Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität: Reflexionen im Kontext des digitalen Zeitalters [1. Aufl.] 9783658312473, 9783658312480

Der Band vereint ausgewählte interdisziplinäre Zugänge zu Entwicklungen und Problemstellungen rund um das Verhältnis von

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German Pages VI, 176 [177] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität – ein Problemaufriss (Dan Verständig, Jens Holze)....Pages 1-13
Banden Bilden? Politische Medienbildung als kollektive Praxis der Überschreitung (Valentin Dander)....Pages 15-36
Sozio-mediale Habituskonfigurationen als analytischer Fluchtpunkt einer relationalen Medienbildungstheorie (Patrick Bettinger)....Pages 37-57
Vernetzung als Subjektivierungsform: Konturierung einer Forschungsperspektive (Andreas Spengler)....Pages 59-75
Decoding Subjects? Über Subjektivierung und Kreativität im algorithmischen Zeitalter (Dan Verständig, Juliane Ahlborn)....Pages 77-94
Der sogenannte Computer – Zum Problem des Kollektivums der Digitalisierung (Stefan Höltgen)....Pages 95-114
Konsumierbare Körper: Japanische Idols (Steffi Rehfeld)....Pages 115-127
Anonymität auf den Bühnen des Politischen (Florian Krückel, Maren Schüll)....Pages 129-145
Das digitale Mahnmal in der Keupstraße als Raum der Solidarität (Ulaş Aktaş)....Pages 147-172
Back Matter ....Pages 173-176
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Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität: Reflexionen im Kontext des digitalen Zeitalters [1. Aufl.]
 9783658312473, 9783658312480

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Medienbildung und Gesellschaft

Jens Holze · Dan Verständig · Ralf Biermann Hrsg.

Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität Reflexionen im Kontext des digitalen Zeitalters

Medienbildung und Gesellschaft Band 45 Reihe herausgegeben von Johannes Fromme, Fakultät für Humanwissenschaften, Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Sonja Ganguin, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Stefan Iske, Fakultät für Humanwissenschaften, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Dorothee M. Meister, Institut für Medienwissenschaften, Universität Paderborn, Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland Uwe Sander, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland

Jens Holze · Dan Verständig · Ralf Biermann (Hrsg.)

Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität Reflexionen im Kontext des digitalen Zeitalters

Hrsg. Jens Holze Institut für Erziehungswissenschaft Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Sachsen-Anhalt Deutschland

Dan Verständig Institut für Erziehungswissenschaft Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Sachsen-Anhalt Deutschland

Ralf Biermann Institut für Erziehungswissenschaft Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Magdeburg, Sachsen-Anhalt Deutschland

ISSN 2512-112X ISSN 2512-1146  (electronic) Medienbildung und Gesellschaft ISBN 978-3-658-31247-3 ISBN 978-3-658-31248-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität – ein Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Dan Verständig und Jens Holze Banden Bilden? Politische Medienbildung als kollektive Praxis der Überschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Valentin Dander Sozio-mediale Habituskonfigurationen als analytischer Fluchtpunkt einer relationalen Medienbildungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Patrick Bettinger Vernetzung als Subjektivierungsform: Konturierung einer Forschungsperspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Andreas Spengler Decoding Subjects? Über Subjektivierung und Kreativität im algorithmischen Zeitalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Dan Verständig und Juliane Ahlborn Der sogenannte Computer - Zum Problem des Kollektivums der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Stefan Höltgen Konsumierbare Körper: Japanische Idols. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Steffi Rehfeld Anonymität auf den Bühnen des Politischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Florian Krückel und Maren Schüll

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Das digitale Mahnmal in der Keupstraße als Raum der Solidarität. . . . . 147 Ulaş Aktaş Informationen zu den Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität – ein Problemaufriss Dan Verständig und Jens Holze

Zusammenfassung

Subjektivität konstituiert sich in einem unstetigen Feld von subjektivem Innen sowie objektivem Außen, von individueller Erfahrung, Wahrnehmung und Weltsicht einerseits sowie gesellschaftlichen Strukturen andererseits. Subjektivierung, so könnte eine These im Anschluss an Beck (2015) formuliert werden, ist ein andauernder Prozess des Sich-In-Beziehung-Setzens zu und der Emanzipation von Umwelt und Gesellschaft, der sich dominant mit und durch Medien vollzieht. Der grundlegende Wandel von klassischen und vormals analogen Massenmedien hin zu digitalen Netzmedien bringt eine Veränderung der medialen Rahmenbedingungen mit sich, die mittlerweile nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch im Alltag deutlich spürbar ist. Subjektivität konstituiert sich in einem unstetigen Feld von subjektivem Innen sowie objektivem Außen, von individueller Erfahrung, Wahrnehmung und Weltsicht einerseits sowie gesellschaftlichen Strukturen andererseits. Subjektivierung, so könnte eine These im Anschluss an Beck (2015) formuliert werden, ist ein andauernder Prozess des Sich-In-Beziehung-Setzens zu und der Emanzipation von Umwelt und Gesellschaft, der sich dominant mit und durch Medien vollD. Verständig (*) · J. Holze  Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Holze E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_1

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zieht. Der grundlegende Wandel von klassischen und vormals analogen Massenmedien hin zu digitalen Netzmedien bringt eine Veränderung der medialen Rahmenbedingungen mit sich, die mittlerweile nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch im Alltag deutlich spürbar ist. Beispiele dafür finden sich dominant in der Rolle von Social Network Sites und anderen digitalen Kommunikationsangeboten für öffentliche Diskurse, der Frage nach privatem Datenschutz gegenüber staatlichen Organisationen und Wirtschaftsunternehmen aber auch in den umfassenden Diskursen zu Fragen des Urheberrechts, die vormals allerhöchstens für Fachanwälte von Interesse waren, aber heute dank vielfältiger Publikationsplattformen im Netz prinzipiell jeden (be)treffen. Diese Kultur der Digitalität (Stalder 2016), die sich herausgebildet hat und historisch auf eine lange und umfangreiche Entwicklungsgeschichte verweist, lässt auch grundlegend danach fragen, wie sich Subjektivität aber auch Kollektivität unter den sich wandelnden Rahmenbedingungen verhalten und wie eine Konzeption von Medienbildung unter diesem Vorzeichen verhandelt werden kann. Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität überhaupt zu verorten, ist allein schon von einiger Komplexität geprägt, da es sich hierbei nicht nur um die teils kontroverse Diskussion des Verhältnisses von Bildung und Subjektivität handelt, sondern darüber hinaus der Aspekt von Kollektivität ins Feld geführt wird. Die Veranstaltung des Theorieforums 2018 hat jedoch gezeigt, dass gerade diese Trias umfangreiche Diskussionen hervorgebracht hat, deren Erträge hier gesammelt werden. Einleitend scheint es uns jedoch sinnvoll, einen kurzen Problemaufriss zu skizzieren, der insbesondere auf die fachspezifische Verortung von Medienbildung hinausläuft.

1 Mensch, Subjekt und Subjektivierung Wenn das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt in einer stetigen Bewegung zu verstehen ist, dann kann nicht nur der Begriff des Menschseins, sondern auch der des Prozesses, in dem sich der Mensch zu einem Subjekt entwickelt, grundlegend hinterfragt werden. Die von Foucault (1982) inspirierte Frage, wie in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden, hat dabei in verschiedenen Disziplinen bereits recht lebendige Diskussionen ausgelöst, die auch in der Erziehungswissenschaft schon früh einige Beachtung gefunden haben (vgl. Meyer-Drawe 1990; Ricken 1999, 2000; Ehrenspeck 2001; Sandbothe und Marotzki 2000) und auch wenn der Streit um das Subjekt inzwischen längst abgeklungen zu sein scheint, ist doch die darin umkämpfte Frage nach dem Subjekt bislang kaum angemessen beantwortet (Bröckling 2007;

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Balzer und Ludewig 2012). Nicht zuletzt darum bietet die andauernde Auseinandersetzung damit ein enormes Anregungspotential für sozial- und kultur-, aber auch erziehungswissenschaftliche Forschungen (vgl. Ricken et al. 2019). Poststrukturalismus und Praxistheorien haben maßgeblich dazu beigetragen, vom Gedanken abzulassen, pauschal von einem sich selbst reflektierenden Subjekt auszugehen. Den Kern der Kritik macht wohl die Annahme aus, dass der Mensch als Subjekt auf Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstzweck basiert (vgl. Ricken 1999, S. 59 f.), dem dementsprechend Autonomie zugesprochen werden kann (vgl. Meyer-Drawe 1990). Diese Kritik ist maßgeblich eine am „klassischen Subjekt“, wie Reckwitz (2012) es bezeichnet. Ausgehend von der klassischen Subjektphilosophie der frühen Moderne (vgl. ebd., S. 12) handelt es sich dabei um einen Subjektbegriff, der nicht relational und damit unabhängig von einem Außen denkbar ist, weshalb er erkenntnistheoretisch eine finale Größe darstellt. Es ist das philosophische Denken der Moderne, das zunächst zentriert auf das Subjekt als eine autonome, sich selbst begründende Instanz, „die zugleich zur Schlüsselfigur der modernen politischen, ökonomischen, ästhetischen und religiösen Emanzipationsbewegungen avanciert“ (ebd., S. 75) begründet wird. Auf die Spitze wird dies durch den von Kant bis heute noch prominenten Gedanken der Aufklärung gebracht: „Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1784). Den Mut zu haben, sich seines Verstandes zu bedienen, setzt voraus, dass das Subjekt als gegebenes in der Lage ist, sich aus dem Zustand der selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus zu bewegen. Dementsprechend kann hier von einem Selbstbewusstsein ausgegangen werden, dass bereits vorhanden ist und eben nicht (mehr) gemacht wird. Gleichzeitig wird dem Subjekt damit die Autonomie unterstellt, den Zustand der Mündigkeit selbst zu erreichen und durch die Freiheit des eigenen Handelns zu behaupten. Die Kritik am sogenannten klassischen Subjekt muss jedoch nicht mit der Abschaffung desselben gleichgesetzt werden, vielmehr scheint die Verschiebung der Perspektive auf relationale Gefüge und die Formbestimmtheit von Subjektivierungsweisen, die sich unter dem Moment der Dezentrierung zusammenfassen lassen, von gesteigertem Erkenntnisgewinn, besonders dann wenn es um Lernen und Bildung geht. Bei Foucault (1994) findet der Subjektbegriff „einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht“ (ebd., S. 246 f.). Das Subjekt wird dementsprechend und entgegen des klassischen Subjektbegriffs nicht als gegeben verstanden, sondern als stets gemachtes und historisches Subjekt begriffen. Dieser

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Prozess der Subjektivierung lässt sich bei Foucault durch Praktiken der Machtbeziehungen und Selbsttechniken verstehen (vgl. hierzu auch Foucault [1987] 2017). Die Situierung des Subjekts ist demnach auch von historisch-zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen abhängig (Foucault 1985, S. 18) und wird vielerorts als paradoxaler Vorgang beschrieben, wie es Bröckling (2007) auf den Punkt bringt: „Ein Subjekt oder Selbst (…) zu werden, ist ein paradoxer Vorgang, bei dem aktive und passive Momente, Fremd- und Selbststeuerung unauflösbar ineinander verwoben sind. Jenes Selbst, das sich, so die seit George H. Mead gängige Auffassung, dadurch konstituiert, dass es die Perspektive eines anderen einnimmt und so eine Vorstellung von sich ausbildet, muss zumindest in rudimentärer Form schon existieren, um diesen Akt der Subjektivierung durch Objektivierung vollziehen zu können“ (ebd., S. 122).

Für bildungstheoretische Auseinandersetzung ist genau diese paradoxale Struktur, die Subjektivierung und eine dadurch angestrebte Herstellung von Autonomie in den Blick nimmt, von gesteigerter Bedeutung. Es geht dabei nicht nur um die Herstellung von Ordnung, sondern auch die Durchkreuzung von Ordnungssystemen und die daran gebundenen Aushandlungen. Subjektivierung geht schließlich mit Handlungsmöglichkeiten, aber auch -zwängen einher, welche durch diskursiv hergestellte Ordnungen bestimmt werden, die stets in einem gesellschaftlich-historischen Kontext verankert und damit von unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen geprägt sind. Das Spannungsverhältnis von subjektivem Innen und objektivem Außen erfährt in einer von Unbestimmtheit geprägten digitalen Welt erneute Aktualität. Es geht dann darum, zu klären, wie das Subjekt sich als Mensch sowohl gegenüber sich selbst als auch in der Welt orientieren kann und das mit all seinen eigenen Vorstellungen und Erwartungen an sich und die Welt, die sich nicht mehr nur analog abspielt, sondern durch die Digitalität neue Grenzen zieht, die es als Subjekt wiederum auszuloten gilt. Eine besondere Chance wie auch Herausforderung ist dabei die Algorithmizität des Digitalen. Vor dem Hintergrund von algorithmischen Systemen und Problemen der Fremdbestimmung durch digitale Technologien ist diese Frage keineswegs trivial. Komplexe technische Systeme durchziehen den Alltag in besonderer Qualität, denn das digitale Zeitalter steht zunehmend unter dem Einfluss nicht-menschlicher Akteure. Auf Plattformen wie dem Fahrtendienst Uber werden beispielsweise Aufträge auf Basis algorithmischer Operationen den Fahrenden zugeteilt. Damit werden algorithmische Entscheidungssysteme zu Vorgesetzten derer, die eine Fahrt mit ihrem Fahrzeug anbieten (Rosenblat 2018). Zu fragen wäre

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hier beispielsweise, inwiefern algorithmische Systeme als nichtmenschliche Akteure ins Verhältnis zu menschlichen Führungskräften und KollegInnen gesetzt werden können und wie sich hierdurch Subjektivierungsweisen abzeichnen. Nichtmenschliche Akteure treten mehr und mehr auch durch Künstliche Intelligenz (KI) ins Feld. Wenngleich KI kein neues Phänomen ist, erfahren autonome Systeme mit steigender Rechenleistung und der gleichzeitigen Weiterentwicklung von Softwarekonzepten in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit. Gestützt durch Konzepte wie Machine Learning und deren Implementierung über beispielsweise Deep Learning können nicht nur Spiele wie Go gewonnen oder selbstfahrende Autos entwickelt werden. Es soll der Blick in die Zukunft ermöglicht werden, um Verhaltensmuster zu erkennen und darauf einwirken zu können. Daneben führen diese technologischen Entwicklungen auch zu komplexen Verflechtungen in kreativen Arbeitsfeldern und künstlerischen Praktiken.

2 Medien, Subjektivität und Kollektivität In aktuellen öffentlichen Diskussionen steht die Frage der Effekte von Digitalisierung oder vielleicht konkreter einer digitalen Revolution (Heffernan 2011; Helbing 2019; Holze 2017, S. 64 ff.; Tapscott 2013) oft im Mittelpunkt. Mit Blick auf die Bildungspraxis wird das besonders deutlich, wenn man sich die Entwicklungen um eine „digitale Bildung“ genauer ansieht. Digitale Medien oder noch spezifischer digitale Netzmedien haben dabei in den letzten 30 Jahren in alle Bereichen – auch denen des alltäglichen Lebens – Eingang gefunden und der Prozess der Digitalisierung von Lebenswelt kann als zentraler Metaprozess oder auch Mega-Trend (vgl. Naisbitt 1982) neben der Globalisierung oder dem demografischen Wandel gesehen werden. Ob Verwaltung, Handel, Finanzen, Bildung, Industrie, Freizeit oder Beruf, überall finden – auch aufgrund der neuen medialen Umgebungen – Transformationen statt, die teils offensichtlich sind, teils aber auch eher unbemerkt bleiben. Unbestritten finden diese diversen gesellschaftlichen Veränderungen des 21. Jahrhunderts vielleicht nicht wegen, aber auf jeden Fall mit digitalen Netzmedien statt. Ein kulturwissenschaftlich geprägtes Verständnis von Medienbildung (vgl. Jörissen und Marotzki 2009; Jörissen 2014a; Jörissen 2017; Verständig und Holze 2020) nimmt diese Entwicklungen insofern in den Blick, als hierüber implizite Strukturen der sozialen Aushandlung abseits formaler Bildungsfragen diskutiert werden. Damit gelingt ein Zugriff auf die hochgradig komplexen Dynamiken, wie wir sie im Zuge der Digitalisierung vorfinden.

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Vor dem Hintergrund medialer Strukturen, digital vernetzter Architekturen und der Undurchsichtigkeit des Digitalen wird dieses Verhältnis in besonderer Weise angesprochen. Mit dem Digitalen ergeben sich neue Anknüpfungspunkte für die bisherigen Diskussionen, schließlich durchdringen die Veränderungsprozesse nicht nur einen abgeschlossenen Bereich, sondern wirken sich auf Kultur, Gesellschaft und Politik in ganzer Breite aus. So sind es die digitalen Medien sowie die bequeme Einfachheit der (mobilen) Vernetzung, die eine deutliche Flexibilisierung von Vergemeinschaftungs- und Kollektivierungsprozessen zugelassen haben. Gleichzeitig werden viele Herausforderungen im Umgang mit den daraus folgenden Phänomenen auf der Ebene des Menschseins selbst verhandelt. Dieses Spannungsfeld wird in diversen Veröffentlichungen der letzten Jahre unter ganz unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen, beispielsweise wenn es grundlegend zur Frage nach dem digitalen Subjekt (Carstensen et al. 2014) kommt oder es um machttheoretische Perspektiven auf das Netz geht (Biermann und Verständig 2017; Verständig 2017), aber auch dann, wenn Digitalität und Selbst in den Mittelpunkt gestellt werden (Allert et al. 2017; Dander et al. 2020). Alkemeyer et al. (2018) eröffnen darüber hinaus eine weitere spannende Perspektive, indem sie interdisziplinäre Untersuchungen zur Entstehung kollektiver Subjekte versammeln. Ausgehend davon, dass eben nicht nur Individuen, sondern auch Organisationen, Gemeinschaften, Teams, soziale Bewegungen und Städte zunehmend als Subjekte adressiert und formiert werden, ergeben sich hierüber weitere Bezugspunkte, die es im Zusammenspiel von Kollektivität und Subjektivität kritisch zu untersuchen gilt. Offenkundig entwickelt sich damit ein reger Diskurs um diese Phänomene, den aufzugreifen sich lohnt und der vor allem im Hinblick auf das Verhältnis von Individualität und Kollektivität einige gewinnbringende Erkenntnisse für die Fragen der Bildung in einer digitalen Welt bereithält. Das komplexe Verhältnis von Subjektivität und Kollektivität, verstanden als das zuvor dargestellte Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen, wird insbesondere aus Perspektive der Strukturalen Medienbildung deutlich, die Medien bzw. Medialität in diesem Verhältnis reflektiert. So wird dort von einem Medienbegriff ausgegangen, der an die Arbeiten Marshall McLuhans anschließt und demzufolge Medien als „Extensions of Men“ (McLuhan 1964) also als Erweiterungen oder Ausweitungen des Menschen in die Welt versteht. Der Prozess der Artikulation, der dabei immer medial gedacht wird, ist also der Prozess von Subjekten, ihr Inneres in bestimmter medialer Form nach außen zu verlegen. In einem weiteren Schritt geht die Strukturale Medienbildung von einer Gegenwart der Digitalen Medialität (Holze 2017, S. 129 ff.; Jörissen 2014b) aus und stellt damit konzeptionell den strukturalen Zusammenhang zwischen

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subjektiven Artikulationen und den Bedingungen einer digitalen Materialität dar, die potentiell zu einer spezifischen Entgrenzung von Artikulation führt, weil digitale Zeichen universal wandelbar sind und Materialitäten simulieren können. „Jedes digitale Medienartefakt steht damit in einer großen Anzahl potentieller Praktiken zur Verfügung, kann manipuliert, rekontextualisiert oder diskutiert werden und ist dazu in digitaler Form leicht in verschiedene Räume der digitalen Welt – insbesondere natürlich den Digitalen Netzen – zu überführen“ (Holze 2017, S. 134). Daraus ergeben sich mannigfaltig neue Phänomene, die es theoretisch aber natürlich auch empirisch einzuholen gilt. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der vorliegende Sammelband mit dem Verhältnis von Subjektivität und Kollektivität, denn nicht zuletzt mit Blick auf das Digitale lässt sich dieses in einer neuen Qualität beschreiben. Einerseits strukturieren sich soziale Gefüge um, andererseits gehen erst neue Relationen sowie Praktiken im Umgang mit dem Digitalen hervor. Technik und Soziales müssen dabei als ein miteinander verwobenes Phänomen betrachtet werden, das nur im Wechselspiel betrachtet werden sollte.

3 Über die Beiträge des Bandes Die Beiträge dieses Bandes gehen größtenteils auf Vorträge im Rahmen des 11. Magdeburger Theorieforums im Juli 2018 zurück. Unter dem Titel „Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität im Kontext des Digitalen“ widmete sich die Veranstaltung dem Verhältnis und der Differenz zwischen dem Subjektiven und dem Kollektiven, wobei im Kern auch Fragen der Bildung und/ oder des Menschseins im weiteren Sinn berührt werden. Gegenstand der Tagung war deshalb das Verhältnis oder die Differenz von Subjektivität und Kollektivität, welches aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und ausgehend von einer möglichst breiten Auswahl von theoretischen Ansätzen diskutiert wurde. Dazu war zu Beiträgen aufgerufen worden, die sozial- und kultur-, medienoder kommunikations-, politik- oder bildungswissenschaftliche Blickwinkel berücksichtigen und sich im Bereich Bildung – Medienbildung – Digitalität verorten. Ergänzend zu diesen Beiträgen haben wir weitere WissenschaftlerInnen angefragt, um einerseits zusätzliche theoretische Perspektiven im Band zu haben und andererseits auch Brücken zur Anwendung zu bauen. Der Diskurs um die Rolle digitaler Medien für Gesellschaft und Kultur ist immer einem harschen Alterungsprozess unterworfen, weil die Phänomene, die diskutiert werden, sich noch stetig im Wandel befinden und die Forschung, insbesondere in den Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften, Prozesse zu beschreiben und zu ver-

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stehen versucht, die noch unabgeschlossen sind. Insofern haben alle Beiträge eine gewisse Funktion der vorläufigen Momentaufnahme und blicken in eine zum Teil ungewisse Zukunft, während sie gleichzeitig eben diese Momentaufnahmen an die historischen Diskurse der jeweiligen Disziplinen anknüpfen. So setzen alle AutorInnen Impulse, die zu weiteren Forschungsfragen führen und auch bedeutende Weichenstellungen für weitergehende wissenschaftliche Diskurse aufzeigen. Das Theorieforum als Veranstaltung steht für die kontinuierliche Fortsetzung theoretischer Diskussionen und auch dieser Band ist in der Absicht zusammengestellt worden, Diskussionsstränge aufzugreifen, weiterzuentwickeln und damit neue Fragen aufzuwerfen, die uns in der Zukunft beschäftigen werden. Da das Verhältnis von Subjektivität und Kollektivität an einer Vielzahl von Phänomenen diskutiert werden kann, hoffen wir, dadurch eine interessante Bandbreite an Zugängen geschaffen zu haben, die auch inter- und transdisziplinär an Diskurse anschließen und zu weiterer Auseinandersetzung einladen. Unter dem fragenden Titel „Banden bilden?“ steigt Valentin Dander in die politische Medienbildung ein und erörtert diese unter dem Vorzeichen einer kollektiven Praxis der Überschreitung. Die Frage, auf die der Beitrag antwortet, lautet: In welchem Verhältnis stehen Bildung, Kollektivität und Medien zur Sphäre des Politischen? Diese stellt sich sowohl angesichts machtvoller Medieninfrastrukturen, also auch mit Blick auf populistische und menschenverachtende Strategien im Internet. Ausgehend von einer Untersuchung zu Konzeptionen des politischen Subjekts und daran anschließenden Grundannahmen in der politischen Bildung werden alternative Konzeptionen diskutiert – zunächst innerhalb der politischen Bildung, sodann mit Bezugnahme auf neuere politische Theorien poststrukturalistischer Prägung. In einem letzten Schritt werden diese auf die digital-vernetzte Medialität des Internets und die politische Subjektivierung in Kollektiven übertragen. Abschließend wird im Beitrag vorgeschlagen, das Moment der Überschreitung auf verschiedenen Ebenen als Kernaspekt Politischer Medienbildung zu begreifen. Patrick Bettinger nimmt in seinem Beitrag habituelle Transformationen durch Medienbildungsprozesse in den Blick und stellt dazu Bezüge zur AkteurNetzwerk-Theorie im Anschluss an Latour in einer praxeologischen Lesart her. Damit kann aus seiner Sicht das Zusammenspiel von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren (wie z. B. mediale Artefakte) modelliert werden, um daraus habituelle Zusammenhänge ableiten zu können. Den bildungstheoretischen Hintergrund zu diesem Ansatz liefern Konzepte der transformatorischen Bildung, wobei der Beitrag insbesondere das Subjektverständnis dieser Konzepte weiterzuentwickeln versucht. Eine zentrale Annahme des Beitrags besteht darin, dass sich erst durch den Blick auf dieses Gefüge von

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menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren habituelle Veränderung als eine spezifische Form verteilter Vernetzungsdynamik herauskristallisiert. Zur Analyse des Stellenwerts von Medien in Bildungsprozessen richtet sich der von Patrick Bettinger vorgeschlagene Blick somit auf unterschiedliche Dimensionen der Veränderung sozio-medialer Habituskonfigurationen. Es wird dargelegt, inwiefern eine so gefasste relationale Perspektive als Bezugspunkt einer praxeologisch fundierten Medienbildungstheorie und – forschung einerseits Einsichten in das komplexe Zusammenspiel von Menschen und medialen Artefakten bieten kann, andererseits aber eine kritische Prüfung eines anthropozentrisch gedachten Subjektbegriffs erforderlich macht. Der Autor beschreibt die Entwicklung eines empirischen Forschungsdesigns, das sich auf qualitative biographische Interviews mit Menschen, die eigene thematische Weblogs zu übergreifenden Themenfeldern betreiben, und deren mediale Artefakte bezieht. Dazu wurden sowohl die Interviews als auch die jeweiligen medialen Artefakte einer Analyse im Modus der dokumentarischen Methode unterzogen, womit letztendlich mediale Habitus und potenzielle Bildungsprozesse rekonstruierbar und Phänomene medialer Subjektivierung sichtbar geworden sind. Die Bedeutung von Subjektivationsanalysen für die Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der Medienpädagogik im Besonderen steht im Mittelpunkt des Beitrags von Andreas Spengler. Ausgehend von einer Auswahl machttheoretischer Perspektiven der Pädagogik und insbesondere vor dem Hintergrund der Foucault’schen „Machttechnologien“ wird für eine Methodologie argumentiert, die insbesondere netzwerkförmige Strukturen in den Blick zu nehmen vermag. Als konkrete Machttechnologien sind dabei Algorithmen, das Social Web, Smarte Technologien und Apps zu verstehen, die zu einer „Regierung des Netzes“ zusammengezogen und kritisch betrachtet werden. Im Kern wird so anschaulich dargestellt, unter welchen bisher als Solidarität maskierten Machtkonstruktionen sich Subjekte konstituieren und eben auch kontinuierlich emanzipieren müssen, wenn diese nicht Gefahr laufen wollen, weitläufig regiert zu werden. Ausgehend von der Fokussierung auf das komplizierte Verhältnis von Sozialisation, Subjektivierung und Bildung sowie der Betrachtung von Vernetzung als Subjektivierungsform werden exemplarisch Ergebnisse einer Untersuchung zu Genese und Merkmalen einer Subjektivierungsform präsentiert. Im Zentrum steht dabei die Konturierung eines vernetzten Selbst mit Blick auf die dabei entscheidende Rolle von Medientechnologien. Mit einem der vier zuvor genannten Teilbereiche, den Algorithmen, beschäftigen sich Juliane Ahlborn und Dan Verständig. Es geht dabei um das Verhältnis von Algorithmizität und Subjektivierungsprozessen am Beispiel

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algorithmischer Kunst und der Frage, inwiefern dort Kreativität noch als eine ureigene menschliche Fähigkeit verstanden werden kann. In Anbetracht der Tatsache, dass Machine Learning Algorithmen bzw. KI-Systeme kreative Prozesse und künstlerische Stile nicht nur perfekt nachahmen, sondern daraus sogar neue Kunstwerke ableiten, die als spezifische Artikulationen gelten können, wird diskutiert, inwiefern sich das menschliche Subjekt dazu ins Verhältnis setzen lässt. Es wird dabei nicht nur auf die dem Prozess des Kunstschaffens eigene Regelhaftigkeit verwiesen, welche selbst Ergebnis kreativer Prozesse sein kann, sondern auch das Phänomen der Verunsichtbarung medialer Strukturen aufgegriffen, das angesichts digitaler Medialität eine neue Qualität zu erfahren scheint. Die Frage nach der besonderen Qualität digitaler Medien, insbesondere im Hinblick auf Computertechnologien, steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Stefan Höltgen. Mit einem medienwissenschaftlich fundierten Konzept zur Vermittlung von Medienkompetenz spezifisch im Hochschulstudium nichttechnischer Fächer, schlägt er einen Ansatz vor, der eine Grundbildung zum Aufbau und der Funktionsweise digitaler Medien formuliert. Basierend auf einer spezifischen didaktischen Reduktion, in welcher Computergeschichte aktualisiert und operationalisiert wird, soll das Verständnis moderner digitaler Medienprozesse unterstützt werden. Mit einem didaktischen Modell des Computers als Werkzeug wird der praktische Umgang mit älteren, überschaubar komplexen Computersystemen als Zugang zu hochkomplexen Systemen der Gegenwart genutzt. Dazu verknüpft der Autor theoretische Perspektiven aus der Medienpädagogik mit der geschichtswissenschaftlichen Methode des Re-Enactments nach Collingwood. Die Anerkennung historischer Entwicklungen spielt auch beim Beitrag von Steffi Rehfeld eine wichtige Rolle, wenngleich es bei ihr weniger um Computertechnologien als vielmehr um Idole im japanischen Kulturraum geht. Der Beitrag thematisiert dadurch das Verständnis des Körperbildes in Japan. Es wird eine aktuelle Umbruchphase beschrieben, die eine Polarisierung zwischen tradierten Werten, Denkmustern und Verhaltensweisen, sowie wachsender Individualität zur Folge hat. Idole sind damit eine Projektionsfläche für die gesellschaftlichen Idealvorstellungen, nach denen die junge Generation strebt oder streben soll. Elemente von Individualität scheinen dabei eher eine untergeordnete Rolle zu spielen, doch auch diese traditionelle Sichtweise scheint allmählich neu ausgehandelt zu werden. Entgegen der Fokussierung auf Körper und individuell identifizierbare Idole spielt Kollektivität im Beitrag von Florian Krückel und Maren Schüll eine zentrale Rolle, indem sie das Kollektiv Anonymous aufgreifen, um damit

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exemplarisch Fragen von Sichtbarkeiten im Politischen zu diskutieren. Ausgehend von einer Spaßbewegung, die ihren Ursprung im Imageboard 4chan hat, trat Anonymous seit 2008 zunehmend politisch mit Protestaktionen für die Redefreiheit, die Unabhängigkeit des Internets und gegen das Urheberrecht in Erscheinung. Im Anschluss an den Begriff der (politischen) Bühne von Rancière wird von den AutorInnen die Notwendigkeit zur Herstellung von Sichtbarkeit für gesellschaftliche Teilhabe historisch begründet und auf den Gegenstandsbereich bezogen. Im Zuge dieser Darlegung wird die These entfaltet, dass die (medialen) Praktiken von AktivistInnen eben genau diese Bühnen herstellen und herstellen müssen, um angesichts ihrer mangelnden Repräsentanz überhaupt am politischen Diskurs teilnehmen zu können. Eine theoretische Konzeption eines politisch-reflexiven Begriffs der Medienbildung wird von Ulaş Aktaş vorgeschlagen. Dazu bezieht sich der Autor auf das digitale Mahnmal in der Keupstraße in Köln/Mühlheim, welches an die Anschläge der NSU im Januar 2001 und im Juni 2004 erinnern soll. Das von den AnwohnerInnen als bauliches Mahnmal beabsichtigte Projekt, welches bislang nicht errichtet worden ist und womöglich auch nicht entstehen wird, führte zu einer Initiative, die letztendlich ein digitales Mahnmal geschaffen hat. Unter Bezug auf das Raumkonzept nach Henri Lefebvre wird aufgezeigt, dass dieses Mahnmal quasi als digitale Augmentierung des realen Ortes dient, gleichzeitig aber eben auch einen eigenen Interaktionsraum darstellt, in dem Begegnung und Austausch ohne die Einschränkungen der physischen und politischen Realitäten ermöglicht wird. Vor diesem Hintergrund wird die politische Dimension von Bildungsprozessen diskutiert und die Forderung nach einer Medienbildung formuliert, die über die reine Erkenntnis hinausgeht. Wir danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Beiträge und Janne Stricker für die Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit für diesen Band.

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Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität …

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Banden Bilden? Politische Medienbildung als kollektive Praxis der Überschreitung Valentin Dander

Zusammenfassung

Die Frage, auf die der Beitrag antwortet, lautet: In welchem Verhältnis stehen Bildung, Kollektivität und Medien zur Sphäre des Politischen? Diese stellt sich sowohl angesichts machtvoller Medieninfrastrukturen, also auch mit Blick auf populistische und menschenverachtende Strategien im Internet. Ausgehend von einer Untersuchung von Konzeptionen des politischen Subjekts und daran anschließenden Grundannahmen in der politischen Bildung werden alternative Konzeptionen diskutiert – zunächst innerhalb der politischen Bildung, sodann mit Bezugnahme auf neuere politische Theorien poststrukturalistischer Prägung. In einem letzten Schritt werden diese auf die digital-vernetzte Medialität des Internets und die politische Subjektivierung in Kollektiven übertragen. Abschließend wird im Beitrag vorgeschlagen, das Moment der Überschreitung auf verschiedenen Ebenen als Kernaspekt Politischer Medienbildung zu begreifen. Schlüsselwörter

Politische Bildung · Medienbildung · Politische Subjekte · Politische Kollektive · Populismus · Medialität

V. Dander (*)  FHCHP – Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_2

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1 Einleitung Die Frage, von der ich ausgehen und der ich in diesem Beitrag zuarbeiten möchte, lautet: In welchem Verhältnis stehen Bildung, Kollektivität und Medien zu der Sphäre des Politischen? Oder anders gefragt: Wie wäre kollektives politisches Tun als ‚Ort‘ von Bildung im Sinne eines individuellen und kollektiven Prozesses des Überschreitens zu denken? Und welche Rolle wäre darin (digitaler) Medialität zuzudenken? Vor diesem Hintergrund ist der Titel „Banden Bilden?“ auf doppelte Weise zu lesen. Das Motto, das in der linksaktivistischen Szene als Aufruf zu verstehen ist, sich zu organisieren und ‚den Verhältnissen‘ entgegenzustellen, eröffnet zugleich einen ungeahnten Blick auf das politische Kollektiv als einen ‚Ort der Bildung‘. Dieser Text ist eine Episode anhaltender Suchbewegungen nach der Politizität von Medienbildung. Angestoßen wurden diese durch die letzthin wiederholt betonte Nähe von Politischer und Medienbildung (Gapski et al. 2017b; Pöttinger et al. 2016). Anlass hierfür war nicht zuletzt die Feststellung, dass individuelle Handlungsfähigkeit im Internet angesichts machtvoller Netz- und Plattformarchitekturen sowie Praktiken der Datensammlung und -verwertung an ihre Grenzen gerate (vgl. Aßmann u. a. 2016). Aber auch die Bedeutung von Online-Kanälen und -Plattformen für parteipolitische und zivilgesellschaftliche Kampagnen unterstreicht die Relevanz kollektiver Handlungsfähigkeit im Zusammenhang mit digitalen Technologien für Politische wie Medienbildung. Vor diesem Hintergrund wird im nächsten Abschnitt (Abschn. 2) zunächst nach gängigen Subjektkonzeptionen und normativen Setzungen in der Politischen Bildung gefragt. Darauf folgt eine theoretische Exploration von kollektiven politischen Subjektivitäten in der politischen Theorie poststrukturalistischer Provenienz am Beispiel der Kategorie ‚Volk‘ (Abschn. 3), um daran anschließend kleinere kollektive Formen unter Einbezug ihrer Medialität und ihrer Potenzialität für Bildungsprozesse zu diskutieren (Abschn. 4).

2 Politische Medienbildung – und ihre Subjekte Die (erneute) Annäherung von Politischer und Medienbildung wird zum einen mit dem Argument betrieben, dass die Gestaltung medialer Infrastrukturen einer kollektiven, politischen Anstrengung jenseits der Einzelperson bedürfe (vgl. Gapski 2017, S. 110), ist also auf der Ebene der medialen Formen und ihrer technischen und institutionellen Infrastrukturen zu verorten. So hält etwa eine

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Gruppe von Autor*innen in einem Diskussionspapier zu digitalen Daten für die Gesellschaft für Medienkompetenz und Kommunikationskultur (GMK) und die Initiative Keine Bildung ohne Medien! (KBoM!) fest: „Die persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen sind immens, die Kontroll-, Mitgestaltungsund Einflussmöglichkeiten dagegen beschränkt.“ U. a. aus diesem Grund könne „[d]igitale Selbstbestimmung nicht individualisiert werden, sondern ist auf einen (zivil-)gesellschaftlichen Rahmen angewiesen, der diese ermöglicht“ (Aßmann u. a. 2016, S. 133, 137). Schlagwörter, unter denen in den letzten Jahren diese infrastrukturelle Ebene benannt wurde, lauten etwa Kontrollverlust, Big Data Analytics, Algorithmisierung, Plattformökonomie und digitaler Kapitalismus (vgl. etwa Dander 2018; Gapski 2015; Niesyto 2017). Was sich dahinter verbirgt, wird hier nicht weiter ausgeführt, um Redundanzen zu vermeiden. Zum anderen finden wir inhaltliche Verschiebungen in der politischen Öffentlichkeit vor: entlang wirksamer Strategien „populistischer Propaganda“ wie sogenannte „Fake News“ (Sachs-Hombach und Zywietz 2018) – über weite Strecken finden diese in der politischen radikalen Rechten Anwendung (vgl. Fielitz und Thurston 2019). Alex Demirović fasst diese Entwicklung der politischen Kultur mit Stuart Hall als „autoritären Populismus“ und beschreibt sie wie folgt: „Konservative, fundamentalistisch-religiöse, lebensschützerische, kreationistische Ideologeme werden Teil des offiziellen politischen Raums. Sexismus, Rassismus, Folter, Völkermordpraktiken, illegale Praktiken der Polizei werden nicht nur beschönigt, sondern gedeckt oder offiziell bekundet, Kritik wird als moralisierende politische Korrektheit entwertet. Die nationalistische und völkische Rechte stößt (inklusive ihrer Gewaltaktivitäten) auf offizielles Verständnis oder gar Unterstützung.“ (Demirović 2018, S. 33).

Halls Konzeption aus den 1970er-Jahren beschreibt auch unsere gegenwärtige politische Situation treffend: in einem Prozess der Restauration nach einer Hegemoniekrise werden „moralische Paniken“ mit Reizthemen und „medialen Fokussierungen“ (ebd., S.  32) geschürt. Aufgrund fehlender Hegemonie müsse mit Zwang gepanzert werden, was ansonsten instabil würde. Demirović erweitert diese Engführung und argumentiert, dass in Zeiten der Krise der autoritäre Populismus der „bürgerlichen Klasse“ erlaube, „offen auch kriminelle und faschistische Gruppierungen einzubeziehen und sich direkt auf Fragmente der subalternen Klassen zu stützen“ – dabei wird „die Ausbeutung der Lohnabhängigen weiter verschärft und die subalternen Klassen ökonomisch, politisch und ideologisch weiter gespalten“ (ebd., S. 30). Anstatt Zugeständnisse zu machen, um sich Hegemonie politisch zu ‚erkaufen‘, werden keine ökonomischen

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Konzessionen gemacht, sondern Gefühle, Ressentiments, rassistische Praktiken und Entsolidarisierung angeboten. Die Strategie bestehe demnach in der Herstellung einer nationalen, völkischen Identität, die nach ‚innen‘ inklusiv und integrierend ein kollektives politisches Subjekt als ‚Volk‘ herzustellen sucht, wozu nach ‚außen‘ hin eine scharfe – vermeintlich (leit-)kulturelle, im Kern rassistische – Trennlinie gezogen werde. Diese Verschiebungen drängen auf eine Re-Politisierung der Medienpädagogik wie der Erziehungswissenschaft und der Wissenschaften allgemein. Die vorgenommene Trennung zwischen Form (mediale Infrastrukturen) und Inhalt (konkrete Botschaften und Bedeutungen) ist zunächst eine analytische. Es wird sich zeigen, dass beide kaum voneinander zu trennen sind, sondern im Gegenteil ein wechselseitiges Wirkungsgeflecht ergeben. Das Subjekt in der Politischen (Medien-)Bildung Die Feststellung, dass kollektive Handlungsfähigkeit ein Kernziel von Politischer und Medienbildung darstellen müsse, um in einer machtförmig von digitalen Technologien durchdrungenen Gesellschaft gestaltend wirksam werden zu können, fordert gängige Subjekt-Konzeptionen in der Politischen Bildung heraus. Denn dieser Befund weicht in bestimmter Hinsicht vom Beutelsbacher Konsens ab. Dieser wurde 1976 für die (schulische) Politische Bildung in Deutschland formuliert und wird seither auch für die außerschulische Bildungsarbeit als Richtlinie praktiziert. Dort heißt es im letzten von drei Punkten: „Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2011).

Eine solche Auffassung entspricht weitestgehend der Subjektkonzeption eines „liberalistischen Politikmodells: Darin nimmt Politik ihren Ausgang von souveränen Subjekten, die ihre Interessen formulieren und vertreten. Sie macht sich gleichzeitig überflüssig, weil es Sache des Individuums ist, für das eigene Wohlergehen zu sorgen“ (Thon 2013, S. 104). Politische Subjekte werden darin als Diskursteilnehmer*in angenommen, deren zentraler politischer Akt – nach der

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individuellen Meinungsbildung – an der Wahlurne vollzogen wird (vgl. Saward 2006).1 Dass eine solche (politische) Subjektkonzeption anhaltend wirksam ist, lässt sich an der Einleitung eines Sammelbandes der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) verdeutlichen: „Politikbezogene Medienkompetenz umfasst […] die Fähigkeit, Medien zur gezielten politischen Partizipation zu nutzen, um die eigenen politischen Interessen und Vorstellungen einzubringen“ (Gapski et al. 2017a, S. 22; Herv. VD). Diese Formulierung lässt sich als einer Subjektkonzeption zugeneigt lesen, die Interessen anderer im Sinne einer solidarischen Haltung insbesondere marginalisierter Personengruppen vernachlässigt. Zudem scheinen hier unterschiedliche Beteiligungschancen unberücksichtigt, etwa im Sinne „digitaler Ungleichheit“ (Zillien 2009) aufgrund der jeweiligen Verortung im sozialen Raum. Eine weitere Befragung des Beutelsbacher Konsenses betrifft den zweiten Absatz des Beutelsbacher Konsenses – das Kontroversitätsgebot – und stellt sich angesichts der Sitze der Liste „Alternative für Deutschland“ (AfD) im Bundestag mit Nachdruck: „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2011) heißt es im Konsens. Anfang Juni 2018 twitterte @Papaleaks eine Auszählung zu den bekanntesten deutschen Talkshows und ihren Themen: „Ich hab mir dann mal die Mühe gemacht: darüber diskutierten seit 1. Januar 2015 @annewill, @maischberger, @hartaberfair und @maybritillner.“ Das Ergebnis lautete: „132 von 478 Sendungen befassten sich mit islamistischem Terror, Rechtspopulismus in Deutschland, Flüchtlingen, Integration und Islam. Das entspricht 27,6%. Auf soziale Gerechtigkeit (Rente, Miete, Löhne, …) [Platz 2; V.D.] entfielen: 8,5%. Ach ja, Umwelt & Klima: 0,83%, Bildung: 0,62%“2

1Eine

solche Deutung ist nicht neu und sieht sich umgekehrt Kritik ausgesetzt, da der Konsens in der Praxis anders gelebt werde, wobei nicht nur das „Eigeninteresse“ eine Rolle spiele. Kritiken diskutierte beispielsweise Sibylle Reinhardt (2016, S. 11 f.) mit einer Verteidigung und Aktualisierung des Beutelsbacher Konsenses auf Grundlage von Vorschlägen aus den 1990er-Jahren, die Perspektivwechsel, Empathie und die Interessen anderer entsprechend berücksichtigt: „This version of the third tenet [der dritte Abschnitt des B.K., die Interessenorientierung; V.D.] has a greater social and political reach and includes the triad of individual (need), integration of others (rules, institutions), and critical reflection on the system“ (ebd., S. 12). 2Vgl. https://tiny.cc/47ld3y [Zugriff: 19.02.2019].

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Diese Thematisierung von Kernthemen politisch rechter Parteien wie der AfD und der CSU inkl. eines tendenziösen Framings, gerade auch in öffentlichrechtlichen Fernseh-Talkrunden ist beispielhaft an Titeln wie „Die Islamdebatte: Wo endet die Toleranz?“ (Maischberger vom 6.6.20183) oder „Heimat Deutschland – nur für Deutsche oder offen für alle? (hart aber fair vom 25.2.20194) abzulesen. Neben der Hoffnung auf hohe Quoten durch Polarisierung sind solche Formulierungen womöglich vom Versuch getragen, die Kontroversität gesellschaftlicher Debatten – quasi im Sinne des Beutelsbacher Konsenses – ‚ausgewogen‘ abzubilden.5 Bedeutet das im Übertrag, dass sexistischen, rassistischen oder gar undemokratischen gleich viel Anteil in der Politischen Bildung eingeräumt werden müsse, wie anderen, demokratischen und nicht-diskriminierenden Positionen? Dass dominant vertretenen Positionen mehr Platz eingeräumt werden müsse? Natürlich sind das überspitzte, aber nicht gänzlich rhetorische Fragen. Würden nun alle gerade gestellten Fragen bejaht und damit in der Politischen Bildung ein Spiegel von politischen und medialen Debatten herangezogen, um möglichst ‚neutral‘ über Inhalte sprechen zu können, wäre damit keiner Neutralität gedient, sondern bereits vorhandene Konstellationen der Ungleichheit und gesellschaftlicher Herrschaft verstärkt.6 Das kollektive und utopische Moment Politischer Bildung Im Gegensatz zu dieser Position einer oben skizzierten, liberalen politischen Bildung formulierten einige Akteur*innen aus dem Feld im Sinne einer kritischemanzipatorischen Politischen Bildung im Mai 2017 die sogenannte Frank-

3Online

unter https://mediathek.daserste.de/Maischberger/Die-Islamdebatte-Wo-endet-dieToleranz/Video?bcastId=311210&documentId=52979174 [Stand 2019-03-06]. 4Online unter https://www1.wdr.de/daserste/hartaberfair/videos/video-heimat-deutschland--nur-fuer-deutsche-oder-offen-fuer-alle-102.html [Stand 2019-03-06]. 5Die Überrepräsentation klassischer rechter Themen ist umso problematischer, wird der Zusammenhang zwischen Medienrepräsenz und Umfragewerten berücksichtigt (vgl. Engert 2017; Hegelich und Papakyriakopoulos 2017). 6Die Installation von Meldeportalen für nicht-neutrale Thematisierung politischer Parteien und ihrer Positionen durch die AfD hat zu Debatten geführt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verneint die o. g. Fragen auf ihrer Website bzw. argumentiert für die kritische Diskussion diskriminierender Aussagen und Positionen im Rahmen des Neutralitätsgebots. Vgl. https://www.gew.de/schule/fragen-und-antworten-zu-dendenunziationsplattformen-der-afd/ [Zugriff: 19.02.2019]. Zu den Meldeportalen vgl. beispielhaft einen Artikel des MDR über das Portal in Sachsen-Anhalt (Warnecke 2018).

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furter Erklärung (Eis et al. 2015). „Machtgefälle und ungleiche Ressourcen“ werden in dieser Perspektivierung berücksichtigt, genauso wie „ausgeschlossene und benachteiligte Positionen“. Die Verwobenheit politischer Bildner*innen in gesellschaftliche und situative Machtkonstellationen solle dabei reflexiv und transparent gemacht werden, um dem Überwältigungsverbot – dem ersten Punkt im Beutelsbacher Konsens – gerecht zu werden. In der letzten der sechs Thesen heißt es in der Erklärung: „Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd zu verändern.“ Die Betonung auf kollektives politisches Tun scheint in diesem Zusammenhang bedeutsam. Darin wird die Differenz zur Konzeption des politischen Subjekts im Beutelsbacher Konsens besonders deutlich. Schließlich wird in der Frankfurter Erklärung angestrebt, dass kritisches Denken anhand von gesellschaftlichen Konflikten und Dissens gefördert werden solle. Diese Kontroversen sollen über das Bestehende hinausweisen und „Alternativen gesellschaftlicher Zukunftsentwicklung sichtbar“ machen. Im nächsten Abschnitt gilt es nun zu erkunden, wie politische Kollektive werden.

