzung mit Johannes Eck bis zur Leipziger Disputation, in: ders., Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation, Tübingen 2015 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 86). 72 WA 2, 200,38. 73 WA 59, 500,2081–2083. 74 WA 59, 500,2083f; 513,2484–2486. 75 WA 59, 491,1795.

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Schriftprinzips in gewisser Hinsicht kontraintuitiv. Ausgerechnet aus der kirchlichen Rechtsbildung kam der Ansatzpunkt für jene Lehre, die sich später in besonderer Weise gegen die Vorrangstellung des Kirchenrechts gewandt hat. Tatsächlich wäre das Bild so beschrieben unzureichend. Das reformatorische Schriftprinzip hätte sich nicht in der Weise entwickeln können, wenn nicht der rechtlichen Konfrontation seit dem Ausgang des Jahres 1517 eine tiefgreifende Auseinandersetzung Luthers mit der Heiligen Schrift vorausgegangen wäre76. Die reformatorische Rede von der Bibel bedeutet vor allem angesichts der soteriologischen Bedeutung der Heiligen Schrift weit mehr als die Entgegenstellung zur Tradition. Doch dient es der redlichen Selbstvergewisserung auch im Zusammenhang des Reformationsjubiläums, wenn sich evangelische Theologie klar macht, dass an ihren Anfängen das mittelalterliche Kirchenrecht eine gewichtige Rolle gespielt hat. Abstract Traditionally, the principle of Scripture is seen as a doctrine marking the difference between the confessions. Nevertheless, even the protestant principle of Scripture, is rooted in medieval developments, but transforming the relationship of Scripture and tradition. While the Middle Ages used to put both into a broader harmony, Luther developed a model of difference, setting them against each other. However, this was not completely new, but somehow prepared by medieval canon Law, where sometimes scripture is held against ecclesiastical doctrine as the only basis for truth. A principal understanding of this difference grew time by time and can be seen as fully elaborated in the context of the Leipzig disputation.

*** Volker Leppin, geb. 1966, Dr. theol., ist Professor für Kirchengeschichte und Direktor des Instituts für Spätmittelalter und Reformation an der EvangelischTheologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.

76 Grundlegend ist nach wie vor G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 10/I).

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Inkarnationschristologie in den Bildkünsten des Mittelalters Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs*

Zu den großen und heftig umstrittenen Streitfragen in der Geschichte der frühen Kirche gehörte – neben anderen wie etwa jener nach dem innertrinitarischen Verhältnis der göttlichen Personen zueinander – die Frage, wie das Wesen der beiden Naturen in Jesus zu beurteilen sei, d.h. wie man das Wesen des irdischen Jesus zu verstehen habe im Hinblick auf seine Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes1. Mit der beim Vierten Ökumenischen Konzil von Chalzedon (481) verkündeten Formel – dem Nikäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis –, für die man sich auf Aussagen des ersten Konzils von Nikaia (325) und des ersten Konzils von Konstantinopels (381) berief, war diese Streitfrage entschieden2. Die zum Konzil Versammelten definierten: Jesus war ganz Mensch geworden; die beiden Naturen in Christus waren in der Einheit seiner Person vereinigt (»hypostatische Union«)3. Wohl der bekannteste neutestamentliche Schlüsseltext für die grundlegende Vorstellung, dass Jesus Mensch geworden war, ist der Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1–18). Die in einem Hymnus entfaltete johanneische Inkarnationschristologie gipfelt in V. 14: »Der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt …«4. Während man in * Der vorliegende Text fußt auf einem Vortrag des Verfassers bei den Biblischen Tagen in der Katholischen Akademie in Bayern im März 2015 in München: W. Augustyn, Der Johannesprolog – Gedanken eines Kunsthistorikers, Zur Debatte 45 (2015), Sonderheft zur Ausgabe 7, 19–21. 1 Zum Problem zusammenfassend (mit weiterer Literatur): A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien 1979, 414–672 und 753– 775; G.L. Müller, Katholische Dogmatik, Freiburg/Basel/Wien 42001, 437–460. 2 DH, 141–143, Nr. 300–303. – Dazu unter anderem R. Staats, Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel. Historische und theologische Grundlagen, Darmstadt 21999; C.A. Blaising, Creedal formation as hermeneutical development: a reexamination of Nicaea, Pro ecclesia 19 (2010), 371–388. – Zu dem im Bereich der westlichen Kirche im 7./8. Jahrhundert eingefügten Zusatz »filioque«: Müller, Katholische Dogmatik, 458–460. 3 Dazu, in der neuscholastischen Tradition: L. Ott, Grundriß der Dogmatik, Freiburg/Basel/Wien, 9., erw. Auflage 1978, 173–189; zur Geschichte des Begriffs: L. Abramowski, Trinitarische und christologische Hypostase-Formeln, ThPh 54 (1979), 39– 49. 4 G. Richter, Die Fleischwerdung des Logos, NT 13 (1971), 81–126 und 14 (1972), 257–276, wieder in: ders., Studien zum Johannesevangelium, hg. von J. Hainz [BU 13],

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der modernen historisch-kritischen Exegese seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder nach dem redaktionellen Zusammenhang zwischen Prolog und dem restlichen Evangelientext fragte5, belegt die Rezeptionsgeschichte des Prologs zum vierten Evangelium, dass dieser Text in der Überlieferungs- und Auslegungsgeschichte des Neuen Testaments auch selbständig wahrgenommen und verwendet wurde6. Wie wenig anderen Texten aus den Evangelien erkannte man dem Prolog eine besondere Bedeutung zu. So berichtete etwa Augustinus, er habe von seinem Ratgeber Simplician, dem späteren Mailänder Bischof, gehört, ein Platoniker habe vorgeschlagen, den Prolog in goldenen Lettern an prominenter Stelle in allen Kirchen anzubringen7. Die GleichRegensburg 1977, 149–198; R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, 1. Teil: Einleitung und Kommentar zu Kap. 1–4 (HThK IV/1), Freiburg/Basel/Wien, 4., erw. Auflage 1979, 197–269, zu V. 14 ebd., 241–249; zum Logos-Begriff: A. Debrunner u.a., Art. λέγω, λόγος …, in: ThWNT IV, 69–140, hier 126–140; Schnackenburg, Johannesevangelium, 1. Teil, 200–207 und 257–269; ders., Christologie des Neuen Testaments, in: Das Christusereignis, hg. von J. Alfaro u.a. (MySal III/1), Einsiedeln/Zürich/Köln 1970, 227–388, hier 337–339; J. Gnilka, Wie das Christentum entstand, Bd. 3: Theologie des Neuen Testaments, Freiburg/Basel/Wien 1997, 234–239. 5 A. Harnack, Über das Verhältniß des Prologs des vierten Evangeliums zum ganzen Werk, ZThK 2 (1892), 189–231; zur Forschungsgeschichte: M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh (NTA.NF 20), Münster 1988, 3–161; nun auch J. Zumstein, Der Prolog, Schwelle zum vierten Evangelium, in: G. Kruck (Hg.), Der Johannesprolog, Darmstadt 2009, 49–75. 6 Zur Deutungsgeschichte unter anderem Schnackenburg, Johannesevangelium, 1. Teil, 171–190; dazu auch: M.-A. Vannier, Augustin et l’Évangile de saint Jean, in: ders. u.a. (Hg.), Saint Augustin et la Bible. Actes du colloque de l’université Paul VerlaineMetz (7–8 avril 2005), Bern u.a. 2008, 215–222; A. Wucherpfennig, Gnostische Lektüre des Johannesprologs am Beispiel Herakleons, in: ebd., 107–130; L. Hell, Wort vom Wort. Augustinus, Thomas von Aquin und Calvin als Leser des Johannesprologs, in: ebd., 131–153; C. Bruns, Christologischer Universalismus. Der Johannesprolog in der Wirklichkeitsdeutung des Origenes, in: M. Enders / R. Kühn (Hg.), »Im Anfang war der Logos«. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 11), Freiburg/Basel/Wien 2011, 7–46, bes. 33–42; M. Enders, Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler. Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen. Augustinus’ Auslegung des Johannesprologs, in: ebd., 47–67; ders., Das göttliche Wort und seine Fleischwerdung. Inhaltliche Grundzüge des Kommentars des Thomas’ von Aquin zum Prolog des Johannesevangelium, in: ebd., 117–148, bes. 138–141; M.-A. Vannier, Augustin et l’Évangile de saint Jean, in: ders. u.a. (Hg.), Saint Augustin et la Bible. Actes du colloque de l’université Paul Verlaine-Metz (7–8 avril 2005), Bern u.a. 2008, 215–222. 7 »Quod initium sancti evangelii, cui nomen est secundum Iohannem, quidam Platonicus, sicut a sancto sene Simpliciano, qui postea Mediolanensi ecclesiae praesedit episcopus, solebamus audire, aureis litteris conscribendum et per omnes ecclesias in locis eminentissimis proponendum esse dicebat«: Augustinus, De civitate dei X,29, hg. von B. Dombart / A. Kalb (CCSL 47), Turnhout 1955, 307. Zu dieser Stelle: P. Courcelle, Recherches sur les confessions de Saint Augustin, Paris 21968, 168–174; H. Drecoll, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins (BHTh 109), Tübingen 1999, 306–319.

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setzung von Logos und Christus8 mag begründet haben, warum man in diesem wegen seiner Sprache einerseits so eingängigen, andererseits eben doch theologisch »aufgeladenen« und schwierigen christologischen Hymnus die Segenskraft Christi in besonderer Weise erfahrbar glaubte: Schon in der Spätantike berührte man mit diesem Evangelium den Kopf von Kranken bei Fieber – auch dafür war Augustinus Zeuge –9, und noch im 12. Jahrhundert wurde es mancherorts am Krankenbett gelesen10. Man führte den Text des Prologs (oder dessen Überschrift) als Amulett mit sich11. Der Text des Prologs wurde, wie die römischen Sakramentare belegen, seit dem Frühmittelalter in Rom, später auch außerhalb Roms als Evangelium in der dritten Weihnachtsmesse gelesen12. Als zusätzliche Evangelienperikope wurde der Prolog als Teil der Entlassungsriten und Segnungen im 1256 abgeschlossenen Ordinarium der Dominikaner am Ende der Messe verlesen (»Schlussevangelium«) – ein Brauch, der im 16. Jahrhundert allgemein üblich geworden war und bis 1970 Gültigkeit behielt13. Man las den Prolog häufig bei der Taufe und 8 C. Jacobsen, Logos – physician and teacher: Christology and soteriology in »Contra Celsum«, Adamantius 9 (2003), 78–93; R. Rauser, Logos and logoi ensarkos: christology and a problem of perception, International journal of systematic theology 5 (2003), 133–146; W. Wünsch, Konkretionen des Logos bei Justin, dem Märtyrer und Philosophen, Konfluenzen 5 (2005), 40–45; H. Förster, Zur Bedeutung von »logos« im Prolog des Judasevangeliums, Zeitschrift für antikes Christentum 14 (2010), 487–495; L. Zwollo, Plotinus’ doctrine of the logos as a major influence on Augustine’s exegesis of Genesis, Aug(L) 60 (2010), 235–261; R.W. Jenson, Once more the »Logos asarkos«, International journal of systematic theology 13 (2011), 130–133; J. Lashier, Irenaeus as Logos theologian, VigChr 66 (2012), 341–361. 9 Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus CXXIV, Tractatus VII, 1,12, hg. von R. Willems (CCSL 36), Turnhout 1954, 73 (zum kritisch edierten Text besser: Saint Augustin, Homélies sur l’Évangile de Saint Jean I–XVI, hg. und übers. von M.-F. Berrouard [BA 71], Paris 1969, 432). – Zur Datierung: ders., Introduction, in: Saint Augustin, Homélies, 29–36; A.D. Fitzgerald, Art. Johannis evangelium tractatus, in: ders. u.a. (Hg.) Augustine through the Ages. An Encyclopedia, Grand Rapids / London 1999, 474f. Schreiner, Buchstabensymbolik, 84. – Zu dieser apotropäischen Praxis: A. Jacoby, Art. Johannisevangelium, in: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens IV, 731–733. 10 Jungmann II, 555. 11 T. Nicklas, Das Christentum der Spätantike: Religion von »Büchern«, nicht (nur) von Texten. Zu einem Aspekt der »Materialität von Kommunikation«, in: Sacra Scripta 5 (2007), 192–206, hier 201; K. Schreiner, Buchstabensymbolik, Bibelorakel, Schriftmagie. Religiöse Bedeutung und lebensweltliche Funktionen heiliger Schriften im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: H. Wenzel / W. Seipel / G. Wunberg (Hg.), Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Schriften des Kunsthistorischen Museums 5), Wien 2000, 58–103, hier 83–84; zur Kritik an dem als Aberglauben abgelehnten Gebrauch solcher Phylakterien im späteren Mittelalter: U. von Pottenstein, Dekalog-Auslegung. Das erste Gebot, hg. von G. Baptist-Hlawatsch (Texte und Textgeschichte 43), Tübingen 1995, 107; dazu Schreiner, Buchstabensymbolik, 94–95. 12 J. Pascher, Das liturgische Jahr, München 1963, 386 und 393. 13 Jungmann II, 556.

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bei der Spendung der »Sterbesakramente«14 oder vor der Erteilung des Wettersegens15. Dass diese ausgeprägte Verankerung im kirchlichen Leben und in der individuellen Frömmigkeit auch Wirkungen in den Künsten hatte, ist nicht weiter verwunderlich. Ungewöhnlich sind jedoch manche der dafür gefundenen Bildformeln, mit denen man Inhalt und theologische Bedeutung des Johannesprologs zu veranschaulichen suchte. Wohl schon die frühesten Evangeliare wurden ihres Inhalts wegen geschmückt, in besonderer Weise geschrieben und möglicherweise illustriert, wie dies in den seit dem 6. Jahrhundert auch bebilderten Handschriften das ganze Mittelalter hindurch üblich blieb16. Es gab nie ein festes Schema, solche Handschriften mit Bildern auszustatten, man folgte bei der Bebilderung oftmals jedoch bestimmten Traditionen, in denen sich theologische, liturgische und/oder künstlerische Überlieferungen, Abhängigkeiten und Verwandtschaften spiegeln können. Dies gilt etwa für eines der späten irischen Evangeliare, das »Book of Kells« aus der Zeit um 800 (Dublin, Trinity College, Ms. 58)17 (Abb. 1). Jedes Evangelium beginnt mit einer ganzseitigen Darstellung des Evangelistensymbols, auf das ein Bild des Evangelisten folgt. Auffällig ist die radikale Reduktion des Figürlichen in den frühen irischen Handschriften. Die Fülle des Ornaments ist jedoch einer strengen geometrischen Ordnung unterworfen, die auch semantische Bedeutung hat. Die hohe Rationalität dieses ornamentalen Stils – erkennbar in der mit vielfachen 14 Ebd., 555 mit Anm. 4. 15 A. Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Bd. 2, Freiburg 1909, 52 und 57f.; K. Zickendraht, Das Johannesevangelium im Volksglauben und Volksbrauch, SAVK 23 (1920), 22–25; K. Schreiner, Volkstümliche Bibelmagie und volkssprachliche Bibellektüre, in: P. Dinzelbacher / D.R. Bauer (Hg.), Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn u.a. 1990, 329–373; Schreiner, Buchstabensymbolik, 88–89. 16 Ein Beispiel dafür ist die aufwendig geschriebene Seite mit dem Johannesprolog im »Book of Lindisfarne«, das der Mönch und spätere Bischof von Lindisfarne, Eadfrith (698–721), am Ende des 7. Jahrhunderts oder im frühen 8. Jahrhundert schrieb: London, British Library, Cotton MS Nero D.iv, fol. 139r: J.J.G. Alexander (Hg.), Insular manuscripts. 6th to the 9th century (A survey of manuscripts illuminated in the British Isles 1), London 1978, S. 35–40; M.P. Brown (Hg.), The Lindisfarne Gospels. Das Buch von Lindisfarne, Bd. 1–4, Luzern 2001–2003, hier Bd. 4, fol. 139r. – Vgl. zusammenfassend F. Wormald, Bible Illustration in Medieval Manuscripts, in: G.W.H. Lampe (Hg.), The Cambridge History of the Bible, Vol. 2: The West From the Fathers to the Reformation, Cambridge 1969, 309–337, hier 326–330. 17 Aus der umfangreichen Literatur seien hier nur genannt: P. Brown, The Book of Kells, London 1980; dt. Ausgabe: ders., Das Evangeliar von Kells, Freiburg/Basel/Wien 3 1992; The Book of Kells. Proceedings of a conference at Trinity College Dublin 6–9 September 1992, hg. von F. O’Mahony, Aldershot 1994; C. Farr, The Book of Kells: its function and audience, London 1997; B. Meehan, The Book of Kells: an illustrated introduction to the manuscript in Trinity College Dublin (The Book of Kells 5), London 2009.

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Abb. 1: Book of Kells, Evangeliar, um 800 (Dublin, Trinity College, Ms. 58, fol. 291v)

Zirkelschlägen erreichten Ornamentik und den korrekt konstruierten Flechtornamenten18 – ist ein sprechendes Indiz für die umfassende intellektuelle Spiritualisierung des Milieus, in dem diese Handschriften entstanden, die in den theologischen Texten einerseits erkennbar wird, andererseits aber auch die materiellen Zeugnisse prägte19. Man sieht vor dem Johannesevangelium (fol. 290v) alle Symbole – gleichsam repräsentativ für den Inhalt aller Evangelien, die um das große griechische Chi angeordnet sind, den Anfangsbuchstaben des Christusnamens20. Das Evangelistenbild (fol. 291v) in der Tradition antiker Autorenbilder21 zeigt Johannes in strenger Frontalität auf einem thronähnlichen 18 U. Roth, Studien zur Ornamentik frühchristlicher Handschriften des insularen Bereichs, Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 60 (1979), 5–225; W. Augustyn u.a., Art. Flechtornament, RDK IX (2009), 851–980, hier 910–911 und 913. 19 O.K. Werckmeister, Irisch-northumbrische Buchmalerei des 8. Jahrhunderts und monastische Spiritualität, Berlin 1967, 99–146, hier 138–142 und 171–173. 20 O.K. Werckmeister, Die Bedeutung der »Chi«-Initialseite im Book of Kells, in: Das erste Jahrtausend, Textband II, Düsseldorf 1964, 687–710; ders., Buchmalerei, 147–170. 21 Zur Bildtradition: P. Bloch u.a., Art. Evangelisten, RDK VI (1973), 448–517, hier 468–471. – Zum Vorhangmotiv hinter dem Sitz des Evangelisten: J.K. Eberlein, Appa-

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Sitz, jedoch nicht beim Schreiben. Man ließ ihn vielmehr zwei Attribute vorweisen, die dem Beschauer über den Dargestellten Auskunft geben, in der Rechten eine überlange Schreibfeder, in der linken ein Buch. Doch scheint mit dieser Geste des Präsentierens mehr als nur betonte Demonstration beabsichtigt worden zu sein; vielmehr erinnert dieser Gestus wohl auch an den Empfang des Buchs, an die Übermittlung dessen Inhalts durch Christus selbst, ein spätantikes Bildmotiv, das in italienischen Handschriften des Frühmittelalters noch deutlicher zitiert wird als hier22. Auffällig am Bild des Johannes im »Book of Kells« ist auch, dass man jeweils in der Mitte der vier Seiten des Rahmens, in jede Himmelsrichtung, ein zusätzliches Detail wahrnehmen kann: Oben einen Kopf (heute beschnitten), links und rechts Hände und unten Füße, womit man im Mittelalter nicht selten Weltdarstellungen versah, um zu zeigen, dass Gott die ganze Welt schützend umfängt23. Im »Book of Kells« ging es darum zu zeigen, in wessen Auftrag der Evangelist Johannes handelte, gleichzeitig verwies das Evangelistenbild auf die universale Gültigkeit dieser Botschaft – ein Gedanke, der in der Bildüberlieferung zum vierten Evangelium später ebenso häufig hervorgehoben wurde24 ritio regis – revelatio veritatis. Studien zur Darstellung des Vorhangs in der bildenden Kunst von der Spätantike bis zum Ende des Mittelalters, Wiesbaden 1982, 122–134. 22 Werckmeister, Buchmalerei, 136. Ein in Perugia erhaltenes Evangeliar aus dem 8./9. Jahrhundert (Biblioteca capitolare, Ms. 2) zeigt die Evangelisten, die von Christus das Evangelium entgegengenommen haben und es nun in den verhüllten Händen halten: A. Caleca, L’evangeliario altomedievale di Perugia, in: Critica d’Arte 88. NS 14 (1967), 17–35, Abb. 30–33; ders., Miniatura in Umbria I: La biblioteca di Perugia I, Florenz 1969, 17–26. 23 Werckmeister, Buchmalerei, 120–129. Als Beispiel: London, British Library, Add. MS 28681 (Londoner Psalterkarte), nach 1262: J.-G. Arentzen, Imago Mundi Cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild (MMS 53), München 1984, 262–267; B. Reudenbach, Die Londoner Psalterkarte und ihre Rückseite. Ökumenekarten als Psalterillustration, FMSt 32 (1998), 164–181; C. Meier, Die Quadratur des Kreises. Die Diagrammatik des 12. Jahrhunderts als symbolische Denkund Darstellungsform, in: A. Patschowsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Stuttgart 2003, 23–53, hier 48–53; dazu A. Worm, Geschichte und Weltordnung. Graphische Modelle von Zeit und Raum in Universalchroniken vor 1500, Berlin 2018. 24 Vgl. Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. bibl. 94, fol. 154v: Dem Johannesprolog in einem Evangeliar aus dem Bamberger Dom aus dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts geht eine Darstellung des über dem Erdball thronenden Christus voran. Engel huldigen ihm, die beiden Bildfelder in der unteren Hälfte zeigen als Sinnbild der heidnischen Welt eine Götzenanbetung, gegenüber für die christliche Kirche eine Taufszene. Im Rahmen sind die Personifikationen der vier Elemente mit ihren Attributen wiedergegeben: unten Aqua mit Fisch und Terra mit einem Menschen, in der oberen Hälfte vom Betrachter aus rechts Aer mit dem Mond und gegenüber Ignis mit der Sonnenscheibe: G. Suckale-Redlefsen, Die Handschriften des 8. bis 11. Jahrhunderts der Staatsbibliothek Bamberg (Katalog der illuminierten Handschriften der Staatsbibliothek Bamberg I/1), Wiesbaden 2004, 137–142.

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wie die besondere Tugendhaftigkeit des Evangelisten und seine besondere Nähe zu Christus25. Im sogenannten Kostbaren Evangeliar Bischof Bernwards von Hildesheim aus dem Jahr 1011 ist dem für die Inkarnationsvorstellung so wichtigen Johannesevangelium eine Bildseite vorangestellt (fol. 174r), auf der die Menschwerdung, das als »Selbstmitteilung Gottes« beschriebene Geschehen, unmittelbar ins Bild gesetzt ist (Abb. 2)26: In den himmlischen Sphären thront Christus Gott – mit Krone und Kreuznimbus – auf der Sphaera, in der Glorie. Er hält das »Buch des Lebens« in der Linken, in seiner Rechten eine Scheibe mit dem »Agnus Dei« als Erinnerung an die von Johannes dem Täufer verkündigte Ankunft des Lammes. Längst hatte man in dieser Zeit die Anwendung von Beischriften in vielfältigen Varianten erprobt: als Texte, die man auf 25 In dem in Echternach um 1020/1030 entstandenen Evangeliar (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Codex aureus Epternacensis) beginnt nach dem Autorenbild des Evangelisten (fol. 112v) sowie einer Seite mit einem Gedicht über das Evangelium (fol. 113r: Inc. »Quadrifidas partes habitantes quique fideles ...«: MGH. PL V/2, hg. von K. Strecker, Berlin 1939, 445, Nr. 22a) und den Personifikationen der vier Himmelsrichtungen auf der nachfolgenden Seite (fol. 113v) das Evangelium mit einer kunstvollen Initialligatur (»I[ncipit] …«). In den Eckmedaillons des Rahmens sieht man die Personifikationen wohl von Jungfräulichkeit (virginitas), Enthaltsamkeit (continentia), Keuschheit (castitas) und Nüchternheit (sobrietas). Zur Handschrift: R. Kahsnitz u.a., Das Goldene Evangelienbuch von Echternach, Frankfurt a.M. 1982. – In dem frühgotischen Evangeliar in Aschaffenburg (Hofbibliothek, Ms. 13, fol. 79r), entstanden um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Mainz, wird die besondere Rolle des Johannes nicht nur durch seine Wiedergabe als durch die Geisttaube inspirierten Verfasser, sondern auch durch ein neuartiges Autorenbild hervorgehoben: Man sieht die Darstellung des Lieblingsjüngers an der Brust Christi ruhen (Joh 13,23): H. Wolter - von dem Knesebeck, Das Mainzer Evangeliar, Luzern/Regensburg 2007, 120–127. Man deutete, wie Hieronymus in der Vorrede zum Evangelium des Matthäus formuliert hatte, das Ruhen an der Brust Jesu, die besondere Nähe des Autors zu Christus, als Quelle der Inspiration des Johannes an (»… ultimus Iohannes apostolus et euangelista, quem Iesus amauit plurimum, qui super pectus Domini recumbens purissima doctrinarum fluenta potauit …«: S. Hieronymus Presbyteri Opera I,7: Commentariorum in Matheum libri IV, hg. von D. Hurst / M. Adriaen [CCSL 77], Turnhout 1969, 2). – Dazu H. Rahner, De dominici pectoris fonte potavit, ZkTh 55 (1931), 103–108; ders., Flumina de ventre Christi, Flumina de ventre Christi. Die patristische Auslegung von Joh 7, 37.38, Bib. 22 (1941), 269–302, 367–403, wieder in: ders., Symbole der Kirche, Salzburg 1964, 177–235; zur Auslegungsgeschichte im Mittelalter vgl. z.B. die anonyme Vorrede zum Johanneskommentar des Augustinus (PL 35, 1378) und die »Glossa ordinaria« (PL 114, 355); dazu unter anderem P. Kern, Trinität, Maria, Inkarnation (Philosophische Studien und Quellen 55), Berlin 1971, 176; A. Volfing, The authorship of John the Evangelist as presented in medieval German sermons and Meisterlieder, Oxford German Studies 23 (1994), 1–44. 26 Zur Handschrift: M. Stähli, Die Handschriften im Domschatz zu Hildesheim, hg. von H. Härtel (Mittelalterliche Handschriften in Niedersachsen 7), Wolfenbüttel 1984, 17–50; R. Kahsnitz, Inhalt und Aufbau der Handschrift. Die Bilder, in: Das Kostbare Evangeliar des Heiligen Bernward, hg. von M. Brandt, München 1993, 18–55, hier 43–45.

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Abb. 2: Sog. Kostbares Evangeliar Bischof Bernwards von Hildesheim, datiert 1011 (Hildesheim, Domschatz, Hs. 18, fol. 174r)

Schriftbändern inserierte und dem Leser damit zu verstehen gab (erst recht, wenn es sich um wörtliche Zitate oder textnahe Paraphrasen handelte), dass es sich, unabhängig von der Bilderzählung, um eine dialogische Situation handelte. Mindestens ebenso häufig gaben die entrollten Schriftbänder, unabhängig von einer möglicherweise zugrundeliegenden »historia«, Verständnishilfen und bieten Deutungen; Gleiches leisten auch aufgeschlagene Bücher, deren mit (knappem) Text beschriebene Seiten die im Bild aufgebotenen Akteure lesen oder auf die sie zeigen oder auf die sie von Anderen hingewiesen werden27. Dem entsprechend zeigt das aufgeschlagene Buch Christi dem Betrachter das Wort »Vita« und ist damit ein bildlicher Beleg für die Gleichsetzung Christi, der sich selbst im Johannesevangelium (Joh 14,6) als »Weg, Wahrheit und Leben« bezeichnet hatte (»ego sum via et veritas et vita«)28, mit der im Al27 C. Meier, Konkretisierung und Symbolisierung des Textes im Bild. Eine Skizze. Zugleich ein Versuch über das textus-Konzept von Raimundus Lullus, in: »Textus« im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, hg. von L. Kuchenbuch / U. Kleine (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216), Göttingen 2006, 337–397. 28 B. Reudenbach, Der Codex als Verkörperung Christi, in: Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, hg. von J.F. Quack / D.C. Luft (Materielle Textkultu-

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ten und Neuen Testament, vor allem in der Apokalypse, mehrmals bemühten Vorstellung eines Buchs, in dem die Namen der Menschen aufgezeichnet sind, des »Buchs des Lebens« in der Hand Gottes (Apk 20, 11–12.15) beim endzeitlichen Gericht29. Es gehen Strahlen von Gott aus, die sich auf ein Kind beziehen, das, ebenfalls mit einem Kreuznimbus ausgezeichnet, nicht in einer Krippe liegt, sondern auf einem Altar30. Der zeitgenössische Betrachter konnte aus diesem Bild folgern: Dies ist Christus, der Logos, Mensch geworden, um durch sein Opfer die Welt zu erlösen, jenes Opfer am Kreuz, das immer wieder auf dem Altar gnadenhaft wiederholt und während jeder Messe dort stets neu vergegenwärtigt wird. Markant ist die Trennung zwischen den himmlischen Sphären, in denen der überzeitliche Gott thront, und der irdischen Wirklichkeit, in die das Kind eintritt: Personifikationen, die an Okeanos und Gaia erinnern, die alten antiken Gottheiten des Meeres und der Erde, sind hier die Repräsentanten der irdischen Welt im Gegensatz zur himmlischen. Den Meeresgott begleiten Tiere des Wassers – Delphin und Fische –, die Personifikation der Erde, die mit dem Arm um einen Baum greift, birgt in ihrem Schoß Mann und Frau, die Stammeltern ren. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933), Berlin/München/Boston 2014, 229–244, hier 234–236. Diskutiert wurde, dass die Gleichsetzung von Christus und Buch in der Liturgie besondere Ausdrucksformen der Reverenz dem Evangeliar gegenüber begründete: ebd., 236–241; N. Gussone, Der Codex auf dem Thron. Zur Ehrung des Evangelienbuches in Liturgie und Zeremoniell, in: Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, hg. von H.P. Neuheuser, St. Ottilien 1995, 191–231; J. Helmrath, Die Inthronisation des Evangelienbuchs auf Konzilien, in: ebd., 233–279. 29 H.-G. Gradl, Buch und Offenbarung. Medien und Medialität der Johannesapokalypse (Herders Biblische Studien 75), Freiburg/Basel/Wien 2014, 343–398; zur Vorstellung des »Buchs des Lebens« (Dtn 12,1; Ps 69,29; Ps 139,16; Lk 10,20; Phil 4,3; Apk 3,5 u.ö.): Leo Koep, Das himmlische Buch in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur altchristlichen Bildersprache (Theoph. 8), Bonn 1952; dazu Schreiner, Buchstabensymbolik, 59; zu der Vorstellung einer darin notierten, für das individuelle Heil relevanten, positiven oder negativen Lebensbilanz: H. Keller, Vom ›heiligen Buch‹ zur ›Buchführung‹. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter, FMSt 26 (1992), 1–31, bes. 24–25; zu differierenden Interpretationen in patristischer Zeit: Koep, Buch, 51. – Später widmeten mittelalterliche Theologen dem Motiv des »Liber vitae« ausführliche Erörterungen: Thomas von Aquin, Summa theologica I, qu. 24, in: DThA 2, 266–275; Bonaventura, Sententiarum lib. IV, dist. 43, art. 2, qu. 3, in: ders., Opera omnia IV, 889; dazu: K. Forster, Liber vitae bei Bonaventura. Ein begriffsgeschichtlicher Aufriß, in: J. Aue / H. Volk (Hg.), Theologie in Geschichte und Gegenwart. FS Michael Schmaus, München 1957, 397–414; H. Stoevesandt, Die letzten Dinge in der Theologie Bonaventuras (BSHST 8), Zürich 1969, 96–111. 30 Dass – wenngleich in anderem Zusammenhang – Krippe und Altarmensa in eine theologisch-semantische Beziehung zueinandergesetzt worden sein könnten, suchte A. Barb zu beschreiben: Krippe, Tisch und Grab. Ein Versuch zur Formsymbolik von Altar und Patene, in: Mullus. FS Th. Klauser, hg. von A. Hermann / A.Stuiber (JAC. Erg.-Bd. 1), Münster 1964, 17–27.

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des Menschengeschlechts, Adam und Eva. Während die Frau nach der verbotenen Frucht greift, die die Schlange ihr im Maul entgegenstreckt, greift Adam wie zur Bekräftigung des Sündenfalls nach dem Schwanz der Schlange. Die Korrelation von Sündenfall, Erlösung durch Menschwerdung und Selbstopfer Christi und Altarsakrament ist hier augenfällig, der theologische Zusammenhang von ökonomischer Trinität und Soteriologie stringent veranschaulicht. Im Fall des vierten Evangeliums kam jedoch ein besonderes Element hinzu, der Prolog mit der darin formulierten Gleichsetzung von Christus und Logos, verbum in der lateinischen Übersetzung. Immer schon galt der Gott der Bibel als ein Gott des Wortes, verstand man den Bibeltext als »Wort Gottes«31, so dass Augustinus von einer Doppeloffenbarung Gottes im Wort und in der Schöpfung schreiben konnte: Dies begründete die Vorstellung von den zwei Büchern, dem »Buch der Schrift« (das durch Gottes »Diktat« von den Händen inspirierter Verfasser verschriftlichtet worden war32) und dem »Buch der Natur«33. Doch wurde nicht nur literarisch Christus mit Rolle und Codex gleichgesetzt – der Vergleich mit dem »χειρόγραφον«, der Schuldurkunde, die in Gestalt Jesu ans Kreuz geheftet wurde, ging auf Paulus zurück (Kol 2,14), der seinerseits ältere jüdisch-rabbinische Vorstellungen aufgegriffen hatte34 –, es kam auch zur wörtlichen Umsetzung der im Prolog zum Johannesevangelium formulierten Identität von Christus und Wort. Dafür gebrauchte man die eingängige Metapher des Buchs, die in der Passionsfrömmigkeit des 13. Jahrhunderts und später immer wieder auf den »Liber vitae« bezogen und damit in einer zweifachen 31 Zur Metaphorik: Schreiner, Buchstabensymbolik, 60–61; ders, »Göttliche SchreibKunst«. Eigenhändige Aufzeichnungen Gottes, Jesu und Mariä. Schriftlichkeit in heilsgeschichtlichen Kontexten, FMSt 36 (2002), 95–132, bes. 95–98. 32 Vgl. etwa die Formulierung Alkuins (um 730–804), der den Text der Bibel als zusammengesetzt aus himmlischen Worten (»coelestia verba«) erklärte, die, weil sie Gottes Diktat (»dictante Deo«) verdankt würden, himmlischen Ursprungs (»caelestis originis«) seien: Alcvini sive Albini Epistolae, hg. von E. Dümmler (MGH. Ep. 2), Berlin 1985, 422–424 (Nr. 264), hier 423, Z. 31. 33 E. Rothacker, Das »Buch der Natur«. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, aus dem Nachlaß hg. und bearb. von W. Perpeet, Bonn 1979; H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1979; A. Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer »scientia naturalis« im 12. Jahrhundert (STGMA 45), Leiden / New York / Köln 1995; Schreiner, Göttliche Schreib-Kunst, 99–101. 34 J. Gnilka, Der Kolosserbrief (HThK X/1), Freiburg/Basel/Wien 1980, 137–139; Bill. III, 628. – In der homiletischen Praxis und Literatur des Mittelalter wurde dieser allegorische Vergleich häufig zitiert und ausgestaltet: Dem Pergament entspreche die Haut Christi, die Buchstaben stehen für die Wunden, sein Blut versinnbildliche das rote Wachs des Siegels. Belege dazu bei: M.C. Spalding (Hg.), The Middle English Charters of Christ (Bryn Mawr Monographs 15), Bryn Mawr 1914; M. Rubin, Corpus Christi. The Eucharisty in Late Medieval Culture, Cambridge 1992, 306–308.

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Übertragung mit dem gekreuzigten Christus gleichgesetzt wurde35. Der Zisterziensertheologe Isaak von Stella (1100–1178)36 verglich Christus auf diese Weise: Christus sei sichtbar in der Schrift und greifbar im Sakrament. Wenn er nicht mehr im Fleisch gegenwärtig ist, in der Schrift ist er bei uns. Der Text des Evangeliums wird gleichsam zur leiblichen Gegenwart des sichtbaren Worts37. Diese Analogie wurde im Verlauf des Mittelalters noch weiter ausgeführt, wenn etwa der französische Benediktiner Petrus Berchorius (Pierre Bersuire, 1290–1362) um 1340 seiner allegorischen Beschreibung der Passion Christi die Herstellung einer Handschrift zugrunde legte und davon sprach, dass der Mensch gewordene Gottessohn vom Vater diktiert worden sei, im Schoß Mariens vom Heiligen Geist auf jungfräuliches Pergament geschrieben, der Welt zur Kenntnis gebracht in der Offenbarung der Geburt, korrigiert in der Passion, abgeschabt bei der Geißelung, punktiert und durchstoßen bei der Durchbohrung der Wunden, auf ein Lesepult gestellt bei der Kreuzigung, bemalt durch die Vergießung des Bluts, gebunden in der Auferstehung, disputiert bei der Himmelfahrt. Geöffnet und aufgeschlagen werde das Buch Christus beim letzten Gericht38. Wie verbreitet diese 35 Vgl. eine im 14. und 15. Jahrhundert weit verbreitete Predigtsammlung aus der Zeit um 1300, in der es vom »lebend buoch« Christus heißt, das am Karfreitag geschrieben worden sei: In diesem Buch seiner »hailgen mentschait« könne man »gedult, demuot … und maenig ander tugend« lesen, die darin geschrieben seien »mit den rosavarwen buochstaben sinez rainnen bluotez«: K. Rieder, Der sog. St. Georgener Prediger aus der Freiburger und Karlsruher Handschrift herausgegeben (DTMA 10), Berlin 1908, 315; U. Küsters, Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von J.-D. Müller / H. Wenzel, Stuttgart/Leipzig 1999, 81–109, hier 85. – Beispiele aus der englischen Literatur des Spätmittelalters: E. Duffy, Devotion to the Crucifix and Related Images in England on the Eve of Reformation, in: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von R.W. Scribner (Wolfenbütteler Forschungen 46), Wiesbaden 1990, 21–36, bes. 27; ferner: Schreiner, Göttliche Schreib-Kunst, 116–119. 36 Zu Leben und Werk unter anderem: G. Raciti, Art. Isaac de l’Étoile, in: DSp VII/2 (1971), 2012–2038; ders., Isaac de l’Étoile et son siècle, in: Cîteaux 12 (1961), 281– 306; ders., »Mysteria magis delectant«: Die Exegese des Zisterzienserabtes Isaak von Stella († ca. 1178), in: The Multiple Meaning of Scripture. The Role of Exegesis in EarlyChristian and Medieval Culture, hg. von I. van t’Spijker (Commentaria 2, Sacred Texts and Their Commentaries: Jewish, Christian and Islamic), Leiden/Boston 2009, 273– 290. 37 Isaak von Stella, Sermo 9,7, in: Sermones – Predigten, lat.-dt., hg. von W. Buchmüller / B. Kohout-Berghammer (FC 52/1), Freiburg/Basel/Wien 2012, Bd. 1, 264–265. – Bisher nicht untersucht scheint die Frage, inwieweit der Autor in dieser pointierten Aussage theologische Vorstellungen alludierte wie etwa jene der Suffizienz der Schrift; zu dieser: Y.M.J. Congar, Tradition et traditions, Paris 1960; dt.: ders. Die Tradition und die Traditionen, Bd. I, Mainz 1965, 141–151; zum »Schriftprinzip« der Frühscholastik: H. Schüssler, Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter (VIEG 86), Wiesbaden 1977, 1–23. 38 »Christus enim est quidam liber scriptus in pelle virginea et in camera virginis gloriose digitis spiritus sancti. Iste enim liber fuit dictatus in patris dispositione, scriptus in

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Vorstellung war, zeigt die Illustration zu einer Sammlung volkssprachlicher Texte, meist nach dem ersten zweisprachigen Text eines anonymen Verfassers »Legiloque« benannt, der in drei inhaltlich übereinstimmenden Handschriften aus dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts überliefert ist39. Die Wiedergabe Christi mit ausgespannten Armen am Kreuz und die beiden blanken Seiten eines aufgeschlagenen Buchs sind gewissermaßen »überblendet« (Abb. 3). Ausführlich hatten die Pariser Dominikaner schon im 13. Jahrhundert im Text der »Bible moralisée«40 mehrmals von der Vorstellung Gematris conceptione, expositus in nativitatis manifestatione, correctus in passione, rasus in flagellatione, punctatus in vulnerum infixione, super pulpitum positus in crucifixione, illuminatus in sanguinis effusione, et illigatus in resurrectione, et disputatus in ascensione … Apertus vero erit et explicatus in iudicii promulgatione«: Petrus Berchorius, Repertorium morale II, s.v. »Liber«, zit. nach Ausgabe Nürnberg 1499, Bl. 199r. – Ähnlich formuliert im »Specchio di croce« des italienischen Dominikaners Domenico Cavalca (um 1270–1342): U. Ernst, Standardisiertes Wissen über Schrift und Lektüre, Buch und Druck. Am Beispiel des enzyklopädischen Schrifttums vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: C. Meier (Hg.), Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter zur Frühen Neuzeit (MMS 78), München 2002, 451–494; wieder in: U. Ernst, Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration, Wissen und Wahrnehmung, Heidelberg 2006, 201–252. 39 Zum ersten Text (Inc. »Audi Israel … Ceste parole ceste Nostres Sires a son people par Moyse son disciple …«): M. Rouse / R. H. Rouse, French Literature and the Counts of Saint Pol ca 1178–1377, Viator 41 (2010), 101–140; zu den drei illustrierten Handschriften der Textsammlung (Chantilly, Mus. Condé, ms. fr. 1267; Paris, Bibl. nat. de France, ms. fr. 1136 und ms. nouv. acq. fr. 4338): C. Logemann, Heilige Ordnungen. Die Bild-Räume der »Vie de Saint-Denis« (1317) und die französische Buchmalerei des 14. Jahrhunderts (pictura et poesis 24), Köln/Weimar/Wien 2009, 157, Anm. 323; zur Handschrift in Chantilly: S. Huot, The Writer’s Mirror: Watrique de Couvin and the Development of the Author-Centered Book, in: Across Boundaries. The Book in Culture and Commerce, hg. von Ph. Bell / Ph. Benet / J. Bevan, Winchester / New Castle 2000, 29–46, hier 30–34; S. Huot, Polytextual Reading. The Meditative Reading of Real and Metaphorical Books, in: Orality and Literacity in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green, hg. von M. Chinca / Ch. Young, Turnhout 2005, 203–222, hier 206–209; K.A. Smith, The Monk Who Crucified Himself, in: Thresholds of Medieval Visual Culture. Liminal Spaces, hg. von E. Gertsman / J. Stevenson, Woodbridge 2012, 44–72. 40 Die Literatur zu den Handschriften der »Bible moralisée«, einem allegorisch instrumentierten Text-Bild-Kompendium zur Bibel, das im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts im Auftrag und Umfeld des französischen Hofs von den Pariser Dominikanern um Hugo von St-Cher (1200–1263) konzipiert wurde, ist umfangreich. Hier sei nur hingewiesen auf: R. Haussherr (Hg.), Bible moralisee. Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek I–II (Codices selecti XL/XL*), Graz 1973; zu den Handschriften aus dem 13. bis 15. Jahrhundert: J. Lowden, The Making of the Bibles Moralisees I, University Park, Pa. 2000; zur allegorischen Methode: R. Haussherr, Sensus litteralis und sensus spiritualis in der Bible moralisee, in: FMSt 6 (1972), 356–380; zu den Beispielen für die Darstellungen des Verkörperung des Logos: H. Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 344–350.

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Abb. 3: Bibelparaphrase, Zweites Drittel 14. Jahrhundert (Paris, Bibl. nat. de France, Ms. fr. 1136, fol. 100r)

Abb. 4: Bible moralisée, um 1230 (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2554, fol. 116r)

brauch gemacht, dass der inkarnierte Logos einem Buch inkorporiert sei, etwa als sie in einem allegorischen Vergleich Mose im Weidenkörbchen dem Christuskind im Codex gegenüberstellten und dieser Vergleich in mehreren Medaillons illustriert wurde (Abb. 4). Die knappen Texte belehren den Leser und Betrachter: So wie Mose in ein Weiden-

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körbchen gelegt und in fließendem Gewässer zwischen Gladiolen ausgesetzt worden sei, liege Christus (im Evangelium) in einer Krippe. Dass er zwischen Gladiolen ausgesetzt worden sei, bedeute, dass Jesus in das Wasser der Welt zwischen Dornen gesetzt worden sei (»Ce que moyses fu mis el bercuel des clices senefie iesucrist qi fu mis en la crache as bues. Ce que il fu botez en leue entre les glagieus senefie iesucrist qi fu botez en leue del munde entre les espines«). Parallel dazu sieht man Mirjam (»Maria«) die Schwester des Mose, die über sein Schicksal weint, so wie im Medaillon darunter die Synagoge, die das Los des in seiner Gottheit ungeschützten Christus beklagt41. Auf der nachfolgenden Seite wird dieser Vergleich fortgesetzt: Die Tochter des Pharao findet das Weidenkörbchen mit dem Kind und lässt es aus dem Wasser herausnehmen. Dem entspricht das Tun der Kirche, die den Logos schützt; dazu sieht man, wie das Kind in ein Buch mit Schließen eingeschlossen wird, so dass das Kind, der Logos, im Buch geschützt ist. Dass die Tochter des Pharao das Kind aufnimmt, wird verglichen mit der Kirche, die Christus aus dem Brunnen der Welt zu sich nimmt. Das Medaillon zeigt, wie die gekrönte Personifikation der Ecclesia das Kind über einem aufgeschlagenen Buch in Empfang nimmt (Abb. 5)42. Dem Vorbild der Handschriften der »Bible moralisée« folgte man bei der Bebilderung eines französischen Stundenbuchs aus der Zeit um 1430/35, in dem die Bilder aus dieser Vorlage übernommen wurden und man eine junge Frau mit gefalteten Händen vor Christus knien sieht, der in einen Codex eingebunden scheint43. An einem Beispiel aus dem 16. Jahrhundert, einem Tafelbild im Erfurter Dom, lässt sich anschaulich zeigen, dass die im Johannesprolog artikulierte theologische Idee nicht nur Quelle hochkomplexer allegorischer Bildprogramme ist, sondern auch dazu in Anspruch genommen wurde, um bestimmte Positionen innerhalb tiefgreifender theologischer Konflikte zu definieren. Zu den acht Pfeilerbildern des Doms gehört das 1534 datierte Bild der »Eucharistischen Mühle«, das ein namentlich nicht bekannter Maler aus dem Umfeld der Cranach-Werkstatt ausführ41 H.-W. Stork, Die Wiener französische Bible moralisée Codex 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek (Saarbrücker Hochschulschriften 18), St. Ingbert 1992, 167– 168; ders., Bible moralisée Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek. Transkription und Übersetzung (Saarbrücker Hochschulschriften 9), St. Ingbert 1988, 31–32. 42 Stork, Die Wiener französische Bible moralisée, 168; dass dem Codex »körperhafte« Eigenschaften zuerkannt wurden, hatte eine lange Tradition, die in verschiedenen literarischen und bildlichen Zeugnissen, vor allem aus ottonischer Zeit, anklingt: W.C. Schneider, Geschlossene Bücher – offene Bücher. Das Öffnen von Sinnräumen im Schließen der Codices, HZ 271 (2000), 561–592. 43 Paris, Bibl. nat. de France, ms. lat. 9471 (»Grandes Heures de Rohan«), fol. 130v– 134r, hier 133r: Grandes Horas de Rohan. Fac-simile, Madrid 2006, fol. 133r; E. König, Die Grandes Heures de Rohan, Simbach 2006, 90.

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Abb. 5: Bible moralisée (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2554, fol. 116v)

Abb. 6: Erfurt, Dom, Tafelbild an einem der Pfeiler, datiert 1534

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te (Abb. 6)44. Bildbestimmend ist das Motiv einer großen Getreidemühle im Mittelgrund. Im Scheitel des Bildes sieht man Gottvater; er blickt zur Seite auf Maria, die vor ihm kniet. In den Händen hält Maria ein Buch, sieht jedoch mit niedergeschlagenem Blick zur Seite: Der Betrachter des Bildes versteht, dass ihre Lektüre offenbar in eben jenem Moment unterbrochen wurde, in dem sich die im Bild angezeigten Geschehnisse zutrugen und sie von weiterer Lektüre abhielten. Dass Maria lesen konnte, war ein wichtiges Motiv der spätmittelalterlichen Marienverehrung, ließ Maria zur exemplarischen Figur werden45. Gabriel, den Boten der Verkündigung, sieht man gegenüber. Maria antwortet seinem Gruß, wie es das Lukasevangelium überliefert (Lk 1,28): »Ecce ancilla domini. Fiat michi secundum verbum suum«. Während sie bekundet, sich in den Willen Gottes zu fügen, kommt der von Gottvater ausgehende Heilige Geist in Gestalt einer Taube vom Himmel herab und nähert sich dem rechten Ohr Mariens. Dass der Glaube vom Hören komme, hatte schon Paulus im Römerbrief geschrieben (Röm 10,17). Die Empfängnis Jesu durch das Ohr Mariens hatten die Theologen der frühen Kirche ebenso wie ihre Nachfolger im Mittelalter als theologisches Bild verstanden: So wurde das Wort Gottes Fleisch, konnte die Menschwerdung Christi geschehen. Die hier gewählte Formulierung war nicht originell, sondern entsprach den allseits bekannten ikonographischen Konventionen46 und führte zugleich das Thema des ganzen Bildes ein: Es wird anschaulich gemacht, dass Gott in Christus Mensch geworden und in der Eucharistie wirklich gegenwärtig und dauerhaft erfahrbar ist. Dass dies möglich ist, setzt freilich einen Transformationsprozess voraus, in dem aus Gottes Wort immer wieder aufs Neue Christus Mensch wird. Um dies zu illustrieren, bediente man sich des Bildes der Mühle. Die vier Symbole der Evangelisten stehen für die vier Evangelien. Sie stehen auf dem Kasten einer großen Getreidemühle und haben Säcke geschultert, aus denen sie den Text der Evangelien in einen Trichter kippen. Die Schriftbänder tragen Zitate aus den Evangelien, die sich auf die Menschwerdung des Wortes beziehen47. Zum Evangelium des Johannes etwa liest man dessen Anfang: »In principio …« 44 W. Augustyn, Ein altgläubiges Bekenntnis: Die Eucharistische Mühle, in: F. Bornschein / E. Leuschner / K.-U. Schierz (Hg.), Kontroverse und Kompromiss. Der Pfeilerbildzyklus des Mariendoms und die Kultur der Bikonfessionalität im Erfurt des 16. Jahrhunderts, Erfurt 2015, 75–83. 45 K. Schreiner, Maria – Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, 130–133; zum Problem auch ders., Konnte Maria lesen? Von der Magd des Herrn zur Symbolgestalt mittelalterlicher Frauenbildung, in: Merkur 44 (1990), 82–88; ders., Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit. Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und Darstellung von Mariä Verkündigung, in: FMSt 24 (1990), 314–368. 46 E. Guldan, »Et verbum caro factum est«. Die Darstellung der Inkarnation Christi im Verkündigungsbild, RQ 63 (1968), 145–169. 47 Augustyn, Bekenntnis, 76.

