Mondialisierungen: »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen [1. Aufl.] 9783839403648

Mondialisierungen sind jene Kulturphänomene, die in ihrer Summe »die Globalisierung« bilden - also eine globusumspannend

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German Pages 318 [314] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Welten denken
Passagen. Für eine postmetaphysische Ontologie der Identität und der Differenz
Globus/Mundus. Anmerkungen zum Weltbegriff einer möglichen Philosophie der Altermondialisierung
Heteromundus
Philosophie der Mondialisierungen und Mondialisierung der Philosophie
Welten verstehen
Überlegungen zu Aufgaben und Voraussetzungen interkultureller Philosophie
Von »Matrix« zu Campanella. Kulturelle Métissagen und Mondialisierungen
Musik als universale Sprache der Welt
Mondialisierungen als philosophisches Experiment. Kulturelle Diversität und transkultureller Dialog
Technik und Interkulturalität
Welten gestalten
Demokratie in der Weltgesellschaft? Einige Überlegungen zu den normativen Grundlagen politischer Ordnung und ihrer globalen Realisierung
Global Justice. Kapitalismus als ›civilizing agency‹
Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht: Normative Realität, konkrete Utopie oder »academic research tool«?
Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen?
In die Welt gestellt. Zur Rolle der Kunst im Globalisierungsprozess
Immaterielles kulturelles Erbe als Bildungsaufgabe
Autoren
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Mondialisierungen: »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen [1. Aufl.]
 9783839403648

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Mondialisierungen

2006-05-30 15-54-52 --- Projekt: T364.edimopomo.badura.mondialisierung / Dokument: FAX ID 01e8116981493276|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 116981493298

2006-05-30 15-54-53 --- Projekt: T364.edimopomo.badura.mondialisierung / Dokument: FAX ID 01e8116981493276|(S.

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) T00_02 vakat.p 116981493450

Jens Badura (Hg.)

Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen

2006-05-30 15-54-54 --- Projekt: T364.edimopomo.badura.mondialisierung / Dokument: FAX ID 01e8116981493276|(S.

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) T00_03 innentitel.p 116981493530

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-364-X

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 116981493538

Inhalt

Jens Badura Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Jens Badura Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Welten denken Giacomo Marramao Passagen. Für eine postmetaphysische Ontologie der Identität und der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Oliver Marchart Globus/Mundus. Anmerkungen zum Weltbegriff einer möglichen Philosophie der Altermondialisierung . . . . . . . . . . . . . . .

35

Jens Badura Heteromundus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 François de Bernard Philosophie der Mondialisierungen und Mondialisierung der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

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Welten verstehen Franz Martin Wimmer Überlegungen zu Aufgaben und Voraussetzungen interkultureller Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Serge Gruzinski Von »Matrix« zu Campanella. Kulturelle Métissagen und Mondialisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Andreas Luckner Musik als universale Sprache der Welt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Jacques Poulain Mondialisierungen als philosophisches Experiment. Kulturelle Diversität und transkultureller Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Christoph Hubig/Hans Poser Technik und Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Welten gestalten Andreas Niederberger Demokratie in der Weltgesellschaft? Einige Überlegungen zu den normativen Grundlagen politischer Ordnung und ihrer globalen Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Birger P. Priddat Global Justice. Kapitalismus als ›civilizing agency‹

. . . . . . . . . . . . . . 201

Alexander Proelss Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht: Normative Realität, konkrete Utopie oder »academic research tool«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Reinhard Pfriem Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen? . . . . . . . . 253

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7) T00_05 inhalt.p 116981493554

Jens E. Sennewald In die Welt gestellt. Zur Rolle der Kunst im Globalisierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Christoph Wulf Immaterielles kulturelles Erbe als Bildungsaufgabe

. . . . . . . . . . . . . 301

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

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7) T00_05 inhalt.p 116981493554

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) vakat 008.p 116981493578

Vorwort | 9

Vorwort Jens Badura

›Mondialisierungen‹ – nur ein neues Label für eine der üblichen Publikationen zur allgegenwärtigen ›Globalisierungsdebatte‹? Die im Folgenden versammelten Beiträge weisen hoffentlich darüber hinaus. Denn es geht in ihnen – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – darum, zu prüfen, in welchem Sinne ein Verstehen der heute unter dem Schlagwort ›Globalisierung‹ subsumierten Transformationsprozesse als Herausforderung für das etablierte Denken zu begreifen ist und Revisionen von Kategorien und Methoden dieses Denkens erfordert. Das Buch geht aus dem Forschungsprojekt ›Philosophie der Mondialisierungen‹ hervor, das ich – angeregt durch die Arbeit der »Groupe d’Etudes et de Recherches sur les Mondialisarions« (GERM, Paris) – in den Jahren 2003 und 2004 am ›Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften‹ (IZEW) der Universität Tübingen geleitet habe. Im Rahmen von Tagungen, Workshops und Publikationen wurde das Forschungsfeld einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen ›Globalisierung‹ abgesteckt sowie ein internationales Netz von Forschungskontakten geknüpft. Danken möchte ich zunächst der Universität Tübingen, die das Projekt im Rahmen ihrer Nachwuchsförderung großzügig unterstützt hat, wie auch der DVA-Stiftung, die den Aufbau deutsch-französischer Forschungskontakte zur ›Philosophie der Mondialisierungen‹ gefördert hat. Für fachliche, institutionelle und/oder moralische Unterstützung möchte ich herzlich danken dem wiss. Koordinator des IZEW, Dr. Thomas Potthast, der Sprecherin des IZEW, Prof. Dr. Eve-Marie Engels, dem Projektmitarbeiter Stephan Steiner und den Mitgliedern der Arbeitsgruppe ›Philosophie der Mondialisierungen‹ am IZEW. Last not least gilt mein Dank Gille BaduraLotter, die sich der undankbaren Aufgabe der Textformatierung angenommen hat. Daoulas, im Februar 2006

Jens Badura

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) T00_06 vorwort.p 116981493586

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) vakat 010.p 116981493594

Einleitung | 11

Einleitung Jens Badura

1. Globalisierung/Mondialisierungen ›Globalisierung‹ ist heute modisches Schlagwort Nr. 1: Das Ende der »großen Erzählung«, noch bis in die 1990er Jahre hinein zumindest feuilletonistischer Gemeinplatz, wurde, so macht der gegenwärtige Diskussionsstand glauben, vorschnell verkündet. Denn heute bezeichnet ›die Globalisierung‹ den neuen Gang der Dinge, sie tritt als scheinbare Evidenz zu Tage und treibt, mehr oder weniger eigendynamisch und umfassend, Weltveränderungen voran. ›Die Globalisierung‹ taugt, so suggerieren es weite Teile der so genannten ›Globalisierungsdebatte‹, als eine Art Universalchiffre und tritt im Gewande schicksalhafter Faktizität auf. ›Im Zeitalter der Globalisierung‹, so postulieren es Buchtitel und politische Programme, ›muss man sich neuen Realitäten fügen, will man den Anschluss nicht verpassen‹. Diesseits einer sicher reizvollen Analyse dieser Sprache, in der über die Globalisierung meist gesprochen wird, lässt sich fragen, was eigentlich das Label ›Globalisierung‹ bezeichnet. Handelt es sich um einen Sammelbegriff für lebensweltliche Transformationsprozesse? Ein Pseudonym für Komplexität? Eine teleologische oder quasi-religiöse Kategorie der schicksalhaften Vorbestimmung der Menschheitsentwicklung? Oder ist es schlicht ein politischer Kampfbegriff, der zum Mythos aufgeblasen und dann als vorgebliche Sachzwang-Geburtsmaschine zur Umsetzung spezifischer politischer Ziele instrumentalisiert werden kann? Mehr als eine Beschreibung im Modus der Schlagwortnennung findet man selten, wenn man fragt, was ›die Globalisierung‹ als Phänomen eigentlich auszeichnet: Globalisierung = die Totalisierung des imperialen Neoliberalismus; Globalisierung = die Chance für eine weltweite Etablierung der Demokratie und Freiheitskultur; Globalisierung = Ursache für Sozialabbau; Globalisierung = Diffusion nationalstaatlicher Souveränität; Globalisierung = Clash of Civilisations etc. Und wenn die in je eigenen Lagern gesammelten

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12 | Jens Badura Gegner, Kritiker, Befürworter und Dulder ›der Globalisierung‹ streiten, wird über das Wesen ›der Globalisierung‹ selbst eigentümlicherweise kaum gesprochen. Man ist sich in der Regel einig: Es geht eben um ›die Globalisierung‹. Bestehende ›Globalisierungs‹-Kontroversen befassen sich sodann, ›die Globalisierung‹ voraussetzend, mit der Frage, wie man diese, je nach politischer Position, vorantreiben, umgestalten oder aber rückabwickeln kann – kaum aber mit der Frage, wofür der Begriff ›Globalisierung‹ eigentlich genau steht. Das Anliegen hinter diesem Band zu den Mondialisierungen1 ist es nun nicht etwa, dem Begriff ›Globalisierung‹ jene fehlende distinkte Bedeutung zuzuweisen bzw. ihn trennscharf zu definieren. Es geht vielmehr darum, mit Blick auf unterschiedlichste lebensweltliche Phänomene die Nichtdefiniertheit des Begriffs ›Globalisierung‹ vernehmbar zu markieren und eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Mannigfaltigkeit von Mondialisierungen im Sinne einer auf die Pluralität ihrer Möglichkeiten hin ausgreifenden Menschheit ins Werk zu setzen. Was unter der pauschalen Rede von ›der Globalisierung‹ nämlich schlicht aus dem Blick gerät, ist der Umstand, dass diese Mondialisierungen höchst ambivalente, gleichwohl aber faszinierende und hochgradig bedenkenswerte Transformationsbewegungen sind, die lebensweltliche Strukturrealitäten, Kategorien und Erfahrungsbestände in substantieller Weise vor Modifikations- und Revisionsherausforderungen stellen – im Denken wie im Handeln.2 Warum aber dieser Neologismus – hat es Transformationsbewegungen in der Lebenswelt nicht seit jeher gegeben? Der neue Name weist nicht nur auf eine interne Pluralität des Gegenstandsbereiches, sondern auch auf eine kategoriale Differenz zwischen Globus und Mundus. Lateinisch ›Globus‹ bedeutet Kugel, dichter Haufen, Klumpen. Ein Begriff, das kann man sich leicht anhand eines Leuchtglobus vergegenwärtigen, der sich auf eine zunächst einmal physikalische Dimension bezieht – die Erdkugel bzw. den symbolischen Repräsentanten des Planeten ›Erde‹. Lateinisch ›Mundus‹ hingegen bedeutet ›Welt, Menschheit‹ und bezieht sich auf die Lebenswelt, es steht auch für ›Menschheit‹, und ist nur mittelbar auf den Planeten ›Erde‹ verwiesen. ›Globus‹ und ›Mundus‹ lassen sich somit dadurch unter1 | ›Mondialisierungen‹ ist der Plural des französischen Wortes für ›Globalisierung‹ (›mondialisation‹). Erfreulicherweise hat sich auch in Deutschland der ebenfalls dem französischen Sprachschatz entstammende Begriff des ›Altermondialismus‹ als eine bessere Alternative zu dem im Deutschen üblichen Label ›Globalisierungskritik‹ durchgesetzt – denn (wenn auch nicht immer offensiv klargestellt) die meisten ›Globalisierungskritiker‹ kritisieren ja nicht ›die Globalisierung‹, sondern die Art und Weise, in der sich das so bezeichnete Phänomengemenge abspielt. 2 | Zum programmatischen Leitbegriff hat die von François de Bernard geleitete »Groupe d’Etudes et de Recherches sur les Mondialisations« (GERM) die Mondialisierungen gemacht, www.mondialisations.org.