3 Politische Subjektivation im Populismus oder: Wie wird das Volk? Zwei traditionelle Auffassungen des politischen Subjekts – liberal, also primär bezogen auf einzelne Individuen, und republikanisch, bezogen auf demos, das Volk (vgl. Flügel-Martinsen und Martinsen 2018, S. 75) – setzen dieses als gegeben voraus. Dass das ‚Volk‘ hingegen nicht einfach gegeben ist, sondern je performativ hervorgebracht werde, ist eine in neuerer politischer Philosophie gängige Position: „‘The people‘ are not a given population, but are rather constituted by the lines of demarcation that we implicitly or explicitly establish“ (Butler 2015, S. 3). Daher fragen wir hier nicht danach, wer oder was politische Subjekte seien, sondern wie politische Subjekte in (kollektiven) Prozessen der Subjektivation werden. Antworten auf diese Frage werden wir uns im Folgenden ausgehend vom Begriff des ‚Volks‘ und des Populismus als politischer Strategie annähern. In der Politik greifen linkerhand der „populistische Proletkult“ oder rechterhand „die völkische Gestimmtheit des 'konservativen Revolutionärs' und alle 'volkstümlichen Rechten'“ (Bourdieu 2013, S. 120) auf die Strategie der

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(teils doppelt) metonymischen Vereinnahmung zurück.7 Durch diese Strategie setzen sie sich als Teil an die Stelle des Ganzen. So schwingen sich populistische Führer*innen auf, um ‚an der Stelle‘ eines ‚ganzen Volkes‘ zu sprechen, (im einfachen oder im doppelten Sinne) für es zu sprechen. Auf diese Weise wird versucht, eine Mehrheit performativ herzustellen. Konstruiert wird dabei eine majoritäre, jedoch unterdrückte Position von ‚unten‘ gegen die politische Klasse ‚oben‘ (Demirović 2018, S. 35 ff.). „Mittels dieser Strategie können sich jene, die eine Form der Nähe zu den Beherrschten geltend machen können, als Inhaber gleichsam eines Vorkaufsrechts auf das 'Volk' und dadurch einer exklusiven Mission aufspielen“ (Bourdieu 2013, S. 119 f.). Ähnliche Strategien wurden bspw. auch in anderen, als linkspopulistisch bezeichneten Bewegungen der 2010er-Jahre angewandt: Podemos in Spanien oder die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien (vgl. Hartleb 2017) oder auch im Fall der selbsternannten „99%“ der Occupy Bewegung im besetzten New Yorker Zuccotti Park; im letzten Fall, um gegen das herrschende, reiche „1%“ zu demonstrieren. So schließt denn auch Judith Butler (2011) ihr Solidaritäts-Statement für und bei Occupy Wall Street mit den Worten: „We're standing here together making democracy, enacting the phrase 'We the people!'“ Dieser Satz unterstreicht, dass das in der US-Amerikanischen Verfassung so prominent gesetzte We, the people kein feststehendes Konstrukt ist (vgl. Butler 2015, S. 154, bzw. deutschsprachig Butler 2016, S. 201). Indem etwa bei Laclau und Mouffe, die als die Theoretiker*innen des Linkspopulismus gelten,8 ‚das Volk‘ als vorgängiges Subjekt des Politischen

7Metonymie

als rhetorisches Stilmittel zählt zu den Tropen und besteht in einer semantischen Verschiebung im Setzen ‚von etwas als etwas‘. In unserem Fall wäre das in erster Instanz für diejenigen zu sprechen, die tatsächlich die Ansichten teilen und sich aber, in zweiter Instanz, selbst als ‚Volk‘ zu bezeichnen pflegen, sich also auch an die Stelle all jener stellen, die sich zwar der Bevölkerung oder dem Volk zurechnen, diese Ansichten jedoch nicht teilen. 8„Die intellektuellen, marxistisch inspirierten Fixpunkte eines Linkspopulismus sind insbesondere die Schriften [von] Chantal Mouffe und Ernesto Laclau“ (vgl. Hartleb 2017). Etwa seit Mitte der 1980er-Jahre begründen die Autor*innen (vgl. 2001) einen Linkspopulismus als radikaldemokratisches Projekt (vgl. dazu auch Laclau 2005). Diese „Socialist Strategy“ (Laclau und Mouffe 2014) wurde in Ablehnung der Arbeiter*innenklasse als vorgängiges politisches Subjekt konzipiert und formuliert eine Hegemonietheorie, die Gramsci diskurstheoretisch und dekonstruktivistisch liest. Das politische Vorhaben des Marxismus wird somit in das Feld des Symbolischen und Politischen überführt (vgl. auch Mouffe 1979).

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suspendiert und die Konstitution einer ‚Gruppe‘ über geteilte „popular demands“ angenommen wird, kann „Populismus“ als Positivbegriff im Sinne eines „Modus der Konstitution der Einheit einer Gruppe“ (Flügel-Martinsen und Martinsen 2018, S. 81) prozedural an die Stelle des Volkes treten. Dadurch wird das Politische grundlegend als Konflikt konzipiert. Keine Teilgruppe könne so jemals total und universell werden, allerdings werden die je eigenen demands als universell und total dargestellt (vgl. ebd., S. 82). Das sich stets konstituierende Volk stehe in hegemonialen Kämpfen notwendig in einem antagonistischen Verhältnis einer anderen Gruppe als ihrem konstitutiven Außen gegenüber.9 Wenngleich diese Forderungen als wesentlich konkreter denn als in sich geschlossenes Wertesystem aufzufassen sind, nähern wir uns hiermit einer soziologischen Definition von „Kollektiv“ an, die auf ein sensu Laclau/Mouffe konstituiertes ‚Volk‘ zuzutreffen scheint. Denn dieses ähnelt einer „Mehrzahl von Personen, die […] ein gemeinsames Werte- und Normensystem besitzen und daher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt haben, aber – im Unterschied zu den Mitgliedern einer Gruppe – nicht miteinander in Interaktion stehen“, wie die Autoren im Eintrag „Kollektiv“ des „Lexikon[s] zur Soziologie“ formulieren (Lange et al. 1994, S. 343). Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie homogen das „Werte- und Normensystem“ eines Kollektivs tatsächlich sein kann. Während Pegida-Demonstrationen durch den Ruf „Wir sind das Volk“ Muslime aus dem ‚Wir‘ und damit aus dem ‚Volk‘ auszuschließen suchen, ist Merkels Aussage „Der Islam gehört zu Deutschland“ als antagonistische Gegenposition zu verstehen.10 Hieran wird deutlich, dass der Antagonismus kaum bedeuten kann, dass verschiedene Teilgruppen nicht überlappen können: Merkel meint Pegida-Anhänger mit und schließt sie umgekehrt nicht aus ‚ihrem Deutsch-

9Diese

und andere Grundannahmen, mit denen Laclau und Mouffe argumentieren (ihre „irrationalistische Sozialontologie“, die Idee von Politik als unvermeidlichem, ahistorischem und binärem Konflikt- oder Kriegszustand nach Carl Schmitt, und die konzeptionelle Verwandtschaft zu rechten bis rechtsradikalen affektpolitischen Theorien und Strategien) sehen sich zum Teil heftiger Kritik ausgesetzt. Ingo Elbe (vgl. 2018) kommentiert diese Aspekte aus der Perspektive Kritischer Theorie Frankfurter Schule. Ähnlich gestaltet sich die Kritik Alex Demirovićs (vgl. 2017, S. 10 ff.), wenn er diese Denkrichtung radikaler Demokratie einem inklusiven sozialistischen Anliegen gegenüberstellt. 10Diese Aussage beruft sich zudem auf frühere Äußerungen und operiert somit nicht nur konstativ, sondern gleichzeitig zitativ: Christoph Wulff 2010 wird als Vorlage genannt (vgl. o. A. 2015). Horst Seehofer hat im März 2018 wiederum mit einer Negation geantwortet („Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“) (vgl. o. A. 2018).

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land‘ aus. (vgl. Butler 2015, S. 3) Es wird deutlich, dass „Deutungskämpfe selbst pluralistisch verfasst sind – und dieser Pluralismus […] deutliche Schattenseiten hat“ (Flügel-Martinsen und Martinsen 2018, S. 86). Auf die von der politischen Logik – in Rancières Worten „the police“ als „distribution of the sensible“ – Ausgeschlossenen, „the part of those who have no-part“, fokussiert Jacques Rancière (2010, S. 36, 33). Politik ist in dieser Denkweise nur jener Prozess, der der Stabilisierung der symbolischen Ordnung (‚Polizei‘), der Allokation von Personen(gruppen) zu bestimmten sozialräumlichen Positionen und der damit einhergehenden Exklusion diametral entgegensteht. Sie vollzieht sich im Modus der Demonstration und In-Frage-Stellung der polizeilichen Ordnung. Die von ihm genannten Beispiele beziehen sich vorrangig auf „Akteurinnen, die sich gegen die jeweils herrschende Ordnung wenden, sich ihrem jeweiligen Modus der Aufteilung von Welt entweder entziehen oder diesen kritisch befragen bis hin zum aktiven Widerstand, z. B. mit gemeinsamen Akten des zivilen Ungehorsams in Form der Besetzung von Räumen und Orten, an denen bestimmte Personen – Proletarier, Frauen, Geflüchtete usf. – nicht vorgesehen sind“ (FlügelMartinsen und Martinsen 2018, S. 89).

Die paradoxe und doppelte Ermächtigungsstrategie, die mit diesen Akten einhergeht, „drückt sich darin aus, dass nicht nur auf das Unrecht der Nicht-Teilhabe aufmerksam gemacht wird, sondern das Aufmerksam-Machen selbst bereits eine politische Handlung darstellt, die eigentlich ausgeschlossen ist.[…] Kurzum: die Exkludierten vollziehen in diesem Augenblick eine ‚Praktik des Als-ob‘“ (Flügel-Martinsen und Martinsen, 2018, S. 90 f.) und besetzen in einem performativen Akt der Aneignung den Raum zwischen ihnen und den AnteilHabenden. Am Beispiel der zentralen politischen Kategorie ‚das Volk‘ wurden einige Aspekte der Konstitution kollektiver politischer Subjekte herausgearbeitet. Zunächst stimmen die poststrukturalistischen Theoretiker*innen darin überein, dass es weder ‚das Volk‘ an sich, noch ein vorgängiges politisches Subjekt gebe. Dieses sei prozedural zu denken und konstituiere sich in actu. Während die theoretischen Positionen jedoch das Feld des Politischen ohne materiellen Grund annehmen, beharren ihre Kritiker (hier v. a. Demirović und Elbe) auf einer empirischen Positionierung der Menschen in Ausbeutungs- und Machtverhältnissen, die Wirksamkeit für ihre Interessen entfalten. Einem monolithischen, identitären Klassenbegriff als dem (revolutionären) politischen Subjekt

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marxistischer Prägung hängen auch sie nicht an.11 Während Laclau und Mouffe auf einen strategischen Kampf um die ‚Volksmasse‘ und um Hegemonie setzen, der diese durch die diskursive Verknüpfung von Forderungen einen soll, richtet Rancière sein Augenmerk auf jene, die von jeglicher politischen (‚polizeilichen‘) Rationalität und Wahrnehmbarkeit ausgeschlossen werden und demonstrativ ihre Positionierung im politischen Raum reklamieren. Durch die Setzung der Denkfigur eines ‚konstitutiven Außen‘ gehen Laclau/Mouffe von der Unabschließbarkeit des Politischen als Prozess (Populismus bzw. Inklusion der Exkludierten jeweils als anhaltende Bewegung) aus. Demirović (2017, S. 14) formuliert dem gegenüber positive Ziele eines sozialistischen Projekts, welches darauf abziele, „die historischen Verhältnisse und Existenzformen, die Ergebnis von Herrschaft sind, zu überwinden: die Klasse der LohnarbeiterInnen, die rassifizierten Individuen, die an die Geschlechterdichotomie gebundene Subjektivierungsweise.“

Was bislang in Bezug auf ‚das Volk‘/demos/the people diskutiert wurde, ist primär demokratiepolitisch bedeutsam. Inwieweit lassen sich aber Aspekte dieses Abschnitts auf kleinere, mediale kollektive Gebilde übertragen? Und in welchem Zusammenhang stehen ihre Konstitution als Bandenbildung und ihre Praktiken mit Prozessen der politischen Subjektivation oder (Medien-)Bildung?

4 Medien, Bildung und (politische) Kollektive In diesem letzten Abschnitt wird es darum bestellt sein, zunächst die (digitale) Medialität von Kollektivbildung zu untersuchen – unter anderem im Zusammenspiel von populistischen Strategien und algorithmischer Strukturbildung.

11Ein

vermittelndes Theorieangebot hierzu formulierte Pierre Bourdieu (2016) mit seinem Begriff von „sozialen Klassen“, den er strikt von ökonomistischen Bestimmungen spezifischer marxistischer Theorietraditionen unterscheidet. Er betont das Zusammenspiel von „primär“ (ebd., S. 11) ökonomischem Kapital mit kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital, um den sozialen Raum und die Positionierungen von Akteur*innen darin zu kartieren. Die sozialen Klassen, die sich nach Bourdieu durch ihre relative Nähe im sozialen Raum bestimmen lassen, implizieren jedoch nicht notwendig eine bestimmte Wahrnehmung dieser Akteur*innen als einer solchen sozialen Gruppe zugehörig. „Sie bildet keine reale, effektive Klasse im Sinne einer kampfbereiten Gruppe; sie ist, strenggenommen, lediglich eine wahrscheinliche Klasse, das heißt eine Gesamtheit von Akteuren, deren Mobilisierung im Verhältnis zu jeder anderen nur weniger objektive Schwierigkeiten bereitet“ (ebd., S. 12).

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Darauf folgt ein kurzer Abschnitt, der auf individuelle in Relation zu kollektiver politischer Subjektivierung eingeht. Abschließend wird das Moment der Überschreitung auf verschiedenen Ebenen als ein zentrales für die Politische Medienbildung dargelegt. Medialität und Kollektivität „Was ist eigentlich das Medium, in dem sich Kollektivität vollzieht“? Diese Frage formulieren Buschmann und Ricken (2018, S. 323) in ihrem hinterfragenden Kommentar in und zu einem Sammelband, der den Gehalt des Begriffs „Kollektivsubjekt“ erkundet (Alkemeyer et al. 2018). Sie haben dabei weniger Medientechnologien im Sinn, als vielmehr „Bewegung“, „Klang“ oder eine leitende Instanz wie eine Dirigentin oder einen Lehrer (vgl. ebd.). Alkemeyer und Bröckling (vgl. 2018, S. 24) nennen im selben Sammelband zudem Flaggen und Logos als identitätsstiftende Symbole für Kollektive. So treffend die Frage ist, so wenig explikativ erweist sich die Denkrichtung der Antworten für die hier interessierende Frage nach der Technizität politischer Kollektive. Doch kollektive Sozialformen sind digitalen Medien und der in ihnen hervorgebrachten Kultur seit Beginn des World Wide Web eingeschrieben. Das sogenannte ‚Web 2.0‘, das, noch bevor es so genannt wurde, Konnektivität durch RSS-Feeds ermöglichte, stand für eine der Deutungen dieses Akronyms: Really Simple Syndication. Im medienpädagogischen Kontext wurden Internetbasierte Kollektive folglich im Sinne von Syndikation, Gruppen bzw. (Online-) Communities verhandelt (vgl. Gross et al. 2008; Jörissen und Marotzki 2008; Koenig 2013). In der Medienwissenschaft wurde bspw. die Kollektivfigur des Schwarms „als technoepistemische[…] wie politisch-ökonomische[…] Wunschmaschine“ untersucht: „Er verspricht Kollektivität aus bloßer Konnektivität heraus“ (Gießmann 2009, S. 182). Hiermit wäre erneut v. a. die Ebene soziomedialer Formen angesprochen – jenseits ihrer inhaltlichen Zielbestimmungen. Die Offenheit dieser aus heutiger Sicht ‚Adoleszenz des Internets‘ erweist sich jedoch bereits 2008 als zurückgedrängt und eingehegt: „Der virtuelle Wilde Westen wird mit dem Argument seiner Zivilisation und Befriedung kommerzialisiert“ (Richard 2008, S. 103). Freie Syndikation durch offene Protokolle und Formate – Swarms oder „Task Force Communities“ scheint anderen dominanten Formen gewichen. Nach Geert Lovink (2017) stehen die User im „Bann der Plattformen“, die selbstbestimmte Organisationsformen nicht mehr in solchen Formen ermöglichen (vgl. ebd., 229 ff.). Die Ordnung der User wird algorithmisch in Form von „Schattenprofilen“ (Roberge und Seyfert, 2017, S. 34) und „Social Sorting“ (Lyon 2014, S. 10) hergestellt, Vergemeinschaftung erfolgt technisch angeleitet in Facebook-Gruppen (vgl. Barth 2015; Share Lab u. a., 2017) oder

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um themenspezifische Hashtags. Kommerzielle Plattformen halten „natürliche Bewohner“ bereit: „Social Bots“, die als Teil dieser Online-Sozialität zu begreifen seien (Leistert 2017, S. 215). Verstärkt werden diese Plattformen von diversen Akteuren der politischen Rechten genutzt, um ihre Ideen zu verbreiten und sich versiert durch verschiedene Strategien den Raum des Internets anzueignen (vgl. Albrecht et al. 2019; boyd 2017). Politische Strategien schmiegen sich online an strukturgebende Formprinzipien an und schneiden ihre Inhalte entsprechend zu; wie auch umgekehrt einzelne Äußerungen sich in den dynamischen Infrastrukturen – etwa von Trending Hashtags etc. – niederschlagen. In diesem Zusammenhang scheint die Grundannahme von Hartmut Winklers „Diskursökonomie“ (2004a) ebenso verstärkt Relevanz zu erlangen: Analog zur Ökonomie rekonstruiere die Medienwissenschaft Netzwerke. Mit dem Fokus auf die Sphäre der Zirkulation verschiebt sich die Perspektive von Medientechniken und -strukturen auf die einzelnen „Akte des Austauschs (im Zeichenverkehr)“ (ebd., S. 247), auf den performativen Charakter insb. des Mediums Computer (ebd., S. 226 ff.). Die schiere Anzahl und ihre statistischen, normalisierenden Effekte erlangen hohe Relevanz (ebd., S. 183 ff.): Menschliche und nichtmenschliche Praxen als die prozessuale Seite fungieren strukturgenerierend und führen zu manifesten, statischen „Niederlegungen“ als Medienprodukte und -technik. Beide Aspekte sind wechselseitig miteinander verschaltet (Winkler 2004b, S. 10). Im Fall von Algorithmen, die anhand ihrer Ausführung als Programm und in Auseinandersetzung mit heterogenen, wechselnden Datenmengen Veränderungen erfahren, wird diese zyklische Verschaltung besonders deutlich. Bildhaft wird diese Einschreibung an Microsofts Twitter-Bot Tay, der sich innerhalb eines Tages zur ausfälligen Holocaust-Leugnerin entwickelte (vgl. Motherboard Staff 2016). Auf der Ebene von Netzwerk-Protokollen gilt ähnliches: „Das Zusammenspiel verschiedener Protokolle ist so ein Algorithmus des steten Netz-Werdens“ (Gießmann 2009, S. 179). Mit ihrem Wachsen, ihrer Ausdehnung und ihrer Monopolisierung steigt der Gebrauchswert der Netzwerke an (vgl. Stalder 2016, S. 145). Dieses Moment einer praxeologischen Medientheorie lässt sich strukturanalog zu populistischen Strategien im Internet denken. Beide ‚Bewegungen‘ begegnen sich in algorithmisch sortierten Trends und Timelines Sozialer Medien. Auf diese Weise bedingen sich, wie eingangs angekündigt, Form und Inhalt möglicherweise dynamischer und stärker wechselseitig, als das ältere mediale Formen ermöglichten. Eine Besonderheit liegt etwa im Fall von Social Networks darin, dass Mechanismen der Verstärkung überwiegend intransparent funktionieren. Klar ist meist nur: Die Anzahl (der Klicks, Views, Likes, Favs etc.) wird strukturrelevant und lässt sich in diskursive, politische Macht übersetzen.

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Soziale Netzwerke bieten jedoch nicht nur rechtspopulistischen Netzwerken wie Reconquista Germanica (vgl. etwa Reuter und Biselli 2018) Anlass und Mittel zu Kollektivierung und konzertiertem, politischem Tun. Die „‘Visualsierung‘ [sic!] struktureller Verhältnisse, die – in diversen Hinsichten und sehr unterschiedlichen Ausmaßen – systematisch Leid und Unbehagen hervorbringen,“ könne, so Hanna Meißner (2016, S. 73), bspw. „durch diese Differenzen hindurch den gemeinsamen Bezugspunkt eines linken Mosaiks erkennbar machen.“ Als eine solche Visualisierung könnten die Vergemeinschaftung durch algorithmische Profile oder die Artikulation von Erfahrungen in Kampagnen wie #metoo aufgefasst werden. Eine weitere These Winklers ist bedenkenswert: Er schlägt vor, Performativität graduell zu denken (vgl. Winkler 2004a, S. 221 f., 2008, S. 64). Wenn Medien sich grundsätzlich durch ihre Zeichenhaftigkeit auszeichnen, wodurch sie „symbolisches Probehandeln erlauben“ (Winkler 2004b, S. 13), ermöglichen sie in diesem ‚Als-ob-Raum‘ der Medien reversibles, „schwach performativ[es]“ Handeln (Winkler 2004a, S. 223). Computersimulationen illustrieren diese bewusst provokante Zwei-Welten-Theorie. Zugleich steht sie der Tendenz nach der Annahme entgegen, dass verletzende Rede online verletzen kann (Butler 2006; Eickelmann 2017) – bzw. entzieht dieses effektvolle Geschehen vielmehr ‚dem Raum des Medialen‘. Genauso zwiespältig wären dann Prozesse zu interpretieren, in welchen Computersimulationen Lern- oder Bildungsprozesse oder 3d-solide Planspiele Probehandeln ermöglichen (vgl. Othmer und Weich 2015). Während sich also Praxen der Mediennutzung in ihrer Qualität und vor allem auch Quantität in symbolische und medientechnische Strukturen einschreiben, bewegt sich der Performativitätsgrad symbolischen (und also medialen) Probehandelns auf einem geringeren Niveau als in der ersten Welt als außermedialem Raum. Das würde bedeuten, dass sich das symbolische Probehandeln nur in restringierter Form subjektivierend in die Beteiligten einschreibt, dass etwa Bildungsprozesse hier unwahrscheinlicher zu denken seien, als durch Erfahrungen in der physischen Welt. Gerade über Prozesse der (politischen) Subjektivierung möchte ich im Folgenden herausarbeiten, wie kollektive politische Subjektivierungsprozesse gedacht werden könnten und inwiefern eine solche, politisch gerichtete Subjektivierung bildungsrelevant im Sinne dieses Textes aufzufassen wäre. Kollektive politische Subjektivierung Wie in Kap. 3 dargestellt, formieren sich (politische) Kollektive um geteilte Werte und Normen bzw. über miteinander verknüpfte Forderungen (demands). Einzelpersonen müssten also bereits solche Werte und Normen teilen und zueinander

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finden, um sich als Kollektiv zu formieren und auf dieser Ebene Handlungsfähigkeit zu erlangen. Oder aber sie ändern ihre Denk- und Bewertungsmuster im Prozess der Formierung, sofern über mediale Darstellungsweisen Ähnlichkeiten in ihrem strukturell bedingten Leiden sichtbar wurden. Darüber hinaus finde eine kollektive politische Subjektivierung statt, wenn ein gemeinsames Ziel erreicht werden soll, das mit der gegebenen Ordnung in Konflikt steht. Nach Rancière (2016, S. 47) formieren sich Kollektive als politische, die im Rahmen der herrschenden Ordnung nicht als solche vorgesehen sind: „Die politische Subjektivierung erzeugt eine Vielheit, die nicht in der polizeilichen Verfassung der Gemeinschaft gegeben war“. Christian Grabau (2017, S. 316) arbeitet anhand älterer Texte Pierre Bourdieus den Bildungsgehalt und die Potenziale für „kollektive pädagogisch-politische“ Prozesse heraus, die unter der Bezeichnung „kollektive Konversionen“ firmieren. Krisenerfahrungen, wie etwa „Erfahrungen kollektiver Deklassierungen“ (ebd., S. 322), können solche Prozesse auslösen. Politisierung – hier i. S. v. politischer Subjektivierung – wäre gleichbedeutend damit, dass die Einzelnen in der Gruppe die Spielregeln ihres Feldes ablehnen und hinterfragen. Als Zielsetzung steht in diesen Prozessen für die Beteiligten weniger der individuelle Bildungsprozess im Vordergrund, sondern die Veränderung der Feldlogiken. Doch auch hier sind beide Ebenen kaum voneinander zu lösen. Als Bedingung hierfür werden andere Erfahrungsräume genannt, in welchen andere Beziehungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen eingeübt werden können, um sich überhaupt von bestehenden Feldlogiken ablösen zu können (vgl. ebd., S. 322 ff.). Hanna Meißner (2016, S. 73 f.) formuliert anstatt essenzieller Werthaltungen als Bindekitt eines kollektiven politischen Subjekts die „Bereitschaft zu Erfindungsarbeit mit ungewissem Ausgang“, die Bereitschaft, „Gewissheiten zu verlernen“ sowie im Butler’schen Gedanken, „dass wir alle existenziell abhängig sind“, was sie mit Daniel Loick als „Abhängigkeitserklärung“ begreift (ebd., S. 73; Loick 2013). Erst in der Demonstration der eigenen Konstitution in Form eines Probehandelns kann dieser Zusammenschluss jedoch erst werden, wie Rancière festhält: „Die Demonstration […] stellt den gleichheitlichen Text und das ungleichheitliche Verhältnis gleichzeitig aus. Aber durch diese Ausstellung selbst und durch die Tatsache, sich an einen Gesprächspartner zu wenden, der die Gesprächssituation nicht anerkennt, tut sie so, als ob sie in einer Gemeinschaft ausgeübt würde, deren Nichtexistieren sie demonstriert. Dem meta-politischen Spiel des Scheins und seines Widerrufs setzt die demokratische Politik diese Praktik des Als-ob entgegen, die die Erscheinungsformen eines Subjekts konstituiert und eine ästhetische Gemeinschaft eröffnet“ (Rancière 2016, S. 101; Herv. im Orig.)

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Flügel-Martinsen und Martinsen (2018, S. 91) formulieren im Anschluss daran: „Politik via politische Subjektivierung vollzieht sich demnach notwendig als eine ‚Desidentifikation‘ […]. Die Desidentifikation […] lässt die daran Beteiligten in eine prekäre Situation geraten, verlassen sie doch ihre Subjektpositionen.“ Ausgehend von Erfahrungen (des Leids, der Exklusion, der Krise, etc.), die z. B. durch mediale Darstellungen oder Strukturen zu geteilten Erfahrungen werden können, und unter der Bedingung einer grundsätzlichen Bereitschaft, ‚sich selbst aufs Spiel zu setzen‘, lassen sich diese Erfahrungen möglicherweise in einer Form organisieren und ‚umüben‘, die es erlaubt, sich im politischen Tun als Kollektiv zu konstituieren. Während sich die politische Subjektivierung eng verschränkt auf individueller und kollektiver Ebene vollzieht, besteht die Zielsetzung nicht primär darin, sondern in einer Transformation eines Feldes oder gesellschaftlicher Strukturbedingungen – im Sinne geteilter Werthaltungen und daraus resultierender Forderungen. Ausblick: Überschreitung als Prozess Politischer Medienbildung Ausgehend von diesen Überlegungen werden im Folgenden Momente der Überschreitung skizziert, die vor diesem Hintergrund jeweils als Prozesse der Politischen Medienbildung in den Blick geraten können. (1) Mit Blick auf den Beutelsbacher Konsens wäre mit Rancière eine Überschreitung des Neutralitätsgebots zu fordern. Die anzustrebende politische Subjektivierung ist nicht beliebig, sondern ist klar von einer „polizeilichen Subjektivierung“ zu differenzieren, „also von Formen kollektiver Subjektbildung, die von Anfang an auf Schließung, Identität und Ausschluss aus sind“ (Glück 2018, S. 107). Die konstitutive Offenheit der gewünschten Kollektive, fordert diese zur kontinuierlichen Selbstüberschreitung auf. Zum Vorbringen politischer Forderungen mag es in dieser Denkweise darüber hinaus zu rechtfertigen sein, zur Überschreitung des Gesetzes im Sinne zivilen Ungehorsams zu ermutigen. Wenn etwa Schüler*innen die Schulpflicht bestreiken, weil sie im Rahmen von #FridaysforFuture demonstrieren, konstituieren sie sich als politisches Subjekt, dem dieser Status durch die bestehende polizeiliche Ordnung verweigert werden soll. (2) Nur über eine Überschreitung des Zuschnitts von Subjektivierung und Bildung auf individuelle Prozesse können diese im engen Verhältnis zu Prozessen kollektiver Transformation analysiert werden. Gleichwohl ist Sorgfalt geboten, diese nicht in eins zu setzen, sondern zu differenzieren, wie Buschmann und Ricken (2018, S. 322) anmahnen, „lassen sich doch Subjektivierungsprozesse von Individuen ‚in‘ Kollektiven und ‚durch‘ Kollektive nicht trennen von den Subjektivierungsprozessen ‚von‘ Kollektiven und ‚als‘ Kollektive.“

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(3) Voraussetzung für eine wechselseitige Übersetzbarkeit oder für ein Zusammenspiel von medialen und physisch-körperlichen Formen kollektiver politischer Subjektivierung ist die Überschreitung der Grenze des Als-ob. Diese bezieht sich sowohl auf das konstitutive Als-ob des werdenden (politischen) Kollektivs (vgl. Peter et al. 2018, S. 25; Rancière 2016, S. 101), als auch auf die von Winkler gezogene Linie zwischen dem Symbolischen und NichtSymbolischen. Die Übersetzung (pädagogischen, politischen, medialen) Probehandelns in hoch performative Praxen, ist ein Ziel, das es für eine Politische Medienbildung anzustreben gälte, um Relevanz und Wirksamkeit zu entfalten. Zugleich halten Räume, die andere Umgangs- und Denkweisen erlauben, die Möglichkeit bereit, solche in Opposition zu dominanten Feldlogiken einzuüben. (4) Birgit Richard (2008, S. 117) hält fest, dass das „Offenhalten der verschiedenen Kanäle für den Kommunikationsfluss die wesentliche Politik der neuen Kollektive sein“ muss. Wenn darin eine Meta-Politik (hier nicht sensu Rancières Begriffsverständnis) bestünde, so zielte sie darauf, grundlegenden Boden für politisches Tun zu bereiten und somit Voraussetzungen für Politik überhaupt zu schaffen. Sich für die Anliegen einer solchen Meta-Politik stark zu machen, würde auch einer wissenschaftlichen Community abverlangen, sich über Belange von Bildung(sinstitutionen) im engeren Sinne hinausgehend öffentlich im politischen Feld zu positionieren (bspw. zu Netzneutralität, Uploadfiltern, Verbot von linksunten.indymedia etc.). Lizenzhinweis Dieser Text steht unter der Creative Commons Lizenz „Attribution 4.0 International“ (CC BY 4.0). Der Lizenztext ist einsehbar unter: https:// creativecommons.org/licenses/by/4.0/.

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Sozio-mediale Habituskonfigurationen als analytischer Fluchtpunkt einer relationalen Medienbildungstheorie Patrick Bettinger

Zusammenfassung

Um das Verhältnis von Kollektivität und Individualität im Kontext von Medienbildungsprozessen zu diskutieren, rekurriert der Beitrag auf die praxeologische Bildungstheorie und stellt Anschlüsse zur Akteur-NetzwerkTheorie (ANT) her. Medienbildungsprozesse werden hierbei als habituelle Transformationen verstanden, wobei sich diese nicht allein auf menschliche Subjekte beschränken. Im Anschluss an Schäffer (2013) wird von einem ‚Quasi-Habitus‘ medialer Artefakte ausgegangen, wodurch unterschiedliche (Nicht-)Passungsverhältnisse zwischen Menschen und medialen Artefakten zustande kommen können. Eine zentrale Annahme des Beitrags besteht darin, dass sich erst durch den Blick auf dieses Gefüge von menschlichen und nichtmenschlichen Akteure habituelle Veränderung als eine spezifische Form verteilter Vernetzungsdynamik herauskristallisiert. Zur Analyse des Stellenwerts von Medien in Bildungsprozessen richtet sich der vorgeschlagene Blick somit auf unterschiedliche Dimensionen der Veränderung sozio-medialer Habituskonfigurationen. Es wird dargelegt, inwiefern eine so gefasste relationale Perspektive als Bezugspunkt einer praxeologisch fundierten Medienbildungstheorie und -forschung einerseits Einsichten in das komplexe Zusammenspiel von Menschen und medialen Artefakten bieten kann, andererseits aber

P. Bettinger (*)  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_3

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eine kritische Prüfung eines anthropozentrisch gedachten Subjektbegriffes erforderlich macht. Schlüsselwörter (6–8)

Medienbildung · Habitus · Praxeologie · Akteur-NetzwerkTheorie · Anthropologie · Relationalität

1 Einleitung Der Bildungsbegriff steht als erziehungswissenschaftliche Kernkategorie unter einer Art Dauerbeobachtung und beständiger Prüfung in Form kritischer disziplinärer Selbstreflexionen. Eine Begründungslinie, die diesen Umstand erklärt, beruft sich auf die wandelbare Kontextualität jeglicher Bildungsprozesse. Die sozio-historischen Bedingungsgefüge werden im bildungstheoretischen Diskurs – mit je unterschiedlichem Theoriehintergrund – als wesentlicher Aspekt von Bildung verstanden (Garz und Blömer 2010). Insbesondere mit dem Aufkommen der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung und den damit einhergehenden Versuchen, Bildung in ihrer Prozesshaftigkeit empirisch zu erforschen, rücken die gesellschaftlichen Rahmungen in den Fokus. Folgt man dieser (hier nur grob umrissenen) Argumentationslinie, liegt es auf der Hand, Bildung heute vor dem Hintergrund von Digitalität zu denken. Hierbei fällt auf, dass gegenwärtige sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussionen im Kontext von ‚Digitalisierung und Gesellschaft‘ vermehrt die Frage der Zuschreibung von Handlungsmacht als eine potenziell nicht nur menschlich zu denkende Eigenschaft aufwerfen (Augstein 2017; Passoth et al. 2012; Seyfert und Roberge 2017). Diese Idee findet sich mit techniksoziologischer Konnotation bereits bei Rammert und Schulz-Schaeffer (2002). Besonders prominent und mit teilweise fast schon polemischer Zuspitzung wird die Frage ‚dinglicher agency‘ in den letzten Jahren im Umfeld der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007; Wieser 2012) vertreten. Diese Diskurse wurde in der (deutschsprachigen) Medienpädagogik bislang nur bruchstückhaft rezipiert, scheinen aktuell aber an Relevanz zu gewinnen (siehe z. B. Beiträge in der merzWissenschaft 2017 zum Thema „Medienpädagogik zwischen Digital Humanities und Subjektorientierung“ oder die Beiträge in Jörissen und Meyer 2015). Für den vorliegenden Beitrag bilden die in diesen Ansätzen verhandelten Forderungen einer Revision sozialwissenschaflicher Grundlagenkategorien – hier insbesondere unter dem Schlagwort des Anthropozentrismus – wichtige theoretische Referenzpunkte. Die Frage nach Bildungs-

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prozessen in mediatisierten Gesellschaften – so die hier vertretene These – kann hier auf anregende Impulse zurückgreifen. Insbesondere sensibilisieren die erwähnten Zugänge für die Frage nach dem Aspekt des Kollektiven in Bildungsprozessen, da menschliches Handeln (bzw. menschliche Reflexivität) nicht (mehr) den exklusiven Bezugspunkt von Bildung darstellt, sondern wesentlich stärker relationale Gefüge in den Blick genommen werden, innerhalb derer Bildung sich vollzieht. Der Beitrag nimmt dies zum Anlass, einen formalen Medienbildungsansatz zu skizzieren, der per se relational und post-anthropozentrisch angelegt ist. Ausgehend von der Annahme einer engen Verzahnung von Bildungstheorie und qualitativer Bildungsforschung werden zunächst die hier zugrunde gelegten Prämissen einer gegenstandsverankerten Theoriegenerierung dargestellt und in den medienbildungstheoretischen Diskurs eingeordnet. Ausgangspunkt bildet ein praxeologischer Zugang zu Medienbildung, der im Anschluss an die AkteurNetzwerk-Theorie weiter ausformuliert und medientheoretisch gerahmt wird. Dieser Zugang wird exemplarisch an einem empirischen Fall veranschaulicht und schließlich als postanthropozentrisch klassifiziert. Abschließend werden die damit aufgeworfenen ethischen Fragen erörtert.

2 Ein praxeologischer Blick auf Bildungsprozesse im Kontext digitaler Medialität Die hier eingeschlagene bildungstheoretische Richtung schließt grundsätzlich an die Theorien transformatorischer Bildung an (Felden 2003; Koller 1999; Marotzki 1990; Nohl 2006; Rosenberg 2011), schlägt jedoch, wie zu zeigen sein wird, besonders in Bezug auf das zugrunde gelegte Subjektverständnis eine andere Richtung ein. Mit Marotzki (1990, S. 53) gesprochen sind Bildungsprozesse als „Prozesse der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung und Problemlösungsversuche“ zu verstehen. Im Unterschied zu Theorien, die Bildung als Wechselverhältnis von Selbst- und Weltverhältnissen sehen, legen transformatorische Bildungstheorien den Schwerpunkt auf grundlegende Umbrüche von Lebensorientierungen (Nohl 2006, S. 11 ff.). Im Sinne von Wandlungsprozessen stellen Bildungsprozesse in diesem Verständnis, folgt man Marotzki (1990, S. 110), „eine dem Subjekt intentional nicht verfügbare Erweiterung seines Möglichkeitshorizontes“ dar. Transformatorisch verstandene Bildung gewinnt gerade auch dadurch ihre Konturen, indem sie sich vom Lernbegriff abgrenzt, der etwa im Verständnis von Nohl et al. (2015, S. 216 ff.) kleinschrittigere Veränderungen des transaktionalen Verhältnisses

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zwischen Mensch und Welt betrifft. Bildung dagegen setzt an der übergeordneten Ebene der Gesamtheit von Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata der Akteur*innen an und verändert diese in ihrer Totalität. Anders als etwa im institutionellen oder bildungspolitischen Zusammenhang wird hier von Bildung als einem ergebnisoffenem Prozess der Veränderung ausgegangen, dessen Verlauf aus pädagogischer Sicht zwar nicht beliebig ist (Koller 2016), der sich aber dennoch einer steuernden Einflussnahme von außen weitgehend entzieht. Bildung in diesem Verständnis kennt keinen Endzustand und ist nie völlig abgeschlossen, sondern birgt stets die Möglichkeit weiterer Veränderung (Koller 2012a, S. 31). Kennzeichnend für diesen Strang der Bildungstheorien ist zudem die enge Verzahnung mit qualitativer Forschung (siehe für das Spektrum an unterschiedlichen Positionen zu diesem Verhältnis Miethe und Müller 2012; Pongratz et al. 2006). Die Generierung von Bildungstheorie wird hier als gegenstandsbezogen verstanden, wobei die Biografieforschung den Dreh- und Angelpunkt der transformatorischen Bildungstheorie darstellt (Marotzki 2006). Zwar sind die Ansätze transformatorischer Bildung unterschiedlich grundlagentheoretisch fundiert, jedoch eint sie die Bezugnahme auf narrative Stegreiferzählungen von Lebensverläufen als empirische Basis. Diese Prämisse ist nicht frei von Kritik: Arbeiten, die dieser Leitidee folgen, vernachlässigen, so z. B. der Vorwurf von Rosenberg (2010), die empirische Rekonstruktion von Weltverhältnissen. Auch aus Sicht der erziehungswissenschaftlichen Medienforschung kann kritisch gefragt werden, inwiefern Bildungstheorie(generierung) im Anschluss an biographische Narrationen die sich in ereignishafter Performativität entfaltende Medialität von Bildung durch ihre retrospektive Herangehensweise überhaupt in den Blick zu nehmen vermag. Neben der empirischen Fundierung hebt Koller (2012b, S. 17 ff.) drei weitere Aspekte transformatorischer Bildungstheorie hervor: Die Bestimmung dessen, was als Selbst- und Weltverhältnis verstanden wird (d. h. das zugrunde gelegte Subjektverständnis), die Anlässe und Problemkonstellationen, aus denen sich Transformationsprozesse ergeben können sowie die theoretische Rahmung der Transformationsprozesse selbst aus denen schließlich Neues entsteht. Koller verdeutlicht, dass diese bildungstheoretischen Dimensionen eine grundlagentheoretische Verankerung brauchen und demonstriert exemplarisch, wie etwa die Arbeiten von Bourdieu, Lacan, Butler, Waldenfels oder Lyotard Ansatzpunkte für eine solche theoretische Ausformulierung bieten. Medien bzw. Medialität spielt hierbei keine Rolle. Aufgrund der von Koller formal gehaltenen Eckpfeiler bieten sich jedoch Möglichkeiten, diesen Aspekt in das Theoriegerüst einzuflechten. Die Grundlage des vorliegenden Beitrags stellt ein praxeologisches Verständnis transformatorischer Bildungsprozesse dar, welches sich im Kern auf das

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Habituskonzept (Bourdieu 1993, 1998) bzw. auf die Annahme von dessen Transformierbarkeit bezieht (Maschke 2013; Rosenberg 2011, 2014; Schäfer 2013) und damit einer poststrukturalistischen Lesart des Ansatzes nahe steht Schäfer (2011). Die Transformationspotenziale des Habitus liegen nach Rosenberg (2011, S. 76 ff.) in der potenziellen Inkongruenz von Habitus und Feld, der Iterabilität der Praxis sowie der Mehrdimensionalität des Habitus. Mit Schäfer (2013, S. 357) lässt sich die Irritation durch Artefakte als weiteres mögliches Einfallstor für habituelle Veränderungen ergänzen. Im Anschluss an diese Überlegungen werden für den hier umrissenen Ansatz praxeologische Anknüpfungspunkte an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) aufgegriffen (Schäffer 2013; Wieser 2004, 2006, 2012) und diese hinsichtlich der Frage nach medientheoretischen Implikationen beleuchtet (Schüttpelz 2013).1 An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass die damit hergestellten theoretischen Bezüge nicht in jedem Aspekt ineinander überführbar sind (was auch nicht das Ziel ist) und durchaus Reibungspunkte aufweisen. So ist etwa die praxeologische Lesart der ANT nicht unumstritten (siehe dazu Wieser 2006, S. 103 ff. unter Bezugnahme auf Schatzki) und auch die medientheoretische Auslegung der ANT stößt durchaus auf Kritik (Mohs 2014). Die genannten Linien kumulieren aber – so die hier vertretene Annahme – in ihren zentralen Punkten (bspw. die konsequente Perspektive auf Performativität sowie die grundlegend auf die Relationalität ausgerichtete Analysehaltung, die menschliche und nichtmenschliche Entitäten in ihrer Verwobenheit betrachtet) und eröffnen hierüber die Möglichkeit der Modellierung einer zeitgemäßen Medienbildungstheorie, die den Spezifika digitaler Medialität gerecht wird. Für die Parallelen zwischen ANT und Praxistheorien sei exemplarisch auf Wieser (2012, S. 206) hingewiesen, der festhält: „Mit den Praxistheorien teilt die ANT die Kritik an kognitivistischen und intentionalistischen Verkürzungen gängiger Handlungstheorien als auch die Kritik an das Handeln normierender und determinierender Strukturen. Gemeinsam ist ihnen eine Prozessperspektive auf soziales Handeln und Kultur. Beide ‚Theorien‘ problematisieren die Natur/Kultur-Unterscheidung und versuchen dem Antagonismus von Subjektivismus und Objektivismus zu entgehen. Sowohl ANT als auch verschiedene Spielarten von Praxistheorien beziehen, wenn auch in unterschiedlichen Versionen und Schwerpunktsetzungen, Artefakte als Konstituenten der sozialen Welt mit ein. Zusätzlich sind sie in ihrem methodischen Vorgehen recht ähnlich: eine Hinwendung zu dem, was passiert und was gemacht wird, anstatt Motive oder Strukturen zu erforschen.“

1Ausführlich

zur Verbindung dieser Theoriestränge siehe Bettinger (2016, 2018).

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Diese grundsätzliche ‚Familienähnlichkeit‘ der Ansätze verlangt nach einem entsprechenden medientheoretischen Anschluss. Als anschlussfähig erweist sich hier unter anderem die Akteur-Medien-Theorie (AMT) (Schüttpelz 2013; Thielmann und Schröter 2014), die – wie der Name verdeutlicht – eine medientheoretische Auslegung der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) darstellt. Über die Feststellung hinausgehend, dass sich die ANT immer schon für Medien (in einem sehr breiten Verständnis) interessiert hat und wichtige Arbeiten aus dem entsprechenden Autor*innenkreis sich Formen und Prozessen medialer Vermittlung widmen, entwickelt die AMT diesen Gedanken weiter und fundiert ihn medientheoretisch. Hierzu wird die ANT als „Medientheoriebaukasten“ (Thielmann und Schröter 2014, S. 149) verstanden, um die netzwerkförmigen Prozesse erschließen zu können, die unterschiedliche Manifestationen von Medialität hervorbringen. Damit rückt der Blick ab von einer Betrachtung der Einzelmedien und hin zu Prozessen der De- und Re-Mediatisierung (sowie mediale Transformationen, Übersetzungen und Delegationen) die als soziotechnische Prozesse zu verstehen sind. Im Vordergrund stehen dabei „mediale Verknüpfungsleistungen“ (ebd., S. 152) heterogener (menschlicher und nichtmenschlicher) Bindeglieder. Medien bzw. Medialität wird damit nicht präskriptiv verstanden, sondern konsequent von ihrer performativen Seite her betrachtet. Dadurch wird die Nähe der AMT zu praxeologischen Ansätzen deutlich, denn auch diese heben die Bedeutung der sich im praktischen Tun entfaltenden Sozialität hervor und rücken damit die Vollzugswirklichkeit impliziter Schemata in den Vordergrund. Bezogen auf die Frage von Medien in Bildungsprozessen lässt sich somit knapp festhalten, dass weder der einseitige Blick auf den Menschen (bzw. dessen reflexive Auseinandersetzung mit Selbst und Welt) noch die Fixierung auf mediale Strukturen zielführend sind, sondern die sich prozesshaft entfaltenden sozio-medialen Konstellationen Beachtung finden müssen. Was Medien im Kontext von Bildung ‚sind‘ oder ‚tun‘ lässt sich nur über die Untersuchung am konkreten empirischen Beispiel beantworten und bedarf eines Zugangs, der „‘Medienbildung‘ als transformatorisches Prozessgeschehen im Kontext von Medialität“ (Jörissen 2011, S. 222) begreift und dabei für die unterschiedlichen Formen von Relationen empfänglich ist, die diesen Prozessen inhärent ist. Im Sinne eines empirisch fundierten Beitrags zur Medienbildungstheorie soll daher nachfolgend das Forschungsdesign des in diesem Beitrag dargestellten Ansatzes umrissen werden um daran anschließend Eckpunkte einer relational angelegten Medienbildungstheorie darzulegen. Die oben skizzierte theoretische Rahmung fungiert hierbei im Sinne sensibilisierender Konzepte, wie sie in der Grounded Theory gängig sind (Strauss und Corbin 1990).