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Über eine flache Schütte fällt das in den Evangelien geoffenbarte Wort Gottes herab – nun nur noch ein einziges Schriftband mit dem Johanneszitat: »Et deus erat verbum« (Joh 1,1). Es trifft auf eine schmale Öffnung im Mühlstein. Die allegorische Bildkomposition besteht in einem Vergleich: Getreide muss gemahlen werden, um zu Brot verarbeitet werden zu können. Dies anschaulich zu machen, bediente man sich des altbekannten Bildes der Mühle48. So wie Getreide müssen auch die Texte der Evangelien einen Transformationsprozess erfahren. Für diesen steht die Mühle, die auf jeder Seite durch mehrere Apostel mit einer großen Kurbel betrieben wird. Aus der Mühle geht ein Schriftband hervor: »Et verbum caro factum est«. Dieser Satz gehört zum Abschluss des Johannesprologs (»… et habitavit in nobis; et vidimus gloriam eius«: Joh 1,1–14). Es endet in einem großen Kelch, in dem das verwandelte Wort, der Mensch gewordene Christus, als nacktes Kind mit einem Strahlennimbus zu sehen ist. Der Ort, an dem sich Christus befindet, der Kelch, lässt erkennen, dass es sich um das Altarsakrament handelt, in dem die Präsenz des Mensch gewordenen Worts erfahrbar ist. Diesen Kelch halten die vier lateinischen Kirchenväter: Papst Gregor der Große, Hieronymus als Kardinal und die Bischöfe Ambrosius und Augustinus. Die Bildmotive und die Texte auf den Spruchbändern geben dem Betrachter zu verstehen, dass es um die Menschwerdung des Wortes in Christus geht, das Fortwirken des Mensch gewordenen Wortes in der Eucharistie und die Verankerung dieses Wirkens im Handeln der Kirche49. Der Vergleich des Mahlens von Getreide und der Verwandlung von Gottes Wort bestand in einer zweifachen Analogie. Vergleichspunkt war einmal die für das angestrebte Ziel erforderliche Veränderung. Gleichzeitig war jedoch das aus gemahlenem Getreide hergestellte Brot auch Analogon zum eucharistischen Brot, der Gestalt der konsekrierten Hostie, in der die Gläubigen den Mensch gewordenen Christus aufnehmen. Biblische Grundlage dieses Vergleichs war ein Vers des Johannesevangeliums (Joh 6,51): »Ego sum panis vivus, qui de coelo descendit«. Die Menschwerdung Christi geschieht allein durch Gottes Fügung, die Evangelisten und die Apostel wirken aber mit bei der Offenbarung und Verkündigung der Menschwerdung des Worts. Ohne ihren Anteil könnte diese Botschaft bei den Menschen nicht wirksam werden: In der Nachfolge der Apostel nimmt die Kirche, repräsentiert durch die vier lateinischen Kirchenväter, dieses »mysterium fidei« entgegen. Die institutionelle Aufgabe der Kirche ist die Verwaltung der Sakramente und die Lehre. Die Kirchenväter repräsentieren beide Elemente: Als Priester halten sie den Kelch mit dem eucharistischen Brot, dem im Altarsakrament wirklich gegenwärtigen Christus, reprä48 49

Ebd., 78–79. Zitiert ebd., 77–78 und 81–82 mit Anm. 12.

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sentieren aber auch das in der Nachfolge der Apostel ausgeübte Amt innerhalb der Kirche in seinen verschiedenen Stufen als Priester und Bischöfe und stehen für die richtige theologische Erklärung und Deutung von Menschwerdung und Altarsakrament. Als man um 1400 angesichts utraquistischer Bestrebungen, wie sie etwa Wyclif und Hus vertraten, damit begann, bestimmte Positionen der kirchlichen Lehre neu zu erörtern, kam es zur Ausprägung eines neuen allegorischen Bildes mit Hilfe des Mühlenmotivs. Wyclif hatte die Transsubstantiation öffentlich angezweifelt und in seinem um 1379 entstandenen Traktat »De Eucharistia« ein zur herrschenden Lehrmeinung konträres Modell des Eucharistieverständnisses formuliert. Hus folgte dieser Argumentation und forderte die im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts vielerorts postulierte Kommunion unter beiderlei Gestalten. Es scheint, als habe man dort, wo diese Forderung besonders nachdrücklich erhoben wurde, in Böhmen (wo manche Autoren die Entstehung dieses Bildkonzepts vermuteten) und in Süddeutschland, das Bild der Hostienmühle bevorzugt wiedergegeben, um dieser Forderung zu begegnen, ebenso wie innerhalb der Mönchsorden, Benediktiner und Zisterzienser. Aus den folgenden anderthalb Jahrhunderten sind über zwei Dutzend Beispiele für die Wiedergabe dieses Bildes in unterschiedlichen Varianten und aus fast allen Gattungen der Bildkünste erhalten. Es gibt Darstellungen der Mühlenallegorie als Wandgemälde, als Tafelbild, in der Buch- und Glasmalerei und einmal als Relief. Sie alle illustrieren denselben Grundgedanken, wenn auch mit Variationen (Abb. 7)50. Dass der Stifter des Bildes, ein Erfurter Domherr, dieses Thema wählte, hatte Gründe: Das Erfurter Bild war ein unzweideutiges Bekenntnis zur altgläubigen katholischen Position: Die Menschwerdung Christi wirkt fort in der tatsächlichen Realpräsenz Christi in der Eucharistie, die hier – allen jenen zum Trotz, die die Kommunion unter beiderlei Gestalt forderten – auf Christus in der Gestalt des eucharistischen Brotes beschränkt blieb. Nach katholischer Lehre war/ist die Kommunion »sub una specie« in vollem Umfang gültig und wirksam. Die Erinnerung an die Apostel als erste Repräsentanten des kirchlichen Amtes und an die Rolle der Bischöfe in der Nachfolge der Apostel, die im Bild durch die Kirchenväter vertreten werden, war ein klares Bekenntnis zur 50 Zur Bildüberlieferung: E. Wipfler, Corpus Christi in Liturgie und Kunst der Zisterzienser im Mittelalter (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter 18), Münster 2003, 189–253; dies., Die Eucharistie in der Bildwelt der Allegorie, in: Trotz Natur und Augenschein. Eucharistie – Wandlung und Weltsicht, hg. von U. Surmann / J. Schröer, Köln 2013, 332–339; Augustyn, Bekenntnis, 79–80. Dass die Bildformel auch in Erfurt bekannt war, belegt eine ältere, weitgehend übereinstimmende Darstellung in einem Graduale aus dem Chorfrauenstift Neuwerk in Erfurt (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, cod. St. Peter perg. 44, fol. 9r): ebd., 80, Abb. 7.

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Abb. 7: Kompendium des Abts Peter von Metten, datiert 1414 (München, Bayerische Staatsbibliothek, cod. mon. lat. 8201, fol. 37r)

Abb. 8: Erfurt, Dom, Tafelbild an einem der Pfeiler, datiert 1534 (Detail)

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unverzichtbaren institutionellen Rolle der Kirche im herkömmlichen Verständnis, demzufolge die Feier der Sakramente an das Amt geknüpft war, dessen Gültigkeit und Autorität durch die alleinige Weitergabe durch die Bischöfe garantiert war. Diesem Verständnis gemäß war nur der vom Bischof geweihte Priester in der Lage, das Messopfer zu feiern, in dem auf unblutige Weise der Kreuzestod Christi rememoriert und in seiner Heilswirkung gegenwärtig gesetzt werde. Den Opfergedanken lehnten die lutherischen Theologen ab, da Christi Opfertod am Kreuz ein für alle Mal vollzogen worden sei und weder wiederholt noch ergänzt werden müsse: Die Erfurter Tafel mit der allegorischen Darstellung der Mühle, anhand deren die Betrachter lernen sollten, dass aus dem Wort Gottes – Christus – die eucharistische Speise werden könne, wenn die Kirche in der Nachfolge der Apostel diesen Prozess aktiv begleiten, bot im Streit der theologischen Meinungen der Reformationszeit die altgläubige Position in der Frage des kirchlichen Amts und das altgläubige Verständnis der Eucharistie, rückgebunden an die Aussagen des Johannesprologs (Abb. 8). Abstract How do we account for the double nature of Jesus? This question belongs to some of the biggest issues in the history of theology. The Exegisis of the relevant New Testament texts reflects the theological controversies just like the images that were conceived to illustrate the complex theological argumentations. Since the early Middle Ages, a number of different conceptions has been developed in the Arts, that mediate the difficult topic of the incarnation of Christ. The text give some examples for the long history of this problem in Art History.

Abbildungsnachweise Abb. 1 : Dublin, Trinity College Abb. 2 : Hildesheim, Dommuseum Abb. 3 : Verfasser Abb. 4 : Wien, Österreichische Nationalbibliothek Abb. 5 : Wien, Österreichische Nationalbibliothek Abb. 6 : Verfasser Abb. 7 : Verfasser Abb. 8 : Falko Bornschein, Erfurt

*** Wolfgang Augustyn, geb. 1957, Dr. phil., Dipl.-Theol., ist Stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München und apl. Professor für mittlere und neuere Kunstgeschichte an der Fakultät für Geschichts- und Kulturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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»… Traductions fussent faites sur la Vulgate par des Auteurs Chatholiques« (Richard Simon) Eckpunkte des Schriftverständnisses in der katholischen Aufklärung

»Die Kirchenväter hatten Grund, den Gläubigen ihrer Zeit die Lektüre der Heiligen Bücher anzuempfehlen, weil die Heilige Schrift nämlich zur Unterweisung der ganzen Welt gegeben worden ist. Man hat dann die Traditionen, die in der Kirche empfangen worden sind, ehrerbietig behandelt. Die Gläubigen waren der Weisung der Bischöfe unterworfen, die bewirkten, dass sie das Wort Gottes verstanden. Aber da einige aufrührerische Geister dieses Lesen missbraucht hatten, um Neuheiten in die Religion hineinzubringen, war es notwendig geworden, darin Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und es [d.h. das Lesen] nicht undifferenziert allen Arten von Menschen zu erlauben. Deshalb muss man den Gefühlen einiger Päpste und verschiedener französischer Konzilien und einiger Gelehrter Doktoren glauben, die Übersetzungen der Bibel in die Landessprache abgelehnt haben. Sie hatten die Unordnung im Blick, die dadurch sowohl in der Kirche als auch im Staat verursacht wurde. Auch kann man auf dieser Grundlage das Verhalten der Theologischen Fakultät zu Paris nicht tadeln, die generell alle Versionen der Schrift in der Landessprache verboten hat, seien sie nun von Protestanten oder von Katholiken erstellt. Dieses Verbot war damals notwendig, weil diese Bibeln den Privatpersonen mehr schadeten als sie für deren Unterweisung nützten. Ich würde allerdings ein solches Verbot nicht für alle Zeiten und auf alle Menschen ausdehnen. Wenn man sie heute in Frankreich, Deutschland und Flandern sowie an einigen anderen Orten erlaubt, dann deshalb, weil man glaubt, dass sie nicht so gefährlich sind, wie sie es im letzten Jahrhundert gewesen sind. Ich folge hierin dem Beispiel einiger Päpste, die es für ratsam halten, dass man den Menschen die Bibel übersetzt in ihre eigene Sprache geben sollte, vorausgesetzt, dass diese Übersetzungen auf der Grundlage der Vulgata durch katholische Autoren erstellt worden sind und dadurch ihnen die Versionen der Häretiker aus der Hand genommen wurden.«1

Kurz und prägnant fasst Richard Simon auf den letzten Seiten seiner 1690 in Rotterdam publizierten Histoire critique des Versions du Nouveau Testament seine Position zum Umgang mit der Bibel, näherhin mit der Verbreitung und dem Lesen von Übersetzungen in die Landesspra1 R. Simon, Histoire critique des versions du Nouveau Testament, où l’on fait connoître quel a été l’usage de la lecture des livres sacrés dans les principales églises du monde, Rotterdam 1690, ND Frankfurt a.M. 1967, 536f.

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che, zusammen: Schon die Kirchenväter hatten einem jeden Menschen empfohlen, die Schrift zu lesen, weil darin die Botschaft Gottes verbürgt ist. Die Traditionen wurden dann ehrerbietig behandelt, und die Gläubigen waren den Priestern und den Bischöfen unterworfen, die dafür sorgten, »dass sie das Wort Gottes verstanden«.2 Im Verlauf der Christentumsgeschichte aber hatten einige »aufrührerische Geister«3 versucht, gerade mit Hilfe von Bibelübersetzungen neue Lehren zu verbreiten. Folglich waren zeitweilig landessprachliche Übersetzungen verboten worden, weil damit bei den Gläubigen mehr Schaden als Nutzen angerichtet worden war.4 Zur Zeit Simons aber, also am Ende des 17. Jahrhunderts war das jedoch nicht mehr der Fall, so dass Übersetzungen nichts mehr im Wege stand, vorausgesetzt, dieselben waren entlang der Vulgata abgefasst und von katholischen Gelehrten erstellt worden.5 Noch gut 100 Jahre später vertraten die Gelehrten des deutschen Südwestens im Archiv für Pastoralkonferenzen sowie in den umliegenden Schriften nahezu die gleiche Position. Auch sie wollten die Bibel in der Landessprache unter den Gläubigen verteilt wissen, damit sie die christliche Botschaft selbstständig lesen sowie verstehen konnten und setzten – jedenfalls in bestimmten Bereichen – ebenfalls voraus, dass die Pfarrer ihre Bibelarbeit mit der Vulgata bzw. einer entsprechenden Übersetzung taten, die von katholischen Gelehrten erstellt sowie approbiert war. Es mag erstaunen, dass sowohl Richard Simon – einer der ersten katholischen Vertreter der historisch-kritischen Exegese6 – als auch die katholischen Gelehrten des deutschen Südwestens, die ebenfalls historischkritische Exegese betrieben,7 zwar darauf bestanden, dass die Bibel von 2 Ebd., 536. 3 Ebd. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. ebd., 537. 6 Vgl. A. Hunwick, Richard Simon (1638–1712): Sketch of Life and Career, in: Richard Simon, Critical History of the Text of the New Testament, ed. ders. (NTT 43), Leiden/Boston 2013, XXV–XXXVI; vgl. S. Müller, Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (1638–1712) (MTS.S 66), St. Ottilien 2004, 33–155; vgl. Ch. Voigt, Richard Simon (1638–1712), in: F.W. Graf (Hg.), Klassiker der Theologie, Bd. II: Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, 26–36; vgl. P. Auvray, Richard Simon 1638–1517. Étude bio-bibliographique avec des Textes inédits (Le Mouvement des idées au XVIIe siècle), Paris 1974. 7 Vgl. M. Blum / R. Kampling (Hg.), Zwischen katholischer Aufklärung und Ultramontanismus. Neutestamentliche Exegeten der »Katholischen Tübinger Schule« im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft (Contubernium 79), Stuttgart 2012; vgl. I. Weber, Mensch und Bibel. Zur Bildung des Herzens in der katholischen Aufklärung des deutschen Südwestens, Habilitationsschrift Tübingen 2013; vgl. P. Scheuchenpflug, Die katholische Bibelbewegung im frühen 19. Jahrhundert (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 27), Würzburg/Regensburg 1997; vgl. N. Wolff, Bibel und Bibelwissenschaft in der Aufklärungszeit, in: R. Bohlen (Hg.), Do-

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jedermann intensiv gelesen werden sollte, dass aber gleichzeitig solche landesprachlichen Übersetzungen – bei Letzteren jedenfalls zum Teil – entlang der Vulgata und nicht am Urtext orientiert allein von katholischen Gelehrten erstellt sein mussten. Warum das so war, soll im Folgenden geklärt werden, indem in einem ersten Schritt Richard Simons Position erläutert wird, um sie in einem zweiten Schritt mit der der katholischen deutschen Gelehrten zu vergleichen und schließlich im dritten Schritt ein abschließendes Fazit zu ziehen. 1.

Simons Schriftverständnis

a)

Die Genese landessprachlicher Übersetzungen und ihre Problematik

Weil die Heiligen Schriften abgefasst worden sind, um die Menschen im Glauben zu unterweisen und sie mit der Botschaft Gottes vertraut zu machen, so Simon gleich zu Beginn des zitierten Abschnittes,8 hätten schon die Kirchenväter dazu geraten, dass jedermann die Schrift lesen solle. In den ersten Jahrhunderten wäre das insoweit kein Problem gewesen, als die Heiligen Schriften in der Sprache abgefasst worden waren, die die Christen lesen und verstehen konnten.9 In dem Moment aber, in dem sich das Christentum über den griechisch-jüdischen Bereich hinaus ausdehnte und Italien eroberte, bedurfte es einer lateinischen Übersetzung.10 Das gleiche wäre auch in Armenien, in Syrien und in anderen Regionen geschehen.11 Demnach wäre die Bibel über die Jahrhunderte hinweg immer wieder in die Landessprachen übersetzt worden, damit die Unwissenden sie lesen sowie verstehen konnten12 und dieselbe in öffentlichen Versammlungen verkündet werden konnte.13 minikus von Brentano 1740–1797. Publizist, Aufklärungstheologe, Bibelübersetzer, Trier 1997, 205–227; vgl. R. Smend, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 30; vgl. ders., Kritik; vgl. ders., Carpzovs Auseinandersetzung mit Richard Simon. Zwei Theologen des Alten Testaments, in: St. Michel, / A. Straßberger (Hg.), Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Carpzovs (1639–1699) (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie), Bd. 12, Leipzig 2009, 149–159; vgl. K.H. Michel, Anfänge der Bibelkritik. Quellentexte aus Orthodoxie und Aufklärung, Wuppertal 1985, 27f. 8 Vgl. oben 265. 9 Vgl. Simon, Versions, 1f. 10 Vgl. ebd., 2. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd. 2, 536f. 13 Vgl. ebd. 2.

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Dennoch war Simon kein uneingeschränkter Verfechter aller Art von Übersetzungen. Im Gegenteil stand er ihnen insoweit kritisch gegenüber, als in seinen Augen dieselben immer auch Einfallstore für Fehlinterpretationen gewesen wären, und zwar dann, wenn sie erheblich vom Original abwichen.14 Auf diese Weise wäre es nicht nur zu Lehrstreitigkeiten gekommen, sondern es seien auch Häresien in die Kirche eingezogen.15 Letzteres hätte sich besonders im Zeitalter der Reformation als verheerend erwiesen.16 Deshalb war es in Simons Augen nicht nur verständlich, dass Bibelübersetzungen zeitweilig verboten worden waren, sondern geradezu »notwendig« und angesichts der Entwicklungen »in der abendländischen Kirche« des 16. Jahrhunderts sogar mehr als geboten, ja geradezu »weise«, dass die Konzilsväter von Trient eine »Bibelübersetzung« – nämlich die Vulgata – für »authentisch« erklärten, »auf deren Grundlage Streitigkeiten, Glaubensverkündigung und andere öffentliche Maßnahmen geregelt werden konnten«.17 b)

Die Kirche als Garantin der Authentizität der Vulgata

Diese durch das Konzil festgelegte Authentizität der Vulgata bedeutete jedoch nicht, dass dieselbe »zur einzigen legitimen, fehlerfreien Version« erklärt worden war.18 Im Gegenteil hätten die Konzilsväter die Fehlerhaftigkeit sehr wohl erkannt und deshalb eine Neuübersetzung gefordert.19 Genauso wenig wäre vom Konzil untersagt worden, am Original zu arbeiten. Schließlich habe es »weder den hebräischen Text noch den griechischen der Septuaginta noch die anderen Versionen verworfen«20. Das wäre auch geradezu widersinnig gewesen. Denn schließlich handelte es sich, so Simon, bei keiner der Heiligen Schriften – auch nicht bei der Vulgata – um wahrhaftige Originale. Sie alle wären lediglich sinngetreue Kopien.21 Ein unvermitteltes Gotteswort könnte es nicht geben. Bei aller göttlichen Inspiration wäre dieses immer ein von Menschen vermitteltes gewesen.22 Insofern existierten von jeher »vielfältige 14 Vgl. oben 265. 15 Vgl. Simon, Versions, 537. 16 Vgl. ebd., 537. 17 R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament, Rotterdam 1685, 265 (zitiert nach: Müller, Kritik, 177). 18 Müller, Kritik, 178. 19 Vgl. ebd., 178; vgl. Simon, Histoire, 265; vgl. S. Hübenthal / Ch. Handschuh, Der Trienter Kanon als kulturelles Gedächtnis, in: Th. Hieke (Hg.), Formen des Kanons. Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (SBS 228), Stuttgart 2013, 104–150, 137. Erst 1590 bzw. 1592 erschien jene geforderte Neuausgabe (vgl. ebd., 140). 20 Simon, Histoire, 266, 7 (zitiert nach: Müller, Kritik, 178, 260). 21 Vgl. Simon, Histoire, 265 (zitiert nach: Müller, Kritik, 176f.). 22 Vgl. Müller, Kritik, 127, 290f.

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Originale, Kopien und Exemplare der Bibeltexte«23, die jedoch sehr wohl Authentizität erlangt hätten, und zwar durch die »vom Geist Gottes getragene Überlieferungsgemeinschaft der Kirche«.24 Allein ihr und der »Väter« »rechte[r] Glaube«25 würde »für die Authentizität der Bibelversionen« bürgen.26 Mit anderen Worten: Authentizität verstand Simon nicht im Sinne einer Unterscheidung zwischen handschriftlichem Original und der dazu angefertigten Kopie.27 Stattdessen war Authentizität für ihn dann gegeben, wenn Gottes Wort in einer ununterbrochenen Kette der Überlieferung innerhalb der Kirche von Generation zu Generation transportiert worden war.28 Demnach war letztlich nur die Kirche selbst der Garant dieser Traditionskette; sie bürgte für die Authentizität:29 »Die Schrift, ob fehlerhaft oder nicht, kann als authentisches Zeugnis zitiert werden, weil sie, wie wir gezeigt haben, in einen Rahmen eingebunden ist. Dies ist dann der Fall, wenn sie der Lehre der Kirche entspricht […], weshalb die einzige und wahre Schrift sich nur in der Kirche befindet, und sie [sc. Kirche] es ist, die sie besitzt.«30 Eine solche Festlegung aber schlösse den freien Umgang des Exegeten mit der Schrift und damit die Anwendung der historisch-kritischen Methode nicht aus. Im Gegenteil wies Simon immer wieder »auf die exegetische Nützlichkeit anderer Bibelversionen hin«31 und auf die Notwendigkeit, überhaupt Schriftkritik zu betreiben. Gleichzeitig aber reichte die Analyse von »grammatikalische[n] Wendungen« allein nicht aus und »bloße Textkritik« wäre »keine theologische Disziplin, da ihr das entsprechende Formalobjekt fehlt«.32 Stattdessen müsste es immer »um die Sache selbst« gehen, »um die eigentliche Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift«. Erst dann »beginnt für Simon die Theologie.«33 In diesem Sinne müsste Bibelkritik immer im Kontext der überkommenen »Glaubenstraditionen«34 geschehen und damit rückgebunden an die Kirche und das Offenbarungsgeschehen sein.35 Umgekehrt aber könnte »die Kirche nicht die Authentizität des Wortes Gottes in Frage stellen«,

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Ebd., 176. Ebd., 204. Ebd., 176. Ebd., 204. Vgl. ebd., 176. Vgl. ebd., 178. Vgl. ebd., 207. Simon, Histoire, 494 (zitiert nach: Müller, Kritik, 204). Müller, Kritik, 179. Ebd., 179. Ebd., 222. Ebd., 220. Vgl. ebd., 226.

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wäre vielmehr »diesem zu Gehorsam verpflichtet«.36 Insofern könnte sich »Textkritik« »nach Simon nicht in Konkurrenz zum Gegenstand der Theologie geraten.«37 Denn »Kritik und Theologie sowie kirchlicher Glaube ergänzen sich gegenseitig«38. »Die Kritik ist für Simon eine Kunst, die verteidigt und aufbaut, aber nicht zerstört.«39 Mit anderen Worten: Schriftexegese und Tradition der Kirche standen für Simon in einem Wechselverhältnis, und die »literarische[…] Kritik« bedurfte ebenso der »ekklesiale[n] Einbettung«, wie die Theologie auf die Schriftkritik angewiesen war mit dem Ziel, durch »Schriftauslegung« »Glaubensgeheimnisse« aufzudecken.40 2. Das Schriftverständnis der katholischen Gelehrten des deutschen Südwestens Blickt man vor diesem Hintergrund auf die Diskussionen im deutschen Südwesten, so fällt der Vergleich geradezu erstaunlich aus. Denn die Überlegungen, die die katholischen Gelehrten vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Thema des Bibellesens und des Gebrauchs der Heiligen Schriften anstellten, glichen bis in den Wortlaut hinein denen Simons. Das ist insoweit überraschend, als sich die Bedingungen in Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts von denen Frankreichs am Ende des 17. Jahrhunderts erheblich unterschieden. Vieles und Wesentliches hatte sich seither verändert. So waren Bibelübersetzungen in der Landessprache inzwischen ebenso weit verbreitet41 wie die historisch-kritische Exegese als Lehr- und Studienmethode Einzug auch in die katholische Theologie gefunden hatte und bis auf die Gemeindeebene hinunter rezipiert wurde.42 Dennoch schienen diese Praktiken nach wie vor nicht undiskutiert gewesen zu sein, sondern bedurften immer noch der Rechtfertigung. Das Lesen der deutschen Bibel durch jedermann sowie die Anwendung der historisch-kritischen Methode waren noch keineswegs selbstverständlich. Was heißt das genau? 36 Ebd., 204. 37 Ebd., 224. 38 Ebd., 223. 39 Ebd., 207. 40 Ebd., 230. 41 Scheuchenpflug, Bibelbewegung; vgl. J. Altenberend, Carl und Leander van Ess. Zur sozialen Herkunft aufgeklärter Benediktinermönche aus Westfalen (80. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravenberg 1992/1993), Bielefeld 1992; vgl. ders., Leander van Eß (1772–1847). Bibelübersetzer und Bibelverbreiter zwischen katholischer Aufklärung und evangelikaler Erweckungsbewegung, Paderborn 2001; vgl. ders., Leander van Eß und die katholische Bibelbewegung, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 2002, 97, 105–136. 42 Vgl. oben Anm. 3.

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a)

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Die Verbreitung von Bibeln in der Landessprache

Seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts hatten Bibelübersetzungen in der Landessprache auch in Deutschland weiten Raum gegriffen.43 Sowohl von Protestanten als auch von Katholiken erstellt, basierten diese – im Gegensatz zur Zeit Simons – auch im katholischen Diskursraum inzwischen nicht mehr allein auf der Vulgata, sondern auf dem hebräischen bzw. griechischen Original. Die Werke von Brentanos sind hier ebenso zu nennen wie die der Gebrüder van Eß.44 Die deutschen Gelehrten votierten sowohl im Archiv für Pastoralkonferenzen als auch in den umliegenden Schriften massiv dafür, diese zu lesen. Sie legten das Bibelstudium nicht nur den Pfarrern selbst sehr ans Herz, sondern empfahlen die Lektüre eindringlich auch einem jeden Gläubigen.45 Beide Gruppierungen sollten sich selbstständig – die Gläubigen der Gemeinde durchaus mit Unterstützung des Pfarrers, schließlich hatten Priester und Bischöfe nach wie vor die Aufgabe, die Gläubigen zu unterweisen und diese beim Schriftstudium zu begleiten –,46 bestenfalls täglich der Lektüre der Bibel zuwenden. Zudem sollten Predigten entlang der Schrift verfasst werden, sowie die Auslegung des Gesetzes Gottes anhand der Schrift in der Sonntagsschule im Mittelpunkt stehen.47 Denn auch in den Augen der deutschen Gelehrten war die Bibel das Medium der Aneignung der christlichen Botschaft schlechthin. Neben dem Katechismus war sie das beste Instrument, um den christlichen Glauben zu verinnerlichen und die christliche Botschaft ins Herz eines jeden Gläubigen zu schreiben. Im Lesen der Bibel konnte die dort verbriefte Botschaft von jedem Christ / jeder Christin erkannt und verstanden werden und insofern zur Selbstbesserung des Menschen und zur Veredelung des Einzelnen beitragen, indem Mann und Frau das Gesetz Gottes in sein/ ihr Handeln integrierte und sein/ihr ganzes Leben danach ausrichtete.48 43 Vgl. Wolff, Bibel, 221f.; vgl. Weber, Mensch, 71f.; vgl. L. van Eß, Uebersicht der verbreiteten van Essischen neuen Testamente, in: Archiv für Pastoralkonferenzen 1818, 1, 145–147; vgl. ders., Priester, 3–7; vgl. Scheuchenpflug, Bibelbewegung, 161f., 180. 44 Vgl. Wolff, Bibel, 221f.; vgl. L. van Eß, Ihr Priester, gebet und erkläret dem Volke die Bibel! Das will und gebietet die katholische Kirche. Nebst beigefügtem Generalrechnungs-Schlusse seines Bibelverbreitungs-Fonds, o.O. 1825, 3–7. 45 Vgl. Weber, Bibellesen, 194–206; Vgl. dies., Mensch, 64–89. 46 Vgl. Ebd., 110–113, 116–125; vgl. demnächst Ch. Handschuh, »Erster Christ seyner Gemeinde«. Priesterliches Selbstverständnis und Rollenideal in der Katholischen Spätaufklärung. Ich danke dem Autor für die Einsicht ins Manuskript. 47 Vgl. dazu die im Folgenden genannten Artikel; vgl. beispielhaft A. Rugel, Ueber die Nothwendigkeit des Bibelstudiums für den geistlichen Redner, in: Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz 1816, 1, 81–121, hier 102, 104, 108. 48 Vgl. Weber, Mensch, 37–47, 55–61, 137–141.

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Damit das geschehen konnte, musste die Bibel in jedem Haushalt in der Landessprache vorhanden sein. Demnach wurden die van Eß’sche Bibel »nach der Seelenzahl der Dörfer vertheilt«: zuerst an die »Schulen«, danach den »rechtschaffensten Hausvätern« gegeben und schließlich »jedem Besseren des Dorfes«.49 Solches Handeln bzw. derartige Empfehlungen standen in den Augen der katholischen Gelehrten weder im Widerspruch zur christlichen Tradition noch verstießen sie gegen die Verordnungen des Konzils von Trient. Genauso wie Simon begründeten auch sie ihr Handeln bzw. ihre Ansichten sowohl mit dem Vorhandensein landessprachlicher Bibeln von Beginn der Christentumsgeschichte an als auch mit der spezifischen Verortung und damit den Entstehungsbedingungen des Dekrets im Kontext des 16. Jahrhunderts. b)

Der Umgang mit dem Vulgatadekret

Von Anfang an, so ihr Argument, war die Bibel in die »verschiedenen Sprachen aller Nationen« übersetzt worden, damit das »unwissende Volk« sie auch verstehen konnte. Dafür hätte bereits Gregor der Große gesorgt, so dass die Bibel »von allen Völkern der ganzen Welt gelesen werde« konnte50 – eine Formulierung, die auch Simon verwendete51. Diese Tradition hätte sich dann über die Jahrhunderte hinweg fortgesetzt.52 Anders als Simon aber gingen die Autoren nicht mehr auf die reformatorischen Entwicklungen sowie die damit verbundenen Probleme im Umgang mit der Schrift und der damit einhergegangenen Verbreitung von Irrlehren ein. Die Verfestigung der Konfessionen war inzwischen als historische Tatsache selbstverständlich anerkannt, mehr noch: Protestantische und katholische Theologen standen auf dem Gebiet der Exegese inzwischen in regem Austausch, kooperierten bei den Methoden der Schriftauslegung miteinander und rezipierten sich: Katholiken studierten bei Protestanten,53 und katholische Gelehrte empfahlen die 49 Anonymus, Ueber die Verbreitung des Neuen Testaments vorzüglich unter den Katholiken, in: Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz 1820, 1, 141–166, 161f.; zur Verbreitung der van Eß’schen Bibeln in der Schule vgl. die erhalten Schulvisitationsberichte in Württemberg (Staatsarchiv Ludwigsburg F376I13; ich danke Christian Handschuh für diesen Hinweis). 50 Anonymus, Die heilige Schrift das Buch für alle Menschen, oder unwidersprechlicher Beweis aus dem einstimmigen Zeugnisse der Kirchenväter aller christlichen Jahrhunderte, daß das Bibellesen für alle Katholiken ohne Unterschied des Standes, Alters und Geschlechtes die heiligste Pflicht, und eben so nützlich und unentbehrlich sey, o.O. 1816, 7. 51 Vgl. oben 265. 52 Vgl. Anonymus, Heilige Schrift, 7. 53 Vgl. Wolff, Bibel, 217.

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Schriften der protestantischen Kollegen zur Lektüre – z.B. die von Eichhorn, Michaelis und Niemeyer.54 Was das Dekret selbst anging, so hielten auch die deutschen Gelehrten daran fest, dass mit den Trienter Entscheidungen allenfalls »dem Mißbrauche so vieler Uebersetzungen und ungereimter Auslegungen abgeholfen werden«55 hätte sollen und nur einzelne »nicht autorisirte Ausgaben« untersagt worden wären.56 All das hätte sich gegen die Lutheraner gewendet, weil diese damit eine neue Lehre begründen wollten,57 von der sich die katholische Kirche hätte abgrenzen müssen. Demnach hätten die Konzilsväter zwar von den vielen lateinischen Übersetzungen die Vulgata als echt erklärt, den »Grundtext« hätte man aber nicht ausgeschlossen.58 Keinesfalls hätte man beabsichtigt, Übersetzungen als solche zu verbieten,59 was auch geradezu »widersinnig« gewesen wäre, weil »die heiligen Schriften die Quelle unserer religiösen Kenntnisse, unser moralisches Gesetzbuch, de[r] Brief unsers himmlischen Vaters« waren.60 Demnach wäre »der Gebrauch der ganzen Bibel« nie »verboten« gewesen.61 Bedenkt man weiterhin, so die Autoren weiter, dass zur damaligen Zeit fast jeder Latein verstand, weil in dieser Sprache fast sämtliche Schriften verfasst worden waren, so wurden mit dem Verbot anderer Übersetzungen als der lateinischen nur wenige Menschen benachteiligt.62 Das sei jedoch jetzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts anders. Genauso wie Simon legten die Autoren aber entscheidenden Wert darauf, dass nur ein Katholik, der zudem noch ausdrücklich dazu beauftragt worden war, Translationen in die Muttersprache erstellte:63 Die »Übersetzung« musste »einen katholischen Verfasser haben, und er selbst mußte von seiner geistlichen Behörde dazu die Erlaubniß zuerst einho54 Vgl. Rugel, Nothwendigkeit, 115, 118. 55 P.A. Gratz, Grenzen der Freiheit, die einem Katholiken in Betreff der Erklärung der heiligen Schrift zusteht, Ellwangen 1817, 9. 56 Anonymus, Verbreitung, 145. 57 Vgl. J. Eschbach, Soll man dem Volke die heiligen Schriften in die Hände geben?, in: Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz 1821, 2, 147–216, 181; vgl. Gratz, Freiheit, 12. 58 Eschbach, Volke, 178. 59 Vgl. Ebd., 178. 60 Ebd., 177. 61 Vgl. A.L. Haßler, Etwas zu Nro. III. im 6. Heft des Archivs 1816 über das Bibellesen des Volks, in: Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz 1818, 1, 111–119, hier 118. 62 Vgl. Eschbach, Volke, 179. Allerdings durften auch die wenigen, die kein Latein verstanden, sich durchaus »auch Übersetzungen in der Landessprache anschaffen und sie lesen« (ebd., 179). 63 Vgl. ebd., 179; vgl. Anonymus, Heilige Schrift, 9; vgl. W. Gundert, Geschichte der deutschen Bibelgesellschaften im 19. Jahrhundert (Texte und Arbeiten zur Bibel 3), Bielefeld 1987, 70f.

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len.«64 Schließlich hatte Benedikt XIV. im Dekret vom 13. Juni 1757 verfügt, »daß nur Bibeln in der Landessprache zugelassen werden sollten, welche entweder von dem apostolischen Stuhl approbirt, oder mit Anmerkungen aus den heil. Kirchenvätern, oder andern gelehrten katholischen Männern versehen sind«,65 was bei der van Eß’schen Bibel genauso der Fall war wie bei den übrigen weit verbreiteten katholischen Übersetzungen.66 Neben das Argument der Tradition landessprachlicher Bibeln, sowie das der Entstehungsbedingungen des Trienter Dekrets, trat ein weiteres, mehr formales, welches sich jedoch bei Simon nicht findet: Weil an das Dekret kein Anathema angehängt wäre und die Formel »qui contravenerint, per Ordinarios declarentur, et poenis a jure statutis puniantur« eine typische Formulierung eines Diziplinardekrets sei,67 handelte es sich beim Beschluss von 1546 um kein dogmatisches Dekret, sondern lediglich um eine päpstliche Verordnung.68 Damit aber hätte die Entscheidung nicht den Rang eines Dekretes einer allgemeinen Kirchenversammlung erhalten, das »unveränderlich« wäre, sondern wäre lediglich ein »Disciplinar-Dekret«, ein »Dekret, das Zeit und Umstände erforderlich machten«, von daher veränderlich69 und je nach historischer Situation neu zu bewerten bzw. zu »modificiren« wäre.70 Mit anderen Worten waren auch in den Augen der katholischen Gelehrten die Trienter Beschlüsse, was die Bibel und ihre Übersetzung anging, mehr als alle anderen Dekrete den zeitlichen Umständen des 16. Jahrhunderts geschuldet. Aktuell – also zu Beginn des 19. Jahrhunderts – hatten sie aufgrund der veränderten Bedingungen jedoch keinerlei Relevanz mehr.71 c)

Der Umgang mit der Bibel: Lesen, Verstehen, Handeln

In der Konsequenz musste und sollte die Bibel von allen Gläubigen gelesen werden. Denn »ohne Bibelkenntnis gebe es keine Theologie, die Bibel sei der einzige Glaubensgrund, die einzige Erkenntnisquelle der christlichen Religion.« Deshalb müsse »Bibelstudium« einem jeden »heilig und wichtig« sein.72 Weil das so war, sollten Männer, Frauen, Kin64 Eschbach, Volke, 179. 65 Van Eß, Priester, 40. 66 Vgl. Approbationen der van Essischen Testamente, in: Archiv für Pastoralkonferenzen 1818, 1, 148–157. 67 Gratz, Grenzen, 11. 68 Ebd., 10. 69 Ebd., 11; vgl. Eschbach, Volke, 186. 70 Gratz, Grenzen, 10. 71 Vgl. Eschbach, Volke, 186. 72 Rugel, Nothwendigkeit, 103.

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der und Hausangestellte die Heiligen Schriften in der Muttersprache lesen.73 Pfarrer und Gelehrte hingegen sollten zur Vulgata, der »eine deutsche Übersetzung parallel läuft«,74 greifen, weil »die Vulgata für den kathol. Seelsorger von besonderem Vortheile sey«.75 Aber ehe sie das taten, sollten sie sich auf der Basis der entsprechenden Werke mit den Zeitumständen der Texte vertraut machen76 und erst im Anschluss »zuerst das Kapitel ganz in der Vulgata […] durchlesen, und nur bey jenen Stellen, die […] undeutlich oder mehrdeutig scheinen, in die deutsche Übersetzung […] blicken, und den buchstäblichen Sinn […] fixieren.«77 Was ist damit genau gemeint? Seit Simons Zeiten hatte die historisch-kritische Exegese nicht nur innerhalb der protestantischen Theologie weiten Raum gegriffen, sondern wurde unter Rückgriff auf die biblischen Urtexte auch im katholischen Raum sowohl als Studien- als auch als Lehrmethode angewendet – Letzteres zum Leidwesen mancher Pfarrer –, so dass dieselbe auch an der Universität bereits gängige Praxis war.78 Redaktions- und Textkritik wurde ebenso betrieben wie die genaue Entstehungsgeschichte der Texte ergründet wurde,79 Mutmaßungen über ein Urevangelium ebenso angestellt wie »das wechselseitige Verhältniß der Evangelisten« zueinander bedacht und die Frage nach der »Vereinbarung beyder Genealogien« gestellt.80 Gleichfalls wurden die verschiedenen Lesarten miteinander in Beziehung gesetzt bzw. eine »Menge von Citaten aus klassischen Profanauctoren« mit den Evangelientexten auf gegenseitige Abhängigkeit geprüft.81 Aber auch die geographischen Gegebenheiten des jüdischen Landes sowie die bürgerliche und religiöse Verfassung des jüdischen Volkes zur Zeit Jesu wurden betrachtet, um die Texte in ihrem damaligen kulturellen Kontext zu verorten und von dort aus zu verstehen.82 All das sollte bei den Kandidaten der Theologie eine »gründliche Erkenntniß der h. Urkunden«83 erreichen, damit sie auf der Basis dieses Wissens die Gläubigen in der Gemeinde in die biblische Botschaft einführen und sie im Lesen der Bibel unterrichten konnten.

73 Vgl. Weber, Bibellesen, 199–202; vgl. dies., Mensch, 68–72. 74 Rugel, Nothwendigkeit., 116. 75 Ebd., 116. 76 Vgl. ebd., 155f. 77 Ebd., 116f. 78 Vgl. Anonymus, Ueber das dringende Bedürfniß einer zweckmäßigen Lehrmethode in der biblischen Exegese, in: Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz 1820, 1, 209–231, 214–216. 79 Vgl. ebd., 214–216. 80 Ebd., 215. 81 Ebd., 216. 82 Vgl. ebd., 215. 83 Ebd., 211.

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Einigen Autoren aber ging diese intensive Lehrmethode zu weit, weil dadurch zu wenig »in den Geist und inneren Gehalt der h. Bücher eingeweiht« würde.84 Zwar müssten durchaus fundierte Grundkenntnisse historisch-kritischer Exegese vorhanden sein, schließlich war die Schrift »das Fundament und der Grundlage der gesammten Theologie«,85 die es sachgerecht nach den neuesten wissenschaftlichen Methoden zu lesen, zu analysieren und zu interpretieren galt,86 denn auch der Pfarrer sollte »in seinem Beruf ein wissenschaftlicher Mann«87 sein. Mehr aber noch musste er ein guter »Religionslehrer« für das »Christenvolke« sein, um, wie es auch Simon betont hatte, die Gemeindemitglieder in den Glauben und das rechte sittliche Handeln einzuführen. Insoweit war bei der Erschließung der Texte auf die »zeitraubenden Nebenwege einer zweifelsüchtigen Kritik«88 zu verzichten sowie alle »weitläufigen Erörterungen bey vorkommenden Schwierigkeiten biblischer Stellen«89 zu vermeiden, weil all das »nichts als eine elende Silbenstecherey war, die keine Einsichten in den Sinn, und in die Geschichte der heil. Bücher und ihrer Verfasser verschaffte«.90 Es gehörte »ins Gebiet einer höhern Gelehrsamkeit«, nicht aber in die Ausbildung der zukünftigen Pfarrer. Sonst würden Letztere »mit so schleppenden Wortgrübeleyen überladen« und dadurch einem »ermüdendem Drucke« ausgesetzt, dass »kein Gefühl frommer Ehrfurcht gegen die h. Urkunden aufkommen kann«.91 Gleichzeitig aber war auch »ein anderes Extrem zu vermeiden«: nämlich »jenes der willkürlichen Accomodation«, die gerade nur nach der »sittliche[n] Bedeutung« der Schriften suchte, die »den buchstäblichen Sinn, die natürliche und eigentliche Bedeutung biblischer Stellen« völlig unberücksichtigt ließ und auf diese Weise mehr in die Schrift hineininterpretierte, als diese hergab. Eine solche »Art zu exegetisiren taugt so wenig als die andere.«92 Stattdessen war nach dem goldenen Mittelweg zu suchen:93 »zwischen geisttödtenden Sylbenkrämereyen und geschmacklosen Allegorien, zwischen grammatischen Subtilitäten und frommen Einfällen; suche man nur immer zuerst den buchstäblichen, eigentlichen Sinn jeder biblischen Stelle zu erforschen, und damit 84 Ebd., 216. 85 Ebd., 211. 86 Vgl. ebd., 211f. 87 P. Pümpel, Auf welche Art kann und soll ein Geistlicher zuerst sein eigenes Herz nach dem Geiste Jesu und seiner Apostel bilden, um sodann den Geist des Evangeliums auch über seine Pflegempfohlene verbreiten zu können?, in: Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz 1818, 2, 161–186, hier 163. 88 Anonymus, Bedürfniß, 213. 89 Ebd., 213. 90 Rugel, Nothwendigkeit, 101. 91 Anonymus, Bedürfniß, 216. 92 Ebd., 217. 93 Vgl. ebd., 217.

»… Traductions fussent faites sur la Vulgate par des Auteurs Catholiques«

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einen Punkt festzusetzen, von dem man sich dann erst zum Geist der Schrift aufschwingen kann.«94 Letzteres war der entscheidende Punkt. Genauso wie Simon betonten auch die deutschen Gelehrten, dass man beim Lesen der Schrift nicht »blos bey dem Buchstaben der Bibel stehen« bleiben durfte, sondern immer auf die sittliche Anwendbarkeit zu schauen hatte, damit die Botschaft »auf das allgemeine sittliche Wirken angewendet werden« konnte.95 Eine derartige Exegese aber musste zudem immer auch vor dem Hintergrund der »Tradition« geschehen.96 Schließlich war sie allein es, die »der Bibel den wahren Grund des Ansehens«, »ihre Glaubwürdigkeit verschaffen«97 konnte. Demnach bestünde die »wahre Bibelauslegung« »auf dem Ansehen der Tradition der kathol. Kirche«98 und musste unter Beachtung der Grundsätze »der heil. Kirche«99 geschehen. Insoweit war die Exegese nützlicher Zulieferer für das tiefere Lesen und Verstehen der Heiligen Schrift. Umgekehrt aber könnte man Auskunft über die wahre »Religion« nur erhalten, indem man die Bibel studierte.100 Bei alledem wäre die Freiheit des Exegeten jedoch nicht beschnitten. Denn bei aller Kritik konnte diese den »Glaubensgrund [nicht] gefährden«.101 Die Kirche hätte bei Dogmen nur die Inhalte dogmatisiert, nicht aber die ihnen zugrunde liegenden Schriftstellen.102 Und selbst bei einer »authentischerklärten« Schriftstelle dürfte eine Hermeneutik angewendet werden.103 Denn Trient sagte: »Cuius est judicare de vero sensu, und nicht: Cuius est interpretari etc.«104 Wird auf diese Weise vorgegangen, »ist der Zweck der Exegese wohl erreicht«,105 der »Grundstein des ganzen theologischen Lehrgebäudes«106 gelegt. Auf dieser Grundlage konnte das gründliche Studium der Theologie gelingen107 , so dass Schriftauslegung auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiterhin in enger Anlehnung an die Tradition der Kirche geschah. Am Ende hatte die Beschäftigung mit den Heiligen Schriften immer das Ziel, den Willen Gottes zu erschließen und sich nicht um des Selbstzweckes der Wissenschaft willen mit ihr zu beschäftigen. Vielmehr 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Ebd., 217f. Ebd., 217f. Rugel, Nothwendigkeit, 103, 113. Ebd., 113. Ebd., 113. Ebd., 103. Ebd., 101. Gratz, Grenzen, 16. Vgl. ebd., 18–22. Ebd., 24. Ebd., 23. Anonymus, Bedürfniß, 219. Ebd., 219. Vgl. ebd., 219.

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sollte durch das Lesen und Erschließen der Schrift die christliche Botschaft ins eigene Leben integriert werden. 3.

Fazit

Fassen wir zusammen und ziehen ein Fazit. Zwei Schauplätze zu zwei unterschiedlichen Zeiten: der eine in Frankreich am Ende des 17. Jahrhunderts mit Richard Simon, einem Repräsentanten der Frühaufklärung und gleichzeitig einer der ersten katholischen Vertreter historisch-kritischer Exegese, allerdings mit Publikationen, die weit über den französischen Sprachraum hinausgingen, weil sie nicht nur übersetzt, sondern zum Teil eigens dafür verfasst worden waren.108 Auf der anderen Seite Süddeutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Zeit der sogenannten Spätaufklärung mit verschiedenen Schriften sowie einem Publikationsorgan, dem Archiv für Pastoralkonferenzen,109 das ebenfalls nicht nur lokal, sondern weit über den süddeutschen Raum in ganz Deutschland und auch Österreich rezipiert wurde und wo lokale Priester der Diözese Konstanz genauso publizierten wie namhafte Vertreter der deutschen Wissenschaftslandschaft: Exegeten genauso wie Dogmatiker und Pädagogen.110 Auf die Frage, ob und in welchem Umfang die Schrift von wem auf welcher Grundlage wie gelesen werden sollte, kamen sie zu nahezu identischen Ergebnissen. So favorisierten sowohl Simon als auch die deutschen Gelehrten landessprachliche Bibelübersetzungen, damit die Gläubigen selbst die Botschaft Gottes lesen und verstehen sowie mit Hilfe dieser Bibeln auch unterrichtet werden konnten. Einen Widerspruch zu den Beschlüssen des Trienter Konzils sahen beide aufgrund 108 Viele seiner großen Werke sind nach kurzer Zeit ins Englische übersetzt worden und nach 1713 teilweise auch ins Deutsche (vgl. Voigt, Simon, 33f.). 109 Vgl. Ch. Handschuh, »Wahre Aufklärung durch Jesum Christum«. Das Pastoralkonzept der Katholischen Aufklärung in Württemberg (Contubernium Geschichte 81), Stuttgart 2013, 28; vgl. M.E. Gründig, »Zur sittlichen Besserung und Veredelung des Volkes«. Zur Modernisierung katholischer Mentalitäts- und Frömmigkeitsstile im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des Bistums Konstanz unter Ignaz H. von Wessenberg, Theol. Diss., Tübingen 1997, 4–19; vgl. B. Kranemann, »Liturgie nach den Grundsätzen der Vernunft und der Heiligen Schrift«. Überlegungen zur Prägung der Liturgie des deutschen Aufklärungskatholizismus durch die Bibel, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 1995, 37, 45–67; eine überblicksartige Darstellung der Inhalte findet man bei A. Stiefvater, Das Konstanzer Pastoral-Archiv. Ein Beitrag zur kirchlichen Reformbestrebung im Bistum Konstanz unter dem Generalvikar I.H. von Wessenberg 1802–1827, Freiburg/Basel/Wien 1940; vgl. I. Weber, Bibellesen im Katholizismus zwischen 1800 und 1830. Katholische Aufklärung als »Ent-Entmündigung« (J. Wertheimer), in: A. Merkt / G. Wassilowsky / G. Wurst (Hg.), Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven (QD 260), Freiburg/Basel/Wien 2013, 186–205, 191f.; vgl. dies, Mensch, 19. 110 Johann Michael Sailer zählte ebenso zu den prominenten Autoren wie Johann Heinrich Pestalozzi (vgl. ebd., 19).