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Einleitung | 13

scheiden, dass im ersten Fall eine physikalisch-räumlich ausgedehnte Dimension bezeichnet wird, während im zweiten Fall kulturelle humane Welt(en) gemeint sind. Lebenspraktisch lassen sich diese Dimensionen sicherlich nicht völlig trennen: Kulturelle Praxis hat eine physikalisch-räumliche Dimension, das Erkennen des Physikalisch-Räumlichen bzw. Theorien dazu sind Produkte des Kulturellen. Und doch unterscheiden sich die Dimensionen kategorial hinsichtlich der je unterstellten ›Wirklichkeiten‹: In einer physikalisch beschriebenen globalen Welt wird meist von einer kausalen Wirklichkeit ausgegangen, mit Blick auf kulturelle Welten hingegen bedarf es anderer Modi der Beschreibung und Deutung. Das, was heute mit ›Globalisierung‹ bezeichnet wird, hat zweifelsohne einen relevanten, in physikalischen Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität zu beschreibenden Anteil – und die sich verschärfenden Schäden an der natürlichen Umwelt, die uns der physischen Abhängigkeit von sauberer Luft und sauberem Wasser gewahr werden lassen, machen dies genauso deutlich wie die Dauer eines Langstreckenfluges von Frankfurt nach Sydney. Zugleich aber hat die vor allem im 20. Jahrhundert enorm beschleunigte »Raum-Zeit-Kompression« (David Harvey) zur Entstehung des globusumfassenden Mundus geführt – und einen mondialen Raum kultureller Wechselwirkungen entstehen lassen. Die Möglichkeit, Menschen, Materialien, Kapitalien und Informationen zu mobilisieren und fortlaufend immer schneller zirkulieren zu lassen – und diese Mobilität als Normalität wahrzunehmen –, führten zu einer zunehmenden Entkopplung von globalem Raum und mundialer Zeit und der Entstehung einer medial verfassten, globale Distanz überwindenden Gleichzeitigkeit, aus der heraus sich heute ein realer, globaler Mundialraum konstituiert. Mondialisierungen bezeichnen diesen zur Normalität gewordenen Ausgriff der humanen Welt über den gesamten Globus hinweg, der in Permanenz Verweisungs- und Verwiesenheitszusammenhänge von je verwirklichten Möglichkeiten des Menschseins generiert. Die daraus resultierenden Dynamiken nötigen zu einer substantiellen Revision etablierter kategorialer Schemata der Welterfassung und -gestaltung: Die im kulturellen Bewusstsein der Moderne schon angelegte Deutung der humanen Welt als Welt der Möglichkeiten wird nun konkrete Realität, indem sich die Ahnung des Möglichen mit einer mannigfaltigen Varianz von Wirklichkeiten des Menschseins als verwirklichten Möglichkeiten kurzschließt. Umso mehr verwundert die symbolpolitische Selbstverständlichkeit, die den Globus zur ikonischen Repräsentation dessen macht, worum es in der ›Globalisierungsdebatte‹ geht: Denn die Erdkugel, ein distinktes Objekt, häufig auch noch von Längen- und Breitengraden gerastert dargestellt, deutet nicht auf die mondiale Dimension und ihre mannigfaltige Dynamik und kulturelle Eigenwirklichkeit, sondern richtet den Blick einzig auf die im bekannten Abbild darstellbare, globale Dimension. Das ist kein Zufall: Denn vom Mundus gibt es kein eindeutiges (Ab-)Bild, es gibt nur immer schon

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14 | Jens Badura viele Bilder – der Mundus lässt sich nicht in einer distinkten Repräsentation vereindeutigen, sondern ist das Dynamisch-Viele dessen, zu dem Menschen ihn je gestalten. Das heißt aber, dass sich eine Auseinandersetzung mit dem Mundus auf diese Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit des Mundus einlassen bzw. sich ihr aussetzen muss. Für die wissenschaftliche Untersuchung der Mondialisierungen bedarf es daher zunächst einer Dekonstruktion dieser Reduktion des Mundus auf seine Globalität, um den Mundus in seiner Eigenwirklichkeit überhaupt erst sichtbar und bedenkbar werden zu lassen. Das Denken der Mondialisierungen benötigt eine Öffnung hin auf die Ambivalenz als Normalgestalt intellektueller Praxis. Ein Modus der kreativen Offenheit, der sich jenseits disziplinärer Üblichkeiten und denkstilistischer Opportunitäten bewegt – und sensibel bleibt dafür, dass es ganz anders möglich sein könnte, als man es gerade denkt.

2. Zur Programmatik des Bandes Ein in diesem Sinne motiviertes reflexives Durcharbeiten von Mondialisierungen und ihrer Wechselwirkungen möchte ich deshalb im Folgenden »Philosophie der Mondialisierungen« nennen. Da Mondialisierungen als Kulturphänomene zu begreifen sind, also als Produkte einer Menschheit, die zunehmend globusumspannend eine Vielfalt von Möglichkeiten des Menschseins realisiert und in Wechselwirkungen bringt, zielt eine solche Philosophie der Mondialisierungen darauf, ein Menschsein in dieser Pluralität und Dynamik auf Begriffe zu bringen, zu deuten und Wege zu eröffnen, die eine Orientierung in dieser Pluralität und Dynamik ermöglichen. Philosophisch nenne ich dieses Projekt deshalb, weil es darum geht, Phänomene und Phänomenerschließungsformen gleichermaßen zu befragen und dabei in jene Ecken zu leuchten, die im Normalfall dunkel bleiben – also genau jene disziplinären Axiome nicht zuzulassen, welche die Einzelwissenschaften zur Voraussetzung haben. Es geht, anders gesagt, um das Aufdecken von je in Anspruch genommenen Möglichkeitsbedingungen der Weltbeschreibung und deren Defizienz die Phänomenerfassung Mondialisierungen betreffend, um das Schaffen von geeigneten Begriffen, um die Sichtung und Artikulation konzeptioneller Grenzen des Erkennens und Aussagens. Mondialisierungen, so eine zentrale programmatische Arbeitshypothese des Forschungsanliegens, aus dem dieses Buch hervorgegangen ist, führen zu einer substantiellen, vielleicht sogar kategorialen Komplexitätserhöhung lebensweltlicher Dynamiken. Die etablierten, auf disziplinäre Arbeitsteilung eingeschworenen Einzelwissenschaften vermögen es, so scheint mir, meist nicht, dieser Komplexitätserhöhung gerecht zu werden: Es fehlt – und das gilt nicht nur im Kontext der schon genannten ›Globalisierungsdebatte‹ –

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Einleitung | 15

eine Kultur der Re-Integration solcher einzelwissenschaftlichen Perspektiven in einen dynamischen, dichten Verweisungszusammenhang, von dem aus die disziplinären Grenzziehungen und Stile selbst immer neu und grundsätzlich problematisiert werden können. Es fehlt, anders formuliert, ein Suchraum, in dem die Disziplinen sich einerseits polylogisch dedisziplinieren und andererseits kreativ redisziplinieren. Es ist deshalb sowohl eine komplementär-interaktive Praxis des Wissen-Schaffens ins Werk zu setzten als auch offensiv an der methodisch-konzeptionellen Vielstimmigkeit in disziplinär verfassten Diskursräumen zu arbeiten – auch dadurch, dass die Grenzen dieser Räume gemäß der jeweiligen Frage- und Problemstellungen aktiv perforiert werden. Mondialisierungen sind nun ein Phänomenbereich, der genau diese Problematik deutlich hervortreten lässt: Sie lassen sich weder über abstrakte Summen einzelwissenschaftlicher Überlegungen begreifen noch dadurch erfassen, dass Mikromodelle zu Makromodellen aufgeblasen werden. Die Menschheit als Ganze lässt sich politisch offenbar nicht durch simple Übertragung der Instrumente nationalstaatlicher Demokratien organisieren, die Weltwirtschaft nicht einfach als eine große Nationalökonomie verstehen oder die institutionelle Funktionslogik nationalen Rechts umstandslos in ein transnationales Völkerrecht eintragen. Vielmehr bringt der Übergang von lokaler zu globaler ›Mundialität‹ Veränderungen mit sich, die zu verstehen und zu gestalten nicht einfach nur im ›Weiter so‹ etablierter Denkmodelle für die Lokalität bestehen kann, sondern zunächst die Eigenlogik der Mundialität zu verstehen suchen muss. Wichtig für die Frage, wie man Mondialisierungen erfassen kann, ist daher die Bereitschaft, neue Herausforderungen für das Be-Denken des Mundus auch als wirklich neue Herausforderungen anzunehmen, indem die je etablierten Modi der Welterschließung ihrerseits auf den Prüfstand gelangen. Und gerade im Kontext einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mondialisierungen ist es wichtig3, disziplinäre Tiefenschärfe und Wissensbestände zwar zu nutzen und zu entwickeln, zugleich aber auch disziplinäre Vorstellungsräume zeitweilig in einen substantiell offenen Suchraum hinein zu entdogmatisieren. Daher wurde das Konzept einer Philosophie der Mondialisierungen so angelegt, dass diese bestehende (disziplinäre) Diskurse aufgreift, sie in konstruktive Spannung zueinander bringt und zugleich (de-)konstruktiv befragt. Sie zielt also auf Reflexionskatalyse inmitten einer Mehrzahl von Akteuren und Denkstilen. Ihr Anliegen ist nicht, aus dem Ideenhimmel heraus den Mundus neu zu stiften oder ihn aus der philosophischen Tradition heraus zu erklären, sondern im katalytisch geführten Dialog mit je spezifischen, heterogenen Perspektiven nachzufragen (oder ein solches Fragen 3 | Aber nicht nur dort: Auch im Feld der Politik und der Debatte zur ›Globalisierung‹ ist es natürlich von Bedeutung, eine adäquate Konzeptualisierung des Gegenstandsbereichs immer wieder neu sicherzustellen.