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3 Gegenstandverankerte Entwicklung einer Medienbildungstheorie – Eckpunkte des empirischen Zugangs Mit Bezug auf die – hier zunächst als Heuristik zu verstehenden – theoretischen Rahmung wurde ein qualitatives Forschungsdesign konzipiert, das die übergreifende Frage „Wie gestalten sich Bildungsprozesse als habituelle Veränderungen mit Fokus auf sozio-mediale Zusammenhänge?“ ergründete. Hierzu wurden zwölf biographische Interviews mit Personen geführt, die bestimmte biographische Erfahrungen teilen: Die erste Gruppe bestand aus Personen, die sich für eine veganen Ernährungs- bzw. Lebensweise entschieden haben. Das gemeinsame Merkmal von Personen der zweiten Gruppe bestand darin, dass diese aus einer religiösen Sekte ausgestiegen sind. Die Gruppen wurden bewusst nicht nur im Hinblick auf die ‚Lebensthemen‘ stark kontrastierend ausgewählt, sondern auch im Hinblick auf die Altersstruktur, um im Zuge der empirischen Rekonstruktion potenzieller Bildungsprozesse übergreifende prozessstrukturelle Merkmale in den Blick nehmen zu können. Ein weiteres Kriterium bestand darin, dass alle Personen eine eigene Webseite bzw. einen Blog betreiben, die oder der den eigenen Veganismus bzw. die Sektenausstiegserfahrung zum Thema hat. Neben den biographischen Interviews wurden die Webseiten bzw. Blogs der Proband*innen in der zum Interviewzeitpunkt gegenwärtigen Form gesichert. Zudem wurden mithilfe eines Internetarchivs frühere Versionen der digitalen Artefakte ausfindig gemacht und in die Analyse einbezogen.2 Der so generierte Datenpool sollte nicht nur über die biographischen Interviews analytische Rückbezüge auf zeitlich zurückliegende (Bildungs-)Prozesse ermöglichen, sondern darüber hinaus die sozio-technische Ko-Evolution anhand der sich im Zeitverlauf durch Gestaltungsprozesse verändernde Erscheinungsformen des Artefakts einbeziehen. Vor diesem Hintergrund wurden schließlich fünf zentrale Fälle ausgewählt und einer ausführlichen Analyse unterzogen. Die Auswertung der Daten folgte dabei der Dokumentarischen Methode wobei einerseits die Besonderheiten der

2Im

Anschluss an die narrativen Interviews wurden die archivierten Versionen der Webseiten gemeinsam mit den Proband*innen betrachtet. Dies geschah zum einen mit dem Ziel, weitere erzählgenerierende Anreize zu bieten. Zum anderen hatte dieses Vorgehen den Zweck, mögliche Veränderungen des Layouts oder der Funktionalität der archivierten Versionen zu identifizieren und im Gespräch Hinweise zur ‚tatsächlichen Gestalt‘ der früheren Version zu bekommen, um auf dieser Grundlage die archivierte Version für die Rekonstruktion korrigieren zu können.

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Abb. 1   Das Forschungsdesign auf Ebene des Einzelfalls. (Eigene Darstellung)

dokumentarischen Rekonstruktion biographischer Interviews Beachtung fanden (Nohl 2012). Andererseits wurde eine Erweiterung der Dokumentarischen Bildanalyse (Bohnsack 2011; Bohnsack et al. 2015) im Anschluss an die Visuelle Stilistik (Meier 2014) vorgenommen, um den gegenstandsspezifischen Charakter digitaler Artefakte angemessen erfassen und rekonstruieren zu können. Somit bestand die Analyse je Fall zunächst aus zwei Linien; erstens der Rekonstruktion von (sich durch potenzielle Transformationsdynamiken auszeichnende) Prozessstrukturen auf Ebene des personalen Habitus und zweitens der Rekonstruktion der prozessualen Veränderung des ‚Quasi-Habitus‘ der digitalen Artefakte durch die Kontrastierung der (Quasi-)Orientierungen. Entsprechend der Prämissen der Dokumentarischen Methode wurde zudem auf unterschiedlichen Ebenen fallvergleichend vorgegangen. Neben einer fallinternen Ebene des Vergleichs wurden fallübergreifende Kontrastierungen auf Ebene der Prozesse vorgenommen, um formale Merkmale des Verlaufs von Medienbildungsprozessen jenseits der inhaltlichen Prägung identifizieren zu können (Abb. 1). Die zunächst getrennt untersuchten Ebenen der prozessualen Veränderung des personalen und des Quasi-Habitus wurden schließlich aufeinander bezogen, um unterschiedliche Formen der relationalen Bezüge von Menschen und digitalen Artefakten im Verlauf von transformatorischen Bildungsprozessen zu identifizieren. Im Sinne der prozessanalytischen Typenbildung (Rosenberg 2012) wurden unterschiedliche, sich verändernde Formen der (Nicht-)Passung von personalem Habitus und Quasi-Habitus des Artefakts identifiziert, die im Sinne von sozio-medialen Habituskonfigurationen Einfluss auf die Dynamik und die Form der Entfaltung von Bildungsprozessen haben. In diesem Sinne zielte die

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Abb. 2   Fallübergreifende Entwicklung von Phasentypiken der rekonstruierten Medienbildungsprozesse. (Eigene Darstellung)

Untersuchung auf eine „Typisierung von Formen relationaler Prozessgenese“ (Bettinger 2018, S. 235 ff.) ab (Abb. 2).3 Im Folgenden wird auf den damit in den Vordergrund gerückten Aspekt der sozio-medialen Habituskonfiguration, der den Kern der hier umrissenen relationalen und gegenstandsverankerten Medienbildungstheorie ausmacht, ausführlicher eingegangen.

4 Medienbildung als Veränderung sozio-medialer Relationen Ausgehend von dem skizzierten qualitativen Forschungsdesign wurden zunächst fallübergreifenden Phasenstrukturen von Habitustransformationen auf personaler Ebene rekonstruiert. Grundsätzlich ließen sich hierbei zwei Varianten von Medienbildungsprozessen erkennen, die sich durch eine unterschiedliche Ausprägung der habituellen Veränderung auszeichnen und der von Rosenberg

3Für

eine ausführliche Darstellung der Methodik und des methodologischen Konzepts siehe Bettinger (2018).

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(2011) vorgenommenen Differenzierung von Wandlungs- bzw. Transformationsprozessen des Habitus entsprechen. Während es in der ersten Variante zur Veränderung einzelner Habitusdimensionen kommt, vollzieht sich in der zweiten Variante eine grundlegende Veränderung des habituellen Gesamtgefüges.4 Die habituellen Veränderungen auf personaler Ebene wurden schlussendlich in Bezug zu den rekonstruierten Veränderungen des Quasi-Habitus des digitalen Artefakts gesetzt. Damit rückte das relationale Element von Medienbildung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auf diese Weise konnten fallübergreifend drei Varianten sozio-medialer Habituskonfigurationen rekonstruiert werden.

4.1 Die Sozio-Medialität von Bildung Ein praxeologisches bildungstheoretisches Fundament bietet, wie oben bereits angedeutet, verschiedene Möglichkeiten die Medialität von Bildung in ihrer konstitutiven Verwobenheit mit sozialen Praktiken zu berücksichtigen. Insbesondere die Gefahr, ein reduktionistisches Medienverständnis zugrunde zu legen, welches Medien auf eine oberflächliche Ebene der Wahrnehmung begrenzt oder von einer instrumentellen Zweckrationalität des Gebrauchs ausgeht, lässt sich dadurch vermeiden. Medialität von einer praxeologischer Perspektive ausgehend zu integrieren bedeutet, den performativen Charakter des Medialen als grundlegend anzuerkennen. Medien werdend damit – wie oben bereits mit der AMT erläutert – erst in ihrem Gebrauch als solche erkenn- und verstehbar, ohne diesen als einseitige menschliche Verfügungsmacht misszuverstehen. Besonders kann dies für digitale Medien angenommen werden, die etwa durch ihre Formbarkeit und ihre spezifischen symbolisch-materiellen Kopplungen quasi in besonderer Weise auf Performanz angewiesen sind um sich als sinnhafte Gebilde manifestieren zu können. Der somit eingenommene Blick weitet sich für die medialen Möglichkeitsdimensionen, indem vorschnelle Bedeutungszuschreibungen vermieden und stattdessen mediale Vollzugswirklichkeiten in actu in den Mittelpunkt rücken. Medien als Bestandteil von sozialen Praktiken zu begreifen ermöglicht es, die insbesondere für digitale Medien charakteristische Variabilität zu berücksichtigen. So entfalten sich die Strukturdimensionen digitaler Medien, die

4Strenggenommen

wäre zu überlegen, ob erstere Variante überhaupt als Bildungsprozess im transformatorischen Verständnis zu sehen wäre oder ob es sich vielmehr um Lernprozesse handelt, die ein geringeres formales Komplexitätsniveau aufweisen.

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mit Jörissen (2017, o. S.) in die vier Bereiche „Code/Software, Daten/Datenstrukturen/digitale Objekte, Netzwerke und schließlich Interfaces/Hardware“ unterteilt werden können im Anschluss an die praxeologische Perspektive als Formen des situativen Zusammenwirkens von menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten. Diese Konstellationen ergeben sich jedoch nicht voraussetzungsfrei, sondern sind in hohem Maße sozial und historisch kontextualisiert sowie durch die medial-materiellen Eigenschaften beeinflusst. Eine Möglichkeit, diese Geprägtheit von sozio-medialen Konstellationen greifbar zu machen, lässt sich am Konzept des ‚Quasi-Habitus‘ (Schäffer 2013) festmachen. Unter Bezugnahme auf den Kontagionsbegriff5 von Karl Mannheim schlägt Schäffer vor, die „Einbindung in die Welt medientechnischer Dinge“ (ebd., S. 52) im Anschluss an die ANT praxeologisch zu reformulieren, um so das habituelle Handeln mit Medientechnologien nicht nur situativ zu betrachten, sondern die Historizität sozio-medialer Verbindungen in den Blick zu nehmen. Schäffer zeigt schließlich anhand empirischer Beispiele wie sich unterschiedliche „Kontagionserfahrungen mit dem Quasihabitus der Technik“ (ebd., S. 72) durch milieu- und gruppenspezifische Prägungen erklären lassen. Die Passungsverhältnisse von Mensch und Technik – und respektive die ‚Bindungsqualität‘ der damit entstehenden sozio-medialen Netzwerke – gestalten sich entsprechend der (quasi-)habituellen Verfasstheit der menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten. Entgegen dem radikalen Situationalismus von Latour hebt Schäffer damit die Voraussetzungshaftigkeit hybrider Konstellationen hervor und schließt folglich eine oft kritisierte Lücke der ANT. Dabei offenbart sich mit Blick auf die von Schäffer dargestellten Beispiele, ein breites Spektrum an potenziellen (Nicht-)Passungsverhältnissen. Im Sinne der praxeologischen Konzeption von Bildung als Habitustransformation sind die rekonstruierten Bezüge zwischen personalem (also menschlichem) Habitus und (nichtmenschlichem) Quasi-Habitus demnach als ebensolche Relationen zu verstehen, die sich prozesshaft entfalten und den Kern des hier vertretenen Verständnisses von Medienbildung darstellen. Im Zuge der hier adressierten Studie wurden drei Formen sozio-medialer Habituskonfigurationen rekonstruiert, die sich als spannungsreiches, komplementäres bzw. homologes Verhältnis bezeichnen lassen. Diese drei Varianten ließen sich fallübergreifend in unterschiedlichen Phasen der rekonstruierten Medienbildungsprozesse erkennen.

5D. h.

eine Form der vorbegrifflichen Berührung im Sinne einer existenziellen Beziehung, die nicht nur zwischen Menschen sondern auch zwischen Menschen und Dingen existieren kann (Mannheim 1980, S. 208 ff.).

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Die spannungsreiche Variante sozio-medialer Habituskonfiguration zeichnet sich durch habituelle Inkongruenzen zwischen personalem und Quasi-Habitus des Artefakts aus. Es zeigen sich Diskrepanzen der rekonstruierten Orientierungsdimensionen, die tendenziell zur Instabilisierung des Hybridakteurs führen. Diese Variante sozio-medialer Habituskonfigurationen lässt sich als prekär charakterisieren und stellt damit den Ausgangspunkt weiterer Transformationen dar. Die komplementäre Variante sozio-medialer Habituskonfiguration steht für sich wechselseitig ergänzende Orientierungsdimensionen. Im Unterschied zur spannungsreichen Form stehen personaler Habitus und Quasi-Habitus nicht im Widerspruch zueinander, sondern stellen ein kongruentes Gefüge ohne innere Widersprüche dar. Anders als in der zuvor dargestellten Variante ergeben sich aus diesem Passungsverhältnis keine unmittelbaren Transformationspotenziale. Drittens konnte eine homologe Form sozio-medialer Habituskonfigurationen identifiziert werden. In dieser Variante kommt es zu einer hochgradigen Entsprechung der sich im Artefakt und im personalen Habitus dokumentierenden Orientierungsdimensionen. Mit anderen Worten: Es besteht eine ausgeprägte kontagionale Passung, die zur Stabilisierung des Hybridakteurs beiträgt. Diese Stabilität stellt sich nicht zwangsläufig als ‚Hemmnis‘ weiterer Transformationen dar (etwa im Sinne einer Verhinderung von Bildung), sondern eröffnet vielmehr Spielräume für weitere tentative Praktiken aus denen sich transformatorische Potenziale entfalten können.

4.2 Exemplarisches Fallbeispiel – die Veränderung habitueller Konfigurationen im Zuge von Bildungsprozessen Zur Veranschaulichung der Bedeutung sich verändernder sozio-medialer Habituskonfigurationen für transformatorische Bildungsprozesse soll an dieser Stelle kurz auf ein konkretes empirisches Beispiel eingegangen werden. Beim Fall von „Andrea“ (Name wurde geändert) handelt es sich um eine 73-jährige Frau, die nach jahrzehntelanger Zugehörigkeit aus einer religiösen Sekte aussteigt. Im Zuge dieses Prozesses erlangt ihre private Webseite eine zunehmend hohe Relevanz für ihre neu entstandene Lebensorientierung, gleichzeitig stellt dieses digitale Artefakt – wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt – eine wesentliche Komponente für die Art und Weise der prozesshaften Entfaltung der habituellen Transformation dar, im Zuge deren es zu einer Verschiebung des Passungsverhältnisses zwischen personalem und Quasi-Habitus kommt. Der rekonstruierte Phasenverlauf stützt sich auf eine komparative Perspektive und rückt dement-

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sprechend die formale Seite des Bildungsprozesses in den Vordergrund. Entsprechende Phasen konnten auch in anderen Fällen rekonstruiert werden. Zudem zeigt sich, dass es über die letzten drei Phasen des Prozesses hinweg eine Veränderung des Passungsverhältnisses zwischen dem habituellen Gefüge auf personaler Ebene und dem sich ebenfalls verändernden Quasi-Habitus des Artefakts kommt. Betrachten wir zunächst die personale Seite des Medienbildungsprozesses. Im Zuge des Ausstiegs aus der religiösen Sekte durchläuft Andrea einen Prozess, im Zuge dessen es zu einer grundlegenden Transformation ihres (personalen) Habitus kommt. In einer Vor-Phase des Bildungsprozesses beginnt Andreas bisherige Lebensorientierung brüchig zu werden. Diese Fragilität äußert sich in der zunehmenden Infragestellung bisherigen Praktiken der Lebensführung, die sie zunehmend als dysfunktional erlebt. Es kommt zu einer vorerst noch zögerlichen Erkundung neuer Praktiken (die durchaus das Charakteristikum der Spontaneität im Sinne von Nohl (2006) aufweisen). Bereits hier spielt digitale Medialität eine (jedoch noch unspezifische) Rolle im Bildungsprozess von Andrea. Sie erkundet das für sie zu dieser Zeit noch unbekannte Internet und sieht sich im Zuge dessen mit Orientierungen konfrontiert, die sie zur Entwicklung zunächst noch widerständiger und abwehrenden Praktiken veranlassen, durch welche sie ihre bisherige Lebensorientierung verteidigt. Im Zuge einer sich anschließenden existenziellen Krisenerfahrung scheitern die Versuche der Aufrechterhaltung etablierter Praktiken jedoch und Andreas Habitus beginnt sich – nach einer Phase der Desorientierung, die von einer (zunächst erfolglosen Suche) nach neuen Handlungsperspektiven und dem damit verbundenen Versuch der Stabilisierung neuer Orientierungsmuster – grundlegend zu transformieren. Andrea erlangt schließlich im Zuge dieser Auseinandersetzung Handlungsfähigkeit und entwickelt neue Orientierungen. Maßgeblich für diese Phase ist – und damit nähern wir uns der Frage nach der Bedeutung des digitalen Artefaktes an – die Entstehung medialer Praktiken. Für Andrea wird hier nicht nur die rezeptive Nutzung des Internets zu einem Teil ihres Routinehandels, sie beginnt zudem sich kreativ-gestaltend mit den Möglichkeiten der Artikulation im Internet auseinanderzusetzen und macht Erfahrungen der Verschränktheit von Online- und Offline-Sphäre. Sie thematisiert ihren Sektenausstieg auf einer persönlichen Webseite und experimentiert mit unterschiedlichen stilistischen Darstellungsformen. Die so entstehenden Praktiken sind zunächst aber noch durch ein spannungsreiches Verhältnis gekennzeichnet. Ähnliches findet sich im Beispiel von Schäffer (2013), der mit Blick auf seine Untersuchung zu generationsspezifischen Medienpraxiskulturen von „atmosphärischen Spannungen“ (ebd., S. 72) spricht, welche „zwischen dem habituellen Handeln der Älteren und dem modus operandi, dem

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Quasihabitus der Maschinen“ (ebd.) entstehen. Dieses zeigt sich nicht nur in Form von Widerständigkeit im Umgang mit ihrer neuen Webseite, sondern auch in den Versuchen, die Webseite durch häufige Überarbeitung (die sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht selbst übernimmt, sondern in Auftrag gibt) ‚habituell anzugleichen‘. Im Zuge dieser Auseinandersetzung mit dem digitalen Artefakt durchläuft Andrea eine Phase des Wissenserwerbs, die zur weiteren Stabilisierung ihres rekonfigurierten Habitus beiträgt und diesen weiter ausdifferenziert. Somit kommt es schließlich zu einer Festigung ihrer neuen Lebensorientierung, welche sich im Hinblick auf das relationale Verhältnis zum digitalen Artefakt durch eine homologe Passung auszeichnet. Das für Andrea zu diesem Zeitpunkt stark erweiterte Spektrum an Handlungsoptionen ist eng an die – inzwischen von ihr eigenständig betriebene – Webseite geknüpft. Andreas habituelle Verfasstheit erlangt nicht zuletzt durch die feste Etablierung medialer Ausdrucksmöglichkeiten eine hohe Stabilität, die ihr wiederum Raum zur Erprobung neuer Praktiken bietet. Im Fall von Andrea lässt sich damit eine Veränderung des relationalen Verhältnisses von personalem Habitus und Quasi-Habitus erkennen. Es kann damit gewissermaßen von einer Transformation auf unterschiedlichen Ebenen gesprochen werden, da sich nicht einfach nur Andreas Habitus transformiert, sondern ebenso – in engem Bezug dazu – das Artefakt sowie die soziomediale Habituskonfiguration (Abb. 3). Insgesamt lässt sich für die damit eingenommene Perspektive sagen, dass die genannten Konfigurationen von personalem Habitus und Quasi-Habitus als temporär stabilisierte Konstellationen in unterschiedlichen Phasen des Bildungsprozesses unterschiedliche Wirkungen auf die Prozessdynamik von Bildung entfalten können. Die damit verbundene Absicht – und auch der Gewinn für die Auseinandersetzung mit Medienbildung – lässt sich in einer

Abb. 3   Phasen des Bildungsprozesses bei Andrea und Veränderung der sozio-medialen Habituskonfiguration. (Eigene Darstellung)

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nicht-reduktionistischen und empirisch fundierten Variante einer Medienbildungstheorie sehen, die im Sinne einer Sensibilisierung für die komplexen Wechselbeziehungen menschlich-medialer Gefüge die „fragmentale Verteiltheit“ (Rammert 2006, S. 185) transformatorischer Bildung berücksichtigt. Die damit eingeschlagene Richtung schließt an Positionen an, die Medienbildung nicht individualistisch sondern stärker kollektivistisch auffassen wie etwa Koenig (2013, 2015), der von der Community als Subjekt der Bildung ausgeht und entsprechend Transformationsprozesse auf größere soziale Aggregate (Arrangements) bezieht. Zu nennen wären außerdem die Arbeiten von Allert, Asmussen und Richter, die einen dezidiert praxistheoretischen Zugang zu Medienbildung vertreten und das Verhältnis von Individualität und Kollektivität im Kontext der Digitalität in den Blick nehmen (Allert und Asmussen 2017; Allert et al. 2016; Richter und Allert 2017). Insbesondere die dabei skizzierte Figur von Medienbildung als „gestaltende und produktive Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit in einer digitalen Kultur“ (Allert und Richter 2017, S. 28) korrespondiert mit den oben dargestellten Überlegungen, Bildung als Aufeinandertreffen von menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten zu verstehen, bei dem algorithmische Logiken und die in Hardware eingeschriebenen Aufforderungspotenziale auf implizite Wissensordnungen treffen. Auch die Überlegungen von Brauckmann (2015), welche die strukturale Bildungstheorie Marotzkis im Hinblick auf eine Stärkung der relationalen Perspektive mit Bezug zur ANT weiterdenkt, stehen dem hier dargestellten Ansatz nahe. Einschränkend muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass mit der Konzentration auf ein spezifisches Artefakt (das zudem natürlich auch in sich wiederum vernetzt ist) nur ein Ausschnitt aus dem noch wesentlich komplexeren Hybridakteur beleuchtet wurde. Diese Vorgehensweise kann einerseits durch eine fokussierte Rekonstruktion vertiefende Einsichten in die Veränderung sozio-medialer Relationen liefern, darf andererseits aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit andere Aspekte des Hybridakteurs (bspw. die Verbindungen zu weiteren menschlichen und nicht-menschlichen Elementen), die ebenfalls für den Prozessverlauf bedeutsam sein können, aus dem Blick geraten. Eine komplementäre Analyse des Falls wäre dementsprechend auf die Vernetztheit des sich transformierenden Hybridakteurs als Ganzes ausgerichtet (z. B. im Sinne einer Dispositivanalyse Bührmann und Schneider (2008)), würde hierbei aber zwangsläufig allein schon aufgrund der Vielzahl der unterschiedlich verknüpften heterogenen Elemente stärker auf der Oberfläche bleiben müssen.

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4.3 Ein post-anthropozentrisches Verständnis von Medienbildung Mit dem hier entworfenen Verständnis von Medienbildung ist eine Distanzierung von bildungstheoretischen Positionen verbunden, die – etwa im Anschluss an Kant und in Bezug auf das Humboldt’sche Bildungsideal – ein in der Tendenz individualistisch agierendes Reflexivsubjekt proklamieren. Die Befähigung zum vernunftbegabten Handeln ist in Ansätzen, die dieser Traditionslinie folgen, zwar nicht losgelöst von sozio-historischen Kontexten zu denken, rückt aber letztlich doch die individuelle Reflexionsfähigkeit als mentalen Vorgang deutlich in das Zentrum der bildungstheoretischen Argumentation (bspw. Marotzki 1990; Ruhloff 1996; Felden 2003). Stattdessen wird Subjektivierung im vorliegenden Ansatz per se als hybrides Geschehen betrachtet, an dem ein Konglomerat heterogener menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten beteiligt ist (Bettinger 2017). Damit einher geht eine Blickverschiebung in der Medienbildungsforschung und -theorie. Erstere zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass an die Stelle der Frage nach der Rolle von ‚den Medien‘ in Bildungsprozessen die Frage nach der prozessualen Entfaltung und Veränderung sozio-medialer (Habitus-)Konfigurationen tritt. Dies erfordert eine kritische Revision des methodologischen und methodischen Instrumentariums der Bildungsforschung. Insbesondere sind hier die in diesem Bereich ausgesprochen bedeutsamen biographietheoretischen Prämissen zu nennen, die nach wie vor mit grundlagentheoretischen Konzepten operieren, welche das Subjekt als „Individuen-Entität“ (Reckwitz 2012, S. 16) begreifen und stark in dichotomen Schemata verhaftet sind. Die Blickverschiebung in der Medienbildungstheorie ist dementsprechend gekennzeichnet durch eine Abwendung von der Fixierung auf das (individualistisch gedachte und exklusiv menschlich verstandene) Subjekt hin zu sozio-medialen Konfigurationen als Grundlage von Subjektivität. Dies kann als spezifische (und möglicherweise zugespitzte) Form der Dezentrierung des Subjekts (Koller 2001) verstanden werden, die posthumanistischen Positionen nahe steht, deren Merkmal unter anderem in einer Abkehr der Fixierung auf den Menschen besteht (Loh 2018). Dies scheint allein deswegen notwendig, da die oben dargelegten Strukturmerkmale von Digitalität derart mit unserer alltäglichen Erfahrung verwoben ist, dass deren Ausblendung zwangsläufig einen blinden Fleck erzeugt, der dem bildungstheoretischen Anspruch einer sozio-historischen Kontextualisierung entgegenläuft. Die Erschütterung des menschlichen Selbstverständnisses durch diese Relativierung des anthropologischen Primats menschlicher Vormachtstellung kann – als produktive Irritation verstanden – den Blick

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für alternative Formen des Menschseins sensibilisieren, die gegenüber technologisch-medialen aber auch ökologischen Aspekten offen sind (Wimmer 2014). Im Mittelpunkt steht dann nicht mehr (nur) die Transformation des habituellen Gefüges aufseiten der Person sondern die „Transformation subjektivierender Relationierungen“ (Jörissen 2015, S. 228) von menschlichen und nichtmenschliche Akteuren. Eine so verstandene relationale Medienbildungstheorie fragt nach Formen der (Re-)Konfiguration heterogener Elemente. Die damit verbundenen analytischen Dimensionen sozio-medialer Hybridsubjekte bzw. von Medienbildung als verteiltem Prozess blicken dann auf (In-)Stabilität von Bildung (als dynamischem Prozess der De- und Re-Stabilisierung), auf Temporalität (Bildung als zeitlich verteilter Prozess), auf Lokalität (Bildung als räumlich verteilter Prozess) und auf Agentialität (Bildung als aktorial verteilter Prozess).

5 Schluss Der Beitrag skizzierte die Eckpunkte einer empirisch fundierten Medienbildungstheorie, deren zentrales Moment in der relationalen Konstitution sozialer und medialer Bezüge besteht. Es wurde deutlich, dass die Frage der Rolle bzw. der Beteiligung von Medien an Bildungsprozessen eines Zugangs bedarf, der über die bisherigen Kategorien von Theorien transformatorischer Bildung (Koller 2012b) hinausgeht und digitale Medialität in ihrer sozialen sowie ihrer materiellsymbolischen Dimension einschließt. Zu klären sind insbesondere noch die ethischen Implikationen einer in dieser Form relational angelegten Medienbildungstheorie. Gerade durch die angerissenen Bezüge zum Posthumanismus bieten sich Möglichkeiten, die in diesem Zusammenhang diskutierten Fragen für den bildungstheoretischen Kontext fruchtbar zu machen. Die posthumanistische Kritik an dem für die Pädagogik so bedeutsamen Humanismus lässt sich mit Herbrechter (2014, S. 270) folgendermaßen verstehen: „Humanistische Ideale und Werte waren zwar stets universalistisch ausgelegt, tatsächlich jedoch hatte die universelle Norm ein recht spezifisches Gesicht, nämlich europäisch-kosmopolitisch, weiß, männlich, aufklärerisch usw. – Genau diese universalistischen Normen sind im Zeitalter der globalen Migration, Multikulturalität und des radikalen Wertepluralismus nicht mehr haltbar.“

Anstelle der humanistischen Grundlegung tritt – folgt man mit Rosi Braidotti und Isabell Stengers zwei wichtigen Vertreterinnen des gegenwärtigen posthumanistischen Diskurses – eine relationale Ethik der Verwobenheit, „die weder

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ein abgeschlossenes ethisches Subjekt annimmt noch durch den Bezug auf universale Maßstäbe Beziehungen bewerten will“ (Hoppe 2017, S. 12). Damit wird ein Konzept von Verantwortung angesprochen, welches nicht das Individuum als Träger*in von Verantwortung begreift, sondern Verantwortung „als Fähigkeit (in) der Welt zu antworten, als response-ability oder ability to respond“ (ebd.) auffasst. Verteilte Bildung in sozio-medialen Konstellationen muss sich der Frage unterziehen, wann von Bildung in einem pädagogisch vertretbaren Sinn gesprochen werden kann und woran sie sich bemisst, d. h. welche normativen und ethischen Prämissen also angelegt werden, um die Transformation relationaler Verflechtungen überhaupt als Bildung zu bezeichnen. Es wird deutlich, dass hiermit das Erfordernis verbunden ist, grundlegend über das ethische Fundament von Bildung nachzudenken, wenn diese vor dem Hintergrund einer Kultur der Digitalität betrachtet wird. Eine aus pädagogischer Sicht befriedigende Antwort kann weder in transhumanistischen Optimierungsphantasmen noch in einer völligen Loslösung vom Bildungsbegriff bestehen. Diesen hier nur angedeuteten Problemkomplex gilt es eingehender zu diskutieren.

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Vernetzung als Subjektivierungsform: Konturierung einer Forschungsperspektive Andreas Spengler

Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Bedeutung der Subjektivationsanalytik für die Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik. Im ersten Teil werden dazu methodische Prämissen und Zusammenhänge mit der Bildungs- wie Sozialisationstheorie diskutiert. Hierbei erweist sich insbesondere das Foucault’sche Regierungsverständnis als geeignet, um spezifische bildungstheoretische Perspektivierungen verfolgen zu können. Darauf aufbauend werden im zweiten Teil exemplarisch Ergebnisse (Detaillierter ausgearbeitet ist dies in (Darauf aufbauend werden im zweiten Teil exemplarisch Ergebnisse einer Untersuchung und Merkmalen einer Subjektivierungsform präsentiert) zu finden.) einer Untersuchung zu Genese und Merkmalen einer Subjektivierungsform präsentiert. Im Zentrum steht dabei die Konturierung eines vernetzten Selbst mit Blick auf die dabei entscheidende Rolle von Medientechnologien. Schlüsselwörter

Subjektivierung · Sozialisation · Bildung · Digitalität · Medien · Technologie

A. Spengler (*)  Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_4

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1 Zurichtung „Bildung soll es richten“ – in diesen vier Worten fasst Heinz-Elmar Tenorth (2018, S. 51) den gegenwärtig geführten gesellschaftlichen Diskurs treffend zusammen. Die darin enthaltene Problemstelle ist jedoch mindestens eine vierfache: Nicht nur ist man höchst uneins, was Bildung sein soll, man wird gleichermaßen nicht müde, Bildung – wie es sich im „es“ manifestiert – mit immer mehr und neuen Bezügen zu versehen. Und wer schließlich dieses „man“ ist, welche Personen oder Institutionen diesen Appell in welchen Kontexten ausrufen und damit den Bildungsbegriff besetzen, rangiert von erwartungsgemäß bis überraschend. Zu guter Letzt schwingt darin noch etwas weniger Augenscheinliches mit. Denn das Modalverb „sollen“ offenbart sich erst auf einen zweiten Blick in seiner vollen Tragweite; mit ihm ist, im Unterschied zum Können, implizit eine doch recht explizite Erwartungshaltung getroffen. Nämlich die latente Aufforderung, dies auch tun zu müssen. Bereits in dieser verkürzten Interpretation tritt zu Tage, dass Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik vor großen Herausforderungen stehen. Mit am gravierendsten offenbart sich dies im Zusammenhang mit dem Begriff Digitalisierung. Auch dieser ist derzeit in aller Munde und weit im gesellschaftlichen Diskurs verbreitet. Das Bildung im Eingangszitat ließe sich ebenso durch ein Digitalisierung ersetzen – die Problemstellung wäre formal eine ähnliche, was die zentrale Bedeutung der beiden Begriffe für die Gegenwart nur zusätzlich hervorhebt. Im Folgenden steht allerdings nicht der Versuch, die beiden Begrifflichkeiten versöhnlich einander anzuschmiegen oder trennscharf abzuschneiden. Es wird vielmehr zu zeigen sein, wie sich beide konstellativ zueinander verhalten und welches Potenzial eine bildungstheoretischgeleitete Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Selbst- und Weltverhältnissen in sich birgt. Denn „[i]n einer historischen Epoche, in welcher die Digitalisierung nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche nachhaltig verändert, wird Medienbildung zu einer Kernaufgabe von Bildung und damit auch zur Hinterfragung vorhandener Strukturmuster eines digitalen Kapitalismus“ (Niesyto 2017, S. 24). Damit liegt auf dem Tisch, welchem Desiderat sich der nachfolgende Versuch widmet. Es geht weniger darum, vorschnelle Maßnahmen (Merkert 1992, S. 7–11) für einen ‚adäquaten‘ Umgang mit dem Prozess der Digitalisierung zu entwickeln, als vielmehr um nachvollziehendes Verstehen. Dem zugrunde liegt die hier vertretene Annahme, dass Bildung immer auch auf Emanzipation zielt, derer erster Schritt die Aufdeckung der alltäglich erfahrenen Aporien und auszuhaltenden Widersprüche ist.

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Oder in Heinz-Joachim Heydorns Worten: „Bildungsfragen sind Machtfragen; die Frage der Bildung ist die Frage nach der Liquidation von Macht“ (2004, S. 300).

2 Sozialisation, Subjektivierung und Bildung – eine Frage der Macht? Als fruchtbare Anknüpfungspunkte für eine, diesen Prämissen folgende Untersuchung erweisen sich machtanalytische Zugänge. Mit ihrer Hilfe wird es möglich, Selbst- und Weltverhältnisse hinsichtlich der damit verbundenen – mal offen, mal verdeckt wirkenden – Mechanismen zu befragen. Von zentraler Bedeutung ist dabei ein Punkt, der insbesondere die Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft immer wieder befeuert und im Subjektbegriff virulent wird. Die jüngere Diskussion hat diesbezüglich gezeigt, dass verschiedene, altbewährte Annahmen nicht mehr oder nur noch schwer (allein) haltbar sind und neuer Auseinandersetzungen bedürfen. „Wer der Überzeugung ist, dass Subjekte nicht einfach ‚da‘, sondern Produkt von Prozessen der Selbstbildung und Selbstformung sind, kann sich nicht mehr allein auf transzendentalphilosophische, sprachanalytische oder phänomenologische Argumente stützen, sondern muss die Techniken untersuchen, die an diesen Prozessen beteiligt sind“ (Gelhard et al. 2013, S. 10). Besonders innerhalb der Sozialisationstheorie und -forschung trat diese Problemstellung an mehreren Stellen zu Tage. So weist beispielsweise Dieter Geulen auf eine Problematik hin, die sich in der Diskussion um „das“ Subjekt der Sozialisation, und den damit einhergehenden, unterschiedlich akzentuierten Forschungen offenbart: „Tatsächlich ist Sozialisation ein komplexes kausales Geschehen, in dem das Subjekt als solches, und zwar unter eigener aktiver Beteiligung, konstruiert wird“ (2005, S. 168). In dieser Aussage verbirgt sich eine, wenige Jahre zuvor geführte Debatte um (Fremd-) Sozialisation und Selbstsozialisation (Zinnecker 2000, 2002; Bauer 2002; Geulen und Zinnecker 2002). Immer wieder scheint die Sozialisationstheorie mit klassischen und hausgemachten Problemen konfrontiert, die sich hier beispielsweise in der Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdsozialisation, mit Akzentuierung auf Auto- oder Heteronomie verbildlichen. Aus alldem lässt sich ablesen, dass sozialisationstheoretische Untersuchungen vor allem mit dem dort gängigen Subjektverständnis zu kämpfen haben, was sich meist in über- oder unterdeterminierten Perspektivierungen äußert. Auch zeigt sich darin mancherorts eine Vernachlässigung des kritischen Potenzials, indem ein Subjektverständ-

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nis zugrunde liegt, das zwar nicht explizit beansprucht universal zu sein, jedoch trotzdem spezifische Subjektformen vernachlässigt oder jene angesprochenen „Oppositionen“ als Dualismen setzt und so beispielsweise Freiheit und Macht oder innen und außen komplementär gedacht werden. Die Perspektive der Subjektivierung bietet diesbezüglich den Vorteil, genau solche Problematiken in den Fokus zu nehmen. Ihr geht es ähnlich der Sozialisationstheorie um das Werden und Gewordensein unterschiedlicher (konkreter) Subjekte (Saar 2013, S. 17). Die von Martin Saar (2013, S. 18 ff.) vorgeschlagenen Prämissen einer Analytik der Subjektivierung, die sich an Althusser, Foucault und Butler orientieren, zeigen das darin liegende Potenzial für die Sozialisationstheorie und machen die Gemeinsamkeiten von Sozialisation und Subjektivierung deutlich. Nicht nur zeigt er unter Bezug auf Foucault, dass das Subjekt gleichermaßen konstruiert ist, wie es sich selbst konstituiert, sondern auch im Anschluss an Butler, dass sich Subjektivierung im Medium der Sprache und des Körpers vollzieht, eine psychische Dimension hat und notwendigerweise auch scheitert. Vor allem im ersten Teil dürfte die Ähnlichkeit zu Hurrelmanns – und mittlerweile auch Bauers – Modell der produktiven Realitätsverarbeitung (2015, S. 111) klar hervortreten und auch die letzten drei Punkte scheinen der Sozialisationstheorie keine unbekannten Sachverhalte zu sein. Dies verdeutlicht zwar eine nahe Verwandtschaft zwischen Subjektivierung und Sozialisation, jedoch bleibt zu berücksichtigen, dass es im Detail Unterschiede gibt und das Eine nicht das Andere ersetzen, sondern es sich bei Beidem um etwas handelt, das gegenseitig voneinander profitieren kann. Subjektivationsanalytische Perspektiven haben so gesehen „eine bedeutsame kategoriale bzw. methodologische Justierung vorgenommen […] – nämlich [sic] dass das Problem nur ‚relational‘ zu bearbeiten ist“ (Ricken und Wittpoth 2017, S. 249). Durch einen subjektivationsanalytischen Fokus wird es möglich, Sozialisationsanforderungen aufzudecken und soziokulturelle Rahmenverhältnisse zu konturieren, Leerstellen wie offene Desiderate der Sozialisationsforschung zu bearbeiten, während weiterhin die „Epigenese des Subjekts“ (Geulen 2005) im Zentrum bleibt. Nur zielen solche Untersuchungen eben nicht auf „das“ Subjekt, im Sinn einer Subjektphilosophie, sondern untersuchen Formen der Subjektivierung; wofür nach Saar (2013) unerlässlich ist, deren Historizität zu berücksichtigen; sie also nicht als grundsätzlich gegeben hinzunehmen sowie das Subjekt im Anschluss an Althusser und Foucault als Schnittpunkt einer Vielzahl von Bestimmungskräften (frei) gemacht zu betrachten. „Das Subjekt ist somit zugleich Wirkung und Voraussetzung, Schauplatz, Adressat und Urheber von Machtinterventionen. Eine Entität, die sich performativ erzeugt,

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deren Performanzen jedoch eingebunden sind in Ordnungen des Wissens, in Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse“ (Bröckling 2012, S. 133). Unter diesen Prämissen lassen sich dann so analysierte Wissens-, Macht- und Selbstverhältnisse in ihrer konstellativen Dialektik auch als Anforderungen an wie zentrale Momente von Bildungstheorie lesen. (Vgl. Pongratz 1995, S. 12). Hierzu erweisen sich vor allem die von Foucault (2005, S. 230 f.) eingeführten Machttechnologien als hilfreich. Und die von Hannelore Bublitz verfolgte Unterscheidung zwischen Selbst-, Medien- und Sozialtechnologien verdeutlicht das dahinterstehende Potenzial, das die Grundlage für die noch folgende Untersuchung stellt: „Unter Selbsttechnologien sind Praktiken zu verstehen, mit denen die Individuen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern, im Zusammenhang mit Medientechnologien, auch ein Selbstverhältnis ausbilden, sich selbst transformieren und modifizieren. Dabei wendet das Individuum auf sich selbst Praktiken an, die im Zusammenhang mit seiner spezifischen gesellschaftlichen Verortung und entsprechenden Sozialtechnologien – der sozialen Einordnung der sozialen Kontrolle und der sozialen Form(ier)ung, Lenkung und Leitung – stehen. Formen der Fremdund Selbstführung greifen, medial vermittelt ineinander […]“ (2010, S. 11).

Aus dieser Definition lassen sich für das weitere Procedere drei Folgerungen ziehen: erstens können solche Selbsttechnologien als mögliche Formen von Bildung mitsamt den bereits angedeuteten Paradoxien verstanden werden. Zweitens verweist die Verkettung der drei Technologien auf die Verwobenheit innerer und äußerer Einflüsse, wie sie in der Sozialisationstheorie ähnlich als innere und äußere Umwelt diskutiert werden. Wenn man dem folgt, wäre beispielsweise Erziehung, im Gegensatz zur Bildung, zunächst als typische Sozialtechnologie zu verstehen. So gesehen sind dann, drittens, Selbst- und Fremdsozialisation, symbolisiert in Selbst- und Sozialtechnologien als Teile der Sozialisation/Subjektivation immer auch realitätsverarbeitend wie -erzeugend in einem. Sie geschehen innerhalb von und durch Medien – im engen wie weiten Sinn. Mit am deutlichsten lässt sich dies mithilfe Foucaults weitgefasstem Regierungsverständnis (2015, S. 183; Lemke 1997) greifen: Bildung zielt dann auf Formen einer „selbstbestimmteren“ Regierung/Lenkung/Steuerung/Führung des Selbst, während Erziehung den von außen kommenden Versuch dazu darstellt – beides bleibt auf Medien angewiesen. Im Folgenden wird es daher darum gehen, diese konstellativen Verschränkungen unter den aufgezeigten Prämissen mit Fokussierung auf Medientechnologien zu untersuchen.

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3 Vernetzung als Subjektivierungsform Bevor mit einer Analytik der Subjektivierung begonnen werden kann, ist es erforderlich, die spezifische Form zu konturieren, auf die der Fokus gerichtet wird. Als Paradebeispiel für eine solche lässt sich Ulrich Bröcklings (2016) Untersuchung zum unternehmerischen Selbst betrachten, in der er eindrucksvoll zeigt, wie sich der Impetus unternehmerisch zu handeln und denken in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche und damit auch die Subjekte einschreibt. Eine solche Analytik bedient sich vor allem den „[…] systematischen Verbindungen zwischen Rationalitätsformen, Führungstechnologien und Selbstbezügen. Auf diese Weise geraten nicht nur politische Programme, Alltags- und Selbstpraktiken in den Blick, sondern auch die Bedeutung der Wissensproduktion und ihre Kopplung an Machttechnologien“ (Bröckling und Krasmann 2010, S. 26). Es steht damit im Fokus einer solchen Untersuchung, herauszufinden wie Individuen als Subjekte adressiert werden, verbunden mit den oftmals impliziten Aufforderungen so oder so und eben nicht so oder so zu sein. „Als Deutungsangebot zum Verständnis gegenwärtiger Trends und Fingerzeig auf relevante soziale Konstellationen ermöglicht sie es, die ambivalenten Dynamiken […] in den Blick zu nehmen“ (Hardering und Wagner 2018, S. 262). Es ist kurzum das Einnehmen eines kritisch-versierten, theoretisch-informierten Blicks, der eben keine Universalität beansprucht, sondern in seiner Perspektive Besonderheiten herauspräpariert. Im Fokus des hier verfolgten Weges steht Vernetzung. Vernetzung ist dabei als eine Subjektivierungsform zu verstehen, deren Grundlage die medial vermittelte Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Wirklichkeit ist und die auf Sozialität in einem allgemeinen Verständnis zielt. Bei Vernetzung handelt es sich also um Prozesse, die über das menschliche Miteinander bestimmen und in Abhängigkeit jeweiliger medialer Entwicklungen stehen. Um also verstehen zu können, wie oder weshalb Vernetzung so prägend für die Gegenwartsgesellschaft ist und in welchem Zusammenhang sie mit dem steht, was momentan unter „Digitalisierung“ diskutiert wird, ist es notwendig ihren Spuren nachzugehen, um so augenblickliche Formen besser verstehen zu können. Durch den Blick auf Vernetzung als Subjektivierungsform offenbaren sich dann, in diesem ersten Schritt, Zusammenhänge von Selbst- und Weltverhältnissen unter den Bedingungen medientechnologischer Entwicklungen. Spezifisch ist für diese Entwicklungen, dass je neue Formen der Individualisierung und Normalisierung entstehen sowie Kommunikation deren Basis bildet. Grob zusammengefasst lassen sich so sieben Phasen ausmachen, in denen neue

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Abb. 1   Modifizierte Darstellung des Zusammenhangs „Anwachsen der Bevölkerungszahl und technologischer Entwicklungen“ nach Hartmann (2006, S. 95)

Medientechnologien entstehen, die vor allem der Vernetzung dienen und starken Einfluss auf die zu konturierende Subjektivierungsform ausüben. Diese Phasen gehen fließend ineinander über und es lassen sich keinen eindeutigen Startund erst recht keine Endpunkte ausmachen, wenigstens aber Zeiträume. Folgt man dem, handelt es sich bei diesen Phasen um Oralisierung, Literarisierung, Elektrifizierung, Massenkultivierung, – der angesprochenen – Digitalisierung, Konnektierung sowie Hybridisierung (Abb. 1). Oralisierung bildet die allgemeine Grundlage; denn mit Sprache entwickelt sich ein symbolischer Code (Flusser 2008, S. 23), der über die Modalitäten der Weltaneignung wie Auseinandersetzung mit dieser bestimmt. Sie erst schafft eine, wenn nicht die zentrale Grundlage für Vernetzung als ein Gesellschaft konstituierendes Prinzip. (Berger und Luckmann 2010, S. 40 ff.) Sprache ist einerseits normalisierend, indem sie eine „identitätsstiftende“ Funktion durch die ihr zugrunde liegende Semantik übernimmt – von Anders-Sprechenden abgrenzt –, genauso wie sie im individuellen Gebrauch diesem nie in aller Gänze nachkommen kann – jede/r anders spricht und versteht. Oralität bildet so bis heute ein zentrales Moment zur Übermittlung von Informationen und war bis zum Aufkommen der Literarisierung auch unentbehrlich zur Konservierung dieser. Mit der Literarisierung änderte sich dies drastisch. Sie ermöglicht jene dauerhafte Speicherung von Informationen und schafft es, dass Kommunikation bzw. Wissensbestände nicht mehr direkt an Personen gebunden sein müssen. Durch Schriftlichkeit ergaben sich neue Subjektentwürfe und Machtformen,

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wie Foucault sie beispielsweise anhand unterschiedlicher Selbsttechnologien illustriert. Durch die Möglichkeit Informationen zu transportieren war ebenfalls ein erster Schritt in Richtung einer global werdenden Welt getan, was sich wohl am deutlichsten in der Vereinheitlichung mathematischer Zeichen seit dem 15. Jahrhundert ausdrückt. (Kittler 1993b, S. 177) Durch den Buchdruck etablieren sich neue Formen der Vernetzung. Er ermöglichte individuelle Leseerfahrungen von Texten, die Selbst- und Weltverhältnisse individualisieren wie normalisieren, und so zu zentralen Bestandteilen von Subjektivierungsprozessen werden. Reckwitz (2012, S. 188) verdeutlicht dies beispielsweise anhand der lange hegemonialen Subjektivierungsform „bürgerlicher Selbstregierung“ durch eine nach innen gerichtete Schriftlichkeit, unter die Selbst- und Fremdpsychologisierung ebenso wie Reflexion fallen. In diesen Praktiken entfaltet sich eine Bekenntniskultur, die ausgehend von der antiken Selbstsorge, über die Pastoralmacht bis heute ihre Wirkmächtigkeit beweist. Die Elektrifizierung führt mit ihren neuen Medientechnologien zu einer Ortund Zeitschrumpfung und ermöglichte es, schneller und über weite Strecken in Verbindung zu treten. Durch Telegraphie, hin zum Telefon können örtlich getrennte Personen – und damit auch Institutionen – miteinander in Verbindung treten wie bleiben. Aktualität wird auf neue und andere Weisen möglich, denn die Analogtechnik hatte es geschafft, nicht nur das Verkehrs-, sondern auch das Kommunikationswesen neu zu strukturieren und revolutionieren. „Zum absolut ersten Mal war Information als massenloser Fluß elektromagnetischer Wellen abgekoppelt von Information“ (Kittler 1993b, S. 182). Unter diesen Bedingungen wuchs die Welt abermals ein Stück mehr zusammen und kulturelle Inhalte wie Praktiken konnten zeitnah übermittelt und anderorts – mindestens – wahrgenommen werden. Unter der Oberfläche zeigte sich, dass die Bedienung zwar zunehmend leichter wird – verbildlicht am Einzug der Telefone in Privathaushalte –, sich jedoch darunter der Kenntnis durchschnittlicher Menschen entzieht. Nach und nach begann sich eine neue Sprache, die der mathematischen Zeichen, welche diese Prozesse der Vernetzung erst ermöglichten, unter die Alltagssprache zu schieben. Die Phase der Massenkultivierung findet ihren Ursprung im Übergang zum 20. Jahrhundert. Hier sind es vor allem die Entwicklung des Funks, verbildlicht im Radio, aber auch die aufkommende Video- und Fotographie, die Einfluss auf Subjektivierung nehmen und so auch die Ausgangspunkte für die moderne Medienpädagogik bilden. Es vollzieht sich ein Übergang von einer nach innen gerichteten Schriftkultur hin zu einer Kultur des sichtbaren, performativen Vergleichens – einer Kultur der Visualität. „Lange Zeit hat sich das Individuum durch seine Beziehung zu anderen und durch Bezeugung seiner Bindung an andere […]

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ausgewiesen; später hat man es durch den Diskurs ausgewiesen, den es über sich selbst halten konnte oder mußte. Das Geständnis der Wahrheit hat sich ins Herz der Verfahren geschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt“ (Foucault 1983, S. 62). In Verbindung mit neuen Formen der Werbung und des Konsums sowie der Information und Unterhaltung entstehen eine Nähe zwischen den Subjekten und den Inhalten (bspw. Anhand der O-Ton Berichterstattung) sowie zwischen den Subjekten selbst, denen das Konsumierte Diskussions- und Reflexionsgrundlagen bereitstellt. Wichtiger bleibt jedoch, dass insbesondere anhand der Fotographie sich neue Formen des Bekennens etablieren; visuelle Repräsentationsmodelle in Film und Bild, die nachgeahmt und ausgedrückt werden können. Diese geben dann – beispielsweise fotographisch konserviert, als Dokumentation des Selbst und der anderen – Aufschluss über die kulturelle und soziale Positionierung der oder des Abgebildeten. Umgekehrt können diese medialen Bekenntnistechnologien auch dazu führen, sich den eigenen Erwartungen an eine/n verallgemeinerte/n Andere/n gemäßigt zu verhalten, wie es beispielsweise die Diskussion um Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen verdeutlicht. (Paul 2016, S. 523 f.) Hierin spiegelt sich die äußerliche Form neuer Vernetzungsmodi. Die innere, meist nicht sichtbare Basis dafür ergibt sich durch die Digitalisierung, für die ein Ursprung nur wenige Jahre vor Beginn des 20. Jahrhunderts ausgemacht werden kann. Eine von zwei zentralen Entwicklungen hierfür war Hermann Holleriths Lochkartenmaschine. Mit ihrer Hilfe war ein Weg gefunden, flexibel mit großen Datenmengen umzugehen. Durch Alan Turings theoretisches Maschinenmodell ergab sich nur wenig später die zweite Entwicklung als Möglichkeit, dass […] jeder Rechenakt, ob bei Menschen oder Maschinen, formalisiert werden [kann] als eine abzählbare Menge von Befehlen, die über einem unendlich langen Papierband und seinen diskreten Zeichen arbeiten.[…] Universale Turingmaschinen brauchen nur mit der Beschreibung (dem Programm) einer beliebigen anderen Maschine gefüttert werden, um diese Maschine effektiv zu imitieren […] (Kittler 1993a, S. 227 f.)