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der spezifischen Entstehungsbedingungen derselben im historischen Kontext des 16. Jahrhunderts nicht. Ebenso konnten sie Gefahren bei der Verbreitung von Irrlehren oder Häresien über solche Bibeln, wie es in früheren Zeiten der Fall gewesen war, deshalb nicht länger ausmachen, weil die Übersetzungen von katholischen Gelehrten erstellt und im Fall der deutschen Aufklärer auch approbiert worden waren. Gleichzeitig aber wissen sie sich – die deutschen Gelehrten wenngleich nur in begrenztem Maße – der Vulgata verpflichtet, ohne sich deshalb in der exegetischen Freiheit eingeschränkt zu fühlen. Was Sascha Müller als exzellenter Kenner von Richard Simon für diesen treffend festhält, dürfte daher auch auf die katholischen Gelehrten in Deutschland zutreffen. Ihr Festhalten an der Vulgata sowie an der deutschen Übersetzung durch katholische Gelehrte hat ursächlich etwas mit ihrem Schriftverständnis und ihrer Bibelhermeneutik sowie ihrer Ekklesiologie zu tun. Schriftexegese konnte nicht losgelöst vom überkommenen Glaubensgut der Kirche geschehen. Bei aller historisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel musste immer auch das Verhältnis von Schrift und Tradition sowie Glaubensüberlieferung und Rolle der Kirche als Vermittlerin im Auge behalten werden. Zwangsläufig konnten nur katholische Gelehrte eine solche Kritik leisten, und nur katholische Gelehrte waren deshalb in der Lage, eine Übersetzung für katholische Christen zu erstellen. Vor allem im Südwesten spürt man im Blick auf das Festhalten an der Übersetzung der Vulgata insoweit eine gewisse Zerrissenheit, als die entsprechenden Autoren einerseits deutsche Übersetzungen entlang des Urtextes, die approbiert waren, den Gläubigen empfahlen, andererseits an der Vulgata im Kontext des Eigenstudiums der Priester allerdings unter Anwendung eines Mindestmaßes an historisch-kritischer Lesart festhielten. Dass sich im Vergleich der beiden Schauplätze trotz der räumlichen und zeitlichen Differenz so viele auffallende, geradezu frappierende, bis in den Wortlaut hinein identische und damit interessante Parallelen finden, scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass sich bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Aufklärungen in den unterschiedlichen Regionen Europas111 vielleicht doch mehr Gemeinsamkeiten finden ließen, als bisher angenommen worden ist. Insofern könnte ein intensiver breit angelegter Vergleich der einzelnen Aufklärungen auch im Hinblick darauf, wer wen wie rezipiert hat – die Formulierungsparallelen lassen vermuten, dass die deutschen Gelehrten Simons Werke studiert haben –, ein durchaus lohnenswertes Unterfangen sein. 111 Vgl. N. Jung, Die katholische Aufklärung – eine Einführung, in: R. Bandel / N. Spannenberger, Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ost-, mittel- und Südeuropa (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 48), Köln/Weimar/Wien 2015, 23–51, 27f., 37f.; vgl. U. Lehner / M. Printy (Hg.), A Companion to the catholic enlightment in Europe (Brill’s Comanions to the Christian tradition 20), Leiden/Boston 2010.

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Abstract The French theologian and exegete, Richard Simon, working at the end of the 17th century, as well as Catholic scholars of the southwestern parts of Germany, at the beginning of the 19th century, all suggested the use of the Bible in their mother tongue to the simple believers. By this, they meant not using the original version but the German translation. It was only like this, that a veritable understanding of the Christian message could be grasped which was then to be applied in everyday life. Using the German Bible would be unproblematic, so the argumentation went, because the first Christians also read the Bible in their mother tongue, and the Council of Trent thus authorised 17th and 19th century’s translations as far as the translation was done by Catholic scholars and interpreted in the tradition of the Catholic faith. Surprisingly enough, Richard Simon and the Catholic scholars were arguing in the same manner and wording despite a period of 100 years between the two.

*** Ines Weber, geb. 1970, Dr. theol., ist Professorin für Kirchengeschichte und Patrologie an der Katholischen Privat-Universität Linz, Österreich.

Systematische Theologie

Christiane Tietz

Das Ringen um das Schriftprinzip in der modernen evangelischen Theologie

1.

Die Krise des Schriftprinzips

Sola scriptura, allein an der Schrift – so waren die Reformatoren überzeugt – müssen sich Kirche und Theologie orientieren, weil in diesen ältesten Quellen der Inhalt des christlichen Glaubens am ursprünglichsten zu finden und von kirchlichen Überformung noch frei ist. Nur mithilfe dieser Texte entsteht der christliche Glaube, weil die Schrift das Evangelium von Jesus Christus, von seinem Leben, Sterben und Auferstehen, zum Inhalt hat. Die Schrift allein begründet den Glauben und soll Theologie und Kirche orientieren. Sie ist kritisches Gegenüber des einzelnen Glaubenden, der Theologie wie der Kirche. Luthers damit verbundene Überzeugung von der Klarheit der Schrift und ihrer Selbstauslegungsfähigkeit ohne lehramtliche autoritative Vorgaben und seine sich daraus ergebende Methodik der Interpretation der biblischen Texte aus sich selbst heraus (scriptura sui ipsius interpres) war mitverantwortlich dafür, dass man eine freie und kritische Auseinandersetzung mit den Texten beginnen konnte.1 Allerdings hat die seit dem 17. Jahrhundert entstandene historisch-kritische Erforschung der biblischen Texte diese in ihrer Echtheit (was die Autorenfrage anbetrifft), in ihrer Zuverlässigkeit (was die ursprüngliche Textfassung anbetrifft) und in ihrer Einheitlichkeit (was die verschiedenen redaktionellen Schichten und den Einfluss ganz unterschiedlicher theologischer Überzeugungen sowie einen einheitlichen Gegenstand anbetrifft) fraglich gemacht.2 Die historisch-kritische Differenzierung zwischen den theologischen Anliegen der Verfasser und den möglichst genau gesuchten historischen 1 Vgl. W. Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 11–21, hier 14f.: »… das, was wir heute historisch-kritische Exegese nennen, ist ja seiner Zielsetzung nach nichts anderes als das Bemühen, die biblischen Schriften, die Absicht und den Inhalt ihrer Aussagen, aus ihnen selbst zu verstehen. Die Lehre von der Klarheit der Schrift führte notwendig zu der Forderung, daß jeder theologische Satz durch historisch-kritische Schriftauslegung zu begründen sei.« 2 Vgl. J. Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, 1.

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Christiane Tietz

Sachverhalten führte außerdem dazu, dass auch die Verfasser als Interpreten in den Blick gerieten. Die von den Reformatoren noch selbstverständlich vorausgesetzte Identität zwischen wörtlichem Sinn und historischem Gehalt war damit zerbrochen.3 Darüber hinaus machte die Entstehung der modernen Naturwissenschaften viele biblische Aussagen in ihrer Sachgemäßheit zweifelhaft und mit ihrem mythologischen Weltbild unglaubwürdig. Immer mehr trat in den Vordergrund, dass diese Texte von Menschen geschriebene Texte sind mit Irrtümern, persönlichen theologischen Absichten sowie durchaus divergenten theologischen Auffassungen. So wurde insgesamt ihre Autorität fraglich. Damit wurde klar, dass die biblischen Texte durch vielfältige theologische Traditionen und Traditionsprozesse bestimmt sind, so dass auch die reformatorische Entgegensetzung von »sola scriptura« versus »Schrift und Tradition« so nicht mehr möglich war.4 Sowohl die Entstehung der einzelnen Texte als auch die Genese des Kanons (genauer noch: der unterschiedlichen biblischen Kanones5) wurde als Traditionsvorgang erkennbar. Die Bibel ist durch einen Prozess entstanden, beim welchem von Menschen bewertet, ausgewählt und korrigiert wurde. Die Bibel wird zudem in einem Traditionsvorgang weitergegeben, der Lektüre empfohlen und gewichtet. Auch ist durch die moderne Hermeneutik deutlich geworden, dass jede Lektüre von Texten Interpretation im Horizont einer bestimmten Tradition ist. Die Interpretationsmotive und -fragen entstehen nicht in einem sozusagen luftleeren Raum, in dem sich der (biographisch, kulturell, religiös neutrale) Leser befände, sondern sie sind immer kontextuell, also durch Tradition mitbestimmt. »Den Text«, nach dem man sucht, »den wörtlichen Sinn« gibt es nicht.6 Luthers Annahme einer eindeutig zu erreichenden äußeren 3 Vgl. Pannenberg, Krise, 15. 4 Vgl. dazu G. Ebeling, »Sola scriptura« und das Problem der Tradition, in: ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen 21966, 91–143. 5 Vgl. dazu z.B. U.H.J. Körtner, Im Anfang war die Übersetzung. Kanon, Bibelübersetzungen und konfessionelle Identitäten im Christentum, in: ders., Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015, 17–58, hier 20 u.ö. 6 R. Bultmann hat mit seinem Begriff vom »Vorverständnis«, das jeder Leser, jede Leserin mitbringt, deutlich gemacht, dass kein Schriftleser quasi als tabula rasa an die Texte herantritt. »Ein Verstehen, eine Interpretation, ist … stets an einer bestimmten Fragestellung, an einem bestimmten Woraufhin, orientiert. Das schließt aber ein, daß sie nie voraussetzungslos ist; genauer gesagt, daß sie immer von einem Vorverständnis der Sache geleitet ist, nach der sie den Text befragt.« (Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Tübingen 61993, 211–235, hier 216). »Es gilt nicht, das Vorverständnis zu eliminieren, sondern es ins Bewußtsein zu erheben, es im Verstehen des Textes kritisch zu prüfen, es aufs Spiel zu setzen, kurz: es gilt: in der Befragung des Textes sich selbst durch den Text befragen zu lassen, seinen Anspruch zu hören.« (ebd., 228).

Das Ringen um das Schriftprinzip in der modernen evangelischen Theologie

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Klarheit der Texte7 ist damit nachhaltig problematisch geworden. Jede Interpretation der biblischen Texte ist perspektivisch. Ein Bezug auf die Schrift unabhängig von Tradition, Kontext und Vorverständnis ist schlichtweg nicht möglich. Aber anders als so haben wir keinen Zugang zu diesen Texten und damit zum Evangelium von Jesus Christus. Notwendig wird damit eine ständige kritische Reflexion und Korrektur der eigenen Perspektive und traditionellen Prägung im Sinne der »hermeneutischen Spirale« – eben genau durch das Gespräch mit diesen Texten. »Interpretation und Antwort werden in einem gewissen Maße von der Frage bestimmt, die an den Text gestellt wird, so wie umgekehrt diese Frage vom Text bestätigt, erweitert und korrigiert wird.«8 Die historisch-kontextuelle Einordnung machte schließlich den »garstige[n] breite[n] Graben«,9 den unüberbrückbaren historischen Abstand zwischen dem heutigen Leser, der heutigen Leserin und der damaligen Zeit bewusst. Eine direkte, unmittelbare Anwendung der Texte auf die gegenwärtige Situation, ein Sich-Identifizieren mit den damaligen Akteuren, ein schlichtes Wiederholen der damaligen Inhalte wurde so zunehmend problematisch.10 Es wurde eingeschärft: Die biblischen Texte entstammen einer vergangenen Zeit.11 Die Folgen dieser historischen Kritik treffen nicht nur, aber in besonderer Schärfe die entwickelte Gestalt des sola scriptura in der altprotestantischen Theologie mit ihrer ausdifferenzierten Schrifttheologie und der Lehre von der Verbalinspiration der Schrift. Dass Gott den biblischen Schriftstellern die Texte Wort für Wort, einschließlich der diakritischen Zeichen,12 in die Feder diktiert habe, dies ließ sich schlicht nicht mehr halten. Das Urteil ist einhellig. Bereits um 1840 taucht der Begriff der »Krise« des Schriftprinzips auf.13 Wolfhart Pannenberg benutzt ihn dann 7 Vgl. M. Luther, De servo arbitrio (1525), WA 18, 609,12–14. 8 E. Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel, Freiburg (Schweiz) 1988, 78. 9 G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: ders., Werke 1774– 1778, hg. von A. Schilson, Bd. VIII, Frankfurt a.M. 1989, 437–445, hier 443. 10 Vgl. Pannenberg, Krise, 17. 11 Vgl. Pannenberg zusammenfassend ebd., 15: »Sowohl der Abstand der neutestamentlichen Schriften von dem durch sie bezeugten Geschehen als auch ihr Abstand von unserer gegenwärtigen Situation wurden entdeckt durch die Anwendung eines und desselben methodischen Prinzips der Schriftauslegung, nämlich durch Anwendung des Grundsatzes, die Texte aus ihnen selbst und also zunächst im Zusammenhang ihrer zeitgenössischen Umwelt zu verstehen.« 12 Vgl. dazu Lauster, Prinzip, 16ff. 13 Vgl. J. Lauster, Krise und Neubegründung der Schriftautorität seit der Aufklärung, in: P. Gemeinhardt / B. Oberdorfer (Hg.), Gebundene Freiheit? Bekenntnisbildung und theologische Lehre im Luthertum, Gütersloh 2008, 166–183, hier 171.

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Christiane Tietz

prominent: »Die Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangelischen Theologie.«14 Seitdem hat sich diese Bezeichnung als stehende Wendung etabliert.15 Jörg Lauster urteilt in seinem grundlegenden Werk zur Sache: »Die Krise des Schriftprinzips ist eine institutionalisierte Dauerkrise der protestantischen Schriftlehre in der Neuzeit.«16 Allerdings hatten die Reformatoren der ersten Generationen nicht die ausgefeilte Schriftlehre der altprotestantischen Theologie vertreten. Luther selbst hatte das Evangelium als Angeredetwerden durch Gottes Wort von den biblischen Texten unterschieden: »Evangelion aber heysset nichts anders, denn ein predig und geschrey von der genad und barmhertzigkeytt Gottis, durch den herrren Christum mit seynem todt verdienet und erworben, Und ist eygentlich nicht das, das ynn büchern stehet und ynn buchstaben verfasset wirtt, sondernn mehr eyn mundliche predig und lebendig wortt, und eyn stym, die da ynn die gantz wellt erschallet und offentlich wirt außgeschryen, das mans uberal höret.« 17 Das sola scriptura stand im Dienst dieses solo verbo.18 Insofern liegt es »in der Binnenlogik seiner Argumentation, dass sich die Selbstdurch14 Pannenberg, Krise, 13. Den Grund dafür sieht Pannenberg in einem durch die Konzentration auf die Schrift erfolgten Selbstmissverständnis der Theologie: im »Selbstverständnis der Theologie als einer positiven Einzelwissenschaft für den Sonderbereich der Offenbarung«; er folgert deshalb: »In der Auflösung des Schriftprinzips wirkte sich aus, was durch die Konzentration auf die Schrift in Abkehr von den Weltwissenschaften schon angelegt war.« (ebd., 13). 15 Vgl. unter anderem und aus ganz unterschiedlichen theologischen Richtungen Ch. Böttigheimer, Einig im Schriftverständnis – uneins in der Lehre? Die Schwierigkeiten des Schriftprinzips und die ökumenische Herausforderung zum gemeinsamen verbindlichen Lehren, Catholica 58 (2004), 235–249, hier 238ff.; U.H.J. Körtner, Schriftwerdung des Wortes und Wortwerdung der Schrift. Die Schriftlehre Karl Barths im Kontext der Krise des protestantischen Schriftprinzips, Zeitschrift für dialektische Theologie 15 (1999), 107–130; R. Leonhardt, Schriftbindung und religiöse Subjektivität im Protestantismus, in: N. Slenczka (Hg.), Deutung des Wortes – Deutung der Welt im Gespräch zwischen Islam und Christentum. XXII. Reihlen-Vorlesung / XVI. Bonhoeffer-Vorlesung (Beiheft 2014 zur Berliner Theologischen Zeitschrift), Leipzig 2015, 128–150, hier 130ff.; R. Leonhardt / M. Rösel, Reformatorisches Schriftprinzip und gegenwärtige Bibelauslegung. Ein interdisziplinäres Gespräch zur zeitgemässen Schrifthermeneutik, Theologische Zeitschrift 56 (2000), 298–324, bes. 299ff.; J. von Lüpke, Erleuchtung durch das Wort Gottes – Aufklärung durch die Vernunft. Zur Krise des protestantischen Schriftprinzips, in: H.Ch. Knuth (Hg.), Luther als Schriftausleger. Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die Ökumene, Erlangen 2010, 41–70; F. Wagner, Auch der Teufel zitiert die Bibel. Das Christentum zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in: R. Ziegert (Hg.), Die Zukunft des Schriftprinzips, Stuttgart 1994, 236–258. 16 Lauster, Prinzip, 2. 17 M. Luther, Epistel Sanct Petri gepredigt und ausgelegt. Erste Bearbeitung 1523, WA 12, 259,8–13. 18 Vgl. dazu Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 42015, 69ff.

Das Ringen um das Schriftprinzip in der modernen evangelischen Theologie

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setzungskraft der Schrift gegen jede Form einer externen Begründung sperrt«19. Weil die altprotestantische Absicherung der Schriftautorität für Luthers Ansatz nicht notwendig ist, ist sein Ansatz durch ihr Scheitern auch noch nicht automatisch gefährdet.20 Auch kann Luthers Grundsatz des »Kanon im Kanon« bereits als gewisse Form der Schriftkritik angesehen werden, insofern er biblischen Texten keine fraglose Autorität zuerkennt, sondern sie daran misst, ob sie Christus verkündigen.21 Überdies argumentiert Luther durchaus auch mit der Tradition, z.B. bei der Frage der Kindertaufe, bei der die Schrift nach seinem Urteil keine klare Vorgabe macht.22 Dort, wo sie nicht im Widerspruch zur Bibel steht, hat die christliche Tradition für Luther ihr Recht und ihre Orientierungskraft.23 Mit diesen Hinweisen auf Luther soll nicht anachronistisch behauptet werden, dass er die Einsichten und das Problembewusstsein der historisch-kritischen Exegese bereits vorweggenommen habe. Aber es soll darauf hingewiesen werden, dass seine Theologie keine monolithische Schriftlehre ist, die aufgrund dogmatischer Zuspitzungen auf allzuleicht wackelnden Füßen steht, sondern dass sie eine gewisse Offenheit für die durch die historische Kritik angezeigten Probleme besitzt. Gleichwohl: Luther war davon überzeugt, dass es sich bei der Schrift um das Wort Gottes handelt und es zwischen ihr und anderen Texten einen kategorialen Unterschied gibt, so dass die grundlegende Orientierung an der Schrift für Glaube, Theologie und Kirche unaufgebbar ist.

19 Lauster, Krise, 167. 20 Neuere Arbeiten haben freilich gezeigt, dass diese Vorordnung der Glauben stiftenden Funktion der Schrift, recht besehen, auch für die lutherische Orthodoxie gilt; vgl. M. Coors, Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt. Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift, Göttingen 2009, 137.155 u.ö. 21 Vgl. M. Luther, Vorrede auf die Episteln S. Jakobi und Judä (1522), WA.DB 7, 384,26–32: »… Auch ist das der rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben, odder nit … Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett«. 22 M. Luther, Sendschreiben an Herzog Albrecht von Preußen (1532), WA 30/III, 552,8: Das »zeugnis der gantzen heiligen Christlichen Kirchen … soll uns allein genugsam sein, bey diesem Artikel zubleiben und dar uber keinen Rottengeist zu hören noch zu leiden, Denn es ferlich ist und erschrecklich, etwas zu hören odder zu gleuben widder das eintrechtig zeugnis, glauben und lere der gantzen heiligen Christlichen Kirchen, so von anfang her nu uber funfftzehen hunder jar jnn aller Wellt eintrechtiglich gehalten hat.« 23 Vgl. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 288.

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Christiane Tietz

Antworten auf die Krise

Angesichts der Krisendiagnostik ist zunächst noch auf etwas Weiteres hinzuweisen: Schaut man genauer hin, so kann man zwischen einer Krise des Prinzips selbst und einer Krise seiner Begründungen unterscheiden.24 Zunächst hatte die historische Kritik nur Konsequenzen für die Begründung des Schriftprinzips, insofern sich die Unfehlbarkeit, Einheit etc. der Schrift, mit der die altprotestantische Orthodoxie das Schriftprinzip begründet hatte, nicht mehr halten ließ. Jörg Lauster hat beobachtet, dass es in der Theologiegeschichte nur zwei Optionen gab, mit dieser Begründungskrise umzugehen: zum einen Ansätze, die eine »fides humana, eine Glaubwürdigkeit nach menschlichen Maßstäben«25 zu erweisen suchten. Und zum anderen Ansätze, die eine »fides divina«, eine »Glaubwürdigkeit nach göttlichen Maßstäben« zu zeigen versuchten, welche in der »Selbstbeglaubigungsmacht der biblischen Texte« als »inneres Zeugnis des Heiligen Geistes« liege.26 »Alle Begründungsversuche der Schriftautorität in der Neuzeit sind argumentationstechnisch Variationen über das Thema fides humana bzw. fides divina«, je nachdem, ob sie die Autorität der Schrift »mittels vernünftiger oder übervernünftiger Gründe ausweisen«27. Erst in der Folge führte die historische Kritik, nicht zuletzt durch ihre Einschärfung des garstigen historischen Grabens, auch zu einer Problematisierung der für Luther so zentralen Glauben stiftenden Funktion der Schrift.28 Denn die Ergebnisse der Exegese über die historischen Sachverhalte wurden als stets nur »Wahrscheinlichkeitsurteile«29 bewusst. Ihre Möglichkeit, Glaubensgewissheit zu erzeugen, stand seitdem auf dem schwankenden Boden der probablen Historie. Angesichts dessen schien Lessings Griff nach Vernunftwahrheiten der einzige Ausweg zur Glaubenssicherung zu sein.30 Er wurde denn auch im 20. Jahrhundert noch vertreten. 24 Vgl. G. Bergner, Um der Sache willen. Karl Barths Schriftauslegung in der Kirchlichen Dogmatik, Göttingen 2015, 311. Ähnlich unterscheidet Lauster zwischen dem »Autoritätsverlust« der Schrift durch die historische Kritik als Krise der Schriftautorität und dem »Verlust ihrer Orientierungskraft« durch »die Unverständlichkeit der Texte, ihre Fremdartigkeit und ihre Widerspenstigkeit mit Blick auf die Eingliederung in die eigene Lebenswelt« als eigentliche Krise des Schriftprinzips (Lauster, Krise, 170f.). 25 Lauster, Krise, 169. 26 Ebd., 169. 27 Ebd., 169f. 28 Vgl. Bergner, Sache, 311. 29 E. Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen (21922) 1962, 729–753, hier 731; vgl. Bergner, Sache, 314. 30 In »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« unterscheidet Lessing zwischen den Zeitgenossen Jesu und uns: »Ein andres sind erfüllte Weissagungen, die ich selbst

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2.1

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Falk Wagner

Falk Wagner beendet in seinem Hegel in Titel wie Inhalt aufnehmenden Text »Auch der Teufel zitiert die Bibel« kurzerhand das Ringen mit dem Schriftprinzip und spricht sich für seine Verabschiedung aus. Mit Schriftprinzip meint er dabei: »Von bestimmten Vorstellungen, Gedanken oder Normen wird … behauptet, sie seien deshalb gültig und verbindlich, weil sie in der Bibel stehen.«31 Die Bibel, so fährt er überzeichnend fort, besitze die »Autorität einer Gegebenheit oder Positivität«, die mit der Behauptung begründet werde, »biblische Vorstellungen und Normen verdanken sich nicht der Eigentätigkeit eines Theologen oder religiösen Bewußtseins; eben deshalb seien sie als dem menschlichen Subjekt gegebene Vorstellungen oder Normen anzusehen«32. Genau an diesem »biblischen Autoritätsanspruch«33 aber stoße sich das »aufgeklärte… Bewußtsein«34 in seiner Autonomie. Es gebe deshalb »die Bibel der Vergangenheit ihrer Entstehung zurück …, in der sie unter anderen soziokulturellen Umständen von zwar selber tätigen, aber fremden Subjekten hervorgebracht worden ist«35. Gleichzeitig überprüfe die aufgeklärte Vernunft die Inhalte, die diese fremden Subjekte gedacht haben, »auf ihre Vernünftigkeit«36. Nur Inhalte, denen eine solche zukomme, hätten noch Relevanz. Die neutestamentlichen Texte eigneten sich zwar zur Rekonstruktion der historischen Anfänge des Christentums, die normative Geltung des Christentums sei aber erst in den Jahrhunderten danach herausgearbeitet worden und lasse sich nur in historischer Naivität als Folge des erlebe: ein andres, erfüllte Weissagungen, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen erlebt haben. Ein andres sind Wunder, die ich mit meinen Augen sehe, und selbst zu prüfen Gelegenheit habe: ein andres sind Wunder, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen gesehn und geprüft haben.« (Lessing, Beweis, 439) Nur wer Jesu Wunder unmittelbar erlebt, erlebt in ihnen einen »Beweis … des Geistes und der Kraft« (ebd., 440). Insofern besteht ein Gewissheitsunterschied zwischen dem, was man »bei glaubwürdigen Geschichtsschreibern« liest, und dem, »was ich selbst erfahre« (ebd., 441). Der Glaube an Christus muss anders begründet werden, nämlich durch »notwendige Vernunftwahrheiten«. Historische Wahrheiten dagegen beziehen sich auf Ereignisse der Geschichte, die immer auch hätten anders sein können – also zufällig sind; sie sind nie mehr als nur historisch gewiss; notwendig werden sie nie. »… zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden« (ebd., 441). Man würde sonst »mit jener historischen Wahrheit in eine ganz andre Klasse von Wahrheiten herüber springen« (ebd., 443). 31 Wagner, Teufel, 238. 32 Ebd., 238. 33 Ebd., 238. 34 Ebd., 238. 35 Ebd., 239. 36 Ebd., 239.

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neutestamentlichen Kerygmas auffassen.37 Genese und Geltung des Christentums müssten unterschieden werden.38 Gegen die These des reinen Ursprungs müsse daran erinnert werden, dass die »Anfänge einer neuen Bewegung oder eines neuen gedanklichen Gebildes … in der Regel noch arm und unentfaltet [sind], da in ihnen das neue Prinzip noch nicht vollständig erfaßt und begriffen ist«39. Dagegen könne auch nicht die raumzeitliche Nähe der neutestamentlichen Autoren zu Jesus von Nazareth ins Feld geführt werden, denn das Christentum sei durch die Einsicht konstituiert, »daß allein der gekreuzigte und getötete, also der raumzeitlich-sinnlicher Erfahrung entrückte Jesus als der Christus anerkannt werden könne«40. Die »Nähe zu diesem Auftreten [könne] eher ein Hindernis denn eine Hilfe für das Begreifen der Christologie darstellen«41. Dass Jesus der Christus sei, könne nur und müsse für jede Generation neu auf »nichtsinnlich-gedankliche Weise« expliziert werden.42 Solches tut Wagner im Anschluss an Hegels Gottesgedanken: »Das aufgrund seiner eigenen Logik erfolgende Scheitern des unmittelbar selbstmächtig-selbstbestimmenden Gottes stellt den logischen Anfang und Grund des Christentums dar.«43 Die neutestamentlichen Texte sind dabei nur noch »Verstehenshilfen«44. Für Wagner nichtsinnlich-gedankliche, an Hegels Dialektik geschulte Theorie des Christentums sind das irdische Leben, Wirken und Sterben Jesu, also dass es dieser Jesus von Nazareth war, der als Christus bekannt wurde, und die von ihm erzählenden Geschichten bedeutungslos. Entsprechend blutleer kommt sie in ihrer Erörterung der Bedeutung des »Gedankens der Menschwerdung Gottes für den Gottesgedanken selber«45 auch daher. Für nicht in der gleichen Weise philosophisch gebildete Christenmenschen dürfte sie kaum zugänglich sein, so dass seine Christentumstheorie nicht nur das Schriftprinzip verabschiedet, sondern auch die Zugänglichkeit des christlichen Glaubens für »die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt«,46 d.h. das Priestertum aller Glaubenden. Wagners Theorie hat – aber das dürfte Wagner nicht stören – überdies exegetische Probleme, ist es doch nicht die Entrückung, d.h. im alten Bild gesprochen: die Himmelfahrt, die zur Anerkenntnis Jesu als des 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. ebd., 247. Vgl. ebd., 248. Ebd., 249. Ebd., 249. Ebd., 249. Ebd., 250. Ebd., 255. Ebd., 250. Ebd., 254 (Hervorhebung von mir). M. Luther, Ein Sendbrief vom Dolmetschen (1530), WA 30/II, 637,19f.

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Christus führt, sondern eine – wie auch immer zu verstehende – im Leben der ersten Christen sich ereignende Auferstehungserfahrung. Weiter setzt Wagner ein dezisionistisches Gottesbild voraus, welches die Autorität der biblischen ethischen Aussagen verbürge, so aber mit der kantischen Verallgemeinerungsfähigkeit im Widerspruch stehe.47 Dass die biblischen Texte auch selbst auf Einsicht drängen, argumentieren und verallgemeinern (z.B. »weil auch ihr Fremdlinge ward«, Ex 22,20), wird von Wagner ignoriert. Schließlich ist Wagners These, das Schriftprinzip lebe von der Alternative: entweder vom Menschen produziert oder dem Menschen gegeben,48 tertium non datur, unangemessen. Die biblischen Texte könnten ja auch als menschliches Zeugnis von etwas, das ihnen widerfahren ist, verstanden werden. Wagner verabschiedet etwas, was es so, zumindest bei den Reformatoren, nicht gegeben hat. Ist richtig, dass es Luther in erster Linie um die Glauben stiftende Funktion der Schrift ging, so ist vor allem an dieser Stelle theologisch weiterzudenken. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Glauben stiftende Funktion der Schrift nicht darin besteht, dass Menschen an die Schrift glauben. Sie besteht darin, dass Menschen im weitesten Sinne mit Hilfe der Schrift an den christlichen Gott zu glauben beginnen. Dass ein Mensch aber an diesen Gott glaubt, lässt sich nicht beweisen. Ob ein Mensch glaubt oder nicht, das weiß nur Gott. Der Glaube des Menschen ist verborgen. Luther drückt dies drastisch aus: »… Got wil die welt nicht lassen wissen, wenn er bey seiner braut schlafft.«49 Insofern ist auch die Glauben stiftende Funktion der Schrift nicht als solche zu beweisen. Wahrnehmbar aber ist, dass sich Menschen in ihrer Glaubenspraxis immer wieder auf diese Texte beziehen,50 in der Kirche als der communio sanctorum (CA VII).51 Für das Nachdenken über die Glauben stiftende Funktion der Schrift ist man mithin an die Gemeinschaft derer gewiesen, die der Schrift Relevanz zusprechen, an die Kirche. Die beiden nun zu besprechen Ansätze machen genau dies. So unterschiedlich sie sind, beide diskutieren die Schriftlehre im ekklesiologischen Zusammenhang. Und beide werden gegenwärtig – von freilich 47 Vgl. Wagner, Teufel, 244f. 48 Vgl. ebd., 238. 49 M. Luther, Festpostille (1527), WA 17/II, 501,35f. 50 Vgl. Ch. Schwöbel, Art. Bibel IV. Dogmatisch, RGG4 1 (1998), 1426–1432, 1428. 51 Man könnte natürlich zunächst klagen, wie sehr die Bibel in der heutigen kirchlichen Praxis an Bedeutung verloren hat. Aber man könnte sich auch darüber freuen, dass in den Gottesdiensten nach wie vor biblische Texte gelesen werden und als Predigtgrundlage dienen, dass bei Kasualien biblische Verse ausgesucht und zugesprochen werden und dass die Bibel das am weitesten verbreitete Buch der Welt ist.

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unterschiedlichen Seiten her – als »bedenkenswerte Bewältigungsstrategie für die Krise des Schriftprinzips«52 bewertet. 2.2

Friedrich Schleiermacher

Friedrich Schleiermacher begründet die Autorität der biblischen Texte nicht mehr in diesen selbst, sondern im Glauben an Christus: »Das Ansehen der Heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden, um der Heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen.«53 Schleiermacher argumentiert für diese These mit dem Priestertum aller Glaubenden und dem Wesen des Glaubens. Wolle man das Ansehen der Schrift ohne den Glauben an Christus begründen, dann müsse ein wissenschaftlicher Vernunftgebrauch vorausgesetzt werden, der aber nicht jedem möglich sei, wodurch dann diejenigen, die dies nicht vermögen, den »eigentlich seligmachenden Glauben« »nur aus der zweiten Hand«, »von jenen Sachkundigen« hätten, was aber der Gleichheit aller Christen in Bezug auf ihren Glauben aus evangelischer Sicht widerspräche.54 Weiter würde durch den Beweis der Autorität der Schrift versucht werden, den Glauben »an[zu]demonstrier[en]«, was aber dem Charakter des lebendigen Glaubens, der auf ein »Bewußtsein von Erlösungsbedürftigkeit«, auf »Buße und Sinnesänderung« aufbaut, widerspräche.55 Entstehen müsse der Glaube an Christus bei uns in der gleichen Weise wie bei den Jüngern, nämlich durch unmittelbaren Eindruck, d.h. durch die Predigt Christi bzw. die Predigt seiner Zeugen.56 Unser Glaube heute kann jedoch nicht mehr direkt durch die Begegnung mit dem ungetrübten Gottesbewusstsein Jesu entstehen, sondern unter anderem dadurch, dass »die neutestamentischen Schriften eine solche auf 52 So Leonhardt, Schriftbindung, 141, über Schleiermacher; Körtner, Schriftwerdung, 118, ähnlich zu Barth. 53 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, auf Grund der zweiten Auflage neu hg. von M. Redeker, Bd. 2, Berlin 71960, § 128, 284. 54 Ebd., § 128.1, 285. Frömmigkeit darf nicht von der Wissenschaft ausgehen und abhängen (vgl. ebd., § 128.3, 287). 55 Ebd., § 128.1, 285. 56 Vgl. ebd., § 128.2, 286. In seinen Reden »Über die Religion« (1799) hatte Schleiermacher noch deutlich schriftkritischer und individualistischer formuliert: »Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.« (F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799/1806/1821). Studienausgabe, hg. von N. Peter / F. Bestebreurtje / A. Büsching, Zürich 2012, 103).

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uns gekommene Predigt sind«.57 Aber es gibt auch andere Predigten von Christus.58 Dogmatische Lehrsätze müssen nicht aus der Schrift abgeleitet und auch nicht durch ein Schriftzitat belegt werden. Das »Erweisen« von Lehrsätzen aus der Schrift ist nichts anderes als der Aufweis eines gemeinsamen Tertium, genauer »die Nachweisung, daß ein so belegter Satz ein echtes und ursprüngliches Element christlicher Frömmigkeit aussage«59, d.h. der nur über eine theologische Argumentation zu erreichende Nachweis, dass »bei jenen dieselbe fromme Erregung zum Grunde [liege], welche auch diese darstellen«60. Denn nicht deshalb gehört eine Lehre zum Christentum, weil sie in der Schrift enthalten ist (das hatte Wagner ja als Kennzeichen des protestantischen Schriftprinzips beschrieben), sondern umgekehrt: Eine Lehre ist »nur deshalb in der Schrift enthalten, weil sie zum Christentum gehört«61. Folgerichtig verortet Schleiermacher seine Schriftlehre auch nicht in den Prolegomena, sondern in der Ekklesiologie.62 Die Bedeutung der Schrift liegt darin, dass sie Ausdruck christlicher Frömmigkeit ist und sich umgekehrt erst dem frommen Selbstbewusstsein »eine besondere religiöse Funktion der Bibel erschließt«63. Die Schrift ist »Ausdrucksgestalt, nicht … Begründungsform des christlichen Glaubens«64. Sie ist Glaubenszeugnis, freilich nicht als Zeugnis von der Offenbarung, wie der unten noch zu besprechende Autor dies behauptet, sondern als »Zeugnis von der eigenen Erfahrung«65. 57 Schleiermacher, Glaube, Bd. 2, § 128.2, 286. 58 Vgl. ebd., § 128.2, 286. Der »lebendig machende Glaube« kann »auch auf der mündlichen Überlieferung ruhen« (ebd., § 128.1, 285). Deshalb hat Schleiermacher bei seinen bisherigen Ausführungen zum Glauben »nur diesen selbst als in einem erlösungsbedürftigen Gemüt, vermittelst welcher Kunde es auch sei entstanden, vorausgesetzt, die Schrift aber nur als denselben Glauben aussagend angeführt« (ebd., § 128.3, 287). 59 Ebd., § 128.3, 287. 60 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, auf Grund der zweiten Auflage neu hg. von M. Redeker, Bd. 1, Berlin 71960, § 27.3, 152. 61 Schleiermacher, Glaube, Bd. 2, § 128.3, 287. 62 In seinem Zweiten Sendschreiben an Lücke bringt Schleiermacher seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass er wegen dieser Platzierung »nicht stärker … angefochten und der Annäherung an den Katholicismus beschuldigt worden« sei (F. Schleiermacher, KGA I/10, 356,5f., zitiert nach Leonhardt, Schriftbindung, 145). 63 Lauster, Prinzip, 53. Vgl. Schleiermacher, Glaube, Bd. 2, § 128.2, 287: »… daß eine solche Lehre immer nur den schon Gläubigen wird annehmlich gemacht werden können«. 64 Lauster, Prinzip, 55. Vgl. Leonhardt, Schriftbindung, 143: Die Verschriftlichung und Kanonisierung ist »ein Resultat und nicht der Ursprung der christlichen Verkündigung«. 65 Schleiermacher, Glaube, Bd. 1, § 14.1, 96.

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Lauster urteilt, dass bei Schleiermacher das sola scriptura aufgegeben ist,66 zum einen, weil nicht nur die Schrift Predigt von Jesus Christus ist, zum anderen, weil die Schrift nicht selbst unmittelbar Glauben erzeugt,67 sondern nur »dem christlichen Selbstbewußtsein in seiner Erlösungsbedürftigkeit die nötigen gedanklichen und sprachlichen Ausdrucksformen bereit[stellt], um sich selbst darstellen zu können«68. Sie diene nur zur »je individuelle[n] Erfahrungsverarbeitung«69. Ähnlich versteht Rochus Leonhardt Schleiermachers Ansatz als – zu würdigendes – Aufgeben des »Anspruch[s] auf eine allgemein plausibilisierbare exegetische Kontrollierbarkeit theologischer Einsichten … im Namen des sola fide«70. Schleiermacher überwinde damit ein Missverständnis Luthers, dessen »religiöse Subjektivität … noch direkt an die Schrift in ihrer äußeren Gestalt andocken konnte«71. Bei Luther sei »die Schriftbindung noch der Platzhalter der religiösen Subjektivität«72 gewesen. Eigentlich war bei ihm das äußere Wort aber nur »Vehikel für das innere Wirken des Geistes«73. Schleiermacher stellt nachdrücklich den menschlichen Charakter der biblischen Texte heraus. Sie sind Zeugnis der eigenen Erfahrung, nicht mehr. Gleichzeitig verwehrt er sich gegen einen Beweis der Schriftautorität im Sinne der fides humana. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist der Glaube an Christus, aufgrund dessen der Schrift Ansehen eingeräumt wird. Weil dieser sich (auch) auf anderem Wege einstellt, verliert die Schrift ihre Glauben stiftende Exklusivität. Kriteriologische Exklusivität besitzt die Schrift auch nicht, weil sich in ihr »Kanonisches« wie »Apokryphisches« finden. Kanonisch sind diejenigen Glaubensäußerungen der Apostel, bei denen sie unter dem »reinigenden Einfluß der lebendigen Erinnerungen an den ganzen Christus«74 standen; solche findet sich insbesondere in den »Erzählungen der 66 Vgl. Lauster, Prinzip, 56 Anm. 173. 67 Vgl. ebd., 55. 68 Ebd. Ob das wirklich Schleiermachers Meinung ist, wenn er in Glaube, Bd. 2, § 128.2, 286, schreibt: »Sofern nun die neutestamentischen Schriften eine solche auf uns gekommene Predigt sind, entsteht der Glaube auch aus ihnen«? 69 Lauster, Prinzip, 55 (Kursivierung von mir). Ähnlich N. Slenczka, Das Alte Testament als Problem des Kanonbegriffs, in: R. Barth / U. Barth / C.-D. Osthövener (Hg.), Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der SchleiermacherGesellschaft in Halle März 2009, Berlin 2010, 267–287, 277: »Das fromme Selbstbewußtsein besteht und entsteht auch außer der Schrift, erkennt in der Schrift sich selbst wieder und erkennt die so als Zeugnis des christlich frommen Bewußtseins identifizierten Schriften als kanonisch an.« 70 Leonhardt, Schriftbindung, 145. 71 Ebd., 145. 72 Ebd., 141. 73 Ebd., 145. 74 Schleiermacher, Glaube, Bd. 2, § 129.2, 289.

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Reden und Taten Christi« sowie in der Lehre der Apostel, die ja in Namen Christi handelten, und hat »für alle Zeiten« normative Kraft. Das aus der Vermischung mit Juden- und Heidentum entstammende »Apokryphische« verliert sich im Fortgang der Kirche immer mehr, selbst an ihren Rändern, so dass in Bezug auf diesen Aspekt spätere Lebensäußerungen der Kirche vollkommener sind.75 Das Kanonische besitzt besonderes Ansehen, »wenn es darauf ankommt, für die Christlichkeit einer Darstellung Gewähr zu leisten und Unchristliches kenntlich zu machen«76. Entsprechend bindet auch Schleiermacher den »öffentlichen Dienst in der Kirche … in allen Stücken an das göttliche Wort«77. Die kirchliche Praxis bleibt diesen Texten verpflichtet. Sicherlich ist es ein Missverständnis Luthers, seine Bindung an die Schrift als ein Selbstmissverständnis zu interpretieren. Das äußere Wort ist für Luther nicht nur Vehikel für das innere Wirken des Geistes. Vielmehr hat das innere Wirken des Geistes das äußere Wort zu seinem Inhalt. Es geht Luther ja darum, genau in Bezug auf das äußerlich klare Wort innere Klarheit zu erfahren.78 Nur in dieser zweifachen Klarheit ist die Schrift Wort Gottes. 2.3

Karl Barth

Karl Barth hat in origineller Weise die Aussage, dass die Schrift das Wort Gottes ist, sozusagen elliptisch entfaltet. Er geht davon aus, dass die historische Kritik ernstgenommen werden muss, sie ist »selbstverständlich berechtigt«79. Hinter die Aufklärung führt auch für Barth kein Weg zurück.80 Aber er kritisiert die Beschränkung der Exegese auf rein histo75 Ebd., § 129.2, 289f. 76 Ebd., § 129.2, 291. 77 Ebd., § 135, 315. 78 Sehr deutlich in M. Luther, Schmalkaldische Artikel, in: I. Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, Göttingen 2014, 718–784, hier 772: »Darumb sollen und müssen wir darauff beharren, das Gott nicht will mit uns Menschen handeln denn durch sein eusserlich wort und Sacrament. Alles aber, was on solch wort und Sacrament vom Geist gerhümet wird, das ist der Teufel«. 79 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, Zollikon 1938, 513. Vgl. dazu Bergner, Sache, 319ff., bes. 322ff. 80 So wendet sich Barth unter anderem gegen alle Versuche, »den göttlichen Ursprung der Schrift auf empirische Weise zu begründen, etwa durch den Hinweis auf eine angebliche Irrtumslosigkeit der Schrift …« (Bergner, Sache, 82, mit Verweis auf Barth, Dogmatik, Bd. I/2, 596). Barth gesteht zu: »Wir müssen Alles, was inzwischen [d.h. seit Luther] geschehen, was ein unentrinnbarer Faktor des europäischen Denkens geworden ist, auf uns nehmen. Das Zorngericht des Historismus mit seinem allen Glauben zermalmenden und dafür gerade allen religiösen Kitsch fördernden Anspruch auf Alleingültigkeit hängt über uns wie eine endlos regnende Gewitterwolke. … Wir müssen schon froh sein, von der Sonne über den Wolken wenigstens wieder zu wissen, uns

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rische Sachverhalte, wollten doch die Autoren der Bibel, wie alle anderen Autoren auch, »mit ihren Texten auf eine bestimmte Sache hinweisen«81. Diese »Sache der Schrift zu verstehen setzt nicht weniger voraus, als Gottes Offenbarung zu Gesicht zu bekommen.«82 Wie bei Luthers Verbindung von äußerer und innerer Klarheit hat diese »Sache« dabei sowohl einen materialen als auch einen funktional-dynamischen Sinn.83 Die Heilige Schrift ist für Barth zunächst von der göttlichen Offenbarung unterschieden, insofern sie menschliches Wort von ihr ist.84 Und sie ist mit der göttlichen Offenbarung eins, »sofern die Offenbarung der Grund, Gegenstand und Inhalt dieses Wortes ist«85. Der Göttlichkeit der Heiligen Schrift werde man, darin liegt ihre Parallele zu Gottmenschheit Jesu Christi, nicht anders ansichtig als in ihrer Menschlichkeit: »Eben darin ist ja die Bibel ein uns wirklich gegebenes, ein uns wirklich angehendes, ein von uns wirklich entgegenzunehmendes Zeugnis von der Offenbarung, daß sie ein schriftliches, und zwar ein von Menschen wie wir selbst geschriebenes Wort ist, das wir als solches lesen, hören und verstehen können.«86 »Daß sie von Gottes Offenbarung zeugt, das bedeutet … nicht, daß Gottes Offenbarung nun in irgend einer göttlichen Offenbartheit vor uns läge. Die Bibel ist kein Orakelbuch; sie ist kein Organ direkter Mitteilung. Sie ist wirklich Zeugnis.«87 Aber sie ist – nota bene und im Unterschied zu Schleiermacher – Zeugnis von der Offenbarung. Diese Aussage, die Bibel sei Zeugnis von Gottes Offenbarung, lässt sich gar nicht unabhängig davon machen, dass dieses Zeugnis Menschen anspricht. Und das ist nicht immer der Fall. Die Besonderheit dieses Zeugnisses von der Offenbarung liegt darin, dass es »nicht einfach Gottes Anrede an den Menschen ist«, wohl aber »zu solcher Anrede im Hier wenigstens vorzustellen, daß die Sündflut einmal ein Ende nehmen könnte. Das würde nicht bedeuten, daß wir die Augen vor der historischen Wirklichkeit der Bibel wieder verschließen würden, wohl aber, daß wir mit denselben Augen wieder sehen würden, wie die Bibel gerade in dieser Wirklichkeit mittelbar, für uns die Offenbarung ist.« (K. Barth, »Unterricht in der christlichen Religion«, Bd. 1 [1924], hg. von H. Reiffen, GA II. Akademische Werke, Zürich 1985, 266). 81 Bergner, Sache, 58, mit Verweis auf Barth, Dogmatik, Bd. I/2, 513: »Aber nun werden wir, gerade wenn wir die Menschlichkeit der Bibel ganz ernstnehmen, auch damit ganz ernst machen müssen, daß sie eben als menschliches Wort etwas ganz Bestimmtes sagt, daß sie also als menschliches Wort über sich selbst hinausweist, daß sie als Wort auf eine Sache, auf einen Gegenstand hinweist. … Welches menschliche Wort täte das nicht?« 82 Bergner, Sache, 59. 83 Vgl. ebd., 60. 84 Vgl. Barth, Dogmatik, Bd. I/2, 512ff. 85 Ebd., 512. 86 Ebd., 513. 87 Ebd., 562.

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und [J]etzt werden kann«88. Dies ist gemeint, wenn Barth sagt, dass die Schrift Wort Gottes ist. Diese Aussage wird in der Kirche gemacht, in der Gemeinschaft der an Christus Glaubenden: »Wir glauben in und mit der Kirche, daß die heilige Schrift … Priorität vor allen anderen Schriften und Instanzen, auch vor denen der Kirche selbst hat. Wir glauben in und mit der Kirche, daß die heilige Schrift als das ursprüngliche und legitime Zeugnis von Gottes Offenbarung das Wort Gottes selber ist.«89 Entscheidend ist, wie Barth das »hat« und das »ist« versteht. Damit werden keine substanzontologischen Aussagen über die Bibel gemacht,90 sondern »dieses ›hat‹ und ›ist‹ sind Aussagen über eine göttliche Verfügung, Tat und Entscheidung, auf die als solche wir, wenn wir diese Sätze bilden, einerseits als auf eine schon geschehene zurückblicken, auf die wir anderseits als auf eine künftige hinblicken«91. Sie sind also ein »sie hatte« und »sie wird haben« und ein »sie war« und »sie wird sein«. Dass sie Wort Gottes ist und Priorität vor allen anderen Schriften hat, wird nur je und je durch Gottes Wirken gegeben und ist also dem Menschen entzogen – und deshalb nicht durch einen schlichten Indikativ zu beschreiben. Aber der Indikativ ist auch nicht aufzugeben, weil die Kirche von dem 88 Körtner, Schriftwerdung, 121. 89 Barth, Dogmatik, Bd. I/2, 557. 90 Diese Differenz Barths zum fundamentalistischen Bibelverständnis streicht auch heraus J. Lauster, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma (ThLZ.F 21), Leipzig 2008, 17. – Auf das fundamentalistische Schriftverständnis wird hier nicht weiter eingegangen, weil es kein wirkliches Ringen mit dem Schriftprinzip darstellt. In ihm wird behauptet, dass jedes einzelne Wort unverrückbar sei und ewig von Gott gegeben. Als Beispiel sei verwiesen auf Johann Hesse, den Geschäftsführer des Gemeindehilfsbundes, der in seiner Kritik am EKD-Text »Rechtfertigung und Freiheit« behauptet (als Zusammenfassung der fälschlicherweise vom EKD-Text abgewiesenen Position): »Die Bibel ist … Gottes Wort im objektiven Sinne, unabhängig vom Urteil des Lesers oder irgend einer anderen Instanz« (http://www. gemeindenetzwerk.de/?p=1147#more-11474 [Zugriff am 1. August 2016]). Hesse beruft sich dafür auf Luthers Satz, die heilige Schrift sei die Königin, die herrschen müsse und der alle gehorchen müssten: »Haec Regina debet dominiari, huic omnes obedire et subiacere debent. Non euis Magistri, Iudices seu Arbitri, sed simplices testes, discipuli et confessores esse debent« (M. Luther, In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius (1535), WA 40/I, 120,20–22). Luther geht es aber im Kontext dieses Zitates nicht um eine unkritische Absolutsetzung der Bibel, sondern um die Ablehnung der These, nur durch die Autoritätssetzung der Kirche besitze die Bibel Autorität (vgl. Althaus, Theologie, 74). Das fundamentalistische Schriftverständnis, das die Bibel Wort für Wort mit Gottes Wort identifiziert, vergegenständlicht Gott auf unangemessene Weise. Um es scharf zu sagen: Was besonders fromm daherkommt, ist de facto eine Bemächtigung Gottes durch den Menschen. Hier wird übersehen, dass jeder Schriftbezug, auch einer, der vermeintlich wortwörtlich ist, Interpretation ist, eine Interpretation, die ihre Interpretationsvoraussetzungen transparent machen muss. Andernfalls wird ein menschliches Vorgehen mit Gottes Reden identifiziert. 91 Barth, Dogmatik, Bd. I/2, 557.