2006-05-30 15-54-55 --- Projekt: T364.edimopomo.badura.mondialisierung / Dokument: FAX ID 01e8116981493276|(S.

11- 16) T00_07 einleitung.p 116981493602

16 | Jens Badura aufzugreifen und zu radikalisieren), wo das Denken allzu sehr in einem »Business as usual« eingerastet ist oder aber lebensweltliche Phänomene aufgrund disziplinärer Selbstbezüglichkeit ungesehen bleiben bzw. verfremdet werden. Die vorliegenden Beiträge sind heterogen hinsichtlich des Gegenstandsbereiches im Kontext des Phänomens ›Mondialisierungen‹, hinsichtlich der Intention, Mondialisierungen theoretisch oder begrifflich zu erfassen und schließlich auch Umfang und Textgattung betreffend. Die Zusammenstellung erfolgte nicht mit dem Ziel, eine repräsentative oder systematisch erschöpfende Darstellung des Phänomens ›Mondialisierungen‹ zu liefern. Vielmehr ging es darum, fruchtbare Impulse zu bündeln, die eine substantielle Auseinandersetzung mit Mondialisierungen ihrerseits befördern sollen – indem Fragen und Aufgabenstellungen formuliert und Beobachtungen dargelegt werden, die sich dem ›Weiter so‹ der bekannten Globalisierungsdebatten sperren. Der Band soll also Suchraum und Katalysator zur Neubestimmung und -problematisierung von Mondialisierungsphänomenen sein, nicht eine Abhandlung oder Verfeinerung von wohlbekannten Antworten auf wohlbekannte Phänomenbeschreibungen. Daher mögen manche Themen und Zugänge eher unkonventionell sein – aber tentatives Denken ist ein expliziter Wunsch an die Autoren gewesen. Die Gliederung der Einzelbeiträge folgt dabei den Leitmotiven ›Welten denken‹, ›Welten verstehen‹ und ›Welten gestalten‹ – ist aber eher als lockere Gruppierung denn als trennscharfe Abgrenzung zu verstehen, zumal gemäß der Programmatik einer Philosophie der Mondialisierungen gerade auch die Wechselwirkungen der drei Bereiche adressiert werden und auf sie reflektiert wird. Da aber die Beiträge für sich selbst sprechen sollen, sei nun genug zur Einleitung gesagt – nicht ohne jedoch den Autoren für die kooperative Mitarbeit bei diesem Experiment zu danken und dem Leser eine anregende Lektüre zu wünschen!

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11- 16) T00_07 einleitung.p 116981493602

Welten denken

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) T01_00 RESPEKTSEITE.p 116981493610

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) vakat 018.p 116981493618

Für eine postmetaphysische Ontologie der Identität und der Differenz | 19

Passagen. Für eine postmetaphysische Ontologie der Identität und der Differenz Giacomo Marramao

Vorbemerkung Die hier in Thesenform formulierten Überlegungen nehmen ihren Ausgang vom vitalsten und fruchtbarsten – d.h. konzeptionell und politisch praktikabelsten – Aspekt der Kritischen Theorie: dem Zusammenhang von Öffentlichkeit und Erfahrung, der die kritisch-emanzipatorische Dimension und die Dynamik der Konstitution der Subjektivität innerhalb konkreter Lebenswelten umreißt. Die Deutungen dieses Zusammenhangs gehen bekanntlich bei Oskar Negt und Jürgen Habermas weit auseinander und bilden zwei unterschiedliche Lesarten der gegenwärtigen Phase des Übergangs zur »postnationalen Konstellation« oder – um eine Formulierung von Philippe Schmitter zu verwenden – zu einer »posthobbesian order«, d.h. zu einer »Ordnung, die über Hobbes hinausweist«: nämlich die verweltlichte Ordnung der Globalisierung. Inwieweit ist es möglich, auch unter den neuen Gegebenheiten Oskar Negt zu folgen, der im Laufe der letzten 30 Jahre mit außerordentlicher theoretischer Intensität und politischer Leidenschaft die mikrologische Analyse Adornos und die wissenschaftsskeptische Erkenntnistheorie des Nicht-Identischen, des Verdrängten und des Unerforschten aktualisiert hat, um eine Gegen-Geschichtsphilosophie des Widerstands (längst nicht mehr nur der Industriearbeiterschaft) gegen die scheinbar unaufhaltsame Welle der weltumspannenden Moderne zu entwerfen? Wie ist heute das von Negt und Kluge im Konvergenzpunkt von Kritischer Theorie und Foucault’scher Analytik erarbeitete Programm einer »Mikrophysik der Gegenmacht« zu formulieren, das sich der Mikrophysik

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20 | Giacomo Marramao und der bis in alle Winkel reichenden Ausbreitung einer neuen imperialen Macht entgegensetzt? Ziel des gegenwärtigen Beitrags ist es demnach, ausgehend von den Problemstellungen Adornos und Negts die Frage nach der (realen oder virtuellen) Existenz einer »globalen Öffentlichkeit« als einem tragfähigen Terrain für die Konfrontation der unterschiedlichen Erfahrungsebenen und Lernprozesse derjenigen Subjekte zu stellen, die von den Theoretikerinnen und Theoretikern der Postcolonial Studies (seit Gayatri Chakravorty Spivak) mit dem von Antonio Gramsci entlehnten berühmten Begriff als »subalterne Klassen« bezeichnet werden. Zunächst die Frage nach der Existenz einer Welt-Öffentlichkeit zu stellen, ist meiner Ansicht nach für die theoretische Auseinandersetzung plausibler (und analytisch praktikabler), als von vornherein anzunehmen, es gebe zumindest in nuce eine »globale Zivilgesellschaft« (ein Begriff, der bei Ulrich Beck an die Stelle der klassischen »bürgerlichen Gesellschaft« hegelianisch-marxistischer Provenienz tritt). Sich diese Frage zu stellen, impliziert jedoch zweierlei: 1) eine Kritik der Kommunikation zu formulieren und 2) als Ausgangspunkt die Existenz einer Pluralität von »Diaspora-Öffentlichkeiten« (Appadurai) in der globalisierten Welt anzunehmen, die weder von der territorialen Logik nationalstaatlicher Souveränität erfasst wird, noch von dem, was die Soziologie seit Roland Robertson bis heute als »glo-cal« oder »glocalisation« verstanden hat. Die erste Aufgabe ist dadurch weitgehend erleichtert, dass die optimistischen Prognosen über die Entstehung des »global village« von den Theoretikern der elektronischen Multimedia selbst in jüngster Zeit zurückgenommen worden sind: Man geht jetzt vielmehr davon aus, dass das Internet keineswegs einen einheitlichen Kommunikationsraum, sondern eine Vielzahl zentrifugaler Räume geschaffen hat. Die zweite Aufgabe wirft das schwierige Problem der Beziehung zwischen den zwei Dimensionen des Interessenkonflikts (angesichts der Komplexität des Begriffs »Interesse« seit dem 17./18. Jahrhundert, der nicht auf den ökonomisch-utilitaristischen Aspekt reduzierbar ist, spricht man besser von Präferenzkonflikt) und des Identitätskonflikts auf. Diese Beziehung, die in der Gegenüberstellung redistribution – recognition, Umverteilung – Anerkennung (in den letzten Jahren Mittelpunkt einer interessanten Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth), zum Ausdruck kommt, lässt sich nur im Licht einer radikalen Neudefinition des Begriffs Öffentlichkeit verstehen, der sich sowohl von dem prozeduralen Ansatz von Rawls als auch von dem kritisch-kommunikativen von Habermas klar unterscheidet. Politische Öffentlichkeit kann einerseits nicht mehr einfach als Raum eines overlapping consensus verstanden werden, der dem Aushandeln der Regeln prozeduraler Gerechtigkeit dient und den Konflikt der ›komplexen Auffassungen‹ über das Gute ausklammert. Andererseits genügt auch die Definition als kommunikativer Austausch rationaler Ar-