– auch der Idee vom Menschen. Letzten Endes stellt dieses Maschinenmodell die bis heute gültige Grundlage für alle Computer und ist der Grund, folgt man Kittler weiter, dass das Monopol der Alltagssprachen, ihre eigene Metasprache zu sein, aufbrach, den Programmiersprachen weichen musste. So gesehen handelt es sich bei der Digitalisierung um eine Vernetzung in die Tiefe, die rekursiv daherkommt. Ebenso um einen Prozess, der weiter zurückreicht als weithin angenommen, der mehr ist als etwas rein Technologisches. Denn die Entwicklung des Computers

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und sein folgender Einzug ins Alltagsleben gestalten sich nicht nur als Implosion der Hardware und Explosion der Software – die steigende Komplexität führt zusätzlich dazu, dass man Maschinen benötigt, um Maschinen überhaupt zu entwerfen und zu bauen (Simondon 2011), während sich die Allgemeinheit an die vorgegebenen, sichtbaren Oberflächen und Strukturen mit den damit verbundenen Möglichkeiten und auch Einschränkungen – kurz: ihre Nutzung – gewöhnt. Software und Interfaces werden Bindeglied zwischen Menschen und Technologie und führen zu neuen kulturellen Praxen: „Die Aufgabe der Wetware [also der Menschen; A.S.] ist das Produzieren von Kultur, um sie auf der […] Hardware mit der […] Software laufen zu lassen“ (Lovink 1994, S. 226). Mit der Phase der Konnektierung beginnt eine Vernetzung in die Breite. Letztendlich bestimmen auch hier vor allem Standards und Protokolle unter der Oberfläche über das (technisch) Mögliche und beeinflussen Kultur. Das Internet als dezentrales-distribuiertes Netzwerk stellte mit dem World Wide Web und dem Hypertext einen niemals endenden Kommunikationsfluss und ein von Menschen geschaffenes Strukturierungssystem bereit, welches das Alltagsverständnis von Wissen und Information wie auch den Umgang damit grundlegend änderte und sich auch auf die Wahrnehmungsmodalitäten auswirkte (Röll 2003, Abschn. 2.5). Hinzu kommt eine ähnliche Entwicklung, wie sie die Medientechnologien im Allgemeinen bereits kennzeichnete: Denn der steigende Komfort und das rasante Wachstum führten auch dazu, dass nach dem Internet ebenfalls die Inhalte des World Wide Webs nicht mehr in aller Gänze eingesehen werden konnten und man neue Verfahren zur Strukturierung, Sortierung und Filterung benötigte. Die Folge ist, dass zwar gefilterte Ausschnitte, die übersichtlicher sind und leichter bedient werden können, angezeigt werden – deren basale Funktionsprinzipien sich jedoch dem allgemeinen Verständnis wie der Einsicht entziehen. Gleichzeitig hinterlassen die Subjekte bei der Nutzung als hochdetaillierte „teilanonyme“ Datendoubletten Informationen über ihr Selbst und ihre Vorlieben, die gespeichert und weiterverarbeitet werden, bevor sie Ihnen beim nächsten Besuch als Empfehlungen oder Vorschläge subtil wiederbegegnen. Letztes ist etwas Neues am Internet, dessen Möglichkeiten vor allem, aber relativ spät von Konsum und Werbeindustrie entdeckt wurden (Heßler 2012, S. 139). Auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vollzog sich damit ein einschneidender Wandel: Zunächst in der Arbeitswelt, dann im Alltag etablierte sich ein polyzyklisches Zeitverständnis (Misoch 2004, S. 84–85), als Möglichkeit, vom eigenen Ort aus quasi unabhängig jede und jeden, solange er oder sie nur auch im Netz sind, allzeit erreichen zu können. Es begann das, was heute als „always on“ oder Dauervernetzung bezeichnet wird. Hierfür fehlte jedoch etwas Entscheidendes. Erst die Entwicklungen des Mobilfunks konnte diese Dauervernetzung ermöglichen, was das Zentrale der

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letzten Phase bildet. Mit der Hybridisierung setzt eine doppelte Vernetzung ein, in der die vorangegangenen Entwicklungen zusammenlaufen. Deutlich sichtbar wird dies ab den 1980er Jahren, als der Mobilfunk, stationäre Computer mit kabelgebundenem Internetzugang zunehmend überflüssig werden lässt. Das Internet ist von nun an weniger an einen Ort gekoppelt – man geht nicht mehr ins Internet, man ist Teil davon –, sondern alltägliche Begleitung. Flatrates und mobiles Internet führen zu einer neuen Form des Zusammenwachsens von Medientechnologien und Subjekten. Aber auch die Apparaturen selbst tragen dazu bei. Bereits in der Erreichbarkeit verdeutlicht sich dies, es wird nicht mehr an Orten angerufen, sondern es werden Personen kontaktiert. Diese, entlang des Handys realisierte, ambivalente Flexibilität drückt sich aber auch zwischen Subjekten und Technologien aus. Spätestens mit dem Smartphone findet sich eine mobile und prothetische Alltagsbegleitung im Hosentaschenformat, die erst durch direktes Berühren – keine Mouse und kein Keyboard sind mehr nötig – und später durch Sprachbefehle gesteuert werden kann. Die Unterscheidung zwischen off- und online wird zunehmend brüchig. Dies spiegelt sich ebenfalls in der Beziehung von Körper und Technologie. Durch die gegenseitige Annäherung wird das Verhältnis zwischen Subjekten, materiellen (technologischen) Artefakten und den dahinterstehenden kulturellen Praktiken neu ausgehandelt und rekursiv. Zur Folge hat dies beispielsweise, dass auch Erwartungshaltungen generiert werden, immer erreichbar zu sein und informieren zu können sowie klug das Richtige aus einem stetig wachsenden Angebot möglicher Optionen zu wählen. Diese Vernetzung führt so zu neuen, oftmals undurchdringbaren, ambivalenten Anforderungen an die Subjekte, wie sie heute unter dem Begriff Digitalisierung diskutiert werden. Das Netzwerken avanciert dabei zu einer zentralen kulturellen Praxis – Kontakte wie Daten, Informationen wie Beziehungen und vieles mehr wollen klug und flexibel ge- oder verknüpft werden, um den Anschluss nicht zu verlieren. Das eigene, egozentrierte soziale Netzwerk will um des guten Lebens willen gepflegt und optimiert werden.

4 Regierungsformen des Netzwerks Für Bildung ergeben sich unter diesen Bedingungen neue und andere Herausforderungen. Es scheint beinahe, als wäre der emanzipatorische Grundgedanke althergebrachter Bildungsideale, eines regen In-Wechselwirkung-Tretens mit Welt unter den konturierten Entwicklungen vollkommen aufgegangen. Doch erweist sich dies, durch die an Subjekte gestellten und durch Subjektivierungsprozesse hervorgebrachten Anforderungen, als zu voreiliger Schluss. Denn die Individuen erleben

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kontingente Umwelten, die durch (technologisierte) Kultur das Zusammenleben organisieren, indem sie individualisieren und normalisieren – ein In-Wechselwirkung-Treten zur Erfordernis erheben. Dabei entstehen virtuelle Gemeinschaften (communities), „die durch keinen ›wirklichen‹ Raum beziehungsweise keine ›wirkliche‹ Zeit, sondern durch ein Netz kommunikativer Relais[…] verbunden sind“ (Rose 2015, S. 82). Im Folgenden geht es daher darum, vier Formen (Algorithmen, das Social Web, Smarte Technologien sowie Apps) einer Regierung des Netzwerks, als gegenwärtiger Ausprägung der bis hier grob konturierten Vernetzungsformen, zu skizzieren. Die eingenommene Perspektive betont die negativen Effekte, vergisst aber nicht, dass Subjektivierung unter den Prämissen einer hier konturierten Selbstund Fremdregierung in praxi immer zwischen Möglichkeiten einer ästhetischexistentiellen und einer disziplinären Lebensführung (Menke 2003, S. 285) changiert. Es geht also darum, aktuelle Machtverhältnisse als Regierungsformen zu konturieren, die für die gegenwärtige, global gewordene Welt zentrale Funktionsprinzipien sind, ihr Fortbestehen organisieren wie sichern. So können Rückschlüsse auf das angerufene Subjekt möglich, und Bedingungen von sowie Ansprüche an Bildung, Erziehung und Sozialisation sichtbar werden. Bei den zu skizzierenden Regierungsformen handelt es sich nicht um trennscharf voneinander abgrenzbare Phänomene, vielmehr gehen diese fließend ineinander über und sind mit Sicherheit nicht die einzig möglichen, wohl aber die zentralsten. Am Anfang stehen Algorithmen als Regierung einer instrumentellen Vernunft. Wie es in der hier bereits dargestellten Phase der Digitalisierung sichtbar wurde, bilden sie und das dahinterstehende Denken einen Grundpfeiler gegenwärtigen Umgangs mit den beständig wachsenden Datenmengen. Problematisch dabei ist, dass sie zunehmend in die Rolle eines Mythos im Verständnis Adornos und Horkheimers geraten. Auf ihre Funktionsmechanismen reduziert, wird rasch vergessen, dass sie von Menschen geschaffen und von Menschen genutzt werden. Sichtbar wird dies anhand der ihnen inhärenten Ambivalenz, einerseits notwendig zu sein und dadurch andererseits selbstverständlich zu werden. Die Subjekte verwenden sie, genießen ihren Komfort und schnell wird dabei übersehen, dass kaum jemand Zugriff auf ihre tatsächliche Beschaffenheit hat, ihr Funktionieren versteht, während ihr fehlerloses Arbeiten als bedingt genommen wird. Doch strukturieren und sortieren sie nicht nur Inhalte, sondern geben am Ende auch nur spezifische Ausschnitte zurück, wie es beispielsweise in der Diskussion um Filterbubbles oder Echokammern deutlich wird. Noch mehr, wenn anhand der Bildersuche auffällt, dass beispielsweise auch Algorithmen rassistisch geprägt sein können. Ihre Fähigkeit, Ranking- und Ratingsysteme erst hervorzubringen, führt dann dazu, dass davon auszugehen ist, „dass die Verbreitung und kulturelle Normalisierung solcher Techniken auch

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das Verhältnis der Menschen zu ihrem Selbst verändern werden“ (Mau 2017, S. 183). Da ein Sich-Entziehen mittlerweile unmöglich sein dürfte, wird es umso bedeutender, den Umgang mit ihnen zu kultivieren, ihre opaken Funktionsmechanismen zu reflektieren und in diesem Rahmen für sich zu nutzen. Das Social Web bildet die Regierung des Persönlichen. Bereits seine Entstehungsgeschichte verdeutlicht, dass es sich dabei um eine Verschmelzung, Ästhetisierung und Weiterentwicklung bereits vorhandener Dinge handelt. Als nie fertige Betaversionen übertragen die Applikationen des Social Webs ihre Funktionsmechanismen auch auf ihre Userinnen und User, die gerne als Prosumentinnen, Prosumer oder Produserinnen bezeichnet werden (kritisch hierzu: Fuchs 2014 & 2010, S. 192). Eine neue Wortschöpfung, die die ständige Arbeit am Profil, an den Netzwerkkontakten, an sich nur deutlich macht; als eine Arbeit für das Social Web, das auf Content, beispielsweise in Form biographischer Selbstthematisierungen, angewiesen bleibt. Das Selbst wird so zum Kalkulationspunkt virtueller Anerkennung innerhalb der eigenen community. Die subtilen Aufforderungen, es mit Inhalten zu füllen, erinnern gerne an Individualisierungs- und Aktivierungsstrategien kompetenzorientierten Unterrichtens. Ein sanftes „Du“ fordert die Userinnen und User zu gewinnbringenden Interaktionen. Verwehrt man sich, greift der subtile Druck den Anschluss zu verlieren als Fear of Missing out oder ähnlichem. Eng damit zusammen hängen Smarte Technologien als Regierung des Sammelns und der Gadgets. Vor allem in Smart Phones verbildlicht sich das Heranwachsen von Technologien an den menschlichen Körper. Mit den durch Berührungen oder Sprache steuerbaren Geräten schwinden vormalige Zwischenstufen wie etwa Computermäuse oder Tastaturen zunehmend. Sie liefern auch die Festplatte, den anfänglichen Speicherort, um jene geforderten Selbstthematisierungen festhalten zu können und die kommunikative Vernetzung ubiquitär voranzutreiben. So gesehen entsteht eine dauerhafte, aber mobile Vernetzung, welche die Subjekte sich als zentralen Knotenpunkt ihrer Umwelt(en) erleben lässt. Wie auch bei den anderen Regierungsformen zeigt sich die Ambivalenz darin, dass im Fall der Smartphones, diese als Gadgets (Baudrillard 2015, S. 163–167) immer auch ein Begehrnis1 sein können, das neue Begehrnisse erst hervorbringt.

1„Begehrnisse

sind solche Bedürfnisse, die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt, sondern gesteigert werden. Bedürfnisse im engeren Sinne, etwa zu trinken, zu schlafen oder sich vor der Kälte zu schützen, verschwinden in dem Moment, in dem sie gestillt werden. Das ist bei Begehrnissen anders[…]“ (Böhme 2016, S. 27).

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Dies manifestiert sich insbesondere in der letzten Regierungsform. Greift man den bereits angedeuteten Gedanken wieder auf, erweisen sich Apps als Regierung der Kulturprogramme. Es handelt sich dabei um kulturelle Skripte, die insbesondere daraufhin angelegt sind „Alltagsprobleme“ zu meistern. Innerhalb von Apps lassen sich gemeinhin vier Unterformen differenzieren, die der Vernetzung, der Individualisierung und Normierung, der körperlichen Performance sowie dem Konsumieren zutragen. Zusammenfassend zeigt sich, dass diese vier Formen insbesondere einer rekursiven Datenverarbeitung dienen. „Das Ich schrumpft zum Datenprofil seiner Einkäufe, Suchmaschineneingaben und körperlicher Parameter. Es ist kein standardisierter Ottonormalverbraucher mehr, sondern ein daily you, aus dessen Verhalten in Echtzeit die Empfehlungen errechnet werden, die sein künftiges Verhalten beeinflussen sollen“ (Bröckling 2017, S. 192). Damit erscheint die Problematik in aller Deutlichkeit: Es handelt sich um das Zusammenwachsen unternehmerischer wie instrumenteller Kräfte, die unter der Oberfläche agieren und sich bis in die Mikromechanismen einschreiben. An der Oberfläche kommen sie als sozial daher und bieten als notwendige Vernetzungsarrangements vermeintliche Freiheit, die aber wohl kalkuliert sein will und Tendenzen aufweist in ihr Gegenteil umzuschlagen.

5 Wi(e)derstehen? Aus dem hier nur grob Skizzierten wird deutlich, dass neue Umgangsformen zu entdecken und entwickeln sind – und zwar in zweierlei Hinsicht: auf methodischer und theoretischer Ebene ergeben sich durch die hier vorgeschlagene Perspektivierung neue Möglichkeiten einer Auseinandersetzung, die jenseits diametraler Positionierungen agieren und problemzentriert spezifische Formen der Subjektivierung herausarbeiten können. Was hier bildungstheoretisch als Aufdecken von Sozialisationsanforderungen und soziokultureller Rahmenverhältnisse für die Kritik fruchtbar gemacht wurde, lässt sich ebenso empirisch fortführen, um zu untersuchen, wie Subjektivierungsformen mit den dahinterstehenden Anrufungen in actu hervorgebracht und bewältigt werden oder scheitern (Bildung als Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse), um daraus andererseits für die pädagogische Praxis Erkenntnisse zu gewinnen, Handlungsempfehlungen abzuleiten, wenigstens Anforderungen aufzuzeigen oder Forderungen zu stellen. Denn – so lässt sich festhalten – das von diesen, hier skizzierten Mechanismen angerufene Subjekt soll eigenverantwortlicher Teil eines distribuierten, auf Optimierung und Wachstum ausgerichteten Netzwerks sein, und sich diesem

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permanent-vernetzend produktiv-unternehmerisch bekennen. Es steht also einer neoliberalen Subjektivierungsform gegenüber, die nicht nur für das Internet, sondern auch im Alltag gilt und darauf abzielt, funktionale, aber austauschbare und damit konkurrierende Kräfte zu produzieren. Um die zu Beginn aufgeworfene Überlegung nochmals heranzuziehen, bleibt dann fraglich, ob Bildung es richten soll. Vielmehr bleibt zu diskutieren, ob Bildung nicht auch widerstehen soll (oder gar müsste?) und es nicht notwendiger denn je ist, sich vor allem übereiligen Pessimismus oder aller Euphorie die Frage neu zu stellen. Zu fragen wäre dann: Was soll Bildung denn überhaupt richten sowie, weiter, kann und will Bildung es richten? Dies wäre vielleicht ein winziger, erster Schritt in Richtung sich ein bisschen weniger regieren zu lassen – aufbewahrt in der der Zuversicht, dass wenn etwas so sein soll, es deshalb noch lange nicht so sein muss.

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Decoding Subjects? Über Subjektivierung und Kreativität im algorithmischen Zeitalter Dan Verständig und Juliane Ahlborn

Zusammenfassung

Das digitale Zeitalter ist geprägt von Algorithmen, die zwar eine integrale Rolle für viele Prozesse des täglichen Lebens ausmachen, sich gleichzeitig jedoch der Sichtbarkeit entziehen. Damit wird nicht nur die Rolle von Algorithmen und ihren Implikationen für das Soziale diskutierbar, sondern auch jene nach den Subjektivierungsweisen in das Zentrum gerückt. Der Beitrag widmet sich diesem Problemfeld, indem er der Frage nachgeht, wie sich Subjektformationen vor dem Hintergrund von Algorithmen abzeichnen. Dabei wird ausgehend von einer kulturtheoretischen Standortbestimmung das Verhältnis von Mensch und Maschine entlang des Kreativitätsbegriffs verhandelt. Schlüsselwörter

Digitalität · Subjektivation · Algorithmen · Artikulation · Kreativität

D. Verständig (*) · J. Ahlborn  Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Ahlborn E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_5

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1 Einleitung „Works of art make rules; rules do not make works of art“ – Debussy

Wir leben in einer Welt des algorithmischen Sortierens und Entscheidens. Mathematische Modelle kuratieren unsere sozialen Beziehungen, beeinflussen politische Wahlen, produzieren audiovisuelle Kunstwerke und tragen in einigen Ländern sogar zur Entscheidung bei, ob man ins Gefängnis kommt oder nicht (Brennan et al. 2009; O’Neil 2016; Eubanks 2017). Aber wie viel wissen wir wirklich über Code, algorithmische Infrastrukturen und ihre kulturellen, sozialen Auswirkungen? Wie lassen sich Algorithmen im Zusammenhang von Subjektivierungs- und Bildungsprozessen denken? Der Beitrag widmet sich diesem Problemfeld und geht der Frage nach, wie sich Subjektformationen vor dem Hintergrund von Algorithmen abzeichnen. Dies geschieht in drei Schritten. Zunächst wird der Schwerpunkt auf Algorithmen und die kultur- und bildungstheoretischen Implikationen gelegt. Anschließend wird eine subjekttheoretische Standortbestimmung vorgenommen, um diese im nächsten Schritt ins Verhältnis zu algorithmischen Strukturen zu setzen. Dabei stellt das Konzept der Kreativität einen für uns geeigneten Rahmen dar, um die Subjekt-Objekt-Dialektik des Gegenstands zu überwinden und auf die Herausforderungen hinsichtlich der Subjektkonzeption hinzuweisen. Kreativität ist insofern geeignet, als dass es als subjektkonstitutives Merkmal gedacht werden kann und gleichzeitig, vor dem Hintergrund von Künstlicher Intelligenz (KI), hinsichtlich der besonderen Qualität für den Menschen befragt werden kann. Darüber hinaus dient eine solche Perspektivsetzung der gegenstandsbezogenen Eingrenzung. Wir widmen uns dementsprechend auch spezifischen Formen der Algorithmen und ihrer kontextuellen Einbettung. Es geht uns dabei vor allem darum, zu diskutieren, inwiefern Kreativität eine dem Menschen reservierte Eigenschaft einerseits ist und wie sich kreative Praktiken im Zusammenspiel mit Algorithmen andererseits beschreiben lassen.

2 Algorithmen, Kultur und Kritik In einer Kultur der Digitalität (vgl. Stalder 2016) nehmen Algorithmen und automatisierte Systeme einen integralen Stellenwert ein. Ihre Programmierung veranlasst die Selektion, die Kombination, die Archivierung wie auch Dokumentierung

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und darin die Prozessierung von permanent neu entstehenden Datenflüssen, die zur Konstruktion von Realitäten beitragen. Algorithmen prozessieren die unüberschaubaren Daten und Informationsmengen in Dimensionen und Formate, welche durch die menschliche Wahrnehmung überhaupt erfasst werden können. Seien es Navigationsdienste, Karten, Suchergebnisse oder individuelle Social Streams – ohne Algorithmen sind wir nicht mehr in der Lage, die großen Datenmengen überhaupt zu strukturieren und uns in der digitalen Welt zu orientieren. Gleichzeitig bringen die Algorithmen und ihre digital vernetzten Architekturen im Zusammenspiel mit menschlichen Interaktionen erst diese Datenmengen hervor. Daraus ergibt sich eine komplexe Verflechtung von sozialen Praktiken und technologischen Entwicklungen, die sich durch eine hohe Ambivalenz auszeichnet, denn einerseits werden durch die Produktion, Verarbeitung und Repräsentation von Daten (neue) Möglichkeiten geschaffen, sich dazu ins Verhältnis zu setzen und andererseits erzeugt diese Entwicklung, insbesondere im Umgang mit Wissen, Abhängigkeiten, die sich diametral gegenüber der Herstellung von Autonomie verorten lassen. Algorithmen haben, so Roberge und Seyfert (2017), ihre Logik „in die Struktur aller sozialen Prozesse, Interaktionen und Erfahrungen eingewoben, deren Entfaltung von der Rechenleistung abhängig ist“ (ebd., S. 7). Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Algorithmuskulturen, die sich nicht nur durch dadurch auszeichnen, dass sie tief in soziale und gesellschaftliche Strukturen eingelassen und damit bedeutsam, sondern gleichzeitig eben auch performativ sind und vice versa. Erst durch dieses doppelte Wechselverhältnis ist eine Kultursoziologie der Algorithmen möglich (vgl. ebd., S. 12 f.). Damit ergeben sich Fragen nach dem epistemischen Charakter und der Komplexität algorithmischer Strukturen insofern, als dass es sich hierbei einerseits um Bekanntes also formalisiert bzw. regelgeleitet festgeschriebene Zusammenhänge handelt und gleichzeitig daraus Kontingenz hervorgeht, die eben nicht auf Bekanntes zu reduzieren ist, Unbekanntes adressiert und damit womöglich erst neue Bedeutungszuweisungen und Wahrnehmungsweisen zulässt. Reckwitz (2017) formuliert diese Entwicklungen um einen gesellschaftstheoretischen Entwurf, bei dem das Internet als allgemeine Infrastruktur eine zentrale Bedeutung im Wandel hin zu einer Kulturalisierung und Singularisierung beigemessen wird: „Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wechselt die avancierteste Technologie der Epoche nun jedoch gewissermaßen die Seite und verkehrt sich von einem Transformationsriemen der Rationalisierung in einen der Kulturalisierung. Von einem Motor der Standardisierung in einen der Singularisierung“ (ebd., S. 228).

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In diesem Zusammenhang ist die soziologische Doppelläufigkeit bei Reckwitz von einiger Bedeutung, denn die Singularisierung und Ausprägung des Individuellen ist nicht mit einer Loskopplung von gesellschaftlichen Strukturen zu verwechseln. Die Ausprägung von Singularitäten, das Streben nach dem Besonderen, der Drang nach Individualität und die Wege der Selbstentfaltung liegen innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und sind stets von diesen bedingt. Die digitalen Technologien nehmen dabei aufgrund ihrer binären Logik den Stellenwert einer allgemeinen Infrastruktur „zur Fabrikation von Singularitäten“ an (ebd., S. 229). Ausgehend von der Moderne, die aus diesem Blickwinkel zunächst als formaler Prozess der Rationalisierung zu verstehen ist, entstehen geleitet vom Telos der Optimierung soziale, politische und wirtschaftliche Konfigurationen sowie Regeln der Berechenbarkeit und Durchsichtigkeit. Dabei fasst Reckwitz den Prozess der Rationalisierung jedoch tiefgreifender und weitreichender als bisherige soziologische Ansätze, indem er auf die soziale Logik des Allgemeinen abstellt, die aus den vielfältigen Praktiken hervorgeht. Es handelt sich praxeologisch gesehen um eine „Allgemeinisierung“, ein „doing generality“, dass vier miteinander verbundene Komplexe sozialer Praktiken beschreibt, die zueinander in einem empirisch offenen Verhältnis stehen: „Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung“ (ebd., S. 29). Mit dem „doing generality“ der Moderne wird deutlich, dass die Denkwürdigkeiten und Tätigkeiten der Menschen um „Objekte und Dinge, menschliche Subjekte, Kollektive, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten“ kreisen und sich existentiell und kulturell manifestieren und polarisieren (ebd., S. 37). Gegenüber der Logik des Allgemeinen, die mit Prozessen gesellschaftlicher Rationalisierung und Versachlichung begründet wird, verortet Reckwitz die Logik des Singulären, die mit Prozessen gesellschaftlicher Kulturalisierung und Affektintensivierung verknüpft ist (ebd., S. 17 f.). Wenngleich hier nicht umfassend auf die Differenzierung und das Verhältnis von Kulturalisierung und Kultur eingegangen werden kann, bleibt festzuhalten, dass der Kulturbegriff, hier die Grundlage und Bedingung zugleich für die Hervorbringung von Singularitäten ist: „Kultur setzt sich in ihrem Zentrum aus Singularitäten zusammen. Jene Einheiten des Sozialen, die als einzigartig anerkannt werden – die singulären Objekte und Subjekte, die singulären Orte, Ereignisse und Kollektive-, bilden gemeinsam mit den zugehörigen Praktiken des Beobachtens und Bewertens, des Hervorbringens und Aneignens die Kultursphäre einer Gesellschaft. Die Logik des Besonderen gehört zur Kultur wie die Logik des Allgemeinen zur formalen Rationalität“ (Reckwitz 2017, S. 75).

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Kulturelle und maschinelle Singularisierungsprozesse werden von Reckwitz vor dem Hintergrund der digitalen Technologien, genauer der Netztechnologien diskutiert, bei denen auch Netzwerkprotokolle zwar angedeutet, jedoch nicht ins Zentrum gestellt werden. Die Singularisierung wird exemplarisch an den Ausformungen des Facebook Newsfeeds und der Art, wie Google Suchergebnisse darstellt, diskutiert (vgl. ebd., S. 256 f.). Demnach sehen sich die Menschen einer individuellen und auf sie zugeschnittenen Umwelt gegenüber, die eigene Wünsche und Interessen im Sinne der Personalisierung adressiere. Die Repräsentation von Suchergebnissen ist auch bei Stalder (2016) ein zentraler Untersuchungsgegenstand, wenn es um die steigende Bedeutung von Algorithmen – genauer gesagt der Algorithmizität – geht. Diese wird darin begründet, dass die Bedeutung sich darin beschreiben lässt, dass „dynamische Ordnungen für sich rasch wandelnde Felder“ möglich werden (ebd., S. 185). Algorithmen werden dabei insofern praxeologisch gefasst, als es keine statischen Rechenprozesse sind, sondern eher algorithmische Praktiken, die aufgrund der Gewohnheitsanalyse die Welt „für jeden User eigens generier[t]“ (ebd., S. 189). Algorithmen stellen damit eine wesentliche Grundlage für die Hervorbringung der digitalen Räume und gemeinschaftlicher Referentialität dar. Gleichzeitig sind die Prinzipien und Mechanismen, wie dies erfolgt für die User weitestgehend undurchsichtig und im „besten Fall nur ansatzweise nachvollziehbar“ (ebd., S. 202). Auch Allert und Asmussen (2017) konstatieren, dass wir uns mit komplexen Algorithmen von der Vorstellung verabschieden müssen, dass digitale Objekte in unseren Aktivitäten ein Gegenüber darstellen, zu dem wir uns autonom verhalten und das wir bestimmen können (ebd., S. 34). Ein Komplexitätzuwachs ergibt sich nicht nur aus dem Zusammenspiel verschiedener Algorithmen, sondern schon aus dem Design der Algorithmen selbst. Je besser das Design, desto unsichtbarer werden algorithmische Systeme im Alltag und lebensweltlichen Vollzug. Damit wird eine Figuration angesprochen, die sich in medienwissenschaftlichen Betrachtungen längst etabliert hat: Medien sind sozusagen der „blinde Fleck im Mediengebrauch“ (Krämer 1998, S. 74). Maßgeblichen Einfluss auf die Analyse von Gewohnheiten und Auswertung von großen Datenmengen haben hier vor allem lernende Algorithmen, die sich dem Gegenstandsbereich der Künstlichen Intelligenz zuordnen lassen. Das Feld der KI ist dabei zwar kein Neues, so gibt es bereits seit den 1950er Jahren Forschung zu KI, doch es erfährt in den letzten Jahren, bedingt durch den Anstieg der Rechenleistung und die Durchbrüche im Teilgebiet des Deep Learnings, gesteigerte Aufmerksamkeit und wird damit nicht nur in der Informatik und angrenzenden Disziplinen verstärkt diskutiert, sondern aufgrund der

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­ ntwicklungen auch für die Philosophie, Politik-, Erziehungs- und KulturwissenE schaft relevant. Uns geht es an dieser Stelle weniger um die anthropologischen Konsequenzen des Intelligenzbegriffs (vgl. hierzu Sesink 1993, 2012), sondern vielmehr um die Automatisierungspotenziale, die sich im Zusammenhang mit künstlerischkreativen Praktiken ergeben und sich damit auf die Konzeption von Subjektivität auswirken. Dementsprechend wollen wir auf den Annahmen von Stalder (2016) und Reckwitz (2017) aufbauenden Überlegungen nicht die kommerziellpolitischen Aspekte von Algorithmen fokussieren, sondern den Blick auf den kreativen Umgang mit algorithmischen Artefakten richten. Algorithmen werden so gesehen nicht bloß als utilitaristische Hilfsmittel oder Werkzeuge verstanden, sondern hinsichtlich ihrer Performativität hinterfragt. Schließlich sind Algorithmen in Bezug auf ihre strukturelle Beschaffenheit von besonderer Bedeutung, da sie ausgehend vom Text als Programmcode immer auf einer Hardware ausgeführt werden und sich hieraus verschiedene Konsequenzen für die Qualität des Textes selbst ergeben. Chun (2011) beschreibt hier eindrücklich den Prozess der Ausführung (execution) von Programmcode, der in Maschinensprache übersetzt wird und damit erst zu einer Ressource wird, wenn der geschriebene Quellcode übersetzt und damit aufgelöst wird. Programmcode ist damit von einer gewissen Performativität geprägt, die dann auch subjektivierungstheoretisch relevant wird. In Anlehnung an die Begründung der Sprechakttheorie nach Austin (2009) ist Performativität eben nicht nur als die Beschreibung von Dingen, sondern kann vielmehr als besondere Kategorie sprachlicher Äußerungen, der Sprachhandlung gefasst werden. Das gesprochene Wort symbolisiert somit, über den spezifischen Bezug hinaus, eine größere gesellschaftliche Tragweite. Der/die Sprecher/in handelt, indem er durch das Wort eine gesellschaftliche Konvention geltend macht. Ausgehend von der Sprechakttheorie entwickelt Arns (2007) die Überlegungen, dass dem Code die Qualität eines illokutionären Sprechakts zugesprochen werden könne, indem Handlungen durch die Kraft der Worte ausgeführt werden. Dabei macht Arns unter Rückbezug auf Butler (1998, S. 31) darauf aufmerksam, dass eine geglückte performative Äußerung eben nicht durch die Ausführung definiert sei, sondern damit eine bestimmte Kette von Effekten auslöse: „Programmiercodes machen, ganz pragmatisch betrachtet, nur als geglückte performative Äußerungen Sinn; lösen sie keine Effekte aus (egal, ob diese erwünscht oder unerwünscht sind), sind sie nicht ausführbar, sind sie schlicht und ergreifend überflüssig. Code macht im Kontext von funktional-pragmatischer Software nur als ausführbarer Code Sinn“ (Arns 2007).

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Es geht dann auch nicht mehr nur um die Frage danach, was Algorithmen kulturell hervorbringen. Für eine subjekt- und damit bildungstheoretisch anschlussfähige Position ergibt sich hier die Frage, wie sich der Mensch einerseits zur Algorithmizität verhält und wie er sich andererseits in der Lesart der Algorithmuskulturen überhaupt verorten kann. Um dem nachzugehen scheint es jedoch zunächst hilfreich, die subjekttheoretischen Bezüge deutlich zu machen.

3 Subjektivation und Kreativität Der Subjektbegriff befindet sich im Schnittfeld zahlreicher Theoriediskurse, sodass die Selbstdeutung des Menschen als Subjekt in vielfältiger Hinsicht problematisch geworden ist (vgl. Ricken 2019, S. 98). Der Begriff zeichnet sich durch eine Doppeldeutigkeit aus, da er einerseits auf ein spezifisches Verhältnis zu sich selbst abstellt und andererseits darauf verweist, dass sich das Subjekt stets selbst zugrunde liegt, „d. h. vor allem aber auch, von anderen für das eigene haftbar und zum Urheber gemacht zu werden“ (Ricken 2015, S. 202), also auf diese Art und Weise zu einem „sozial als autonom anerkannten“ Subjekt zu werden (Reckwitz 2017, S. 126). Daraus ergibt sich ein Konflikt zwischen innerer und äußerer Ordnung, die sich auch im Sinne Butlers (2001, S. 8 f.) als ein paradoxales Verhältnis aus Unterwerfung und der (erst) daraus hervorgehenden Herstellung Autonomie beschreiben lässt. Subjektivation zeichnet sich in Anlehnung an Reckwitz (2017) durch drei zentrale Merkmale aus: Gesellschaftlichkeit, Prozesshaftigkeit und Körperlichkeit. Subjektivation kann daher als ein offener Prozess der Wiederholung und Veränderung durch Praktiken des Individuums mit und durch körperliche Aktivitäten im weitesten Sinne verstanden werden. Soziale, kulturelle sowie politische und historische Implikationen spielen dabei eine konstitutive Rolle. Indem sich das Individuum diesen Bedingungen gewissermaßen unterwirft, wird es zu einem „mit Interessen, Reflexivität, Selbstverwirklichungswunsch etc. ausgestatteten“ Subjekt (ebd., S. 126). Durch soziale und kulturelle Praktiken, durch die sich das Subjekt immer wieder neu hervorbringt, findet immer auch eine Explikation menschlicher Erfahrung statt, in der „die implizit-qualitative Gestalt gelebter Erfahrung in die explizit-semantische Gestalt eines prägnanten Symbolismus überführt wird“ (Jung 2005, S. 105). Diese Explikation wird als Artikulationsprozess begriffen, der mit einer spezifischen Formgebung verbunden ist, die wiederum „ein reflexives Potential enthält, insofern die Äußerung von Erfahrungen zugleich eine Entäußerung impliziert, und damit ein Moment der Distanzierung beinhaltet“

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(Jörissen und Marotzki 2008, S. 103). Die mediale Strukturiertheit nimmt daher beim “Aufbau von Selbst- und Weltverhältnissen […] eine maßgebliche Rolle“ (Jörissen 2014, S. 505) ein. „Wer sich artikuliert, deutet seine qualitative Erfahrung, indem er sie […] zur Sprache, zum Bild, zur Musik oder wozu auch immer bringt“ (Jung 2005, S. 126). Folglich finden menschliche Artikulationsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen statt – „nicht nur auf der reflexiv-sprachlichen, sondern ebenso in medialen und ästhetischen Ausdrucksformen“ (Jörissen 2011, S. 225). Durch soziokulturelle sowie sozio-technische Entwicklungen gerät das Subjekt jedoch verstärkt unter Druck, sich kontinuierlich neu hervorzubringen, sich kreativ zu artikulieren und das eigene Leben zu gestalten. Kreativität und ‚kreativ sein‘ – als eine grundlegende „Eigenschaft menschlichen Handelns“ (Stubbe et al. 2019, S. 256) – ist „nicht mehr in erster Linie die Domäne von ausgewählten künstlerischen Berufen oder von kleinen Kindern. Es ist vielmehr eine Anforderung an uns alle, ein […] durchgestaltetes Leben zu führen“ (Volland 2018, S. 86). Das Subjekt befindet sich daher in einem andauernden Dilemma, sich kreativ ausdrücken zu wollen (Kreativitätswunsch) und sich kreativ ausdrücken zu müssen (Kreativitätsimperativ) (vgl. Reckwitz 2013). Denn die „Erschaffung des Neuen […] ist zum geradezu verpflichtenden Programm alltäglich handelnder Menschen geworden“ (Bilstein 2014, S. 499). Reckwitz (2013) spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Kreativitätsdispositiv. Der Kreativitätsbegriff stellt in dieser Hinsicht also „weniger auf das Herstellen von Dingen“ (ebd., S. 24) als vielmehr „auf die Gestaltung des Individuums selber“ (ebd.) ab. Kreativität ist unter diesen Voraussetzungen zunehmend „mit einem Differenz- und Distinktionszwang verbunden“ (ebd., S. 29), sodass das Individuum immer die Verantwortung für ungenügende Ausschöpfung des eigenen kreativen Potenzials übernehmen muss. Während Reckwitz hier auf das Individuum fokussiert, scheint es an dieser Stelle hilfreich, auf die starke Differenz von Subjekt und Individuum, wie es Butler formuliert hat, hinzuweisen. Demnach werde das Subjekt „[…] als sprachliche Kategorie […], als in Formierung begriffene Struktur“ begriffen und demgegenüber wird das Individuum als Ort des Subjekts verstanden (Butler 2001, S. 15). Das Subjekt ist „die sprachliche Gelegenheit Verständlichkeit zu gewinnen, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit“ (ebd.). Demnach ist die Konstituierung des Subjekts bei Butler stets als unabgeschlossener Prozess zu fassen. Vor dem Hintergrund kreativer und algorithmischer Praktiken ergeben sich somit weitere Bezugspunkte, die den Möglichkeitsraum des Subjekts um eben jene äußeren und inneren Bedingungen

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erweitern. Die kreative (Selbst-)Expression wird dabei nicht nur auf die Bedingungen der Sprache reduziert, sondern umfasst nach unserem Verständnis zunächst einen medialen Artikulationsraum, der den heterogenen Praktiken im Horizont digitaler Medialität einerseits Rechnung trägt und diese andererseits um algorithmische Verflechtungen zugleich erweitert. Angesichts der eingangs skizzierten tiefen Eingelassenheit von Algorithmen in nahezu alle lebensweltliche Bereiche einerseits und den technischen Fortschritten der automatisierten Systeme andererseits, scheinen sich die Bedingungen für Artikulation sowie Kreativität – abseits von rationalem und normorientiertem Handeln (vgl. Stubbe et al. 2019, S. 256) – und daran anknüpfend für die Selbstauslegung bzw. die Hervorbringung des Subjekts zu wandeln. Dies gilt dann nicht nur für die dem Subjekt zugeschriebene Kreativität, sondern lässt sich schließlich auch entlang der algorithmischen Systeme selbst diskutieren.

4 Künstliche Kreativität als interdisziplinärer Bezugspunkt Kreativität und künstlerischer Ausdruck werden durch diese Form des technischen Fortschritts relativiert, da die Hervorbringung von kreativ-künstlerischen Erzeugnissen nicht mehr länger nur dem Menschen als Kulturwesen obliegt. „The new ideas of machine learning challenge many of the traditional arguments that machines can never be creative […] such learning introduces new insights into the creative process of human artists“ (Du Sautoy 2019, S. 280). Kreativität und die Gestaltung des Singulären, Einzigartigen werden scheinbar zunehmend kalkulierbar und reproduzierbar, sodass sich die Rolle des Menschen relativiert. Auf diese Weise scheint das Subjekt seine einzigartige Stellung in der Hervorbringung des Neuen zu verlieren und das Besondere wird mehr und mehr zum Allgemeinen. Dass vermehrt Versuche unternommen werden, kreative Prozesse von Maschinen bzw. automatisierten Systemen übernehmen zu lassen, scheint – mit Blick auf gesellschaftliche Erwartungen hinsichtlich der Erschaffung und Gestaltung des Neuen einerseits und die permanente Weiterentwicklung vermeintlich intelligenter Algorithmen andererseits – eine logische Konsequenz zu sein: „With regard to machines, in the field of artificial intelligence, computing and robotics, there is a considerable amount of work on computational creativity, which seeks to model and replicate human creativity in a computer“ (Coeckelbergh 2017, S. 289).

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Hier stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, inwiefern menschliche kognitive, kreative Prozesse abstrahierbar und modellierbar gemacht werden können. Wenngleich diese Frage ungeklärt im Raum steht, gibt es bereits einer Vielzahl unterschiedlicher Bereiche, in denen „kreative Algorithmen“, wie sie Stubbe et al. (2019) bezeichnen zum Einsatz kommen. So werden sie etwa im musischen Bereich bei der Komposition neuer Musikstücke eingesetzt, im sprachlichen Bereich für das Schreiben von prosaischen Texten, Gedichten oder Drehbüchern sowie im Bereich der bildenden Künste für die Gestaltung neuartiger Kunstwerke. Wenn ein System dazu imstande ist, ein Musikstück, Bild, Text o. ä. in einem bestimmten Stil nachzuahmen bzw. zu erzeugen, dann wird es dies in unbegrenzter Art und Weise wiederholen können: „Computers can produce many more and varied versions of an image through parameterization, randomizing tools, and other generative processes than can nondigital photography or prints, but the theoretical principle of the multiple still applies“ (Mazzone und Elgammal 2019, S. 7).

Programme sind im Vergleich zum Menschen weniger durch geistige, zeitliche oder finanzielle Ressourcen limitiert. Dies gilt nicht nur für den musisch-künstlerischen Bereich, sondern im Grunde für jeden Bereich, in dem solche (selbst-) lernenden Systeme zum Einsatz kommen (können). „Die intelligenten Werkzeuge und ihre kreative Künstliche Intelligenz können uns scheinbar zu märchenhaften Universalkünstlern machen“ (Volland 2018, S. 88). Wenn Menschsein auch bedeutet, technologisch zu sein, dann könnte eine derartige Tendenz gen Maschinenkunst als ein sehr menschlicher Ausdruck oder eine Erweiterung angesehen werden: „not the expression of only one human individual perhaps, but an expression and extension of our technohumanity“ (Coeckelbergh 2017, S. 298). Damit lässt sich an die zuvor dargestellten Entwicklungen bei Stalder (2016) und Reckwitz (2017) anknüpfen, denn die Berechenbarkeit künstlerischer Expression ist auch kunsthistorisch kein neues Phänomen, wie sich am goldenen Schnitt oder der perspektivischen Darstellung verdeutlichen lässt. Versteht man diese Entwicklungen in praxeologischer Perspektive, dann erfahren die Werkzeuge eine neue Form der digitalen Materialität, denn neben dem Pinsel, dem Modellierdraht oder dem Fäustel erweitern eben auch Programmiersprachen, Code-Repositorien, mathematische Formeln und digitale Praktiken nun dieses Spektrum des künstlerischen Ausdrucks im Schnittfeld von Mensch und Maschine. Diese Konfiguration birgt

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einige Potenziale für Innovation, sie bringt jedoch nicht zwangsläufig etwas grundlegend Neues hervor: „However, the paintbrush does not have the capacity to change, it does not make decisions based on past painting experiences, and it is not trained to learn from data. Algorithms contain all of those possibilities“ (Mazzone und Elgammal 2019, S. 8).

Kreativität ist in dieser Lesart eine hybride Form der Expression, bei der, im Sinne McLuhans (1964), Algorithmen und digitale Technologien die Erweiterung des Menschen und dessen Sinne darstellen. Es handelt sich demnach um eine Kombination von explorativer und mit Algorithmen kombinierter Kreativität, die auf dem Menschen beruht: „Many will concede that exploratory creativity and combined creativity can be achieved by an algorithm, because it relies on previous creativity by humans which it then extends or combines“ (Du Sautoy 2019, S. 280).

Hinsichtlich von Subjektivierungsprozessen ist genau diese Verwobenheit von gesteigerter Bedeutung, denn es geht dann weniger darum, ob Algorithmen autonome oder nichtmenschliche Akteure sind, sondern um die Frage, wie der Mensch ein algorithmisches System und damit ein abstraktes Modell schafft, in dem Ideen, Befehle und Anweisungen implementiert und wie diese dann ausgeführt, verarbeitet und dargestellt werden. In diesem Prozess des Schaffens liegt die paradoxale Doppelstruktur von Unterwerfung und gleichzeitiger Ermächtigung. Man unterwirft sich den Regeln der Technologie, um genau mit diesen Regeln zu spielen, Leerstellen zu definieren und sinnhaft neu zu belegen. Hierin lassen sich zugleich Beschreibungen und Antworten nach den Lern- und Bildungspotenzialen im Umgang mit Unbestimmtheit ableiten (vgl. Verständig 2017, S. 151). Subjektivierungs- und bildungstheoretisch ist dieses Verhältnis eben nicht pauschal auf den medialen Gebrauch zu reduzieren, da die digitalen Technologien den digitalen Medien gewissermaßen vorausgehen. Das, was „in medialen Prozessen zur Erscheinung kommt – was sichtbar, hörbar, lesbar etc. wird, sind Zeichen, nicht Medien selbst“ (Jörissen 2016, S. 68). Algorithmische Praktiken weisen zwar grundlegende Gemeinsamkeiten mit medialen Praktiken auf, jedoch erscheint gerade die Performativität von Programmcode hier ein zentrales Distinktionskriterium, weshalb wir uns diesem Verhältnis genauer widmen wollen.