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»hatte« und »war«, vom »wird haben« und »wird sein« lebt. Das Schriftprinzip ist insofern »ein Bekenntnis dazu, dass gerade im Lesen und Hören der biblischen Texte sich dank des Wirkens des Heiligen Geistes die Gewissheit des Glaubens an den dreieinigen Gott eingestellt hat und wieder einstellen wird«92. Es ist die Kirche, die erinnert, und es ist die Kirche, die erwartet. Dies ist als historischer, menschlicher Sachverhalt zu beschreiben. Nur »[i]n ihrer [sc. der Kirche] Erinnerung und in ihrer Erwartung« ist die Schrift »das Zeugnis von Gottes Offenbarung«93. Die Kirche erinnert und erwartet aber das Wirken Gottes, des Heiligen Geistes. Deshalb ist die Schrift als Wort Gottes der Kirche zugleich auch entzogen, denn: »Über das, was dazwischen liegen kann [!]: über das Ereignis, daß dieses Zeugnis nicht nur in Erinnerung und Erwartung, sondern heute und hier Zeugnis von Gottes Offenbarung ist – über dieses Ereignis hat die Kirche weder Verfügung noch Macht.«94 Dass diese Texte Wort Gottes »waren« und »sein werden«, ist nur möglich, weil und wenn Gott sich dieser Texte bedient, so dass sie Glauben wirken. Das »hat« und das »ist« sind »göttliche[s] Präsens«95. Deshalb kann, dass die Bibel Wort Gottes ist, »außerhalb des Glaubens und des Wortes in keiner Weise behauptet oder verteidigt werden, hinsichtlich dessen [kann] man sich außerhalb des Glaubens und des Wortes keine Sicherungen verschaffen«96. Wie Schleiermacher begründet auch Barth das Ansehen der Schrift im Glauben, nicht in außerhalb des Glaubens zu findenden Argumenten. Und wie Schleiermacher schärft er ein, dass diese Texte menschliche Texte sind. Im Glauben der Kirche sind sie aber Wort Gottes. Lauster kritisiert an Barths Ansatz und der Wort-Gottes-Theologie insgesamt, diese Theologie basiere auf der »›mythologisch-magische[n]‹97 Vorstellung eines redenden Gottes«, was eine »massive … Remythisierung der Gottesvorstellung« bedeute.98 Allerdings sind Magie und Performanz zu unterscheiden wie auch mythische und metaphorische Redeweise.99 92 Bergner, Sache, 307. 93 Barth, Dogmatik, Bd . I/2, 534. 94 Ebd., 534. Diesen Aspekt bringt die theologische Rezeptionsästhetik mit ihrer Betonung der Rolle des Heiligen Geistes beim Leser der Schrift nachdrücklich zur Geltung (vgl. U.H.J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994). 95 Barth, Dogmatik, Bd. I/2, 558. 96 Ebd., 562. 97 W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 264. 98 Lauster, Entzauberung, 21. 99 Vgl. dazu Mit Gott reden – von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD, hg. von M. Beintker / M. Heimbucher, Neukirchen-Vluyn 2011, 28ff.

Das Ringen um das Schriftprinzip in der modernen evangelischen Theologie

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Es verdient zumindest angemerkt zu werden, dass der große Entmythologisierer Rudolf Bultmann einen gewissen »mythologische[n] Rest«100 für die Theologie für unaufgebbar hielt. Dass die Jünger an die Heilsbedeutung des Kreuzes zu glauben begannen, war für ihn »Tat Gottes«.101 Nur mit einem solchen »mythologischen Rest« könne man aber von »Gottes entscheidende[m] … eschatologischen Tun«102 sprechen, dessen Wesen gerade darin bestehe, sich »als eschatologisches nicht weltlich ausweisen« zu können103 – und also Theologe bleiben. Lauster selbst will durchaus noch an der Rede vom Wort Gottes festhalten. Sie meine aber nicht »die quasi objektive Vorstellung eines redenden Gottes«, sondern beschreibe, dass Menschen im »Umgang mit der Bibel [etwas] erleben …, was sie als ein konkretes Angesprochensein beschreiben. Wort Gottes … beschreibt … eine menschliche Reaktion. Wort-Gottes [sic!] ist in diesem Sinne eine religiöse Deutungskategorie, mit der Menschen dieses innere Angesprochensein und Ergriffensein durch ein persönliches Gegenüber [d.h. durch das Symbol eines persönlichen Gegenübers] zum Ausdruck bringen.«104 Dann spitzt sich die Frage nach dem Schriftverständnis aber auf die Frage nach dem Wesen der Theologie zu: Kann man, darf man als Theologie Gott als personalen Grund dieses Angesprochenseins zur Geltung bringen und noch so etwas wie ein Reden oder Handeln Gottes denken, weil Glaubende dies tun, oder muss Theologie diese Ebene verlassen und nur noch in der Außenbeschreibung auf religiöse Vorgänge blicken? Wird das Selbstverständnis der Glaubenden so angemessen abgebildet? Würden wirklich die meisten Glaubenden sagen, dass sie die personale Metapher vom Reden oder vom Wort Gottes verwenden, um damit nur ihr Erlebnis eines Angesprochenseins zum Ausdruck bringen? Liegt nicht in der Beschreibung des Glaubens als Deutung bereits eine so grundlegende Selbstdistanzierung vor, dass aus dem Angesprochen- und Ergriffensein gerade wieder herausgetreten, also das Wesen des Glaubens kaum angemessen beschrieben wird? Lauster kritisiert schließlich, Barth habe mit seinem Ansatz eine »Selbstimmunisierung«105 der Schriftautorität vollzogen. Barth konstatiere zwar die historische Entstehung der Texte, lehne es aber ab, einen plausiblen Weg zu zeigen, wie aus dem historisch kontingenten Wort 100 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung hg. von E. Jüngel (Beiträge zur evangelischen Theologie 96), München 31988, 63. 101 Ebd., 62. 102 Ebd., 63. 103 Ebd., 63f. 104 Lauster, Entzauberung, 23. 105 Lauster, Krise, 179.

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das Gotteswort werden könne.106 Solches ist allerdings, glaubt man Immanuel Kant, prinzipiell unmöglich, weil es sich um eine metavbasi" eij" a[llo gevno" handeln würde. Barth versucht denn auch keinen argumentativen Aufweis, er argumentiert gar nicht für eine fides divina, sondern er expliziert die Bedeutung der Schrift als Bekenntnis der Kirche. Durch ihre Praxis, durch den kirchlichen Umgang mit der Bibel bekennen sich Menschen dazu, in diesen menschlichen Texten Gottes Wirken erfahren zu haben. Ein solches Bekenntnis hat nicht den Anspruch darauf, zwingendes Argument zu sein. Und es muss auch nicht als »autoritäre Zumutung«107 angesehen werden. Es will vielmehr einladendes Zeugnis sein, Zeugnis von Menschen, dass Gott durch diese Texte an ihnen gehandelt hat. Es ist die Einladung, sich auch selbst mit diesen Texten zu beschäftigen, sie zu lesen, über sie nachzudenken und darauf zu hoffen, dass sie zum Wort Gottes werden. Für Barth hat die Schrift ihre Bedeutung also nicht aufgrund »subjektiver Evidenz«108, sondern aufgrund einer Erfahrung, zu der Menschen sich gegenseitig einladen können. Das steht quer zu unserer individualistischen Zeit, nimmt aber ernst, dass sich dem Einzelnen die Schrift auch immer wieder verschließt. Dann darf er sich bergen in der kirchlichen Tradition und ihrem Festhalten an der Schrift. Die Kirche ist eine Interpretationsgemeinschaft, die ihre Identität gewinnt durch das Hören auf und die Auseinandersetzung mit den biblischen Texten. Jörg Lauster hat daher vorgeschlagen, die Autorität der Schrift in der Kirche mit Jan Assmanns Figur des kulturellen Gedächtnisses zu begründen, denn »[a]us inneren Gründen ist für das Christentum der Bezug zur Vergangenheit konstitutiv«,109 auch »die biblischen Texte verfolgen ein ganz bestimmtes Erinnerungsinteresse«110. Er führt aus: »Zum einen wird über die Denkfigur des kulturellen Gedächtnisses die Autorität von Erinnerungsdokumenten vernünftig ausweisbar [dies entspreche dem Gedanken der fides humana], ohne in die Engführungen einer historischen Argumentation zu verfallen … Zum anderen wird den identitätsstiftenden Aspekten von Erinnerungsdokumenten Rechnung getragen, die auf das innere Erleben abzielen [dies entspreche dem Gedanken der fides divina]«111. Dabei sei die »Initialzündung jeder Erinnerung … das Bewusstsein, dass das, was erinnert wird, vergangen ist«112 .

106 107 108 109 110 111 112

Vgl. ebd., 179. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 265. So Lauster, Krise, 179. Ebd., 180. Ebd., 181. Ebd., 181. Ebd., 182.

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Lauster ist darin Recht zu geben, dass die Schrift in dieser auf Erinnerung bezogenen Weise für die Identität der Kirche wesentlich ist. Aber gleichzeitig ist darin über Lauster hinauszugehen, dass die Kirche nicht nur von Erinnerung lebt. Sie ist – wie die biblischen Texte auch – ebenso durch die Hoffnung bestimmt, dass das, was erinnert wird – Gottes Gegenwart in dieser Welt in Jesus Christus –, nicht nur vergangen ist, sondern durch das Wirken des Geistes in der Gemeinde auch je wieder gegenwärtig wird,113 nicht in der gleichen Weise wie damals, aber doch so, dass Menschen erfahren: Dieser, von dem wir dachten, er wäre tot, er lebt. Dies ist tatsächlich etwas, was sich mit vernünftigen Gründen nicht einsichtig machen lässt, sondern was die ersten Christen nur denken konnten, indem sie ein Handeln Gottes bekannten: Gott hat ihn auferweckt.114 Aus den vorliegenden Überlegungen ergibt sich, dass das Schriftprinzip nur in einem hermeneutischen Zirkel aufrechterhalten werden kann. Nur aus dem Umgang mit der Bibel ergibt sich ihre Autorität.115 Ein hermeneutischer Zirkel ist aber etwas anderes als ein Teufelskreis. Wer sich in einem Teufelskreis befindet, möchte hinaus, weil seine Situation in ihm immer schlimmer wird. Wer sich im hermeneutischen Zirkel befindet, ist froh, darinnen zu sein, weil er erlebt, wie dies seinen Glauben und sein Leben befruchtet. Das Bekenntnis der Kirche zur Schrift als Wort Gottes ist die Einladung in diesen Zirkel, ganz im Sinne Luthers: »hallt dich an diße gotliche wort, da kreuch eyn und bleyb drynnen wie eyn haß ynn seyner steynritzen«116. Abstract One of the basic convictions of the reformers of the 16th century was the sola scriptura, i.e. that the Bible is the source and norm of all theological thinking. The article unfolds how modernity caused a crisis of this principle but argues that this crisis does not inforce an abolition of this principle. It discusses three different answers to this crisis, Falk Wagner, Friedrich Schleiermacher, Karl Barth, and comes to the conclusion that the sola scriptura includes a hermeneutical circle, which, of course, is something different than a vicious circle. 113 Vgl. Körtner, Schriftwerdung, 113: Der von den »biblischen Texten intendierte Gegenstand« ist »nicht die bloße Rede von Gott, sondern dieser selbst als eine präsentische Wirklichkeit«. 114 Vgl. I.U. Dalferth, Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 95 (1998), 379-409. Dies ist als Glaube an Jesus Christus als den gekreuzigten Auferstandenen mehr als »eine tragende innere Gewissheit, … eine existentielle Gestimmtheit und ein Lebensgefühl«, ein »Transzendenzeinbruch« (J. Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 32015, 33). 115 Ähnlich Schwöbel, Bibel IV. Dogmatisch, 1428. 116 M. Luther, Kirchenpostille (1522), WA 10/I.1, 193,12f.

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Christiane Tietz

Christiane Tietz, geb. 1967, Dr. theol., ist Professorin für Systematische Theologie und Leiterin des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich.

Praktische Theologie

Ottmar Fuchs

Praktische Theologie in und mit der konturierten intertextuellen Bibellektüre

Mein Studium, meine pastorale Tätigkeit und praktisch-theologische Lehre und Forschung waren und sind in ihrem Bibelbezug maßgeblich von der historisch-kritischen Exegese und der mit ihr verbundenen Emanzipationsgeschichte geprägt. Meine Reaktion auf die kanonische Bibellektüre war von daher eher mit Befürchtungen verbunden, durch diese Reintegration biblischer Texte den Wert und die je eigene Geschichte wie immer abzugrenzender Texteinheiten und ihre gegenseitige Sperrigkeit und Eigensinnigkeit zu verlieren1. Scharf hat dies Rudolf Hoppe formuliert, wenn er von einem Paradigma spricht, »für das der Einzeltext grundsätzlich keine Bedeutung hat, sondern nur als ein Teil des kirchlich definierten Kanons wahrgenommen wird.«2 Meinem bisherigen Bemühen, nicht nur die Bedeutung biblischer Texte, sondern auch die Bedeutung der historisch-kritischen Methode und ihre Wahrnehmung im Bereich der Praktischen Theologie zu reflektieren, steht ein Defizit darin gegenüber, dass dies für den Bereich der intertextuellen bzw. kanonischen Bibellektüre noch nicht geschehen ist. Dies ist ein Defizit vor allem auch im Horizont der Einsicht: »Wo Ursprungskontext oder kanonischer Kontext verabsolutiert werden, geht die Spannung verloren und eine zentrale Botschaft des Kanons geht verloren.«3 Immer wieder aufgeschoben, ist mir diese Aufgabe innerhalb einer Seminarveranstaltung mit Ruth Scoralick zum Anliegen geworden. Dort habe ich entdeckt: Gerade die Pastoraltheologie kann ausgesprochen konstruktiv auf eine ganz bestimmte kanonische Bibeltextforschung zugehen und vieles, was ihr inhaltlich und methodisch wichtig ist, darin entdecken und weiterbringen. Dies gilt vor allem für das im Gespräch mit der kanonischen Lektüre geschärfte Verhältnis von Tradition und 1 Vgl. J. Kügler, Entweihung der Schrift? Die bleibende Provokation der historischkritischen Bibelwissenschaft, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 157 (2009), 146– 153, hier 152. 2 R. Hoppe, ›Keine Prophetie ist Sache eigenwilliger Schriftauslegung‹ (2 Petr 1,20b). Zur Begründung, Zielsetzung und zum Ertrag der historisch-kritischen Exegese, in: T. Söding (Hg.), Geist im Buchstaben, Freiburg i.Br. 2007, 51–67, hier 54. 3 J. Kügler, Kanonisch, kirchlich, postmodern? Die Bibelwissenschaft sucht ihren Weg nach der Moderne, in: Orientierung 72 (2008), 38–41, hier 39. Zur praktisch-theologischen Valenz der historisch-kritischen Methode vgl. O. Fuchs, Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift, Stuttgart 2004.

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jeweiliger Gegenwart4. Doch kommen vom historisch-kritischen Anliegen, das ich nicht verabschieden kann, auch Fragen, die die Exegese zu weiteren Schritten herausfordern. 1.

Pastoralliturgische »Leuchttürme«

Ich beginne mit dem Blick auf das erste Moselied in Ex 15,1–21. Es unterbricht in der Erzählung den Erzählverlauf, indem die Erzählung selbst Mose und die Israeliten ein Lied singen lässt, in dem die Ereignisse der Erzählung in einem Lobpreis eingesammelt werden und zum hymnischen Ausdruck kommen. Es ist ein die Erzählung anhaltender, innehaltender Sprechakt, der offensichtlich auf eine kultisch geprägte Form in der Jetztzeit (der damaligen »kanonischen« Redaktion) zurückgeht, die sich diese Erzählung in ihrem eigenen Kontext erzählt. Zuerst wird dabei der Erzählmodus in der dritten Person weiterhin aufgenommen, ab V. 6 allerdings wird die Vergangenheit zur Gegenwart der direkten hymnischen Anrede. Und am Ende, nicht genug damit, das Lied einmal zu singen, wird das Lied nochmals aufgenommen und antiphonal von Mirjam und den Frauen gesungen. Exodus 15,1–21 1 Damals sang Mose mit den Israeliten dem Herrn dieses Lied; sie sagten: Ich singe dem Herrn ein Lied, / denn er ist hoch und erhaben. / Rosse und Wagen warf er ins Meer. 2 Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, / er ist für mich zum Retter geworden. / Er ist mein Gott, ihn will ich preisen; / den Gott meines Vaters will ich rühmen. 3 Der Herr ist ein Krieger, / Jahwe ist sein Name. 4 Pharaos Wagen und seine Streitmacht / warf er ins Meer. / Seine besten Kämpfer versanken im Schilfmeer. 5 Fluten deckten sie zu, / sie sanken in die Tiefe wie Steine. 6 Deine Rechte, Herr, ist herrlich an Stärke; / deine Rechte, Herr, zerschmettert den Feind. 7 In deiner erhabenen Größe / wirfst du die Gegner zu Boden. / 4 Die »synchrone« redaktionsgeschichtliche Forschung ist zwar bereits ein Schritt der historisch-kritischen Forschung, doch fehlt ihr die außerordentliche Programmatik der abgeschlossenen Synchronie, wie sie die kanonische Lektüre über redaktionsgeschichtliche Aspekte hinaus aufweist.

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Du sendest deinen Zorn; / er frisst sie wie Stoppeln. 8 Du schnaubtest vor Zorn, / da türmte sich Wasser, / da standen Wogen als Wall, / Fluten erstarrten im Herzen des Meeres. 9 Da sagte der Feind: Ich jage nach, hole ein. / Ich teile die Beute, ich stille die Gier. / Ich zücke mein Schwert, meine Hand jagt sie davon. 10 Da schnaubtest du Sturm. Das Meer deckte sie zu. / Sie sanken wie Blei ins tosende Wasser. 11 Wer ist wie du unter den Göttern, o Herr? / Wer ist wie du gewaltig und heilig, / gepriesen als furchtbar, Wunder vollbringend? 12 Du strecktest deine Rechte aus, / da verschlang sie die Erde. 13 Du lenktest in deiner Güte / das Volk, das du erlöst hast, / du führtest sie machtvoll / zu deiner heiligen Wohnung. 14 Als die Völker das hörten, erzitterten sie, / die Philister packte das Schütteln. 15 Damals erschraken die Häuptlinge Edoms, / die Mächtigen von Moab packte das Zittern, / Kanaans Bewohner, sie alle verzagten. 16 Schrecken und Furcht überfiel sie, / sie erstarrten zu Stein / vor der Macht deines Arms, / bis hindurchzog, o Herr, dein Volk, / bis hindurchzog das Volk, das du erschufst. 17 Du brachtest sie hin / und pflanztest sie ein / auf dem Berg deines Erbes. / Einen Ort, wo du thronst, Herr, / hast du gemacht; / ein Heiligtum, Herr, haben deine Hände gegründet. 18 Der Herr ist König für immer und ewig. 19 Denn als die Rosse des Pharao mit Wagen und Reitern ins Meer zogen, ließ der Herr das Wasser des Meeres auf sie zurückfluten, nachdem die Israeliten auf trockenem Boden mitten durchs Meer gezogen waren. 20 Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm die Pauke in die Hand und alle Frauen zogen mit Paukenschlag und Tanz hinter ihr her. 21 Mirjam sang ihnen vor5: 5 Alle Texte sind nach der Einheitsübersetzung zitiert. Wörtlich hieße es hier nach dem Masoretentext: Mirjam »antwortete für sie« (maskulin Plural).

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Singt dem Herrn ein Lied, / denn er ist hoch und erhaben! / Rosse und Wagen warf er ins Meer.

Texte wie das Moselied sind Leuchttürme, die ein besonderes Licht auf die anderen Texte werfen und ihr Verständnis prägen. Man könnte auch, analog zur Archäologie, von einer Tektonik sprechen, insofern hier so etwas wie ein Schnitt durch die Texte geschieht, in dem die unterschiedlichen, narrativ variablen Motive der erzählten Zeit auf einen invariablen Blick der besprochenen Zeit sichtbar werden. Dies geschieht nicht diachron, hinsichtlich der historischen Schichten, sondern inhaltlich hinsichtlich der prägenden Ereignisse. Solche »Passagen« zwischen den Erzählungen und zwischen der Erzählung und der Rezeption sind bedeutungs- und handlungsgenerative, also anachron formuliert, »pastorale«6 Unterbrechungen des Textes, worin das im Text, meist narrativ, Vorhergehende und Nachfolgende einer ganz bestimmten Rezeption aufgegeben wird. Nämlich jener Rezeption, die im Volk Israel bezüglich des Exodus vorhanden ist, jener Rituale, die damit verbunden sind. Diese »Senkrechttexte«, die quer zum Erzähltext stehen, bedeuten intersituativ sehr viel: insofern sich bereits im Text die Begegnung zwischen zwei Welten, der vergangenen andersortigen mit der jeweils jetzigen an ihrem Ort, ereignet und ähnliche Prozeduren in der Gegenwart der Lektüre anregen will. Auch das Juditlied 16,1–17 ist ein solcher Text, der den Handlungsverlauf unterbricht und Anweisungen für dessen Interpretation gibt. Judit 16,1–17 1 Judit sang: Stimmt ein Lied an für meinen Gott unter Paukenschall, / singt für den Herrn unter Zimbelklang! / Preist ihn und singt sein Lob, / rühmt seinen Namen und ruft ihn an! 2 Denn der Herr ist ein Gott, / der den Kriegen ein Ende setzt; / er führte mich heim in sein Lager inmitten des Volkes / und rettete mich aus der Gewalt der Feinde. 3 Assur kam von den Bergen des Nordens / 6 Die Texte des 2. Vatikanums, des Pastoralkonzils, zeigen, vor allem in Gaudium et spes, deutlich, dass mit der Pastoral das gesamte Glauben und Handeln von Kirchen, Christen und Christinnen in einer bestimmten Zeit und Situation erfasst ist. Pastoral ist die gegenwartsrelevante und -gestaltende Bedeutsamkeit der Erinnerung. Dieser Pastoralbegriff beinhaltet beides, das diakonische und gemeinschaftliche Soziale wie auch die Gottesbeziehung in Gebet und Ritual; vgl. R. Bucher, Wann und unter welchen Umständen wäre die Praktische Theologie biblisch?, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 25 (2010): Wie biblisch ist die Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 247–263, hier 256.

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mit seiner unzählbaren Streitmacht; / die Masse der Truppen verstopfte die Täler, / sein Reiterheer bedeckte die Hügel. 4 Brandschatzen wollten sie mein Gebiet, / die Jugend morden mit scharfem Schwert, / den zarten Säugling am Boden zerschmettern, / die Kinder als Beute verschleppen, / als billigen Raub die Mädchen entführen. 5 Doch der Herr, der Allmächtige, gab sie preis, / er gab sie der Vernichtung preis / durch die Hand einer Frau. 6 Ihr Held fiel nicht durch die Kraft junger Männer, / nicht Söhne von Riesen erschlugen ihn, / noch traten ihm hohe Recken entgegen. / Nein, Judit, Meraris Tochter, / bannte seine Macht mit dem Reiz ihrer Schönheit. 7 Sie legte ihr Witwengewand ab, / um den Bedrängten in Israel zu helfen. / Sie salbte ihr Gesicht mit duftendem Öl, 8 sie schmückte ihre Haare mit einem Diadem / und zog ein Leinenkleid an, um ihn zu verführen. 9 Ihre Sandalen bezauberten sein Auge. / So schlug ihre Schönheit sein Herz in Bann. / Das Schwert traf seinen Nacken mit Wucht. 10 Die Perser erschraken vor ihrer Kühnheit, / die Meder erstarrten vor ihrem Mut. 11 Jubel erfüllte mein armes Volk – / sie aber gerieten in Schrecken. / Die Meinen waren schwach – / sie aber packte Entsetzen. / Die einen stimmten den Schlachtruf an – / die anderen ergriffen die Flucht. 12 Erbärmliches Volk! Man stieß sie nieder / und schlug sie nieder wie Kinder von Ehebrecherinnen; / sie kamen um durch das Heer meines Herrn. 13 Ich singe meinem Gott ein neues Lied; / Herr, du bist groß und voll Herrlichkeit. / Wunderbar bist du in deiner Stärke, / keiner kann dich übertreffen. 14 Dienen muss dir deine ganze Schöpfung. / Denn du hast gesprochen und alles entstand. / Du sandtest deinen Geist, um den Bau zu vollenden. / Kein Mensch kann deinem Wort widerstehen. 15 Meere und Berge erbeben in ihrem Grund, / vor dir zerschmelzen die Felsen wie Wachs. / Doch wer dich fürchtet, der erfährt deine Gnade. 16 Zu gering ist jedes Opfer, um dich zu erfreuen, /

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alle Fettstücke sind nichts beim Opfer für dich. / Wer den Herrn fürchtet, der ist groß für immer. 17 Doch weh den Völkern, die mein Volk bekämpfen. / Am Tag des Gerichts straft sie der allmächtige Herr, / er schickt Feuer und Würmer in ihr Gebein; / in Ewigkeit sollen sie heulen vor Schmerz.

Man muss die Bibel kennen, um an verschiedenen Stellen die Konturen solcher Texte zu entdecken und miteinander in Begegnung zu bringen, wie voneinander (auch weit) entfernte Leuchttürme sich in ihren Lichtstrahlen berühren. So bringt auch Ps 135,5 ein ähnliches Gotteslob mit der Formulierung: »Ja, ich habe erkannt, dass JHWH groß ist und dass unser Herr größer ist als alle Götter«,

und eine weitere Anspielung findet sich bei Jitro in Ex 18,11: »Jetzt weiß ich: Jahwe ist größer als alle Götter. Denn die Ägypter haben Israel hochmütig behandelt, doch der Herr hat das Volk aus ihrer Hand gerettet.«

Hier wird deutlich, dass der Bibeltext tatsächlich eine »Pastoral« in sich enthält: angezielte soziale Vollzugsanweisungen und symboldramatische Ritualanweisungen, worin das »überzeitlich«, also aus der damaligen Zeit in die gegenwärtige Zeit hineinreichende Gültige als memorative Bestätigung oder Einschärfung gegenwärtiger Praxis ankommt, als Regiedokumentationen und -anweisungen, auch für den kultischen Bereich. Man kann auch das Bild vom Wurzelwerk nehmen, insofern in solchen Texten aus verschiedenen Richtungen der anderen Texte das zusammen vernetzt wird, was das Wurzelwerk für all diese Texte ausmacht. Im Text zeigt sich der Übergang von der Narrativität zur Interpretation auch darin, dass Judit und Mose durch das ganze Volk überblendet werden, das mitsingt (vgl. Ex 15,6; Jdt 16,1). Indem solche Texte als Lied und Gebet formuliert sind, wird in diesem Vollzug konstitutiv, was im Gotteslob ausgesprochen wird, analog zur Grundstruktur der biblischen Erinnerung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erzählen und Doxologie, also damit zwischen Bibel und Pastoral. Nicht nur Denken und Verstehen, sondern auch Fühlen und Spüren können darin Basis von Lebens- und Handlungsorientierung werden. So sind Erzähltexte flankiert bzw. unterbrochen von Textteilen, »die einerseits auf anamnetische Vergegenwärtigung und andererseits auf doxologische Performanz der Erzählung zielen.«7 7 R. Scoralick, Rettung und Untergang. Facetten der Gerechtigkeit Gottes in Exodus 13,17–14,31, in: Theologische Quartalschrift 195 (2015) 2, 109–118, hier 114.

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Egbert Ballhorn spricht hinsichtlich Ex 15 davon, dass sich die Bedeutung des Exodus nicht in der Handlung erschöpft, sondern dass hier die Hermeneutik dieses Ereignisses in einer »zeitübergreifenden Metaphorik« zum Ausdruck kommt8. Die Überzeitlichkeit ist also keine platonische Kategorie, sondern eine durch und durch konkrete, insofern sie die jeweilige Jetztzeit ernst nimmt und zugleich um der je neuen Situation willen an keiner Zeit hängen bleibt. 2.

Kreatorisch und kontrafaktisch

Indem dies in einer Doxologie geschieht, wird in der pastoralen auch die spirituelle Qualität dieses Textes deutlich. Der Gesang Mirjams und das Lied des Mose verarbeiten nicht nur das erzählerisch gegebene Ereignis, sondern begründen und realisieren zugleich für Gegenwart und Zukunft, was hier erzählt wird. Solche Zwischentexte heben den (Verlaufs-)Zeitindex auf und formulieren im Sprechakt des Gotteslobes die Kriteriologie des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens. Dies geht bis zu dem Paradox (vgl. Ps 137), dass in der Nichtbesingbarkeit der Situation, die semantisch ins Bewusstsein kommt, dann doch im Vollzug das Lied gesungen wird, das Lied von Schöpfung und Rettung, kontrafaktisch zur eigenen Situation: Psalm 137,1–9 1 An den Strömen von Babel, / da saßen wir und weinten, / wenn wir an Zion dachten. 2 Wir hängten unsere Harfen / an die Weiden in jenem Land. 3 Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, / unsere Peiniger forderten Jubel: / «Singt uns Lieder vom Zion!» 4 Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, / fern, auf fremder Erde? 5 Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, / dann soll mir die rechte Hand verdorren. 6 Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, / wenn ich an dich nicht mehr denke, / wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe. 7 Herr, vergiss den Söhnen Edoms nicht den Tag von Jerusalem; / sie sagten: «Reißt nieder, bis auf den Grund reißt es nieder!» 8 Tochter Babel, du Zerstörerin! / Wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast! 8 Vgl. E. Ballhorn, Mose der Psalmist. Das Siegeslied am Schilfmeer (Exodus 15) und seine Kontextbedeutung für das Exodusbuch, in: G. Steins (Hg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung: Beispielexegesen und Methodenreflexionen, Stuttgart 2007, 130–151.

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9 Wohl dem, der deine Kinder packt / und sie am Felsen zerschmettert!

In dieser repräsentativen Funktion für die sich in der Geschichte Israels ereignende permanente Neuschöpfung dieser gegenseitigen Treue, kann man, anachron formuliert, auch von einer gewissen Sakramentalität des Psalms sprechen9. Gottes Rettung ist gegeben, noch bevor sie erfahren wird. Was das Sakrament bzw. so ein Textstück vergegenwärtigt, ist immer zugleich ein Versprechen, eine Verheißung, die jetzt in vieler Hinsicht in den Erfahrungen der Menschen noch nicht zuhause ist, sondern auf Hoffnung hin, und oft genug wider alle Hoffnung (vgl. Röm 8,24) als etwas erfahren werden darf, was gleichwohl bereits in einer bestimmten Weise gegenwärtige Wirklichkeit ist, repräsentiert allein durch den Text. Ganz im Sinne des »anitani« in Ps 22,22: Wo sich im Ritual dieses Gebets (und eines möglichen Heilsorakelrituals am Tempel) jene Antwort Gottes ereignet, die in Gott beschlossen und damit wirklich, aber jetzt noch nicht erfahrbar ist: in diesem Fall ist es der Glaube an die Rettung gegen jeden Augenschein10. Die im Text zum Vorschein kommende Hermeneutik ist also mit dieser »pastoralen« Intention, nämlich für die Gegenwart und Zukunft relevanzfähig zu sein, immer eine praktische Hermeneutik. Ja, noch mehr: Im Vollzug des Textes konstituiert sich die Wirklichkeit, die besungen und bedankt wird. So spricht der Dankpsalm 136 nicht nur von der Schöpfung durch Gott, sondern im antiphonalen »denn in Ewigkeit währt seine Liebe« ereignet sich im Beten selbst ein performativer Schöpfungsakt, in dem das darin Ausgedrückte Realität wird. Und zwar nicht nur Realität für die Betenden, sondern für die ganze Welt. Auf diesem Hintergrund wird umso einsichtiger, dass auch die liturgische Praxis ein proprialer theologischer Ort ist, mit entsprechend normativer Valenz, im doppelten Sinn, nämlich als Vorgegebenheit der Gnade und von daher als entsprechende Aufgabe. Psalm 136,1–26 1 Dankt dem Herrn, denn er ist gütig, / denn seine Huld währt ewig! 2 Dankt dem Gott aller Götter, / denn seine Huld währt ewig! 3 Dankt dem Herrn aller Herren, / denn seine Huld währt ewig! 4 Der allein große Wunder tut, / 9 Vgl. O. Fuchs, Sakramente – immer gratis, nie umsonst, Würzburg 2015, 30–48. 10 Vgl. ders., Klage, in: H. Becker u.a. (Hg.), Im Angesicht des Todes, St. Ottilien 1987, 938–1024, hier 975ff.

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denn seine Huld währt ewig, 5 der den Himmel geschaffen hat in Weisheit, / denn seine Huld währt ewig, 6 der die Erde über den Wassern gegründet hat, / denn seine Huld währt ewig, 7 der die großen Leuchten gemacht hat, / denn seine Huld währt ewig, 8 die Sonne zur Herrschaft über den Tag, / denn seine Huld währt ewig, 9 Mond und Sterne zur Herrschaft über die Nacht, / denn seine Huld währt ewig. 10 Der die Erstgeburt der Ägypter schlug, / denn seine Huld währt ewig, 11 und Israel herausführte aus ihrer Mitte, / denn seine Huld währt ewig, 12 mit starker Hand und erhobenem Arm, / denn seine Huld währt ewig, 13 der das Schilfmeer zerschnitt in zwei Teile, / denn seine Huld währt ewig, 14 und Israel hindurchführte zwischen den Wassern, / denn seine Huld währt ewig, 15 und den Pharao ins Meer stürzte samt seinem Heer, / denn seine Huld währt ewig. 16 Der sein Volk durch die Wüste führte, / denn seine Huld währt ewig, 17 der große Könige schlug, / denn seine Huld währt ewig, 18 und mächtige Könige tötete, / denn seine Huld währt ewig, 19 Sihon, den König der Amoriter, / denn seine Huld währt ewig, 20 und Og, den König von Baschan, / denn seine Huld währt ewig, 21 und der ihr Land zum Erbe gab, / denn seine Huld währt ewig, 22 der es Israel gab, seinem Knecht, / denn seine Huld währt ewig. 23 Der an uns dachte in unsrer Erniedrigung, / denn seine Huld währt ewig, 24 und uns den Feinden entriss, / denn seine Huld währt ewig, 25 der allen Geschöpfen Nahrung gibt, / denn seine Huld währt ewig. 26 Dankt dem Gott des Himmels, / denn seine Huld währt ewig.

Gottes Rettung ereignet sich nicht nur darin, dass er sein Volk rettet, sondern auch darin, dass er allem Fleisch Nahrung gibt (Ps 136,25).

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Auch im Bekenntnis Jitros, des Priesters aus Midian, geht es um die Ausweitung des Lobpreises von Israel für Gott auf andere und auf alle Völker: ein aufregendes interreligiöses Begegnungsmodell auf der Basis eines gemeinsamen Gotteslobs11. Universalisierung des Schöpfergottes und stellvertretendes Beten bedingen sich also gegenseitig. Zugleich wird hier deutlich, dass die Güte Gottes, die in Ewigkeit währt, durchaus unterschiedliche, ja widersprüchliche Erfahrungen beinhalten kann und derart auf Gott hin zusammenführt, ohne die Differenzen zu schmälern. Die Liebe begleitet alles, macht aber nichts unterschiedslos. 3.

Welche Konturiertheit?

Die Kriterien für die Perspektive auf die narrativen Einheiten kommen aus der gegenwärtigen »Gegenwart«12. Die situativen Herausforderungen (von gerettet werden oder in der Not bleiben müssen) steuern die rituelle und lebensrelevante Praxis des Gottesglaubens bzw. der Gotteshoffnung und darin die Interpretation der »Vergangenheit« der aus der Tradition kommenden narrativen Einheiten. Die Texte und Erinnerungen der Vergangenheit sind vorgegeben; vorgegeben ist auch die gegenwärtige Praxis der Bedrängung bzw. der Hoffnung und der sich darin ereignenden Rituale. Entsprechende Schlüsseltexte verbinden beide in einer absichtsreichen Weise, nämlich dass aus diesem Kontakt Relevanz für das Leben und für die Zukunft erwächst. Wer in diesem Sinn kanonisch liest, erhebt das situative Datum der Kanonisierung zur entscheidenden Perspektive des Überbrachten. Die inhaltliche Perspektive wurzelt in dem Glauben, dass JHWH das Elend seines Volkes hört und dass er rettet bzw. retten wird. Die Fixierung auf das eigene Volk wird aber dadurch gesprengt, dass sich diese Intention JHWHs auch gegen sein eigenes Volk richtet, wenn es sich selbst wie die »Ägypter« verhält und bei anderen Elend verursacht. Ps 135,9 verdeutlicht in der direkten Ansprache Ägyptens jene hermeneutische Inversion, in der Israel plötzlich als Ägypten angesprochen wird: »sie sollen stutzen und überlegen, in welchem Sinn sie gemeint sein können«, also: »Die Rede vom Reich Gottes und dem Reich des Pharao wird zur Herausforderung an die eigene Praxis.«13 Die Feinde sind die Möglichkeiten des Eigenen. Die Erwählung kann zur Verhär11 Vgl. ders., Religionskritik als praktisch-theologische Aufgabe, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 98 (2014), 3–4, 241–253, hier 249ff. 12 Vgl. ders., Versuch einer »Hermeneutik der Gewalt«. Eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit dem »gewalttätigen« Gott der Bibel, in: J. Kügler (Hg.), Impuls oder Hindernis? Mit dem Alten Testament in multireligiöser Gesellschaft, Münster 2004, 169–194. 13 R. Scoralick, Halleluja für einen gewalttätigen Gott?, in: Biblische Zeitschrift 46 (2002) 2, 253–272, hier 271.

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tung führen. Damit werden die Texte vor der Ideologisierung gerettet, sie als falsches Bewusstsein von dem zu gebrauchen, was tatsächlich der Fall ist. Sie stellen in sich selbst die Frage: Bin ich nicht schon praktisch auf der falschen Seite? Diese Rezeptionsdifferenz ermöglicht ein nicht-ideologisches Sprechen von und mit Gott. Damit verbindet sich auch die Frage: Ist Gott nicht (in der Vorstellung der Menschen) selbst auf der falschen Seite, obwohl ich das Gegenteil behaupte? Wie etwa in Dtn 32,21, wo die anderen Völker zum Werkzeug Gottes gegen Israel werden. Muss nicht auch Gott »umkehren« und »bereuen« (vgl. Jer 18,8)? So kann man die kanonische Bibellektüre als besonders differenzierte Manifestation der Sozialhermeneutik biblischer Texte begreifen, insofern die jeweilige vergangene Situation bereits im Text eine ganz bestimmte Leseführung konturiert und von daher dazu ermutigt, im je eigenen Bibelbezug ähnlich vorzugehen. Der Gesamttext ergibt sich von daher als ein generatives Assoziationsfeld, wobei sich die Assoziationen aber nicht formal taxonomisch ergeben, sondern im Stichwort der Kontur ganz bestimmte Textteile als interpretativ und auskunftsfähig für die anderen Teile zu entdecken erlaubt. Konturierte kanonische Bibellektüre ist somit eine Instanz gegen ein intertextuelles taxonomisches Assoziationschaos. Was dabei als Kontur entdeckt wird, hängt genauso von der Gegenwart ab wie die entsprechenden »Gebrauchsvorlagen« in der Bibel selbst. Die außerbiblische Pastoral hat dabei selbst die Dignität eines »Leuchtturms« gegenüber der Erinnerung. Dies hat Konsequenzen für das Verhältnis von Bindung und Freiheit im Bibelbezug der Pastoral(theologie). Diese Konturiertheit ist keine Zentralperspektive von oben nach unten, sondern die Entdeckung von roten Fäden, die bereits im Text selber entdeckt wurden: als die differenzbewahrende Verbindung unterschiedlicher Situationen im Modus eines thematischen, optionalen, kultischen oder/und spirituellen Innehaltens14. Solche Texte machen explizit, dass die Bibel selbst pastoral konstituiert ist, und diese Konstitution ist nicht nur in der diachronen Erforschung der Schichten und der unterschiedlichen Motive für ihre Gestaltung erkennbar, sondern auch in der Entdeckung von im Kanon gegebenen synchronen Textteilen, die verschiedene Zeiten und Situationen im Horizont einer ganz bestimmten Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsart verknüpft. Auf eigenartige Weise bewahrheitet sich hier, was Rainer Bucher von der Theologie sagt: »Wenn es eine Einheit der Theologie gibt, dann nur auf pastoralem Boden, und das gerade, weil dieser … die kreative Konfrontation von Evangelium 14

Vgl. dazu Bucher, Wann 252.

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und Existenz im Hier und Heute meint, übrigens auf politischer wie personaler Ebene.«15

Denn der unentrinnbare situativ herausgeforderte Handlungsbezug (im sozialen wie auch im kultischen und spirituellen Bereich) nötigt dazu, Pluralitäten und Heterogenitäten von Text und Wirklichkeit in eine eindeutige pragmatische Entscheidung bzw. Praxis zu bringen, damit sie darin existentielle Bedeutung gewinnt. Insbesondere im Modus der Doxologie zeigen die »Senkrechttexte« die pastorale Einheit unterschiedlicher Zeiten, Kontexte und Texte, die nichts vereinheitlichen muss. Die pastorale Praxis des Kanons verführt dann nicht zu einem einheitlichen Sinn, sondern lässt in diesen aufeinander zu beziehenden Textteilen die Bedeutung dieses Plurals erleben16 und gibt Letzteren frei für die je eigene situative Rezeption. 4.

Im Horizont der »Jetztzeit« Walter Benjamins

Es ist für mich überraschend und zugleich einleuchtend, dass gerade Walter Benjamin für diese Zusammenhänge die erkenntnistheoretischen Einbettung bereitstellt. Auf dem zweiten Blick liegt diese Kontaktaufnahme auch wieder nahe, weil Benjamins Denken selbst im jüdischen Vorstellungsbereich wurzelt17. Nach Benjamin lassen sich zeitlich und lokal auch weit entfernte Ereignisse in der Geschichte an ihrem tieferen Grund miteinander so verbinden, dass sie beide, mögen sie auch in völlig unterschiedlichen Kontexten entstanden sein, gleichwohl eine ähnliche »Idee« zum Ausdruck bringen18. Dies geschieht selbstverständlich nur im Zusammenhang mit ähnlichen Auf-den-Grund-Gängen in der Gegenwart, denn die Vergangenheit gibt es nur in Beziehung zu einer Gegenwart, die sich in diesem abgründigen Bild des Vergangenen als gemeint erkennt19. Es geht dabei darum, die Konstellation, in die ein eigenes Ereignis mit einem ganz be15 Ebd. 259. 16 Damit würde sich bewahrheiten: »Die Fixierung eines Kanons gibt dem pluralen Netzwerk der differenten Sinngehalte der biblischen Schriften keinen neuen, einheitlichen Sinn; sie legt vielmehr die Bedeutung dieses Plurals von Sinn fest.« (H.-J. Sander, Die kritische Autorität der Exegese für die Dogmatik, in: U. Busse [Hg.], Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche, Freiburg i.Br. 2005, 38–75, hier 40). Dies ist die eminent ekklesiologische Qualität des Kanons, insofern er literarisch realisiert, was die Kirchenbildung charakterisiert, nämlich im »Kleinen« des abgeschlossenen Kanons die Widersprüche der ganzen Welt, und wie Gott mit diesen darin umgeht, und wie ambivalent die Menschen darin mit Gott umgehen, zu repräsentieren, nicht vereinnahmend, sondern solidarisch, oft auch stellvertretend. 17 Vgl. C. Bauer / M. Schüssler (Hg.), Jeder Fluss hat seine Strudel, Ostfildern 2010. 18 Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften I, 2, Frankfurt a.M. 1980, 691–704, hier 701, These XIV. 19 Vgl. ebd. 695, These V.

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stimmten früheren Ereignis getreten ist, zu erfassen. Dies ist die »Jetztzeit«, die hinter die Gegenwart zurückgreift in eine Vergangenheit, die auf ihrem Ursprungsniveau mit der Gegenwart in Verbindung steht. Es handelt sich um verborgene Konstellationen, die es in dieser Jetztzeit zu entdecken gilt. Auch zeitlich weit entlegene Methoden der Erkenntnis können gegenseitig erschließende Verbindungen haben. Genau das versuche ich hier zwischen der kanonischen Verbindung der »Leuchtturmtexte« und der Benjamin’schen Erkenntnistheorie zu entdecken. Man könnte dabei das, was Benjamin unter Ideenkonstellation versteht, auch mit den konturierten intertextuellen »Leuchtturmtexten« sich gegenseitig erschließend ins Gespräch bringen. Benjamin vergleicht das Verhältnis der Phänomene zu den Ideen mit dem Verhältnis der Sterne zu Sternbildern. Es geht also nicht um den platonischen Ideenbegriff, sondern um die Darstellung eines Zusammenhangs zwischen Ereignissen, in dem die Ereignisse nicht degradiert werden oder gar verschwinden, sondern ihre unveräußerliche Wichtigkeit und Bedeutung gewinnen20. Ohne die Ereignisse gäbe es die Ideen nicht, und ohne die Ideen gäbe es nicht die Bedeutung und die Rettung der Ereignisse. Benjamin wendet sich in diesem Zusammenhang gegen deduktive Verfahren: »Das philosophische Gedankenreich entspinnt sich nicht in der ununterbrochenen Linienführung begrifflicher Deduktionen, sondern in einer Beschreibung der Ideenwelt.«21

Derart verbindet sich »die Abkehr vom deduktiven Verfahren mit einem immer weiter ausholenden, immer inbrünstigeren Zurückgreifen auf die Phänomene, die niemals in Gefahr geraten, Gegenstände eines trüben Staunens zu bleiben, solange ihre Darstellung zugleich die der Ideen und darin erst ihr Einzelnes gerettet ist.«22

Gegenüber dem Neukantianismus, der damals zeitgenössischen Philosophie, wertet Benjamin die vergängliche, kontingente und vor allem unterbrechende Erfahrung erkenntnistheoretisch auf23. Solche Erfahrungen vermitteln eine Wahrheit, 20 Vgl. W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1972, 16ff. 21 Ebd. 26. 22 Ebd. 29. 23 Vgl. A. Deuber-Mankowsky, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen, Berlin 1999.

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»die über die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis hinausgeht, aber das heißt nicht, dass sie in Unbegründbarkeit mündet, sondern an die Grenzen der Begründbarkeit führt.«24

So gilt für Benjamin, »dass philosophische Theorie die Spannungen aushalten muss gegenüber dem, was sie nicht ist.«25

Eine solche »philosophische Geschichte« ist für Benjamin zugleich die »Wissenschaft vom Ursprung«. Während der Historismus mit seinem Containerbegriff der Zeit das Kontinuum der vergangenen Ereignisse addiert, steht der Ursprung in der Geschichte quer, und wie der Strudel im Fluss, senkrecht zur Fließrichtung. »Was in den Strudel des Ursprungs hineingerät, wird festgehalten und so aus dem Fluss herausgezogen. Wie der Strudel unter der Wasseroberfläche verborgen liegt, zeigt das tatsächliche Leben im ›Fluss‹ nicht das Ursprüngliche. Nur wo der Ursprung erkannt wird, kann das Phänomen gerettet werden.«26

Die Phänomene haben also ein »Ursprungssiegel« und sind darin mit nahen oder auch weit entlegenen Ereignissen mit ähnlichem Ursprungssiegel verbunden. Man kann auch das Bild von weit auseinanderliegenden Brunnen bemühen, die an ihrem tiefsten Grund mit dem gleichen Grundwasser verbunden sind. Eine Wissenschaft, die sich selbst und der Geschichte nicht auf diesen Grund geht, bleibt an der Oberflächenkontinuität der Ereignisse, eine Masse von Fakten aufbietend, »um die homogene und leere Zeit auszufüllen«27. Wenn nach Hannah Arendt Walter Benjamin einem »Perlentaucher« gleicht, der auf dem »Meeresgrund des Vergangenem« Fragmente aus den Korallen bricht, um sie ans Tageslicht zu heben, dann ist dieser Sammler zugleich einer, der den Zusammenhang zerstört, »indem sein Gegenstand einmal nur Teil eines größeren lebendigen Ganzen gewesen ist.«28 Die Fragmente sind also kostbar, sie haben die Aura von Perlen, eine unbestimmbare Kraft, die in ihnen wohnt, getragen vom Verlust 24 J. Früchtel, Der Engel der Wirkungsgeschichte, in: Die Zeit (18.02.2000). 25 Ebd. Zu ähnlichen Überlegungen in der philosophischen Mythosdiskussion vgl. Fuchs, Praktische Hermeneutik, 203–264. 26 M.-J. Schuster, »Leidensgeschichte der Welt« und »Tradition der Unterdrückten«. Sinn und Bedeutung zweier Grundbegriffe Walter Benjamins für die Erkenntnis von Geschichte, Diplomarbeit Würzburg 1980, 17–18. 27 Benjamin, Geschichte 702, These XVII. 28 H. Arendt, Walter Benjamin, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, München/ Zürich 21989, 185–242, hier 229 und 207.

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der ursprünglichen Herkunft, aber auch getragen von einer Substanz, die gerade im Fragment das Zerbrochene als Vision, als Traum, als Fiktion repräsentiert, wofür die neuen Konstellationen dieser »Perlen« sich zu dienen bereit machen. 5.