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gumente über Werte, der einer umfassenden und tieferen Verständigung dient, nicht mehr. Die entscheidenden Arbeiten von Negt und Kluge, »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) und »Geschichte und Eigensinn« (1981), einerseits, und das auf drei Bände angelegte Werk »Sphären« von Peter Sloterdijk andererseits, haben vielmehr gezeigt, dass eine politische (und postdemokratische) Öffentlichkeit heute nur als Begegnung und Auseinandersetzung von ›narrativen‹ Versionen der Organisation der globalen Gesellschaft aus unterschiedlichen Erfahrungszusammenhängen und Lebenswelten zu fassen ist. Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich aus dem Umstand, dass die Narrationen aufgrund ihres selbstrechtfertigenden und selbstlegitimierenden Potenzials (das nicht geringer ist als das der Schemata rationaler Wertediskussionen) in ihrer Kontingenz erfasst werden müssen. Daher ist zweierlei notwendig: 1) den Begriff der Toleranz in den des gegenseitigen Respekts von Identitäten und Kulturen zu überführen; und 2) die Kategorie der Anerkennung gegen jeden Versuch paternalistisch-suprematistischer oder relativistischer Umdeutung zu schützen. Diese Argumentation verlangt an erster Stelle nach einer klaren sozialontologischen Unterscheidung zwischen kulturellem Relativismus (einer bedeutenden Errungenschaft und point of no return der großen Anthropologie des 20. Jahrhunderts) und ethischem Relativismus; und an zweiter Stelle eine Trennung der – häufig verwechselten und fälschlicherweise gleichgesetzten – Annahme der Nicht-Messbarkeit und Nicht-Vergleichbarkeit unterschiedlicher Werteordnungen. Kurz gesagt: Die Tatsache, dass es keinen einheitlichen Maßstab für unterschiedliche symbolisch-kulturelle Kontexte gibt (wie Isaiah Berlin gezeigt hat), bedeutet nicht eo ipso, dass sie nicht vergleichbar sind. Doch eine um diese Prämissen konstruierte Öffentlichkeit muss sich an das Kriterium der universalistischen Differenzpolitik halten und sich klar abgrenzen einerseits gegenüber der universalistischen Identitätspolitik der Aufklärung (die in Kant ihre vornehmste Ausprägung erfahren hat) und andererseits gegenüber den antiuniversalistischen Differenzpolitiken (die in Nordamerika vom Kommunitarismus und verschiedenen Strömungen des Multikulturalismus, in Europa von den ethnopolitischen Abschottungstendenzen lokaler und nationaler Bewegungen vorangetrieben werden). Die hier skizzierten Thesen stützen sich auf zehn Denkwege, mit denen ich die Interpretation der globalen Welt aufgreifen und weiterentwickeln will, wie ich sie in meinem Buch »Passaggio a Occidente. Filosofia e globalizzazione« (2003)1 darzustellen versucht habe.

1 | Deutsch: Westpassage. Philosophie und Globalisierung; engl. Fassung in Vorbereitung bei Verlag Verso, London/New York.

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Denkwege 1. Global Age: Chancen und Risiken Der Titel des Buches – »Westpassage« – beinhaltet den Kern meiner These. Der heterogene Erscheinungskomplex, den wir inzwischen unter dem Passepartout »Globalisierung« subsumieren, ist meiner Ansicht nach weder als universelle Homogenisierung zu einem »Einheitsdenken« (Fukuyama) oder als »Verwestlichung der Welt« (Latouche) zu verstehen, noch als »Kampf der Kulturen« (Huntington), sondern als Weg nach Westen. »Weg«, Passage, ist in diesem Fall in dem doppelten Sinn als Bewegung und zugleich als Veränderung, als Risiko und Chance aufzufassen. Der Prozess, der sich seit den 1980er Jahren unter unser aller Augen vollzieht, ist letztendlich nichts anderes als ein gefahrvoller Weg aller Kulturen nach Nordwesten: ein schwieriger Übergang der Moderne, der tiefe Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und in den Lebensstilen nicht nur der »anderen« Kulturen, sondern auch in der westlichen Kultur selbst hervorbringt. Der Titel enthält also bereits den Leitgedanken der vielfältigen »Umkreisungen« des Themas in diesem Buch. In einem gewissen Sinn beinhaltet er in nuce meine philosophische Thematisierung der Komplexität der oft »heterogenen« Erscheinungen, die im germanischen und angelsächsischen Sprachraum gewöhnlich als Globalisierung, im romanischen dagegen als Mondialisierung bezeichnet werden.

2. Postmoderne oder Weltmoderne? Obwohl die beiden Stichworte gewöhnlich als Synonyme gebraucht werden, besteht doch ein gewisser Unterschied. Der Begriff Mondialisierung ist nicht nur semantisch, sondern vor allem symbolisch durch seine Herkunft vom lateinischen mundus stark aufgeladen. Denn Mondialisierung verweist unweigerlich auf »Verweltlichung« und damit auf »Säkularisierung«. Ausdrücke wie »mondial« und »weltlich« enthalten einen untilgbaren Bezug auf das »Säkulare« und damit auf die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, Himmel und Erde. Globalisierung dagegen beinhaltet die Vorstellung einer räumlichen Vollendung dieses Prozesses (wie Paul Valéry schon im Jahr 1928 betont hatte), die Vorstellung einer endlich in seiner Gänze zu umkreisenden Weltkugel (wie Sloterdijk in seinem Werk argumentiert und dokumentiert hat): eine Vorstellung, die freilich in vollkommen unterschiedlicher und auch gegensätzlicher Weise gedeutet worden ist. Viele (vor allem Martin Albrow) halten die Globalisierung für ein Phänomen der Postmoderne, für einen neuen Film mit einem Drehbuch, der sich von allen anderen bisher gesehenen Filmen toto coelo unterscheidet. Als wollte man sagen: Der Film der Moderne ist zu Ende, und jetzt beginnt der Film der Globalisierung. Diese Position teile ich schon aus dem einfachen

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Grund nicht, weil in der Geschichte Phasen und Epochen nicht in der Weise aufeinander folgen, dass absolute End- und Anfangspunkte auszumachen sind. Und wie man nicht zwischen Filmen, die anfangen, und solchen, die enden, unterscheiden kann, so kann man auch nicht sagen, dass die Moderne bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (bis zum Ersten oder Zweiten Weltkrieg, bis zum Fall der Mauer?) dauerte und dass dann die Globalisierung begann. Ich will damit sagen, dass die zwei Epochen oder, wenn man so will, die zwei räumlichen Ordnungssysteme nicht durch eine eindeutige Schwelle oder den Bruch entlang eines bestimmten Längengrades getrennt sind. Einfacher gesagt, ist der globale Raum in seiner Genese und Struktur nur als eine »Konsequenz der Moderne« (A. Giddens) zu begreifen: besser noch als ein von Beginn an bestehendes Merkmal der Moderne, die ohne die Tendenz zur »Globalisierung«, zur Erkundung der Meere und der Eroberung der Neuen Welt nicht denkbar ist. Diese Feststellung bedeutet jedoch keineswegs, dass sich keine Bruchstellen ergäben oder ergeben können, sondern lediglich, dass die tatsächlichen Aspekte des neuen globalen Raumes in engem Zusammenhang mit dem modernen Prozess der Säkularisierung gesehen werden müssen: Seine zunächst endogene, innerhalb der entwickelten Länder des jüdisch-christlichen Westens entstandene Dynamik wandelt sich zur exogenen und erfasst die entlegendsten soziokulturellen Gegebenheiten und religiösen Vorstellungen.2 In diesem Sinn scheint die Globalisierung nicht eine »condition postmoderne« (die Jean-François Lyotard 1979 in dem gleichnamigen berühmten Pamphlet angekündigt hat), sondern den problematischen und unsicheren Übergang von der nationalstaatlichen zur weltumspannenden Moderne zu bezeichnen.

3. Vereinheitlichung und Differenzierung Man muss sich daher von der paradigmatischen Alternative lösen, nach der die Globalisierung entweder totale Homogenisierung oder Kampf der Kulturen bedeutet. Meiner Überzeugung nach sind vielmehr Vereinheitlichung und Differenzierung zwei Seiten desselben Prozesses: zwei Tendenzlinien, die sich verbinden und zugleich abstoßen. Unter diesem Blickwinkel stellen die einander widersprechenden Thesen von Francis Fukuyama (universelle Homogenisierung im Zeichen kompetitiven Individualismus) und Samuel Huntington (die Welt nach dem Kalten Krieg als Bühne eines weltumspannenden interkulturellen Konflikts) nicht so sehr eine drastische Alternative, sondern eher zwei Halbwahrheiten dar. Die Globalisierung ist einerseits technisch-wirtschaftliche und finanziell-kommerzielle Vereinheitlichung mit den Folgeerscheinungen der Entterritorialisierung und wachsenden 2 | Siehe dazu meine Bücher »Macht und Säkularisierung« (1989) sowie »Die Säkularisierung der westlichen Welt« (1999 [1996]).

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24 | Giacomo Marramao Interdependenz der verschiedenen Weltgegenden, andererseits ein ebenso beschleunigter Trend zur Differenzierung und Reterritorialisierung von Identitäten: die Wiederverortung von Prozessen symbolischer Identifikation. Diese beiden Aspekte, die in der Soziologie in dem Oxymoron des glokal zusammengefasst werden, sind m.E. wie durch einen Stromkreis verbunden. Das heißt aber auch, dass ein gefährlicher Kurzschluss alles lahm legen kann.