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5 Von der medialen zur algorithmischen Artikulation? Versteht man den Prozess der medialen Artikulation, wie zuvor schon dargestellt, als qualitativen Akt der Deutung von Erfahrungen, die „zur Sprache, zum Bild, zur Musik oder wozu auch immer“ gebracht werden (Jung 2005, S. 126), dann wird dieser Prozess einerseits als Sinndeutung, andererseits jedoch als Hervorbringung von Sichtbarkeiten interpretierbar, der durch seine mediale Beschaffenheit beeinflusst wird und damit auch Ordnungsstrukturen herstellt. In diesem Zusammenhang kann schließlich nicht pauschal von medialen Strukturen gesprochen werden. Vielmehr beschreiben die Strukturdifferenzen, die sich in den jeweiligen medialen Artikulations- und Sozialformen niederschlagen spezifische Möglichkeitsräume der Artikulation. Erst diese Verflechtungen bringt Medialität in ihrer bestimmten Beschaffenheit und damit spezifische Wahrnehmungsweisen hervor. Im Kontext des Digitalen erlangt die Medialität von Artikulation eine neue Qualität, da „mithilfe digitaler Technik jede mögliche (und letztlich auch unmögliche) Materialeigenschaft dargestellt werden [kann] – mit Ausnahme der einen Eigenschaft, Material zu sein“ (Jörissen 2014, S. 506). Insbesondere – wenn auch nicht nur – in kreativ-künstlerischen Auseinandersetzungen wird dieses Spannungsverhältnis von medialen Strukturen einerseits und materiellen Eigenschaften andererseits vergegenständlicht. Das Digitale stellt in dieser Hinsicht nicht nur einen weiteren Medienwechsel dar. Vielmehr werden mediale Strukturen dadurch grundlegend transformiert, indem „erstens Medialität selbst de- und rekonstruiert, zweitens sich als fluides Software-Netzwerk universal und global ausbreitet“ (ebd., S. 511, H. i. O.). In einer solchen Lesart, geht es in der „digitalen Kultur“ oder nach Stalder einer Kultur der Digitalität vor allem auch um partizipative Gehalte, um die Mitgestaltung und das Ausloten von Grenzen. Nun könnte man das Argument anführen, dass algorithmische Artikulation im Grunde durch mediale Artikulation schon erfasst ist, da es sich hier um ein Wechselverhältnis von Expression und medialer Formgebung handelt. Dies würde jedoch der besonderen Qualität des Textes von Programmcode nicht gerecht werden, da sie die De- und Rekonstruktion innerhalb eines universalen oder nach Reckwitz (2017) einer allgemeinen Infrastruktur berühren. Somit werden nicht nur bisher etablierte Ordnungsstrukturen transformiert, sondern neue Ordnungen des Digitalen erst hervorgebracht. Gegenüber medialer Artikulation zeichnen sich algorithmische Artikulationsformen also insofern durch andere, neue strukturelle Merkmale aus, indem sie einerseits in ihrer Strukturiertheit bedingt durch die Materialitäten, die

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sie hervorbringen können sowie andererseits in ihrer Ausführbarkeit und damit hinsichtlich ihrer Performativität charakterisiert sind. Algorithmische Artikulation lässt sich grundlegend hinsichtlich ihrer Dynamisierung, Performativität und Intransparenz charakterisieren. Diese besondere Beschaffenheit lässt sich durch die Dynamisierungstendenzen im Hinblick auf die Automatisierung von Prozessen auf ganz unterschiedlichen Ebenen beschreiben. Stalder (2016) bezieht sich dabei auf Botnetzwerke, Algorithmen, die Essays von Studierenden auswerten und benoten können und damit die Grenzen zwischen dem, was als kreativ und mechanisch verstanden werden können, verschiebt sich (Stalder 2016, S. 175 f.). Es handelt sich dabei eben nicht mehr nur um „einfache Abfolgen von statischen Instruktionen“ (ebd., S. 177), sondern vielmehr um hochdynamische und adaptive Systeme, „die sich halbautomatisch und auf der Grundlage von Feedback selbst verändern und bessern können“ (ebd.). Das bedeutet, dass solche Algorithmen direkt auf ihre Umwelt reagieren. Dabei wird kein definierter Output festgelegt, „sondern Regeln, nach denen der Algorithmus lernen soll, ein bestimmtes Ziel zu erreichen“ (ebd., S. 179). Diese Algorithmen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Intransparenz aus. Sichtbar wird nur der wahrnehmbare Output (sofern es einen gibt), die inneren Prozesse entziehen sich dabei jedoch nicht nur der menschlichen Wahrnehmung, sondern auch dessen Nachvollziehbarkeit (vgl. ebd.). Der Umgang mit algorithmischen Strukturen erfordert demnach nicht nur ein spezifisches Expertenwissen, er verweist zugleich auch auf besondere Formen der Subjektivierung, denn es werden im Umgang mit digitalen Technologien und Algorithmen selbst nicht nur Fragen von Autonomie und Freiheit adressiert, sondern auch jene von Kontrolle und Souveränität explizierbar. Fasst man das Programmieren selbst als performativen Akt, dann stellt sich in Anlehnung an Cox und McLean (2013, S. 85) die Frage danach, ob bzw. in welchem Maße man selbst programmiert oder programmiert wird. Die Maschine erwartet Befehle und gleichzeitig ist ein bestimmter Rahmen des Ausdrucks durch Anweisungen vorgegeben. Damit gibt die Maschine ganz direkt Befehle und Ausführungslogiken vor, die dann (re-)strukturiert werden, um eine spezifische Ordnung abzubilden. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig mit der Herstellung von Ordnungen oder der Durchkreuzung bestehender Ordnungen gleichzusetzen, sondern stellt zunächst eine Reproduktion bestehender Ordnungssysteme dar. Insbesondere in kreativen Aushandlungen wird jedoch die Durchkreuzung bestehender Ordnungen explizit adressiert. Deutlich wird die darin liegende Komplexität am Beispiel der General Adversarial Networks (GAN) bzw.

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erzeugende gegnerische Netzwerke, die erstmals 2014 vorgestellt wurden (vgl. Goodfellow et al. 2014). Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Algorithmen im Bereich des Machine Learnings, die sich dem unüberwachten Lernen zuordnen (vgl. Hinton und Sejnowski 1999) und sich wie folgt beschreiben lassen: „The machine is trained between two opposing forces — one that urges the machine to follow the aesthetics of the art it is shown (minimizing deviation from art distribution), while the other force penalizes the machine if it emulates an already established style (maximizing style ambiguity)“ (Mazzone und Elgammal 2019, S. 3).

Die zwei gegenläufigen neuronalen Netzwerke (Generator und Diskriminator) werden in erster Linie zur Mustererkennung und der Herstellung sowie Bearbeitung fotorealistischer Bilder eingesetzt. Die Modellierung von GANs erfreut sich damit auch in künstlerisch-kreativen Kontexten großer Beliebtheit, da hier nicht nur eine verhältnismäßig ressourcenfreundliche Reproduktion, sondern die Herstellung neuer Zusammenhänge schafft, die nicht auf bestehenden Regeln basieren, sondern eigene Regeln dazu definieren. Dabei werden die angeführte Intransparenz sowie die zugrundeliegenden unbestimmten, algorithmischen Strukturen auf eine neue Ebene gehoben. Es geht schließlich nicht mehr nur darum, Regeln und Abläufe festzulegen, es wird lediglich ein Rahmen über das Framework von GANs definiert, der dann eigene Regeln auf Basis des algorithmischen Nullsummenspiels von Generator und Diskriminator beschreibt. Wenngleich es bei den Bestrebungen Algorithmen in kreativ-künstlerischen Szenarien zum Einsatz zu bringen nicht in erster Linie um eine Erweiterung menschlichen Ausdrucks geht, sondern vor allem um eine Erprobung (kreativer) Möglichkeiten künstlicher Intelligenz (vgl. Du Sautoy 2019, S. 282), zeigt sich anhand kreativ-künstlerischer Prozesse sehr deutlich, dass sie künstlerisches Arbeiten nicht nur imitieren, sondern auch eigene kreative Techniken entwickeln können: „The generative algorithm always produces images that surprise the viewer and even the artist who presides over the process“ (dies., S. 2). Derartige kreative Prozesse lassen sich als ein kooperatives Verhältnis von Mensch und Maschine begreifen, wobei „die Trennung von Werkzeug, Werkprozess und Werk aufgelöst“ wird (Jörissen 2014, S. 507). Der Mensch setzt sich nicht mehr nur zu sich selbst und der Welt in ein Verhältnis, sondern zunehmend auch zu algorithmischen Prozessen. Dies ist insofern von Bedeutung, da sich Algorithmen zunächst der Sichtbarkeit entziehen. Da sich diese jedoch durch ein hohes Maß der Unbestimmtheit auszeichnet, wird das Subjekt

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zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, sich angesichts dieser intransparenten, unbestimmten (bzw. unbestimmbaren) Strukturen Orientierung zu verschaffen.

6 Fazit Der Ausgangspunkt des Beitrags war die Frage nach den Subjektformationen, die sich im Zusammenspiel mit Algorithmen thematisieren lassen, um so auf die komplexen Verflechtungen des Sozialen mit dem Digitalen hinzudeuten. Dabei wurde zunächst auf die Verschränkung algorithmischer Systeme mit sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken eingegangen, um einen theoretischen Rahmen für die Diskussion gesellschaftlicher Strukturveränderungsprozesse abzuleiten. Eine Abkehr vom Subjekt scheint nicht zuletzt aufgrund der hier verhandelten Referenztheorien schwierig, sondern auch im Hinblick auf die Rolle von Algorithmen problematisch, denn spricht man letztere eine zu starke Akteurschaft zu, blendet man die sozialen Implikationen, die mit dem Designprozess von Algorithmen und digital vernetzten Systemen einhergehen, womöglich aus. Gleichzeitig scheint eine zu starke Hinwendung zum Subjekt eben jene Relationierungen auszublenden, die gerade für die Betrachtung von Reflexionsanlässen von gesteigerter Bedeutung sind. Angesichts der herausgestellten Entwicklungen, die sich durch ein hohes Maß von Unbestimmtheit auszeichnen, ist das Subjekt mit der andauernden Herausforderung konfrontiert, sich immer wieder neu hervorzubringen. Kreativität wurde von uns dabei in das Licht der Diskussion gerückt, da es sich hier einerseits um ein subjektkonstitutives Merkmal handelt. Andererseits kann der Kreativitätsbegriff, im Zusammenhang mit selbstlernenden maschinellen Systemen, auf seine besondere Qualität für den Menschen befragt werden. Dies geschah entlang der Diskussion um Künstliche Kreativität als interdisziplinären Bezugspunkt. Dadurch, dass Algorithmen über ausführbare Programme und automatisierte Systeme ins Verhältnis zu künstlerisch Schaffenden gesetzt werden, verändern sich die Bedingungen für artikulative Praktiken und damit einhergehend auch deren mediale Strukturiertheit. Wenngleich die Beschaffenheit medialer Formate für menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsweisen und für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge eine bedeutsame Rolle spielt, wird diese im Vollzug unsichtbar. Der von Krämer (1998) postulierte „blinde Fleck“ im Mediengebrauch besitzt angesichts dieser Entwicklungen eine neue Qualität, da

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die zugrundeliegenden medialen bzw. algorithmischen Strukturen nicht mehr nur intransparent, sondern zunehmend auch nicht nachvollziehbar sind. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, inwiefern von einer ­entsubjektivierten Form der Artikulation gesprochen werden kann, da der Mensch in solchen maschinellen kreativen und gestalterischen Prozessen eine scheinbar hintergründige Rolle spielt. Allerdings darf der Akt der Programmierung nicht vollständig ausgeblendet werden, sodass diese Prozesse niemals losgelöst von menschlichem Handeln geschehen. In dieser Hinsicht können Algorithmen als spezifische Form der Adressierung von menschlichen Befehlen an maschinelle Systeme verstanden werden. Insofern werden Algorithmen nicht selbstständig kreativ tätig, wenn sie in kreativ-gestalterisch Prozessen in Form von Machine Learning bzw. künstlichen neuronalen Netzwerken zum Einsatz kommen. ­Vielmehr handelt es sich hierbei um ein hybrides Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Dabei findet im Sinne McLuhans (1964) eine Erweiterung menschlicher Ausdrucksfähigkeit statt, obgleich diese nicht in erster Linie intendiert ist. Auf der einen Seite stellen diese Tendenzen zu algorithmischer Artikulation bzw. künstlicher Kreativität neue, erweiterte Möglichkeiten der Selbstexpression dar. Auf der anderen Seite erfährt der Umgang mit Unbestimmtheit dadurch eine Komplexitätssteigerung, da das Besondere im Sinne einer Kontingenzsteigerung nicht nur nicht aus dem Allgemeinen deduzierbar ist, sondern sich aufgrund der intransparenten Strukturen zudem „der Prognostizierbarkeit und Berechenbarkeit“ (Marotzki 1990, S. 25) entzieht. Insofern befindet sich das Subjekt in einem andauernden Dilemma, sich mit nicht wahrnehmbaren, unbestimmten (oder gar unbestimmbaren) Strukturen in ein Verhältnis zu setzen.

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Der sogenannte Computer - Zum Problem des Kollektivums der Digitalisierung Stefan Höltgen

Zusammenfassung

Im folgenden Beitrag skizziere ich die Applikation von Medienwissenschaft in den Kanon jener Arbeits- und Forschungsfelder, die sich mit der Vermittlung von Medienkompetenz im weitesten Sinne befassen. Medienwissenschaft grenze ich hierbei auf die Analyse der medientechnischen Bedingungen von Wissensvermittlung, -verarbeitung und -speicherung ein. Im Rückgriff auf die schulische Rechnerkunde vergangener Jahrzehnte fokussiere ich die heutige universitäre Ausbildung von Studienanfängern nicht-technischer Fächer. Für diese wird ein Vorschlag für eine Grundbildung zu Aufbau und Funktionsweise digitaler Medien formuliert. Der Ansatz basiert auf einer spezifischen didaktischen Reduktion, in welcher Computergeschichte aktualisiert und operativiert wird. Die dadurch erreichte Komplexitätsreduktion ist geeignet das Verständnis moderner digitaler Medienprozesse unterstützen.

S. Höltgen (*)  Humboldt-Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_6

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S. Höltgen

1 Problemlagen – Layers of Abstraction Am 3. Januar 2018 gelangte eine Reihe von Sicherheitslücken in unterschiedlichen Mikroprozessoren verschiedener Hersteller ins öffentliche Bewusstsein, die bereits im Vorjahr entdeckt worden waren.1 Unter den Namen Spectre und Meltdown wurden verschiedene Konzepte vorgestellt, mit denen Unbefugte geschützte Informationen von fremden Computern auslesen und Schadcode auf diesen installieren können. Andersartig hierbei ist, dass es sich nicht um leicht zu behebende Software-Sicherheitslücken handelt, sondern die Hardware selbst betroffen ist – aufgrund eines teilweise Jahrzehnte alten Designfehlers der in den Computern verbauten Mikroprozessoren. Versuche, die Öffentlichkeit über die technischen (Hinter)Gründe, die Angriffsszenarien und deren Prävention aufzuklären, offenbarten, wie weit die realen Computerprozesse aus dem Bewusstsein ihrer Nutzer verschwunden sind. Wie eine CPU funktioniert, wissen heute außer den Ingenieuren und Technikern, die sie entwerfen und produzieren, nur noch wenige. Der Computer, der als Apparat im Sinne des ubiquitous computing (vgl. Weiser 1991) längst metaphorisch hinter Begriffen wie Cloud, App und Dienst verschwunden war, brachte sich durch Spectre und Meltdown in all seiner Materialität wieder zu Bewusstsein. Die Vergessenheit des materiellen, apparativen Status unserer Computer ist allerdings keine bloße Fahrlässigkeit, sondern die notwendige Konsequenz aus dem Zuwachs an Komplexität, mit der digitale Medienprozesse erst möglich werden. Die Abstraktion der Maschine beginnt bereits bei ihrem technischen Entwurf in der Informatik.2 Hardware und Software werden in „Abstraction Layers“ unterteilt, die vom konkreten physikalischen Substrat bis ‚hinauf‘ zur „problemorientierten [Programmier]Sprache“ (Tanenbaum 2006, S. 22) reichen (vgl. Abb. 1). Für jeden dieser Layer sind andere Experten zuständig, die die jeweils ‚unter‘ oder ‚über‘ ihnen befindlichen Abstraktionsschichten nicht mehr berücksichtigen müssen, um auf ihrem Gebiet arbeiten zu können; standardisierte Schnittstellen übernehmen die technische Kommunikation zwischen den Layern. Diese Arbeitsweise basiert auf dem Prinzip der funktionalen Differenzierung. Ursprünglich definiert als sozialer Prozess (zum Beispiel der Arbeitsteilung)

1https://meltdownattack.com/

[06.08.2019]. in John von Neumanns (1945) „First Draft of a Report on EDVAC“, in dem die erste moderne Digitalcomputer-Architektur vorgestellt wird, bedient sich der Autor solcher Abstraktionen, bei denen die einzelnen Computer-Komponenten als „organs“ zusammengefasst werden.

2Bereits

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Abb. 1   Tanenbaums „Layers of Abstraction“

dehnt sie sich auf technische Architekturen, ihre „Spezialisten“ (vgl. Holmes 1985, S. 27–31) und zuletzt sogar auf die („modulare“) Programmierung von Computern aus. Am Ende dieses Prozesses steht schließlich der Anwender, der ebenfalls mit dem Computer arbeitet aber nicht (mehr) in der Lage ist, auch nur die oberste Abstraktionsschicht seines Werkzeugs zu ‚durchblicken‘. Sein Computer und dessen Tun offenbaren sich ihm dergestalt als veritable „Black Box“ (Becker 2012). Epistemologisch ruft diese Problematik Heideggers (1967, S. 66 ff.) Theorie der Vorhandenheit und Zuhandenheit von Werkzeugen auf: Um ein Werkzeug in seinem intendierten Sinne verwenden zu können, darf es für den Nutzer nicht „vorhanden“ sein, ihm als Gegenstand zu Bewusstsein kommen. Es muss ihm vielmehr als Mittel (als Medium des „um-zu“) „zuhanden“ sein. Heidegger schreibt: „Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische ‚Handlichkeit‘ des Hammers. Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit. Nur weil Zeug dieses ‚An-sich-sein‘ hat und nicht lediglich noch vorkommt, ist es handlich im weitesten Sinne und verfügbar. Das schärfste Nurnoch-hinsehen auf das so und so beschaffene ‚Aussehen‘ von Dingen vermag

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S. Höltgen Zuhandenes nicht zu entdecken. Der nur ‚theoretisch‘ hinsehende Blick auf Dinge entbehrt des Verstehens von Zuhandenheit.“ (ebd. 1967, S. 69).

Für den Computer als Werkzeug (vgl. Budde und Zöllighoven 1991; Haigh 1985, S. 163 f.) gilt dies ebenfalls. Man wäre kaum in der Lage, einen Text mit einem Textverarbeitungsprogramm zu schreiben, dächte man bei jedem Tastendruck an alle im ‚Untergrund‘ ablaufenden Prozesse und an die ihnen zugrunde liegenden Theorien. Als Werkzeug muss der Computer zuhanden sein. Wie jedes andere Werkzeug büßt er seine Zuhandenheit jedoch ein und gelangt wieder zu Bewusstsein, sobald er sich als defekt erweist – etwa, wenn das Textverarbeitungsprogramm abstürzt.3 Die eingangs angesprochenen Designflaws „Meltdown“ und „Spectre“ haben im Moment ihrer Veröffentlichung ebenfalls dazu geführt, dass die Computer für ihre Nutzer als defekt wieder „vorhanden“ wurden. Mehr noch: Sie transformierten diese in „epistemische Dinge“ (Rheinberger 1997, S. 24 ff.). Darin liegt der epistemologische und der didaktische ‚Mehrwert‘ derartiger Fehler: dass sie Aufmerksamkeit für verdeckte Prozesse wecken; eine Aufmerksamkeit, die es aufzugreifen und weiterzuentwickeln gilt. Etwa für jene ‚Probleme‘, die Computer schon dann bereiten, wenn sie als Werkzeuge funktionieren. Denn dann arbeiten sie „mit an unseren Gedanken“, wie Nietzsche (2003, S. 18) es formulierte. Um es auf Heideggers Beispiel zu übertragen: Wie der Hammer den Nagel und die Wand, in der er geschlagen wird, (ver)formt, so formen auch Computer die mit ihnen bearbeiteten Informationen durch ihre Algorithmen sowie die Möglichkeiten und Grenzen ihres Charakters als Rechenmaschinen. Denn trotz aller scheinbarer Medienkonvergenz können Computer bis heute nichts anderes als rechnen. Weil es aber gelungen ist, all das, wofür vormals Einzelmedien zuständig waren, zu etwas Berechenbarem zu machen, sprechen wir heute wohl halbwegs4 zurecht von einer Ära der Digitalisierung.

3Heidegger

beschreibt dies analog am defekten Werkzeug: „Werkzeug stellt sich als beschädigt heraus, das Material als ungeeignet.[…] In solchem Entdecken der Unverwendbarkeit fällt das Zeug auf. Das Auffallen gibt das zuhandene Zeug in einer gewissen Unzuhandenheit. Darin liegt aber: das Unbrauchbare liegt nur da –, es zeigt sich als Zeugding, das so und so aussieht und in seiner Zuhandenheit als so aussehendes ständig auch vorhanden war.[…] Die Beschädigung des Zeugs ist noch nicht eine bloße Dingveränderung, ein lediglich vorkommender Wechsel von Eigenschaften an einem Vorhandenen.“ (Heidegger 2003, S. 73). 4„Halbwegs“ deshalb, weil es neben der Digitalisierung auch die Algorithmisierung ist, welche die heutige Kultur bestimmt.

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Um den Einstieg in die Problematik abzurunden, rufe ich schließlich ein recht aktuelles Beispiel für ‚Berechenbares‘ auf: die Geisteswissenschaften. In den Digital Humanities finden Computerwerkzeuge inzwischen vielfältigen Einsatz, bei der Übertragung, der Speicherung, vor allem aber der Verarbeitung von Wissensgegenständen. Die Einsatzgebiete sind dabei so vielfältig wie Disziplinen und ihre Fragestellungen (vgl. Jannidis et al. 2017, S. 179 ff.). Durch den Einsatz von Computerwerkzeugen gelangen aber „non-human entities“ (Latour 2005, S. 88–115) in den wissenschaftlichen Diskurs, die darin ihre eigenen „agencies“ (ebd., S. 52 f.), verkörpert durch spezifische Algorithmen5 und medientechnische Aprioris (Ernst 2007, S. 28; Kittler 1986, S. 180), einschreiben. Die damit einhergehende Veränderung, die Forschungsdaten und somit Forschung selbst betrifft, sollte durch die jeweilige Wissenschaft reflektiert werden. Hierzu wäre ein Blick auf diese digitalen Werkzeuge nötig, der allerdings eine allgemeine „computer literacy“6 – als Kenntnis von Computern, ihren Peripherien und Programmcodes – voraussetzt.

2 Der sogenannte Computer Die Disziplin, in der eine solche Auseinandersetzung mit Computerprozessen stattfindet, ist jedoch nicht die Informatik. „In der Informatik geht es genauso wenig um Computer, wie in der Astronomie um Teleskope“, soll der niederländische Informatiker Edsger W. Dijkstra einmal gesagt haben. Unabhängig von der Authentizität des Zitats zeigt sein durchaus wahrer Inhalt doch, worum es der Informatik tatsächlich geht (um Prozesse) und worum nicht (um Apparate). Darüber hinaus lassen sowohl ihr Methodenset als auch in ihre Anwendungsfokussierung epistemologische Reflexionen als Forschungsfragen kaum zu. Diese

5„Kaum

jemand weiß, was Algorithmen sind“ titelte Spiegel Online zu den Ergebnissen einer Bertelsmann-Umfrage zum Thema. (https://www.spiegel.de/netzwelt/web/bertelsmann-studie-kaum-jemand-weiss-was-ein-algorithmus-ist-a-1209036.html [06.06.2018]). 6Dieser Begriff zieht sich seit der 1983 gestarteten Initiative des Britischen Fernsehsenders BBC (und der daraus folgenden Entwicklung eines Lehrcomputers für Schulen) (Wolpe 1983, S. 3; Haigh 1985, S. 169) bis in die Gegenwart medienwissenschaftlicher und mediendidaktischer Diskurse (Gualeni 2015, S. 88; Holl 2017). Der von Kittler (1996) beklagte „Computeranalphabetismus“ diagnostizierte dann bereits die Ergebnisse der zuvor eingesetzten Gegenbewegung. Aktuell wird das ähnliche Konzept der „data literacy“ im Hinblick auf schulischen Informatikunterricht diskutiert. (vgl. https://gi-radar.de/216-dataliteracy/ [06.08.2019]).

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‚Lücke‘ hat deshalb Mitte der 1980er-Jahre die Medienwissenschaft besetzt, indem sie den Computer als neues Leitmedium definiert und sein medientechnisches Apriori erforscht hat. Namentlich Friedrich Kittler hat in Publikationen wie „Es gibt keine Software“ (Kittler 1993, S. 225–242), „Hardware, das unbekannte Wesen“ (Kittler 1998) oder „Protected Mode“ (Kittler 1993, S. 208–224) aber auch in seinen Lehrveranstaltungen (etwa zur Programmierung7) Computer nun auch aus einer technikwissenschaftlichen Perspektive behandelt. Sein Abwenden von den Medieninhalten und die Hinwendung zu den Medienprozessen und -technologien wurde schulbildend für die „Berliner Schule“ der Medienwissenschaft. Und dennoch ist mit der stetig anwachsenden Bedeutung der Computertechnologie auch ein Wandel im Mediendenken der Medienwissenschaft eingetreten, der sich von den konkreten Apparaten wieder abgewandt hat. Zugunsten einer generalisierenden Theoriebildung wurde immer seltener von den Computern (als unterschiedliche Apparate) im Plural und immer häufiger vom Computer (als Technologie) im Kollektivsingular gesprochen. Dies mag vor allem damit zusammengehangen haben, dass sich diese Medienwissenschaft immer stärker für die Themen der theoretischen Informatik zu interessieren begann, in der es ja von Beginn8 an tatsächlich um idealistische, theoretische Computermodelle geht. Anders lässt sich kaum verstehen, warum zum Beispiel Friedrich Kittler die Sensibilität, die er angesichts anderer Verallgemeinerungstendenzen im Adjektiv „sogenannt“9 zum Ausdruck gebracht hat, nicht auch auf Computer appliziert hat. Dies zu bemerken, ist durchaus keine Spitzfindigkeit; kennzeichnet sich hier doch auf theoretische (und stilistische) Weise, was sich zeitgleich im öffentlichen Bewusstsein vollzogen hat: ein Verschwinden der Apparate hinter den Diskursen über sie, das sich nicht zuletzt an den obfuskativen Beschreibung realer Computer und ihrer Prozesse in der Medienwissenschaft zeigte. Für Geisteswissenschaftler, die in den frühen 1990er-Jahren auf Texte wie Kittlers „Protected Mode“ (in welchem der Urgrund für die eingangs beschriebenen Designfehler „Spectre“ und „Meltdown“ diskutiert wird) gestoßen sind, mag das Amalgam

7https://www.mathematik.hu-berlin.de/~dorow/SS06/00_KVV_SS06.htm

[06.08.2019]. waren es auch Friedrich Kittler und sein damaliger Assistent Bernhard Dotzler, die Alan Turings Grundlagenschriften zur Computertheorie auf Deutsch übersetzten und publizierten (Turing 1987). 9Allein in seinen „Technischen Schriften“ (Kittler 1993) taucht das Adjektiv in dieser Verwendungsweise 29 mal auf – jedoch nie im Zusammenhang mit Computern. 8So

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aus technomathematischen und philosophischen Beschreibungen von Computerprozessen überraschend, wenn nicht einschüchternd gewirkt haben. Was Kittler in „Protected Mode“ allerdings als technologische Antiaufklärung skizziert, war und ist lediglich die Grundlage aller stabilen Multitasking-Betriebssysteme, die schon zuvor und mit anderen Mitteln erreicht worden war. Schon vor Kittler war der „Protected Mode“ ein Thema – allerdings in entgegen gesetzter Richtung: als Möglichkeit mit geringem Kostenaufwand in Grundschulklassen Computeraufklärung zu realisieren (Douglas 1990). Im akademischen Diskurs wird diese Form des Technik-Diskurses allerdings dann problematisch, wenn sie die Technik wiederum nur von Ferne her (aber dennoch im Jargon der Technikwissenschaft) beschreibt, weil sich dann veritable Fehler einschleichen können. Der Dialog zwischen Kultur- und Technikwissenschaften, der durch einen solchen medienwissenschaftlichen Diskurs eigentlich in Gang gesetzt werden sollte, wird so eher erschwert und kulminiert schlimmstenfalls in Vorwürfe seitens der Technikwissenschaften nach dem Muster „Eleganter Unsinn“ (Bricmont und Sokal 1997).

3 Making/Hacking – Der Wille zum Wissen Verbinden wir folgende Fragen miteinander: Wenn Computer aufhören im Bewusstsein ihrer Nutzer bloße Werkzeuge zu sein, weil sie sich als defekt erweisen oder das konstruktive Potenzial ihrer Datenverarbeitung bewusst wird10, zugleich aber oft nur ein vages Verständnis der Prozesse und Strukturen von Hardware- und Software besteht: Wie können Computer in der wissenschaftlichen Forschungspraxis dann weiterhin als Werkzeuge genutzt werden? Wenn der Macht der Apparate die Ohnmacht ihrer Nutzer gegenübersteht, wird es Zeit

10Erinnert

sei hier an den Fall der App „Google Fotos“, einer Anwendung zur automatischen Gesichtserkennung, die dunkelhäutige Frauen als Gorillas „erkannte“ (https:// www.spiegel.de/netzwelt/web/google-fotos-bezeichnet-schwarze-als-gorillas-a-1041693. html [06.06.2018]. Die Software basiert auf einem Deep-Learning-Algorithmus, der große Datenmengen (hier: Fotos mit menschlichen Gesichtern) auswertet und sukzessive „lernt“, wie ein Gesicht aussieht. Die vom Entwickler vorab einzustellenden Parameter für die Gewichtung (biases) der Hauttöne haben schließlich unintendiert dazu geführt, dass Details der Bilder zu falschen Schlüssen auf das Gesamtbild hochgerechnet wurden. Dass dieser Programmierfehler auf die Ebene des politischen Diskurses durchschlagen würde, war nur eine Frage der Zeit: https://boingboing.net/2018/01/11/gorilla-chimp-monkey-unpersone. html [06.06.2018].

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für Medienkompetenzbildung und „technologische Aufklärung“ (Ropohl 1973), um dieses Verhältnis zu ändern. Außerhalb von Bildungseinrichtungen wird eine solche Aufklärung bereits breitenwirksam vollzogen: Hacker Spaces11 bieten Möglichkeiten (vor allem Technik- und Informationsinfrastrukturen) zur Kleingruppen- und Alleinarbeit, organisieren Vorträge und veranstalten Workshops, helfen bei der Entwicklung und Publikation eigener Ideen, Codes und Apparate und erzeugen eine Öffentlichkeit für computertechnische Diskurse. Maker Spaces, Coding-Dojos und andere Initiativen haben sich einer regelrechten „Allgemeinbildung“ (Zorn 2010, S. 475 f.; Moser 2010, S. 290) über Hardware- und Software-Erstellung verschrieben. Das Ethos hinter diesen Initiativen hat sich in den letzten sechs Jahrzehnten kaum geändert: Es ist eine durch den „Willen zum Wissen“ (Foucault 2003, S. 15) angetriebene Mischung aus Analyse und (Re-)Konstruktion von Apparaten. Dieser respektlose Umgang mit Technik, der selbst vor der Zerstörung von Apparaten nicht Halt macht, wenn diese der Öffnung der Black Box dient, hat sich unter der Bezeichnung Hacking an US-amerikanischen Universitäten der 1960er-Jahre etabliert (Levy 1984, S. 26 ff.). Von dort hat sich Hacking in den frühen 1970er-Jahren mit der Popularisierung der Mikrocomputer auch in außeruniversitären Kontexten verbreitet (ebd., S. 195 ff.). Zu dieser Zeit konkretisierten sich in Deutschland erste Überlegungen zu einer institutionalisierten Computer-Aufklärung – in Form der schulischen Rechnerkunde (vgl. Höltgen 2016). Es mag auch an der mit heute verglichenen ‚Einfachheit‘ der damaligen Computertechnologie gelegen haben, dass sich diese Zugänge stark von heutigen schulischen Informatik-Curricula unterschieden (vgl. Kerres 2008, S. 116): Statt der Vermittlung von Computer-Anwendungswissen (insb. für Standard-Softwarepakete und Netz-Applikationen) wurde der Eigenbau von Computern gelehrt (Höltgen 2013) und praktische Informatik mit einfachen Programmiersprachen betrieben (Turkle 1984, S. 113 ff.). Der von den Hackern favorisierte ‚Hands-on‘-Zugang zur Computertechnologie wurde dabei in vielen Fällen zum Auslöser von informellen Lernprozessen (vgl. Kerres 2008,

11Ich

möchte es hier als bezeichnend formulieren, dass nicht wenige Entdeckungen von Fehlern und anderen Problemlagen in der Computerkultur von privaten Hackern gemacht wurden (vgl. zum Beispiel: https://www.ccc.de/de/updates/2011/analysiert-aktueller-staatstrojaner [06.06.2018]).

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Abb. 2   Der NDR-KleinComputer als offener modularer Selbstbaurechner

S. 116). Lehrer nutzten die Selbstlernkompetenz12 ihrer Schüler gezielt, um eine Atmosphäre forschenden Lernens zu etablieren: „Sind die Verhältnisse [die Zugänglichkeit zu den Schulcomputern außerhalb des Unterrichts, S.H.] in Einzelfällen entsprechend günstig, so sind […] Effekte des vertieften Verständnisses […] anzutreffen.[…] Auch sind Fälle bekannt, wo Schüler sich selbst soweit ausgebildet haben, daß sie 'alten Hasen' einiges voraus [sic!] hatten.“ (Knauer 1980, S. 18] […] „Die Motivation der Schüler ist […] weitgehend instrumentell: Ist zum einen in aller Regel schon das Leitmotiv sich überhaupt mit der Informatik zu beschäftigen der Spieltrieb [sic!], so wird sich das zum anderen noch verstärken, wenn der Schüler vor dem Rechner sitzt, aber noch nichts damit anfangen kann.“ (ebd. S. 40).

Gerahmt wurde der Rechnerkunde-Unterricht durch Inhalte und Methoden, welche halfen die Komplexität von Computerprozessen nicht für eine vermeintliche Kompliziertheit (zum Unterschied vgl. Völz 2001, S. 299 f.) zu halten. Dies ließ sich am einfachsten durch einen deduktiven Ansatz verwirklichen, nach welchem zum Beispiel ausgehend von der Aussagenlogik binäre Schaltgatter, dann funktionale Schaltnetze und schließlich elektronische Bausteine erklärt, 12Laut

der PISA-Studien von 2003 hat der Trend der Computer-Autodidaktik nicht nur zugenommen, sondern liegt sogar an der Spitze der ‚Computerlehre‘: „29 % haben sich Computerkenntnisse vor allem selbst beigebracht“ (Tulodziecki 2008, S. 113).

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respektive konstruiert wurden und auf diese Weise kleinschrittig ein komplettes Computersystem entstand (vgl. Klein 198413; Frank und Meyer 1972, S. 33–95). Jene vergleichsweise ‚groben‘ Strukturen und langsamen Ausführungsgeschwindigkeiten früher Mikrocomputer-Technik machten auch den direkten Nachvollzug theoretischer Sachverhalte möglich: Ein System, wie zum Beispiel der NDR-Klein-Computer, ließ sich aus funktional differenzierbaren Bauteilen zusammenfügen, mit Standard-Messtechnik testen und mit einfachen maschinennahen Sprachen programmieren. Die (Benutzer-)Oberflächen solcher Einplatinencomputer waren für die Nutzer nirgends von ihren technischen „Unterflächen“ (Nake 2005, S. 47 ff.) getrennt. Beim konstruierenden Nachvollzug der Hardund Software-Funktionen blieben „abstraction layers“, wo sie nicht vollständig suspendiert waren, im intellektuellen und manuellen Zugriff (vgl. Abb. 2).

4 Dialektik/Didaktik – Der sogenannte Computer In einem solchen Informatik-Unterricht blieb der Computer als singuläres materielles und operatives Medium stets gegenwärtig. Konstruktionsprobleme und -fehler offenbarten die Idiosynkrasien der eigenen Implementierung und forderten dazu auf, die Kenntnisse der theoretischen Grundlagen von Logik und Elektronik des Systems praktisch anzuwenden und ständig zu ergänzen. In der Konstruktion seiner Hardware blieb der Computer dabei so lange ein „epistemisches Ding“, bis er als Werkzeug einsetzbar war, um mit ihm zum Beispiel programmieren (lernen) zu können. Sobald sich aber ein neuer oder erweiterter Anwendungsfall ergab, für den der Computer modifiziert werden musste, wurde er selbst wieder zum Gegenstand der Betrachtung. Diese epistemologische Eskalation setzte sich auf der Software-Ebene fort. Als Programmierwerkzeug offenbart der Computer heute wie damals eine spezifische Dialektik, indem er für den Lernenden ständig seinen Status wechselt: Mit ihm sollte etwas über ihn gelernt werden; zeitgleich ist er Lehrmedium und Gegenstand des Lernens. Ganz im Sinne McLuhans wird er also zu seiner eigenen Botschaft (vgl. Marquardt 2015, S. 28). Diese Doppeleigenschaft unterscheidet ihn von allen anderen Medien und fordert/fördert spezifische Didaktiken (vgl. Kerres 2008, S. 117). Im ‚Dialog-Betrieb‘ mit dem Bastler und

13Dies

ist das Begleitbuch zur 1984 ausgestrahlten 26-teiligen Schulfernsehreihe „Mikroelektronik“ des Senders NDR, in der der Aufbau eines „Klein“-Computers Schritt für Schritt (und Folge für Folge) durchgeführt wurde.

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Abb. 3   Die „Dialog-Programmiersprache“ BASIC (Senni 1984, S. 326)

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Programmierer wird so ein ‚E-Learning‘-Prozess der besonderen Art initiiert: Der Computer vermittelt dem Nutzer etwas über sich selbst; durch Mess- und Überwachungsprozesse, Fehlerausgaben und Modifikationen befinden sich Apparat und Nutzer im ständigen technischen Dialog von Trial and Error (vgl. Schrutzki 1989, S. 179 sowie Abb. 3). Es lohnt sich auf die scheinbare Trivialität aufmerksam zu machen, dass dieses Arbeiten und Lernen mit/an Computern radikal gegenwärtig stattfindet. Das „present progressive“ Computing evoziert bereits die spezifische Temporalität, auf sowohl der maschinellen als auch der menschlichen Seite des Interfaces. Beim je eigenen Denken der technischen Vorgänge, dem hermeneutischen Eindringen in die Funktionsprinzipien und dem mentalen Vorvollzug von Prozessen, wird der Nutzer quasi zurück zu den Wurzeln des Begriffs Computer (als menschlicher Rechner14) geführt. Die Bildungskybernetik skizzierte solche Lehr-/Lernprozesse als Regelkreisläufe mit wechselseitigen Feedback-Strukturen und erfasste damit bereits die spezifische Zeitlichkeit des Computing. Im Paderborner „Institut für Kybernetik“ wurde dies unter dem Begriff der „Rechnerkunde“ als Computerpädagogik formuliert. Der geistige Vater der Bildungskybernetik, Helmar Frank, schrieb 1972: „Der Rechner wird dabei auf zwei Betrachtungsebenen vorgestellt: zuerst als Lehrgegenstand, den der Leser kennen lernen soll, und dann als Lehrgegenstand, den er lehren lernen soll.“15 (Frank und Meyer 1972, S. 5).

Um dies angesichts der für Schulen noch spärlich verfügbaren Computersysteme zu ermöglichen, wurden in Paderborn spezifische Lehrmaschinen16 entworfen, deren Aufbau und Funktionsweise im Unterricht zunächst erarbeitet werden sollte, bevor sie als Lernwerkzeuge zum Programmieren eingesetzt wurden

14Diese

Sichtweise auf Rechenprozesse ist zu einer der Grundlagen der Computertheorie geworden: Alan Turing hat seine Überlegungen zur Berechenbarkeit an einem rechnenden Menschen unter dem Begriff der „Papiermaschine“ entwickelt (vgl. Turing 1987, S. 91 f.). 15Hervorh. im Original. Unter dem ersten Begriff von „Lehrgegenstand“ würde man heute „Lerngegenstand“ und das, was ich als Verständnis der Hardware ausgeführt habe, verstehen;. Mit dem „lehren lernen“ ist die Programmierung des Computers gemeint, der im Band vorgestellt wird. 16Der „Modellrechner“ (MORE), der im Fach „Rechnerkunde“ (Frank und Meyer 1972, S. 75–95) vorgestellt wurde, ist ein technischer und didaktischer Vorläufer der in den 1970er- und 1980er-Jahre häufig eingesetzten Einplatinencomputer (z. B. des NDR-KleinComputers).

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Abb. 4   Der Lerncomputer MORE (unten) und sein prinzipieller Aufbau (oben) (Frank und Meyer 1972, S. 84.)

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(vgl. Abb. 4). Ein kürzlich initiiertes Forschungsprojekt greift diese und andere historische Konzepte der Paderborner Bildungskybernetik unter dem Motto „Aktualisierung kybernetischen Denkens“17 auf und versucht zugleich deren Spuren in unterschiedlichen Disziplinen der Gegenwart zu finden und vermeintlich überkommene Konzepte in neue Lehr- und Lernkontexte zu digitalen Medien zu konfigurieren. Diese „Aktualisierung“ zeigt das Potenzial für ein neues/altes Verständnis von digitalen Medien.

5 Dual Uses – Anwendungsfälle Wie können solche historischen Computerdidaktiken angesichts aktueller Systeme und der hohen Komplexität (vernetzter) Computerprozesse didaktisch nutzbar gemacht werden? Welche Hardware-Software-Systeme wären hierfür heranzuziehen? Welche Programmiersprachen wären zu lehren? Welche Aspekte der Informatik- und Medienbildung wären zu berücksichtigen und wie wären diese in die akademischen Lehrkonzepte einzubeziehen? Diesen Fragen habe ich mich zwischen 2013 und 2019 in einem Forschungsprojekt (vgl. Höltgen 2020) in der Medienwissenschaft und zugleich im Bereich Informatik und Gesellschaft gewidmet. Dabei steht das sogenannte Retrocomputing im Zentrum – als eine Untersuchung aktueller Nutzungsweisen historischer Computer in hobbyistischen Kontexten. Die Betrachtung sowohl historischer Plattformen und Programmiersprachen als auch deren Gebrauchsweisen, Paratexte, Kulturen usw. wird dabei mit gegenwärtigen Diskursen und Praktiken konfrontiert: Auf diese Weise entsteht eine neue Form von „Computergeschichtsschreibung“, die die Operativität der technischen Artefakte fokussiert und damit bestehende Historiographien durch ‚unzeitgemäße Betrachtungen‘ (etwa in Form von technischen Anachronismen des ‚Neuen am Alten‘) anreichert. Der Begriff „retro“ kennzeichnet daher sowohl das Fortschreiben von Computergeschichte durch aktuelle Nutzungsweisen historischer Artefakte als auch die Aktualisierung von Computergeschichte im Nachvollzug (Re-Enactment). Das Re-Enactment ist eine Methode der Geschichtswissenschaft. Der Begriff wurde von Robin Collingwood 1946 als Grundlage der historischen

17Im

Programm der „Aktualisierung kybernetischen Denkens“ wird seit 2018 in einer Berliner Forschergruppe an den kybernetischen und pädagogischen Ideen des ehemaligen „Instituts für Kybernetik“ gearbeitet. (https://www.heise.de/newsticker/meldung/MissingLink-Die-Kybernetik-schlaegt-zurueck-4036974.html?seite=all [11.06.2018]).

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Abb. 5   Ein virtueller operativer 8-Bit-Computer erstellt von einem Studenten im Rahmen eines Projektseminars an der HU Berlin. (https://www.musikundmedien.hu-berlin. de/de/medienwissenschaft/medientheorien/signallabor/praxisarbeiten/dzialocha/view (14.04.2018))

Forschungspraxis vorgestellt. Collingwood konstatiert, dass das Denken historischer Vorgänge immer schon in der Gegenwart stattfindet – im Bewusstsein des Historikers, der den vergangenen Vorgang auf diese Weise aktualisiert (vgl. Collingwood 1999a, S. 124). Er vollzieht diesen Prozess bewusst (vgl. ebd. S. 110), wodurch das Re-Enactment zu einer geschichtsphilosophischen Forschungsmethode wird. „In so far as all history is the history of thought, this must be so: for one can only apprehend a thought by thinking it, and apprehend a past thought by re-thinking it.“ (ebd. S. 223) und weiter:

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„Der Historiker vollzieht nicht nur das Denken der Vergangenheit in sich nach, er vollzieht es vielmehr im Zusammenhang mit seiner eigenen Erkenntnis. Er verbindet also mit dem Nachvollzug eine kritische Beurteilung des Denkens der Vergangenheit, er bildet sich sein eigenes Urteil vom Wert dieses Denkens und verbessert die Irrtümer, die er in ihm entdeckt. Die Kritik an dem Denken, mit dessen Geschichte er sich befaßt, ist nicht etwa von sekundärer Bedeutung dieser Geschichte gegenüber; sie ist vielmehr eine unerläßliche Voraussetzung der historischen Erkenntnis selbst.[…] Alles Denken ist kritisches Denken; das Denken das Gedanken der Vergangenheit nachvollzieht, kritisiert daher diese Gedanken im Nachvollzug.“ (Collingwood 1955, S. 226).

Die Konsequenz hieraus ist für Collingwood, dass Geschichtsarbeit zu einer unabschließbaren Aktualisierung des Historischen in der Gegenwart führt (vgl. Collingwood 1999b, S. 240). Retrocomputing wäre damit als operatives Re-Enactment von Computergeschichte zu sehen. Aus dieser Überlegung habe ich ein didaktisches Konzept abgeleitet, das im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen umgesetzt wird. (Vgl. Abb.  5) Hierbei werden aktuelle Themen (Big-Data-Anwendungen, Simulation, Künstliche Intelligenz, Hardware Design, Computerviren etc.) zunächst theoretisch und epistemologisch aufgearbeitet, um dann in Form von „Re-Enactments“ implementiert zu werden. Die Didaktik orientiert sich dabei am modus operandi des Hacking, integriert autodidaktische Zugänge, Blended Learning mit Methoden wie Gamification, Analogiebildungen (Klar und Engbring 2015, S. 41; Artmann 2010, S. 91) usw. Die leitende Agenda der Veranstaltungen ist die eingangs geforderte technische Grundaufklärung über Prozesse der Digitalisierung über dem (Rück)Weg einer didaktischen Reduktion mittels operativer Computergeschichte. Denn die technische Grundlage für diese Lehrveranstaltungen bilden 8-BitMikrocomputer der 1970er- und -80er-Jahre. Für diese Systeme existiert nicht nur umfangreiche historische Literatur (auch aus dem schulischen Kontext), sondern auch zahlreiche aktuelle Publikationen und Projekte aus den RetrocomputingSzenen. Der didaktische Vorteil dieser Systeme liegt in der grundsätzlichen ‚Offenheit‘ ihrer Hardware und ihren leicht erlernbaren Programmiersprachen. Auf diese Weise können die Computer permanent als Werkzeuge und epistemische Dinge genutzt und betrachtet werden. Der Umstand, dass solche Systeme weit verbreitet waren und immer noch verfügbar sind, macht ihren Einsatz als Originalgeräte möglich. Außerdem existieren zahlreiche Emulationen für diese Computer, die die reflektierte Konfrontation der Hardware-Geschichte mit ihrer virtualisierten Gegenwart ermöglichen. Dass auf historischen Computern

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aber auch18 aktuelle Fragestellungen implementiert werden können, macht sie als Werkzeuge für kontemporäre Lehrgegenstände nutzbar und provoziert überdies eine Diskussion über die Eigenarten, Möglichkeiten und Grenzen von Mediengeschichtsschreibung. So ist es beispielsweise möglich, über die Lehre einer einfachen 8-BitMaschinensprache ein Grundverständnis für die Prozesse innerhalb von CPUs zu vermitteln – umso mehr, wenn zur Programmierung keine Assemblierer eingesetzt, sondern die Opcodes von Hand übersetzt werden. Das vertiefte Verständnis der symbolverarbeitendes Prozesse und der zugehörigen Steuerungsvorgänge in der CPU kann dann leicht auch auf komplexere CPU-Architekturen erweitert werden, sodass es beispielsweise möglich wird, die Evolution der Befehlsabarbeitung in Mikroprozessoren vom Pre-Fetching über das Pipelining bis hin zu den Techniken der „spekulativen Ausführung“ und der „indirekten Verzweigungsvorhersage“, welche letztlich in den Sicherheitslücken Meltdown und Spectre ausgenutzt werden könnten, verständlich zu machen. Ein solcher Unterricht richtet sich vor allem an erwachsene Studienanfänger nicht-technischer Fächer – in meinem Fall: Medienwissenschaftler und wird für diese inzwischen auch als Propädeutikum ausformuliert (Höltgen 2017). Um die retrodidaktische Brücke von den historischen Apparaten und ihrer Programmierung zur Gegenwart zu schlagen, kommen unterschiedliche moderne, vorzugsweise interpretierte und/oder hardwarenahe Programmiersprachen (Python, C, jüngere BASIC-Dialekte19) und Einplatinencomputer (Arduino und RaspberryPi) zum Einsatz, mit denen die bereits erworbenen Kenntnisse ‚neu‘ umgesetzt werden können. Gerade diese für den elektronischen Zugriff offenen Kleincomputer, die erfolgreich die Erbschaft der historischen Einplatinenrechner angetreten haben, machen die Ausbildungsinhalte wiederum an kontemporäre Praktiken und Projekte der Hacker- und Maker-Szenen anschlussfähig … womit sich auch dieser Kreislauf schließt.