Inhaltliche Konturierung

Bei Benjamin verbietet es sich, eine solche Art von Erkenntnistheorie nur als eine formale zu verstehen. Als solche wäre sie für beliebige Gründe und Abgründe offen, auch für den Abgrund des Bösen, der Unterdrückung und der Gewalt. Denn Benjamin verschweißt dieses Gegenden-Fluss-Stehen des Strudels mit einem ganz bestimmten Verständnis des Kontinuums, nämlich des Kontinuums des Sieger über die Besiegten, der Reichen über die Armen, der Barberei über die Gerechtigkeit. So wird die Unterbrechung des Kontinuums zugleich zu einer Unterbrechung der Siegergeschichte und des durch sie betriebenen Konformismus. Es geht nicht um irgendein Gegen-den-Strich-Bürsten der Geschichte, sondern um ein ganz bestimmtes Gegen-den-Strich-Bürsten jener Geschichte, die Opfer schafft und Opfer vergisst. Gegen diesen übermächtigen Feind beschwört Benjamin die schwache messianische Kraft gegen das Unabgegoltene zugunsten aller Leben, die nichts gegolten haben29. Diese Bereiche des Vermissten und Ausstehenden sind mit kontinuierlichen Kausalketten weder im syllogistischen noch im historistischen Denken entdeckbar. Deren Kontinuität lebt vielmehr davon, das alles zu verdrängen, zu vergessen und in den Weg der Geschichte einzustampfen: durch Verschweigen, durch selektives Erinnern, durch Verschleierung, durch Verharmlosung (wenn der Hungertod von Millionen als »Ernährungskrise« diskutiert wird), durch Herabsetzung und Verhärtung. »Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun Verstummten? Haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann steht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem.«30 29 30

Vgl. Benjamin, Geschichte 693–694, These II. Ebd. 693–694, These II.

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Dies geschieht nicht mit dem Blick auf Resignation, sondern mit dem Blick auf Hoffnung, auch wenn sie nur als ein Funken erscheint: »Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.«31

» Dieser Sieg wird noch mit dem sattesten Selbstbewusstsein in seiner Begründung vertreten, allerdings mit einem Verhältnis zur Tradition, das diese nur als Kontinuitätsprogramm in die Gegenwart hinein aufzufassen vermag: Die römisch-katholische Kirche hat die Frauenordination schon immer verboten, und deshalb muss sie dies auch weiterhin tun! Derart wird tatsächlich der Ausnahmezustand zur Regel32. Benjamin sieht diese Gefahr, die dem Bestand der Tradition genauso droht wie ihren Empfängern, nämlich »sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von Neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrists.«33

Wenn die Idee nicht durch Deduktion gewonnen werden kann, sondern nur als eine jenseits dieser Prozedur sich ereignende Konstellation der Phänomene, stellt sich die Frage, wo und wie sich dieser Zusammenhang am ursprünglichsten erschließt. In seiner erkenntniskritischen Vorrede im Trauerspielbuch klärt Benjamin diese Frage: »Die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, so lange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist.«34

Erkenntnisform und Erkenntnisinhalt bilden so eine Einheit: In der Unterbrechung der Kontinuität, wie sie in Grenzerfahrungen geschieht, ist zugleich die Kontinuität der Unterdrückung unterbrochen. Hier wird deutlich genug: »Das Allgemeine ist nichts Durchschnittliches, sondern die Idee, deren Darstellung erst im Gang durch die Extreme gelingt.«35 31 Ebd. 695, These VI. Vgl. O. Fuchs, »Ihr aber seid ein priesterliches Volk«. Ein pastoraltheologischer Zwischenruf zu Firmung und Ordination, Ostfildern 2017, 205– 216. 32 Vgl. Benjamin, Geschichte 697, These VIII. 33 Ebd. 695, These VI. 34 Benjamin, Trauerspiel 31. 35 Schuster, Leidensgeschichte 16; vgl. Benjamin, Trauerspiel 16.

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Oder anders: »Ursprung ist dort, wo das geschichtliche Phänomen in die Konfiguration seiner Elemente gerettet wird.«36 Dietrich Bonhoeffer benennt eine solch elementare Erfahrung, wenn er aus der Haft schreibt: »Anfangs beunruhigte mich auch die Frage, ob es wirklich die Sache Christi sei, um derentwillen ich Euch allen solchen Kummer zufüge. Aber bald schlug ich mir diese Frage als Anfechtung aus dem Kopf und wurde gewiss, dass gerade das Durchstehen eines solchen Grenzfalles mit all seiner Problematik mein Auftrag sei und wurde darüber ganz froh und bin es bis heute geblieben.«37

Zwar wird man nicht jedes Kontinuum allein aufgrund seiner formalen Kontinuität zu verdächtigen haben. Es gibt auch »gute« und zu stützende Kontinuitäten von Strukturen und Gewohnheiten, von gegenseitiger Sicherheit und Zuverlässigkeit.38 Doch darf man die Gefahr nicht unterschätzen, dass sie in ihrem überindividuellen Ordnungsdrang über die Individuen hinweggehen und deren Begrenzungen nicht in die Bestimmung ihrer (dann eben auch nur bruchstückhaften) »Kontinuität« aufnehmen (können). Das Kontinuum könnte dann nicht mehr störungsfrei, sondern mit Sand im Getriebe »funktionieren«. Zudem geht es bei der Erkenntnis im Extremfall gerade darum, entweder die die Einzelphänomene achtende und aufbauende Wirkung eines Kontinuums zu enthüllen oder dessen das Einzelne instrumentalisierende und zerstörende Realität zu demaskieren. An der Bruchgrenze zwischen Einzelnem und Kontinuum blitzt ihr tatsächliches gegenseitiges Verhältnis auf. Das Moselied und ähnlich gelagerte Texte markieren solche Bruchstellen. Erkennen ist damit nicht primär die empirische additive Anreicherung der quantitativ häufigsten oder qualitativ herrschenden normalen Phänomene, sondern steigt in die »Strudel« der Einzelphänomene hinunter samt deren Ursprung ihrer Gebrochenheit und Unverlierbarkeit: also bis an die Wurzeln unmittelbarer und doch vermittlungsnotwendiger Evidenz.39 Was ich oben als Leuchtturmtext bezeichnet habe, kann 36 G. Kurz, Benjamin: kritischer gelesen, in: Philosophische Rundschau 23 (1976), 161–190, hier 179. 37 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1970, 147 (Hervorhebung durch den Autor); zum »Grenzfall« vgl. auch E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologie – Christ – Zeitgenosse, München 61986, 889–896. 38 Vgl. dazu C. Lienkamp, Theologie des Gesetzes aus dem Kontext des jüdischchristlichen Gesprächs, in: R. Bucher / R. Krockauer (Hg.), Macht und Gnade, Münster 2005, 61–71. 39 Hier kann man gut den Abduktionsdiskurs anschließen; vgl. C. Bauer, Ortswechsel der Theologie, Bd. 1, Wien 2010, 814ff; O. Fuchs, Ohne Wandel keine inhaltliche

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mit seiner Erinnerung an die Extremerfahrung der Unterdrückung und des Exodus als solcher Strudel aufgefasst werden. Auch das damit verbundene Ritual kann pastoralliturgisch als Feier dieser Unterbrechung erlebt werden, wie im Herrenmahl in der Erinnerung der Unterbrechung des Lebens durch den Tod und des Todes durch das Leben.40 Wie der Strudel im Fluss senkrecht, also quer zu dessen kontinuierlicher Flussrichtung steht (die unerbittlich über alles hinweggeht), so zeigt sich das wirkliche Leben dort, wo es in den Strudel gerät, der bis an dessen Ursprungstiefe gelangt. Damit ist das Phänomen gerettet und wird gleichzeitig zur exquisiten Wahrnehmungsquelle dafür, was unter und auf der Flussoberfläche tatsächlich »abläuft«41. Dabei geht es nicht um die Wahrnehmung möglichst vieler solcher Phänomene (wofür allein schon die Energie und Potenz kaum ausreichen), sondern man kann sich getrost, indem man die Quantität durch die »Extremheitsqualität« reduziert, dem Phänomen zuwenden, denn in solcher Zuwendung auf das Bruchstück öffnet sich das Fenster in das All der dahinterliegenden Gebrochenheitszusammenhänge. Die Qualität der Erkenntnis bezieht sich auf das Phänomen, indem es umso mehr Einblick bringt, als es »extrem« ist, wie auch auf die Einsichtsweise, indem es in die Tiefe des Torsos und seiner Geschichte einsteigt. Wenn Benjamin vom Messias, vom Jüngsten Tag, von der Umkehr und von der Erlösung spricht, dann bewegt er sich darin im Fluidum der jüdischen Tradition, ohne diese Tradition als religiöses Kontinuitätsprogramm misszuverstehen. »Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.«42

Mit entsprechendem Blick auf die erste Geschichtsthese43 sieht Benjamin die Theologie, solange sie nur ihr eigenes Sprachspiel betreibt, als hässlich und klein an. Gleichwohl ist das, was sie inhaltlich vertritt, genau die Kraft, die vom Hintergrund her das Denkspiel Benjamins lenkt. Doch dieses »Spiel« ereignet sich im atheologischen Bereich des »historiKontinuität – weder in der Pastoral noch in der Pastoraltheologie, in: Theologie und Glaube 100 (2010) 3, 288–306. 40 Vgl. Ralf Miggelbrink, Essen als Realsymbol der Fülle, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 162 (2014) 2, 115–122. 41 Vgl. L. Wiesenthal, Zur Wissenschaftstheorie Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1973, 13: »Im Extremphänomen sind so in einem Einzelfall Besonderes und Allgemeines synthetisiert.« 42 W. Benjamin, Materialien, in: ders., Gesammelte Schriften I, 1223–1266, hier 1235. 43 Vgl. Benjamin, Geschichte 693.

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schen Materialismus«, wie ihn Benjamin als Eingedenken in der Jetztzeit entfaltet. Hier denke ich übrigens an eine ähnliche Vorstellung von Dorothee Sölle, die unter »Realisation« jenen Vorgang versteht, in dem weltlich realisiert wird, »was die überlieferte religiöse Sprache verschlüsselt aussprach. Realisation ist die weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion ›gegeben‹ oder versprochen ist.«44

Sie kommt nur dann zur Bedeutung, wenn sie sich in das jeweils andere ihrer Selbst hineinbegibt und darin verausgabt45. 6.

Zwischen Kanon und vorgängiger bzw. nachgängiger Rezeption

Wir haben also, wenn man so will, zwei Arten von Senkrecht- oder Leuchtturmtexten, einmal die im Textkanon selbst inszenierten, von denen eben die Rede war, zum anderen aber dürfen auch die alten mit der historisch-kritischen Methode zur eruierenden Textschichten nicht vergessen werden, die ebenfalls Unterbrechungscharakter im Sinne Benjamins haben können. Welche theologische Bedeutung hat nicht nur der kanonische Endtext, sondern auch die Textfassungen, die dem jetzigen Endtext zuvorliegen und die mit der historisch-kritischen Methode rekonstruiert werden können? Gibt es möglicherweise unterhalb des kanonischen Textes darunterliegende kanonische Texte in unterschiedlichen synchronen Zeiten? Oder vertritt die kanonische Lektüre eine Art Fortschrittsideologie oder zumindest Fortschrittsvorstellung des Endtextes gegenüber zuvorliegenden »Endtexten«? Was dann zur Folge hätte, dass auch die Folgerezeptionen dem Endtext gegenüber minder wertig wären. Für die praktische Theologie wäre diese Hierarchisierung ein hermeneutisches und soziales Problem. Wenn die historisch-kritische Arbeit nur dafür benötigt wird, welche denotative und konnotative Bedeutung ein Wort oder eine Wendung in der damaligen Zeit (der kanonischen Abfassung) hatte, verkümmert sie zum Bedeutungslieferanten für die Lexeme (was z.B. unter Krieger in der damaligen Zeit zu verstehen ist, eben kein Landsknecht oder Soldat 44 D. Sölle, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt/Neuwied 1973, 29; vgl. auch Fuchs, Praktische Hermeneutik 124–136. 45 Vgl. H.-J. Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, Freiburg i.Br. 2005, 581–886; C. Bauer, Transgressionen der Moderne. Grenze und Horizont einer Theologie nach Gottes und des Menschen Tod, in: ders. / M. Hölzl (Hg.), Gottes und des Menschen Tod?, Mainz 2003, 19–47.

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aus dem 17. bzw. 20. Jahrhundert), ohne darüber hinaus in der Rekonstruktion der syntagmatischen Bedeutung der im bzw. dem Text vorliegenden Texte bzw. Traditionen noch eine Bedeutung zu gewinnen. Das Faszinierende an der historisch-kritischen Exegese ist, dass sie in ihrer Schichtenre- und -präparierung die Möglichkeit erschließt, die entsprechende Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Gegenwart (oft genug als Widerspruchshermeneutik) in den Texten selbst zu analysieren. Mit der kanonischen Lektüre erleben wir einen Pendelausschlag, der den Bewertungsdiskurs, der nicht selten mit der historisch-kritischen Exegese verbunden war, nun auf den Kopf stellt: nämlich die früheren Schichten und Textfassungen »kanonisch« ursprünglicher und ernster zu nehmen als die späteren. Dafür stehen z.B. die Bemühungen um die »ipsissima vox« des »historischen« Jesus wie die Forschungsbemühungen um die Rekonstruktion eines Q-Textes. Nicht selten mit dem Beigeschmack, dass es sich bei späteren Fassungen und vor allem im redaktionsgeschichtlichen Bereich um einen Abfall vom Ursprünglich-Wesentlichen handele46. Ich denke, dass beide extremen Sichtweisen (die ausschließliche Kanonizität des Endtextes bzw. die Verfallstheorie hinsichtlich der redaktionellen Texte) zu korrigieren sind47. Die Bibel ist selbst das Ergebnis einer komplizierten jahrhundertelangen Rezeptionsgeschichte48. Zunächst bin ich versucht, auch die Vorstufen in gewissem Sinn als kanonisch zu charakterisieren, wenn ich unter kanonisch verstehe, dass eine Rezeptionsgemeinschaft einem bestimmten Text eine normative Qualität in Bezug auf die eigene Identitätsbildung zuweist. Dieser Vorgang ist der gleiche wie der der Endkanonisierung. Es ist immer eine Rezeptionsgemeinschaft, die eine gewisse historische Schicht als ihren kanonischen Text wahrnimmt Auch die Vorstufen haben also Anteil an der Qualität des Kanonisierungsvorganges, wenn auch nicht in dieser elaborierten Weise wie der Endtext des biblischen Buches. Der Unterschied liegt allerdings tatsächlich darin, dass wir jeweils nur einen von der historisch-kritischen Forschung rekonstruierten und insofern keinen gesicherten Text haben. Auch, dass solche Rezeptionen zeit46 Vgl. P. Hoffmann, Zur Problematik der christologischen Karriere des Jesus von Nazareth, in: ders., Studien zur Frühgeschichte der Jesus-Bewegung, Stuttgart 1994, 257– 272. 47 In der historisch-kritischen Exegese gab es so etwas wie eine kleine Wende zum synchronen Text, nämlich als man Spannungen nicht zuerst als historische Brüche ansah, sondern eher davon ausging, dass sie zum semantischen Repertoire des Textes selber gehören. Ein einschlägiges Beispiel ist die Widerlegung der alten These, dass der dritte Teil, der Lobteil von Ps 22, doch wohl nicht zum ursprünglichen Klagetext dazugehören könne, sondern sekundär angefügt wurde; vgl. O. Fuchs, Die Klage als Gebet. Eine theologische Besinnung am Beispiel des Psalms 22, München 1982, 278–302. 48 Vgl. I. Fischer, Forschungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte in nuce, in: Ch.M. Maier (Hg.), Congress Volume Munich 2013, Leiden/Boston 2014, 182–216.

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lich flüchtiger und lokal begrenzter sind. Der entscheidende Unterschied liegt indes darin, dass der biblische Endtext nicht mehr verändert werden darf und als solcher zur Neuauslegung weitergegeben wird. Um nicht mit der Kanonizität des Bibeltextes ins Gehege zu kommen, um aber doch der Rezeptionsarbeit eine eigene, das Verhältnis von Kanontext und Rezeption enthierarchisierende normgebende Qualität zu gönnen, schlage ich vor, aufgrund dieser Vergleichbarkeit im Vorgang, nämlich für eine bestimmte Rezeptionsgemeinschaft normative Qualität zu haben, von vorkanonischen bzw. sekundärkanonischen Texten zu sprechen. Der Begriff vorkanonisch ist jedoch insofern missverständlich, als dieses »vor« exklusiv verstanden werden könnte, womit diese vorkanonischen Texte also keine kanonischen Texte seien. Ich würde das »vor« eher inklusiv verstehen, insofern es sich in beiden Fällen um kanonische Prozesse handelt, dass aber erst der jetzt verfügbare kanonische Endtext eine für die jeweilige Gegenwart biblisch basierter Rezeptionsgemeinschaften und Glaubensgemeinschaften ausschlaggebende kanonische Qualität hat. Analoges kann nun auch in die andere zeitliche Richtung gedacht werden: Wie es vorkanonische Texte gibt, gibt es auch nachkanonische Texte, nämlich die kollektiven Rezeptionsprodukte hinsichtlich des kanonischen Textes. Reicht die eine Zeitschiene in die Vergangenheit, so reicht die andere in die Gegenwart und die jeweilige Zukunft. Denn auch bei den Rezeptionsprodukten handelt es sich um die Versuche, die Normativität des kanonischen Textes in neuer Form, in neuen Sprachen, in neuen Ideen und Kontexten zu formulieren oder (in den entsprechenden Medien) darzustellen und dabei die kanonische Gestalt weitgehend hinter sich zu lassen49. Auch hier ist der Vorgang ein analog kanonischer, insofern eine bestimmte gemeindliche Rezeption in ihrer Zeit eine aktuelle Bedeutung gewinnt, die Identität und Handeln zu motivieren vermag. So kommen wir von der Vorgeschichte zum Endtext und vom Endtext zur Nachgeschichte bis in die Gegenwart und Zukunft hinein50. Im jüdischen Bereich handelt es sich bei Letzterem um die Halacha, die, obgleich sie selbst nicht der Kanon der Tora ist, mit einer ähnlich bindenden Wichtigkeit aufgeladen ist51. Und die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums bindet die Offenbarung Gottes strikt an die Erfahrung der biblischen AutorInnen und an die Art und Weise, wie sie überkomme Traditionen mit ihren Erfahrungen verbinden52. Tradi49 Vgl. ebd. 199ff. 50 Vgl. ebd. 204ff. 51 Vgl. K. Müller, Anmerkungen zum Verhältnis von Tora und Halacha im Frühjudentum, in: E. Zenger (Hg.), Die Tora als Kanon für Juden und Christen, Freiburg i.Br. 1995, 287–291. 52 Vgl. Konzilskonstitution über die göttliche Offenbarung, Nr. 11.

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tion und Rezeptionsgemeinschaft bedingen sich gleich wichtig gegenseitig, in der Schrift und auch für die Zukunft. Offenbarung ist immer schon, auch innerbiblisch, die Verbindung von Text und Rezeption, von Schrift und Pastoral, in entsprechender Freiheit und Verbindlichkeit. Ohne pastorales Interesse gäbe es keine Schrift53. Was heißt es nun, wenn Irmtraud Fischer schreibt, dass den vorgeschichtlichen und nachgeschichtlichen Rezeptionstexten »in der Regel keine so hohe Dignität zuerkannt wird wie kanonisierten Texten«54? Und: »Die Kanonisierung gibt den rezipierten Texten ›nur‹ einen höheren Stellenwert als allen anderen.« Jedenfalls liegt der Unterschied nicht in der Tatsache, dass all diese Rezeptionen, vorkanonisch oder kanonisch oder nachkanonisch, Interpretationsgemeinschaften zu verdanken sind, jedenfalls scheint der Unterschied dann ausschließlich darin zu bestehen, dass für alle Zukunft ein abgegrenzter Text da ist, der literarisch nicht verändert werden darf. Der Unterschied liegt also nicht im Vorgang, sondern in der Autorität des unversehrten Textes. Hier zeigt sich ein gewisses hierarchisches Element in der Struktur dieser Hermeneutik selbst, bis hinein in die sozialen hierarchischen Strukturen insbesondere der katholischen Kirche. Aber dies gilt auch mehr oder weniger und in anderen Formen für die Kirchen überhaupt, weil sie alle davon leben, die Vorgabe des Evangeliums nicht hemmungslos demokratischen oder oligarchischen Prozessen zu überantworten. Allerdings knirscht diese Vorstellung offenbarungstheologisch mit jener Konzeption, dass das Verhältnis zwischen inspirierten Text und inspirierter Lesegemeinschaft ein gleichstufig reziprokes sei. Aber man muss die Vorgegebenheit eines fixierten Textes gar nicht als unreziprok auffassen, denn entscheidend bleibt immer, wie man mit dieser Vorgabe umgeht: mit einem Respekt, der die Freiheit ermöglicht, oder mit einer Unterwerfung des Textes oder einer Selbstunterwerfung dem Text gegenüber. Die Dignität des Kanons besteht in der Sorge um die Ernstnahme und Tradierung seiner unversehrten Abgeschlossenheit. Letztere ist aber kein Freibrief für einen inhaltlichen Prioritätenvorsprung des Kanons gegenüber der Rezeption. Sie setzt allerdings fest, auf welchen Corpus sich die Freiheit verbindlich zu beziehen hat, die Freiheit, neue Texte zu verfassen, die für diese Rezeption (für andere Rezeptionen nur wenn sie es wollen) genauso wichtig sind wie der Kanon, auch die Freiheit, andere historische Schichten ebenfalls in die eigene Wichtigkeit aufzunehmen. Was aber bei allen Rezeptionen möglich ist, nämlich unliebige Texte oder Passagen zu streichen, ist beim Kanon nicht möglich. Dies impliziert bei der Widersprüchlichkeit und Ambivalenz biblischer Texte 53 54

Vgl. J. Kügler, Exegese zwischen Religionsgeschichte und Pastoral, Stuttgart 2017. Fischer, Forschungsgeschichte 207.

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eine in sich plurale und differenzierte Hermeneutik. Denn wenn ich z.B. die je gnadenreicheren Texte optional rezipieren will, muss ich andere ablehnen. Die Vorgegebenheit des Kanons heißt also nicht, dass man zu allen Texten Ja sagen muss, sondern dass etliche Texte abzulehnen sind55. Gewalttexte sind in der Bibel genauso wichtig wie die anderen, aber aus der Perspektive der anderen verlieren sie gründlich ihre Nachahmungsbedeutung und gewinnen die Bedeutung des Erschreckens, auch vor unseren eigenen Untiefen. Damit verbunden ist die inhaltliche Grundfrage: Wann handelt es sich um die richtige, wann um die falsche Rezeption56? Ist alles möglich oder kommt es zu Korrektiven, auch zu gegenseitigen, zum Korrektiv von Seiten des kanonischen Textes gegenüber künftigen Auslegungstexten oder von Seiten gegenwärtiger humanisierender Auslegung gegenüber dem kanonischen Text, womöglich mit gleichzeitigen Rückgriffen auf mögliche historische Vorstufen, also vorkanonische Texte, die indirekt mit dem biblischen Text und den entsprechenden Untersuchungen gegeben sind? So dass es vielleicht einen Schulterschluss gibt zwischen »älteren« Schichten und gegenwärtigen Optionen gegenüber bestimmten Passagen im Endtext57. Die in der Schwebe zwischen endtextlicher Vorgabe und kritisch-kreativer Rezeption hängende Spannung kommt derart in durchaus produktiver Weise zum Vorschein. Wir haben jedenfalls, analysierbar durch die historisch-kritische Methode auf der einen und durch die intertextuelle Methode auf der anderen Seite, eine zweifache Erschließung der »Pastoral« in biblischen Texten: Mit der historisch-kritischen Methode erschließt sich die jeweilige Rezeption und damit Pastoral gegenüber vorgängigen Schichten bzw. Narrativen. Bei der intertextuellen kanonischen Lektüre erschließt sich die damalige Gegenwartsbedeutung der Narrative und der anderen Erinnerungen in den angesprochenen »Leuchtturmtexten«. In dieser doppelten exegetischen Analyse kommt das Verhältnis von Rezeption und Überbrachtem in das wissenschaftlich reflektierte Bewusstsein und ermöglicht einen doppelten Distanzierungseffekt für die je jetzige Textrezeption58. 55 Vgl. Fuchs, Praktische Hermeneutik 453–454. 56 Vgl. Fischer, Forschungsgeschichte 201. 57 So vielleicht die implizite Hermeneutik des Q-Projektes unter Führung von Paul Hoffmann im Horizont einer christologischen Dekadenztheorie vgl. O. Fuchs, Christologische Karriere als Kehre in der Theodizee. Pastoraltheologische Aspekte, in: R. Hoppe / U. Busse (Hg.), Vom Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS Paul Hoffmann) Berlin 1998, 571–613. Zum Projekt selbst vgl. Ch. Heil, Die ältesten Berichte über Jesus von Nazareth, in: Forschungsforum 1996, Heft 8 (Gott zur Sprache bringen), Bamberg 1996 (Berichte aus der Otto-Friedrich-Universität Bamberg), 23–31. 58 Zur ethischen Funktion wissenschaftlicher Exegese für die Kommunikation zwischen Text und Gegenwart vgl. Fuchs, Praktische Hermeneutik, 110–123.

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Am Beispiel von Bibelübersetzungen

Nicht nur Schichten sind in ihren Forschungswellen beweglich, sondern auch, in begrenzter Weise, die Übersetzungen des kanonischen Textes59. Denn jede Übersetzung bringt nicht nur die »Erfahrungen« des Quelltextes, sondern immer auch die Erfahrungsformen der eigenen Sprache und Kultur in die Übersetzung mit ein. Was bereits innerhalb der Bibel begegnet, nämlich dass die Texte zwischen den historischen Schichten, also die bibelinternen Traditionsrezeptionen und »Übersetzungen« zueinander plural und auch widersprüchlich sind, spiegelt sich auch in den Verhältnissen der Übersetzungen zueinander. Das jeweilige relative Anderssein konstituiert in beiden Fällen kein Offenbarungsdefizit, sondern ist ein integraler Bestandteil der ereignis- und begegnungsbasierten Offenbarungszeugnisse selbst. Folglich gibt es in den christlichen Kirchen keine Anzeichen, eine übersetzte Bibel theologisch weniger wichtig zu nehmen als den Urtext. Kirchlich approbierte Übersetzungen haben nicht selten sogar eine kontroverstheologisch wirksame »lehramtliche« Qualität für die jeweiligen Glaubensgemeinschaften: wie etwa die Vulgata für die römisch-katholische Kirche und die Lutherübersetzung für die evangelischen Kirchen. Auch kanonisch gesehen ist es konsequent, die Übersetzungen für inspiriert anzusehen, weil der kanonische Text als jener Text definiert wird, der von einer sprachlich und inhaltlich normierenden Lesegemeinschaft als literarisch abgeschlossen und für verbindlich erachtet wurde. Die älteste »kanonische« Übersetzung, das Septuagintaprojekt, zeigt, dass dies oft enorme semantische Verschiebungen bringt, vor allem, wenn man bedenkt, wie die Septuaginta den hebräischen Text umgestaltet, zuweilen entschärft und hellenistischer Anthropologie, dem entsprechenden Sprach- und Lebensgefühl, auch manchen Einstellungen der griechisch sprechenden Lesegemeinschaft Israels und seiner Umwelt anpasst, wie etwa das Gewaltsame im Gottesbild abzumildern. Das Septuagintaprojekt zeigt mit seiner ätiologischen Rechtfertigungserzählung, dass auch die Übersetzungen als authentisch, also als inspiriert anzusehen sind60, genauso, ähnlich oder analog zum Quelltext61. 59 Vgl. O. Fuchs, Die pragmatische Relevanz semantischer Beweglichkeit von Bibelübersetzungen, in: W. Groß (Hg.), Bibelübersetzung heute. Geschichtliche Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen. Stuttgarter Symposion 2000, Stuttgart 2002, 235–264; ders., Bibelübersetzungen als »Unruheherd«. Eine pastorale Chance, in: Bibel und Kirche 69 (2014) 1, 45–51. 60 Etwa im Gegensatz zum Koran, der nur in seiner arabischen Sprache als inspiriert gilt. 61 Allerdings wird man darauf bestehen dürfen, dass alle Übersetzungen hinsichtlich des Originalursprungstextes getätigt werden und dass es nicht Übersetzungen von Übersetzungen gibt.

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Inkulturationstheologisch bedeutet dies sehr viel: nämlich bereits in der Übersetzung die interkulturelle Begegnung zwischen zwei Welten zu gestalten, einer vergangenen und andersortigen zu der jeweils jetzigen an ihrem Ort62. Mit einem Benjamin’schen großen zeitlichen, aber vielleicht inhaltlich und methodisch gar nicht so abwegigen Sprung landen wir damit bei der Übersetzung in gerechter Sprache, wo eine bestimmte Glaubensund Lektüregemeinschaft den Ausgangstext im Horizont bestimmter kontextuell abhängiger Optionen und Korrekturen der entsprechenden Kritik und Veränderung unterzieht. Das Projekt der »Bibel in gerechter Sprache«63 ist der Versuch, zu verhindern, dass ganz bestimmte biblische Texte und Sprechweisen als ungerechtigkeitsbestätigend, antisemitisch und frauenfeindlich gelesen werden können. Diese drei Optionen finden ihre Autorität in außerbiblischen Erinnerungen und Erfahrungen, die für viele Menschen in ihrer Autorität genauso unhintergehbar sind wie etwa die Unhintergehbarkeit der Heiligen Schrift: der Holocaust, die Ungerechtigkeits- und Unterwerfungserfahrungen der Frauen und der immer tiefer werdende Riss, lokal wie global gesehen, zwischen Arm und Reich. Man mag sich darüber streiten, ob die Verschmelzung dieser drei »fremden theologischen Orte« (»loci alieni«, die biblisch gesehen so fremd nicht sind) mit dem Übersetzungsprozess selbst nicht die Autorität der Schrift in ihrer semantischen Vor-Gegebenheit (entsprechende »wortgetreue« Übersetzungen stehen aber ohnehin zum Vergleich zur Verfügung) unterminiert. Auf der anderen Seite ist der darin zum Vorschein kommende inhaltliche Horizont, der biblische Texte und Gegenwart verbindet, die Manifestation einer »praktischen Hermeneutik«64, die meist auch die Handschrift wissenschaftlicher Exegesen führt65, oft ohne dass dies im wissenschaftlichen Vorgang selbst reflektiert wird. Genau Letzteres tun die Autoren und Autorinnen der »Bibel in gerechter Sprache«, womit sie ihre inhaltlichen Voraussetzungen auf das Niveau wissenschaftlichen Bewusstseins heben. Von daher ergibt sich eine selbstkritische Schau der exegetischen ExpertInnen, die ihre metho62 Vgl. dazu die Ausführungen zur Inkulturation in: Fuchs, Praktische Bibelhermeneutik 321–356. 63 Vgl. U. Bail u.a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006; R. Fehling, Wie die »Bibel in gerechter Sprache« unsere männlichen Gottesreden zerschlägt – Zu Recht? Und mit den richtigen Methoden?, in: M.E. Aigner / J. Pock (Hg.), Geschlecht quergedacht, Berlin 2009, 83–100. 64 Vgl. Fuchs, Praktische Hermeneutik 26–30. 65 Vgl. S.A. Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirisch-exegetische Studie auf der Basis von Joh 11,1–46, Berlin 2009, 171–320; R. Fehling, »Jesus ist für unsere Sünden gestorben«. Eine praktisch-theologische Hermeneutik, Stuttgart 2010, 123–128.394–395.

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disch durch präzise Fachkompetenzen nicht einholbaren Vorgaben und Optionen als wissenschaftliche Ergebnisse ausgeben und verschleiern. Dies jeweils zuzugeben ist kein Verlust an Wissenschaftlichkeit, sondern ein Gewinn an methodischer Reflexion. Die oben beschriebenen Senkrechttexte können mit all jenen Korrekturen ins Gespräch gebracht werden, die in der Übersetzung in gerechter Sprache vollzogen sind: etwa wenn maskuline Dominanzen in der Semantik in gerechtere Semanteme transformiert werden. Hier handelt es sich dann, wenn auch nur auf der Wortebene, um neue Senkrechteingaben, quer zum bisherigen Text, und darin um entsprechende pastorale Korrekturen und pastorale Anweisungen. Die Bibel in gerechter Sprache transportiert bereits in den Übersetzungsprozess hinein, was im sozialen Rezeptionsraum der Bibel, nämlich in den Kirchen, in jedem Fall anzugehen ist, nämlich von gegenwärtigen Bedeutungsorten die Bedeutung der Bibel und umgekehrt zu erschließen. Damit ist sie im elementaren Sinn ein kanonischer Text. Dass die Bibel in gerechter Sprache damit zu frühzeitig die theologischen Orte der Gegenwart in die Übersetzung der Bibel einträgt und dass sie dadurch die Freiheit des Kirchenvolkes, mit dem »unfrisierten« Text zurechtzukommen, verkleinert, wird von der einen Seite kritisiert. Auf der anderen Seite ist entgegenzugehalten, dass diese Übersetzung bereits im Text das verhindert, was die Kirche ohnehin verhindern muss, nämlich die Texte gegen die drei genannten Optionen zu gebrauchen. In der Bibelpastoral wird man am besten die Lektüre verschiedener Übersetzungen einbringen. Wird eine Übersetzung von den Lehrinstanzen bzw. der jeweiligen Glaubensgemeinschaft als authentisch erklärt, dann müsste in den Übersetzungen die gleichen exegetischen Operationen möglich sein wie im Herkunftstext. Die kanonische Lektüre würde sich dann auf alle abgeschlossenen Übersetzungstexte der Bibel ausweiten. Die Differenz der Sprache bringt es dabei mit sich, dass Wortanklänge und Syntagmen, die als Signaturen von inhaltlichen Zusammenhängen im Hebräischen bzw. Griechischen gefunden werden, nicht ohne weiteres in der Übersetzung entdeckt und weiterverfolgt werden können. Stattdessen gibt es neue und andere konturierende Zusammenhänge. Dies erfordert eine diachrone und synchrone komparative und darin interkulturelle Exegesewissenschaft der Übersetzungen (nicht zuletzt auch der Wissenschaftssprachen). Ungeklärt ist bislang, welche theologische Qualität diese kanonischen Lektüren haben. Was bedeutet es also, wenn ein inhaltlich assoziativer Grundzug konturierter intertextueller Lektüre, der im Hebräischen funktioniert, im Deutschen dann nicht gelingt? Hat z.B. auch das Deutsche eine eigene im Horizont einer Theologie der Inkulturation zu erörternde theologische Qualität für die Auslegung und Relevanzschöpfung des Textes und damit für die gleiche Prozedur?

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Dies bringt enorme Verschiebungen mit sich. Welches Korrekturund Einspruchsrecht hat dann eine kanonisch orientierte wissenschaftliche exegetische Arbeit, die sich auf den ursprünglich-hebräischen Text konzentriert? Hier müsste der Dialog eröffnet werden mit der Übersetzungswissenschaft, vor allem auch mit dem biblisch akquirierten Übersetzungstheorien und den Erfahrungen mit Übersetzungen in den verschiedenen Kirchen. Dabei sind die unterschiedlichen Ekklesiolekte der Übersetzungen interessant, insofern es darin unterschiedliche sekundäre Kanonisierungen gibt (wie etwa mit der Lutherübersetzung)66. Die Differenz der Sprache spielt schließlich auch eine Rolle in dem Gesamttext der Bibel selbst, nämlich zwischen hebräisch (auch schon griechisch in den griechischen Schriften des Alten Testaments) und dem griechisch geschriebenen Neuen Testament. Wortanklänge und Syntagmen, die als Signaturen von inhaltlichen Zusammenhängen im Hebräischen gefunden werden, können so nicht ohne weiteres ins Neue Testament hinein weiterverfolgt werden. Viele Wort- und Syntagmenassoziationen, die im Hebräischen möglich sind, gehen im Griechischen nicht, dafür gibt es wieder andere. Dies ist bereits eine zwischensprachliche Herausforderung der zwischentestamentlichen kanonischen Exegese, die ja schon im Alten Testament in der Intertextualität zwischen hebräischen und griechischen Texten vorgebildet ist. 8.

Im Horizont des Paschamysteriums

Die inhaltlich bedeutsamen Volks-, Gemeinde-, Kirche- bzw. Rezeptionsgruppenbezüge gibt es nicht nur hinsichtlich des Endtextes, sondern aller zuvorliegenden Schichten und aller nachfolgenden Rezeptionen. Ihre vorgängigen oder nachgängigen, durchaus anderen, ja widersprüchlichen Bedeutungszusammenhänge sind auch dann bedeutsam, wenn sie nicht siegreich waren, wenn sie es nicht in die offiziell erinnerte »Kanonizität« der Rezeptionsgemeinschaften geschafft haben. Darin haben sie auch eine kritische Bedeutung zugunsten jener Rezeptionen des kanonischen Textes, die sich nicht durchgesetzt haben bzw. minoritär geblieben sind, aber für die jeweilig zukünftige Rezeption von Bedeutung sein könnten. Diese Pluralität hat einen ethischen Wert in sich, nämlich Vielfalt zuzulassen und nicht durch Reduktionen zu verkleinern oder auszuschalten. In unaufhebbarer Dialektik dazu besteht die ethische Herausforderung der Pluralität aber dann doch wieder darin, destruktive Singularitäten (Texte) in ihrer Bedeutung abzustufen bzw. in ihrem Wir66 Vgl. J. Gnilka / H.P. Rüger (Hg.), Die Übersetzung der Bibel – Aufgabe der Theologie, Bielefeld 1985; W. Groß (Hg.), Bibelübersetzung heute. Geschichtliche Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen. Stuttgarter Symposion 2000, Stuttgart 2002.

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kungsbereich zu problematisieren67 Asymmetrien können nur durch gegengelagerte Asymmetrien ausgehebelt bzw. um ihre Ambivalenz gebracht werden. So gibt es einmal jene Ethik, Pluralität überhaupt anzuerkennen und zu schätzen; zum anderen allerdings auch jene Ethik, die nicht in diese Pluralität aufnehmen kann, was die Pluralitätsfähigkeit und den Schutz von Vielfalt zerstört. Solches begegnet bereits innerbiblisch nicht zu knapp. So kann es bei der Option für die Vielfalt biblischer Texte nicht um jene »reine Toleranz« gehen, welche die Widersprüche zwischen Unrecht und Recht, Abhängigkeit und Freiheit, Wahrheit und Lüge, Gewaltlosigkeit und Gewalt neutralisiert. Was Herbert Marcuse zur Zeit der Studentenrevolte an befreiendem Toleranzbegriff (Denkfreiheit, Rationalität, Wahrheit, Humanität, Individualität) entwirft, verabschiedet er allerdings in dem Augenblick (und das ist der Normalfall), in dem sich diese Toleranz geschichtlich durchsetzen müsste, es aber nicht kann. Jene nicht-egalitäre, sondern inhaltlich verantwortete Toleranz wird praktisch obsolet, insofern ihr keine geschichtliche Wirkungskraft zugestanden wird: »aber seit wann wird Geschichte nach ethischen Maßstäben gemacht?«68 Dies gilt auch für etliche Geschichten der Bibel. Wo gewaltriskierende Intoleranz der Intoleranz gegenüber notwendig wird, ist zwar auch dann die ethische Beurteilung klar: »Ethisch gesehen: beide Formen der Gewalt (sc. der reaktionären und der revolutionären) sind unmenschlich und von Übel …«69 Doch kann Marcuse angesichts der geschichtlichen Erfahrung nicht anders, als dieses ethische Verdikt im revolutionären Ernstfall der Geschichte resignativ zu beurlauben. Man kann sich nicht damit zufrieden geben, an die Freiwilligkeit der Unterdrücker zu appellieren und von ihren Entscheidungen abhängig zu bleiben. Im äußersten Konfliktfall steht dann die Entscheidung an, das Dasein der Täter zu schädigen oder zu beseitigen, damit sie ihr Sosein nicht mehr ausführen können. Dies wirft jene immer wieder zu verantwortende Frage nach der politisch notwendigen Gewalt auf, um die Gefährdeten zu schützen. Die Angst vor der Hilflosigkeit70 sucht verständlicherweise nach Wegen, die Menschen zum Guten zu zwingen. Diese Suche hat ihren Grund in der Weigerung, ohnmächtig zu sein oder ohnmächtig zu werden. Eine Menschenachtung dagegen, die sich auch im Kampf gegen die Menschenverachtung durchträgt und keine anderen Mittel beansprucht 67 Vgl. Fuchs, Praktische Bibelhermeneutik 155–202. 68 H. Marcuse, Repressive Toleranz, in: R.P. Wolff / B. Moore / H. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a.M. 1966, 93–128, hier 114. 69 Ebd. 114. 70 Ein beklemmendes Zeugnis von Hilflosigkeit angesichts brutaler Gewalt bringt J.M. Cortzee in dem Roman »Schande«, Frankfurt a.M. 2000.

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als die ihrer eigenen Identität, ist biblisch mit dem jesajanischen und jesuanischen Gottesknecht gegeben71. Diese sind als innerbiblische Kritik gegenüber anderen Gewalttexten zu priorisieren. An solchen Texten schärft sich die Theologie eines wehrlosen Gottes, der keine himmlischen Heerscharen beansprucht, um seine Schädigung zu verhindern. Dies sind Texte, die gegenüber anderen, auch biblischen, Texten als deren Kritik aufzurufen sind. Hier haben wir eine andere Art von »Leuchtturmtexten«, die Gottesknechtslieder bei Jesaja auf der einen und die Passionsgeschichten Jesu in den Evangelien auf der anderen Seite. Oder man denkt an Ps 22 im Psalter und das Sterbegebet Jesu dieses Psalms im Markusevangelium. Solche Texte sind im Benjamin’schen »Ursprung« miteinander verbunden und geeignet, andere »Gewalttexte« in Frage zu stellen, übrigens auch jene Leuchtturmtexte, die ich als pastoralliturgische Vergegenwärtigungstexte in den Blick genommen habe. Selbst wenn man bedenkt, dass es sich hier um die Wünsche von Unterdrückten, von Opfern also, handelt, beanspruchen sie Gott für durchaus schreckliche Gewalt- und Vernichtungstaten. Solche Erinnerungen schlagen in hochambivalente Texte um, wenn sie gar nicht mehr von Opfern, sondern von solchen gesungen werden, die bereits Sieger sind, die das Land besitzen und aus dieser Position heraus für die Vernichtung der »anderen« beten. Jede aktuelle Rezeption biblischer Texte wird sich immer auch für inhaltliche Dynamiken entscheiden, die sie in den Texten wahrnimmt, die sie aber nur dann in dieser Dynamik wahrnehmen kann, wenn sie sie will und sich dafür entschieden hat. Dies können auch destruktive Dynamiken sein, die sich gegenseitig zu finden glauben. Denn der Kanon ist genauso wenig ein unschuldiges Buch wie die Lebenswirklichkeit der Rezeption. Gerade weil es in der kanonischen Lektüre darauf ankommt, dass eine Lesegemeinschaft diesen Kanon für die jeweilige Gegenwart annimmt, trifft dies auch auf die inhaltliche Perspektive dieser aktualisierten »Kanonisierung« zu. Die Entscheidung für den alttestamentlichen und neutestamentlichen Gottesknecht, nämlich Gewalt nicht auszuüben, sondern zu erleiden, und die von daher konturierte Entdeckung ähnlicher Texte in der Bibel ergibt ein »Leuchtturmensemble«, das andere Leuchtturmkonstellationen, quer verlaufend, zu kritisieren vermag. Solche inhaltlichen Konstellationen können dann durchaus ihre je eigenen pastoralliturgischen Repräsentanzen in der Bibel aufsuchen (wie beispielsweise das Herrenmahl) und in diese Konstellation aufnehmen. 71 Vgl. R. Genz, Jesaja 53 als theologische Mitte der Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Christologie und Ekklesiologie im Anschluss an Apg 8,26–40, Tübingen 2015; P. Mallen, The Reading and Transformation of Isaiah in Luke-Acts, London / New York 2008.

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Eine solche Solidarität radikalisiert sich bis zum Punkt hin, wo die entsprechend Engagierten selbst riskieren, ohnmächtig zu werden, um nicht neue Opfer schaffen zu müssen72. Doch so weit gehen zu können, kann nicht zum ethischen Gesetz erhoben und anderen abgefordert werden, sondern ist eine Gnade. Letztere macht selten Siegergeschichte, aber sie macht Geschichte, vornehmlich in der Erinnerung der Opfer als der praktischen Annahme ihrer Botschaften. Die christliche Botschaft konzentriert diesen Tatbestand in der Erinnerung des Kreuzes. Es geht nicht um eine arrogante Moral gegenüber einer Gewaltanwendung (weder in der noch außerhalb der Bibel), die in der Situation äußerster Notund Unterdrückungserfahrung als einzige Möglichkeit zur Rettung der Betroffenen und ihrer Selbstachtung übrig bleibt. Von außen kann über solche Entscheidungen nicht befunden werden. Die entsprechenden Entscheidungen müssen den Gefährdeten und denen, die sich mit ihnen solidarisieren, überlassen bleiben. Sie sind allerdings auch von ihnen zu verantworten. Man wird sich dessen bewusst sein müssen, dass man sich für Gewalt entschieden hat. Gewalt bleibt Gewalt. Sie wird niemals unschuldig. Was sich in einer konkreten Ausweglosigkeit als Not-Wendigkeit aufdrängt, kann jedenfalls nicht zum leicht verfügbaren Maßstab allgemeinen Handelns gemacht werden und als beliebig transferierbare Gewaltlizenz in anderen Situationen herhalten. Problematisch ist es jedenfalls, wenn sie durch gewaltanaloge biblische Stories legitimiert wird. Das Postulat der Gewaltlosigkeit darf weder Opfer, die in schlimmster Situation zur Gewalt greifen, von oben herab beurteilen, noch darf es in seiner provokanten Geltung aufgegeben werden. Auch notwendende Gewalt ist nicht allgemein legitimierbar, sondern ist nur in unaufschiebbar drängenden Verhältnissen verantwortbar, mit dem selbstkritischen Bewusstsein eigener Begrenztheiten und Anteile, also ohne die illusionäre Selbsttäuschung von Unschuld.

Theologisch gesehen ist die Einheit alles Verschiedenen und Gegensätzlichen Gott selber: Die Einheit der Bibel ist nicht konsenshaft herzustellen, sondern sie ist im tiefsten Sinn des Wortes gegeben, wie Bernd Janowski vermerkt: JHWH selbst eint all das Differente73. Aber er eint es nicht unterschiedslos. Alle werden, so darf gehofft werden, in Gott gerettet, sind von ihm getragen, ermöglicht und geliebt: Aber Gott reagiert auf Täter des Bösen anders als auf die Täter des Guten; und er reagiert auf diejenigen, die seinen Bund ernst nehmen anders, als auf diejenigen, die ihn verraten. Die Einheit ist also nicht egalitär. Gott ist nicht gleichgültig, was er eint und wie er es tut. 72 J. Sobrino spricht in ähnlichen Überlegungen von der gewalterlösenden Kraft des Martyriums, in: ders., Die Erlösung der Gewalt, in: Concilium 33 (1997), 486–494, 491ff. 73 Vgl. B. Janowski, Theologie des Alten Testaments. Plädoyer für eine integrative Perspektive, in: A. Lemaire (ed.), Congress Volume Basel 2001, Leiden 2002, 241–276.

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Wenn es richtig ist, dass es besser ist, gut zu sein als böse, dass es besser ist, wenn Gott ein guter Gott ist und nicht der Satan, der alles zu seinem grausigen Vergnügen geschaffen hat, um es in die Verderbnis sausen zu lassen, dann gibt es in dem, was Gott eint, und was aufgrund von Gottes Universalität niemals aus ihm herausfallen kann, was zugleich die Pluralität unendlich sichert, gleichwohl eine Gegenhierarchisierung des »Heiligen« gegenüber den menschlichen Destruktions- und Herrschaftshierarchisierungen. Dafür steht das Stichwort der Umkehr, das in der Akzeptanzhermeneutik dieses Willens Gottes eine elementare Rolle im Verstehen oder Nichtverstehen der biblischen Botschaft, in der Öffnung oder Nichtöffnung spielt (vgl. 2Sam 12,1–4). Daran orientiert sich die optionale Konturiertheit. Sie kann Kontinuität, aber auch die Inversion der Kontinuität zwischen Text und Rezeption bedeuten. Kontinuität bzw. Diskontinuität ergeben sich aus der optionalen Haltung der Inversion der Unterdrückungskontinuität. Israel kann sich nicht einbilden, weiterhin dem Willen Gottes zu entsprechen, wenn es sich wie die »Ägypter« verhält oder/und nicht mehr auf YHWH vertraut. Die biblische Prophetie, namentlich von Amos bzw. Hosea, lebt von dieser Differenz. Diese Vorgegebenheit einer differenzierten und Differenz wahrnehmenden Einheit, die Gott selber trägt, ist beides, und beides in einem, eine Vorgegebenheit der Gnade und des Gerichts, aber doch so, dass das Gericht selbst ein, wenn auch bitterer, Vollzug der Gnade ist74. Das Faszinierende ist, dass diese Vorgegebenheit keine Abstraktion ist, sondern (analog!) eine »Person«, allerdings eine göttliche, darin unerschöpflich geheimnisvolle, nicht weniger als »Person«, aber unendlich darüber hinausgehend. Die Einheit wird also erlebt in demselben Gott, aber nicht in gleichen Gottesbeziehungen: Die sind bis zum Gegensätzlichen und völlig Unerwarteten different, zum Beispiel von der Einstimmung in den Willen Gottes bis hin zur Klage und Anklage. Gott rettet selbst die Differenz, aber in ihr begründet er noch eine andere, und zwar inhaltliche Differenz, nämlich jene, die die Prophetinnen und Propheten jeweils vertreten. Aus dieser Perspektive wäre es das Entscheidende an der kanonischen Bibellektüre, herauszustellen, welche kritische Potenz die Texte jeweils gegeneinander oder füreinander haben, nämlich zu untersuchen, wie diese (auch negative) Dialektik zum Vorschein kommt zwischen den Texten: einmal das gleichstufige Existenzrecht der Texte und der darin erzählten Personen und Schicksale, zum andern genau auf dieser Basis und ohne sie zu lädieren, die inhaltliche Differenz, die mit dem Begriff der Umkehr, wie sie in vielen Geschichten thematisiert wird, zum Vor74 Vgl. O. Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung über den Tod hinaus, Regensburg 2018, 44–66.