4. Der Kurzschluss des Glo-kalen: eine metapolitische Deutung Zu einem Kurzschluss kann es dann kommen, wenn das Bindeglied der internationalen Ordnung der Moderne ausfällt, wie sie aus der langen blutigen Auseinandersetzung der Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten hervorgegangen ist und im Westfälischen Frieden sanktioniert wurde. Dieses Bindeglied ist der Nationalstaat und die dadurch aufrechterhaltene Ordnung der Gleichsetzung von Volk, Territorium und Souveränität. An dieser Stelle muss ein für alle Mal die immer wieder gestellte Frage der »Krise des Staates« geklärt werden, die als Dauerbrenner alle großen philosophischen und juristisch-politischen Debatten des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Der Kern der Auseinandersetzung um Themen wie die Überholtheit des Nationalstaates, die Erosion der Souveränität, kann nicht allein soziologisch beantwortet werden. Die rein quantitativen Methoden der Soziologie würden nämlich einfach das Gegenteil einer Krise des Staates beweisen: Unter rein numerischen Gesichtspunkten und mit quantifizierenden Methoden würde der Staat heute in hervorragendem Zustand erscheinen, da wir seit 1989 in der Welt geradezu einen Boom der Bildung von nationalen und subnationalen Staaten erlebt haben (heute gehören der UNO sehr viel mehr Staaten an als vor dem Fall der Berliner Mauer) – und die Aufgaben und Funktionen des Staates haben sich nicht verringert, sondern ausgedehnt. Der Niedergang des Staates ist daher nicht in rein soziologisch-quantitativen, sondern nur in politisch-qualitativen Begriffen zu fassen: Es geht um die Effizienz der Souveränität der einzelnen Staaten. Die Situation des Staates in der globalisierten Welt stellt sich unter diesem Gesichtspunkt als das Paradox ›tödlicher Gesundheit‹ und ›abnehmender Zunahme‹ dar: Der Grad der Effizienz ist umgekehrt proportional zur quantitativen Ausweitung staatlichen Eingreifens. Doch gerade die abnehmende Effizienz der Prärogativen territorialer Souveränität bewirkt, dass der Staat seine im Laufe der Moderne so wichtige Rolle als Vermittler zwischen Globalem und Lokalem nicht mehr erfüllen kann. Der »Kurzschluss« kommt zu Stande, weil die einzelnen souveränen Staaten zu klein sind, um den Herausforderungen des globalen Marktes zu begegnen, und zu groß, um die Vermehrung der Themen, der Forderungen und der Konflikte aus den verschiedenen lokalen Identitäten und Kulturen zu kontrollieren. Es kommt das zu Stande, was ich in meinem Buch als die »Zange« der Glokalisierung

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bezeichne. Denn auch in diesem Punkt müssen einige Missverständnisse ausgeräumt werden. Es wäre zu einfach (nach dem Vorbild der ansonsten verdienstvollen Untersuchungen von Zygmunt Bauman), den Bindestrich in dem Begriff glo-kal nur als Element der Trennung und nicht auch als Element der Verbindung zu sehen: als eine einfache Grenze zwischen dem Kosmopolitismus der Reichen als einer alle Grenzen überschreitenden Jetset-Gesellschaft und dem Lokalismus der Armen, die räumlich und politisch immer mehr zu einer Randexistenz gezwungen und in diese eingezwängt sind. Wenn die Dinge wirklich so lägen, wäre die globale Lage wenig paradox und im Großen und Ganzen nicht weiter beunruhigend. Doch es geschieht gerade das Gegenteil: Das Paradox, mit dem wir es heute zu tun haben, ist ein Kosmopolitismus der Armen gegenüber einem Lokalismus der Reichen, und zwar so sehr, dass als geeignetstes Instrument zur Bestimmung der Intensität lokalistischer und autonomistischer Forderungen die Bemessung des Reichtums erscheint. Anders ließe sich nicht erklären, warum das Streben nach regionaler Autonomie gerade in den reichen Gegenden der Erde am stärksten ist (vom Nordosten Italiens und anderen wohlhabenden Gebieten Europas über die Länder des Mercosur bis hin zu denen Südostasiens), während universalistische Forderungen in den ärmsten Weltgegenden erhoben werden. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass die Armen gegen den globalen Virus dieser regelrechten »Pandemie«, die ich als Idenfikationsobsession bezeichne, immun wären. Ich will damit lediglich sagen, dass der Drang zur Erfindung einer kollektiven, erkennbaren Identität, die sich per differentiam gegenüber allen anderen unterscheidet und damit die globale Gesellschaft in eine Vielzahl von »Diaspora-Öffentlichkeiten« zersplittert, ein reaktives Phänomen darstellt: einen Mechanismus der Abwehr und Antwort auf diese Globalisierung: Eine Globalisierung, die homogenisiert, aber nicht universalisiert – die komprimiert, aber nicht vereint. Deshalb bringt sie unter dem Schein der »Differenzpolitik« eine ständige Vermehrung von Identifikationsmustern hervor. Allen wichtigen Veränderungen der menschlichen Geschichte sind im Übrigen große Migrationsbewegungen und die Vermischung von Kulturen (und natürlich auch von Abwehrreaktionen gegen die wachsenden Synergien) vorausgegangen. Genau das erleben wir heute sowohl in der westlichen Kultur, die von Migrationsprozessen betroffen ist, als auch in anderen Kulturen, die sich, auch wenn sie vom Typus des Nomaden und Migranten geprägt sind, deshalb keineswegs mit der unseren vermischen wollen.

5. Redistribution – Recognition: Interessen- und Identitätskonflikt An dieser Stelle erhebt sich unvermeidlich die Frage nach dem Charakter der neuen Dimension des die Welt beherrschenden Konflikts. Die Natur des globalen Konflikts ist ohne Zweifel eines der entscheidenden Probleme

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26 | Giacomo Marramao unserer Gegenwart. Wir steuern auf Konfliktformen zu, die sich von denen, an die wir in der Moderne gewöhnt waren, grundsätzlich unterscheiden. In der globalisierten Welt haben wir es mit postnationalen und zugleich transkulturellen Konflikten zu tun: Sie überschreiten die Grenzen der Nationalstaaten und die kulturellen und sprachlichen Identitäten. Damit will ich sagen, dass nicht nur die Kulturen, sondern auch die Religionen Subjekte und Bezugspunkte für Konflikte in der globalen Welt bilden. Die Religionen komplizieren und destabilisieren jedoch die lineare Geometrie des von Huntington entworfenen »Clash of Civilizations«. Bei näherem Hinsehen ähneln die Konflikte in der globalen Welt sogar mehr den Religionskriegen, die der Geburt der modernen säkularisierten Staaten vorausgingen, als dem Kampf zwischen angeblich monolithischen Kulturen. Die Tatsache, dass die Religionen ein wesentliches Element der Globalisierungskonflikte sind, ist m.E. eine Art Gegenprobe für die These meines Buches, für die ich in den Diskussionen der letzten Jahren bedeutsame Übereinstimmungen mit dem großen Anthropologen und außerordentlichen Analysten »kultureller Dynamiken« Marc Augé festgestellt habe: Religionen sind per Definition identitätsstiftende Aggregatformen transkultureller Natur. Die großen Religionen lassen sich nie mit einer einzigen Kultur identifizieren. Keine der »Weltreligionen« kann auf eine monokulturelle Dimension oder Sphäre reduziert werden. Am wenigsten der Islam, der im Westen allzu häufig mit der arabischen Welt gleichgesetzt wird, in Wirklichkeit aber völlig unterschiedliche historische Traditionen und kulturelle Gegebenheiten von Marokko bis Indonesien umfasst. Wir müssen jedoch in Betracht ziehen, dass dieses allzu häufig auf das formale Stereotyp der ›Rückkehr des Heiligen‹ reduzierte Phänomen einen zwar lautlosen, aber umso radikaleren Wandel der Funktion der Religion in der globalen Welt mit sich bringt: Wir haben es nicht mehr mit der ›unsichtbaren Religion‹ zu tun, die falsche Zukunftsprognosen voreilig in die Privatheit des individuellen Gewissens verbannt hat und ebenso wenig mit einer Wiedergeburt des ›Religiösen‹ nach dem Tod der Ideologien, sondern eher mit Religionen (im Plural) als Elementen symbolischer Identifikation und Zugehörigkeit: Identifikationsfaktoren, aber deshalb auch Konfliktursachen. Ein Konflikt, der zwar nicht auf das utilitaristische Rationalitätsmodell des modernen Individualismus zurückzuführen ist, aber auch nicht mit dem Rekurs auf die bloße Logik des Interesses oder der Macht zu begreifen ist. Damit soll nicht gesagt sein, dass in diesen neuen Konflikten die materielle und strategische Komponente fehle. In jeder historischen Phase stoßen wir auf eine enge Verknüpfung der beiden Dimensionen des »Vertrages« und der »Bekehrung« (A. Pizzorno), des »Umverteilungskonflikts« und des »Kampfes um Anerkennung« (N. Fraser/A. Honneth), der Interessen und der Identität, des Strebens nach Macht und nach Werten. Die Dimension der Ethik und der Identifikation spielte auch in den Kämpfen eine Rolle, in denen es vor allem um die industrielle Arbeit und Gewerkschafts-

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fragen ging, wie die historischen Pionierleistungen eines E.P. Thompson gezeigt haben. Umgekehrt fehlte die Dimension des ökonomischen Interesses beispielsweise in den Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten in Frankreich keineswegs. Doch es geht darum, innerhalb dieser ständigen Verquickung das jeweils beherrschende Element herauszuarbeiten, das dem Konflikt seine charakteristische Form gibt. In diesem Sinn habe ich in meinem Buch das Moment der Identifikation als das beherrschende Element zur Charakterisierung der Konflikte in der globalisierten Welt herausgestellt. Damit wollte ich nicht die Hypothese eines »Paradigmenwechsels« vom Interessenkonflikt des Industriezeitalters zum Identitätskonflikt der Postmoderne aufstellen, sondern unterstreichen, dass in der aktuellen Phase das Element der Identifikation dazu tendiert, auch das »utilitaristische« Moment des Nutzens zu umfassen. In unserer Welt erscheint es immer schwieriger, sich die klassische Frage des modernen Individualismus zu stellen: »Was will ich?«, ohne zuvor gefragt zu haben: »Wer bin ich?«. Die symbolische Frage nach der Identität wird so offensichtlich zur conditio sine qua non, um die eigenen Interessen und die eigenen ›Präferenzen‹ festzustellen.