18Die

grundsätzliche Vergleichbarkeit historischer zu aktuellen Plattfomen liegt in der von-Neumann-Architektur begründet, die sich seit Mitte der 1950er-Jahre nicht geändert hat. So lassen sich selbst aktuelle Probleme, wie etwa Deep-Learning-Algorithmen, auf historischen Rechnern implementieren. (Vgl. https://www.fourmilab.ch/documents/ commodore/BrainSim/ [14.04.2018]). 19Für BASIC gilt beides: Die meisten BASIC-Dialekte sind Interpreter-Sprachen und besitzen Elemente, die den direkten Zugriff auf Hardwarefunktionen ermöglichen. Zudem ähnelt die Struktur zeilenbasierter BASIC-Programme denen von Maschinensprachen (vgl. Höltgen 2018).

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Der sogenannte Computer - Zum Problem des Kollektivums …

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Konsumierbare Körper: Japanische Idols Steffi Rehfeld

Zusammenfassung

Japanische Idole unterscheiden sich stark von unseren westlichen VertreterInnen. Sie spielen eine essentielle Rolle im Gefüge von Gesellschaft und Individuum. Der Beitrag fokussiert verschiedene Dichotomien, die den Begriff umgeben, um das Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Kollektivität, sowie die Bedeutung der Medien in diesem Kontext zu untersuchen. Denn das japanische Idol stellt eine Art konsumbierbaren Rohstoff dar, der verschiedene Rollenerwartungen oder gar Archetypen durch das Auftreten in Massenmedien transportiert. Dieses Faktum steuert das Idol zu einem reflexiven Umgang mit dem eigenen Körper und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen. Es fungiert somit als Körper, um diese Ideen zu kommunizieren und zeitgleich mit Wünschen und Erwartungen aufzuladen. De facto tritt somit die Individualität vor der Kollektivität zurück, um gesellschaftskonform zu bleiben. Schlüsselwörter

Idol · Aidoru · Japan · Konsum · Selbst · Kollektivität

S. Rehfeld (*)  Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_7

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Es ist das Jahr 2013 und die japanische Girlband AKB48, bestehend aus 48 Mitgliedern und 16 Nachwuchsstars, feiert Erfolge mit ihrem aktuellen Hit Eien Pressure (dt. ewiger Druck). Als am 31.01.2013 das japanische Boulevardmagazin Shukan Bunshun Fotos publizierte, die einen Tabubruch manifestierten. Auf den Fotos ist das Bandmitglied Minami Minegishi zu erkennen, wie sie die Wohnung eines jungen Mannes nach einer Übernachtung verlässt. Eine intime Aktivität, die ihr vertraglich verboten ist. Am gleichen Tag veröffentlichte die Betroffene ein Video mit einer Entschuldigung an ihre Fans, dabei zeigte sie nicht nur Tränen, sondern auch einen rasierten Kopf, welches als Zeichen für eine tiefe Entschuldigung in Japan gilt. Ursachen für diese gewählte Inszenierung ihrer „Schuld“ sind mannigfaltig, lassen sich aber in der Essenz auf die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft herunterbrechen. Dieses Verhältnis ist anders strukturiert als hierzulande. Aufgrund des technologischen Fortschritts und demographischen Wandels (vgl. Schad-Seifert 2014, S. 15) ist Japan momentan einer Polarisierung zwischen tradierten Werten, Denkmustern und Verhaltensweisen, sowie wachsender Individualität unterworfen. Tradierte Muster fokussieren nach wie vor den Gemeinschaftsgedanken, bei dem das Subjekt hinter der Gruppe zurücktritt und zum Wohl des sozialen Umfeldes agiert. Den Ursprung dieser Gedanken offenbart sich in den vorherrschenden Religionen des Buddhismus, sowie Shintoismus. Im Gegensatz dazu führten gesellschaftliche Umgestaltungen zu zunehmenden Individualisierungsprozessen und somit auch zu Reibungspunkten mit jenen konservativen Strukturen. Sichtbar werden diese Schnittstellen anhand von Veränderungen innerhalb der sonst festen Gefüge. Zum einen nimmt die Zahl der Vollzeitbeschäftigten (shigoto) in Japan ab, dafür verweilen immer mehr junge Erwachsene in dem Status der Teilzeitarbeit (arubaito) (vgl. Genda 2005). Gründe, die sie dafür angeben, sind die verfügbare Flexibilität, die nicht in anderen Beschäftigungsverhältnissen gegeben ist, die anhaltende Rezession oder Ungleichheiten bezogen auf das Geschlecht (vgl. ebd.). Auf der anderen Seite entwickelt sich Japan mit einem stetig anwachsenden Heiratsalter und einer zunehmenden Zahl an Heiratsverweigerer zu einer Single-Gesellschaft, die im Kontrast zu dem traditionellen Familienbild in Japan steht (vgl. Schad-Seifert 2014; Okonogi 2013). Ähnliche Aufspaltungen zeigen sich auch in der Inszenierung von popkulturellen Körpern, die zwischen erwarteten Mustern und individuellen Lebensentwürfen changieren: Idole, deren Popularität bereits in den 70er Jahren begann, transformierten sich während der Bubble Economy in den 80ern zu einem

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Massenphänomen. Japanische Idols (aidoru1) unterscheiden sich von den westlichen Idolen oder Ikonen besonders hinsichtlich der Qualität ihrer Fähigkeiten. „Japanese idols […] typically depict images that are fairly standard: appearance, ability, and charm that are above average, but not so much as to alienate or offend the audience“ (Aoyagi 2005, S. 67).

Sie stellen somit durchschnittliche Jugendliche dar, die jedoch besonders angesehen Werte der Kultur verkörpern (Reinheit, Motivation, Streben nach Erfolg). Neben einer gewissen Vorbildfunktion besitzen diese Jugendlichen noch weitere „Funktionen“, die je nach Grad der Involvierung des Fans beispielsweise zwischen Identifikation, Wahrnehmung als Familienmitglied oder Beziehungsersatz schwanken. Interessant ist hierbei nicht nur der Konsum medialer Körper, sondern auch deren Konstruktion und Repräsentation. Dieser Beitrag setzt hier an und fokussiert das Spannungsfeld Subjektivität und Kollektivität vor dem Hintergrund japanischer Medientheorien, die sich neben der Bedeutung der Medien auch die Bedeutung des Konsums verschreiben. Um ein grundlegendes Verständnis für das Phänomen zu offerieren, skizzieren die folgenden Ausführungen zuerst die Besonderheiten der Aidoru, um anschließend im historischen Kontext, die Rolle der Medien hervorzuheben. In einem zweiten Schritt stellt die Betrachtung essentieller Strukturen der japanischen Gesellschaft und sozialen Wirklichkeit eine Grundlage für die darauffolgenden Gedanken dar. Schließlich wird auf die Besonderheiten der Konsumgesellschaft eingegangen und in welchem Verhältnis diese zu inszenierten Körpern steht, um Aussagen zur Subjektivität und Kollektivität treffen zu können.

1  Aidoru – ein Symbol der Reinheit Der Idolbegriff (aidoru) bezieht sich meistens auf junge Individuen, deren Erscheinung an sich alltäglich und deren Fähigkeiten eher leicht überdurchschnittlicher Natur sind. In Musikvideos der Band AKB48 finden sich nach genauerer Strukturanalyse weitere bezeichnende Muster, wie niedliches Auftreten, welches durch einfache Tänze mit Armbewegungen und meist bunten Kostüme unterstrichen wird. Rote Wangen und Kostüme mit Rüschen verstärken

1Zur

eindeutigeren Distinktion zwischen den japanischen und westlichen Idolen, wird fortan das Wort Aidoru für die japanischen Idols verwendet.

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diesen Eindruck von Niedlichkeit (kawaii (dt. süß)). Neben kurzen Röcken, zeigen sich die Mitglieder der Band in Auftritten auch teils im Bikini oder in Unterwäsche. Hier zeigt sich eine Spielart der Sexualität. Obwohl diese Elemente irritierend konträr sind, findet Aoyagi (2005, S. 3) eine gemeinsame Funktion, denn „Idols are designed to contribute to the industry’s establishment in the market by virtue of their abilities to attract people and perform as lifestyle role models.“ Trotz sexueller Anspielungen, wie Küsse unter den Bandmitgliedern oder aufreizender Kleidung, ist es den Mitgliedern vonseiten der Idol-Agentur (jimusho) ausdrücklich untersagt, eine Beziehung während ihrer Karriere einzugehen oder andere Aktivitäten durchzuführen, die konträr zu dem inszenierten Bild von Reinheit stehen (vgl. Katayama 2017; Galbraith und Karlin 2012; Marx 2012; Aoyagi 2005). Damit erhöhen sie nicht nur die Anziehung der Fans, sondern spiegeln bestimmte Werte der Gesellschaft wider, in der sie leben. Eine genauere Betrachtung offeriert zudem differenzierte Spielarten mit den Kategorien „Kindlichkeit“ und „Niedlichkeit“, denn die jungen Frauen unterscheiden sich beispielsweise in ihren Frisuren, Gestik und Körperhaltungen, um innerhalb der Band hervorzustechen. Auf diese Weise ordnen sie sich in der Gesellschaft etablierten Archetypen unter, die in der Art im Bereich Manga existieren. Haare verstehen sich dort als wichtiges Designelement, um bestimmte Charaktereigenschaften zu inszenieren oder zu unterstreichen (Brenner 2007), wie tsundere (dt. ungesellig, pendelt zwischen liebevoll und gefühlskalt), yandere (von jp. yanderu, dt. krank sein, Charakter, der alles tun würde, um mit einer bestimmten Person zusammen zu sein) und noch viele weitere. Diese Art der Inszenierung lässt schnell erkennen, welche Rolle das Aidoru annimmt, erleichtert ebenso die Orientierung der Fans. Ferner fungieren die Aidoru in der japanischen Popkultur als „all-around popular talents“ (Aoyagi 2005, S. 3) und partizipieren daher in Konzerten, Serien, Unterhaltungsshows, Musikshows, Radio oder gar Nachrichten, wie das Boybandmitglied Sho Sakurai aus der Band Arashi, der neben Sänger, Rapper, Schauspieler auch Nachrichtensprecher auf seinen Lebenslauf zu stehen hat. In Erscheinung treten sie abermals im Leitmedium Fernsehen.

2 Von der Jugendkultur zum Massenphänomen Katayama (2017) vermutet, dass es bereits idolähnliche Individuen in der Geschichte gab, die beispielsweise im Kontext des Theaters oder Films agierten. Das Phänomen, wie es heute bekannt ist, fing aber erst zum Ende der 60er Jahre an und konnte als eine Art Abkehr zu der traditionellen Musik, die

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eher an Erwachsene gerichtet war, gesehen werden (Aoyagi 2005, S. 4). Die poppigen, fröhlichen Rhythmen sprachen die Heranwachsenden an und das verbundene Versprechen, dass man ohne herausragendes Talent berühmt werden konnte, klang für die Jugend Japans sehr verlockend. Bereits früh etablierten sich daher Talentshows, um die nächsten Medienpersönlichkeiten zu finden, wie „star tanjou“ (dt. die Geburt eines Stars, 1971–1980). Erste Agenturen (jimusho) gründeten sich, die später nicht nur die Aidoru produzieren, sondern gleichsam einen großen Einfluss auf den Musikmarkt samt aktueller Trends besitzen sollten (vgl. Marx 2012). Zudem legten sie die Basis für die aktuelle Beziehung zwischen jimusho und Aidoru, die sich eher an einem Arbeitnehmerverhältnis orientiert, bei dem die KünstlerInnen ein mehr oder weniger festes Gehalt pro Monat erhalten (Marx 2012, S. 47). Ebenfalls parallel gründete sich die erste Girlband mit dem Namen Chuusan Trio (dt. Trio aus der Junior-Highschool, der Name änderte sich mit fortschreitendem Schuljahr), die später erfolgreich Solopfade beschritten, äußerlich aber noch eher im Bereich enka (ähnlich deutscher Volksmusik) verankert waren. In den 70ern kam ein weiteres Element dazu, welches die Inszenierung der Aidoru nachhaltig prägen sollte. Zu der Zeit galten junge Mädchen (shoujo), als primäre Zielgruppe für die Wirtschaft (Yano 2004, S. 56) und man orientierte sich nicht nur an Schülerinnen, sondern speziell an Trends aus ihrer Lebenswelt, wie eine erfundene, kindliche Schreibweise2 (burikko ji). Kindliche Ausdrucksweisen und Kleidung folgten zusammen mit der Bezeichnung der neuen Kultur: die „kawaii culture“ (vgl. Decatur 2012; Kinsella 1995). Die bezeichnende sprachliche Wurzel findet sich im Wort kawayushi, welches so viel heißt wie schüchtern, verletzlich. Daraufhin leitete sich in den folgenden Jahrzehnten das Wort kawaii (süß, putzig, niedlich) und auch das Wort kawaisou (bemitleidenswert, pathetisch) ab. Selbst im Wort kawaii findet sich teilweise immer noch diese Konnotation von Mitleid. Untrennbar ist diese Relation ebenfalls in der Inszenierung der Aidoru, die sowohl sehr niedlich, kindlich wirken, als auch verletzlich erscheinen. Die Hochphase der kawaii culture ging einher mit dem Idolboom der 80er. Noriko Sakai ist eine Verkörperung der Vermischung beider Entwicklungen. Ihren Erfolg feierte sie nicht nur aufgrund ihrer Lieder, sondern wegen einer eigenen „Sprache“, die sie entwickelte und

2In

den 80er Jahren begannen viele Schülerinnen anstatt klassisch von oben nach unten, einfach von links nach rechts zu schreiben. Diese Schreibweise sieht sehr kindlich aus und dieses Bild wird mit Dekorationen im Sinne von kleinen Zeichnungen oder Sticker verstärkt.

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Noripiigo3 nannte sowie ihrem kindlichen Kleidungsstil. Das bis dato gelebte und favorisierte Erscheinungsbild vom enka-esken Idol erfuhr also einen Wandel zum kindlichen, unschuldigen Individuum, welches schutzbedürftig war. Ein Bild, welches sich in aktuellen Bands noch immer zeigt. In den 80ern wuchs auch die Bubble Economy an und brachte wirtschaftlichen Wohlstand mit sich. Davon profitierte auch die Vermarktung rund um die Aidoru, die omnipräsent von Plakaten, in Werbeanzeigen, in Radios und natürlich im Fernsehen zu sehen waren (vgl. Galbraith und Karlin 2012, S. 15). Konträr zu den 70ern terminierte die Karriere der weiblichen Aidoru jedoch früher. Sobald sie das heiratsfähige Alter erreichten (circa 20–25 Jahre), erschien die Aufrechterhaltung der Inszenierung von Unschuld oder Reinheit diffizil. In großen Abschlusskonzerten verkündeten sie ihren Abschied und gingen andere Karrierewege (z. B. Hausfrau, Erotikmodel, Solo-Idol). Anhand der Historie der Aidoru lässt sich klar erkennen, dass diese primär in der Jugendkultur verwurzelt war und sich zu einem popkulturellen Massenphänomen ausbreitete. Dabei stellten jimushos und das Fernsehen schon sehr früh einen entscheidenden Faktor in der organisierten Produktion von KünstlerInnen dar. Trotz rascher Entwicklung im Bereich Internet, bleibt das Fernsehen in Japan seit Jahrzehnten das Leitmedium (Zöllner 2013, S. 429). In einer quantitativen Erhebung zu den Freizeitbeschäftigungen 1986–2004 stellte der Medienkonsum eine zentrale Tätigkeit dar (49,0 %), während Beisammensein mit der Familie (25,1 %) und Verkehr mit Freunden (21,4 %) eher sekundär behandelt wurden (Naikakufu daijin kanbō seifu kōhōshitsu o. A., zit. n. Zöllner 2013, S. 429). Daher ist es kaum verwunderlich, dass dieses Medium stets genutzt wird, um neue Künstler und Performer einem größeren Publikum zu präsentieren (Marx 2012, S. 45). Die Präsentation erfolgt in einer gewaltigen Breite und umfasst nicht nur Musikshows, sondern auch Koch- und Unterhaltungssendungen, Serien oder gar Nachrichten. Galbraith (2012, S. 9) vermutet sogar, dass JapanerInnen mittlerweile im Alltag mehr Kontakt mit einem bestimmten Aidoru oder einer berühmten Person haben, als mit der eigenen Familie. Die ursprüngliche quantitative Studie würde diese Vermutung unterstützen. Aus diesem Grund kann ein Gefühl der Vertrautheit entstehen, denn das Aidoru ist nicht nur zu jeder

3Das

Wort Noripiigo ist ein Neologismus aus ihren Namen (Nori), der Silbe pi und das Wort für Sprache go. Sie tauscht die letzte Silbe von Verben mit dem Laut pi aus. Aus akarui (fröhlich) wird also akapii. Die Bedeutung ist zu erahnen, doch der Ausdrucksstil erscheint wie Sprache eines Kleinkindes.

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Zeit omnipräsent, sondern begibt sich durch das Fernsehen auch in die privaten Räume der Fans, wie der folgende Abschnitt argumentiert.

3 Uchi/Soto Der öffentliche Raum wird durch uchi, soto, honne, tatemae, omote, ura strukturiert und findet Eingang in die Sprache, sowie in das Verhalten der Individuen zueinander und ihrer Umwelt (vgl. Heinze 2013; Sugimoto 2002). Diese Strukturen verschleiern die eigentliche Intention von Individuen, um ein sozial erwünschtes Verhalten oder eine gesellschaftlich erwartete Reaktion zu präsentieren (vgl. ebd.). Obwohl eine solche Abgrenzung zwischen Rollenerwartungen in vielen Kulturen praktiziert wird, forcieren in Japan Unternehmen und Medien diese Dichotomien extrem und stellen durch ein Regelsystem an Verhaltenskodexen eine Orientierungsmöglichkeit oder gar eine Konstante in der modernen Gesellschaft her (Sugimoto 2002, S. 443). Tatemae bedeutet übersetzt „in der Öffentlichkeit vertretene Meinung“4 und spiegelt daher die gesellschaftlichen Erwartungen wider. Honne, zu deutsche „wahre Absicht“ konstituiert die individuelle Meinung oder auch Haltung. Nichtsdestotrotz kann tatemae dafür genutzt werden, um seine in honne manifestierte Intention indirekt zu kommunizieren (Sugimoto 2002, S. 450). Ähnlich verhält es sich mit omote (dt. Vorderseite), der legalen oder idealen Ansicht zur Gesellschaft und ura (dt. Rückseite), der destruktiven, illegalen Komponente in Kulturen. Japans soziale Wirklichkeit ist ferner von uchi und soto geprägt. In ihrem Wesen wird eine Dichotomie von Gruppenrelationen deutlich. Uchi (innen, innerhalb) bezieht sich auf Zugehörigkeiten innerhalb einer bestimmten Gruppe, wie beispielsweise die Mitarbeitenden einer Firma, ein Freundeskreis, eine Schulklasse oder eine Familie. Soto (draußen, außerhalb) hingegen richtet sich an Außenstehende. Einblicke in die privatere Lebenswelt sind demnach nur im Bereich uchi möglich, während soto eher durch tatemae geprägt ist und gesellschaftliche Rollenerwartungen abruft. De Mente (2004, S. 63) spricht im Kontext soto und tatemae sogar von einer Vermeidungsstrategie, um „one’s ‚real‘ self“ nicht vor der Umwelt zu entblößen. Da der Autor jedoch primär im betriebswirtschaftlichen Bereich unterwegs ist, könnte diese Aussage auch gebunden

4https://www.wadoku.de/search/%E5%BB%BA%E5%89%8D

[Stand 01.04.2019].

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an bestimmte Kontexte, wie Berufswelt oder Serviceindustrie gebunden sein. Subjektivität ist stets kontextabhängig und dieser Kontext bedingt die Interaktionen mit anderen und daher die Kollektivität. „Summarizing briefly, the Japanese self is defined socially, by engagement in concrete social relationships and by the ability to shift appropriately between different social situations“ (Bachnik 1992, S. 3).

Beide Seiten bedingen einander und können demnach nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Folgt man diesem Gedanken ist schnell zu erkennen, dass Handlungen im Hinblick auf das Allgemeinwohl geschehen, um Harmonie herzustellen. Gehen wir auf das anfängliche Beispiel zurück, so sind die Handlungen des Aidoru Minami Minegishi unter dieser Folie betrachtet, verständlicher. Ihre Verhaltensweisen entsprachen zum einen nicht dem Vertrag, den sie mit der jimusho einging, zum anderen aber auch nicht der sozialen Erwartung an ihrer Rolle. Da sie allerdings eine Gruppe repräsentierte und nicht nur sich selbst, beträfen Sanktionen ebenso ihre Mitstreiterinnen. Es könnte daher gedeutet werden, dass das Rasieren des Kopfes hier einer kollektiven Bestrafung entgegenwirken sollte. Eine weitere Lesart wäre natürlich auch ein möglicher PR-Stunt, der durch tatemae inszeniert, aber unterschwellig eine steigende Popularität von Minami Minegishi intendierte (somit honne). An dem Beispiel wird abermals deutlich, dass traditionelle Werte wie „Reinheit“, „Bescheidenheit“ forciert und Verstöße (z. B. sexuelle Aktivität) hart und vor allem im öffentlichen Raum (Massenmedien, soziale Netzwerke) sanktioniert werden. „Ausgerechnet die modernen Massenmedien stabilisieren also die traditionelle uchi/soto-Dimension der japanischen Gesellschaft“, hält Heinze (2013, S. 135, Herv. i. O.) fest. Die Funktion des Idols geht also über die bloße Unterhaltung hinaus, sie verfügt vielmehr den symbolischen Charakter eines Rohstoffes (vgl. Prusa 2012; Clammer 1997), der durch tradierte Werte, Erwartungen aufgeladen ist. Ein Grund dafür ist in der Wirtschaft und speziell im Konsum zu finden.

4 Das Aidoru – ein konsumierbarer Rohstoff mit sozialen Werten In den 20er Jahren durchzog eine Welle der Urbanisierung das Land und strukturierte nicht nur die Infrastruktur, ließ Großstädte zu Metropolen anwachsen, sondern ebnete den Weg für flächendeckende Verbreitung von

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Medien. Damals waren es noch Zeitschriften, Radios und Schallplatten, die als „medialisierte Massenkultur“ das „regional verwurzelte kulturelle Geflecht der Stadt“ veränderten (Yoshimi 2013, S. 173). Diese Grundstruktur ermöglichte einen Massenkonsum, der sich adäquat zu den herrschenden religiösen, politischen, sozialen Gegebenheiten entwickelte und auch bis heute akzeptiert ist. Die hier verwendete Begrifflichkeit von Konsum hat daher zwei essentielle Charakteristika: zum einen besitzt der Begriff in Japan keine negative Konnotation, zum anderen sind betreffende Tätigkeiten nicht als passives Aufnehmen von Gütern zu sehen, sondern vielmehr als kreatives Potenzial innehält (vgl. Clammer 1997; Kelly 2004). „[C]onsumption has come to be recognized as an essential part of a constellation which links interest in the body, the nature of selfhood and the emergence of late (or post)modern society to older concerns with material culture, the organization of the everyday life world, the presentation of the self and the micro-economics of households, whether comprised of families or of individuals“ (Clammer 1997, S. 1).

Diese Verbindung zwischen Selbst und materiellen Gütern verdichtet sich in Konsumgesellschaften. So ist es nicht verwunderlich, dass Japan sich seit den 60ern massiv sozial und kulturell aufgrund des „Konsum-booms“ veränderte (vgl. Clammer 1997, S. 2; Aoyagi 2005, S. 3). Das reziproke Verhältnis von Konsum und Lebenswelt offenbart kulturelle Praktiken, Ansichten, Werte und Normen der Gesellschaft sowie der Kapitalisten, die dieses Gefüge prägen. Clammer (1997, S. 4) zeigt beispielsweise auf, dass sich im Konsum-dominierten Alltag gesellschaftliche Hierarchien nicht nur manifestieren, sondern auch Konsumgüter um diese herum organisiert sind. Infolgedessen reflektiert Konsum nicht einen selbst gewählten Lebensstil, sondern bestimmte vorgefertigte Kategorien, in die man als Individuum hineinschlüpfen kann oder muss (Clammer 1997, S. 7). De facto kann an der Kleidung einer Person teilweise der Stand oder der Beruf, sowie die Position innerhalb dieses abgelesen werden. Im Unterhaltungsbereich finden sich diese „Identitätsschablonen“ ebenfalls wieder. Aidoru nehmen nicht nur bestimmte Kategorien oder Archetypen, wie anfänglich erwähnt an, sondern inszenieren sie bei Auftritten, Live-Events, auf Blogs im Internet oder Werbeplakaten in Fern- und Nahverkehr. Galbraith und Karlin (2012, S. 8) gehen sogar so weit zu sagen, dass die Aidoru selbst von den Produkten und Services, die sie verkaufen, produziert oder geformt werden. Tatsächlich scheint Individualität eine geringere Rolle zu spielen, da das Selbst und die Gesellschaft im reziproken Verhältnis steht und Japan somit als „an essentially collective enterprise“ (Clammer 1997, S. 20) bezeichnet werden kann.

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Aus soziopsychologischer Sicht ist in Japan das Geflecht Selbst und Gesellschaft durch eine dritte basale Komponente ergänzt: die Natur (vgl. ebd.). Es ist wichtig im Einklang mit ihr zu leben und diese nicht zu zerstören. Als zentrale Auswirkungen dieser Grundregel verstehen sich die Verkörperung des Selbst, die Pflege des Körpers, die Ansicht des Geschenkes des Körpers durch die Eltern sowie das Streben nach Harmonie. Dies steuert das Individuum zu einem reflexiven Umgang mit dem eigenen Körper, aber auch zu einem Abspulen von Erwartungshaltungen, um nicht im Konflikt mit anderen Gruppen/Generationen (soto) oder der eigenen Gruppe (z. B. Eltern, uchi) zu stoßen (vgl. ebd., S. 21). Der Körper in Japan stellt folglich einen essentiellen Rohstoff dar, um Ideen zu kommunizieren, aber ist zeitgleich mit diesen Wünschen und Erwartungen aufgeladen, die eine große Masse von Menschen erreichen müssen (Sugimoto 2002, S. 3205; Clammer 1997, S. 111). Auch Clammers (1997, S. 111 ff.) ethnographischen Studie zu Körperbilder in japanischen Magazinen belegt diese Aussage mit Empirie. Seine Erkenntnisse im Bereich Inszenierung von Körpern und Selbst lassen medienkonvergente Muster erkennen, die soziale Erwartungen an einen Körper, nach Zielgruppen aufgeschlüsselt, widerspiegeln. In Frauenmagazinen werden beispielsweise bestimmte Rollenerwartungen kommuniziert, wie die perfekte Ehefrau und junge Mutter, die auf eine Unterdrückung des Selbst schließen lassen, aber diese Rollenbilder werden ebenfalls in der Gesellschaft gelebt und erwartet, sind demnach Aspekte des Selbst (Clammer 1997, S. 121). „In essence then the social construction of the body can be seen as the commodification of the body: its presentation in such a way as to induce desire, to engineer the shape, size, colour, and posture of the body through fashion, decoration, diet, ‘fitness’ and even surgical alteration, to fit largely media-induced images of what the body ‘should’ look like.“ (Clammer 1997, S. 131).

In Musikclips der Band AKB48 werden die jungen Frauen teilweise in Unterwäsche dargestellt, dies ist für das westliche Auge vielleicht ein wenig seltsam, da es sich noch um Minderjährige handelt, doch ist es in der japanischen Gesellschaft nicht zwingend sexuell zu sehen. Hier werden teilweise Kategorien und Anforderungen an den weiblichen Körper kommuniziert: Gesundheit, dünne Körperform, gepflegt sein. Körperdarstellungen dieser Art sind eher als Aufruf zu sehen, sich um seinen Körper zu kümmern, da das Selbst mit der Natur verbunden ist und der natürliche Körper schön sein sollte (Clammer 1997, S. 121). Die kindliche Darstellung der Aidoru legt ferner eine idealisierte Hommage an diese problemfreie Phase des Lebens nah und kreiert ebenfalls bestimmte Rollen-

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erwartungen des Alters, wie Reinheit, Naivität und das Verlangen beschützt zu werden (vgl. Kinsella 1995, S. 240). Es kann also festgehalten werden, dass der Körper der Aidoru zu einem Rohstoff geworden ist, um bestimmte kulturelle Kategorien und Ansichten zu kommunizieren. Da diese begrenzt sind, sieht Clammer auch wenig Individualität in dem Ausdruck des Selbst (s. Clammer 1997, S. 128). Seit seiner Studie sind bereits zwei Jahrzehnte vergangen, doch essentielle Elemente finden sich immer noch in der aktuellen Unterhaltungsbranche und besonders in der Inszenierung der Aidoru. Im Kontrast dazu stehen die Untergrund-Aidoru (chika aidoru), die sich teils selbst produzieren. Auf ihren Konzerten finden sich zwar bestimmte Muster, wie bei den kommerziell erfolgreichen Versionen (Niedlichkeit, Naivität), doch ist das Spektrum der Aidoru größer. An diesen Plätzen finden sich beispielsweise Transgender, ältere Menschen, Crossdresser, die an ihren Durchbruch arbeiten und eine gewisse Form von Anerkennung oder Aufmerksamkeit erlangen. Abseits von der Unterhaltungsindustrie lassen sich auch zunehmend individualisierte Lebensentwürfe erkennen, die sich von tradierten Mustern abwenden, um individuelle Ziele oder die Verwirklichung des Selbst fokussieren (vgl. Schad-Seifert und Kottmann 2018; Schad-Seifert 2014). Primär sind diese Fälle vermehrt jedoch in privaten Kontexten und nicht im öffentlichen Diskurs zu finden. Das Durchbrechen von tradierten Strukturen in der Unterhaltungsbranche geht oftmals immer noch mit einer öffentlichen Diffamierung oder gar Beendigungen von Karrieren einher (vgl. Galbraith und Karlin 2012; Prusa 2012).

5 Ausblick: Das Idol 2.0? Am Beispiel der Aidoru wird deutlich, dass der öffentliche Diskurs von gesellschaftlichen Vorstellungen determiniert ist, die ebenfalls die Inszenierung ihrer Körper betreffen. Folglich können zwar Facetten der Individualität hervorschimmern oder gar durch die jimushos als herausstechendes Merkmal identifiziert und verstärkt werden, doch geschehen entsprechende Inszenierung von Identität immer auf der Folie der Kollektivität. Diese Kategorien können als eine Art Konstante gesehen werden, die in Zeiten von Flexibilisierung Orientierung ermöglichen (Clammer 1997). Aidoru dringen durch die zentrale Position und Bedeutung des Leitmediums Fernsehen in private Räumlichkeiten ein (uchi) und werden durch die omnipräsente Vermarktung auf Plakaten, Produkten, Spielautomaten und weiteren Objekten zu einem ständigen Begleiter der japanischen Bevölkerung.

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In Zeiten der Digitalisierung hat dieses Phänomen sogar neue Formen angenommen. Fans sind nun in der Lage eigene digitale Idole/Aidoru zu erstellen und ihnen eigenes Leben einzuhauchen. Das Paradebeispiel ist die Figur Hatsune Miku, die optisch den erwähnten Kategorien von kawaii entspricht und als Hologramm sogar große Konzerthallen füllen kann. Mit einem Programm kann der Fan zu Hause auch eigene Lieder und Tanzauftritte schneiden und somit den digitalen Text Hatsune Miku auf unendliche Weisen verarbeiten (Black 2012, S. 221). Auch das durch Motion-Tracking produzierte Aidoru Kizuna A.I. fällt positiv durch eine Vielfalt von Charakterzügen (Wut, Ironie, Sarkasmus) auf. Dominant bleibt jedoch der Hang zur Niedlich- und Verletzlichkeit. Es wird also abermals deutlich, dass die kollektiven Trends, Normen, Werte und Praktiken sich nicht nur im Aussehen, sondern auch im Verhalten der Aidoru, egal ob „real“ oder „digital“ widerspiegeln. In Zeiten von audiovisuell inszenierten Bildern in sozialen Medien ist dies natürlich kein Novum, was diese Konstruktion unterscheidet ist jedoch der Zweck: die Verwertbarkeit für kommerzielle Zwecke (Clammer 1997, S. 131). Aspekte dieser „consumer society“ (ebd.) finden wir bereits in westlichen Phänomenen, wie Influencer. Für die Betrachtung dieser könnten die Erfahrungen aus den Untersuchungen der Konsumgesellschaft Japan nützlich sein.

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Anonymität auf den Bühnen des Politischen Florian Krückel und Maren Schüll

„True anonymous have no self.“ (Anonymous 2017b, 9:10 Min.)

Zusammenfassung

Jacques Rancière zufolge gehört die De-Identifizierung von Subjektivität und Gesellschaft zu den zentralsten Momente des in seinem Sinne Politischen. Ein politischer Akt verlangt geradezu die Distanzierung von sozialen Strukturen und die De-Identifizierung von der eigenen gesellschaftlichen Verortung. In den Fokus geraten politische Interventionen, die keinen sozialen Ort und keine funktionierende Identität voraussetzen.

Jacques Rancière zufolge gehört die De-Identifizierung von Subjektivität und Gesellschaft zu den zentralsten Momente des in seinem Sinne Politischen. Ein politischer Akt verlangt geradezu die Distanzierung von sozialen Strukturen und die De-Identifizierung von der eigenen gesellschaftlichen Verortung. In den Fokus geraten politische Interventionen, die keinen sozialen Ort und keine funktionierende Identität voraussetzen. Sie thematisieren den potenziellen Anteil F. Krückel (*) · M. Schüll  Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Schüll E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_8

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F. Krückel und M. Schüll

derer an Gesellschaft, die bisher nicht an der gesellschaftlichen Ordnung (an-) teilhaben, die namenlos sind, indem sie nicht sichtbar sind. Der neue Ort, an dem diese Sichtbarkeit der Anteillosen entstehen kann, ist für Ranciere der ästhetische Raum der Bühne. Auf ihr zeigt sich das Politische als Streit der Sichtbarkeit und Nichtsichtbarkeit als einer über die historisch-apriorischen Möglichkeiten des Erscheinens von Etwas als Etwas. Die Bühne steht metaphorisch für mögliche Verschiebungen und Veränderungen der herrschenden, identifizierenden Ordnung der Gesellschaft. In einem selbstemanzipatorischen Akt inszeniert eine Gruppe, die bislang namenlos, das heißt nicht sichtbar war, ihre Sichtbarkeit und den Streit um Gleichheit. Dieser politische Akt, der nur in singulären1 Formen des Kollektiv-Werdens durch Grenzverletzungen auftritt, ist eine De-Identifizierung. Bühnen etablieren ein Moment der Fiktion, das die Aufteilung von Raum und Zeit dereguliert, den Sprecherpositionen die Legitimation entzieht sowie die Unbestimmtheit der Identitäten eröffnet. Eine solche widerständige Unterbrechung herrschender Ordnung schafft in der Aussetzung Spielräume, in denen neue Formationen von Subjektivität die Bühne des Politischen betreten können. Kurzum: Es geht um politische Praxen der Unterbrechung. Sinnfällig sollen dererlei Praxen am Beispiel von „Anonymous“ werden. Anhand dieser Bewegung wird die Bühne als ästhetischer Raum kollektiver Handlungsformen ausgeführt, und zwar als Ort der De-Identifizierung. Das heißt, die Bühne selbst bliebe eine Sichtbarmachung der Namenlosen, die jedoch nicht mehr anteillos sein müssen, sondern zugleich an dieser in Szene gesetzten politischästhetischen Gemeinschaft Anteil haben. Durch die Suspension der Identifikation wird der Macht im Kontext der Kontrollgesellschaft die vielleicht wichtigste Arbeitsgrundlage entzogen. Anonymous entzieht sich am Ende gesellschaftlich identifizierenden Zuschreibungen und Einordnungen, welche im Grunde die Rollen und Plätze innerhalb einer Gesellschaft festlegen, Mächte organisieren sowie Identitätsmuster und akzeptierte Standards etablieren. Die De-Identifizierung dieser vielgestaltigen, gewissermaßen formlosen Bewegung kann daher als eine politische Form der Delegitimation polizeilicher Macht gelten. In der folgenden Abhandlung soll der Frage nachgegangen werden, wie politisches Handeln als eine Form kollektiver Subjektivierung gedacht werden kann (Abschn. I und II), ohne sie zugleich in einer namentlichen Subjektivierung erneut zu identifizieren (Abschn. III). Dieser Überlegung wird in drei Schritten nachgegangen. In einem ersten soll die Bedeutung der Bühne als Un-Ort der Sichtbarmachung zunächst expliziert werden. Wie genau dann die Bühne das Politische

1Agamben

verbindet die Singularität mit einer Form der Beliebigkeit, die das Kontingente in den Blick bekommt (vgl. Agamben 2003, S. 71 f.).

Anonymität auf den Bühnen des Politischen

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sichtbar macht, wird in einem zweiten Gedankengang zu klären sein. In einem dritten und konklusiven Schritt wird schließlich anhand von Anonymous veranschaulicht, wie eine performative Schaffung einer Bühne, die auf De-Identifikation beruht, sinnvoll und weiterführend gedacht werden kann.

I. Politik, so Rancière, ist kein staatlich-parteilicher Regelzusammenhang. Sie ist kein Konflikt zwischen bereits konstituierten Interessengruppen innerhalb einer bestehenden Ordnung, sondern vielmehr ein Streit um die grundlegende Ordnung, um die gemeinsame Welt selbst, ihre Grenzen und Ausschlüsse. Anteillose können ihre Anteillosigkeit schließlich nicht innerhalb der bestehenden Machtordnung, in der sie keinerlei Gewicht oder Stimme haben, signalisieren und geltend machen. Die Bedeutung der Bühne als Ort der Fiktion, auf denen das erscheinen kann, was es am Ende nicht gibt, was in der Wirklichkeit keine Raum-Zeit hat, wird somit virulent. Es sind die Bühnen der Gemeinschaft, die getrennte Welten zusammenbringen (vgl. Rancière 2002, S. 119), auf denen das Erfahrungsfeld neu formiert, eine Grenze überschritten und verschoben wird, neue Sichtbarkeiten entstehen und am Ende der Gleichheit eine Wirksamkeit verliehen wird. Politik hat in dieser Hinsicht Bühnen strittiger Gemeinschaften zu errichten, welche den Konflikt zweier unversöhnlicher Logiken beziehungsweise Welten ins Spiel bringen (vgl. ebd., S. 110).2 Die in Anlehnung an den foucaultschen Begriff der policey gefasste polizeiliche Logik ordnet Menschen an und ein. Die policey verweist also nicht auf die repressive Seite der staatlichen Exekutive, sondern auf die symbolische Konstitution des Sozialen, welche den öffentlichen Raum mit Unterscheidungen durchzieht (vgl. Foucault 2009, S. 142 f.; Rancière 2008d, S. 31). Sie gibt jedem Körper, jedem Ding und jedem Ort einen Namen, identifiziert ihn und weist ihm dadurch seine Position und Funktion zu (vgl. Rancière 2002, S. 41). Gleichzeitig definiert sie so die Teilhabe und Nicht-Teilhabe am Gemeinsamen, die Sichtbarkeit sowie die Unsichtbarkeit. Die polizeiliche Logik, welche Identitäten, Zugehörigkeiten und die Aufteilungen festschreibt, ist nicht nur auf Schließung und Ausschluss aus, sondern auch auf Zählung und Berechenbarkeit (vgl. Rancière 1997a, S. 109; Glück 2018, S. 107). Letztlich ist sie eine Logik des Offensichtlichen und unmittelbar sinnhaft Gegebenen. In Gestalt einer fixen Ordnung der

2Laut

Rancière ist zunächst nichts an sich politisch, alles kann es beim Zusammenstoßen der beiden Logiken jedoch werden (vgl. Rancière 2002, S. 44).

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Sichtbarkeit und sinnlichen Erfahrung bestimmt sie alles, was Menschen sehen, denken, wahrnehmen und alles, woraus sie schließen, wen es gibt, wer wo etwas sagen oder machen darf und wer eben nicht. Diese grundlegenden, sozial vermittelten Formen der sinnlichen Erfahrung fasst Rancière in vager Anlehnung an Kant als ‚Aufteilung des Sinnlichen‘. Die Verteilung dessen, was sag-, mach- und denkbar ist, „wenn Raum und Zeit auf eine bestimmte Weise eingeteilt und dadurch Praktiken, Formen und Sichtbarkeiten miteinander verknüpft werden“ (Rancière 2008b, S. 71), versteht er als ursprüngliche oder erste Ästhetik von Gemeinschaft (vgl. Rancière; ebd. 2008c, S. 38). Als solche generiert die Aufteilung des Sinnlichen ein sinnliches Kollektiv, eine Gemeinschaft des Sinnlichen als Rahmen der Sichtbarkeit und Intelligibilität. Damit bleiben zugleich aber auch Teile exklusiv (vgl. ebd. 2008b, S. 25). Wer oder was ist in der sinnlichen Erfahrung gegeben? Wer oder was hat Anteil am Sinnlichen, das erfahrbar ist? Die wesentliche Frage der Aufteilung eines gemeinsamen Erfahrungsfeldes ist die nach der Öffnung des (sinnlichen) Gemeinsamen für die Teilhabe der Einzelnen. Die Aufteilung des Sinnlichen, die immer schon die Erfahrungen einer je bestimmten Gemeinschaft strukturiert, ist also eine Art der Grenzziehung und in ihrer politischen Neuaufteilung eine Grenzüberschreitung beziehungsweise -verschiebung. Sie entscheidet über In- und Exklusionen, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, über Fragen der Legitimation und des Zugangs zur Bühne. Die politische Logik hat bei Rancière nun die Funktion, diese polizeiliche Ordnung aufzuheben und zu unterbrechen. Sie verweist explizit auf die Idee der Gleichheit, indem sie die Formen der Sichtbarkeit des Gemeinschaftlichen sowie die Zugehörigkeiten, Identitäten und Aufteilungen, die sie definieren, zur Streitsache macht (vgl. ebd. 2009b, S. 70). Während die polizeiliche Logik nur das sieht, was ‚es gibt‘, nur die tatsächlichen Gruppen zählt, verweist die Politik auch auf all die Ausschlüsse, die Lücken im Wirklichen und einen zusätzlichen Anteil von Anteillosen (vgl. ebd. 2000, S. 109; ebd. 2008d, S. 28 f.). Politik, so lautet das diesbezügliche Axiom3, ereignet sich nur durch das Prinzip der Gleichheit im Sinne der gleichen Befähigung eines jeden, ein Akteur auf der g­ emeinschaftlichen

3„Es

gibt eine Ordnung, weil die einen befehlen und die andren gehorchen. Aber um einem Befehl zu gehorchen, bedarf es mindesten zweier Dinge: man muss den Befehl verstehen, und man muss verstehen, dass man ihm gehorchen muss. Und um das zu tun, muss man bereits dem gleich sein, der einen befehligt. Die ist die Gleichheit, die jede natürliche Ordnung aushöhlt.[…] Die Ungleichheit ist letztendlich nur durch die Gleichheit möglich.“ (Rancière 2002, S. 29).

Anonymität auf den Bühnen des Politischen

133

Bühne zu sein (vgl. ebd. 2006, S. 74 ff.). Unter Rekurs auf Gleichheit als seine zu verifizierende Voraussetzung besteht der politische Akt darin, der Wahrnehmungsweise der polizeilichen Welt eine sinnlich wahrnehmbare, polemische Gegebenheit entgegen zu setzen (vgl. ebd. 2000, S. 101), und so die Möglichkeit einer Neuordnung zu eröffnen. „Die Politik besteht darin, die Aufteilung des Sinnlichen neu zu gestalten, die das Gemeinsame einer Gemeinschaft definiert, neue Subjekte und Objekte in sie einzuführen, sichtbar zu machen, was nicht sichtbar war, und als Sprecher jene vernehmbar zu machen, die nur als lärmende Tiere wahrgenommen wurden.“ (ebd. 2008a, S. 35) Eine solche Verschiebung, Überschreitung oder ein solches Vor-Augen-Führen der herrschenden Grenzen sinnlicher Ordnung hat die Raum-Zeit einer Bühne. Sie, die Platon in den antiken Tragödien und Komödien fürchtet, weil sie zu einer gefährlichen Massenherrschaft des Publikums und infolgedessen zu einer permanenten Unruhe und einem unnötigen Freiheitsdrang des Volkes führe (vgl. Platon 1991 S. 701b; siehe auch Schwarte 2008, S. 147 f.), wird bei Rancière zum immanent politischen Topos. In einem metaphorischen Verständnis wird die Bühne zum Ort und Medium der Aushandlung von Partizipationsansprüchen. Nicht nur weil die namenlosen, unidentifizierbaren Anteillosen nicht Teil der sichtbaren Öffentlichkeit sind, sondern auch weil ihr Erscheinen durch den politischen Akt sichtbar machen soll, dass sie eigentlich unsichtbar sind, bedarf das Politische einer Bühne. Sie ist öffentliche Sphäre des Erscheinens und Raum demokratischer Teilhabe. Auf einer „Bühne der Sichtbarmachung“ (Rancière 2002, S. 37) zeigt sich das, was vordem unsichtbar war beziehungsweise nicht vernommen und nicht für möglich gehalten, kurz gesagt, ausgeschlossen wurde. Die Subjektivierungsweise des Politischen ist, genauer gesagt, das Erscheinen auf einer gemeinsamen Bühne und folglich das Erscheinen dieser Bühne selbst. Vor alledem ist die Politik aber der Streit um die gemeinsame Bühne und um die Akteure, die auf ihr auftreten dürfen oder eben nicht. Die bisher Ungesehenen und Unvernommenen müssen nicht nur argumentieren, sie müssen auch die Bühne errichten, auf der ihre Argumentation hörbar ist, auf der sie als sprechende Subjekte sichtbar sind. Die Bühne ist, laut Rancière, „für den Gebrauch eines Gesprächspartners da […], der sie nicht sieht und keinen Grund hat, sie zu sehen“ (ebd., S. 38), weil die Teile und Anteile an der Bühne nicht vor diesem Streit existieren. Wahrnehmbar wird also das Nicht-Eingeschlossen-Sein derer, die nicht dazugehören, erst im Augenblick ihres Erscheinens, das immer ein dissensuelles ist. Dass das Politische primär eine „ästhetische Angelegenheit, Sache des Erscheinens“ (ebd., S. 85) ist, heißt zugleich, dass es eine Kluft zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren geben muss. Denn was vollständig sichtbar ist, könnte nicht mehr erscheinen. Der Konsens ist, anders als der Dissens, die

134

F. Krückel und M. Schüll

Herrschaft der All-Sichtbarkeit, der vollständigen Repräsentation. Er besetzt den Ort des Erscheinens und annulliert so den Abstand des Sinnlichen zu sich selbst4 sowie die überschüssigen Subjekte (vgl. ebd., S. 114; ebd. 2008d, S. 45). Die Gründung eines gemeinsamen Sprach- und Handlungsrahmens bedeutet daher keine Verwirklichung des Gemeinsamen, sondern vielmehr eine „Vergemeinschaftung dessen, was nicht als gemeinsam gegeben ist“ (ebd. 2002, S. 114). Gleichheit verwirklicht sich nicht in der Auflösung der Grenzen, sondern in der Etablierung eines Zwischenraums. Die politische Bühne ist eine „der paradoxen Gemeinschaft, die den Streit gemeinsam macht“ (ebd., S. 61). Sie definiert sich über den zutage tretenden Konflikt und Widerspruch. Außerhalb dieser Bühne des Dissenses, die sich dem Gegebenen einer Situation verweigert und Subjekte einführt, die zuvor nicht gezählt wurden, gibt es „keine Politik, nur Ordnung der Herrschaft und Unordnung der Revolte“ (ebd., S. 24). Auf diese Weise untermauert Rancière ein Politikverständnis, das sich nicht in einem rationalen Streit um das bessere Argument und einem inhaltlichen Austausch zwischen sich gegenseitig anerkennenden Gesprächspartner*innen erschöpft. Vielmehr setzt es dort ein, wo zuallererst Positionen, von denen aus kommuniziert werden kann, sowie die Eigenschaften ihrer Sprecher*innen verhandelt werden. Die Gesprächssituation und ihre Rationalität kommen selbst ins Spiel und werden gleichsam dekonstruiert (vgl. ebd., S. 10 f.). Mit dem Gegenstand des Streits werden daher zugleich die Trennlinien des Gesellschaftlichen mitverhandelt. Das Politische entsteht also als Ästhetik der Bühne.