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schein kommt: nicht nur der Menschen, sondern auch Gottes, nämlich seiner reuevollen75 Umkehr zu einer je größeren Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, einer je deutlicheren Verbindung von Gnade und Gericht. Ohne den Horizont der sich je bis in das Unendliche steigernden Gnade Gottes gibt es keine praktische Hermeneutik, die Kain als Mörder zeichnet und ihn zugleich vor der Vernichtung schützt (vgl. Gen 4,15 und Lk 23,34). Abstract Practical theology has referred to a variety of ways to the methods and results of historical-critical exegesis. Now it is a matter of detailed reflection on how practical theology finds itself able to set itself in a constructive and mutually fruitful relationship to intertextual or canonical Bible reading. Fundamental is the insight, that, with the help of the intertextual exegesis just those pastoral-liturgical interruptions found in Scripture can be discovered across all texts, which in turn encourages each post-biblical perception to deal in a similar way with the biblical text. With regard to the profiles found of these intertextual associations, the aspects of freedom and of value-oriented dynamics come into play. In the context of the theory of cognition by Walter Benjamin, these processes can provide a basis of reflection to decipher and develop. The significance and function of pre- and post-Canonical quality as well as of Bible translations can be used to indicate consequences that take freedom in diversity as seriously as the unity and unambiguousness of content-oriented decisions and attitudes.

*** Ottmar Fuchs, geb. 1945, Dr. theol., ist emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

75 Vgl. J.-D. Döhling, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des Motivs der Reue in der Hebräischen Bibel, Freiburg i.Br. 2009.

Mirjam Zimmermann

In Wahrheit erfunden1 Plädoyer für eine biblische Didaktik, die die Wahrheitsfrage stärker berücksichtigt

1.

Wahr oder erfunden? Die Simplifizierung der Wahrheitsfrage

In der grundlegenden Untersuchung zu Bibelwissen und Bibelverständnis von Helmut Hanisch und Anton A. Bucher sollten die Probanden, 2402 evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler zwischen neun und elf Jahren, ihre Einstellung zur Bibel verdeutlichen, indem sie sich durch Ankreuzen entschieden, ob die Bibel modern oder alt, von Gott oder den Menschen, für mich wichtig oder für mich unwichtig, langweilig oder spannend etc. ist2. Hier wurde als Gegensatzpaar auch »wahr« und »erfunden«3 eingeführt und selbst 61 % der Kinder mit geringer religiöser Praxis, 91 % mit mittlerer religiöser Praxis und 97 % mit hoher religiöser Praxis waren der Meinung: Die Bibel ist wahr4. Diese Einsicht wird aber als eine der jugendlichen Einbruchstellen des Glaubens5 in der Auseinandersetzung mit dem Thema Bibel in der unterrichtlichen Praxis immer wieder grundsätzlich in Frage gestellt6. So konnte Kalevi Tamminen in einer Studie von 1986 zeigen, dass 1 Vgl. auch den Buchtitel von Mirja Kutzer, In Wahrheit erfunden. Dichtung als Ort theologischer Erkenntnis, Regensburg 2006. 2 Vgl. Helmut Hanisch / Anton A. Bucher, Da waren die Netze randvoll. Was Kinder von der Bibel wissen, Göttingen 2002, 133. 3 Dazu stellt sich m.E. die Rückfrage, ob der Gegensatz zu »wahr« nicht eher »nicht wahr« und nicht »erfunden« ist. Der Gegensatz zu »erfunden« (fiktiv) ist »nicht fiktiv« (faktisch im Sinne von »hat tatsächlich stattgefunden«). Diese Gegensatzpaare sind folglich bereits in der Anlage der Untersuchung fragwürdig. 4 Hanisch /Bucher, Netze, 71; insgesamt 86,8 %; gegen 13,2 %, die für erfunden plädieren. Wer die Bibel für erfunden hält, das zeigt die Faktorenanalyse, »attestiert ihr kaum, auch wichtig zu sein. In der Tat sind von denjenigen, für die die Schrift wichtig ist, nur vier Prozent der Meinung, sie sei erfunden« (ebd.). 5 Karl Ernst Nipkow, Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, München 1987, redet von vier Einbruchstellen des Glaubens im Jugendalter: a) dem Theodizeeproblem, b) der Frage nach der Schöpfung, Erklärung der Welt im Ganzen und des Geheimnisses von Leben und Tod, c) der Frage nach der Realität der Fiktion Gottes, wozu ich auch die Frage nach der Wahrheit der Schrift rechnen würde, d) der Frage der Glaubwürdigkeit der konkret erlebten Zeuginnen und Zeugen in den Gemeinden. 6 Das wird auch in der Untersuchung von Heike Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption. Historisch-

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»eine eindeutige und durchgängige Veränderung mit zunehmendem Alter nur in einer der Kategorien [in Bezug auf Fragen und Einschätzungen zur Bibel; Ergänzung der Verfasserin], nämlich der bezüglich der Glaubwürdigkeit der Bibel (Kategorie 4) feststellbar ist. In diese Kategorie wurden Schülerantworten eingeordnet wie: ›Sind diese Ereignisse alle passiert oder wurden sie erfunden‹ (…) und, ›ist jedes Wort der Bibel wahr?‹ (…). Fragen dieser Art scheinen bereits im Alter von 11–12 Jahren aktuell zu sein, darüber hinaus gewinnen sie in der Pubertät (13–14) noch an Intensität.«7

Die Zunahme von nichtbuchstäblichem Verstehen biblischer Geschichten geht also mit einem parallel linearen Anstieg der Ablehnung von diesen als »unglaubwürdig« einher. »Wer biblische Geschichten nicht (mehr) wortwörtlich auffasst, neigt infolgedessen dazu, sie für unglaubwürdig (…) aufzufassen.«8 Immer wieder kreisen so die Fragen der Schüler und Schülerinnen des Mittel- und Oberstufenunterrichts um Gültigkeit und Glaubwürdigkeit der Bibel, um die zentrale Frage nach ihrer Wahrheit. Wenn die Schülerinnen und Schüler aber von Wahrheit sprechen, so ist damit für sie die Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff im aristotelischscholastischen Sinne gemeint9. Weiterhin überlagern sich Wahrheitsbegriff, neuzeitlich-physikalisches Weltbild und Erkenntnismethode, so dass Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie als nachprüfbare Übereinstimmung zwischen einer Aussage und einer Tatsache verstanden wird. In Applikation auf biblische Texte findet dieser Wahrheitsbegriff am ehesten durch eine historisch-rationalistische Interpretation der Texte Anwendung, das heißt: Ein Bibeltext ist dann wahr, wenn der Aussagegehalt eines Textes (Begriff) unmittelbar mit historischen Tatsachen (Gegenstand) übereinstimmt. Die in der Vorstellung der Schülerinnen und Schüler bekannte fundamentalistische Bibelauslegung scheint diese Zugangsweise zu bestätigen. Den meisten Schülerinnen und Schülern ist es jedoch kaum möglich, die Korrespondenz biblischer Aussagen mit historischen Tatsachen für plausibel zu halten. Wie kann ein Mensch über das Wasser gehen (Mk 6,16–21), oder wie kann ein mehrere Tage Toter ins Leben zuexegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (Stuttgarter Biblische Beiträge 39), Stuttgart 1998, z.B. aus den Antworten auf die Frage »Kannst du dir vorstellen, daß das, was hier erzählt wird, auch tatsächlich so geschehen ist?« zu neutestamentlichen Wundergeschichten deutlich; vgl. etwa: »irgendwie geht das im normalen Leben ja auch nicht« (389). 7 Vgl. Kalevi Tamminen, Religiöse Entwicklung in Kindheit und Jugend, Frankfurt a.M. 1993, 157, Tabelle 158. Dass die Bibel damit unglaubwürdiger wird, geht aus der Tabelle auf S. 160 hervor. 8 Vgl. in Bezug auf die Studie von Tamminen Hanisch/Bucher, Netze, 98. 9 Vgl. die Korrespondenztheorie nach Thomas von Aquin: veritas est adaequatio rei et intellectus.

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rückkehren (Joh 11,1–42)? Solche Aussagen widersprechen eigener Erfahrung und empirischer Nachprüfbarkeit. Es muss zu kritischen Anfragen und inneren Widersprüchen kommen. Sind die biblischen Berichte oder ist die ganze Bibel demnach unwahr? In einem ersten Teil soll nun präziser nach Wahrheitstheorien gefragt werden, besonders danach, welche Verstehensmöglichkeiten und Grenzen der biblischen Wahrheit sich daraus ergeben; in einem zweiten Teil ist zu überlegen, inwiefern man auf unterschiedlichen Ebenen im Religionsunterricht im Horizont dieser Theorien an der Wahrheitsfrage arbeiten kann. Die Grundthese des Beitrags besteht darin, dass die Wahrheitsfrage nicht als Einbruchstelle des Glaubens und des Bibelverstehens gefürchtet oder gar gemieden werden soll, sondern vielmehr ein besonderes Potenzial zur Vertiefung biblisch-hermeneutischer Kompetenz birgt. Von der Primarstufe an kann m.E. die Wahrheitsfrage konstruktiv und kumulativ im Sinne der Kompetenzorientierung sinnvoll in den Religionsunterricht integriert werden. 2. Welche Ansätze liefern die Wahrheitstheorien in Bezug auf biblische Texte? Man kann grundsätzlich vier Theorieansätze unterscheiden10: Der Theorieansatz, der dem Denken der meisten Schülerinnen und Schüler zu Grunde liegt, ist die sogenannte Korrespondenztheorie der Wahrheit. Diese definiert Wahrheit schon seit Thomas von Aquin als die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache. Ein solcher Ansatz kann hinsichtlich der Ausgangsfrage dahingehend aufgenommen werden, als man fragen kann, ob eine Aussage in Bezug auf die Sache ›wahr‹ bzw. angemessen ist. So ist z.B. ein physikalischer Satz dann wahr, wenn ihm ein empirisch nachweisbarer Sachverhalt entspricht. Entsprechend wird über den Wahrheitsgehalt eines Satzes wie z.B. »ein schwerer Gegenstand fällt zu Boden« schnell Einigkeit zu erzielen sein, weil jede und jeder die darin behauptete ›Wahrheit‹ nachprüfen kann. Bei der Bibel verlagert sich der Wahrheitsanspruch von der physikalischen in die historische Welt. Entsprechend wird ein Bibeltext dann als wahr eingeschätzt, wenn der Aussagegehalt eines Textes unmittelbar mit einer historischen Tatsache übereinstimmt. Viele Erzählungen der Bibel berichten jedoch von Ereignissen, die sich nicht mit 10 Siehe den Überblick bei Lorenz Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritisch-systematische Darstellung, 3., um einen ausführlichen Nachtrag erweiterte Auflage, Sonderausgabe Darmstadt 2005; Gunnar Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 112011; ferner Herbert Huber, »Was ist Wahrheit?« Überblick über die aktuellen Wahrheitstheorien, in: Aufklärung und Kritik 9 (2002) 1, 96–103.

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den heute anerkannten physikalischen Naturgesetzen oder gar der eigenen Erfahrungswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler vereinbaren lassen. Niemand von den Schülerinnen und Schülern hat die Teilung eines Meeres, eine quantitative Brotvermehrung oder gar eine Totenauferweckung als historisches Ereignis erlebt, kaum jemand wird eine Genesung von einer Krankheit als übernatürliches ›Wunder‹ beschreiben. Viele Versuche sind unternommen worden, um die Wahrheit der Bibel im Sinne der Korrespondenztheorie mit historisch-archäologischen oder naturwissenschaftlichen Methoden zu beweisen. Der Klassiker »Und die Bibel hat doch recht – Forscher beweisen die Wahrheit des Alten Testaments«11 von Werner Keller, der vor allem in den 50er– 70er Jahren des letzten Jahrhunderts populär war, kann hier als Beispiel gelten, wie z.B. die Existenz der Arche Noahs bewiesen werden sollte. Aber auch aktuelle Bücher wie das des in seiner Zunft durchaus anerkannten Professors für mathematische Physik an der Tulane University in New Orleans, Frank J. Tipler, »Die Physik des Christentums«12, gehen diesen Weg. Schülerinnen und Schüler können diese Ansätze aber nur begrenzt überzeugen, selbst wenn sie diese Versuche mit Interesse verfolgen, weil sie eben auch ihrem Wahrheitsverständnis entsprechen. Die Kohärenztheorie der Wahrheit geht davon aus, dass »Aussagen und nicht Tatsachen ausschlaggebend dafür sind, ob wir etwas als wahr anerkennen oder nicht.«13 Eine Aussage gilt dann als wahr, wenn sie sich widerspruchslos in die Gesamtheit anderer Aussagen über einen Gegenstand einordnen lässt. Das heißt im Umkehrschluss: Steht eine Aussage im Widerspruch zur Gesamtheit anderer Aussagen, dann ist sie ›unwahr‹. Nach der Kohärenztheorie der Wahrheit ist ein System von Sätzen (z.B. bei einer wissenschaftlichen Theorie) also genau dann wahr, wenn die Sätze dieses Systems miteinander verträglich, d.h. kohärent sind. Wie diese Verträglichkeit aussieht, muss anhand bestimmter Kriterien (z.B. logische Widerspruchsfreiheit, Konsistenz) im Einzelnen bestimmt werden. Das Problem der Kohärenztheoretiker besteht darin zu begründen, wann ein System ›vollständig‹ ist bzw. wie die verschiedenen, sich z.T. widersprechenden Systeme miteinander und mit der Realität zu vereinbaren sind. 11 Werner Keller, Und die Bibel hat doch recht. Forscher beweisen die Wahrheit des Alten Testaments, Düsseldorf 1955 (zahlreiche Auflagen und Neudrucke mit millionenfacher Verbreitung); vgl. David Oels, Ceram – Keller – Pörtner. Die archäologischen Bestseller der fünfziger Jahre als historischer Projektionsraum, in: Wolfgang Hardtwig / Erhard Schütz (Hg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, 345–370. 12 Frank J. Tipler, Die Physik des Christentums. Ein naturwissenschaftliches Experiment, München 2008. 13 Stefan Pink, Was ist Wahrheit? Eine kurze Einführung in die drei Wahrheitstheorien, in: Ethik und Unterricht (2014) 2, 7–9, hier 8.

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Mit Blick auf die Wahrheit der Bibel können also Aussagen wie die Beeinflussung von Naturgesetzen durch Gott oder Jesus kohärent zu Aussagen über die Schöpfungsmacht Gottes sein, aber sie sind nur schwer mit konkurrierenden Erklärungssystemen (z.B. Evolutionstheorie) zu vereinbaren. Im glücklichen Fall können verschiedene, je für sich kohärente Systeme als im je eigenen Sinn gültig anerkannt werden. Aber es kann auch wie z.B. im Falle des Kreationisten-Streits zur Frontstellung kommen, die die Deklaration der Ungültigkeit eines Systems zur Folge hat14. Verbleibt die Kohärenztheorie weitgehend auf der Sachebene, so wird in der dritten Wahrheitstheorie, der Konsenstheorie der Wahrheit, das Subjekt oder genauer die eine Diskursgemeinschaft bildenden Subjekte und ihre Kommunikation zentral fokussiert. Ausgangspunkt bei der von Jürgen Habermas15 und Karl-Otto Apel vertretenen Theorie ist die Frage, wie wir entscheiden, ob wir eine Aussage als wahr einschätzen. Wahrheitsfragen ergeben sich erst dann, wenn, wie im obigen Fall, von jemandem deren Wahrheitsgehalt angezweifelt wird. Zur Überzeugung des Kritikers/Zweiflers müssen dann gute Argumente angeführt werden. Für die Beurteilung einer Aussage als wahr ist hier nicht die Übereinstimmung mit der Sache oder die Einpassung einer Aussage in ein kohärentes Aussagesystem entscheidend, sondern allein die Frage, ob alle Sprecher einer Sprechergemeinschaft zum selben Schluss kommen würden. »Die Konsenstheorie der Wahrheit besagt, deine Aussage ist wahr, wenn jeder der Sprache mächtige Sprecher dieser Aussage zustimmt.«16 Für Konsenstheoretiker ist die Einigung einer Gemeinschaft von qualifizierten Wissenschaftlern auf diesen Satz maßgeblich. Problematisch ist bei diesem Theorieansatz, dass es de facto nie zu einer solchen Einigung kommen wird. Auch bezüglich der Bibelwissenschaft und Glaubensgemeinschaft gibt es sich widersprechende Aussagen, die letztlich schon auf die Bibel selbst zurückgehen. Es ist bezeichnend, dass etwa im Blick auf die Jesusgeschichte vier Evangelien Teil des Kanons wurden und sich Ansätze einer konsensualen Evangelienharmonie im Laufe der Kirchengeschichte (z.B. Diatessaron) gerade nicht durchsetzen konnten. Ein konsensorientierter Ansatz scheitert also mit Blick auf unsere Ausgangsfrage nicht nur daran, dass sich eine eng gezogene Grenze der Konsensgruppe (z.B. die Klassengemeinschaft) mehrheitlich gegen die Wahrheit der Schrift entscheiden könnte, sondern ist 14 Dies wird von beiden Seiten gleichermaßen behauptet; vgl. dazu Christoph Antweiler (Hg.), Die unerschöpfte Theorie. Evolution und Kreationismus in Wissenschaft und Gesellschaft, Aschaffenburg 2008; Hubert Philipp Weber (Hg.), Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube. Neue Perspektiven der Debatte, Göttingen 2013. 15 Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: Helmut Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion, Pfullingen 1973, 211–265. 16 Huber, Wahrheit, 99.

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vielmehr dem Gegenstand selbst nicht angemessen, der als plurale und z.T. konkurrierende Vielfalt von Schriften besteht. Schließlich ist davon noch die pragmatische Wahrheitstheorie zu unterscheiden, bei der eine Aussage dann als wahr gilt, wenn sie sich als nützlich oder hilfreich z.B. in der Lebensführung erweist. »Wahrheit ist etwas, was sich in der Praxis bewähren muss.«17 Hier wird gerade die Dimension der persönlichen Aneignung und Relevanz berührt. Die Frage der Bibelwahrheit wird insofern an der Möglichkeit der Aneignung dieser Texte von Kindern und Jugendlichen entschieden. Unterschiedliche Modelle wie z.B. die existenzielle Bibelauslegung Baldermanns oder kindertheologische Schriftauslegung zeigen, dass Kinder selbst mit schwierigen Themen der Bibel hermeneutisch sinnstiftend umgehen können18. Auch ein kompetenzorientierter Begriff von Deutung (Deutungskompetenz!) sieht die Aussagen von Kindern und Jugendlichen im Kontext ganzheitlicher Identitätsaussagen. Aussagen der Bibel werden als ›wahr‹ anerkannt, weil sie den einzelnen Schülerinnen und Schülern etwas bedeuten. Im folgenden Teil soll nun versucht werden, unter Bezug auf die vier Wahrheitstheorien unterrichtliche Zugänge zu beschreiben, die die Frage nach der Wahrheit der Bibel konstruktiv über die erste Wahrheitstheorie, die Korrespondenztheorie, hinaus öffnen können. 3. Exemplarische Möglichkeiten zum Umgang mit der Wahrheitsfrage im Unterricht Die Bibel überliefert uns weder ein Protokoll der EEG-Nulllinie von Lazarus noch eine Berechnung der Umlaufbahn eines Bethlehemkometen noch die Video-Aufnahme des wasserwandelnden Jesus. Nicht nur der zeitliche Abstand, sondern auch die Form und Medialität der Textüberlieferung selbst verwehrt somit eine Reduktion auf das Korrespondenz-Wahrheitsmodell. Doch die Beschäftigung mit den Wahrheitstheorien hat die Frage in einen noch grundlegenderen Horizont gestellt: Wahrheit existiert weder als absolutes, zeitloses Dogma noch als empirisch oder historisch nachweisbare ›Objektivität‹. Selbst die empirischen Wissenschaften haben inzwischen jeden neuzeitlichen Idealismus verloren und müssen zugestehen, dass sie jeweils nur bestimmte Perspektiven der Wirklichkeit in den Blick nehmen können und diese im Rah17 Huber, Wahrheit, 99. 18 Vgl. zum Überblick zu diesen Ansätzen Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 22018, insbesondere darin Ingo Baldermann, Existenzielle Bibeldidaktik, 416–422; Mirjam Zimmermann, Kindertheologie und Kinderexegese, 450–456.

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men ihrer jeweiligen Methoden als ›wahr‹ oder ›richtig‹ bezeichnen können. Im Blick auf das Bibelverständnis ist damit die Aufgabe gestellt, das eng begrenzte Wahrheitsverständnis der Schüler zu entgrenzen, um so die Voraussetzungen zu schaffen, die ›Wahrheit der Bibel‹ neu zu entdecken, sie in umfassender Weise verstehen zu lernen. Um den Wahrheitsgehalt biblischer Texte als religiöse Traditions- und Gebrauchstexte zu erfassen, ist es unerlässlich, Wahrheit in einem weiteren Sinn als Lebenswahrheit und -wirklichkeit zu begreifen. Die Frage nach der Wahrheit der biblischen Texte darf sich entsprechend nicht auf ›historische Tatsachen‹ begrenzen, sondern muss lauten: In welcher Weise müssen oder können wir die Wahrheit dieser Texte verstehen, wie kann der Textsinn zum Lebenssinn werden, wie der Titel eines zum Jahr der Bibel publizierten Unterrichtsmaterials heißt19? Wahrheit meint also eher das in Zeichen gefasste Programm, von dem aus und auf das hin Menschen einzeln und miteinander zu leben vermögen. Wie kann diese Einsicht didaktisch kumulativ angelegt und verfolgt werden, damit der Zweifel an der Wahrheit der Bibel nicht eine Arbeit mit der Bibel verstellt? Hierzu sollen nun (klassische) methodische Zugänge wie das Erzählen, aber auch konzeptionelle Zugänge wie derjenige der Kindertheologie hinsichtlich ihrer Möglichkeiten dargestellt werden. 3.1 Die Wahrheitsfrage beim Erzählen und Vorlesen biblischer Texte (Elementar- und Primarstufe) Im Elementarbereich bzw. im Primarbereich werden biblische Texte meist erzählt und vorgelesen. Auch hier kann aber die Wahrheitsfrage schon indirekt thematisiert bzw. einem reinen Korrespondenzverständnis von Wahrheit vorgebeugt werden. Obwohl Kinder auf dieser Entwicklungsstufe oft sowieso ein anderes (archaisches) Weltbild haben, kann einem Missverstehen der biblischen Geschichten als reine Wiedergabe von historischen Tatsachen entgegengewirkt werden. Martina Steinkühler macht das z.B. in ihrer Einleitung in »Die neue Erzählbibel«20 durch folgende Hinführung deutlich: »Mehr als 3000 Jahre ist es her, da sammelten weise Männer und Frauen Geschichten von Gott. Sie machten daraus ein Heiliges Buch. Komm und lies im ersten Teil der Bibel, Gottes Buch. (…) Lies, wie die Weisen die schweren Fragen des Lebens beantwortet haben: vom Anfang 19 Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann, Vom Textsinn zum Lebenssinn, Göttingen 2003. Aus dieser Publikation sind auch einzelne Passagen dieses Beitrags übernommen. 20 Martina Steinkühler, Die neue Erzählbibel, Stuttgart 1999, Neuauflage 2015, 5.

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der Welt, von den Stärken und Schwächen der Menschen, von Unheil und Bewahrung.«21

Erzählerisch wird hier einleitend klargestellt, dass die Bibel zwar Gottes Buch ist, hierin aber weise Menschen aus ihrer Perspektive geschrieben haben und nicht Gott diktiert hat. Auch im Verlauf der Erzählungen wird das kritische Moment, das die Idee einer reinen Faktenwiedergabe in der in der Bibel erzählten Weise in Frage stellt, immer wieder aufgenommen. So zweifelt Hagar z.B. am Gotteserlebnis Abrahams (»›Du hast geträumt‹, denkt sie«)22, bei Jakobs Traum von der Himmelsleiter wird eingeleitet: »Vielleicht liegt Jakob noch wach. Vielleicht ist er auch längst eingeschlafen.«23, die Geschichte vom Durchzug durch das Schilfmeer wird in der Ich-Perspektive des Mose erzählt24, die Schöpfungsgeschichte, die nicht am Anfang der Kinderbibel steht, sondern nach der David/Salomon Geschichte eingeschoben wird, wird eingeleitet mit dem Satz: »Es war zu der Zeit, als sie die Geschichten von Abraham und Sara, von Jakob und Rahel, von Mose und Mirjam sammelten. Da suchten sie auch Antwort auf die großen, schweren Fragen des Lebens: woher und wohin, wozu und warum. Sie kleideten ihre Antworten in uralte Geschichten und sie erzählten sie alle mit ihrem gütigen Gott.«25

Steinkühler geht hier unterschiedliche Wege, um die Subjektivität in der Narrativität biblischer Geschichten deutlich zu machen: Biblische Geschichten sind subjektive Glaubensgeschichten. Die Art, wie Wirklichkeit verarbeitet und daraus Texte entstanden sind, entspringt dem subjektiven Erleben der Handlungsträger wie Abraham, Jakob, Mose bzw. anderer weiser, gläubiger Menschen. Anita Müller-Friese schlägt sogar vor, bei biblischen Geschichten, die im Unterricht erzählt oder vorgelesen werden, mit einem kleinen feinsinnigen Bibelritual zu arbeiten26. Der Ablauf ist folgendermaßen: Ein kleiner Spiegel wird vorne in eine Bibel geklebt. Bevor erzählt wird, beginnt der Lehrende mit dem Ausspruch: »Die Bibel erzählt von der Geschichte zwischen Gott und den Menschen. (Die Bibel wird an der Stelle, an der der Spiegel eingeklebt ist, aufgeschlagen) und auch von mir (der Name wird genannt).« Die Bibel wird weitergegeben und 2–3 Kinder wiederholen diesen 21 Steinkühler, Erzählbibel, 5. 22 Steinkühler, Erzählbibel, 11. 23 Steinkühler, Erzählbibel, 23. 24 Steinkühler, Erzählbibel, 52. 25 Steinkühler, Erzählbibel, 99. 26 Vorgestellt in einem Workshop bei der Tagung der Gesellschaft für Religionspädagogik 2010.

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Satz. Danach wird zum Erzählen die Bibel in die Mitte gelegt oder aus dieser Bibel wird vorgelesen.

Durch dieses kleine Ritual wird deutlich, dass es in der Bibel nicht um eine historische Geschichte geht, sondern um Erzählungen. Der Bezug zur pragmatischen Wahrheitstheorie – die Bibel handelt auch von mir, sie kann deshalb in meinem Leben hilfreich sein und wird so wahr, wie sie für die Menschen damals in ihren Erzählung wahr war – wird aufgenommen und ermöglicht, gerade diese Perspektive im Gespräch über den Text oder die Geschichte zu entfalten. 3.2 Die Wahrheitsfrage bei der Erarbeitung von Sozialgeschichte bzw. Archäologie (Sekundarstufe I) In der Bibelwissenschaft ist die Frage nach der wirklichen Geschichte hinter den Texten nach wie vor hoch im Geltungsdiskurs und hat sich methodisch in Zeit-, Sozial-, Religions- und Kulturgeschichte ausdifferenziert. Zentrale Bedeutung hat hierbei auch der Frage nach den materialen (nicht-textlichen) Überrestquellen, also nach Steinen und Kleinartefakten, und so erfreut sich die Archäologie, die schon seit der Phase des hermeneutischen Religionsunterrichts Einzug in die Klassenzimmer gehalten hat, ungeminderter Beliebtheit. Bei Einheiten zu »Zeit und Umwelt Jesu« (obligatorisch in Klasse 5/6), zu den »Gleichnissen Jesu« oder auch im Rahmen der Themen zur Christologie (z.B. zum historischen Jesus) und schließlich in vielen außerschulischen Lernorten wie z.B. Bibelmuseen und Bibeldörfern27 wird auf archäologische Kenntnisse Bezug genommen28. In diesem Ansatz wird versucht, Wahrheitsfragen zur Bibel zu erklären, indem archäologische Funde identifizierend (z.B. die David-Inschrift aus Tel-Dan, die 1993 entdeckt wurde und belegt, dass David wohl als historische Gestalt existiert hat), illustrierend (z.B. Ausgrabungen des Teiches von Betesda in Jerusalem, die zeigen, dass auch der Wundererzählung von Joh 5,1–9 ein realer Ort zugrunde liegt) oder kontrastierend (Rekonstruktion des herodianischen Tempels, dessen Dimensionen mit einem Vorhof von ca. 10.000 m² zeigen, dass Jesus als einzelner Mann unmöglich alle Händler aus dem Tempel getrieben haben konnte, wie Mk 11,15f und Joh 2,15 das behaupten) zur Erläuterung des Bibeltextes eingesetzt werden. 27 Vgl. hierzu Michael Landgraf / Mirjam Zimmermann, Außerschulische Lernorte zur Bibel, in: Zimmermann/Zimmermann, Handbuch Bibeldidaktik, 589–596. 28 Vgl. dazu die Überblicke von Wolfgang Zwickel, Biblische Archäologie, in: Zimmermann/Zimmermann, Handbuch Bibeldidaktik, 47–51; Susanne Luther, Neutestamentliche Sozial- und Kulturgeschichte der Umwelt Jesu und der frühchristlichen Gemeinden, in: Zimmermann/Zimmermann, Handbuch Bibeldidaktik, 51–58.

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Jeweils werden dabei die biblischen Texte hinsichtlich ihrer historischen Referenzialität befragt, was nicht nur Ziel der historisch-kritischen Methode ist, sondern auch an die Korrespondenztheorie der Wahrheit anschließt. Biblische Texte sind nur in Kenntnis dieser historischen Verwurzelung zu verstehen, sie sind Spiegel einer vergangenen Zeit und Kultur, die durch historische Methoden bis zu einem gewissen Maß rekonstruiert werden kann. Die große Frage aber, wie es wirklich war, ist in den meisten Fällen auf diesem Wege nicht zu beantworten. Denn kritische Methoden können nur Plausibilitäten und nicht objektive historische Fakten liefern, noch reicht die Fragmentarität der Überrestquellen aus, um wirklich ein enzyklopädisches Bild antiker Kulturen zu erheben, und schon gar nicht ist die Rekonstruktion des ältesten Überliefungsstadiums eines Textes immer theologisch wertvoller bzw. wahrer als eine jüngere Fassung. Die »ungeschminkten Tatsachen der Vergangenheit« lassen sich nicht erheben. Die historischen Quellen, aber auch archäologischen Funde wie Steine, Töpfe oder Münzen bedürfen immer der Interpretation und unterliegen somit dem hermeneutischen Zirkel. Unterrichtspraktisch kann das anhand von Jesus-Quellen, am Beispiel des Bethlehemsterns, der wissenschaftlich-historisch »bewiesen« wird, der historischen und von manchen auch proklamierten religiösen Bedeutung des Jesus-Bootes von Magdala am See Genezareth oder an den obigen Beispielen zur Archäologie veranschaulicht werden29. Neben der internen, methodologischen Kritik tritt dabei auch unterrichtspraktisch die Frage nach der Reichweite dieser Annäherung im Blick auf die Wahrheit der biblischen Texte auf. So sind die Fragen nach der Möglichkeit von Wundern oder nach der Wahrheit der Auferstehung nicht mit Hilfe dieser Annäherung zu lösen, denn selbst wenn man Hallen eines Sanatoriums des Betesda-Teichs ausgraben kann, sagt das noch nichts darüber, ob dort auch ein Wunder Jesu stattgefunden hat30. Hilfreich an diesem Zugang gerade in der Sekundarstufe I ist aber die grundsätzliche Einsicht, dass die Bibel ein geschichtliches Buch mit einer bestimmten historischen Plausibilität ist. Die Einsicht in fiktionale Elemente der biblischen Überlieferung darf nicht zu der radikalen Schlussfolgerung verleiten, dass deshalb alles ›erfunden‹, d.h. fiktional ist. Im literaturwissenschaftlichen Sinne sind die meisten biblischen Erzählungen »faktuale Erzählungen«, und dies gilt sogar für die Wundergeschichten31. 29 Zimmermann/Zimmermann, Textsinn, 57–78. 30 Vgl. dazu Ruben Zimmermann, Der Wahrheit auf der Spur. Erzählte Erinnerung der Heilungswunder Jesu, in: Welt und Umwelt der Bibel (2015) 2, 12–19. 31 Vgl. zu dieser Problematik Susanne Luther, Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion? Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren in frühchristlichen Wundererzählungen – eine Problemanzeige, in: Bernd Kollmann / Ruben Zimmermann (Hg.), Herme-

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Weder die Figur Jesu ist erfunden noch die Figur des Petrus oder des Paulus. Die Wahrnehmung der geschichtlichen Referenzialität der Bibel bewahrt das Buch davor, als Mythen- oder Märchensammlung missverstanden zu werden. Wenn die historische Annäherung diese Diesseitigkeit der Botschaft herausarbeitet, trägt sie zum vertieften Wahrheitsverständnis der Bibel bei. Wird historische Plausibilität allerdings im Sinn der Korrespondenztheorie zur alleinigen Voraussetzung von Gültigkeit und Wahrheit hochstilisiert, verselbstständigt sie sich gegenüber einem weiteren Horizont von Wahrheitsfähigkeit und Sinnhaftigkeit und verfehlt die Intention biblischer Texte. 3.3 Die Wahrheitsfrage in der kinder- bzw. jugendtheologischen Arbeit mit biblischen Texten (alle Jahrgangsstufen) Im strengen Sinne lässt sich die Kohärenztheorie nur auf geschlossene logische Systeme wie z.B. die Mathematik anwenden. Sobald diese Systeme Wirklichkeitsphänomene zum Gegenstand haben, wie z.B. in der Physik oder Chemie, kommt die Kohärenz an ihre Grenzen, weil die Phänomene der Wirklichkeit in gewisser Weise theorieresistent bleiben. Übertragen in die Theologie kann eine an Erfahrungswirklichkeit und Traditionstexten bezogene Theoriebildung zweifellos keine mathematische Genauigkeit beanspruchen. Es ist gleichwohl der Anspruch eines theologischen Entwurfs, eine gewisse innere Kohärenz aufzuweisen. Bezogen auf die Wahrheitsfrage kann es folglich nicht das Ziel sein, die Wahrheit der Bibel im Sinne eines absoluten Auslegungssystems zutage zu fördern. Stattdessen können aber Auslegungen hinsichtlich einer inneren Stimmigkeit als Bausteine einer theologischen Theoriebildung befragt werden. Und das gilt nicht nur für wissenschaftliche Entwürfe, z.B. einer biblischen Theologie, sondern auch bei Auslegungsversuchen von Kindern und Jugendlichen – so zumindest eine These innerhalb der Kindertheologie. Es ist gerade ein Kriterium kindertheologischer Kompetenz, dass die Auslegung biblischer Texte nicht nur spontan und kreativ, sondern auch stringent und kohärent ist32. Als Teilaspekt der »Kindertheologie«33 hat sich seit einiger Zeit auch die »Kinderexegese« als eine kindertheologische Auseinandersetzung mit neutik frühchristlicher Wundererzählungen, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 339, Tübingen 2014, 345–368. 32 Vgl. dazu Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 22012, 222f. 33 Vgl. dazu Zimmermann, Kindertheologie, sowie jetzt Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Handbuch Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden, Stuttgart/München 2014.

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biblischen Texten etabliert. Im Rahmen dieses Konzepts wird die Wahrheitsfrage nun insofern bearbeitet, als nicht eine Deutung zu einem Text im Sinne einer Trichterdidaktik als »wahr« vermittelt wird, sondern die eigenen und z.T. markant unterschiedlichen Interpretationen der Kinder und Jugendlichen als prinzipiell gültig angenommen und ernst genommen werden (Exegese der Kinder). Im Sinne des Theologisierens mit Kindern, werden diese Deutungen dann aber hinsichtlich ihrer inneren Stimmigkeit und nachhaltigen Tragfähigkeit geprüft und durch das Angebot von Deutungsvarianten der Tradition erweitert. Beim Thema Wundergeschichten z.B. werden die Positionen der Schülerinnen und Schüler gesammelt, die sich zwischen rationalistischen Deutungen, bei denen die in der Erzählung referierten Wunder rational erklärt werden sollen, und supranaturalistischen Deutungen, bei denen Wunder als Eingriffe Gottes in seine Schöpfung gegen die Ordnung der Natur aufgrund der Allmacht Gottes geschehen, einordnen lassen. In beiden Richtungen kann man Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der Kohärenz ihres Modells mit ihrem Gottesbild befragen (z.B. Macht, Freiheit, Wirksamkeit Gottes). Die von Jugendlichen angebotenen Auslegungen können dann durch weitere Deutungsvarianten erweitert werden, etwa die religionsgeschichtliche, die existenzbezogene, die psychologische u.a.34 Jugendliche gewinnen bei diesem religionspädagogischen Ansatz die Erkenntnis, dass die Wahrheit eines biblischen Textes auch wissenschaftlich nicht im Vorhinein festliegt. Sie erleben, dass Theorien sich durch plausible Argumente Wahrheit erarbeiten müssen, wie im Statement eines Zehntklässlers deutlich wird: »Äh, ich dachte halt immer, es gibt halt zwei Seiten, einmal die wissenschaftliche und einmal die religiöse. Die Wissenschaft sagt, ähm ja, das waren halt Tatsachen, oder es war überhaupt nicht da. Die religiöse sagt, ähm Gott war das. Aber ich hab jetzt nicht gewusst, dass es auch unter der Wissenschaft so ähm viele Theorien gibt.«35

Diese Erweiterung der Einschätzung in Bezug auf die Bibel kann in Bezug auf die Wahrheitsfrage im Sinne einer Kohärenztheorie von Bedeutung für eine weitere Beschäftigung und die Förderung eines wissenschaftlichen theologischen Interesses sein.

34 Vgl. zum Beispiel das Unterrichtsmodell von Mirjam Zimmermann, »Wunder dauern etwas länger!« Theologisieren mit Jugendlichen zum Thema »Wunder«, in: Religion 5–10, 12 (2013) 4, 23–25. 35 Annike Reiß, »Man soll etwas glauben, was man nie gesehen hat«: Theologische Gespräche mit Jugendlichen zur Wunderthematik. Kassel 2015, 343.

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3.4 Die Wahrheitsfrage beim Kompetenzaufbau zum Thema Bibel in Klasse 10/11 (Sekundarstufe II) Wenn Wahrheit der Auslegung in dieser Weise selbst zum Interpretationsgegenstand wird, sind bestimmte Folgerungen für das Verstehen der Wahrheit biblischer Texte unausweichlich: Die Frage nach der Wahrheit der Bibel kann nicht nur auf der Ebene des Textes oder seiner Entstehungssituation beantwortet werden. Der Prozess der Auslegung und Aneignung dieses Textes hat unmittelbaren Einfluss auf die Wahrheitsfrage. In der Sekundarstufe II kann diese »Wahrheit der Interpretation« nun auch auf einer abstrakten Ebene selbst zum Unterrichtsgegenstand werden. In der Sekundarstufe II steht die Arbeit mit der Bibel curricular im Zentrum. Im Rahmen der Oberstufe sollen die Wahrnehmungsund Darstellungsfähigkeit, die Deutungsfähigkeit, die Urteilsfähigkeit, die Dialog- und Gestaltungsfähigkeit vertieft werden. Während in den Schulbüchern der Sek II jeweils immer noch ein Kapitel zum Thema »Bibel« zu finden ist36, wird dieses Thema im Kerncurriculum für das Fach evangelische Religionslehre in der gymnasialen Oberstufe37 nicht separat aufgeführt. Die Schülerinnen und Schüler sollen bei der Beschäftigung mit dem Thema die »Bedeutung der Bibel als heilige Schrift erläutern, typische Sprachformen der Bibel analysieren und als Ausdruck existenzieller Erfahrungen deuten, biblische Texte methodisch reflektiert auslegen, wichtige Anliegen und Motive der Bibel wahrnehmen, diese gegenwartsbezogen auslegen und in persönlichen wie gesellschaftlichen Fragestellungen relevant machen.«38

Die Wahrheitsfrage wird somit auf den angemessenen Umgang, auf die Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit von Methoden und Fragestellungen konzentriert, mit anderen Worten: auf eine pragmatische Wahrheitstheorie. Dies lässt unterschiedliche Facetten der Wahrheitsfrage hervorleuchten: So wenig Wahrheit zeitlos und absolut verstanden werden kann, so wenig lässt sich der Sinn des Bibeltextes zeitlos verstehen, als wäre er im Text bereits ›absolut‹ vorgegeben und müsste nur noch entschlüsselt werden. So sehr Wahrheit nur geschichtsbedingt und personenbezogen greifbar wird, ist auch der Sinn des Bibeltextes nur in konkreten Kontexten und von Menschen aus Fleisch und Blut zu erfassen. So sehr Wahrheit vielperspektivisch und komplex beschrieben werden 36 Vgl. z.B. Veit-Jakobus Dieterich u.a (Hg.), Kursbuch Religion Sek II, Stuttgart 2014, 146–178. 37 Kirchenamt der EKD (Hg.), Themen und Inhalte für die Entwicklung von Kompetenzen religiöser Bildung (EKD-Texte 109), Hannover 2010. 38 Dieterich u.a. (Hg.), Kursbuch, 148.

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muss, so sehr werden auch ganz unterschiedliche Zugangsweisen erforderlich sein, um dem Sinn der Texte nahezukommen. Die Auslegung von Texten ist damit aber ein umfassendes hermeneutisches Geschehen, das Wahrheit als Sinnhaftigkeit erschließt. Anhand eines unterrichtspraktischen Versuchs39 soll dieser hermeneutische Zugang vertieft vorgestellt werden, der die oben erwähnten Kompetenzen entlang der Frage nach der Wahrheit erarbeitet. Die Frage »Ist die Bibel wahr?«, die zu Beginn der Einheit steht, wird aufgefächert in folgende Teilfragen und an ihnen entlang unterrichtlich entfaltet: 1. Ist die Bibel korrekt? Hier wird der Fokus auf den Text der Bibel, Wort, Buchstabe, Einzeltext, Kanon, gelegt. 2. Ist die Bibel plausibel? Hier geht es um den Zusammenhang von Geschichte und Geschichten, um die Dynamik der Überlieferung und die Beweiskraft der Steine (Archäologie). 3. Ist die Bibel sinnvoll? In diesem Teil sollen grundlegende Einsichten der Rezeptionsästhetik erarbeitet werden und Möglichkeiten feministischer und jüdischer Bibelarbeit erschlossen werden. 4. Ist die Bibel relevant? Hier kann verdeutlicht werden, dass die Bibel als Kulturgut Relevanz hat, aber auch menschliche Grundfragen beantwortet werden. 5. Ist die Bibel einzigartig? Hier wird Trennendes und Verbindendes bezüglich der Bibel in ihrer Beziehung zu anderen heiligen Schriften und die Frage danach, was überhaupt »heilig« in Bezug auf die Schriften der Weltreligionen bedeutet, thematisiert. Auch wenn durch diese fünf Fragen verschiedene Dimensionen im Vorgang des Verstehens untrennbar ineinanderfließen, ist es sinnvoll, sie beim strukturierten Prozess der Wahrheits- und Sinnsuche zu differenzieren. Entsprechend werden beim unterrichtlichen Zugang einzelne Perspektiven eingenommen, die an je unterschiedlichen Ansatzpunkten des Bibelverstehens ihren Schwerpunkt setzen, sei es bei der sprachlichformalen Gestalt des Textes (Ist die Bibel korrekt?), sei es bei der historischen Entstehungssituation (Ist die Bibel plausibel?) oder bei der Situation eines bestimmten Leserkreises (Ist die Bibel [für mich] sinnvoll?). Dabei wird auf klassische und neuere Formen der Textauslegung zurückgegriffen, die jedoch immer auf ihre hermeneutische Tiefendimension hin befragt und zugespitzt werden. Setzen diese Zugänge bereits ein Interesse am Bibelverstehen voraus, muss im Horizont einer multikulturellen und -religiösen Gesellschaft darüber hinaus der Bedeutungszusammenhang der Bibel eigens thematisiert werden. Dabei ist zunächst die Frage zu stellen, ob und inwiefern die Bibel in der postmodernen und postsäkularen Gesellschaft für soziale Gruppen, Institutionen (z.B. die Kirche) oder einzelne Menschen noch relevant sein kann (Ist die Bi39

Vgl. Zimmermann/Zimmermann, Textsinn.

In Wahrheit erfunden

351

bel [noch] relevant?). Ferner ist nach der Stellung der Bibel im Vergleich zu ›heiligen Schriften‹ in anderen Religionen zu fragen (Ist die Bibel einzigartig?). Bezüge von der so behandelten Wahrheitsfrage zu verschiedenen anderen Einheiten der Oberstufe können leicht hergestellt werden, wie z.B. zum Thema – Wirklichkeit: die Wahrnehmung von Wirklichkeit in Naturund Geisteswissenschaft; – Gottesglaube: Gott in der Bibel, die Eigenarten biblischen Redens von Gott; – Jesus Christus: der historische Jesus, biblische Quellen und ihre Glaubwürdigkeit, Biografisches, die Botschaft Jesu, die Botschaft der Evangelisten, die Botschaft der Zeit, Wunder Jesu, Rezeption der Gestalt Jesu; – Anthropologie: die Suche nach Lebenssinn im Horizont biblischer Tradition, Identitätsfindung durch Abgrenzung und Anknüpfung an vorhandene Konzepte. Vorausgesetzt wird dabei, dass auch trotz offenkundiger kosmologischer und geschichtlicher Irrtümer und Widersprüche am Wahrheitsanspruch der Bibel festgehalten werden kann und dieser Wahrheitsgehalt auch Schülerinnen und Schülern vermittelbar und verstehbar ist. Um den Wahrheitsgehalt biblischer Texte zu erfassen, ist es unerlässlich, Wahrheit in einem weiteren Sinn als pragmatische Lebenswahrheit zu begreifen. Der Wahrheitsgehalt der Bibel entzieht sich somit dem Kontrollierbarkeitspostulat propositionaler Sätze, er liegt vielmehr auf einer anderen, existentialen Ebene. Von hier aus wird deutlich, dass die »Wahrheit der Bibel« zum Interpretationsgegenstand wird. Nicht die Frage nach ›objektiver Korrespondenzwahrheit‹, sondern die Frage nach ›subjektiver‹ bzw. im Sinn von pragmatischen Theorien ›intersubjektiver‹ Lebenswahrheit kann den Wahrheitsgehalt eines biblischen Textes erschließen. 3.5 Die Wahrheitsfrage im Rahmen einer Metadiskussion zum Thema Wahrheitstheorien (Sekundarstufe II und Hochschuldidaktik) Auch im Rahmen der Arbeit mit Studierenden, die schon ihre exegetischen Proseminararbeiten geschrieben und teilweise neu- oder alttestamentliche Hauptseminararbeiten verfasst haben, wird immer wieder deutlich, dass die Frage nach der Wahrheit der Bibel Unsicherheit hervorruft und Studierende die Wahrheitsfrage auf die Korrespondenzwahrheit reduzieren und unsicher sind, was sie auf Schülerfragen nach der Wahrheit der Bibel antworten können. Bei der Ausbildung muss deshalb die theologisch-religionspädagogische Kompetenz in Bezug auf die Wahrheitsfrage im Blick bleiben. Diese gilt es im Sinne einer

352

Mirjam Zimmermann

– Wahrnehmungskompetenz (Wo spielt die Wahrheitsfrage in meinem Unterricht eine Rolle? Wo stellen Schülerinnen und Schüler explizit oder implizit diese Frage?) – Reflexionskompetenz (Welcher Ansatz über welches wahrheitstheoretische Modell kann Antworten geben? Wie veranschauliche ich das Problem »Fakt und Fiktion« in biblischen Texten40?) – Gestaltungskompetenz (Welche Lehr- und Lernprozesse im Bereich religiöser Bildung fokussieren [kumulativ] die Wahrheitsfrage? Wie kann Schülerinnen und Schülern beim Erwerb dieser hermeneutischen Kompetenz geholfen werden? Wie können diese individuellen Lernprozesse gefördert und organisiert werden?) von Seiten der Lehrenden an Universitäten und Seminaren zu unterstützen. Denn die Wahrheitsfrage ist hier eine aktuelle elementare religiöse (Schüler-)Frage, die das eigene religiöse Handeln und Denken maßgeblich beeinflusst. Wird die Wahrheitsfrage in diesem Sinne kumulativ angelegt, wird sie schon in der Grundschule erzählerisch eingeleitet, im Umgang mit biblischen Texten und ihren archäologischen Bezügen aufgenommen, durch die Öffnung im Konzept des Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen vorangebracht und methodisch in der Frage einer hermeneutischen Schriftauslegung pragmatisch vertieft, kann das ein großer Gewinn für die Arbeit mit der Bibel im Religionsunterricht sein. Vielleicht geben dann bei einer Untersuchung 2030 auch 90 % der jungen Erwachsenen als Konsens an, dass in ihrer Einschätzung, die Korrespondenztheorie überschreitend, die Bibel im Sinne der Kohärenz-, der Konsens- und der pragmatischen Wahrheitstheorie als wahr angesehen wird. Abstract Especially in classes with students aged 10 to 15, the question about the truth of the bible is a central one, as various surveys about biblical understanding have shown. The first part of this article is to ask, which ways of understandings and limits of the biblical truth can arise from the context of theories of truth. The second part is to ask about ways to work on the question of truth against the backdrop of these theories in religion classes. The main thesis of this article is that the question of truth should not be feared as a problem for belief and biblical understanding. It rather brings a special potential to the deepening of a biblical-hermeneutical competence.

40 Vgl. das Themenheft »Wie ist die Bibel wahr? Fakt und Fiktion in biblischen Texten«, in: Bibel und Kirche (2013) 3.

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In Wahrheit erfunden

Finally, didactic examples will show, how, starting in primary school, the question of truth can be constructively and cumulatively integrated into religion classes by means of competence orientation.

*** Mirjam Zimmermann, geb. 1969, Dr. theol., ist Professorin für Religionspädagogik/Fachdidaktik an der Universität Siegen und Associate Research Professor at the University of the Free State Bloemfontein.