6. Differenz – nicht Differenzen Welche Auswirkungen kann dies alles auf der konkreten politischen Ebene haben? Meiner Ansicht nach ergeben sich weitreichende Konsequenzen sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht, sowohl für die Konzeption als auch für die Realität des »Politischen«. Die neue Form des Konflikts trifft das Paradigma der modernen Politik als Vertrag, das seine klassische symbolische Ausprägung im Bild des Leviathan als riesigem Kunstgebilde oder Maschine gefunden hat. Die prozedurale Technik des Leviathan (nicht nur des absoluten Leviathan im Sinne von Hobbes, sondern auch des demokratischen Leviathan, wie er auf der Seite des Liberalismus von John Rawls entworfen wurde) kann wegen der darin vorausgesetzten »Isometrie« des Verhandlungsprozesses nur im Interessenkonflikt als Methode der Kompensation durch Verteilungsgerechtigkeit Anwendung finden, aber nicht – und das ist der springende Punkt – bei Identitätskonflikten. Um die absehbar katastrophalen Auswirkungen des Antagonismus zwischen neutralisierendem Universalismus des modernen Staates und dem Identifikationsfetischismus des Kommunitarismus und bestimmter Formen des Multikulturalismus abzuwenden, habe ich eine globale Öffentlichkeit propagiert, die sich einer universalistischen Differenzpolitik verschreibt – Differenz im Singular, nicht im Plural (nicht die berühmten kulturellen Differenzen, von denen heute alle reden). Unter Differenz verstehe ich nicht einen Ort, ein Subjekt oder bestimmte Bedingungen, sondern einen »optischen Standpunkt«, von dem aus theoretisch das distributive und

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28 | Giacomo Marramao »staatszentrierte« Paradigma der Politik, und praktisch die Isometrie der demokratischen Institutionen, die strukturell mit den neuen Konfliktformen nicht zurechtkommen, aufgebrochen werden können. Weit davon entfernt, ein Dritter Weg zwischen Universalismus und Differenzen, Liberalismus und Kommunitarismus sein zu wollen – bekanntlich sind die Friedhöfe des 20. Jahrhunderts mit Dritten Wegen gepflastert –, versucht mein Vorschlag, das Universelle nicht von der Idee eines gemeinsamen Nenners her zu rekonstruieren, sondern vom Kriterium der Differenz. Das Rekonstruktionsprinzip für das Universelle lässt sich demnach nur als disjunktive Synthese fassen: ausgehend von der Voraussetzung einer unveräußerbaren und unerwerbbaren einzigartigen Differenz jedes einzelnen Menschen. Beziehung ist in diesem Konzept nur als Beziehung zwischen irreduziblen und gegenseitig nicht assimilierbaren Singularitäten fassbar: genau das Gegenteil der Vorstellung von sozialer Bindung als Zugehörigkeit zu einer substanziellen gemeinsamen Identität (Gemeinde, Staat, aber auch Vernunft, Menschheit, Sprache). Mit diesem Kriterium der Differenz kann auch eine andere falsche Gleichsetzung aufgelöst werden: die zwischen Nicht-Messbarkeit und Nicht-Vergleichbarkeit von Kulturen.

7. Nicht-Messbarkeit und Nicht-Vergleichbarkeit ›Nicht-Messbarkeit‹ und ›Nicht-Vergleichbarkeit‹ der Kulturen – auch dieses Begriffspaar verlangt nach Klärung. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Eine der wichtigsten Errungenschaften der Ethnologie des 20. Jahrhunderts ist der kulturelle Relativismus und die daraus resultierende Distanzierung von der hegemonialen und unterdrückerischen Rolle des westlichen Universalismus. Diese ›kopernikanische Revolution‹ der großen Anthropologie des 19. und 20. Jahrhunderts ernst zu nehmen, bedeutet schlicht und einfach, bei jeder politischen Analyse und jedem politischen Projekt grundsätzlich vom kontextuellen (und damit relativen) Charakter der Kulturen auszugehen und jeden vorgängigen Allgemeingültigkeitsanspruch unserer Werte und Lebensstile zu vermeiden. Noch während der Religionskriege und der Eroberung der Neuen Welt wurde diese illusionslose Einstellung in den Essays von Montaigne auf bewundernswerte Weise vorweggenommen: Es ist allzu einfach, von ›Kannibalen‹ zu sprechen … Jede Kultur ist eine Welt, eine Konstellation von Symbolen und Werten, die in erster Linie iuxta propria principia zu analysieren ist, ohne unsere kulturellen Parameter auf dieses symbolische Universum zu projizieren. Dies alles bleibt natürlich unwidersprochen als Teil der großen Errungenschaften des Jahrhunderts, das hinter uns liegt. Dennoch müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden, die ich in Frageform ausdrücken will. Erstens: Sind wir sicher, auch – oder vielleicht gerade dann – wenn wir die traditionelle suprematistische und kolonialistische Optik mit der relativistischen vertauschen – selbst in der extremsten Form der ›Dritte-Welt-Ideologien‹ –, die anderen nicht doch ›mit

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den Augen des Westens‹ zu sehen? Zweitens: Wie rechtfertigt sich die Behauptung, dass die Nicht-Messbarkeit – das heißt das Fehlen eines einheitlichen Bewertungsmaßstabes – der Kulturen notwendig gleichzusetzen sei mit ihrer Nicht-Vergleichbarkeit oder Nicht-Verbindbarkeit? Im Gegenteil: Gerade kulturelle Realitäten und Welten, für die unterschiedliche ›Maßstäbe‹ gelten, sind manchmal zu kreativen Verbindungen fähig, die dauerhafter sind als viele angeblich homogene symbolische Formen. An diesem Punkt müsste man eine weitere Frage aufwerfen, die ich hier nur andeuten will: Zu den Themen, deren Diskussion ganz oben auf der Tagesordnung steht, gehören die notwendige Kritik des Begriffs der ›Kultur‹ als geschlossenes System, als insulare Selbstbezogenheit und die Annahme der Vorstellung multipler Identitäten als einzig möglicher Schlüssel zum Kulturvergleich.

8. Öffentlichkeit und Rhetorik: zwischen Argumentation und Narration Das bisher Gesagte kann vielleicht theoretisch Gültigkeit beanspruchen. Wie aber gelangt man zu unterschiedlichen Zusammensetzungen zwischen nicht-vergleichbaren Kulturen? Wie ich bereits anfangs festgestellt habe, glaube ich nicht an die Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich als global nur die Mischung von Markt und Information feststellen, die uns dank der Technologie der Echtzeit unablässig mit ihren Logos bombardiert. Ebenso wenig glaube ich an die Heraufkunft einer Weltrepublik, wie sie Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren prognostiziert hat. Doch bin ich davon überzeugt, dass in einer mittelfristigen Perspektive die »Diaspora-Öffentlichkeiten« (von denen Arjun Appadurai spricht) in eine globale Öffentlichkeit auf der Basis des Universalismus der Differenz überführt werden können. Eine solche Öffentlichkeit (die sich zunächst in Makroregionen entwickeln muss und – das ist bisher nicht mehr als ein Wunsch – von unserem Europa ausgehen könnte) darf die Auseinandersetzung zwischen den Weltanschauungen der verschiedenen Gruppen nicht auf das Aushandeln von prozeduralen Regeln nach dem Verfahren des overlapping consensus des politischen Liberalismus beschränken. Sie darf aber ebenso wenig nur als Terrain für die – auf Verständigung abzielende – Auseinandersetzung zwischen argumentativen Modellen und Schemata zur Rechtfertigung unterschiedlicher Wertentscheidungen dienen (wie dies Jürgen Habermas postuliert hat). Auch wenn diese letztere Lösung gegenüber den rein prozeduralen Versionen von Demokratie unzweifelhaft ein Fortschritt wäre, hätte sie doch den Nachteil einer impliziten Bevorteilung derjenigen Subjekte, die über kommunikativ-argumentative Kompetenzen verfügen. Doch auch Menschen, die nicht in der Lage sind, sich rationaldiskursiv zu formulieren, können ihre ethischen Entscheidungen begrün-

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30 | Giacomo Marramao den oder die Konsequenzen ihrer autonom oder heteronom bestimmten Lebensstile für ihre eigene Existenz darstellen. Die kommunikativ-darstellende Dimension der Öffentlichkeit darf daher nicht allein argumentativ bleiben, sondern muss auch die narrative Darstellung einbeziehen. Auch wenn Menschen nicht in der Lage sind, ihre Wertentscheidungen, ihre Kultur, ihre Weltsicht argumentativ zu rechtfertigen, so können sie doch in der Lage sein, über die Erfahrungen, die sie mit diesen Wertentscheidungen im täglichen Leben machen, zu berichten: eine Erfahrung, die nicht nur rational, sondern auch emotional deutlich wird. Ein muslimisches Mädchen aus den Pariser Banlieus wird – um ein einleuchtendes Beispiel zu nehmen – vielleicht nicht fähig sein, ihre eigene (mehr oder weniger freie) Entscheidung zum Tragen eines Kopftuchs zu begründen, sehr wohl aber, über die emotional-rationale Erfahrung und die existenziellen Folgen dieser Wertentscheidung zu sprechen. In der Öffentlichkeit haben nicht nur formalrechtliche Verfahren (die gewiss unverzichtbar notwendig bleiben, denn ohne sie gäbe es für uns keine Freiheit) und argumentative Logik ihren Platz. Der Raum der Cosmopolis muss – entgegen dem Verbot Platons – auch der Rhetorik, der Selbstdarstellung und der erzählenden Stimme offen stehen. Das darf natürlich auf keinen Fall heißen, umstandslos jede Form der Narration zu akzeptieren. Denn es gibt keine Gewähr dafür, dass eine narrative Strategie nicht im gleichen Maße wie eine argumentative ideologische Strategie nur der Selbstrechtfertigung und Autoapologie dient. In der unvermeidlichen Mischung aus Vernunft und Erfahrung, Argumentation und Narration, die die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen einer »glokalisierten« Welt kennzeichnet, muss eine demokratische Öffentlichkeit also Rhetorik zulassen, aber – wie der italienische Sozialhistoriker Carlo Ginzburg richtigerweise betont hat – nur unter der Bedingung, dass es sich um tatsachengestützte Rhetorik handelt und nicht um Rhetorik als solche. Diesen Schritt müssen wir tun, wenn wir einerseits die ethnozentrischen Versionen des Universalismus hinter uns lassen wollen und andererseits die nihilistischen Entartungen eines historischen Relativismus, der das Selbstverständnis jeder Kultur akzeptiert und damit jeden Maßstab, jede Vergleichbarkeit und auch jede Verbindung zwischen Kulturen ausschließt. Um den »globalen Risiken« der gegenwärtigen Übergangsphase zwischen dem Nicht-Mehr der alten zwischenstaatlichen Ordnung und dem Noch-Nicht einer neuen überstaatlichen Ordnung, deren Umrisse sich noch nicht abzeichnen, entgegenzutreten, bleibt nur ein Weg: das pattern des aufgeklärten Universalismus, wie angedeutet, wiederzubeleben, dabei aber auszugehen von dem Kriterium, von der Unterscheidung und dem optischen Standpunkt der Differenz. Mit anderen Worten, geht es darum, eine universalistische Differenzpolitik ins Werk zu setzen entlang einer doppelten Grenzlinie: (a) auf der einen Seite gegenüber der universalistischen Identitätspolitik, die ihren vornehmsten Ausdruck in dem ethisch-transzenden-

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talen Programm Kants findet; (b) auf der anderen Seite gegenüber einer antiuniversalistischen Politik der Differenzen, die von den nordamerikanischen communitarians und den europäischen ethnischen und lokalistischen Autonomiebewegungen formuliert wird. Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine Lösung, sondern nur um eine vorläufige Moral. Doch wie ich in meinem Buch zu erklären versucht habe, müssen wir auf diesem »Weg nach Westen«, der noch lange dauern wird, mit der einen Hand das Wort Universalität und mit der anderen Differenz schreiben und dürfen nicht versuchen, beide Worte mit derselben Hand zu schreiben: es wäre in jedem Fall die falsche.