II. Die Frage, die sich nunmehr anschließt, zielt auf den Modus der Sichtbarmachung der politischen Bühne. Mit ihr können die Grenzen zwischen dem, was ist, und dem was nicht ist, durchlässig werden. Soll Politik zum Vorschein bringen, was in der gegebenen Ordnung keine Zeit und keinen Ort hat, ergo eigentlich überhaupt nicht vorkommen kann, kann sie nicht linear erfolgen oder sich auf irgendeine Pragmatik der Kommunikation berufen. Die Teilhabe am Gemeinsamen und Gleichheit können die Anteillosen und bis dahin Unsichtbaren nicht einfach abbilden und einfordern. „Wer zu Gesicht bringt, dass er einer

4Die

Demonstration eines solchen Abstands des Sinnlichen zu sich selbst zeichnet den Dissens aus (vgl. Rancière 2008d, S. 45).

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135

gemeinsamen Welt angehört, die der andere nicht sieht“ (ebd. 2008d, S. 285), der behauptet eine gemeinsame Welt, die sich nur als paradoxe Inszenierung vollziehen kann und Nicht-Gemeinschaft und Gemeinschaft zusammenbringt (vgl. ebd. 2002, S. 36, S. 67). Nur auf diese Weise kann eine Gleichheit, die es faktisch nicht gibt, zur Erscheinung gebracht werden. Inszenatorisch wird das Nichtsichtbare so sichtbar gemacht, dass es wie Wahr-nehmung erscheint (vgl. Iser 1993, S. 508, S. 512). Die Inszenierung, welche die gegebene Ordnung von geregelten Abläufen und die damit verknüpften Formen von Identifizierung dadurch unterbricht, dass sie den Streit über ein bestimmtes System sinnlicher Evidenzen einrichtet, bedient sich der Praktik des Als-ob: Die nicht gezählten Subjekte wenden sich an diejenigen, die sie nicht mitzählen, die ihre Tätigkeit nicht als einen Anruf des Politischen und die Raum-Zeit, in der sie die Tätigkeit vollbringen, nicht als eine der Gestaltung des Gemeinsamen zugehörig anerkennen. Die anteillosen Subjekte sprechen also diejenigen an, die sie nicht anerkennen, indem sie so tun, als ob es eine gemeinsame Sprache respektive gemeinsame Welt der Argumentation bereits gäbe, als ob das Gespräch in einer Gemeinschaft stattfände, deren Nichtexistenz sie zugleich aufzeigen (vgl. Rancière 2002, S. 101). Die gemeinsame Bühne, die auf diese Weise erfunden wird, stellt am Ende einen umkämpften, streitbaren Raum einer Beweisführung dar, „die die Gleichheit und ihre Abwesenheit zusammenhält“ (ebd.). Zur Aufführung kommen paradoxe Szenen, die zunächst Un-Sinn beziehungsweise Nicht-Sinn produzieren. Politische Subjektivierung als jener Herstellungsprozess einer Sprechsituation meint, so betrachtet, die Fähigkeit, „diese paradoxen Bühnen zu erzeugen, die den Widerspruch zweier Logiken sichtbar machen, indem sie Existenzen aufstellt, die gleichzeitig NichtExistenzen sind, oder Nicht-Existenzen, die gleichzeitig Existenzen sind“ (ebd., S. 52). Nur in solchen Akten der Wortergreifung zeigt sich die (selbst) emanzipatorische Bewegung und wird Gleichheit wirksam. Politik als Intervention in das Sichtbare und das Sagbare (vgl. ebd. 2008d, S. 32) ist stets „Sache der Subjekte oder vielmehr der Subjektivierungsweisen“ (ebd. 2002, S. 69). Ein unmögliches Subjekt erklärt sich zu einem möglichen und bringt darüber Sicht- und Sagbarkeiten hervor, die in der gegebenen Ordnung zuvor nicht identifizierbar waren. Deren Identifizierung geht mit der Rekonfiguration des Möglichen und der Neuordnung eines Erfahrungsfeldes, das jedem seine Identität mit seinem Anteil gibt, einher (vgl. ebd., S. 52). Der Ursprung politischer Beziehungen kann nicht in subjektiven Eigenschaften oder den Bedingungen von Zusammenkünften gesucht werden. Das politische Kollektivsubjekt, das eine ganze Logik mit aufruft, ist in diesem Sinn keine sich selbst bewusste Gruppe, sondern vielmehr ein Operator, der ­ Identitäten

136

F. Krückel und M. Schüll

und Funktionen in der „Einrichtung einer Streiterfahrung“ (ebd. 2002, S. 47) umformt. „Es gibt Politik, weil diejenigen, die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen und eine Gemeinschaft dadurch einrichten, dass sie das Unrecht vergemeinschaften, das nichts anderes ist als der Zusammenprall selbst, der Widerspruch der zwei Welten“ (ebd., S. 38). Verifiziert wird Gleichheit, wenn die politische Subjektivierung die vom Sichtbarkeitsregime Ausgeschlossenen in einem konstitutiven Sinne auf eine gemeinsame Bühne bringt, so Zuschreibungen auflöst und mit polizeilichen Kategorisierungen und Festschreibungen bricht. Sie ist somit eine De- oder Ent-Identifizierung, ein Sich-dem-zugewiesenen-Platz-und-der-zugewiesenen-Zeit-Entziehen und darüber die Eröffnung eines Subjektraums, in dem sich jeder dazuzählen kann (vgl. ebd., S. 48). Rancières politischer Subjektivierung liegt daher ein Modell von Kollektivität zugrunde, das als unidentifizierbare und namenlose Vielheit erfahrbar wird, die sich dem polizeilichen Zugriff des Zählens und der Statistik entzieht (vgl. ebd. S. 47). Gleichheit ist eine „Gleichheit zwischen Beliebigen“ (ebd., S. 31), eine Gleichheit von egal wem mit egal wem, die sich jeder Bestimmung qua Identität oder Interesse entzieht5 . Verrechnet wird das politische Subjekt in Gestalt von Nichteinberechneten, Namenlosen und Anonymen, die sich mit und durch die dissensuelle Artikulation allererst konstituieren, also die Unverfügbarkeit einer unmessbaren Fülle sind (vgl. ebd. 2000, S. 107; ebd. 2008d, S. 24). Politische Subjektivitäten unterscheiden sich insofern von sich selbst, sie „bilden sich in einer Art Überblendung der Namen und Identitäten“ (ebd. 1997b, S. 71) von sozialen Gruppen und staatlichen Funktionen aus. Sie befinden sich in einer prekären Situation, da sie ihre Position als Subjekte verlassen, ohne dass neue Subjektivitätsformen bereits zur Verfügung stehen. Rancières Figur der Subjektivierung ist demzufolge eine Entität in der Schwebe, mit der zugleich die Frage nach der eigenen Existenz virulent wird. Eine Bühne wird zum Spalt als ein Ort der Fiktion, durch welchen letztlich der Widerspruch zwischen der polizeilichen und der politischen Logik wahrnehmbar wird. In diesem Sinn liegt das Wesentliche der Politik „in den auf Dissens beruhenden Subjektivierungsweisen, welche die Differenz der Gesellschaft zu sich selbst bekunden“ (ebd. 2008d, S. 45). Das politische Subjekt als unbeständige Grenzfigur respektive vorübergehender Akteur auf der Bühne erfindet eine Legitimation, um den „Nicht-Bezug in Bezug zu setzen und das

5Diese

unbedingte Gleichheit grenzt sich von der in Berufung auf die Volkssouveränität postulierten Gleichheit ab, die von anti-pluralistischen, populistischen Bewegungen proklamiert wird (siehe dazu Glück 2018).

Anonymität auf den Bühnen des Politischen

137

Nichtstattfinden stattfinden zu lassen“ (ebd. 2002, S. 100). Es konstituiert sich in actu im Raum eines Unrechts. Löst sich die Verknüpfung zwischen politischer Beziehung und Subjekt, verschwindet Politik selbst. Die inszenatorische Praktik des Als-ob bestimmt nicht nur die Erscheinungsformen des Subjekts, welche zur Neukonfiguration des Möglichen zwingen, sondern eröffnet unterdessen auch eine ästhetische Gemeinschaft, eine Dissensfigur, die durch Unterbrechung strukturiert ist und aus desidentifizierten Subjekten besteht (vgl. ebd. 2009a, S. 263 f.). In kantianischer Manier verlangt die ästhetische Gemeinschaft „die Zustimmung gerade von dem […], der sie nicht anerkennt“ (ebd. 2002, S. 101). Die Logik des ästhetischen Urteils muss eine Sinnesgemeinschaft, einen sensus communis, den es eigentlich erst zu verwirklichen gilt, als „methodische Fiktion“ (Vaihinger 1986, S. 635) oder unbestimmte Idee beziehungsweise Norm (vgl. Kulenkampff 1995, S. 47) schon voraussetzen.6 Diese ästhetische Kollektivität, die in der Welt der Mutmaßung wirkt, besitzt einen ihr eigenen Anspruch auf Universalität, indem sie eine Existenzweise des Sinnlichen darstellt, „die der Verteilung der Teile und Anteile entzogen ist“ (Rancière 2002, S. 69). Das ästhetische Urteil, ein subjektives, problematisches Urteil, das Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat (vgl. Kant. W V 2005, S. 323, B 67/A 66 und S. 294, B 26/A S. 25 f.), begründet eine Universalität, die weder mit der Zählung der Stimmen noch mit einem objektiven Ausdruck substanzieller Kollektivität gleichgesetzt werden kann, sondern sich für jeden Beliebigen öffnet. In dieser Anbindung besitzt die inszenierte Gleichheit keinerlei reelles Fundament, sondern existiert nur als Voraussetzung und Bedingung, die es zu bestätigen und zu aktualisieren gilt. Anders gewendet: Gleichheit kann in dieser Anbindung niemals vollständig realisiert, sondern immer nur verifiziert werden, das heißt performativ behauptet werden. „Auch das soll »verifizieren« bedeuten: durch unsere Handlungen die Möglichkeit einer Welt schaffen.“ (Rancière 2016b, S. 51) Die polemisch-performativen Behauptungen von Gleichheit setzen eine universelle Gleichheit strategisch in Szene, als ob diese Gleichheit tatsächlich bestünde. Die Inszenierung dieses Als-ob, die den Konsens herrschender Wahrnehmung unterbricht und infrage stellt, führt zu einer Verdoppelung beziehungsweise Teilung der Wirklichkeit und lässt auf diese Weise die Grenzen zwischen

6Das

politische Als-ob zeichnet sich im Vergleich zum ästhetischen Als-ob durch die Behauptung einer kollektiven Fähigkeit aus: „Ich tue nicht nur so, als ob alle dasselbe Urteil teilen könnten, sondern wir tun so, als ob wir Mitglieder einer bereits existierenden Gemeinschaft wären.“ (Rancière 2012b, S. 187).

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dem, was ist, und dem, was nicht ist, durchlässig werden. Daher ist das politische Erscheinen nicht das, was die Wirklichkeit verschleiert oder verdeckt, „sondern was sie verdoppelt, was in sie strittige Gegenstände einführt“ (ebd. 2002, S. 114). Bestätigt und aktualisiert wird Gleichheit also in der Ausführung eines Streits, durch die Einrichtung einer polemischen Gemeinschaft als Unterbrechung der vorherrschenden Ordnung (vgl. ebd., S. 43). Neben einer faktischen Ungleichheit rückt eine fiktional-politische Gleichheit in den Blick und damit eine andere Aufteilung des Sinnlichen in den Raum des Möglichen und Vorstellbaren. Anonyme, nicht-identifizierte und nicht-legitimierte Subjekte produzieren in diesem Sinne „Szenen des Streithandels“ (ebd. 2000, S. 107). Diese performative „Inszenierung des Widerspruchs“ (ebd. 2002, S. 53) jener „Welt, wo sie sind, und jene[r], wo sie nicht sind“ (ebd., S. 38), konfrontiert die geschlossene Ordnung mit ihren gezogenen Grenzen, ihrer Trennung und Aufteilung, und macht so das Unvernehmen wahrnehmbar. Die Bühne, auf der sich eine politische Gemeinschaft für und durch den Konflikt ereignet (vgl. ebd., S. 47), erweist sich somit als Zwischen-Sein und Zwischen-Raum heterogener Zeitlichkeit, die eine eindeutige Bestimmbarkeit suspendieren. Eine andere Sicht auf die Dinge und ihre veränderte Ordnung sowie Deutung werden als Möglichkeiten der Wirklichkeit eingeschrieben. Was auf diese Weise zur Erscheinung gebracht wird, sind nicht nur die Anteillosen, sondern zugleich „die reine Zufälligkeit der Ordnung, die Gleichheit jedes beliebigen sprechenden Wesen mit jedem anderen sprechenden Wesen“ (ebd., S. 42). Politik, deren Existenz selbst problematisch ist, macht demzufolge sinn(en)fällig, dass es kein Fundament, keinen Grund gibt, aus dem die Verteilung der Plätze und Zuteilung der Funktionen hätte abgeleitet werden können (vgl. ebd., S. 24; ebd. 1997b, S. 67). Der Bereich des Möglichen ist „eine Welt in der anderen“ (ebd. 2008b, S. 35), eine „Welt der Mutmaßung“ (ebd. 2002, S. 69), durch die sich die scheinbaren Tatsachen oder die vermeintlich natürlichen Bestimmungen dessen, was erscheinen kann, verschieben lassen (vgl. ebd. 2008d, S. 62; ebd. 2002, S. 47).7 Die von Rancière so benannte „,künstliche[]‘ Dimension des In-GemeinschaftSeins“ (ebd. 2012a, S. 48) zeigt zum einen die Kontingenz der polizeilichen Ordnung als vermeintlich natürliche Ordnung an. Zum anderen weist sie das erscheinende Kollektiv als ebenso fiktiv aus, da dieses sich nur durch die Paradoxie bestimmt, die es inszeniert (vgl. ebd., S. 182). Bühnen als Raum, in dem

7Die

Politik kennt nichts ihr Eigenes, sondern kann nur als transformative Bezugnahme auf policey geschehen (vgl. Rancière 2002, S. 47).

Anonymität auf den Bühnen des Politischen

139

Neues geschaffen werden kann, zeigen, dass das Wirkliche nicht alles ist, dass es etwas gibt, das fiktiv und dennoch Teil der Wirklichkeit, das Supplement zum Wirklichen ist. Weil erst die Gleichzeitigkeit einer symbolisch verfassten Realität sowie die Vorstellung und Realisierung eines Als-ob die polizeiliche Ordnung der Selbstverständlichkeiten unterbricht, ist die Bühne der Sichtbarmachung immer auch eine Bühne der Fiktion. Während die polizeiliche Ordnung die Zeit und den Raum durch ihre Grenzziehung strukturiert, zeichnet sich die Fiktion prinzipiell durch das Überschreiten von Grenzen aus. Hierin liegt ihr politisches Potential zur Neuordnung des sinnlichen Erfahrungsfeldes begründet. Sie stiftet neue Beziehungen „zwischen dem, was man sieht und dem, was man sagt, zwischen dem, was man macht und dem, was man machen kann“ (ebd. 2008b, S. 62). Deshalb markiert Rancière die Fiktion nicht als die Erschaffung einer imaginären Illusion, die der wirklichen Welt nur entgegengesetzt ist. Sie ist vielmehr diskursiv, weil sie Gleichheitsrelationen zwischen jedem Beliebigen präfiguriert. Der fiktionale Modus des Politischen stellt neue Verhältnisse zwischen Erscheinung und Wirklichkeit sowie zwischen dem Sichtbaren und seiner Bedeutung her (vgl. ebd., S. 89), indem er die Unbestimmtheit der Identitäten eröffnet. Deshalb kann Politik in Form einer Ästhetik der Sichtbarmachung selbst als eine Kunst gelten, und zwar als eine „Kunst der verdrehten Ableitungen und gekreuzten Identitäten“ (ebd. 2002, S. 148). Ihre Aufgabe besteht nicht zuletzt darin, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion immer wieder zu verwischen und jede Identifizierung mit einer Ent-Identifizierung zu kreuzen.

III. In liberalen Demokratien der Gegenwart herrschen Ordnungen, die auf der Grundlage der Identifizierung des Menschen ruhen. Im Mittelpunkt der Ansprache steht der Mensch als Subjekt und der mit diesem verbundene Eigenname8, der seinen Ausdruck in Unterschriften wie auch in Legitimationen des Zugangs, der Zugehörigkeit zu etwas oder der Identifizierung findet und der einem qua Geburt zukommt (vgl. Lagasnerie 2018, S. 140; Butler 2013, S. 25). Der Mensch als eingeordnetes und identifiziertes Subjekt wird dabei

8Zur

weiteren Vertiefung der Problemstellung des Eigennamens siehe Waldenfels 2006, S. 118 f.

140

F. Krückel und M. Schüll

vordergründig als starke, autonome Individualität angerufen, die bei genauer Betrachtung brüchig wird (vgl. Foucault 1977, S. 234; Foucault 2003, S. 462). Er wird zum Synonym, zur immer gleichen Definition (vgl. Adorno und Horkheimer 1969, S. 142) diverser Klassifizierungen. Auf diese Weise werden Ordnungen erst geschaffen wie auch gestützt und bestätigt (vgl. Foucault 2010, S. 25; Althusser 1977, S. 142). Im Anschluss wird anhand von Anonymous gezeigt, wie sich diese Bewegung der polizeilichen Ein-Ordnung, Identifizierung und Namensgebung widersetzt. Es soll herausgestellt werden, wie sie in einer singulären Kollektivbildung Ordnungen durchbrechen sowie eine dissensuelle Bühne auf der Grundlage der Gleichheitslogik errichten und so veränderte Sicht- und Sagbarkeiten eröffnen kann (vgl. Lagasnerie 2018, S. 11). Anonymous9 grenzt sich von Formen der polizeilichen Kollektivierung ab und fordert den Anteil von namenlosen Vielen in ihrem Engagement zum Beispiel rund um Wikileaks oder den arabischen Frühling ein.10 Sie sind keine Organisation oder Verein in einem klassischen Verständnis, deren Struktur mit einer Satzung geregelt wird und durch die eine Strukturiertheit als Ein-Ordnung vorgegeben ist (vgl. Anonymous 2017a, 2:12 Min.). Somit ist Anonymous keine fest umrissene Gruppe. Die wenigen Kriterien, die sich ausmachen lassen, wären mit einer gewissen Affinität zu politischer und technischer Expertise zu umschreiben (vgl. Milan 2013, S. 193). So lässt sich nur an Hand der von den Individuen möglicherweise auch von den Gruppen frei gewählten Pseudonymen eine Zugehörigkeit in der Beobachtung ausmachen (vgl. ebd., S. 192; Coleman 2015). Dies führt dazu, dass für den*ie Beobachter*in nicht festzustellen ist, ob ein Pseudonym nicht von mehr als einer Person verwendet wird. In der NichtIdentität und Namenlosigkeit, die in Aussagen wie dem eingangs erwähnten „true anonymous have no self“ zum Ausdruck kommt, findet sich der zentrale

9Für

wissenschaftliche Untersuchungen stellt es eine große Herausforderung dar, Anonymous in seinen phänomenalen Strukturen zu beschreiben. Wissenschaft als Instanz der (Ein-)Ordnung tut sich per se schwer, an ihren Rändern das Unordentliche beziehungsweise Singuläre zu fassen und in seiner Wirkung zu beschreiben. Die Analyse von Anonymous bezieht sich in dem folgenden Abschnitt auf Videos der Plattform YouTube, in denen Anonymous ihr Selbstverständnis artikuliert. Dabei ist zu beachten, dass es sich um eine Form eines idealtypischen Verständnisses handelt, welches als Versuch der Beurteilung einzelner Aktionen genutzt werden kann.

10In

einem Video von 2017, welches sich gegen „Fake Anonymous“ (Anonymous 2017b) wendet, verweist Anonymous darauf, dass sie gegen Gewalt ist, nicht für Geld arbeitet oder die Wahrheit verkauft. Damit wird deutlich, welche Aktionen somit nicht der Bewegung zu zuordnen sind (vgl. Anonymous 2017b, 10:31 Min.).

Anonymität auf den Bühnen des Politischen

141

Punkt des Politischen. Anonymous versucht per se Identifizierungen und Repräsentationen zu verhindern. In ihrer Zusammenarbeit versuchen sie alle Formen der Nachverfolgbarkeit abzulegen, sich zu de-identifizieren, keinen Eigennamen zu haben (vgl. Wiedemann 2012, S. 206; Knuttila 2011). Im Nichtidentifiziert-Sein eröffnen sich Bühnen, die sich als singuläre Formen darstellen. Sie bieten die Möglichkeit des anders Seins im Verständnis der Etablierung neuer Sag und Sichtbarkeiten. Anonymous wendet sich damit von modernen und postmodernen Logiken der Zuschreibung an das Individuum ab, indem sie das Kollektiv in den Mittelpunkt rücken. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich ein reflexiver Raum, in dem das Verhältnis zwischen Gruppe und Individualität virulent wird. „In an age of atomization, when individuals seek profit or, at minimum recognition for every expression and creation, Anonymous has captivated the public's imagination precisely because it provides a provocative antithesis to the contemporary cult of celebrity.“ (Coleman 2013, S. 225). Für Anonymous ist es bezeichnend, dass sie sich nicht mit einem engen Begriff der*s Hackers*in verbinden lassen (vgl. Anonymous 2017a, 2:46 Min.). Vielmehr birgt der Begriff der Hacktivisten, als Neologismus aus Hacker*in und Aktivisten*in, eine bessere Möglichkeit der Umschreibung. In diesem kommt unter anderem zum Ausdruck, dass neben dem*r klassischen Hacker*in auch weitere Personenkreise, die unter den Begriff Aktivisten*innen fallen, mit einbezogen werden (vgl. Coleman 2015, S. 17 f., S. 407 f.). „But hackers are only a subset of Anonymous. Many more people contribute in other ways, by editing videos, penning manifestos, or publicizing actions on any number of social networking platforms.“ (ebd. 2013, S. 213 f.) Es kann gezeigt werden, dass Anonymous sich als eine Bewegung versteht, die sich gegen Ungerechtigkeit wie auch Korruption wendet und diese Momente in einem Selbstverständnis als Reporter*innen auf die gesellschaftliche Agenda bringt (vgl. Anonymous 2017a, 2:34 Min.). Im Zuge dessen vertreten sie einen radikalen Humanismus (vgl. Anonymous 2015, 0:34, Anonymous 2007, 2:00), der in vielen vertretenen Positionen und auch Aktionen zum Ausdruck kommt. Inwieweit in den Aktionen ein radikal demokratisches Prinzip im Sinne Rancieres sichtbar wird, wäre mit folgenden Fragen zu prüfen: „Wer errichtet die Bühne?“ und im Anschluss „Ist das Errichten ein selbstemanzipatorischer oder emanzipatorischer Akt?“ Anonymous stellt sich als eine offene, dezentrale, singuläre Kollektivität dar, die sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten zeigt. In dieser Zusammensetzung scheint die Bewegung so nicht wieder auf. Sie können bis zu gewissen Momenten auch mit der Metaphorik des postmodernen Nomaden

142

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(vgl. Flusser 1990, S. 21) beschrieben werden, der sich Momenten der RaumZeitlichkeit entzieht (vgl. Flusser 1991, S. 77 f.). Anonymous verfolgt das Ziel „eine Form der Anonymität [zu] unterstützen, die dem Subjekt die Möglichkeit gibt zu handeln, ohne identifizierbar zu sein“ (Lagasnerie 2018, S. 140). Diese Möglichkeiten ergeben sich aus diversen technischen wie auch nichttechnischen Momenten, die eben diese Ent-Identifizierung durch Anonymität für die Teilnehmer*innen eröffnen. Es ist der Versuch, einen Raum der Teilnahme an Bühnensituationen zu schaffen, aus denen neue Formen der Ordnung wie auch Prozesse kollektiver Subjektivierung in einem dissensuellen Akt entstehen. Mit Rancière wird nach Strukturen der einmaligen Unterbrechung gesucht, die im Kontext politischer Bühnen so auch phänomenale Strukturen der Macht im foucaultschen Sinne singulär untergräbt (vgl. Bröckling 2007, S. 287).11 Anonymous kann daher als ein Phänomen gesehen werden, welches der kontrollgesellschaftlichen Ordnung wie Einordnung entgegensteht und in diesem Entzug aus einer panoptischen Kontrolle Formen beziehungsweise Bühnen des Politischen schafft. Zentrales Konstitutivum ist dabei das Netz und seine Strukturen verstanden als ein „free space“ (Milan 2013, S. 195), die eine zumindest zeitweise Anonymität (Tor, Darknet, …) ermöglichen, welche es in dieser Ausprägung nur in dieser Technizität gibt. Alle Aktionen von Anonymous wirken direkt oder indirekt auf die Offenheit und Freiheit des Netzes, von Informationen und der Gesellschaft hin. Sie eröffnen neue Möglichkeiten, Bühnen zu errichten, auf denen durch Anonymität Kontingenz eröffnet wird – „contingency through anonymity“ (Knuttila 2011) – und somit eine politische Unterbrechung der Ordnung im Dissens möglich wird (vgl. Anonymous 2008, 1:53 Min.). „Nevertheless, more than any other political movement, past or present, Anonymous provides the ideal case study through which to probe the workings, benefits, contradictions, and limitations of applied anonymity-in-action.“ (Coleman 2015, S. 414).

11Weitere

Untersuchungen unter der Perspektivierung des foucaultschen Machtbegriffs wären hier dringend erforderlich, um zu klären, inwieweit sich diese Bewegung gewissen Mechanismen der Macht zu entziehen vermag.

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Das digitale Mahnmal in der Keupstraße als Raum der Solidarität Überlegungen zu einem differenz- und solidaritätstheoretischen Medienbildungsbegriff Ulaş Aktaş 1 Einleitung Die folgenden Überlegungen entstanden unter dem Eindruck, den der Mord am 2. Juni 2019 an Walter Lübcke (CDU), Regierungspräsident von Kassel, durch einen vorbestraften Neonazi auf mich machte. Unter diesem Eindruck schien es mir angemessen, die aktuelle politische Situation in mein Schreiben über Medien, Bildung, Individualisierung und Kollektivierung einzubeziehen. Denn dieser Mord ist für mich nicht nur ein Mord, sondern steht in Verbindung mit dem immer noch unaufgearbeiteten NSU-Komplex, der wachsenden Popularität rassistischer Parteien und der nationalistischen Stimmung der Entsolidarisierung und Ausgrenzung in ganz Europa. Während sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft werden, wird das Sozialsystem vor allem in Pflege, Gesundheit, Kinderbetreuung und Bildung weiter abgebaut und die Verarmung immer größerer Teile der Gesellschaften forciert. In der ‚Kultur der Digitalität‘ (Stalder 2016) befördern digitale Technologien nicht nur Rationalisierungsprozesse, sie übernehmen auch Überwachungs- und Steuerungsfunktionen und bilden die Grundlage der individualisierenden und entsolidarisierenden Optimierungskultur, die auch den Boden bereitet für Rassismus und Depression. Eine medien-

U. Aktaş (*)  Kunstakademie Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_9

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pädagogische Reflexion, die zu diesen sozialen und politischen Entwicklungen nichts zu sagen hat, scheint kaum mehr ausreichend. Ebenfalls im Juni, nämlich am 9. Juni 2004 detonierte in der Keupstraße in Köln-Mühlheim eine Nagelbombe des NSU. Seit einigen Jahren bemüht sich die migrantische Initiative „herkesin meydani/Keupstraße ist überall!“, in der sich einige Anwohner_innen der Keupstraße zusammengeschlossen haben, um ein Mahnmal, mit dem an den Anschlag erinnert werden soll. Dies ist noch nicht gebaut worden und es ist noch die Frage, ob es überhaupt gebaut werden wird.1 Der Entwurf für ein digitales Mahnmal existiert aber bereits. Ausgehend von diesem Entwurf des Künstlers Ulf Aminde und der Idee, die die Initiative mit dem Mahnmal verbindet, möchte ich einen differenz- und solidaritätstheoretischen Medienbildungsbegriff zeichnen, den ich als Vorschlag für eine allgemeine Diskussion über ein politisches Verständnis von Medienpädagogik und Medienbildung verstehe. Auf der Grundlage des Entwurfs und der Idee des digitalen Mahnmals, in dem ein augmentierter politischer Raum geschaffen wird, sowie der Frage nach dem Verhältnis von Bildung, Subjektivierung und Formen der Gemeinschaftlichkeit gehe ich der Frage nach, welche Bedeutung die solidarischen Medienpraktiken und der Aufbau solidarischer Beziehungen für ein politisches Verständnis von digitalen Bildungspraxen zukommen könnte. Hierzu versuche ich das Mahnmal in seiner Gegebenheit als solidarischen Raum mit Bezug auf Henri Lefebvres (1974) Raumkonzept theoretisch zu beleuchten. Dazu werde ich Lefebvres Konzept in machttopologischer und solidaritätstheoretischer Hinsicht erweitern, um die spezifische politische Bedeutung des digitalen Mahnmals angemessen zu erfassen. Im Anschluss daran wird die ‚visionäre Erinnerungskultur‘ (Sternfeld 2011) des Mahnmals herausgearbeitet und mit Maria do Mar Castro Varela (2019) als Raum ‚kontrapunktischer Solidarität‘ entfaltet. Im Anschluss daran wird mit Bezug auf den medienpädagogischen Diskurs zu den Commons und Felix Stalders (2016) Überlegungen zu digitaler Solidarität ein medienpädagogischer Zugang zu solidarischen Beziehungen und Praktiken entwickelt, der auch hegemonie- und diskriminierungstheoretisch grundiert ist. Abschließend werde ich dann meine differenz- und solidaritätstheoretischen Überlegungen zu den politischen und kollektiven Dimensionen von Medienbildung zuspitzen.

1Zu

den Schwierigkeiten des Baus kann auf der Seite von „herkesin meydani/Keupstraße ist überall!“ alles nachgelesen werden. https://mahnmal-keupstrasse.de/.

Das digitale Mahnmal in der Keupstraße als Raum der Solidarität

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2 Das geplante digitale Mahnmal in der Keupstraße in Köln für die Opfer der rassistischen Bombenanschläge durch das rechtsterroristische NSU-Netzwerk Die terroristische Vereinigung der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin. Der NSU verübte 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge (1999 in Nürnberg, 2001 und 2004 in Köln) und 15 Raubüberfälle. Die Zahl der an den Taten Beteiligten und ihrer lokalen, überregional vernetzten Unterstützer_innen ist umstritten. Ihr Umfeld wird auf mindestens 100 bis 200 Personen geschätzt, darunter V-Personen und Funktionäre rechtsextremer Parteien (vgl. NSU-Tribunal.de). Das digitale Mahnmal soll an die letzten Sprengstoffanschläge des NSU in der Probsteigasse am 19.1.2001 und in der Keupstraße am 9.6.2004 in Köln erinnern. Bei dem Anschlag in der Keupstraße wurden durch eine Nagelbombe 22 Menschen verletzt, vier davon schwer. Nur durch glückliche Zufälle hat der Anschlag keine Todesopfer gefordert. Die Keupstraße ist eine belebte Straße, in der es vornehmlich migrantische Geschäfte gibt und die repräsentativ für migrantisches Leben und für migrantische Selbstbehauptung in Köln stehen kann. Gegenüber der Keupstraße, in Sichtweite des Friseursalons, wo vor 15 Jahren die Nagelbombe explodierte, soll das digitale Mahnmal entstehen. Der Berliner Künstler Ulf Aminde hat in Zusammenarbeit mit Betroffenen und Aktivist_innen einen Entwurf des digitalen Mahnmals entwickelt, der eine Jury aus Bewohner_ innen der Keupstraße, Kunstexpert_innen und Politiker_innen überzeugte. In einer Erklärung der migrantischen Initiator_innen „herkesin meydani/Keupstraße ist überall!“ heißt es zum Mahnmal (Abb. 1): „Die Betonbodenplatte des Hauses in der Keupstraße 29, an dem die Bombe explodiert war, hat ein Maß von ca. 6 × 24 m. Parallel zu diesem Haus und in genau demselben Winkel wird eine Kopie der Betonbodenplatte in einer Stärke von 30 cm an der Ecke Keupstraße/Schanzenstraße platziert. Es wird das Fundament des Mahnmals. Es wird auch eine Tanzfläche oder ein Skaterplatz, um sich zu treffen oder sogar eine minimalistische Skulptur. Mit Hilfe von augmented Reality-Technik kommt der digitale entscheidende Teil des Mahnmals. Aufbauend auf den Geodaten der Betonplatte mit einem wlan-Netzwerk und der dazugehörigen App kann jedes Smartphone oder Tablet die Platte in ein Haus verwandeln, das endlos in die Höhe wächst. Die Wände bestehen dabei aus Filmen, die aktiviert und von den Benutzer_ innen auf ihren Geräten angeschaut werden können. Die Vielzahl der Filme lassen so auf dem Smartphone ein virtuelles Haus entstehen, das von allen betreten werden kann. Ebenso sind alle eingeladen, sich am Bau des Hauses zu beteiligen, indem

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Abb. 1   Mahnmal in der Sichtachse des Friseursalons (Screenshot aus dem Video: 39 sec)

sie selber Filme produzieren und hochladen. Die Idee ist ein Forum zu schaffen für migrantisch situiertes Wissen.“ (herkesin meydani/Keupstraße ist überall! (Video zum Mahnmal))2

Das Mahnmal dient als eine „filmische Bühne“ oder als ein „kuratiertes Archiv für jegliche Form des Widerstands gegen Rassismus“ (ebd.), so die Initiator_ innen weiter. Gerade auch aus dem Viertel der Keupstraße sollen Gruppen, Einzelne, Schulklassen, Studierende und Künstler_innen eingeladen werden, Filme zu produzieren und hochzuladen. Das Mahnmal soll sich so in die Zukunft hin ständig erneuern und der Vereinzelung der von Rassismus Betroffenen entgegenwirken. Insbesondere soll es auf die „sekundäre Viktimisierung“ (Geschke und Quent 2016) durch die Polizei aufmerksam machen und den Rassismus durch Behörden thematisieren sowie ein Ort des Widerstands gegen die ungebrochene rechtsterroristische Gewalt in Deutschland sein (Abb. 2). Jahrelang wurden Angehörige der NSU-Opfer verdächtigt, an kriminellen Machenschaften beteiligt oder gar selbst für die Anschläge verantwortlich zu sein. Trotz deutlicher Hinweise, die schon zu Beginn der 2000er Jahre vor-

2https://mahnmal-keupstrasse.de/

zugegriffen am 26.8.2019.

Das digitale Mahnmal in der Keupstraße als Raum der Solidarität

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Abb. 2   Das Mahnmal als virtuelles Haus (Screenshot Video der Initiative 1min.20s)

lagen und der Appelle der Betroffenen an die Polizei, dass die Täter_innen im rechtsextremen Milieu zu suchen seien, schloss diese rechtsextremistische Tatmotive von vorherein aus (Funke und Brumlik 2013). Aus der Arbeit in den NSU-Untersuchungsausschüssen ging hervor, dass Mitarbeiter_innen der Polizei und des Verfassungsschutzes zu wissen meinten, „dass es in unserem Kulturkreis ein Tabu des Tötens gäbe, man daher also in anderen Kulturkreisen hätte suchen müssen“ (ebd. o. S.). Die Täter_innen seien somit schon aufgrund ihres Verhaltens „weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems“ (ebd.) zu verorten. Diese Vorfestlegung auf einen migrantischen Täter_innenkreis ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck des institutionellen Rassismus in deutschen Ermittlungsbehörden bis heute (vgl. Carstens 2013). Die Betroffenen sprachen nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 von einer „zweiten Bombe nach der Bombe“, um die Gewalt, die sie durch die Ermittlungen der Behörden erfuhren, einen Namen zu geben (Carstens 2013). Vor diesem Hintergrund soll das digitale Mahnmal nicht nur ein Ort bzw. Raum der Erinnerung sein, er soll auch ein Ort der Begegnung und des Widerstands gegen die Vereinzelung durch Rassismus sein. Ich möchte nun zunächst mit Henri Lefebvre einen raumtheoretischen Zugang zum Mahnmal entwickeln, der es erlaubt, die politische und pädagogische Dimension des Mahnmals angemessen zu erfassen.

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3 Raumtheoretische Perspektiven auf das digitale Mahnmal Raum ist zu einem zentralen Begriff der Sozialwissenschaften avanciert und hat in den letzten Jahren auch in der Medienpädagogik den Status eines Grundbegriffs erhalten (zuletzt u. a. Westphal und Jörissen 2013; Pietraß et al. 2017). Im Rahmen dieser theoretischen Zuwendung zum Raum liegt das Potenzial, die den Selbstbeschreibungen der (post-)digitalen Gesellschaft unterliegenden kulturellen und machtpolitischen Voraussetzungen in den Blick zu rücken. Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen, wie die globale Nonstop- oder die mediengestützte Realtime-Gesellschaft blenden weitgehend aus, dass der physische und soziale Raum ebenso wie die machtvollen räumlichen Segregationsprozesse weiterhin wirksame gesellschaftliche Kategorien bleiben und keineswegs im Prozess der medialen und ökonomischen Globalisierung bzw. in den sich digital „beschleunigenden Zeitstrukturen“ (Virilio 1993; Rosa 2005) verdampft. Der spatial turn ist insofern als Anhaltspunkt ernst zu nehmen, Raum als konstituierende Größe des Sozialen auch medienpädagogisch zu berücksichtigen (vgl. Günzel 2010, S. 93). Augmented reality-Techniken bieten sich für eine solche Untersuchung der Verschränkung von Medien und Raum zweifellos an. Im Anschluss an die raumtheoretischen Ansätze von Henri Lefebvre (1974), Michel Foucault (1977), Gayatri C. Spivak (1999) und Vanessa E. Thompson (2018) sollen im Folgenden die sozialräumlichen, topographischen und machttopologischen Aspekte von augmented reality-Techniken in Bezug auf das Kölner Mahnmal untersucht werden. Zunächst werden das topographische und sozialräumliche Raumkonzept von Lefebvre und die machttopologischen Ansätze von Foucault und Spivak vorgestellt, um diese dann auf das digitale Mahnmal und seine augmentierten Raumaspekte zu beziehen.

3.1 Henri Lefebvres Raumkonzept Henri Lefebvre ist ein Wegbereiter der Raumforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ausgangspunkt des sozialraumtheoretischen und topographischen Ansatzes von Lefebvre ist die Annahme, dass der Raum nicht an sich als leerer Container vor den Dingen und Praxen existiert (Lefebvre 1974). Anknüpfend an die marxistische Praxistheorie von Louis Althusser geht er vielmehr (holistisch) davon aus, dass Raum ein „soziales Produkt“ (ebd., S. 36)

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ist, der in und durch Praktiken hervorgebracht wird. Das Soziale ist nicht losgelöst vom Raum und Räume nicht losgelöst vom Sozialen zu begreifen. Dem binären Schema von physischem und sozialem Raum stellt er ein dreiteiliges Schema gegenüber. Die drei Modalitäten des Raums (bzw. „Formanten“) sind 1) die räumliche Praxis, 2) die Repräsentationen vom Raum und 3) der Raum der Repräsentation. 1. Der erste Raum ist der Raum der materiellen Praktiken, in denen Raum als gleichzeitig physischer als auch sozialer hervorgebracht wird. Hierzu zählen z. B. die Keupstraße als Einkaufsstraße, die durch soziale Praktiken des Verkaufens und Einkaufens hervorgebracht wird, aber z. B. auch Plätze, an denen man sich versammeln, die man überqueren oder z. B. auf ein Mahnmal stoßen kann. 2. Der zweite Raum ist der Raum der Repräsentationen von Raum. Lefebvre nennt ihn auch Raum des Wissens, der Zeichen und der Codes. Raum ist hier räumliche Wissensordnung bzw. System herrschender Raumrepräsentationen. Hierzu zählen z. B. das Wissen, die Zeichen und Codes wie das Melderegister, aber auch das Wissen, durch das das Viertel Mülheim in Köln und die Keupstraße als migrantisches Milieu ausgewiesen werden. 3. Der dritte Raum ist der Raum der Repräsentationen, d. h. der imaginierte Raum der Bilder und Symbole, in dem auch widerständige und alternative Raummodelle und Raumnutzungen ihren Platz haben. In dieser Raumdimension kommt zur Geltung, dass Raum immer nur perspektivisch gegeben ist. Orientierungsangaben, wie hier und dort, oben und unten, rechts und links, machen nur Sinn, wenn man einen Standpunkt im Raum einnimmt. Die Perspektiven der Anwohner_innen der Keupstraße sind Teil des Raums bei Lefebvre, also z. B. der Kinder, die die Hauseingänge für ihre Versteckspiele nutzen. Die Imaginationen des Raums, wie z. B. die Keupstraße als erspielter Dschungel der Kinder (s. hierzu auch Lewin 1963; Muchow 2012), ist für Lefebvre ebenfalls nicht aus seiner Konzeption des Raums herauszulösen. Nach Lefebvre spielen alle drei Dimensionen zusammen und keine ist vorrangig zu betrachten. Raum ist das Ergebnis eines dialektischen Zusammenspiels mentaler, physischer als auch symbolischer Figurationen. Dieses Raumkonzept, in dem Ansätze der französischen Phänomenologie (Merleau-Ponty) und des dialektischen Materialismus (Althusser) anklingen, ist für eine medienpädagogische Reflexion des Mahnmals in der Keupstraße überaus fruchtbar. Dies

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wird deutlich, wenn man Lefebvres Konzept des zweiten Raums mit Foucault und Spivak macht- und herrschaftstheoretisch erweitert und die politische Dimension der augmented reality-Techniken in ihrem Bezug auf Erinnerungskulturen näher betrachtet. Im Folgenden sollen diese beiden Erweiterungen skizziert werden.

3.2 Machttopologie und die Keupstraße als „gefährlicher Ort“ (Repräsentationen von Raum) Etwa zeitgleich mit Lefebvre veröffentlicht Foucault seine Untersuchungen zur „Geburt des Gefängnisses“ (1977), in der er mit Bezug auf die Justiz- und Strafrechtsreform im 18. Jahrhundert und am Beispiel des Panoptikums von Jeremy Bentham zeigt, dass Räume aufgrund ihrer Disposition und Materialität Einfluss auf kulturelle Praktiken und soziale Körperordnungen haben und durch Architektur angeordnet und beherrscht werden. Er öffnet damit einen machttopologischen Blick auf Räume als symbolische Konstrukte, in der architektonische Dispositionen und Wissensordnungen zusammenfallen. Durch diese materiellen Raumordnungen, so Foucault, werden bestimmte Gruppen von Individuen einoder ausgeschlossen bzw. in Raster eingeteilt, mittels dessen ihnen auch spezifische Plätze im Sozialen zugewiesen werden. Über diese sozialen Platzierungen und Lokalisierungen im Raum wird eine relationale als auch klassifikatorische Ordnung hergestellt, die dem Subjekt einen symbolischen Platz im Machtfeld zuweist (Foucault 1977, S. 181–191). Die machttopologische Perspektive Foucaults erweitert Lefebvres Konzept des zweiten Raums der Raumrepräsentationen, indem ihre Verschränkung mit Diskursräumen und Wissensordnungen noch deutlicher wird. Mit Spivak ist im Hinblick auf das digitale Mahnmal die machttopologische Analyse Foucaults noch um die Analyse der kollektivierenden Raumpraxis des „Worlding“ (1999, S. 211) zu erweitern, um schließlich auch die migrantische Situierung des Mahnmals angemessen berücksichtigen zu können. Worlding, so Spivak, bezeichnet einen Prozess des Welt-Machens, bei dem bedeutungserzeugende imperialistische Praktiken hegemoniale Signifikanten wie die „Dritte Welt“, „Afrika“ oder „Flüchtlinge“ hervorbringen. Im Worlding schreiben sich europäische Überlegenheitsdiskurse und die Unterwerfung und Erniedrigung von anderen Regionen und Menschen in die Ordnung des Sagbaren und des Wahrnehmens ein. In aller Regel wird das Konzept des Worlding ausschließlich auf globale Zusammenhänge bezogen. Strukturanalog existieren aber auch auf der Mesoebene europäischer Städte Praktiken, durch die Zonen hervorgebracht werden,

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in denen die Unterwerfung und die Produktion der (Migrations-)Anderen räumlich zusammengeschaltet sind3, wie z. B. in Gentrifikationsprozessen4. Von den Sozialwissenschaften weniger beachtet ist die Praxis der Einrichtung „gefährlicher Orte“ (bzw. „kriminalitätsbelasteten Orte“) durch die Polizei (nach ASOG), die häufig mit Formen des Racial Profiling einhergeht.5 Die sekundäre Viktimisierung der Opfer der Anschläge durch die Polizei beruht genau auf der Logik dieser Praxis der „gefährlichen Orte“. So wurde Abdulla Özkan, der zum Tatzeitpunkt den Friseursalon besuchte, sieben Jahre lang von der Polizei verdächtigt, in Drogenhandel, Schutzgelderpressung und organisierte Kriminalität verwickelt zu sein und dies obwohl er selbst durch einen Nagel am Hals schwer verletzt wurde. Die polizeiliche Anrufung, die mit dem hegemonialen Signifikant „gefährlicher Ort“ verbunden ist, hat einen unabweislich subjektivierenden Charakter, der insbesondere Migrationsandere zu Täter_innen macht. Im Folgenden soll in aller Kürze die Verbindung der postkolonial machttopologischen Analyse mit Louis Althussers hegemonietheoretischem Konzept der polizeilichen Anrufung skizziert werden. Dabei werden insbesondere mit Vanessa Eileen Thompsons Theorie der Polizierung (2018) die Grenzen Althussers Konzeption der Anrufung ausgewiesen und um eine rassialisierende Achse6 erweitert. Diese Erweiterung der Machttopologie Foucaults und Spivaks ermög-

3Diese Analogie hinkt, d. h. sie läuft Gefahr, die Anderen der dritten Welt mit den innereuropäischen Anderen gleichzusetzen. 4Gentrifizierung meint die Aufwertung eines Stadtteils durch dessen Sanierung oder Umbau mit der Folge, dass die dort ansässige Bevölkerung durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verdrängt wird. 5Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz – ASOG Berlin, online: https://www.berlin. de/imperia/md/content/seninn/abteilungiii/vorschriften/081103_asog.pdf. „Gefährliche Orte“ sind definiert als Orte, an denen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabredet, vorbereitet oder begangen werden (bspw. bandenmäßig organisierte Kriminalität und Drogenhandel), sich Personen treffen die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen, sich gesuchte Straftäter_innen verbergen oder an denen Personen der Sexarbeit nachgehen (vgl. § 21/Abs. 2 ASOG). Die Polizei darf an „gefährlichen Orten“ ohne Verdacht auf eine konkrete Gefahr die Identität von Personen feststellen, sie und ihre Sachen durchsuchen (§ 21, 34, 35 ASOG). vgl. auch Autor_innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling (2018). 6Rassifizierung

(Rassialisierung oder Rassisierung) beschreibt sowohl einen Prozess, in dem rassistisches Wissen erzeugt wird, als auch die Struktur dieses rassistischen Wissens. Im Einzelnen umfassen Prozess und Struktur die Kategorisierung, Stereotypisierung und implizite Hierarchisierung von Menschen.