Hanspeter Schmitt

Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral? Theorie und Praxis ethischer Schriftauslegung

1

Frage

Niemand bestreitet, dass einzelne biblische Texte und die Bibel als Gesamtes fundamentale Bedeutung für Glauben, Kirche und eine christlich gelebte Moral besitzen. Worin diese Bedeutung genau und aktuell liegt bzw. wie sie sich im Umgang mit den Vorgaben der Heiligen Schrift erschließt, ist aber eine offene Frage. Gleichwohl findet diese Vermittlung permanent statt: im Dienste der Theologie oder kirchenamtlicher Äußerungen, in der Verkündigung und liturgischen, sakramentalen oder diakonischen Pastoral, zugunsten der spirituellen Lebensführung und auch im Bereich moralischer bzw. ethischer Reflexion, um den es in meinem Beitrag geht. Diesbezüglich werden selbst jenseits kirchlicher Kreise und gläubiger Biographien biblische Texte oder Verweise zum Anhaltspunkt, um sittliche Orientierung und Humanität zu fördern und zu begründen1. Das ist zweifellos beeindruckend und bezeugt die praktizierte moralische Relevanz der Bibel. Ob es aber sach- wie schriftgerecht geschieht, entscheidet sich nicht allein entlang der Praxis. Vielmehr ist es eine Frage der Struktur allen Verstehens (Hermeneutik) und eines darauf basierenden kunstgerechten Vorgehens (Methodik), um historische Texte und speziell die biblische Literatur ethisch wie theologisch angemessen auszulegen und fruchtbar werden zu lassen. Dass genau diese Frage offen und ungelöst erscheint, wird von den Vertretern der Exegese wie der Theologischen Ethik einhellig bedauert und als Desiderat ihrer Forschungen bezeichnet2. 1 Besonders prominentes Beispiel: J. Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1992, 127–156; ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, 119–154; ders., Glaube, Wissen – Öffnung, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 237 vom 15. 10. 2001, 17; ders. / J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg/Basel/Wien 2005. 2 Vgl. exemplarisch: F. Noichl, Ethische Schriftauslegung. Biblische Weisung und moraltheologische Argumentation, Freiburg/Basel/Wien 2002, 15–30, 45–104; C. Frevel (Hg.), Orientierung! Grundfragen einer Ethik des Alten Testaments, in: ders., Mehr als Zehn Worte? Zur Bedeutung des Alten Testaments in ethischen Fragen (QD 273), Freiburg/Basel/Wien 2015, 9–57, hier 11–16, 26f., 50; S. Goertz, Begründen und Er2

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Hanspeter Schmitt

Dieses Desiderat besteht nach wie vor, obschon seit vielen Jahrzehnten intensiv daran gearbeitet wird, es zu beheben. Dabei waren Fachleute der großen christlichen Konfessionen neben-, selten aber miteinander tätig, wobei man sich inhaltlich näher kam, ohne dass es bislang ausreichend gewürdigt worden ist3: Seitens der katholischen Theologie sah man sich bereits durch Strömungen vor dem Zweiten Vatikanum und erst Recht durch seine Beschlüsse zu einer biblischen Neuorientierung der Moraltheologie inspiriert4. Seither ist man bemüht, den vormaligen – auf Naturrecht und Norm fixierten – Positivismus des Faches zu überwinden. Biblische Texte und Traditionen sollen – weit über die Normfrage hinaus – echte Bezugsgrößen des anthropologischen, humanen und theologischen Denkens sein. Dabei wird ein reflektierter wie respektvoller Umgang mit der Bibel angestrebt und gefordert, was eine klare Absage an jedwede subtile Vereinnahmung darstellt, gleich ob in biblizistischer, dekorativer, subjektivistischer oder ideologischer Manier. Seitens der reformierten Theologie war die Relevanz biblischer Traditionen immer ein programmatischer Topos, der sich in der herausragenden Stellung des Sola-scriptura-Prinzips spiegelt5. Allerdings brachzählen. Lektüren des Alten Testaments in der gegenwärtigen Moraltheologie, in: ebd., 393–414, hier 411ff.; T. Söding, Biblische Sozialethik und christliche Hermeneutik. Neutestamentliche Anfragen, in: M. Vogt (Hg.), Theologie der Sozialethik (QD 255), Freiburg/Basel/Wien 2013, 146–188, hier 149–152; M. Hofheinz, Einleitung: Wie kommt die Ethik in die Bibel?, in: ders. / F. Mathwig / M. Zeindler (Hg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, 9–22, hier 12–19; M. Heimbach-Steins, Begründen und/oder Verstehen – Vermittlungsgestalten zwischen biblischer Botschaft, sittlichem Subjekt und gerechter Praxis, in: ebd., 243–261, hier 260. 3 Vgl. hingegen H.-E. Tödt, Der Spielraum des Menschen. Theologische Orientierung in den Umstellungskrisen der modernen Welt, Gütersloh 1979, bes. 31–71. Vgl. zudem das dezidiert ökumenische Projekt: A. Hertz / W. Korff / T. Rendtorff / H. Ringeling (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik. 3 Bände, Freiburg/Basel/Wien 1978– 1982. 4 Zur geschichtlichen wie systematischen Entwicklung (auch mit Verweis auf diesbezüglich maßgebliche Dokumente des Zweiten Vatikanums: Optatam Totius 16; Dei Verbum 24): Goertz, Begründen (Anm. 2); ders., Biblisch »auf Abstand«. Anmerkungen zum Selbstverständnis der Moraltheologie, in: M. Hüttenhoff / W. Kraus / B. Schröder (Hg.), Die Bibel und die Kultur der Gegenwart, St. Ingbert 2007, 145–169. Vgl. auch die Entwicklung in den Dokumenten der vatikanischen Expertengruppe: Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (23. April 1993), Bonn 1993; dies., Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), Bonn 2001; dies., Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Bonn 2009. 5 Vgl. H. Schmid / J. Mehlhausen (Hg.), Sola Scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt, Gütersloh 1991; C. Gestrich, Schriftauslegung und Macht – ein unerledigtes Problem von »sola scriptura«. Ein Beitrag zur evangelisch-katholischen Verständigung, in: Berliner Theologische Zeitschrift 22 (2005), 250–266.

Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral?

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ten hier drängende, heiß diskutierte ethische Herausforderungen eine präzisierende Wirkung hervor: Man zeigte sich zunehmend bereit, die Bibel auch als konkrete Maßgabe solcher Verantwortungsbereiche – wie Friedenspolitik oder Sexualitätsgestaltung – zu lesen6. Wenn davor die Sorge herrschte, in eine gesetzliche Verfremdung des Glaubens – im Sinne der Werkgerechtigkeit – abzudriften, bezog man nun die Bibel in die ethische Urteilsfindung offensiv mit ein. Auf beiden Seiten müht man sich zudem um einen theoretischen Rahmen der zur Debatte stehenden Vermittlung von Schrift und Leben7: Gemeinsam ist dabei das besagte hermeneutische und methodische Interesse an ethischer Begründung, ohne das theologische Bewusstsein für die praktische Eigenwertigkeit des Glaubensvollzugs zu verlieren. Nicht allein um moralische Erkenntnisse scheint es also in der Auslegung biblischer Texte zu gehen. Immer geht es um ein Erschließen und Öffnen der »Kommunikation Gottes«8, die Menschen auf das Heil der Schöpfung und ihre Umkehr anspricht, sie dabei aber vorleistungsfrei annimmt und so zur Fülle gelungenen Lebens befreit. 2

Problemlagen

Im Hintergrund dieser Frage nach dem »Wie« der ethischen Schriftauslegung wirken Problemlagen, die nicht genuin theologischer Herkunft sind. Sie betreffen komplexe, gleichfalls offene philosophische Diskurse, 6 Vgl. exemplarisch: Tödt, Spielraum (Anm. 3); ders., Biblische Botschaft und moderne Friedenskonzepte. Hermeneutische Probleme des Verhältnisses von Bibelexegese und kirchlicher Friedensforschung, in: G. Liedke (Hg.), Eschatologie und Frieden, Bd. II: Eschatologie und Frieden in biblischen Texten, Heidelberg 1978, 333–392; H. Ringeling, Theologie und Sexualität. Das private Verhalten als Thema der Sozialethik, Gütersloh 1968; ders., Neue Humanität. Beiträge zur theologischen Anthropologie, Gütersloh 1975; Kirchenkanzlei der EKD (Hg.), Ehe, Familie, Sexualität, Jugend (Denkschriften, Bd. 3), Gütersloh 1981; W. Härle / R. Preul (Hg.), Sexualität – Lebensformen – Liebe, Marburg 1995. Zur Sorge bezüglich einer gesetzlichen Verfremdung des Glaubens: Tödt, Spielraum (Anm. 3), 56–58. 7 Vgl. meinen so betitelten ersten Versuch: H. Schmitt, Schrift und Leben. Zur moralpraktischen Bedeutung der Bibel, in: Orientierung 69 (2005), 99–104. Vgl. mit Blick auf eine Theorie schriftbezogener Pastoral: O. Fuchs, Biblische Geschichten und christliches Handeln. Überlegungen zu einer angemessenen Vermittlungstheorie zwischen Schrift und Leben, in: Katholisches Bibelwerk e.V. (Hg.), Dynamik im Wort, Stuttgart 1983, 361–383. In jüngerer Zeit: Hofheinz/Mathwig/Zeindler (Anm. 2); M. HeimbachSteins / G. Steins (Hg.), Bibelhermeneutik und christliche Sozialethik, Stuttgart 2012; Frevel, Zehn Worte (Anm. 2). 8 H. Schmitt, Empathie und Wertkommunikation. Theorie des Einfühlungsvermögens in theologisch-ethischer Perspektive, Freiburg/Basel/Wien 2003, 413. Vgl. die systematische Entfaltung des Begriffs der »Kommunikation Gottes« im bibeltheologischen Horizont, in: ebd., 420–490. Vgl. auch ders., Schrift (Anm. 7), 103f.

358

Hanspeter Schmitt

die aber mit den spezifisch theologischen Herausforderungen direkt verknüpft sind. 2.1

Moraltheorie

Als erstes berührt das verfolgte Ansinnen einen »Krisenherd« praktischer Philosophie: Hier wird seit geraumer Zeit überlegt, auf welcher Basis oder mittels welcher Logik Normen im Konkreten und moralische Wissensbestände im Allgemeinen als gerechtfertigt bzw. wohlbegründet gelten können. Die bereits in den 1970er Jahren darüber breit und strittig geführte Debatte hat zu zahlreichen, sehr unterschiedlichen Theorien und Ansätzen, aber zu keinem Konsens geführt – und verebbte ratlos9. Hinzu kommt, dass selbst die – bei all dem fundamentale – Möglichkeit der Letztbegründung aller sittlichen Ansprüche philosophisch umstritten ist und im Kern als existentielle, von kultureller Erfahrung abhängige Option gedeutet wird. Der theologische Versuch, biblische Texte in den praktischen Diskurs methodisch einzuführen, hat wohl oder übel Anteil an diesen philosophischen Unwägbarkeiten. Zudem stehen dort Aussagen originär religiöser Herkunft unter dem Generalverdacht, exklusiven Glaubensoptionen zu entstammen und jenseits ihrer Bereiche nicht rationalisierbar zu sein10. 2.2

Verstehenstheorie

Im Horizont solcher Begründungsprobleme tut sich eine zweite Herausforderung auf, die mit dem Phänomen und Wesen des VerstehenKönnens verbunden ist: Die kritische Reflexion moralischer Wissensbestände und die daraus resultierende Entwicklung sittlich-praktischer 9 Hierzu exemplarisch: M. Riedel, Norm und Werturteil. Grundprobleme der Ethik, Stuttgart 1979; W. Oelmüller (Hg.), Transzendentalphilosophische Normenbegründungen, Paderborn 1978; ders. (Hg.), Normenbegründung – Normendurchsetzung, Paderborn 1978; ders. (Hg.), Normen und Geschichte, Paderborn 1979. Vgl. für den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund: H. Albert / E. Topitsch (Hg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1971; T.W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt/Neuwied 1972. Auch der breit rezipierte Ansatz einer kommunikativen Begründung moralischen Bewusstseins ist deutlicher Kritik ausgesetzt: vgl. A. Honneth / H. Joas (Hg.), Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«, Frankfurt a.M. 1986; E. Arens (Hg.), Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns, Düsseldorf 1989. Vgl. hierzu: J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 31989; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991; ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 41991; ders., Theorie des kommunikativen Handelns. Zwei Bände, Frankfurt a.M. 1988. 10 Ein Vorwurf, der besonders auch in politisch geführten Ethikdebatten stereotyp erhoben wird.

Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral?

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Standpunkte bewegt sich im Rahmen der Fähigkeit, Bedeutsames erkennen und Sinn erfahren bzw. herstellen zu können. Schon lange ist die Philosophische Hermeneutik den inneren wie den äußeren Gesetzmäßigkeiten des Verstehens auf der Spur11. Sie hat gezeigt, dass Menschen dabei mit Ereignissen und Deutungen ihrer sozialen Umgebung und Lebenswelt, ihrer Geschichte und Kulturen kommunizieren – und sich auch selbst und einander ins Spiel bringen. Diese sinnstiftenden Bezüge und Prozesse interagieren und bedingen sich wechselseitig, wirken bewahrend wie innovativ. So aber entsteht eine Vielfalt, Sozialität und Hintergründigkeit menschlichen Verstehens, die nicht voll zu ergründen ist. 2.3

Rezeptionstheorie

Drittens hat man es in der ethischen Auslegung der Bibel mit historischen Texten zu tun. Sie besitzen für die christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften den Status einer primären Wahrheit, auf die sie sich – um ihrer eigenen Identität willen – permanent beziehen. Jedenfalls wird so eine spezifische Form des Verstehens berührt, die sich auf Geschriebenes und ihre Kontexte stützt und im Akt eigenen wie gemeinsamen Lesens entsteht. In jüngerer Zeit wurden zahlreiche Lektüre- und Rezeptionstheorien entwickelt und kontrovers diskutiert, um die Struktur dieses Aktes und seine Wirkung besser zu verstehen12. Dabei stößt man auf faszinierende, jedoch nicht leicht durchschaubare Bedingungen kultureller wie persönlicher Existenz, die selbstredend auch jede Theorie der Bibelrezeption betreffen. Man denke nur an die umstrittene Frage, ob denn »Sinn« als maßgebliche Wahrheit eines Textes objektiv gegeben ist, wie er sich hermeneutisch zusammensetzt und in11 Vgl. K. Joisten, Philosophische Hermeneutik, Berlin 2009; J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 32012; E. Coreth, Grundfragen der Hermeneutik. Ein philosophischer Beitrag, Freiburg/Basel/Wien 1969; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2 1965. 12 Vgl. exemplarisch: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975; H.R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 41991; W. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 51993; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 41994; P. Ricœur, Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), Hamburg 2005; ders., Zeit und Erzählung, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung, München 1984; U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 1992; ders., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München/ Wien 1994; ders., Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München/Wien 31998; H. Steinmetz, Sinnfestlegung und Auslegungsvielfalt, in: H. Brackert / J. Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Hamburg 41996, 475–490.

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Hanspeter Schmitt

wiefern er alle ihm nachfolgenden Interpretationen und Rezipienten an sich bindet – oder auch nicht13. 2.4

Glaubenstheorie

Neben diesen unabdingbaren philosophischen Aufgaben tut sich eine spezifisch theologische Problemlage auf. Sie dreht sich um das bereits erwähnte Verhältnis von Glauben und Moral, Wort Gottes und menschlicher Praxis. Auf der Agenda der Theologie steht damit ein Anliegen, das unter dem Begriff »Proprium«14 wieder aufgenommen wurde, kirchliche wie fachliche Diskurse seit Jahrzehnten konfessionsübergreifend prägt und doch als nicht eingelöst bezeichnet werden kann. Deutlich ist, dass eine Relevanz auch biblischer Moralgründe substanziell und nachhaltig bestimmt werden soll. Das darf nicht auf Kosten ethischer Rationalität und Mündigkeit gehen, aber auch nicht so, dass durch diese Vermittlung der Sinn und die Dynamik christlichen Glaubens auf moralische Größen reduziert würden. Worin freilich die wechselseitige Relevanz exakt besteht und wie sie auf Basis der notwendigen jeweiligen Eigenständigkeit erarbeitet und fruchtbar werden kann, ist ein Kernproblem der hier aufgeworfenen offenen Frage. 3

Herausforderung

Es gilt, sich dieser Offenheit auch weiterhin zu stellen und im vollen Bewusstsein der Herausforderung hermeneutische wie methodische Klärungen anzustreben. Dazu gehört aber auch, die Tatsache bzw. die Erfahrung der Offenheit dieser Frage als solche in den Blick zu nehmen und zu würdigen. Sie könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese Frage anders oder vorsichtiger gestellt werden muss. Immerhin hängt alles Verstehen – auch das der biblischen Traditionen und Texte – von Menschen als den Subjekten des Verstehens ab. Es entspringt, formt und klärt, bewahrt, bewährt und wandelt sich mittels 13 Vgl. Steinmetz, Sinnfestlegung (Anm. 12); Eco, Grenzen (Anm. 12); ders., Lector (Anm. 12). 14 H. Boventer (Hg.), Ethische Normen – und das christliche Proprium, Bensberg 1980; A. Auer, Das christliche Proprium des Sittlichen, in: ebd., 61–91; ders., Autonome Moral und christlicher Glaube, Düsseldorf 21984; D. Mieth, Autonome Moral im christlichen Kontext. Zu einem Grundlagenstreit in der theologischen Ethik, in: Orientierung 40 (1976), 31–34; B. Stoeckle, Grenzen der autonomen Moral, München 1974. Darauf rückblickend und mit systematischen Schlussfolgerungen: H. Schmitt, Glaube als Größe und Grenze optionaler Moral. Im Gespräch mit Hans Joas, in: Ethica 23 (2015), 99–114. Zur Frage nach dem Proprium christlich orientierter Ethik siehe unten Abschnitt 10.

Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral?

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ihrer leibhaftigen, reflexiven, biographischen und existentiellen Vermögen. Damit aber ist jede Theorie und Methode des Verstehens – bezüglich seiner Akteure, seiner Themen und Ideen – zutiefst betroffen von diesem Wesen verstehender Subjekte. Sie ist geprägt und nimmt teil an der definitiven Grenze des Begreifens, Objektivierens und Benutzens, welche zugleich die Würde von Menschen markiert, die nicht auf ein fixes, latent machtförmiges Wissen festgelegt werden dürfen. Das hindert aber umgekehrt keineswegs daran, sondern spornt – gerade auch in dieser Hinsicht – an, eine angemessene, mithin kritische Theorie ethischer Schriftauslegung weiter zu entwickeln. 4

Vorarbeiten

Diesbezüglich haben Expertinnen und Experten aller betroffenen Fächer umsichtige Vorlagen erarbeitet und das Thema – aus hermeneutischer wie methodischer Perspektive – erörtert und präzisiert: 4.1

Erste ethische Bibelrezeptionen

So kam es schon früh in Grundlagenwerken katholischer Ethik zu einer materialen Sichtung biblischer Stoffe und ihrer systematischen Bedeutung für die moraltheologische Reflexion15. Zeitgleich trat aber – anlässlich prekärer lehramtlicher Äußerungen16 – das Anliegen sittlicher Autonomie und ethischer Rationalität stark in den Vordergrund. Das führte, was die moralische Relevanz biblischer Texte angeht, teils zu inhaltlich defensiven, auf Motivation und theologischen Sinn beschränkte Vorstellungen, die bis heute nachwirken. In diesem Zusammenhang würde es sich lohnen, die Forschungen reformierter Theologie zur Schrifttreue17 katholisch mehr zur Geltung 15 F. Böckle, Fundamentalmoral, München 41984, 167–232; P. Hoffmann / V. Eid, Jesus von Nazareth und eine christliche Moral (QD 66), Freiburg/Basel/Wien 21975; Auer, Autonome Moral (Anm. 14), 55–122. Vgl. auch: H. van Oyen, Ethik des Alten Testaments, Gütersloh 1967; H.-D. Wendland, Ethik des Neuen Testamentes. Eine Einführung, Göttingen 1978; R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testamentes, Bd. 1: Von Jesus zur Urkirche, Freiburg/Basel/Wien 1986; J. Becker, Das Problem der Schriftgemäßheit der Ethik, in: A. Hertz / W. Korff / T. Rendtorff / H. Ringeling (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien 1978, 243–269. Vgl. auch: H. Frankemölle, Biblische Handlungsanweisungen. Beispiele pragmatischer Exegese, Mainz 1983; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testamentes, Stuttgart 1994; F.W. Horn / R. Zimmermann (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik, Bd. 1, Tübingen 2009. 16 Vgl. Schmitt, Glaube (Anm. 14), 102–107 (Lit!). 17 Vgl. Schmid/Mehlhausen, Sola scriptura (Anm. 5); M. Honecker, Sola scriptura im Bereich sozialethischer Entscheidungen, in: ebd., 130–140; W. Härle, Sola scriptura im Begründungszusammenhang christlicher Ethik, in: ebd., 116–129; M. Beintker, Anmer-

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zu bringen. Denn hier wird – systematisch und auf Basis gewachsener Konzepte – ein biblischer Anhalt gesucht, der in hohem Maß vital und verbindlich ist, ohne den Anspruch ethischer Rationalität gefährden zu wollen. 4.2

Frühe hermeneutische Versuche

Daneben wurden zudem dezidiert hermeneutische Überlegungen vorgelegt, die sich auf die Methodenfrage ethischer Bibelinterpretation konzentrieren: Man entwickelte und erprobte Schlüsselbegriffe wie »Modell«18, »Perspektive«19 oder »Beispiel«20, wobei die Bibel auch inhaltlich wieder stärker eingespielt wurde, der Anspruch sittlich-rationaler Selbstbestimmung aber klar vor Augen stand21. Leider sind diese Arbeiten in kungen zur Kategorie der Texttreue, in: ebd., 281–291; Gestrich, Schriftauslegung (Anm. 5); G. Sauter, Wie können wir Schrifttreue wahren und zugleich die Bibel von unserer Situation her lesen?, in: Evangelische Theologie 69 (2009), 317–329; M. Weinrich, Die Bibel legt sich selber aus. Die ökumenische Herausforderung des reformatorischen Schriftprinzips oder vom verheißungsvollen Ärgernis angemessener Bibelauslegung, in: H. Frankemölle (Hg.), Die Bibel. Das bekannte Buch – das fremde Buch, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, 43–59. 18 J. Blank, Zum Problem »Ethischer Normen« im Neuen Testament, in: Concilium 3 (1967), 356–362. Hierzu: K. Hilpert, Modell – Norm – Beispiel. Zum Verhältnis von Situation und normativer Tradition als Grundproblem moraltheologischer Hermeneutik, in: Zeitschrift für katholische Theologie 108 (1986), 266–281; R. Dillmann / J. Hochstaffl, Jesus als Modell. Praxisbegleitung in einem Gemeindebesuchsdienst, Mainz 1991, bes. 45–65; R. Dillmann / M. Grilli / C. Mora Paz, Vom Text zum Leser. Theorie und Praxis einer handlungsorientierten Bibelauslegung, Stuttgart 2002. Im Sinne einer allgemeinen Theorie narrativer Ethik: D. Mieth, Moral und Erfahrung. Beiträge zur theologisch-ethischen Hermeneutik, Freiburg (Schweiz) 31977; ders., Die Bedeutung der menschlichen Lebenserfahrung. Plädoyer für eine Theorie des ethischen Modells, in: Concilium 12 (1976), 623–633. 19 Auf katholischer Seite: Hoffmann/Eid, Jesus (Anm. 15), bes. 17–72; V. Eid, Sittlich bedeutsame Perspektiven aus der Verkündigung Jesu. Christlicher Glaube und sittliches Handeln, in: ders., Christlich gelebte Moral. Theologische und anthropologische Beiträge zur theologischen Ethik, Freiburg/Basel/Wien 2004, 106–118. Vgl. im Kontext: ders., Biblische Perspektiven, in: ebd., 87–148; ders., Praxis-Perspektiven aus der Bibel? Rückblick auf eine Theorie, in: J. Kügler / E. Suoga Onomo / S. Feder (Hg.), Bibel und Praxis, Münster 2011, 37–43. Auf evangelischer Seite: H.-E. Tödt, Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 21 (1977), 81– 93; ders., Spielraum (Anm. 3); ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988; ders., Biblische Botschaft (Anm. 6). Hierzu: W. Schuhmacher, Theologische Ethik als Verantwortungsethik. Leben und Werk Heinz Eduard Tödts in ökumenischer Perspektive, Gütersloh 2006; F. Mathwig, Konfliktfall Bibel – Wie kommt die Bibel in die ethische Praxis?, in: Hofheinz/Mathwig/Zeindler, Bibel (Anm. 2), 285–322, hier 312–318. 20 Fuchs, Geschichten (Anm. 7), im Sinne einer praxisbezogenen Vermittlung zwischen Bibel und pastoralem Handeln; Hilpert, Beispiel (Anm. 18), bes. 272–281. 21 Vgl. auch mit Bezug auf unterschiedliche Schlüsselbegriffe: K. Kertelge (Hg.), Ethik des Neuen Testamentes (QD 102), Freiburg/Basel/Wien 1984; H. Rotter (Hg.), Heilsgeschichte und ethische Normen (QD 99), Freiburg/Basel/Wien 1984; B. Fraling, As-

Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral?

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der aktuellen theologisch-ethischen Diskussion faktisch in Vergessenheit geraten22. 4.3

Unterschiedlich orientierte Beiträge

Außerdem erschienen im Lauf der Jahre eine Vielzahl von Beiträgen, die sich mit Blick auf eine Gestaltungsfrage oder aus grundsätzlichem Interesse dem Thema zuwandten23: Sie erinnern in der Regel und wahlweise pekte ethischer Hermeneutik in der Schrift, in: ebd., 15–63; ders., Vom Ethos der Bibel zu biblischer Ethik. Versuche zur biblischen Grundlegung der Moraltheologie, Thaur/ Wien/München 1998; E. Schüssler Fiorenza, WeisheitsWege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2005; dies., Gerecht ist das Wort der Weisheit. Historisch-politische Kontexte feministischer Bibelinterpretation, Luzern 2008. 22 Vgl. aber jüngst mit dezidiert bibelhermeneutischer Anwendung des Modellbegriffes: D. Mieth, Narrative Ethik in der literarischen Fiktion als Ermöglichung von »ethischen Modellen«, in: M. Hofheinz / M. Coors (Hg.), Die Moral von der Geschicht‘. Ethik und Erzählung in Medizin und Pflege, Leipzig 2016, 95–108. Hierzu auch: W. Lesch, Hermeneutische Ethik / Narrative Ethik, in: M. Düwell / C. Hübenthal / M.H. Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 231–242; 23 Dafür exemplarisch: J.R. Backes / E. Brünenberg-Bußwolder / P. Van den Heede (Hg.), Orientierung an der Schrift: Kirche, Ethik und Bildung im Diskurs, Göttingen 2017; H.G. Ulrich, Biblische Tradition und ethische Praxis, in: Hofheinz/Matwig/ Zeindler, Bibel (Anm. 2), 263–284; Söding, Sozialethik (Anm. 2); F. Wagener, Figuren als Handlungsmodelle. Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas und Thomas als Zugänge zu einer narrativen Ethik des Johannesevangeliums, Tübingen 2015; G. Theißen, Bibelhermeneutik und Ethikbegründung. Wie können Imperative in religiösen Erfahrungen begründet werden?, in: F.W. Horn / U. Volp / R. Zimmermann (Hg.), Ethische Normen des frühen Christentums, Tübingen 2013, 29–49; C. Frey, Wege zu einer evangelischen Ethik. Eine Grundlegung, Gütersloh 2014, 141–216; C. Cebulj, Mehr Prophetie wagen. Bibelarbeit im Religionsunterricht als ethischer Akt, in: L. Rendle (Hg.), Gerechtigkeit lernen. Ethische Bildung im Religionsunterricht, Donauwörth 2014, 62–74; T. Krüger, »Wer weiß denn, was gut ist für den Menschen?« Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Ethik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 55 (2011), 248–261; J. Fischer, Die Bedeutung der Bibel für die Theologische Ethik, in: ebd., 262–273; W. Kirchschläger, Maßgeblich und unerlässlich. Historischkritische Bibelauslegung, in: Schweizerische Kirchenzeitung 177 (2009), 600–603; H. Halter, Lässt sich eine Ethik aus der Bibellektüre begründen?, in: ebd., 656–659; S. Ernst, Grundfragen theologischer Ethik. Eine Einführung, München 2009, 51–97; E. Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg/Basel/ Wien 2007, 33–37; R. Kessler, Altes Testament und gegenwärtige ethische Herausforderungen. Das Beispiel der Wirtschaftsethik, in: Frevel, Zehn Worte (Anm. 2), 374–392; Goertz, Begründen (Anm. 2); ders., Biblisch (Anm. 4); W. Lienemann, Grundinformation theologische Ethik, Göttingen 2008, 177–203; M. Beintker, Die Verbindlichkeit biblischer Aussagen für die ethische Entscheidungsfindung der Christen, in: Härle/Preul (Anm. 6), 123–135; U. Bechmann, Bibel und Gewalt. Auf der Suche nach neuen Wegen im Umgang mit der Heiligen Schrift, in: J. Kügler / W.H. Ritter (Hg.), Auf Leben und Tod oder völlig egal. Kritisches und Nachdenkliches zur Bedeutung der Bibel, Münster 2005, 105–122; R. Kirchhoff, Ethik in der Bibel – Bibel in der Ethik: Über die Verwendung biblischer Texte im ethischen Kontext, in: Zeitschrift für Neues Testament 6 (2003), 25–32; K.-W. Merks, Gott und die Moral. Theologische Ethik heute, Münster

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an Voraussetzungen oder Eckdaten biblischer Hermeneutik, schriftgemäßer Auslegung, ethischer Arbeit und sittlicher Vernunft, so dass Standards und Wegmarken einer ethischen Bibelrezeption deutlich werden. Eine wirklich zufriedenstellende, hermeneutisch wie methodisch integrierte Konzeption zeichnet sich darin jedoch noch nicht ab24. 4.4

Kanonisch interessierte Aufbrüche

Mit der sukzessiven Etablierung der kanonisch denkenden Exegese scheint für viele auch in dieser Hinsicht ein neues Kapitel aufgeschla1998, 161–236; W. Wolbert, Zeitliches und Überzeitliches in der sittlichen Botschaft der Bibel, in: M. Heimbach-Steins / A. Lienkamp / J. Wiemeyer (Hg.), Brennpunkt Sozialethik. Theorien, Aufgaben, Methoden, Freiburg/Basel/Wien 1995, 121–134; J.M. Gustafson, Der Ort der Schrift in der christlichen Ethik. Eine methodologische Studie, in: H.G. Ulrich (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 246–279; G. Sauter, Die Kunst des Bibellesens, in: Evangelische Theologie 52 (1992), 347–359; A. Soete, Ethos der Rettung – Ethos der Gerechtigkeit. Studien zur Struktur von Normbegründung und Urteilsfindung im Alten Testament und ihrer Relevanz für die ethische Diskussion der Gegenwart, Würzburg 1987; U. Luz, Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte, in: Evangelische Theologie 42 (1982), 493–518. 24 Gleichwohl erschließend für den Hintergrund bibelhermeneutischer Herausforderungen: P.G. Kirchschläger, Mass-Losigkeit und andere ethische Prinzipien des Neuen Testaments, Leuven 2017; C. Heil / R. Hoppe (Hg.), Menschenbilder – Gottesbilder. Die Gleichnisse Jesu verstehen, Ostfildern 2016; G. Theißen, Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, Berlin 2014; H. Hempelmann, Hält die Bibel-Hermeneutik, was sie verspricht? Evangelische Schriftauslegung vor ethischen Herausforderungen, in: Theologische Beiträge 46 (2015), 231–241; B. Schmitz, Von der Fachwissenschaft zur Fachdidaktik dargestellt am Beispiel des Alten Testamentes. Bibelhermeneutische Überlegungen, in: Jahrbuch für Religionspädagogik 27 (2011), 145–154; dies., Die Bedeutung von Narratologie und Fiktionalität für die biblische Schriftauslegung, in: H.G. Schöttler, »Der Leser begreife!« Vom Umgang mit der Fiktionalität biblischer Texte, Münster 2006, 137–149; M. Schambeck, Bibeltheologische Didaktik. Biblisches Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2009; S. Bieberstein, Wie wollen Gleichnisse gelesen werden?, in: Katechetische Blätter 134 (2009), 318–325; R. Kessler, Gotteserdung. Beiträge zur Hermeneutik und Exegese der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2006, bes. 1–34; I. Fischer, Genderfaire Exegese. Gesammelte Beiträge zur Reflexion der Genderbias und seiner Auswirkungen in der Übersetzung und Auslegung biblischer Texte, Münster 2004; dies., Forschungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte in nuce, in: C.M. Maier (Hg.), Congress Volume Munich 2013, Leiden/Boston 2014, 182–216; K. Bieberstein, Geschichten sind immer fiktiv – mehr oder minder. Warum das Alte Testament fiktional erzählt und erzählen muss, in: Bibel und Liturgie 75 (2002), 4–13; M. Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 42013; W. Lesch, Bibelhermeneutik und theologische Ethik: philosophische Anfragen, in: A. Bondolfi / H. J. Münk (Hg.), Theologische Ethik heute. Antworten für eine humane Zukunft, Zürich 1999, 11–33; I. Baldermann u.a. (Hg.), Biblische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1998; O. Fuchs, Kriterien gegen den Mißbrauch der Bibel, in: ebd., 243–274; ders., Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift, Stuttgart 2004; U.H.J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994.

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gen: In der Tat rückt damit – jenseits historisch informierter Einzelexegesen – die Bibel als kirchlich bedeutungsvolles Gesamtwerk wieder stärker in den Blick. Zudem geht es den einschlägigen Untersuchungen25 darum, die Motive und Inhalte biblischer Texte in ihrer Vielfalt wie Einheit als maßgeblichen stofflichen Gegenstand jedweder Auslegung nahezubringen. Schließlich werden im Sinn einer adäquaten Auslegungstheorie, die zudem Auslegung als vitales kirchen- wie traditionsstiftendes Sozialgeschehen begreift, die erwähnten Erkenntnisse moderner Lektüre- und Rezeptionsforschung gezielt in Anschlag gebracht. Gewiss hat dadurch auch das Interesse an einer theologisch positiv situierten, gehaltvollen ethischen Schriftauslegung an Fahrt gewonnen: Es wurden auf dieser Linie weitere hermeneutische Umrisse26 eingebracht, aber auch neue, ins methodische Detail reichende Modelle27. 25 Hierfür exemplarisch und mit Bezug zur angelsächsischen Forschung: B. Janowski (Hg.), Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel, Neukirchen-Vluyn 2007; ders., Kanonhermeneutik. Eine problemgeschichtliche Skizze, in: Berliner Theologische Zeitschrift 22 (2005), 161–180; C. Dohmen / M. Oeming (Hg.), Biblischer Kanon – warum und wozu? Eine Kanontheologie (QD 137), Freiburg/Basel/Wien 1992; T. Hieke, Vom Verstehen biblischer Texte. Methodologisch-hermeneutische Erwägungen zum Programm einer »biblischen Auslegung«, in: Biblische Notizen 120 (2003), 71–89; ders., Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven, in: Zeitschrift für Neues Testament 6 (2003), 65–76; G. Steins, Das Lesewesen Mensch und das Buch der Bücher. Zur aktuellen bibelwissenschaftlichen Grundlagendiskussion, in: Stimmen der Zeit 221 (2003), 689–699; ders., »Das Wort Gottes wächst mit den Lesenden«. Eine folgenreiche Rückbesinnung gegenwärtiger Bibelexegese, in: Lebendige Seelsorge 55 (2004), 74–81; ders., Kanonbewusste Bibelauslegung. Exegetische Prolegomena zu einer sozialethisch orientierten Lektüre, in: Heimbach-Steins/Steins, Bibelhermeneutik (Anm. 7), 37–62; M. Seckler, Über die Problematik des biblischen Kanons und die Bedeutung seiner Wiederentdeckung, in: Theologische Quartalschrift 180 (2000), 30–53. 26 So etwa bei Noichl, Schriftauslegung (Anm. 2); Frevel, Orientierung (Anm. 2); M. Heimbach-Steins, Bibel und Ethik – im Gespräch, in: Theologie und Glaube 101 (2011), 315–337; dies., Christliche Sozialethik – im Gespräch mit der Bibel, in: dies./ Steins, Bibelhermeneutik (Anm. 7), 11–36; dies. / G. Steins, Ornament, Fundament, Argument oder was sonst? Zur Rolle der Bibel als Kanon in theologischer Ethik und in gemeinsamen katholisch-evangelischen Texten, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 45 (2001), 95–108; O. O’Donovan, Lesen und Gehorsam, in: Hofheinz/Mathwig/Zeindler (Anm. 2), 229–242. 27 Besonders eindrücklich: K. Rödiger, Der Sprung in die Wirklichkeit. Impulse aus dem rhetorischen Ansatz Elisabeth Schüssler Fiorenzas für die Rezeption biblischer Texte in narrativer Sozialethik, Münster 2009; dies., Lesen als ethischer Akt. Die Verantwortung der Lesenden in der Interpretation biblischer Texte, in: Heimbach-Steins/ Steins, Bibelhermeneutik (Anm. 7), 63–89; dies., Weisheit – eine sozialethische Kategorie in den biblischen Schriften, in: Hofheinz/Mathwig/Zeindler, Bibel (Anm. 2), 101– 125. Vgl. auch dies. / L. Sutter Rehmann, Der springende Punkt. Anleitung zur Bibellektüre in sieben Schritten, Gütersloh 2010. Vgl. auch Noichl (Anm. 2), 189–247; M. Heimbach-Steins, Biblische Hermeneutik und christliche Sozialethik, in: dies. (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 1: Grundlagen, Regensburg 2004, 83–110, bes. 90–110.

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Dennoch fällt das Resümee gerade auch der dabei beteiligten Fachleute betont nüchtern aus: Sie konzedieren, dass man längst nicht am Ziel sei und das beklagte Desiderat fortbestehe28. Zweifellos sind ihre Arbeiten aber als ein wichtiger Impuls zur fachlichen Lösung dieser offenen Frage anzusehen. 5

Schnittstellen

Im Horizont dieser Forschungsgeschichte ergeben sich bereits hermeneutische Schnittstellen ethischer Schriftauslegung. Ihre innere Valenz wie systematische Kohärenz wären aber in künftigen Theorien oder Modellen stärker zu berücksichtigen: 5.1

Leseprozesse (Subjekte)

Zunächst ist selbstredend auch die ethische Schriftauslegung Teil jener Prozesse, die man im weitesten Sinn als Lese- und Rezeptionskultur bezeichnen kann. Die zentralen Akteure darin sind die verstehenden Subjekte, die als Autorinnen und Autoren sinnvolle Texte schaffen und sie als Lesende für sich und miteinander auslegen. Damit wird deutlich, dass Auslegung stets ein interaktives Geschehen ist, das im Medium intersubjektiver Beziehungen und all der darin gegebenen Dimensionen geschieht. Vor allem hängt es von den jeweils in die Texte hineingelegten oder an sie herangetragenen Interessen und Vorverständnissen ab, dass und welcher Sinn sich interaktiv erschließt. Aus dieser stetigen intersubjektiven Rezeption unterschiedlichster Texte resultiert ihre Auslegungs- bzw. Wirkungsgeschichte und da heraus wiederum Kultur und Tradition. Darin werden diese Texte bewahrt, neue geschaffen, alte neu gesehen etc. Bestimmte Interpretationen behaupten sich, werden leitend oder begrenzen die Vielfalt legitimer Auslegung. Ob sich die Lesenden allerdings daran halten oder ob sie beim Verstehen kraft ihrer Intentionen und eigenen Erfahrungen darüber hinausgehen, ist damit nicht gesagt. Insofern liegt das Verständnis bzw. der Sinn eines Textes nie objektiv fest, sondern wird durch die Subjekte je neu und selektiv konstituiert, diskutiert und verantwortet. Zum Beispiel war der jesuanische Text über das Verbot der Ehescheidung bereits innerbiblisch Gegenstand einer sinnstiftenden Interaktion seiner Inter28 »Eine genaue Kriteriologie des biblischen Rekurses zu entwerfen, ist noch weithin ein Desiderat theologisch-ethisch-hermeneutischer Arbeit«, so Heimbach-Steins, Begründen (Anm. 2), 260. Ähnlich konstatiert jüngst aus kanonisch interessierter exegetischer Perspektive Frevel, Orientierung (Anm. 2), 50: »wie viel Diskussionsbedarf auch nach wie vor besteht.«

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preten29: Jene, welche die Evangelientexte schufen oder zu ihrer Endgestalt formten, setzten sich mit seinen vermeintlichen Intentionen auseinander. Dabei gingen sie offenbar mit bestimmten Interessen an den Jesustext heran und brachten ihn für sich zum Sprechen. Sie schöpften also in Interaktion mit dem Herrenwort und inspiriert durch drängende gemeindliche Bedürfnisse jenen Sinn, der ihnen angemessen und zugleich verantwortlich erschien. So kam es innerbiblisch zu Regelungen bzw. Praktiken, die eine Ehescheidung unter bestimmten Voraussetzungen nicht mit dem Ausschluss vom gemeindlichen und sakramentalen Leben sanktionierten.

5.2

Kontextbeziehungen (Bedeutungen)

Hier zeigt sich bereits, dass ein Text nicht für sich wirkt oder isoliert verstanden werden kann, sondern nur im Zusammenhang: Seine Bedeutung (Botschaft, Sinn, Gehalt) entsteht in Korrespondenz mit Kontexten, sprich mit prägenden Umständen, Lebenslagen, Erfahrungen, Bedürfnissen, Gruppen-, Schicht- und Kulturverständnissen – und ihren jeweiligen Texten30. Auch das ist ein intersubjektives Geschehen, berührt aber primär den Fakt vielbezüglicher Intertextualität: So zieht ein interessiert verfolgtes oder textlich aufgekommenes Thema, scheinbar wie von selbst, sachlich für relevant gehaltene andere Texte an. Bisweilen drängen sich diverse Kontexte dem Verstehen explizit auf bzw. werden gezielt geltend gemacht, um den Sinn eines Textes zu bilden. Oder dieser Vorgang wird methodisch – etwa politisch, diskursiv, gedanklich etc. – hergestellt, so dass ein dichter, gegebenenfalls ausgewogener intertextueller Raum variabler sinnproduktiver Korrespondenzen entsteht. Stets macht man also – synchron wie diachron – Kontextbeziehungen geltend, oder sie sind ohnehin wirksam, um Texten Sinn beizumessen. Dabei kommt es auch zu kollektiv prägenden Konzentrationen dieser Intertextualität, die durch ihre besondere Konsistenz, Stabilität und Dignität das Selbstverständnis und Bestehen einer Gruppe, Bewegung oder Epoche schützen. Dazu gehören Horizonte kultureller Identität, sozial oder familiär integrierende Erzählkomplexe, aber auch die erwähnte Einheit der im Kanon gesammelten und als Heilige Schrift der christlichen Glaubensgemeinschaft gewürdigten biblischen Texte. Auch die Bedeutung des Ehescheidungswortes Jesu hängt von Kontexten ab, die gesehen oder übersehen werden: die damalige jüdische Scheidungspraxis, 29 Vgl. exemplarisch zur Exegese wie praktischen Deutung biblischer Bezüge dieses gesamten Bereiches: T. Schneider (Hg.), Geschieden – Wiederverheiratet – Abgewiesen. Antworten der Theologie (QD 157), Freiburg/Basel/Wien 1995; M. Graulich / M. Seidnader (Hg.), Zwischen Jesu Wort und Norm. Kirchliches Handeln angesichts von Scheidung und Wiederheirat (QD 264), Freiburg/Basel/Wien 2014. 30 Eingehender und im Kontext wertinterpretativer Ereignisse: Schmitt, Wertkommunikation (Anm. 8), 91–154.

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die diesbezügliche Rechtslage, der kulturelle Status der Frau, was zusammen die personale Qualität der Ehen bedrohte. Kontextuell denkbar sind auch der von Jesus erwähnte Schöpfungstext, Leitmotive seiner sonstigen Verkündigung sowie eine Anthropologie, die das biblische Korpus insgesamt zu prägen scheint. Der Lesende bringt eigene Kontexte sinnproduktiv ins Spiel: die gestiegene Zahl der Scheidungen, eine persönliche Betroffenheit, die Idee konstruktiven Scheiterns etc. Oder es werden wirkungsgeschichtlich bzw. kirchlich leitende Folien zu Kontexten, um den Sinn des Jesuswortes und seine Bedeutung für die heutige Praxis zu begründen: die in orthodoxen Kirchen geübte heilsökonomische Pastoral oder eine vom Rechtsdenken abhängige Theologie der Sakramente etc.

5.3

Wertungsperspektiven (Positionen)

Das Phänomen bestimmter Positionen geht über die relativ variable Intertextualität hinaus. Gemeint ist die Wertung (Ansicht, Meinung, Standpunkt), welche schreibende und lesende Subjekte bezüglich einer zum Thema gewordenen Sache31 abschließend vornehmen. Das geschieht über ihre ganz eigene Auswahl an Kontexten, aber auch durch das Gewicht, das sie ihnen – wieder aus subjektiven Gründen – jeweils geben. So bildet sich ihre authentische Wertungsperspektive bzw. Meinung. Darin sind die für sie relevanten oder naheliegenden Kontexte nicht nur gesammelt, sondern zu einer Lage oder Ordnung eigenen Verstehens – etwa als Erzähl- oder Argumentationsstruktur – geformt. Sie stellt die Logik der jeweils vertretenen Ansicht dar, deren Folge ihr Urteil über die Sache ist. Einen Text auslegen, bedeutet also zunächst, die Sache bzw. die genaue sachliche Ebene (Hinsicht) zu benennen, um die es geht oder gehen soll. Des Weiteren bedeutet es, die hierzu jeweils gebildeten Perspektiven zu ergründen, sprich jene Kontexte und ihr subjektiv einleuchtendes oder gewolltes Zusammenspiel kommunikativ bewusst bzw. zugänglich zu machen, das zu den in dieser Sache vertretenen Standpunkten führt. Das geschieht wiederum intersubjektiv, aber auch in unterschiedlicher Intensität: Es reicht vom rechthaberischen Positionieren, über ein beiläufiges wechselseitiges Betrachten bis zu einer eingehenden – durch Kenntnis, Empathie und Austausch geprägten – Erörterung differierender Perspektiven und ihrer Begründung32.

31 »Sache« meint hermeneutisch nicht, dass alles, worum sich eine Auslegung dreht, von gegenständlicher Natur wäre; es geht vielmehr um den thematischen Bezug jedweder Auslegung. Er kann sich auf Objekte, Vorgänge, Menschen oder Ereignisse gleichermaßen und in je spezifischer Hinsicht richten. Vgl. Schmitt, Wertkommunikation (Anm. 8), 97–105. 32 Näheres zu dieser hier angedeuteten Methodik unter 7 und 8. Vgl. Schmitt, Wertkommunikation (Anm. 8), 106–125.

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Differierende Wertungsperspektiven kennt man auch mit Blick auf die jesuanischen Weisungen zur Ehescheidung: Bereits innerbiblisch finden sich neben der Ansicht Jesu Positionen zu diesem Thema. Ausgehend vom biblischen Text vertreten – in der frühen wie aktuellen Wirkungsgeschichte – die einen ihre Position des Ausschlusses von den Sakramenten. Dafür ziehen sie Kontexte als Gründe heran, gewichten und ordnen sie zu ihrer Argumentation. Andere haben ihre Gründe, den kategorischen Ausschluss nicht für jesuanisch oder historisch belegt zu halten. Wieder andere stützen ihre Meinung nicht (allein) auf historische Kontexte, sondern beispielsweise auf den für sie empirisch erkennbaren Verlust kirchlicher Glaubwürdigkeit oder auf das Anliegen einer durchgängigen pastoralen Barmherzigkeit etc.

5.4

Gültigkeitsbedingungen (Legitimationen)

Allein mit dieser Analyse und Darlegung von Wertungsperspektiven sind jedoch Ansichten zu einer Sache noch nicht gerechtfertigt. Damit erhebt sich die Frage nach Bedingungen der Legitimation (Geltung, Gültigkeit, Vernünftigkeit) einer Auslegung – auch eines biblischen Textes oder Komplexes – über historisches Verstehen und subjektives Meinen hinaus. Es geht um ein zentrales Erfordernis sozialen und kulturellen Handelns: Eingenommene Positionen und Geltungsansprüche sind – zugunsten der Integrität gemeinsamer Orientierung – entlang eingewöhnter Wahrheitskriterien dialogisch wie kritisch zu prüfen. Sie haben Aussicht auf allgemeine Akzeptanz und verbindliche Legitimierung, wenn sich die darin angeführten Gründe und Argumentationen potentiell als vernünftig und nachvollziehbar, sprich als rational, erweisen lassen. Woran sich Rationalität orientiert, differiert je nach dem, um welche Geltungsebene33 es sich dreht: Normen sind anders zu bewahrheiten als Sachauskünfte, Situationsbeschreibungen, ästhetische Urteile, Wertbegriffe oder ein psychisches Empfinden. Zudem unterliegen die Kriterien angewandter Rationalität kulturellen Bedingungen sowie geschichtlicher Genese und sind daher entsprechend plastisch. Das heutige Bewusstsein verdankt sich auch der Wirkungsgeschichte biblischer Traditionen, die hintergründig wirken, ohne argumentativ letztgültig zu sein. Es fordert für die Gültigkeit einer Aussage innere Kohärenz und den konsistenten Bezug auf relevante Sachen, Erfahrungen und unabdingbare menschliche Bedürfnisse. Primär verlangt es aber eine Kommunikationskultur, die allen Betroffenen gleichermaßen Mitsprache, Beachtung und Anerkennung sichert. Damit unterliegt jedwedes Verstehen einer anthropologischen Maßgabe, die ihrerseits beständiger kultureller Vergewisserung bedarf: die Würde verantwortlicher Freiheit und Mündigkeit, deren nicht hintergehbarer Ausdruck selbstbestimmter 33

Näheres im methodischen Zusammenhang unter 7.1.

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Überzeugungen sind – mittels kritisch geprüfter und eingesehener eigener Gründe34. Auch in Sachen Ehe und Ehescheidung finden Diskurse unter dieser Maßgabe statt: Es werden darin – entlang einschlägiger Erfahrungen, Schicksale und Prozesse – alle Meinungen und Standpunkte wie deren Gründe kritisch wie selbstbestimmt geprüft. So kommen Gaben und Aufgaben der Ehe zur Sprache, ihre geschichtlichen wie entwicklungsmäßigen Anforderungen, das Geschlechterverhältnis, der jenseits der klassischen Ehe gelebte Sinn von Sexualität, eheliche Krisen und ihre Bewältigung etc. Dabei interessieren näherhin Wertideale, große Visionen, situative Daten und handlungsleitende Normen wie die differente Logik dieser Kategorien. Schließlich wird auch das besagte Wort Jesu – seine Kontexte und Rezeptionsgeschichte – sowie der biblische Gesamtduktus einbracht, sei es mit anthropologischem, normativem, pastoralem oder anderem Ansinnen. Gleichwohl unterliegt all das der kritischen Prüfung im angedeuteten Sinn.