9. Osten/Westen: ein spiegelbildliches Mythologem Osten und Westen werden immer häufiger als die beiden Extreme genannt, die sich in dem, was längst als ›Kampf der Kulturen‹ geläufig ist, gegenüberstehen. Umso notwendiger ist es, die spiegelbildlichen Mythen von Osten und Westen zu hinterfragen. Meiner Ansicht nach ist der Grundwiderspruch der globalen Ära keineswegs, wie Huntington unterstellt, durch die Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem Islam gegeben, sondern eher als Konfrontation mit dem asiatischen Riesen zu sehen. Damit will ich die Tragweite des islamischen Terrorismus auf mittelfristige Sicht keineswegs negieren oder herunterspielen: vor allem solange die Palästinenserfrage als Brandherd des globalen Konflikts ungelöst bleibt. Allerdings glaube ich, dass der terroristische Extremismus wie alle fundamentalistischen Tendenzen Ausdruck einer Identitätsfrustration und damit ein Symptom der Ohnmacht und nicht der Stärke der islamischen Welt ist. Trotz seiner Grausamkeit ist der globale Terror des 11. September eine Verzweiflungstat gegen den Prozess der Modernisierung und Säkularisierung: eine Reaktion, deren Intensität sich umgekehrt proportional zur Fähigkeit der islamischen Welt verhält, eine wirkliche und wirksame globale Alternative zum Westen zu entwerfen. China dagegen besitzt innerhalb seiner eigenen Kultur eine eigenständige technische Tradition, erweist sich als fähig nicht nur zur Aneignung, sondern auch zur tiefgreifenden Erneuerung der westlichen Technologien und entwickelt eine kapitalistische Wirtschaft nicht auf der Basis individuellen Wettbewerbs, sondern der Gemeinwirtschaft und des Paternalismus, so dass es in der Lage ist, Grundlinien einer anderen Globalisierung vorzuzeichnen. Die Tatsache, dass das 21. Jahrhundert mit großer Wahrscheinlichkeit vom Wettbewerb zwischen zwei konkurrierenden Versionen des Globalen – der individualistischen amerikanischen Version und der gemeinwirtschaftlichen asiatischen – auf der gemeinsamen Basis beschleunigter Produktivität und technologischer Innovation geprägt sein wird, verlangt eine radikale Revision einiger berühmter Thesen und Prognosen der westlichen Wissenschaft der letzten zwei Jahrhunderte. Ich beziehe mich vor allem auf das

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32 | Giacomo Marramao insgesamt negative Urteil über den Konfuzianismus, das Max Weber in seiner »Religionssoziologie« – dem bis heute wichtigsten und umfassendsten verfügbaren Kulturvergleich – formulierte. Für Weber war der Konfuzianismus eine Moral des Gehorsams und der Anpassung an die Welt, die der Schaffung eines praktischen, aktiven Lebens und damit eines produktiven, dynamischen Systems im Wege stand. Wie ich in meinem Buch zu zeigen versuche, hing die verzerrte Sichtweise Webers mit seiner Annahme zusammen, dass der Prototyp der kapitalistischen Ethik und zugleich der Vergleichsmaßstab für die verschiedenen ›Weltreligionen‹ der puritanische Protestantismus mit seiner asketischen und säkular erfolgsorientierten Ethik sei. Webers Urteil fußte auf der Annahme der »innerweltlichen Askese« als Königsweg zur Realisierung einer produktiven Gesellschaft. Nicht zufällig bringen gerade die Züge, die Weber am Konfuzianismus als passiv, nachgiebig und unproduktiv charakterisiert hatte, heute ein Alternativmodell der Globalisierung hervor, das ich keineswegs verteidigen will. Man darf nicht vergessen, dass die asian values, die sog. asiatischen Werte, die von der Elite der Volksrepublik China und der Makroregion Südostasien propagiert werden, die bedingungslose Unterordnung des Individuums unter die staatliche Autorität und die Hintanstellung der Rechte des Individuums gegenüber denen des Kollektivs verlangen. Dennoch wäre es verfehlt, die Wirksamkeit einiger Aspekte dieser Botschaft unterzubewerten, beispielsweise das Verlangen, die Beziehung zwischen den Generationen harmonisch zu gestalten, wenn man dem die Marginalisierung der alten Menschen und die Isolation der Individuen gegenüberstellt, die die ›große Kälte‹ unserer westlichen Gesellschaften ausmacht. In jedem Fall handelt es sich um eine Herausforderung, der wir uns nur stellen können, wenn wir die traditionellen Stereotypen unserer Kultur über den Osten kritisch hinterfragen (der Dualismus Orient/Okzident ist, wie Karl Jaspers einmal bemerkt hat, ein typisches Produkt unseres westlichen Denkens und in dieser Form den asiatischen Kulturen fremd). Vor allem aber muss Europa endlich die Rolle eines aktiven global players übernehmen und eine eigene Alternative sowohl zum amerikanischen Individualismus als auch zum asiatischen Kommunitarismus formulieren. Das verlangt jedoch die Lösung der schwierigen Aufgabe, beide Termini des Begriffspaars neu zu definieren, die allzu häufig unkritisch gebraucht werden: Individuum und Gemeinschaft.

10. Cosmopolis und Philosophie: auf dem Weg zu einem globalen dialégein? Damit komme ich zur letzten Etappe meines Gedankengangs. Welche Rolle kann die Philosophie in diesem heutigen Schwebezustand zwischen dem Nicht-Mehr der alten inter-nationalstaatlichen Ordnung und dem NochNicht der neuen postnationalen und überstaatlichen Ordnung spielen? Phi-

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losophie soll hier nicht im weitesten Sinn als Weg der Weisheit oder Weltsicht, sondern im engeren Sinn als ein fragendes, sokratisches Wissen, als Dialektik und Dialog verstanden werden. Im globalen Rahmen kann diese Form der Philosophie die ›Visitenkarte‹ sein, mit der sich der Westen nüchtern den anderen großen Kulturen des Planeten vorstellt, um sich mit ihren spezifischen Erkenntnis- oder Weisheitsformen, die sich vom philosophischen Wissen unterscheiden, auseinander zu setzen: Denn nur ganz allgemein und nur im übertragenen Sinn haben Ausdrücke wie ›indische Philosophie‹, ›chinesische Philosophie‹, ›afrikanische Philosophie‹ usw. ihre Berechtigung. Innerhalb der globalen – oder besser: glo-kalen – interkulturellen Vielfalt muss die Philosophie auf ihren traditionellen Universalitätsanspruch verzichten und sich notwendig selbst relativieren. Doch trotz des unermesslich größeren Raumes, in dem sie zu wirken hat, befindet sich die Philosophie heute in der globalisierten Welt meiner Ansicht nach in einer geistig vergleichbaren Situation wie in ihren Anfängen bei Sokrates in der Athenischen Polis des 5. Jahrhunderts: Es geht darum, einen Weg, eine Methode, eine Frageweise zu entwickeln, um der lähmenden Alternative zwischen dem visionären Weltwissen der ersten so genannten vorsokratischen Denker (der sophoi, nicht philosophoi: der Weisen, nicht der Weisheitsliebhaber) und dem absoluten Relativismus der großen Sophistik zu entkommen. Heute, in diesem globalen Kakanien oder Babel das ›sokratische Element‹ wiederzubeleben, bedeutet, aus der Umklammerung der normativen Ansprüche der großen Kosmologie und Naturwissenschaften auf der einen und der falschen, aus der Entthronung absoluter und universeller Wahrheiten erwachsenen hyperrelativistischen bricolage der Postmoderne auf der andern Seite auszubrechen. Im sokratischen Spiel des dialégein verschiedene Gesichtspunkte dialektisch miteinander zu konfrontieren, ist heute noch viel schwerer, da die Gesprächspartner und Adressaten dieses Spiels nicht mehr die Bürger Athens sind, sondern die Nomaden und Migranten der Cosmopolis, die aus den unterschiedlichsten Weltgegenden, Sprachen und Traditionen stammen. Vielleicht aber lohnt es sich heute mehr denn je, auf die Philosophie zu setzen, denn sie stellt mit dem Medium der Sprache eine Beziehung her, um unsere Alltagswirklichkeit aus einem ungewohnten neuen Blickwinkel zu betrachten. Die dialogische Praxis der Konfrontation und des Streitgesprächs, die in einem Raum von variabler Geometrie und in einer dissonanten Vielfalt zu sehen hilft, was wir alle vor Augen haben, aber nur auf diese Weise aus einer anderen Perspektive wahrnehmen können. Diese andere Perspektive kann uns neue Horizonte eröffnen und uns von dem unerträglichen Eindruck befreien, in eine Sackgasse geraten zu sein oder einem unausweichlichen Schicksal entgegenzugehen. Das neue Universelle der globalen Öffentlichkeit, das wir zu konstruieren aufgerufen sind, wird entweder Frucht einer solchen maieutischen Beziehung werden, eines regelrechten experimentum der gegenseitigen ›Über-

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34 | Giacomo Marramao setzung‹ von unterschiedlichen Kulturen und konkreten Erfahrungen von Frauen und Männern aus unterschiedlichen Lebenswelten – oder es wird einfach nicht existieren.