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licht es die rassifizierten Raumpraktiken und damit das Mahnmal hegemonietheoretisch zu deuten. Für Althusser stellt die polizeiliche Anrufung die Urszene der Formation moderner Subjekte dar. Erst indem das Individuum der Anrufung durch die Polizist_innen folgt und sich umwendet, tritt es in die Ordnung des Dritten ein, d. h. begreift sich in seinem Bezug zur Rechtsordnung und wird zum (Rechts-) Subjekt. Das moderne Subjekt ist nach Althusser insofern immer schon als ein polizeilich konstituiertes Subjekt zu begreifen, wobei die Anrufung nicht durch die Polizei erfolgen muss, sondern sich durch andere Anrufungspraktiken, geschlechtlicher oder anderweitig situierender Art vollzieht (vgl. Butler 1991). Die Anrufung verselbstständigt sich gewissermaßen. Es bedarf keiner Anrufung durch einen tatsächliche Polizist_innen, um zum Subjekt zu werden. In Althussers Konzeption der polizeilichen Anrufung kommen rassifizierte und vergeschlechtlichte Subjekte nicht vor (vgl. Thompson 2018, S. 202) und Thompson fragt zu Recht, ob sich das polizierte Rechtssubjekt in Althussers Anrufungsszene symbolisch umwendet, „weil es sich eben relativ sicher sein kann, dass es keine repressive Gewalt durch die Polizei erfahren wird“ (ebd.). Es wendet sich um, weil es damit rechnen kann, anerkannt zu werden und es ist die Frage, ob es sich auch dann umwenden würde, wenn es unwahrscheinlich wäre, dass es als Rechtssubjekt anerkannt wird. Mit anderen Worten, aus rassismuskritischer Perspektive stellt sich die Frage, was es bedeutet, sich in Räumen bewegen zu müssen, in denen man als mehrfachmarginalisierte Person, z. B. als geflüchtete_r LGBTI*IQ, mittellose schwarze Person, als people of color mit Behinderung etc., besonders vulnerabel und stets sichtbar oder unsichtbar mit der zugewiesenen Abweichung von der Norm konfrontiert ist. Thompsons Anmerkungen zu Althusser machen klar, dass die Formierung des modernen Subjekts in der Anrufung nicht nur das Subjekt hervorbringt, sie bringt immer auch die Anderen mithervor bzw. sie bringt immer ein weißes männliches Subjekt hervor, das sich „in dem Begehren sicher sein kann, dass es als Rechtssubjekt vor den rassifizierten und vergeschlechtlichten Anderen beschützt werden wird“ (ebd., S. 204). Abdulla Özkans deutsche Staatsbürgerschaft schützte ihn nicht vor der rassifizierenden Anrufung durch die Polizei und es ist auch kein Zufall, dass er ins Visier der Ermittlungsbehörden geriet, obwohl er selbst ein Opfer des Anschlags war. Die Zuschreibung einer türkischen Identität, die sich

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noch mit seinen körperlichen Merkmalen (groß, kräftig, dunkle Augen) ergänzt, verbinden ihn mit dem Stereotyp des kriminellen Ausländers („Dönermorde“). Die Einrichtung „gefährlicher Orte“, Praktiken des „Racial Profiling“, aber auch Gentrifikationsprozesse7 sind insofern keineswegs isolierte Phänomene, sondern Ausdruck der hegemonialen topologischen Ordnung, die jederzeit und an jedem Ort people of color in Gefährder_innen, Terrorist_innen, Drogenhändler_innen, Clan-Mitglieder, illegale Sexarbeiter_innen etc. verwandeln kann. Im Rahmen einer postkolonialen Machttopologie und im Rahmen einer differenztheoretischen Medienpädagogik ist deswegen nicht zu übergehen, dass der Formation des Subjekts in den von Lefebvre beschriebenen drei Raumtypen systematisch das Blick- und Urteilsregime der hegemonialen Differenzordnung eingeschrieben ist und dieser nicht etwa nachgeordnet ist. In anderen Worten, keine symbolische Ordnung existiert ohne die Hervorbringung von Differenz, d. h. von NichtMenschen.

3.3 Das digitale Mahnmal als augmentierter Raum (Raum der Repräsentation) Nach diesen Überlegungen zur machttopologischen Dimension Lefebvres zweiter Raummodalität ist deutlich, dass Raum auch auf der Mesoebene urbaner sozialer Praktiken durch Macht- und Herrschaftsachsen konstituiert ist. Raum ist in Lefebvres Raumtheorie, wie bereits skizziert, nicht ausschließlich als diskursiv und symbolisch konstituierter zu deuten, weil damit umgekehrt verkannt würde, dass die Perspektive und Situierung leiblicher Subjekte ebenfalls eine Modalität des Raums darstellt und diese nie gänzlich durch die diskursive und symbolische Ordnung bestimmt ist. Der eigene Standort ist, phänomenologisch gesprochen, an den Eigenleib gebunden und nur aus der Perspektive der ersten Person zu erfahren und anzugeben. Die Analyse der Macht- und Herrschaftsverhältnisse abstrahiert zwangsläufig von den jeweiligen Erfahrungen und damit von der Ersten-Personen-Perspektive, indem sie auf die Machtstrukturen aus der Perspektive des Dritten fokussiert. Eine differenzkritische Medienpädagogik ist vor diesem Hintergrund darauf angewiesen, in ihrer raumtheoretischen Analyse perspektivisch imaginäre und symbolische Dimensionen des Raums bzw. Ana-

7Als

Gentrifizierung bezeichnet man die ökonomische Verdrängung von Menschen aus armutsgeprägten Milieus aus Stadtvierteln durch zuziehende reichere Schichten.

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lysen aus der ersten und dritten Personen Perspektive aufeinander zu beziehen und kann diese nicht unabhängig voneinander betrachten. Vor dem Hintergrund dieser Verschränkung kann dann auch ein migrantisch situiertes Wissen, wie es für das digitale Mahnmal entscheidend ist, reflexiv gefasst werden. In der medienpädagogischen Analyse des digitalen Mahnmals und der augmented reality-Technik als entscheidendem Element der Konzeption stößt man an eine Grenze, wenn man die augmented reality Technik lediglich unter der Perspektive von Immersionsphänomenen betrachtet, wie dies zumeist in Bezug auf augmented reality und point of view Techniken, die in Handys oder Google Glass eingearbeitet sind, erfolgt. Der Blick auf das digitale Mahnmal macht deutlich, dass es hierbei nicht nur um die passive Immersion in eine virtuelle Welt geht, sondern auch um eine Erste-Personen-Perspektive, also wie jemand durch das Mahnmal (durch die Selbst-Bezeugungen der Video-Dokumente) affiziert wird und sich zu den Anschlägen in Beziehung setzt. Aber es geht auch um die Hervorbringung eines gemeinsam geteilten Raums. Wenn das Mahnmal das Haus in der Keupstraße 29, an dem die Bombe explodiert ist, in der Sichtachse der Keupstraße virtuell wiedererstehen lässt, geht es insofern nicht um die Simulation einer Bildwirklichkeit oder um informative Daten zu den beiden Kölner Anschlägen, sondern darum, das Vergessen sichtbar zu machen und als Spur in den politisch medialen Raum einzuschreiben. Das virtuelle Haus fungiert als Bild für eine Wirklichkeit, die es nicht mehr gibt bzw. vielleicht noch nie gab, die aber verwirklicht werden soll und repräsentiert insofern einen Möglichkeitsraum, der allerdings kein Raum im Nirgendwo ist. In der Simulation des Hauses, also im Spiel mit augmentierten und nicht augmentierten Räumen werden den situierten Wissenspraktiken von Migrant_innen Raum gegeben und die Hintergründe und Auswirkungen des Nagelbombenanschlags sowie die lebensweltliche Erfahrungswirklichkeit von Migrant_innen in einer „Gesellschaft mit Rassismushintergrund“ (Jonuz 2014) sichtbar gemacht (vgl. Dostluk Sinemasi 2014, S. 123). Neben der Frage, was damals geschah und welche Folgen die Anschläge für die Opfer hatte, fragt das Mahnmal: Was wäre, wenn die Anschläge nicht stattgefunden hätten? Was wäre, wenn migrantisches Leben genau so viel Wert wäre wie deutsches? Was wäre, wenn die Mordserie gleich mit den richtigen Täter_innen in Verbindung gebracht worden wäre? Um medienpädagogisch politische Subjektivationprozesse angemessen reflektieren zu können, werden im nächsten Schritt diese migrantischen Situierungspraktiken näher betrachtet. Hierzu werden zwei Beispiele herangezogen, die als Videodokumente im digitalen Mahnmal enthalten sein werden. Beide werden dann aus einer museumspädagogischen Perspektive und einem

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kontrapunktischen Solidaritätsverständnis reflektiert. Es handelt sich bei den Beispielen um einen offenen Brief einer bis heute lieber anonym bleibenden kurdischen Mutter an Otto Schily und den Bundes-Untersuchungsausschuss zum NSU sowie ein Interview mit dem ebenfalls anonym bleiben wollenden Muhammed A. Beide sind Opfer des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße. Der Brief und das Interview wurden im Buch „Von Mauerfall bis Nagelbombe“ von Dostluk Sinemasi8 (2014) herausgegeben. Im Anschluss an diese Beispiele wird der Doppelcharakter des Mahnmals reflektiert, zum einen als Erinnerungszum anderen als Aushandlungsraum. Über diesen Doppelcharakter wird dann der Zusammenhang zwischen den augmented reality-Techniken und solidaritätstheoretischen Ansätzen für die medienpädagogische Praxis und Reflexion herausgearbeitet.

4 Ein migrantisches Leben leben Der offene Brief. Otto Schily hatte am 10. Juni 2004, einen Tag nach der Explosion der Nagelbombe, öffentlich geäußert, die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden deuteten nicht auf einen rechtsterroristischen Hintergrund hin, „sondern auf ein kriminelles Milieu“ und damit die Marschrichtung der polizeilichen Ermittlungen vorgegeben. Sieben Jahre später nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 bezeichnete er dies vor dem Bundesuntersuchungsausschuss als „schwerwiegenden Irrtum“. In ihrem offenen Brief vom 13. März 2013 an Otto Schily, der ihm während seiner Anhörung im Bundes-Untersuchungsausschuss vorgelesen wurde, berichtet die kurdische Mutter, die indirekt Opfer der Anschläge wurde, welche Auswirkungen die politische Entscheidung, nicht mehr gegen ein rechtsextremistisches Milieu zu ermitteln, damals nach dem Anschlag für sie als kurdische Anwohnerin hatte. Sie berichtet in diesem Brief, dass sie sich zum Zeitpunkt des Anschlags gemeinsam mit ihrem 7-jährigen Sohn zuhause befand. Als sie die Explosion hörte, dachte sie, es sei ein Erdbeben und ging ans Fenster. Sie sah viele Menschen hin- und herrennen und hörte Schreie. Weil sie nicht wusste, was sie

8Dostluk

Sinemasi heißt zu Deutsch: „Kino der Freundschaft“ und ist ein „loser Zusammenschluss aus verschiedenen Leuten aus Köln, die sich auf unterschiedliche Weise mit Rassismus auseinandersetzen, gerne in der Keupstraße abhängen und in der Initiative Keupstraße ist Überall aktiv sind“ (ebd., S. 10).

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tun sollte, blieb sie mit ihrem Kind in der Wohnung. Zwei Stunden nach dem Anschlag stürmte die Polizei plötzlich ihre Wohnung. Als Grund gaben die Polizist_innen damals an, dass sie Kurdin sei und deswegen verdächtigt werde, mit der PKK und dem Anschlag zu tun zu haben. Sowohl ihr Sohn als auch sie litten in der Folge unter Angstzuständen und fürchteten sich vor der Polizei und dass jemand in ihre Wohnung einbrechen könnte. Zudem haftete seitdem das Stigma der Verdächtigung an ihr und ihrer Familie. Bekannte und Nachbar_innen gingen auf Abstand. Selbst Freundschaften zerbrachen. Weil sie nicht direkt durch die Bombe verletzt wurde, wurde sie offiziell auch nicht als Opfer anerkannt, sondern war immer nur eine Verdächtige. Nach der Selbstenttarnung des NSU gab es keine offizielle Entschuldigung oder irgendein Schreiben des Bedauerns an sie. Sie schreibt in ihrem Brief, weil sie überzeugt ist, dass man etwas tun muss und weil sie Angst hat, dass morgen wieder das Gleiche passieren kann. Sie warnt auch, „[w]enn so etwas wie die Bombe und diese schlimmen Verdächtigungen heute mit uns Ausländern gemacht werden kann, dann kann es morgen auch demokratischen Deutschen passieren.“9 Ihr Brief endet mit der Forderung nach einer offiziellen Entschuldigung gegenüber Opfern wie ihr und dem Wunsch, „dass wir endlich als Teil dieser Gesellschaft gesehen werden“ (ebd., S. 20). Muhammed A. Muhammed A. ist ein direktes Opfer des Nagelbombenanschlags und war bei der Explosion nur 20 m entfernt von der Bombe. Im Interview, das Dostluk Sinemasi mit ihm am 17. Februar 2014 führte, beschreibt er, wie ein Nagel über seinem Kopf in ein Regenrohr eingeschlagen und steckengeblieben ist, wie er versuchte den Verletzten zu helfen und zufällig ein Krankenwagen durch die Keupstraße fuhr, den er zu Hilfe rief.10 A. wurde nicht durch Nägel verletzt, hat aber seit dem Anschlag Probleme mit seinen Ohren. Er ging nach dem Anschlag nicht zum Arzt, weil Kollegen zum Arzt gegangen waren und die Polizei sie darauf hin verdächtigte in Drogenhandel verwickelt zu sein oder aber mit der Mafia zu tun zu haben. Sie wurden wie Schuldige und Verdächtige behandelt. Sieben Jahre lang hatte A. Angst, dass die Polizei eines Tages zu ihm kommt und ihm mitteilt, dass er auf den Aufnahmen der Videoüberwachung erkannt worden sei und ihn fragt,

9Wie

der Fall „Walter Lübcke“ zeigt, sollte sie Recht behalten. Fahrer des Krankenwagen antwortete, so A., dass er bereits Feierabend habe und nicht wegen dieser Sache hergekommen sei und dass er bizarrer Weise einfach weiterfuhr, ohne sich weiter um die Verletzten zu kümmern.

10Der

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warum er nicht zur Polizei gegangen war und warum er nichts gesagt habe. Wie die kurdische Mutter berichtet er, dass sich die Verdächtigungen der Polizei sehr verunsichernd auf sein und das Leben in der Keupstraße ausgewirkt haben. Die bis heute ungeklärte Frage, warum der Anschlag in Mühlheim verübt wurde und wem der Anschlag in der Keupstraße galt, kreisten jahrelang in seinem Kopf und bildeten den Nährboden für Gerüchte und Verdächtigungen, auch wenn er selbst nie geglaubt habe, dass das „eine Sache zwischen den Menschen hier ist“ (ebd., S. 22). Er hatte auch Angst, dass wieder eine Bombe gelegt werden könnte, weil die Täter_innen nicht gefasst wurden. Als er z. B. eine Tasche, die bei den Mülltonnen der Altkleidersammlung lag, gesehen habe, kehrte er um, weil er befürchtete, dass darin wieder eine Bombe versteckt sein könnte. Schilys Äußerungen zum Anschlag und der Ausschluss eines rechtsterroristischen Hintergrunds sind für A. unerklärlich. Um die Macht dieser Vorfestlegung auf einen migrantischen Täter_innenkreis zu verdeutlichen, erklärt er: „Ich glaube, ganz Europa hat zu dieser Zeit geglaubt, was Schily gesagt hat. […] Wenn ich auf die Straße gegangen wäre und gesagt hätte, der ist ein Lügner, hätten die Leute über mich gesagt, der ist bekloppt. Der hat doch keine Ahnung“ (ebd., S. 22). Nach Schilys Auftritt vor dem Bundesuntersuchungsausschuss fragt sich A., wie es für Schily war, als er erfahren hat, dass der NSU dafür verantwortlich war und, „ob er in dieser Nacht gut geschlafen hat“ (ebd., S. 23). Auch A. sagt, dass er Angst habe, dass nichts aus den Morden gelernt werde, dass die Nazis weitermachen werden und dann vielleicht nicht mehr neun, sondern neunzig Menschen ermordet werden (vgl. ebd.). Es sei erfreulich, dass die Politik erkläre, hinter den Migrant_innen zu stehen, aber es müsse auch tatsächlich etwas geschehen. Die Hintergründe müssten aufgedeckt werden und er wolle keine Angst mehr um sein Leben oder das seiner Familie haben müssen.

5 Das Mahnmal als visionäre Erinnerungskultur und als Raum kontrapunktischer Solidarität Ein wichtiges Ziel des Mahnmals ist ohne Zweifel, die Erfahrungen der Opfer sichtbar zu machen und zu dokumentieren, d. h., die Auswirkungen der Anschläge, die Erinnerungen der Opfer, die Opfer-Täter Umkehr durch die Polizei, die Angst trotz der eigenen Unschuld jederzeit verhaftet werden zu können und die Unsicherheit darüber, ob vielleicht doch eine Person im nahen Umfeld für die Anschläge verantwortlich ist (Polizei und Behörden letztlich also doch Recht haben könnten) und das daraus entstehende rassistische Klima des Verdachts, als Geschichte des Rassismus der Unsichtbarkeit und dem Vergessen

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zu entreißen, die wirkmächtigen rassistischen Narrative bloßzulegen und die Revision dieser Narrative in den politischen Diskurs einzuschreiben. In der konzeptionellen Offenheit des Mahnmals als Ort migrantisch situierten Wissens besteht insofern aber noch ein zweites Ziel. Denn das Mahnmal ist nicht nur eine Gedenkstätte und hier verbinden sich Dritte-Personen-Perspektive mit der Ersten-Personen-Perspektive. Neben dem Sammeln von Dokumenten, Spuren und Aussagen, geht es auch um die Hervorbringung eines solidarischen Raums und die Vision eines Zusammenlebens ohne Rassismus, die auch eine Vision einer anderen Politik ist jenseits von Markt und Staat, einer Vision, die sich an einer übergeordneten Allgemeinheit orientiert. Wenn Menschen am Mahnmal zusammenkommen, um zu tanzen, zu feiern oder um einfach nur zu skaten, geht es um ein Zusammenleben, das nicht auf Angst, sondern auf Vertrauen gründet. Das Mahnmal erfüllt insofern nur indirekt das Konzept eines der wissenschaftlichen Objektivität und Neutralität verpflichteten Museumsverständnisses (vgl. Sternfeld 2011). Es entfaltet vielmehr eine visionäre Erinnerungskultur, in der es darum geht, sich sowohl in das kollektive Gedächtnis als auch in den politischen Raum einzuschreiben und den rassialisierenden Blickregimen von Polizei, Politik, Behörden und Gesellschaft migrantisch situierte Erfahrungsberichte entgegen zu halten. Das Sammeln migrantischer rassifizierter Erfahrung zielt nicht darauf, die Trennlinien zu verstärken. Vielmehr ist es das Ziel des digitalen Mahnmals, einen solidarischen Raum zu schaffen, der auf der gemeinsam geteilten Erfahrung und der Idee eines Verbindenden beruht, das der Vereinzelung durch Rassismus entgegenwirkt, dass eine Form des aufeinander Aufpassens, des Verantwortung Übernehmens und des Sorge-füreinander-Tragens hervorzubringen sucht, das gefehlt hat und noch fehlt (vgl. Thompson 2018, S. 167). Maria do Mar Castro Varela (2019) hat ein Konzept kontrapunktischer Solidarität vorgelegt, das als theoretisches Modell für die augmentierte Raumarchitektur der visionären Erinnerungskultur des Mahnmals fungieren kann. Um der ideologischen Diskussion zum Bildungskanon gewitzt etwas entgegenzusetzen, nimmt sie einen Terrainwechsel vor. Der Kontrapunkt ist eine Kompositionstechnik, die in einem gewissen Gegensatz zum Kanon steht. Im Kanon setzt eine Stimme nach der anderen ein und jede Stimme kopiert die erste Stimme exakt. Die erste Stimme stellt die Richtschnur dar, an der sich die anderen halten. Der Kontrapunkt stellt auch ein mehrstimmiges Gefüge dar, in dem aber jede Stimme ihre Eigenständigkeit wahrt und trotzdem ein Zusammenklang erzeugt wird. Trotz der Differenz der Stimmen ermöglicht das kontrapunktische Prinzip, das Verschiedene musikalisch als Einheit zu hören. „[…] anders als der Kanon versucht das Kontrapunktische nicht der Stimme zu folgen, sondern eine Gegenstimme zu artikulieren, die sowohl den Zusammen-

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klang – da kommt die Solidarität ins Spiel – als auch Eigenständigkeit aufweisen. Das Kontrapunktische schafft also einen Raum, in dem unterschiedliche Stimmen artikulierbar sind und artikuliert werden müssen. (ebd., S. 25)

Als Beispiel für eine solche konfliktorisch konsensuelle musikalische Praxis bezieht sie sich auf eine Studie von Fernando Ortiz Fernández (1940), einen kubanischen Anthropologen. Dieser beschreibt eine (im Sinne Castro Varelas) kontrapunktische Weise im Kollektiv zu singen: „es wird ein Lied gesungen, das ein Narrativ erzählt und nach und nach übernehmen andere das Singen. Sie singen dasselbe Lied, ändern aber das Narrativ“ (Castro Varela 2019, S. 25). Diese Metapher für ein konfliktorisches Gemeinsam-Werden, in dem Differenzen nicht untergraben werden müssen bzw. gerade die Voraussetzung darstellen für die solidarische Praxis, lässt sich auch auf den Entwurf des Mahnmals als Raum der Solidarisierung übertragen. Immer neue Videos sollen ergänzt werden, aus unterschiedlichen Positionen und Erfahrungshorizonten. Videos von Migrant_innen sind ebenso willkommen, wie Videos von Nicht-Migrant_innen. Die Videos bilden zusammen ein gemeinsames Haus. Das Motiv der Revision der rassistischen Narrative wird aufgenommen und aus verschiedenen Perspektiven weitergeführt. Niemand kennt alle Opfer. Nie können alle Opfererfahrungen sichtbar gemacht werden. Einige Opfer können selbst sprechen, andere nicht direkt durch die Anschläge betroffene Migrant_ innen können von ihren Erfahrungen rassistischer Diskriminierung erzählen, aber auch Weiße* können sich gegen Rassismus positionieren. Gerade darin liegt der wesentliche Aspekt des Mahnmals. Es geht nicht um eine Gemeinschaft der Migrant_innen, sondern um eine der Vielen. Im Bild gesprochen, wird das Lied weitergesponnen, um eine Form der Kollektivierung zu ermöglichen, die ein ganz anderes nicht-rassistisches Grenzregime hervorbringt, das die Grenzen nicht verstärkt, sondern ein Gemeinsam-Werden ermöglicht und die Vereinzelung unterbricht. Dieses Bild schließt an die auch in der Medienpädagogik diskutierte Frage nach Formen der Gemeinschaftlichkeit an, die zunächst skizziert werden, um dann abschließend die Frage, welche Bedeutung die solidarischen Medienpraktiken und der Aufbau solidarischer Beziehungen für ein politisches Verständnis von digitalen Bildungspraxen zukommen könnte, aufzuwerfen.

6 Das ‚umkämpfte Allgemeine‘ und Medienbildung als eine konflikthafte Praxis Der Zusammenhang von digitalen Medienpraktiken und politischen Bildungsprozessen wird aus einer differenztheoretischen Perspektive in der aktuellen medienpädagogischen Diskussion nur randständig verhandelt. Für die Entwicklung

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eines differenz- und solidaritätstheoretischen Verständnisses von Medienbildungsprozessen, in dem auch die Möglichkeit einer anderen Politik mitreflektiert wird, in der nicht das weiße* männliche Normalsubjekt und die abstrakte Norm des Individuums als Bürger dominiert, sollen zunächst erst einmal die Verschränkung von technisch medialen Architekturen und Subjektivationsprozessen reflektiert und in Zusammenhang mit den Commons als Formen digitaler Solidarität gestellt werden. Im Anschluss daran wird abschließend die erweiterte Perspektive einer hegemonietheoretischen Reflexion und die politische Dimension des hier skizzierten differenz- und solidaritätstheoretischen Medienbildungsbegriffs mit Blick auf die Hervorbringung von Solidarität und Gemeinsamkeit jenseits der hegemonial wirkmächtigen Differenzordnung aufgeworfen. In seinen Arbeiten zu Gouvernmentalität und Bio-Macht entwickelt Michel Foucault ein Subjektivationsverständnis, das dem für Bildungstheorien vielfach immer noch inhärenten humboldtschen Verständnis einer sich selbst vervollkommnenden „einheitlichen Persönlichkeit“ widerspricht. Die „Technologien des Selbst“ als gouvernementale Formen der Selbstregierung verschieben die Frage nach „dem“ Subjekt hin zur Frage nach Formen der Subjektivierung, in denen immer auch Medien eine zentrale Rolle spielen. Techniken, so Foucault, werden vom Subjekt nicht nur angewendet, sondern sind konstitutiv an Vollzügen der Subjektivierung beteiligt. Auch die Frage der Rolle der nicht-menschlichen Akteure im Subjektivationsgeschehen, wie z. B. das Tagebuch als Selbst-Technologie, wird dabei von Foucault schon angesprochen (vgl. 2005, S. 503). Für die aktuelle medienpädagogische Diskussion hat den Zusammenhang von digitalen Technologien und Subjektivation u. a. Felix Stalder herausgestellt und insbesondere die Handlungsdimensionen von Algorithmen und digital technologischer Infrastrukturen herausgearbeitet. Die kategoriale Unterscheidung zwischen Subjektivationsprozessen und algorithmenbasierten Technologien bzw. „zwischen sozialen Prozessen, die sich in und durch technologische Infrastrukturen vollziehen, und technischen Prozessen, die sozial konstruiert sind“ (2016, S. 166), sind, so Stalder, in der Kultur der Digitalität nicht aufrechtzuerhalten. Mit dieser Verschiebung entsteht nicht nur ein neues Verständnis einer nun nicht mehr introspektiven, sondern tendenziell vernetzten Subjektivität, sondern auch neue Formen der Sozialität. Das Internet, so Stalder, könne als ein Labor sozialer Innovationen begriffen werden, das insbesondere auch neue Formen der Solidarität hervorbringt (vgl. Stalder 2019). Unter diesen neuen

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Formen der Organisation von Solidarität ist mit Blick auf das digitale Mahnmal insbesondere die der Commons hervorzuheben, weil es auch hier um die Frage um ein Common geht.11 Unter Commons werden in der Regel Ressourcen verstanden, wie Code, Wissen, Nahrung, Energiequellen, Wasser, Land, Zeit etc., die aus selbstorganisierten Prozessen des gemeinsamen bedürfnisorientierten Produzierens, Verwaltens, Pflegens und Nutzens (Commoning) hervorgehen. Commons bilden, so Stalder, neben Markt und Staat eine eigenständige „dritte Organisationsform“ (Stalder 2019, S. 21), womit er meint, dass in CommonsKontexten zumeist nicht die Handlungslogiken von Markt und Staat dominieren. Zu solchen digitalen Commons zählt Stalder z. B. Wikipedia, Ubuntu aber auch Sharing-Plattformen, wie The Pirate Bay es war. Die Diskussion um die Commons kommt aber aus einer weitergefassten politisch ökonomischen Diskussion, in der sehr verschiedene Zugänge zu den Commons bestehen. In der feministischen Perspektive von Silvia Federici steht der Begriff „Commons“ für die Wiederentdeckung und Neuerfindung von Formen solidarischer Ökonomie (Federici 2019), womit sie die Commons noch expliziter als Widerstandsform charakterisiert und als Idee einer alternativen Ökonomie zur kapitalistischen hervorhebt. Dieser feministische Zugang zu den Commons ist interessant, weil er es ermöglicht, noch expliziter auf die gesellschaftliche Kritik, die im digitalen Mahnmal angelegt ist, einzugehen. Für Federici sind solidarische Organisationen, insbesondere die Formen der Reproduktionsarbeit, also Formen des Sorgetragens für andere, der Pflege und der weiblichen Hausarbeit, innerhalb der kapitalistischen Ökonomie entwertet und es geht ihr insofern darum, diese wieder aufzuwerten und als politische Entwürfe eines anderen Gemeinseins zu begreifen. Als Beispiele bezieht sie sich vor allem aktuelle ländliche und indigene Gemeinschaften in Lateinamerika, die Widerstand gegen industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Umweltzerstörung leisten. Es sind vor allem Frauen, die die traditionelle Landwirtschaft aufrechterhalten und das Wissen um kollektive Arbeits- und Besitzformen weitergeben. Wenn das Common ‚Stadtraum‘ (als Recht oder Gemeingut aller, in der Stadt zuhause zu sein) durch die rassistische Praxis der Einrichtung gefährlicher Orte und Racial Profiling infrage gestellt ist, bedarf es solcher tentativen Praktiken und Orte im Sinne Federicis, die der Vereinzelung widerstehen und Orte des Gemeinsamen hervorbringen. Das digitale Mahnmal kann als der Versuch gelesen werden einen solchen Ort hervor-

11Die

weiteren drei Ansätze digitaler Solidarität bilden nach Stalder „Versammlung“, „Schwarm“ und „schwaches Netzwerk“ (vgl. ebd.)

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zubringen, der nicht nur ein Ort des Widerstands gegen Rassismus ist, sondern der auch ein anderes Leben erproben will, ein Leben, das die gesellschaftliche Atomisierung durchbrechen will und auf die Idee eines neuen Gemeinsamen baut, in dem Rassismus keinen Platz hat. Um der neoliberalen Vereinzelung entgegenzuwirken, kann das Mahnmal sich insofern nicht nur gegen Rassismus wenden, sondern muss auch darauf abzielen, die Normalsubjektivierung der Einzelnen als „Unternehmer_in“ und „Kund_in“ zu durchbrechen, und die individualisierenden durch kollektive Subjektivierungsformen zu ersetzen. Rassismus ist Bestandteil der Ökonomie spätmoderner Individualisierung, die eine Solidarisierung der Minorisierten verhindert. Nicht die Selbst-Sorge bestimmt die Vision des digitalen Mahnmals, sondern Formen des FüreinanderSorge-Tragens und die Idee eines neuen Gemeinsamen angesichts eines Lebens in einer ‚Gesellschaft mit Rassismushintergrund‘. Abschließend soll nun ein Medienbildungsbegriff skizziert werden, der gängige Verständnisse des Subjektivationsgeschehens differenz- und solidaritätstheoretisch zu erweitern sucht.12 Mit dem Begriff der Solidarität sind normative Ansprüche und Forderungen verbunden. Zu Solidarität gehört es, dass die Anderen etwas von mir fordern, dass ich die Forderung, die sie vielleicht nicht an mich herantragen können, erkenne als eine berechtigte Forderung oder als eine Forderung, die vielleicht nicht auf dem Grund des Rechts formuliert werden

12Dieser

kann vom praxeologischen Bildungsbegriff, den Heidrun Allert und Michael Asmussen (2017) in Anlehnung an Stalder entwerfen, abgegrenzt werden. Allert und Asmussen, die mit Stalder betonen, dass die in den Verästelungen der Praxis und in der Verschränkung mit technischen Medien entstehenden „Formen der Gemeinschaftlichkeit […] die eigentlichen Subjekte sind, die Kultur […] hervorbringen“ (vgl. ebd., S. 50), heben die, wie sie sie nennen, kollektivierenden Dimensionen im Subjektivierungsgeschehen hervor. Diese „kollektiven Formen“ werden allerdings lediglich in Hinsicht auf die Verschränkung von „Mensch und Ding“ als Relationalität und ko-konstruktives Verhältnis in Praktiken reflektiert (vgl. ebd., S. 47). Dass in dieser praktischen Hervorbringung von Kultur rassistische, sexistische, klassistische und ableistische Differenzmuster ebenso wirkmächtig agieren wie technische Verfahren, ist aber in ihrer praxeologischen und subjektivationstheoretischen Medienbildungsperspektive nur randständig ins Auge zu fassen. Das digitale Mahnmal kann zwar mit Allert und Asmussen in seiner augmentierten Räumlichkeit als ein technologisch-soziales Arrangement erkannt werden, in dem „poetische Spielzüge“ als situationsgebundene Transaktionen, die Spielsituation selbst wandeln (vgl. Richter und Allert 2017, S. 248). Dass dies aber nur insofern geschieht, insofern die Praxis der Opfer-Täter Umkehr unterbrochen bzw. transformiert wird,

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kann, aber die ich in anderer Weise als berechtigt anerkenne. Die Anderen stellen ethische Ansprüche an mich, haben politische Rechte und fragen nach meinen affektiven Bindungen zu ihnen. Solidarität zu fordern, setzt voraus, dass diese Forderungen nicht von selbst gegeben sind. Zumeist ist Solidarität an einen Akt der Bekundung gebunden. Des Weiteren sind die Forderungen der Anderen, wie Sabine Hark (et al.) betonen, „nicht aus den besonderen Eigenschaften der Anderen oder besonderen Erfahrungen mit ihnen abzuleiten, sondern aus dem, was wir mit ihnen teilen, ohne dass es uns oder ihnen alleine gehört“ (Hark et al. 2015, S. 99). Das Geteilte beruht nicht auf gemeinsamer Identität. Das heißt aber auch, dass im gegebenen Verständnis des Allgemeinwohls dieses Geteilte nicht vorkommt, sonst müsste es nicht gefordert werden. Das Allgemeine ist umkämpft bzw. wird zu einem umkämpften. Solidarität politisch zu denken bedeutet, zu fragen, was ist das Allgemeinwohl, was ist der volonté générale, was ist das, was uns allen gemeinsam ist, und sie macht politische Aushandlungsprozesse notwendig. Wenn wir Solidarität fordern, betreten wir insofern einen sozialen Kampfplatz. Wer hat welches Recht auf welche Bildung? Wie ist Sorgearbeit (und damit das Geschlechterverhältnis) organisiert? Wem gehört die Stadt (Gentrifizierung, racial profiling etc.)? Wer hat die Möglichkeit zu gleichberechtigter Teilhabe an der Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung (Habermas)? Wer

ist nur bedingt in den Blick zu bekommen, weil die Praktiken analytisch nicht auf die bestehenden hegemonialen Verhältnisse bezogen werden können. Ohne einen hegemonietheoretischen Bezugsrahmen, der in der transaktionalen Bildungsperspektive von Allert und Asmussen (2017) weitgehend eine Leerstelle bildet, kann die Kritik des Mahnmals an den rassistischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen und die migrantische Selbstermächtigung gar nicht als solche erkannt werden. In gewisser Weise wird so der Umgang mit Algorithmen von Allert und Asmussen als alleiniges „epochaltypisches Schlüsselproblem“ behandelt (vgl. Allert/Asmussen, S.  30) und damit „Schlüsselprobleme“ wie z. B. Migration (vgl. Mecheril 2019), das neokoloniale Geschlechterregime (Gutiérrez Rodríguez 2010) oder das „Anthropozän“ (Wulf 2019) außen vor gelassen. „Bildung als gestaltende Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit“ und als „produktives Andershandeln“, wie es von Allert und Asmussen vorgeschlagen wird, lässt offen, inwiefern auf rassistische Othering-Strukturen oder auch neokoloniale Geschlechterarrangements pädagogisch Bezug zu nehmen ist. Für die medienpädagogische Praxis gewendet zielt ihr Bildungsverständnis vor allem auf Praktiken einer kritischen Distanzierung oder produktiven Verunsicherung, in der die praktische Verwicklung in gesellschaftliche Hegemonien systematisch ausgespart bleibt und rassismuskritische Subjektivationsprozesse, die das Mahnmal zu ermöglichen sucht, als Bildungsgeschehen nicht in den Blick kommen können.

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darf auf Solidarität hoffen und wer nicht? Um diese Fragen auch in medienpädagogischer Perspektive zu reflektieren und die Verschränkung von technischmedialen Verfahren, Subjektivation und kultureller Bedeutungsproduktion aus einer macht- und herrschaftskritischen Perspektive ins Auge fassen zu können, lassen sich in der aktuellen medienpädagogischen Diskussion allerdings nur wenige Ansätze finden.13 Angesichts dieser Leerstelle und der vorherrschenden rassistischen OtheringStrukturen, die die Gesellschaft durchziehen und die insbesondere in virtuellen Kommunikationsnetzen (von Gamingforen, social media bis Fake News) omnipräsent sind, aber auch mit Blick auf eine medienpädagogische Bildungspraxis, in der über digitale Technologien solidarische Organisationsformen hervorgebracht werden, die sich der abstrakten Norm des weißen* männlichen Bürgers entziehen, stellt sich die Frage, wie ein kritisches Medienbildungsverständnis aussehen kann, in dem die hegemonialen Differenzachsen race, class, gender und ability und die angesprochenen gegenhegemonialen Solidarisierungspraktiken in ihrer Bedeutung für Subjektivierungsvollzüge pädagogisch berücksichtigt werden können. Ein solches Bildungsverständnis müsste fragen, wie durch Praktiken gesellschaftliche Hegemonien stabilisiert werden und wie diese in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet sind. Auf dieser Grundlage würden erst Bildungspraktiken möglich, in denen ein kritisches Verhältnis zu den Reproduktionsprozessen der wirkmächtigen Differenzachsen hergestellt werden kann. Ein differenz- und solidaritätstheoretisches Verständnis von Medienbildung müsste Bildung dann als einen spezifischen Prozess der Subjektivation begreifen, dessen Voraussetzung es geradezu wäre, die hegemonialen Ordnungsmuster des politisch-medialen Raums zu durchbrechen, denn eine Auseinandersetzung, die in der Konsequenz die vorherrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduziert, kann kaum als solche gelten. Bildung als Auseinandersetzung mit den „epochalen Schlüsselproblemen“ der Gegenwart, wie man mit Wolfgang Klafki formulieren kann, wäre dann nicht nur eine Praxis kritischer Distanzierung und produktiver Verunsicherung, sondern auch eine Praxis des Sich-Einmischens und der Positionierung in Bezug auf die Reproduktion hegemonialer Differenz.

13Eine

Ausnahme ist im angloamerikanischen Raum in der Konzeption von social media literarcy bei Shakuntala Banaji (2015) zu finden. Im deutschsprachigen Raum ist Maximilian Waldmann im Zusammenhang von Fake News der Frage nach einem machtund herrschaftskritischen Verständnis von Medienbildung nachgegangen (2019). Eine ideologie- und herrschaftskritische Medienpädagogik, wie sie die Cultural Studies über viele Jahre verfolgt haben (vgl. Winter 2006), scheint weitgehend verschüttet und muss insofern erst wieder aufgegriffen und in den Diskurs eingeführt werden.

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Sie ginge einher mit der Hervorbringung von solidarischen Organisationsformen und einer Praxis wechselseitigen Für-einander-Sorge-Tragens, denn erst indem die eigene praktische Verstrickung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse thematisch werden kann, werden Bildungsprozesse möglich. Diese könnten dann aber keineswegs nur arbiträr sein, sondern bestünden in tatsächlich veränderten praktischen Verhältnissen und Beziehungen zu anderen. Sie wären notwendig auch an Praktiken der Selbstkritik gebunden, insbesondere in Hinsicht auf die eigene Komplizenschaft und Verstrickung in die herrschenden Verhältnisse. Nur freundlich sein reicht nicht aus, wie Spivak zu Recht betont: „In diesem Geschäft der Solidarität mit den Ärmsten der Armen im globalen Süden macht persönliches Wohlwollen nichts wett. Es ist christlich zu denken, dass man Tausende Jahre von Unrecht wieder gut machen kann, indem man einfach freundlich ist“ (Spivak 2008, S. 27, zit. n. Castro Varela 2019).

Ein ernst gemeintes Medienbildungsverständnis müsste insofern auf mehr zielen als nur Erkenntnis. Es müsste auch in eine Praxis münden, die die hegemonialen Verhältnisse und die praktischen Beziehungen zu anderen verändert. Mit dieser praktischen und politischen Situierung des Bildungsverständnisses lässt sich aber nicht vermeiden, dass auch die Frage nach der Bestimmung des Politischen aufgeworfen wird. Was es in unserer alltäglichen Praxis heißt, die hegemonialen Verhältnisse zu durchbrechen, ist keineswegs klar. Es ist sogar überhaupt nicht zu klären. Vielmehr knüpft sich eine weitere Herausforderung an eine Medienbildung als politisch solidarische Praxis an, die darin besteht, dass der Boden der politischen Aushandlungsprozesse selbst Prozess der Aushandlung ist. Wenn wir von der Frage der Commons ausgehen, stehen wir nicht auf einem festen Boden. Im Gegenteil, es werden die klassischen Logiken von Markt und Staat suspendiert, um die Frage nach dem Allgemeinen überhaupt aufwerfen zu können. „[W]as das Allgemeine ist, das allen allgemein ist, wer Teil des Allgemeinen ist, und nicht zuletzt, wer das ‚wir‘ ist, das über diese Fragen entscheidet“ (Hark et al. 2015, S. 99), bleibt also konflikthaft und umstritten. Diese Frage, die mit der Bestimmung des Allgemeinen aufgeworfen ist, ist wohl die entscheidende immer wieder neu auszuhandelnde Frage heutiger Demokratien. Bildung differenz- und solidaritätstheoretisch als Praxis zu fassen, muss insofern weiter an ein Verständnis von Bildung als „konflikthafte Lebensführung“ (Meyer-Drawe 2015, S. 127) anschließen. Dieses und das wäre der Einsatz des hier entworfenen differenz- und solidaritätstheoretischen Bildungsverständnisses, kann sich erst aus der gelebten Praxis des solidarischen Teilens mit anderen beziehen. Die „heute möglichen Formen der Kooperation und der wechselseitigen

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Verantwortung, in denen das, was allgemein, jede_r zukommend und für jede_n verbindlich ist“ (Hark et al. 2015, S. 99), können nicht selbstverständlich vorausgesetzt und auch nicht losgelöst von praktischen Verhältnissen entwickelt werden. Sie sind kein Gegenstand objektiver Erkenntnis, sondern Momente aktiven Aushandelns, die nur in praktischen solidarischen Beziehungen erfahren werden können. Sie müssen in Praktiken und Beziehungen hergestellt werden und erst in diesen Praktiken und Beziehungen des Teilens, eröffnet sich die Möglichkeit der Erfahrung, was das jeweilige Allgemeine im Realen ist. Wenn, wie Stalder hervorhebt, für die digitale Kultur die Hervorbringung kollektiver Subjektivitäten kennzeichnend ist, dann läge einer differenz- und solidaritätstheoretischen Medienbildung insofern daran, die digital durchökonomisierte Gesellschaft der Vereinzelten zu durchbrechen und einen Prozess anzustoßen, in dem in der Verschränkung von algorithmenbasierten Technologien, Selbst-Technologien und kulturellen Bedeutungsproduktionen kontrapunktische Solidaritäten hervorgebracht werden. Diese kontrapunktischen Solidaritäten müssten einerseits auf unabschließbaren Aushandlungsprozessen beruhen, andererseits aber den viktimisierenden Ausschlüssen entgegentreten, die auf rassistischen wie anderen diskriminierenden Othering-Prozessen beruhen, sowie der machtvollen Aneignung des Allgemeinen durch ökonomisierte und privatistische Interessen widerstehen. Ein solches Verständnis von Medienbildung zielt insofern auf Erfahrungen eines Verbindenden jenseits der Trennungen durch Othering, Markt, Macht und spätmoderne Individualisierung. Sie wäre ein Prozess geteilter Erfahrung, d. h. nichts, was man nur mit sich selbst ausmachen könnte.

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Informationen zu den Autorinnen und Autoren

Ahlborn, Juliane, M.A., studierte Medienbildung: Audiovisuelle Kultur und Kommunikation an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ihre Arbeitsund Forschungsschwerpunkte liegen in der Betrachtung des Verhältnisses von Kunst, Kreativität und Bildung im Zusammenspiel mit algorithmischen Strukturen. E-Mail: [email protected]. Aktaş, Ulaş,  Dr. phil., ist Juniorprofessor für Pädagogik an der Kunstakademie Düsseldorf. Er studierte Soziologie an der Freien Universität Berlin und promovierte zum Begriff der Stimmung (Historische und Pädagogische Anthropologie). Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Theorie ästhetischer Erfahrung und Bildung, Hegemonie(Selbst)Kritik, Dekolonisierung von Lernen und Bildung sowie der erziehungswissenschaftlichen Medienforschung. E-Mail: [email protected]. Biermann, Ralf,  Dr. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut I: Bildung, Beruf und Medien der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Mediensozialisation unter der Berücksichtigung milieuspezifischer Ansätze, des Lernens und Lehrens mit neuen Medien in Bildungskontexten sowie der Kommunikations- und Interaktionsformen in virtuellen Welten, insbesondere Digital Games Studies. E-Mail: [email protected] Web: https://ralf-biermann.de.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Holze et al. (Hrsg.), Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität, Medienbildung und Gesellschaft 45, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0

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Informationen zu den Autorinnen und Autoren

Bettinger, Patrick,  Dr. phil., ist Juniorprofessor für Erziehungswissenschaftliche Medienforschung an der Universität zu Köln. Er studierte Erziehungswissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, arbeitete anschließend an den Universitäten Augsburg und Hamburg und promovierte 2017 zum Thema „Praxeologische Medienbildung. Theoretische und empirische Perspektiven auf sozio-mediale Habitustransformationen“. E-Mail: [email protected] Web: https://www.hf.uni-koeln.de/36096. Dander, Valentin,  Dr. phil., ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Medienbildung und pädagogische Medienarbeit an der Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam. Er promovierte an der Universität zu Köln mit einer wechselseitigen Verhältnisbestimmung von Medienpädagogik und digitalen Daten. Forschungsinteressen liegen im Feld medienpädagogischer Bildungs- und Wissenschaftstheorie, mit Schwerpunktsetzungen auf Politischer Medienbildung, digitalen Daten, Medien*Kritik und Open Education. E-Mail: [email protected] Web: https://www.fhchp.de. Holze, Jens,   Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Pädagogik und Medienbildung des Institut I: Bildung, Beruf, Medien der Fakultät für Humanwissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er lehrt und forscht in den Bereichen Internet/Web Studies, Filmanalyse und Digitale Subkulturen im Kontext der Strukturalen Medienbildung und promovierte 2017 zur Frage der Auswirkungen von digitalen Medien auf Konzepte von Wissen, Wissenserwerb und -generierung. Aktuelles Forschungsthema ist die Weiterentwicklung empirischer Forschungsmethoden mit Blick auf digitale Medialität insbesondere in den Bereichen Online-Ethnografie und strukturale Filmanalyse. E-Mail: [email protected] Web: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/. Höltgen, Stefan,  Dr. phil., studierte zwischen 1996 und 2000 Germanistik, Philosophie, Soziologie und Medienwissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2009 promovierte er an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Seit 2011 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medientheorien des Fachgebiets Medienwissenschaft der Humboldt-Universität. Dort kuratiert er die technischen Sammlungen des Medienarchäologischen Fundus und des Signallabors und betreibt er ein Forschungsprojekt zur Archäologie früher Mikrocomputer und ihrer Programmierung, das zugleich Dissertationsprojekt am Lehrstuhl für Informatik und Gesellschaft der HU Berlin ist. 2016/2017 war er Vertretungsprofessor für "Medien, Algorithmen und Gesellschaft" am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Neben der Veröffentlichung von

Informationen zu den Autorinnen und Autoren

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Monografien und Sammelbänden ist er regelmäßig Autor von Film- und Computerspiel-Kritiken, Rezensionen und Artikeln mit den Schwerpunkten Computer, Medien, Kultur und Technik (sowie deren Geschichte und Wissenschaften) in Sammelbänden, Online-Magazinen und Zeitschriften. Seit 2015 ist er Mitherausgeber der Reihe Computerarchäologie und Redakteur der Zeitschrift Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft (GRKG). Seit 2014 organisiert er das Vintage Computing Festival Berlin. Info: www.stefan-hoeltgen.de. Krückel, Florian,  Dr. phil., ist akademischer Rat am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erziehungs- und Bildungstheorie unter Berücksichtigung postmoderner Medien- und Technikphilosophie. Gerahmt werden diese Forschungszugänge durch anthropologische Überlegungen unter einer digitalen Perspektive. E-Mail: [email protected] Web: https://www.bildungswissenschaft.uni-wuerzburg.de. Rehfeld, Steffi,  M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut I: Bildung, Beruf und Medien der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie beschäftigt sich primär mit medialen Phänomenen der japanischen Populärkultur und Artikulationen sowie Praktiken im Bereich Fankulturen. Ihre weiteren Schwerpunkte liegen in den Digital Games Studies, speziell in der Einbettung von Computerspielen in formellen Bildungskontexten. E-Mail: [email protected] Web: https://www.meb.ovgu.de/. Schüll, Maren  Dr. phil., ist akademische Rätin am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in bildungstheoretischer Ausrichtung im Bereich der Ästhetik und Rhetorik. E-Mail: [email protected] Web: https://www.bildungswissenschaft.uni-wuerzburg.de. Spengler, Andreas,  Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der kulturwissenschaftlichen Bildungsforschung sowie der Sozialisationstheorie und -forschung. Sein Interesse bewegt sich dabei zwischen Macht, Medien, Technologie, Ästhetik, Kommunikation und Konsum.

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Informationen zu den Autorinnen und Autoren

E-Mail: [email protected] Web: www.phil.uni-passau.de/allgemeinepaedagogik. Verständig, Dan, Dr. phil., ist Juniorprofessor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung in der digitalen Welt an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte lassen sich in der Betrachtung von Lern- und Bildungsprozessen im Horizont digitaler Medialität verorten. Dabei spielen die digitalen Infrastrukturen eine wichtige Rolle für die Betrachtung von Fragen der Bildung. Damit bewegt sich das Forschungsinteresse im Rahmen von Bildungs- sowie Medientheorie und Algorithmenforschung. E-Mail: [email protected] Web: https://www.ebdw.ovgu.de.