5.5

Handlungsgewissheiten (Evidenzen)

Handlungsgewissheiten sind von existentieller Gestalt. Sie berühren und beschreiben den Haltungs- bzw. Selbstgrund handelnder Personen, liegen also tiefer als die Ebene kritisch wie selbstbestimmt geprüfter Urteile. Im besten Fall sind sie aber – was ihre materialen Aspekte und deren Abwägung angeht – durch eine solche Prüfung gegangen und haben sich darin bewährt. Das kann bereits dazu führen, dass jemand, der sich auf Texte und Diskurse einlässt, daraus resultierende Erkenntnisse in nachhaltiger Weise übernimmt und sich mental aneignet. Wie es gelingt, hängt von der Offenheit, inhaltlichen wie dialogischen Beschaffenheit dieser Diskurse ab. Falls er sich in seinem Tun an seine Erkenntnis hält und sie sich praktisch bewahrheitet, vertieft sich die Erfahrung ihrer Triftigkeit. Sie verdichtet sich in ihm zur tragenden Plausibilität und Gewissheit. Das wieder bewirkt Motive, aber auch eine gesteigerte Kompetenz und Identität sinnbezogener Praxis. In solche Evidenzen fließen außerdem Vertrauenspotentiale ein; ohne sie könnten Sinn und Erkenntnis praktisch nicht riskiert und erprobt werden. Umgekehrt stärkt und vermehrt sich so seinerseits das dabei investierte Vertrauen. Dieser haltungsrelevante Vorgang ist als Genese elementaren Glaubens beschreibbar: Es wächst in ihm die Fähigkeit, sich auf Sinn, der anhand unterschiedlichster Texte und ihrer Deutung angeboten und gefunden wird, tatsächlich zu verlassen. Das übersteigt jenes Vertrauen auf Teilsinne sach- und bereichsbezogener, anthropologischer, evaluativer, normativer oder pragmatischer Art. Es betrifft vielmehr die darin – vorbewusst oder ausdrücklich – vollzogene Annahme, dass es gesamthaft 34

Näheres im methodischen Zusammenhang unter 7.3.

Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral?

371

Sinn ergibt, sinnvoll zu handeln und auf die Chance gelingenden Lebens zu bauen. Daher sind auch jene kulturellen und sozialen Texte im Rahmen einer ethischen Auslegung relevant, die solche Vertrauensund Glaubensprozesse zugunsten existentieller Evidenzen anzuregen vermögen. Diese Nachhaltigkeit existentiell verankerter Evidenzen ist auch in der kirchlichen Debatte über den Umgang mit Geschiedenen deutlich. Man merkt das am persönlichen Nachdruck bzw. Engagement, mit dem die unterschiedlichen Überzeugungen vertreten werden. Es ist freilich auch innerhalb der geübten kirchlichen Praxis zu erkennen: Oft wird auf Basis existentiell getragener, nicht hintergehbarer Gewissensentscheide gehandelt – im tiefen Glauben ihrer Triftigkeit. Gleichwohl bestehende Differenzen bedürfen weiterer institutionell gesicherter Dialoge, sollten also nicht zu fatalen Blockaden führen, solange menschlich, biblisch wie kirchlich tragende Texte im Horizont stehen. Denn eine Vielfalt legitimer Deutungen ist auch in diesem wie in jedem anderen Horizont erwartbar.

6

Zusammenhang

Damit ergibt sich eine systematische Gesamtschau dieser hermeneutischen Schnittstellen:

Abbildung 1: Schriftauslegung – Systematik der Schnittstellen

Diese Systematik greift für jedwede Interpretation – selbstredend auch für eine ethische Schriftauslegung. Es wird vor allem deutlich, dass darin

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Menschen als Subjekte ihres Verstehens die maßgeblichen Träger und Initianten sind: Sie tragen ihre Interessen und Vorverständnisse ein, bringen damit Texte zum Sprechen. Dabei geht es immer um bestimmte Sachen, die zum Thema werden: In Korrespondenz mit jeweils herbeigezogenen Kontexten und Texthorizonten konstituieren auslegende Subjekte deren Sinn und Bedeutung. Aus einer bestimmten durch sie gewählten Ordnung so verstandener Texte begründen sie schließlich ihre definitive Position einer Sache gegenüber und tauschen solche Positionen permanent aus. Damit begeben sie sich bereits in die kulturell vorgesehenen Prozesse kritischer Legitimation, die sich mittels gewachsener rationaler Kriterien vollziehen und ihrer mündigen Selbstbestimmung zuarbeiten. Insgesamt gesehen erwerben sie sich in diesem Vorgang sozialer Kommunikation bzw. kultureller Auslegung Evidenzen ihres Verstehens und Handelns, die ihre Orientierung und Identität praktisch bilden und vertiefen. Auf dieser selbstgesicherten Basis bringen sie sich wiederum in den gesamten Vorgang ein. 7

Grundriss

Im Folgenden steht die Methodik ethischer Schriftauslegung zur Debatte. Sie hängt von den dargelegten hermeneutischen Strukturen ab und operationalisiert sie zugunsten sach- und kunstgerecht anzubahnender Erkenntnisse. Dabei geht es jetzt aber noch nicht um eine in sich abgestimmte methodische Konzeption; Ziel ist ein Grundriss, der über Axiome Auskunft gibt, deren Beachtung von zentraler Bedeutung für eine fachliche Bibelrezeption unter gezielt ethischem Interesse scheint. 7.1

Ethisch relevante Moralebenen

Als erstes gilt es festzuhalten, dass sich das ethische Interesse auf unterschiedliche Moralebenen beziehen kann. Es ist also zunächst zu klären, unter welcher materialen Hinsicht ein Thema bzw. eine Sache ethisch betrachtet wird oder werden soll. Es muss nicht unbedingt das Interesse an situativen Handlungsregeln oder Normen sein, unter denen biblische Texte erschlossen und zum Sprechen gebracht werden. Es kann daneben oder primär auch das Interesse an tragenden Motivationen guten Handelns sein, an werthaltigen Leitbegriffen oder weiteren Vollzügen der Moral, die eine Bibelrezeption ethisch sinnträchtig scheinen lassen. Umgekehrt zeitigen unterschiedliche biblische Texte und Zusammenhänge selbstredend unterschiedliche sachliche Relevanzen, sind also nicht für jedes Sachthema und auch nicht immer in jeder denkbaren ethischen Hinsicht gleichermaßen interessant. Gegebenenfalls sperren sie sich gegen eingetragene Interessen und Hinsichten. Genauso haben

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sie – je nach Beschaffenheit – womöglich das Potential, Themen und bestimmte Gesichtspunkte einer moralisch einschlägigen Betrachtung aufzubringen, an die beim ersten Zugriff auf einen biblischen Text überhaupt nicht gedacht wurde. Um diesen methodischen Ansatz zu präzisieren, sollen die möglichen Moralebenen, die das ethische Interesse an der Bibel bewegen können, systematisch benannt werden. Die dabei entstehende Ordnung folgt dem Wesen des Moralischen35, gleichwohl sie je nach Differenzierungsgrad pauschaler oder genauer ausfallen kann. Jedenfalls lässt sich so klären, um welche moralische Hinsichten es bei der ethischen Reflexion eines Themas bzw. einer diesbezüglichen Bibelrezeption näherhin geht: • Auf der experientiellen Ebene geht es um die Realität des fraglichen Themas (sachliche, situative, strukturelle, kulturelle, subjektive etc. Aspekte); besonders um relevante Erfahrungen, die sich mit ihm bzw. in diesem Bereich ergeben und daher praktisch zu reflektieren sind. • Auf der anthropologischen Ebene werden human angemessene Deutungen dieser Erfahrungen und Aspekte verhandelt; hinzu kommen orientierende Maximen und Wertvorstellungen, hinter denen immer auch Konzeptionen des Menschseins (Menschenbild) wirksam sind. • Auf der motivationalen Ebene werden Symbole, Eindrücke und Dialoge interessant, die das moralische Handeln in dieser Sache wecken und ganzheitlich sichern; aber genauso Formen der Einübung, welche Personen in ihrer diesbezüglichen Moralität bilden und stark machen. • Auf der normativen Ebene stehen Handlungsregeln dieses Bereichs zur Debatte, die darauf aus sind, seine humane Qualität in vergleichbaren Situationen konkret verwirklichen zu helfen; oft geht es angesichts detaillierter Lagen auch um spezifische Handlungsurteile. • Auf der existentiellen Ebene stellen sich Fragen umfassender Hoffnung, sei es angesichts der skeptischen Verneinung sittlicher Verantwortung, der prekären Erfahrung ihrer schuldhaften Verletzung oder der Angst, trotz aller Mühe und Solidarität zu scheitern und unterzugehen. Es versteht sich von selbst, dass diese moralischen Ebenen und Hinsichten sowohl bei den handelnden Personen als auch in den von ihnen herbeigezogenen Texten wesentlich vitaler ineinander greifen, als es in ihrer methodischen Differenzierung der Fall ist. Umso mehr hilft sie, eine Klärung möglicher Relevanzen zwischen Schrift und Leben herbeizuführen. Dabei wird die narrative Dynamik der eigenen wie der bibli35 Vgl. hierzu die einschlägigen Grundlagenwerke der Theologischen Ethik und Praktischen Philosophie. Vgl. insbesondere zum Paradigma einer durchgängig experientiell geformten Theologischen Ethik: Mieth, Erfahrung (Anm. 18); ders., Moral und Erfahrung II. Entfaltung einer theologisch-ethischen Hermeneutik, Freiburg (Schweiz) 1998; ders., Liturgie und Ethik. Der symboltheoretische Ansatz der Liturgiewissenschaft und der experientielle Ansatz der Theologischen Ethik im Gespräch, in: Theologische Quartalschrift 189 (2009), 94–105; ders., Narrative Ethik (Anm. 22).

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schen Texte reflexiv ergänzt, nicht um sie abstrakt stillzulegen, sondern um ihren praktischen Zusammenhang danach bewusster konstruieren und erzählen zu können. Auch darf man sich diesen interessegeleiteten Vorgang nicht als einseitigen, thematisch verengten und funktionalen Zugriff auf die biblischen Texte vorstellen. Selbst angesichts spezifischer Interessen und Fragen entfalten sie, wie gesagt, ihre je eigene Relevanz, Sinnhaftigkeit und erzählerische Kraft. Das macht insgesamt eine rezipierende Begegnung und Bewegung möglich, die von Neugier und Offenheit geprägt ist. Es bleibt spannend, wie der biblische Text oder Zusammenhang mit dem aktuell treibenden Text des Lebens kommuniziert, ob und auf welcher Ebene er ihm etwas zu sagen hat – wie auch umgekehrt. Allerdings besteht auch in einem thematisch freien, unvoreingenommenen Zugang – zumindest methodisch – die Aufgabe, eine hinreichende Unterscheidung der gemeinten Sache und der dabei in den Fokus genommenen moralisch relevanten Ebenen vorzunehmen. 7.2

Biblisch gegebene Perspektiven

Der methodisch zweite Schritt ethischer Schriftauslegung dreht sich um die Analyse biblischer Perspektiven. Gemeint sind Bewertungspositionen, welche die Texte und Komplexe der Bibel zu moralisch-praktischen Fragen (im gezeigten weiten Sinn!) nahelegen bzw. einnehmen. Dafür ist – entsprechend der dargelegten hermeneutisch vorgängigen Strukturen36 – ihr intertextueller Zusammenhang zur Kenntnis zu nehmen. Darin sind biblische Texte stets eingebunden, wobei solche TextKontext-Interaktionen sowohl innerhalb der Bibel wie mit dem biblischen Umfeld stattfinden; zudem sind sie teils synchron, teils diachron angelegt. Wie alle sprechenden und lesenden Subjekte setzt ein biblischer Autor Kontexte – erzählend und/oder argumentierend – zu einer Perspektive zusammen bzw. setzt sie darin voraus. So strukturiert und begründet er semantisch den von ihm intendierten Sinn: seine Ansicht und Deutung einer zum Thema gewordenen Angelegenheit. Es ist die originäre Aufgabe der historisch-kritischen Exegese, die perspektivischen Strukturen biblischer Texte oder Zusammenhänge aufzuklären und damit ein Verständnis biblischer Traditionen zu ermöglichen. Nach allem, was bis jetzt gesagt wurde, kann es dabei nicht nur um die Untersuchung und Würdigung einer isolierten Autorenschaft gehen. Denn schon hier kommen ihre kulturellen, historischen oder sozialen Hintergründe ins Spiel, mithin persönliche, aktuelle und gemeindliche Motive oder Lagen, die in die jeweilige Wertung oder Argumentation einfließen bzw. darin zur Geltung gebracht werden. Es 36

Vgl. hierzu oben 5.2 und 5.3.

Die Bibel als Text und Kontext heutiger Moral?

375

gibt zudem Autoren, die redaktionell arbeiten, also Texte kommentieren, Verbindungen und Rahmenerzählungen schaffen, sich der tendenziellen Überarbeitung ganzer biblischer Komplexe widmen etc. Auch sie haben oder verwenden ihrerseits kontextuelle Gründe geschichtlicher oder theologischer Art. Auf dieser Basis eröffnen sie ein explizit produktives Verhältnis mit den ihnen vorliegenden Textfassungen, kommunizieren naheliegende Texte und Traditionen im eigenen Sinn, blenden andere aus, verändern so Lage und Horizont der Argumentationen etc. Dies alles (bis in die Kanonbildung hinein!) exegetisch zu ergründen, ist unverzichtbar und besitzt zentralen Wert – weit über rein historisches Interesse hinaus: Denn es hält die innerbiblische Deutungs- und Rezeptionsgeschichte eines Themas transparent und offen, so dass heutige Rezipienten die produktive Dynamik biblischen Verstehens – ihre argumentative wie interpretatorische Vielfalt, Konstruktion und Konsistenz – entdecken und an sie anzuknüpfen vermögen. Überdies ist bei dieser Analyse selbstredend den verschiedenen Gattungen und Sorten biblischer Texte besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn durch die jeweils geprägte Form und Ästhetik eines Textes werden bestimmte Ebenen auch der moralisch-ethischen Systematik favorisiert, andere hingegen unwahrscheinlich. Bereits von dort her ergeben sich Erkenntnisse über eine mögliche Positionierung biblischen Sinnes: • Ein biblischer Gebetspsalm zum Beispiel eignet sich für eine Deutung auf existentiell-spiritueller Ebene, wobei er anthropologisch, normativ oder theologisch interessante Implikationen in sich birgt. • Ein Gesetzestext, etwa aus dem Bundesbuch, stellt hingegen eine zeitbedingte Rechtsnorm dar, hinter der sich freilich relevante soziale und kulturelle Deutungen zeigen, von denen man lernen kann. • Eine metaphorische Erzählung, wie eine Parabel oder ein Gleichnis, ist – trotz ihrer unverzichtbaren sachlichen Anteile – nicht auf Sachinformationen und normative Positionen begrenzt; oft geht es darin um einen transformierten bzw. neuen Begriff diverser Wert- oder Sinnerfahrungen, die den Rezipienten auf symbolisch-narrativem Weg eindrücklich und inspirierend nahegelegt werden. • Ähnlich endzeitliche Aussagen Jesu, deren Form in einem apokalyptisch zugespitzten Zeitverständnis gründet: Ihr sozialer und motivierender Gehalt ist auf dieser Basis zu sichern, ohne daraus legalistisch Normen ableiten zu müssen, die – nach allem, was man exegetisch sieht – nicht im Sinn Jesu sind etc. Insgesamt zeigt sich in dieser methodischen Phase, dass die biblischen Perspektiven und Positionen einer Einebnung und Harmonisierung entlang einer vermeintlich übergeordneten Metainterpretation der Bibel kritisch entgegenstehen. Denn diese würde die thematische wie moralische Pluralität, Widersprüchlichkeit und Offenheit konterkarie-

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ren, die in den Texten wie im Gesamt der Bibel gegeben und aufzuspüren ist. Umgekehrt treten in der über Jahrhunderte verlaufenden innerbiblischen Entfaltung von Themen bestimmte – besonders soziale, anthropologische und theologische – Deutungen und Motive immer stärker hervor37. So lässt sich aus gutem Grund von einem inhärenten moralpraktischen Profil der Bibel sprechen, auch wenn zu beachten bleibt, dass das rezeptive Interesse dabei eine erkenntnisprägende Wirkung hat. Umso wichtiger ist es, auf diesem Weg weder die Differenzen zwischen biblischen Perspektiven noch ihre potentielle Fremdheit zu glätten oder zu negieren. Vielmehr sind diese Irritationen auch in einer gesamtbiblischen Sicht methodisch herauszuarbeiten und zu bewahren. Erst über eine solche pluralitätsfähige Zusammenschau wird sich eine Interaktion mit Texten und Traditionen der Bibel schöpferisch, selbstkritisch und schrifttreu gestalten. 7.3

Kommunikativ erzeugte Einsichten

Damit ist deutlich, dass solche Treue nicht Biblizismus meint. Denn dieser entzieht sich der selbstkritischen Rechenschaft über legitime Gründe moralischer Positionen. Er missachtet die Wahrheit biblischer Texte, weil er weder ihre Themen noch die dabei intendierten Anliegen und Bedeutungen erkennt und reflexiv werden lässt. So läuft er Gefahr, die Bibel unkritisch – ohne echte Einsicht – zu gebrauchen oder sinnwidrig für die Begründung eigener Positionen und Zwecke zu entfremden. Das berührt den dritten Schritt einer Methodik ethischer Bibelrezeption, der sich der Struktur und dem Aufbau moralpraktischer Legitimität im Kontext biblischer Texte und Traditionen stellt38: Die idealtypische Basis dafür ist die Gewährleistung einer kommunikativen Interaktion aller Erfahrungen und Perspektiven, die für ein Thema und Interesse wichtig sind39. Der Idee nach werden aus Anlass eines Themas sämtliche relevante Aussagen und Positionen (etwa aktuelle persönliche, kulturelle, soziale, religiöse, aber auch historische und wirkungsgeschichtliche) von Betroffenen oder Interessierten in den Diskurs eingebracht. Entlang ihrer Gründe, situativen Einsicht und Empathie ist die humane Wahrheit der in Frage stehenden Angelegenheit umfassend zu erörtern. Faktisch beschränkt sich der Prozess jedoch auf eine Auswahl greifbarer Perspektiven. 37 Hierzu etwa: Steins, Bibelauslegung (Anm. 25). 38 Vgl. nochmals für den hermeneutischen Aufbau ethischer Legitimität oben 5.4. 39 Vgl. das diskursethisch rekonstruierte Paradigma idealer Sprechsituation inklusive der darin geltend gemachten und strittig wie konsensuell verhandelten unterschiedlichen Wahrheitsansprüche: Habermas, Vorstudien (Anm. 9); ders., Diskursethik (Anm. 9); ders., Moralbewußtsein (Anm. 9); ders., Theorie (Anm. 9).

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Wegen dieses unvermeidlich selektiven Charakters ist es umso bedeutsamer, jene Personen – ihre Bedürfnisse, Erfahrungen und Umstände – zu suchen und zur Sprache zu bringen, die aufgrund ihrer Mittellosigkeit, Leiden oder biographischen Lage aus Diskursen ausgeschlossen oder in ihnen ohne Lobby und sprachlos sind. Denn fehlen ihre authentischen Äußerungen und Einsichten, ist Humanität im ungeteilten, das Subjekt würdigenden Sinn nicht zu entwickeln. Somit beeinflusst und formt die in einem Diskurs faktisch getroffene Auswahl an Texten und Perspektiven jene inhaltliche Qualität und kommunikative Fairness, für die er als legitimierendes Verfahren zugleich einzustehen hat. Biblische Texte können in diesem diskursiven Geschehen folglich mehrfach zum Tragen kommen: • indem sie die dortigen Debatten und Erörterungen mit ihrem unbestritten großen Reichtum an Themen, relevanten Perspektiven und Gründen, Sprach- und Erzählstilen etc. material fördern und erweitern; • indem sie einer sozioklimatisch, machtförmig oder funktional bedingten Einseitigkeit der Diskurse durch ihre ganzheitliche – dabei subjekt-, struktur-, geschichts- und tranzendenzbezogene – Anthropologie wehren; • indem sie – in welcher Textform auch immer – alle menschlich prägenden Erfahrungen zulassen: Leid, Schuld, Zweifel, Tod etc. genauso wie Frieden, soziales Glück, Lust, Zukunft etc. oder alltagsprägende Abläufe; • indem sie also – mit anderen – dazu beitragen, die formale Rationalität dieser Diskurse inhaltlich so zu beindrucken und zu nähren, dass die Vitalität wie Fragilität allen Lebens darin präsent und angesehen werden kann. Umgekehrt haben sich biblische Traditionen – wie alle anderen Texte und Perspektiven – in Sachen Moral der Legitimierung ethisch-praktischer Diskurse zu stellen. So voraussetzungsvoll sie für die Geformtheit solcher Diskurse sein mögen: Auch für sie führt kein Weg vorbei an einer mittels paritätischer Kommunikation und Einsicht erfolgenden kritischen Prüfung ihrer Aussagen und Gründe. Auf diese Weise erhalten sie aber zugleich die Chance, zum tragenden Kontext der selbstbestimmten Überzeugung und verantwortlichen Freiheit sittlicher Subjekte zu werden. Für diese kommunikative Prüfung relevanter Beiträge greifen – neben basalen Kriterien der Konsistenz und Kohärenz aller Sätze – unterschiedliche Logiken ihrer Legitimierung, je nach dem, auf welchen der Moralebenen sich der Diskurs ethisch gerade bewegt: • Beiträge, die sich um objektive Fakten eines Themas (gegenständlich, historisch, prozesshaft, situativ etc.) bemühen, müssen sich der Prüfung ihrer Gegebenheit bzw. aktuellen Relevanz und Übertragbarkeit stellen.

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• Beiträge, die aus dem Thema – seine subjektive wie kulturelle Erfahrung – Schlüsse auf seine menschliche Bedeutsamkeit (Werte, humaner Sinn etc.) ziehen, stehen in der Pflicht umsichtiger anthropologischer Reflexion. • Beiträge, die bestimmte Motive relevanten Handels bilden wollen oder nahelegen, werden in Bezug auf deren praktische Effizienz, aber auch bezüglich ihrer humanen Qualität und personalen Redlichkeit kritisch gelesen. • Beiträge, die für das Thema konkrete Normen favorisieren, haben nachzuweisen, dass in ihnen die Vermittlung situativer Umstände mit humanen Wertkonzepten und sittlicher Autonomie gelingt und nicht verhindert wird. • Beiträge, die durch weltanschauliche und religiös-symbolische Aussagen existentielle Hoffnung nähren, bedürfen einer Überprüfung ihrer Glaubwürdigkeit entlang kultureller, lebensweltlicher und persönlicher Erfahrung. 8

Zusammenhang

Dieser methodische Grundriss hat folgenden inneren Zusammenhang:

Abbildung 2: Schriftauslegung – Grundriss der Methodik

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Zunächst ist zu klären, um welche Moralebene (Hinsicht) es bei einem moralpraktisch in Frage stehenden Thema geht. Sowohl heutige wie geschichtliche – so auch biblische – Texte können unter dieser oder jener Hinsicht für die ethische Erörterung eines Themas gegebenenfalls relevant sein; sie bilden Perspektiven bzw. Wertungen dieses Themas, die durch jeweils herbeigezogene Kontexte und eingetragene Vorverständnisse begründet oder argumentativ geordnet sind. Die nun erfolgende Kommunikation relevanter Perspektiven wird einerseits durch ihren sachlichen Bezug zusammengehalten, andererseits durch die Möglichkeit, die jeweilige Ansicht auf Basis ihrer Gründe »einzusehen«, sprich immer differenzierter zu verstehen. Das kann bis zum Austausch bzw. zur Übernahme diverser Gründe gehen, die bislang nicht oder anders gesehen wurden. So werden diese Perspektiven auch einander zu Kontexten im Bemühen um moralpraktische Wahrheit. Selbstredend ist dabei jedoch genauso eine begründete Distanzierung und Ablehnung möglich. Analog dazu die Wahrnehmung biblischer Perspektiven: Deren relevante Blickpunkte und Deutungen können auf diesem Weg die perspektivische Sicht und moralische Überzeugung ihrer Rezipienten kontextuell erweitern, verändern oder in einen neuen Horizont stellen – andernfalls überzeugen sie eben nicht. Ethisch dafür ausschlaggebend ist das Erfordernis der Rationalität dieses diskursiven Geschehens: im Bereich der Moralebenen die beschriebenen jeweils anzulegenden Begründungslogiken; im Bereich der interperspektivischen Kommunikation die diskursive Verpflichtung auf kritisch hergestellte Überzeugung, paritätischen Umgang und mündige Selbstbestimmung. Zu bedenken ist auch die teils vorbewusste Wirkung kultureller oder lebensweltlicher Horizonte auf die Genese wie Ausblendung thematischer Interessen sowie auf die Formung der letztlich zum Zuge kommenden ethischen Vernunft40. 9

Praxis

Damit sind die Hermeneutik und Methodik ethischer Schriftauslegung im Ansatz skizziert. Sie gewährleisten fachlich, dass der biblische Rekurs nicht zu einer Binnenmoral verkommt. Diese wäre nicht in der Lage, ihre Ansprüche und Argumentationen einsichtig zu machen – weder lebensweltlich noch im Kontext von Biographien, Kirchen und Gemeinden. Das widerspräche dem christlichen Selbstverständnis, das auf einen fruchtbaren Dialog zwischen Schrift und Leben, Bekenntnis und Praxis 40 Vgl. H. Schmitt, Wozu Theologie? Eine Klärung aus theologisch-ethischer Perspektive, in: E.-M. Faber (Hg.), Lebenswelt und Theologie. Herausforderungen einer zeitsensiblen theologischen Lehre und Forschung, Freiburg (Schweiz) 2012, 161–203, bes. 165–171.

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zielt – dies im Dienst eines Glaubens, der sich über seine Motive und Gründe, Hoffnungen und Konsequenzen klar wird, sie verantwortet und anderen darüber Auskunft geben kann. Es gilt daher, alles daranzusetzen, dass diese Standards praktischer Vernunft nicht auf die Fachkreise begrenzt bleiben, sondern die Begegnungen mit der Bibel im persönlichen, kulturellen, gemeindlichen oder liturgischen Rahmen beeindrucken. Besonders jene, die als kirchliche und theologische Funktions- und Amtsträger eine besondere Verantwortung für die Texte der Bibel haben, sind in der Pflicht, diese mit Blick auf den fachlichen Horizont sachgerecht wahrzunehmen. Umgekehrt wäre es verfehlt, diese biblischen Begegnungen mit einer abstrakten Methodik unvermittelt und detailliert zu belasten. Dort genügt es, die praktischen Interessen an einem Text der Bibel sowie gegebene Vorverständnisse anzusprechen und zudem den möglichen Sinnhorizont dieser Bibelstelle sachlich wie kontextuell einzuspielen. Auf dieser Basis sollten Text und Lesende interagieren können und dabei ihre je eigene Wahrheit kommunikativ und schöpferisch entfalten41. Gerade darin liegt die unverzichtbare Bedeutung der biblischen Gespräche und Katechesen, Inszenierungen, Homilien und Meditationen: Sie lassen den Zustand nötiger theoretischer Abklärung wieder hinter sich und gewinnen dafür – erzählend, subjektiv, einseitig, direkt, empathisch – den Raum geschichtlicher Offenheit, sinnlicher Bewegtheit und konkreter Unterscheidung zurück. Erst in diesem interaktiven Raum können die biblischen Schicksale, Konzepte und Hoffnungen in die Ausgangslage und Erfahrung der Rezipienten eindringen, sie nachhaltig berühren, sich mit ihnen messen und verbinden: Sei es, dass sie sich mit ihrem praktischen Streben in den Verheißungen und Geschichten der Schrift neu entdecken und verstehen – oder sich kontrastierend gegen sie zur Geltung bringen. Sei es, dass sie das biblisch Erzählte in die Kontexte und Wertungsmaßstäbe ihrer Gestaltung und Orientierung einbeziehen – oder es darin kritisch wie selbstbestimmt weiterdenken und fortschreiben. Wie dem auch sei: Möglich wird ein stofflich vitaler Austausch, der auch die Rezipierenden authentisch und vielbezüglich verbindet. Um diese – im eigentlichen Sinn – praktische Dynamik und Konstruktivität biblischer Texte wirksam zu halten und freizusetzen, bedarf es solcher Formen unverbrauchter Narration. Mit ihnen muss auch die fachliche Exegese der Bibel verbunden sein, um im Selbstvollzug die Erfahrung ganzheitlich betreffender biblischer Moral, Sozialität und Sinnhaftigkeit nicht aus dem Blick zu verlieren. 41 Vgl. hierzu grundlegend: J. Theis, Biblische Texte verstehen lernen. Eine bibeldidaktische Studie mit einer empirischen Untersuchung zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter, Stuttgart 2005.

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Proprium

Rückblickend stellt sich allerdings die Frage, ob dieses gesamte Projekt einer Theorie und Praxis ethischer Schriftauslegung nicht einer »bodenlosen« Fiktion und Selbsttäuschung gleicht. Haben biblische Traditionen – jenseits fachlicher Akribie oder beiläufiger bzw. ritueller Zitierung – noch einen effektiven Sitz im Leben? Besitzen sie in den vorhandenen kirchlichen, kulturellen oder individuellen Vollzügen mehr als marginale Bedeutung? Diese Skepsis verstärkt sich, wenn man bedenkt, dass biblisch geprägte christliche Liturgien und kirchliche Verlautbarungen ihre persönlich oder gesellschaftlich sinnproduktive Kraft zunehmend einbüßen und – wenn überhaupt – nur zufällig oder vage zum Tragen kommen42. Damit tritt auch der eingangs erwähnte Aspekt der Offenheit dieses gesamten Fragekomplexes nochmals verschärft hervor: Denn nicht allein das instrumentelle »Wie« ethischer Schriftauslegung scheint ungeklärt, sondern genauso das »Wozu« und »Für wen«, sprich der lebensweltliche Ort, an dem dieses Instrumentarium greifen und bedeutsam sein kann. Möglicherweise spiegelt diese Skepsis vor allem die westliche Lage kultureller und religiöser Vollzüge und Voraussetzungen. Ohne den bestehenden strukturellen und mentalen Fakten so aufs Ganze gerecht werden zu können: Es liegt in dieser Situation dennoch nahe, die spezifische moralpraktische Potentialität und Bedeutsamkeit biblischer Texte – sprich ihr Proprium – für das Handeln und Glauben unserer Tage präsent zu halten43: • Das biblisch erfahrbare Wort Gottes wirkt zunächst als Medium eines Heil wollenden praktischen Glaubens; auf diese Weise begründet, vertieft und symbolisiert es die für alle humane Praxis nötige Option sittlicher Grundentschiedenheit. • Es wird sodann zum wesentlichen Kontext der abendländisch prägenden Anthropologie und Rationalität, sofern diese auch in biblischen Quellen verwurzelt ist; damit ermöglicht es eine sowohl rekonstruktiv belebende, als auch kritisch erneuernde Hermeneutik. • Sodann stiftet es mittels der interaktiven Auslegung seiner Texte eine Sozialität des Glaubens; diese verbindet Menschen über kulturelle und geschichtliche Grenzen hinweg im Anspruch gelingenden Lebens und im Vertrauen darauf – bis hinein ins kirchliche Geschehen. 42 Diesbezüglich äußerst pointiert: U. Luz, Einleitung. Die Bibel als Zankapfel, in: ders., (Hg.), Zankapfel Bibel. Eine Bibel – viele Zugänge. Ein theologisches Gespräch, Zürich 1992, 7–15, hier 7ff. 43 Für eine nicht exklusivistische Beantwortung der Frage nach dem Proprium: K. Hilpert, Herausforderung des Christlichen. Zur Frage nach den spezifisch christlichen Werten, in: Katholische Sozialethische Arbeitsstelle e.V. (Hg.), Mit Werten Leben gestalten, Hamm 1989, 18–25; Schmitt, Theologie (Anm. 40), bes. 171–191.

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• Schließlich ergeht es sich nicht in abstrakter Theorie, sondern eröffnet anschauliche und erzählbare Formen konkreter Praxis; so werden Modelle gelingenden Lebens bereits bei der Rezeption zugänglich und auf unterschiedlichsten Moralebenen erfahr- bzw. reflektierbar. • Vor allem begegnet in diesem anspruchsvollen Wort Gottes zugleich seine unbedingte Solidarität; sie nimmt antisolidarische Ängste und Egoismen derart gütig und geduldig auf, dass die humane Fähigkeit wächst, die Interessen anderer im eigenen Tun zu berücksichtigen44. Diese lebensweltliche Vergewisserung des spezifischen moralpraktischen Verstehens der Bibel ist als Akt konstruktiv angebotener christlicher Zeit- und Weggenossenschaft zu gestalten. Keinesfalls wird sie mittels der zwanghaften, machtförmigen oder monologischen Vorgabe von Erkenntnissen und Handlungsperspektiven gelingen. Dies schon deshalb nicht, weil jeder Zwang der Mündigkeit überzeugt und verantwortlich handelnder Subjekte widerspricht und sich zudem ihren Einsichten und Lebenslagen verschließt. Aber auch deshalb, weil das biblische Wort Gottes in seiner Schöpfung um das heilvolle Glück aller Geschöpfe zwar wirbt, sie zu diesem Glück unablässig einlädt, mit allem Ernst und in allen Sprachen darauf verweist – doch ohne ihre hermeneutische Freiheit und Würde einzuschränken oder zu verletzen. Vielmehr sollen sie im geschützten wie offenen Raum der Interaktion dieses Wortes als Subjekte ihres Handelns erkannt und anerkannt sein. Sie werden darin das Gute entdecken, es reifen sehen und wagen lernen – selbstentschieden, konkreatorisch und kraft des Glaubens an die göttlich geschenkte Güte. Abstract This article aims to stake out the theoretical frame for moralpractical conveying of Holy Scripture and life. There are brought up hermeneutical and methodical regularities of ethical exegesis, that should be taken in account with future models of interpreting the Bible. It is worth to recognize the numerous important studies on this theme. But according to the involved experts, there hasn’t been found a satisfying solution until now. This is i.a. why methodology of ethical exegesis shares fundamental questions of the theories of moral, comprehension, reception and faith, that aren’t cleared up entirely. Therefore is the chance, that the here intended progress in biblepractical theory may bear fruits – beyond of the theological or theologic-ethical field.

*** Hanspeter Schmitt, geb. 1959, Dr. theol. habil., ist Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur. 44 Zur theologisch-ethischen Reflexion der genuin christlichen »Kommunikation Gottes«: Schmitt, Wertkommunikation (Anm. 8), 413f., 442–448, 478–514; ders., Schrift (Anm. 7), 101–104; ders., Theologie (Anm. 40), 182–197.

Register

Bibelstellen (Auswahl)

Altes Testament

Hosea 4–14

Genesis 1,1 2,20–24 2,24

57 14 15

Exodus 1,13f 15,1–21 21,2–7 31,18 32,16 32,19 34,27f 34,33 34,35

55 306–308 53f 141 48 48 48.141 114 114

Leviticus 25,39–46 25,43.46 26,46 Deuteronomium 6,4 15,12–18 32,21 33,2 Jesaja 8,4 19,21.25 23,1–6 40,3 43,16–19 45,7 65,13–17 65,17

54f 55 137f 113 53f 315 138

50

Psalmen 2,1f 213f.221f 8,5 147 21,7 222 62,1 189 68,19 146f 118,26 14 135,9 314 136,1–26 312f 137,1–9 311f Proverbien 10,1–5 26,4f

58 58

Daniel 9

51 308–310

Neues Testament 198 19 56f 122 57 7 57 58

Matthäus 1,22 2,5f 2,15 3,3 13,24–30 23,39

116 117 116 14 345 17 116

Lukas 1,32.35 1,35 2,22ff 2,23 3,4ff 13,35

121 121 121 121 121f 14

Johannes 1,1–18 2,15 5,1–9 12,38

245–248 345 345 124

59

Kohelet 1,9–11 3,19

Judit 16,1–17

Markus 1,1 1,3 1,4 4,10–12 11,15f 12,28–34 14,21.49

118 118 118 118 97 14

Römer 3,21 4,23f 9,2f

115 114 13

1. Korinther 8,6 9,10 10,16f

113 114 10

2. Korinther 3,6f 3,6 3,12–18 3,14.16

114 146 114 114

386

Bibelstellen (Auswahl)

Galater 2,11–21 4,8–20

94f 5

Epheser 4,8

137

1. Timotheus 2,15

232

2. Thessalonicher 2,12 3,2 Hebräer 1,1f 2,7 8,5f 10,15–18

92 93 125 208 127 127

1. Petrus 3,3.19f 4,8

129 127

Jakobus 5,20

127

Judas 9.14f

130

Namen und Sachen (Auswahl)

1. Petrusbrief

127–129

39. Osterbrief des Athanasius

97

Aktualisierung s. Redaktion, sekundäre/schriftgelehrte Allegorese 180f.217–219 Allmacht Gottes 348 Alltag/Alltagsleben 41–43 Altarsakrament 253f Altes Testament 15–19.67–84 – bei Johannes 123–125 – bei Lukas 120–123 – bei Markus 115–117 – bei Matthäus 117–120 – bei Paulus 109–115 – im 1. Petrusbrief 127–129 – im Hebräerbrief 125–127 – im Judasbrief 129–131 Antiochenischer Zwischenfall 94f Archäologie 345–347 Ästhetik 42–44 Athanasius 97 Auferstehung der Toten 8f Augustinus von Dänemark 181 Augustyn, W. 245–264 Barth, K. 295–300 Bekenntnis 300 Benjamin, W. 316–319 Beziehung 8 Bibel 21f.48.337–352 Bibel in gerechter Sprache 68.328–330 Bibelauslegung s. Schriftauslegung Bibelhermeneutik s. Schriftauslegung Bibelhumanismus 203 Bibelkritik 47–49.51.269f Bibelübersetzungen 26f.68.108.204–210.266–275.278.327–330 Bibelwissenschaft 176f

388

Namen und Sachen (Auswahl)

Bible moralisée 256–259 Biel, G. 233 Bilder 36 Bilder/Bildkunst im Mittelalter Bonhoeffer, D. 321 Book of Kells 248–251 Bultmann, R. 299 Certeau, M. de 41–43 Chemnitz, M. 228 Christusanhänger 90 Constitutiones Apostolorum Cultural Studies 37–41

248–264

142

Dante Alighieri 236 Decretum Gratiani 233–235 Dei Verbum 175f Dekalog 48 Derrida, J. 38 Deuteronomium bei Paulus 113 Deuterosis 142–145 Diakronie 51 Die Verbum 77–83 Differenzmodell 228f.233–244 Disputationen des 13. Jahrhunderts Doering, L. 105–133 Dohmen, C. 67–84 Doketen 89 Doktrin des Addai 99 Doxologie s. Gotteslob Dreifacher Schriftsinn 182.190f Duhm, B. 51 Ebeling, G. 47f Eck, J. 243 Eco, Umberto 40 Edessa 98f Egeria 98f Ehe 15.370 Ehescheidung 15.366–370 Einheit 3.5.9–13.21.221 – von Mann und Frau 14f Einheit/Einzigkeit Gottes 3.5f.9.18f Einheitsübersetzung 68 Ekklesia 86f Endtext 323–325.327 Entstehungsgeschichte der Bibel 49f Epiphanius von Salamis 144

164–170

Namen und Sachen (Auswahl)

Erasmus von Rotterdam 207–213.215–222 Erfüllungszitate 117–120 Erfunden s. Fiktionale Rede / erfunden Erfurter Tafelbild 262–264 Erinnerung 300 Erkenntnis 321f.337 Eß, L. van 271f Ethik 17.187f.355.361.372f.379 Eusebius 144 Evangeliumsvekündigung 19 Ewiges Leben 9 Familie 15f Feinde 17 Feindesliebe 17 fides divina 288 fides humana 288.294 Fiktionale Rede / erfunden 185f.188.190.337–341.346f Fischer, I. V–XI.25–31 Fiske, J. 38 Fortschreibung, produktive 52–61 Frau, Unterordnung der Frau 15 Fremde 16 Fuchs, O. 305–336± Fundamentalistisches Bibelverständnis 297 Gadamer, H.-G. 33 Generationenprinzip 3 Gesetze, alttestamentliche 52–55 Gewalt/Gewaltlosigkeit 333f Gilbert Crispin 152–158 Glaube 48.186.288–293.298f.337.357.360 Glaubensgemeinschaft 73f Glaubensgeschichten 344 Glaubwürdigkeit der Bibel s. Wahrheit/wahr Goldenes Kalb 141f Gott 4–10.13f.22f.299–301.334f – als einer/einziger 5f.13 – als König 18 – als Person 5 – Allmacht Gottes 348 – Einzigkeit/Einheit Gottes 5f.13 – Handeln Gottes 7 – lebendiger 5 – Liebe Gottes 9 – persönlicher Gott 5 – Trennung von Gott 7 – Wirken Gottes 7

389

390

Namen und Sachen (Auswahl)

Gottes Königtum 18 Gottesknecht 332f Gotteslob 310f.314 Gratian 233–235 Hall, St. 37f Harmoniemodell 228–230.234.238–240.243 Harnack, A. von 230f Hasselhoff, G.K. 149–172 Hebräerbrief 125–127 hebraica veritas 28.67 Hebräische Bibel s. Altes Testament Hebräische/griechische Bibel 26.29 Heiden 18f Henoch-Literatur 129–131 Hermeneutik (der Bibel) s. Schriftauslegung Hermeneutischer Zirkel 301 Historisch-kritische Exegese/Forschung/Methode 29f.47–49.175–177.185f. 190–192.201.283–285.289.295f.305f.323f.338–352.374f Historische Ereignisse/Tatsachen / Wirklichkeit 338–352 Hoffnung 5f Hugo von Sankt Victor 190f Hus, J. 262 Identität 3 Interpretatio Christiana Intoleranz 332 Irenäus von Lyon 87f Iser, W. 34–37 Israel 14 Itin. Eger 98f ius divinum 243

21

Jakobusbrief 91.106 Jauß, H.-R. 33f Jeremias, J. 50 Jesaja bei Paulus 112f Jesus als Gottessohn 13 Johannes Casian 184 Johannesevangelium 123–125 Johannesprolog 245–248.254.258.261.264 Josuabuch 187–189 Judasbrief 129–131 Juden/Judentum 12–14.74 – Nein zu Christus 12f Jüdische Schriften im Neuen Testament 105–133 Juditlied 308–310 Justinian 144

391

Namen und Sachen (Auswahl)

kaige-Rezension 108 Kanon 3–23.60–62.323–327.333 – der katholischen Kirche 68 – alttestamentlicher 67–84 – neutestamentlicher 85–104 Ketubim 72 Kindertheologie 347f Kirche 10f.19.85–87.96.291.297f.300f – syrische 98f – Verhältnis zu Israel 14 Kohärenztheorie 340f.347 Kohelet 58f Kontinuität 334f Konzil von Trient 226f.229f Korrespondenztheorie 337.339–341 (Das) Kostbare Evangeliar des Heiligen Bernward

251–254

Lagrange, M.-J. 201 Lauster, J. 288.294.299–301 Leben, ewiges s. Ewiges Leben 9 Lebenssinn 343 Lebenswahrheit 343 Lefèvre d’Etables, J. 203–207.213–215221f Leib Christi 10f Leonhard, R. 294 Leppin, V. V–XI.225–244 Leser 31–39 Lessing, G.E. 288f Liebe Gottes 5 Liebe zu Gott 4 Liebesgebot 17 Literalsinn 188.190.192.195–198.213–215 López Zúñiga, D. 212f Lubac, H. 200f Lukasevangelium/Apostelgeschichte 120–123 Luther 67f.95.241–244.283–287.294f Luz, U. 176–179 Mann und Frau 14f Markion 70f Markusevangelium 115–117 Martyrium von Maximian und Isaac 95f Matthäusevangelium 117–120 Mehrfacher Schriftsinn 180.195f Messianische Schriftauslegung s. Schriftauslegung, messianische Messias (in den Disputationen des 13. Jh.s 167–170 Metapher 218 Monotheismus 4

392

Namen und Sachen (Auswahl)

Moral s. Ethik Moralebenen 373 Moraltheorie 358 Moselied 306–308 Mühlenallegorie 261–263 Mündliche Tora s. Tora, mündliche Mündliche Überlieferung/Vorstufen 50 Nachkanonisch 325f Nächster/Nächstenliebe 16 Naturgesetze 340f.348 Neuinterpretation 54f (s. auch Redaktion, sekundäre/schriftgelehrte) Nicaea 93f Nicklas, T. 85–104 Odo Camaracensis 158–160 Offenbarung 193–198.296–298.325–328 – am Sinai 137–142 Old Greek 108 Opfer 333f Origenes 183–190.217f Ornamentik 248f Patristische Exegese s. Schriftauslegung, patristische (mittelalterliche) PCB 80–82 Pentateuch 52–55 Petrusevangelium 89–91 Pfeilerbildzyklus im Erfurter Dom 258–262 Präexistenz bei Johannes 125 Pragmatische Wahrheitstheorie 342 Prophetenauslegung, prophetische 55–59 Psalmen 199.213f Pseudoclementinen 90f.143 Quincuplex Psalterium (Fünffacher Psalter)

204f

Rabbinische Schriftauslegung s. Schriftauslegung, rabbinische Ratzinger, J. 175f.200 Redaktion, sekundäre/schriftgelehrte 51f.54f Reformation 28f.67f Religionsgespräche, mittelalterliche 149–172 Rettung/retten 312.314 Rezeption/Rezeptionsgeschichte 30–37.43–45.49f.178.324–327.331.333 Rezeptionsgemeinschaft 44f.324–326.331 Rezeptionstheorie 359f Rosenzweig, F. 3f.22f Rupert von Deutz 160–164 Sadduzäer

105

Namen und Sachen (Auswahl)

393

Samaritaner 105 Sartre, J.-P. 32 Septuaginta 107.118f.328 Serapion 89 Schleiermacher, F. 292–295 Schmid, K. 47–63 Schmitt, H. 355–382 Schöpfermacht Gottes 341 Schrift und Tradition 20.25–31.76.137.225–244.269f.275–279.284f.287 Schriftauslegung 20f.25–31.44–46.47–63.283–300.371f.378 – ethische 355–382 – humanistische 203 – katholische Aufklärung 265–279 – im (Spät-)Mittelalter 225–244 – messianische (im Mittelalter) 149–172 – patristische (mittelalterliche) 175–202 – rabbinische 137–148 Schrifterfüllung 117–120 Schriftprinzip/Schriftverständnis s. Schriftauslegung Schwienhorst-Schönberger, L. 175–202 Simon, R. 265–270.279 Söding, Th. 3–23 sola fide 48 sola scriptura 28–30.276.41–243.283–286.294 Sozialgeschichte 345–347 Stemberger, G. 137–148 TaNaK 72f Textauslegung/Text 31–46 Theologie als Wissenschaft 192–196 Theologie, mittelalterliche 225–244 Thomas von Aquin 191–200.230–232 Tietz, C. 283–302 Tod/Kreuz Jesu 253–257.264.299 Toleranz 331f Tora – schriftliche und mündliche 74f.137–146 – und Propheten 69f.72 – zweifache 137–142 Tradition 27f.148.227.277 Troeltsch, E. 49 Türkenkrieg 220f Vatikanum II 76–83.227f veritas hebraica s. hebraica veritas Verstehenstheorie 358f Vielfalt 5.9.11 Vierfacher Schriftsinn 175f.181–184.190f.197.213f

394 Volk Gottes 9 Völker 18f Völkerwallfahrt, eschatologische Vorkanonisch 326 Vorverständnis 284f Vulgata 26f.205f.272f

Namen und Sachen (Auswahl)

19

Wagner, F. 289–292 Wahrheit/wahr 337–353 Walter, P. 203–223 Weber, I. 265–280 Weiheit(sliteratur) 59f Wesengleichheit 93 Wilhelm von Ockham 237f.243 Winter, R. 25–31 Wirklichkeit 36 Wirkungsgeschichte 30f.177–179.366 Wort Gottes 295–299 Wyclif, J. 238–240.262 Zahlensymbolik 189 Zimmermann, M. 337–353 Zuschauer 38–41 Zweinaturenlehre 245 Zweites Vatikanisches Konzil s. Vatikanum II Zwölferkreis 9 Zwölfstämmevolk 9

JBTh 1 (1986) – 32 (2017) JBTh 1 (1986) Einheit und Vielfalt Biblischer Theologie 252 Seiten, 3. Auflage 1991, Paperback ISBN 3–7887–1229–5

JBTh 2 (1987) Der eine Gott der beiden Testamente 267 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1266–X

JBTh 3 (1988) Zum Problem des biblischen Kanons 294 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1288–0

JBTh 4 (1989) »Gesetz« als Thema Biblischer Theologie 360 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1321–6

JBTh 5 (1990) Schöpfung und Neuschöpfung 297 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1363–1

JBTh 6 (1991) Altes Testament und christlicher Glaube 382 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1385–2

JBTh 7 (1992) Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft 446 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1433–6

JBTh 8 (1993) Der Messias 396 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1465–4

396

JBTh 1 (1986) – 32 (2017)

JBTh 9 (1994) Sünde und Gericht 396 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1500–6

JBTh 10 (1995) Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments 272 Seiten, 2. Auflage 2001, Paperback ISBN 3–7887–1544–8

JBTh 11 (1996) Glaube und Öffentlichkeit 272 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1605–3

JBTh 12 (1997) Biblische Hermeneutik 432 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1642–8

JBTh 13 (1998) Die Macht der Bilder 349 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1685–1

JBTh 14 (1999) Prophetie und Charisma 303 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1749–1

JBTh 15 (2000) Menschenwürde 397 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1800–5

JBTh 16 (2002) Klage 429 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1863–3

JBTh 1 (1986) – 32 (2017)

JBTh 17 (2002) Gottes Kinder 439 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1920–6

JBTh 18 (2003) Das Fest: Jenseits des Alltags 487 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–1997–4

JBTh 19 (2004) Leben trotz Tod 477 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–2063–8

JBTh 20 (2005) Der Himmel 484 Seiten, Paperback ISBN 3–7887–2103–0

JBTh 21 (2006) Gott und Geld 348 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2165–7

JBTh 22 (2007) Die Macht der Erinnerung 494 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2229–6

JBTh 23 (2008) Heiliges Land 320 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2301–9

JBTh 24 (2009) Heiliger Geist 456 Seiten, 2. Auflage 2015, Paperback ISBN 978–3–7887–2376–7

397

398

JBTh 1 (1986) – 32 (2017)

JBTh 25 (2010) Wie biblisch ist die Theologie? 340 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2453–5

JBTh 26 (2011) Das Böse 440 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2538–9

JBTh 27 (2012) Geben und Nehmen 461 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2575–4

JBTh 28 (2013) Zeit 384 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2711–6

JBTh 29 (2014) Liebe 399 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2869–4

JBTh 30 (2015) Mitleid und Mitleiden 400 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–2936–3

JBTh 32 (2017) Beten ca. 350 Seiten, Paperback ISBN 978–3–7887–3256–1

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