Literatur Lyotard, Jean-François (1979): La condition postmoderne, Paris: Minuit. Marramao, Giacomo (1989): Macht und Säkularisierung, Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik. Marramao, Giacomo (1999 [1996]): Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt am Main: Insel. Marramao, Giacomo (2003): Passaggio a Occidente. Filosofia e globalizzazione, Turin: Bollati Boringhieri. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sloterdijk, Peter (2004): Sphären, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Globus/Mundus. Anmerkungen zum Weltbegriff einer möglichen Philosophie der Altermondialisierung 1 Oliver Marchart

In einem traurigen Witz der dreißiger Jahre ist von einem Flüchtling die Rede, der, von den Nazis verfolgt, nach einem möglichen Exilland sucht. Er geht in ein Geschäft und fragt nach einem Globus. Nachdem er einige Zeit auf dem Globus gesucht hat, ohne ein für die Emigration in Betracht kommendes Land zu finden, wendet er sich an den Verkäufer mit der Bitte: »Haben Sie noch einen anderen Globus?« Der Wortlaut dieser Frage hallt, wenn auch unter politisch wesentlich weniger dramatischen Bedingungen, in den gegenwärtigen Protesten der globalisierungskritischen Bewegung nach. Die Proteste von Seattle über Genua bis hin zu den heutigen Kundgebungen und Sozialforen scheinen immer wieder diese eine Frage aufzuwerfen: »Haben Sie noch einen anderen Globus?« Was sich darin ausdrückt, ist natürlich nicht das konkrete Schicksal der Verfolgung (hier verbietet sich jeder Vergleich mit der Situation des Exilanten), sondern die Unzufriedenheit mit einer Welt, die keine Alternativen anzubieten scheint. Die Frage zielt gegen den hegemonialen neoliberalen Diskurs der Alternativlosigkeit, der von Thatchers sprichwörtlichem Diktum: »There is no alternative«, seinen Ausgang genommen hatte. Auch wenn die »Bewegung der Bewegungen« mit all ihren Forderungen nicht auf einen Nenner zu bringen ist – weshalb manche auch von einer multitude sprechen –, so scheint es doch etwas ganz anderes als einen Nenner zu geben, der den Bewegungen gemeinsam ist. Dieses ›Gemeinsame‹

1 | Dieser Text gibt einige Thesen zu Hannah Arendts Kategorie der Welt komprimiert wieder, die sich ausführlicher argumentiert finden in Marchart (2005a).

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36 | Oliver Marchart drückt sich wohl am besten aus in der französischen Namensgebung, also in der Bezeichnung der Bewegungen und Akteure als altermondialistes. In diesem Begriff steckt zweierlei: der Begriff der Welt und der Begriff der Alternative. In dem Schlagwort, das als erster wohl der Initiator von Attac, Ignacio Ramonet, aufgebracht hat: »Eine andere Welt ist möglich«, finden sich beide Kategorien wieder. Dieser Slogan gibt die Antwort auf die Frage nach einem anderen Globus. Doch um sie geben zu können, muss zugleich das konzeptuelle Terrain verschoben werden und damit der imaginäre Horizont, vor dem die Frage gestellt wurde. Es geht um eine Verschiebung von Globus zu Mundus. Man könnte sagen, dass in dieser Verschiebung der eigentliche Einsatz altermondialistischer Mobilisierung zu sehen ist. Die Pointe des Witzes, in all ihrer Tragik, besteht ja darin, dass eine Welt, die als Globus vorgestellt wird, in sich alternativlos ist (vgl. Stäheli 2003; Nowotny 2003): Was uns völlig einschließt, kann uns im Ernstfall völlig ausschließen. Es bleibt nur die aussichtslose Hoffnung auf einen anderen Globus. In einer solchen Welt haben Flüchtlinge und Staatenlose keine Chance auf Räume des Asyls. Und obwohl ein Globus, der keine Fluchtzonen mehr bietet, heute real noch nicht vollständig durchgesetzt ist, macht die Aushöhlung des Asylrechts in geographischen Großräumen wie der EU fast ganze Kontinente bereits zu ›globalen‹, d.h. alternativlosen Zonen.2 Um so tyrannisierender ist die Aussicht auf einen durch und durch globalen Globus. Der hegemoniale Diskurs des Globalismus verweist uns permanent auf diesen angeblichen Zustand globaler Alternativlosigkeit. Dem hat die altermondialistische Bewegung nicht etwa die phantasmatische Vorstellung eines anderen Globus entgegengesetzt, sondern den poli2 | Eine deterministisch und totalistisch verstandene umfängliche Globalisierung hätte und hat bereits katastrophale Implikationen. In einer alternativlosen Welt, in der sich alle Räume schließen, ist der einzige Raum, der sich für jene öffnet, die selbst noch aus dem Globus ausgeschlossen werden sollen: der Raum des Lagers. Die Lager, sagt Hannah Arendt, »sind die einzige patria, die die Welt dem Apatriden anzubieten hat« (1998a: 594). Und auch wenn Giorgio Agambens fahrlässige Parallelisierung der heute überall aus dem Boden schießenden Flüchtlings- und Gefangenenlager mit den Konzentrationslagern der Nazis zurückgewiesen werden muss, bleibt die Tatsache bestehen, dass die derzeit hegemonialen Raumbegriffe eines restlos einschließenden Globus und eines restlos ausschließenden Lagers nicht nur zusammenhängen, sondern einander logisch erfordern und voraussetzen. Ein Raum ohne Alternative kommt gar nicht umhin, dem Ausschluss, den er produziert, in sich selbst wiederum einen Raum zuzuweisen. Das entspricht jener Struktur der Ausnahme, die Agamben (2002: 31) als einschließende Ausschließung beschreibt. Eine gänzlich »globale Welt«, die in sich weltlose Räume des Ausschlusses und Terrors produziert, würde tatsächlich unter dem Zeichen des Verschwindens der Welt stehen.

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tischen Begriff von Welt. Darin besteht der Terrainwechsel. Denn politisch ist der Slogan: »Eine andere Welt ist möglich«, nicht allein deshalb, weil er Bestandteil von Kampagnen ist (in denen er ohnehin oft einen stark pastoralen Beiklang annimmt), sondern auch aufgrund seiner ontologischen Implikation, die letztlich Implikation einer politischen Ontologie ist. Was er impliziert, ist die These: Diese Welt ist nicht die einzig mögliche.3 Der Slogan funktioniert damit zuallererst als Kontingenzformel – da bekanntlich kontingent ist, was auch nicht oder anders sein könnte. Indem der Slogan also Kontingenz postuliert, reklamiert er Veränderbarkeit. Und insofern diese Reklamation nicht einfach nur so dahergesagt oder ins Poesiealbum geschrieben ist, sondern mit allem Nachdruck öffentlich vertreten wird – im Antagonismus zu Verfechtern des ökonomischen und politischen Globalismus –, tritt sie den Beweis der eigenen Behauptung gleich selbst an. »Eine andere Welt ist möglich«, heißt nichts anderes als: Politisches Handeln ist möglich. Bereits in der kollektiven politischen Deklamation der Behauptung – einer Deklamation, die zugleich Reklamation ist – liegt der Beweis ihres Inhalts. Durch ihre bloße Existenz hat die altermondialistische Bewegung bewiesen, dass politisches Handeln im emphatischen Sinn – als Handeln, dem es in seinem Handeln um die Welt-qua-Welt geht – noch nicht verschwunden ist. Der Slogan: »Eine andere Welt ist möglich«, wird, richtig verstanden, zur Antwort auf die verzweifelte Frage des Emigranten nach einem anderen Globus: Es mag nur einen Globus geben, aber viele Welten können auf ihm errichtet werden. Wie kaum jemand sonst in der Philosophie hat Hannah Arendt diese Differenz von Globus und Mundus in all ihren politischen Implikation denkerisch durchgespielt. Bereits in ihrer Dissertation zum Liebesbegriff bei Augustinus bereitete die 22-Jährige ihren späteren Weltbegriff vor. Dort entwickelt sie an Augustinus einen doppelten Weltbegriff, der sich in ihrer späteren politischen Theorieproduktion wiederfindet. Als Schöpfung Gottes ist die Welt caelum et terra und entspricht so dem späteren Arendt’schen Begriff der Erde (bzw. unserem Begriff des Globus). Als von Menschen mitkonstituierte hingegen ist sie mundus: Menschenwelt. Als solche ist sie von Menschen gemacht, »aber nicht geschaffen ex nihilo wie bei der Schöpfung, sondern aus der fabrica Dei, aus der Vorgegebenheit der Schöpfung macht der Mensch die Welt und macht sich selbst zu einem der Welt Zugehörigen« (Arendt 2003: 70).4 Darin besteht das »Weltlichmachen der Welt«: »Die Schöpfung Gottes wird vorgefunden, und indem die creatura die Welt vorfindet, findet sie sich selbst vor, de mundo, auch von Gott geschaffen. Erst indem sie aus der 3 | Oder noch kürzer: Die Welt ist kein Globus. 4 | An dieser Stelle, der einzigen in ihrer Dissertation, an der Arendt sich explizit auf Heidegger einlässt, betont sie in einer Fußnote ihm gegenüber genau diese Doppeltheit des augustinischen Weltbegriffs.

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38 | Oliver Marchart Welt ihre Heimat macht, was sie in dem puren Sich-als-von-Gott-geschaffen-Vorfinden nicht ist, wird der mundus gestiftet.« (Ebd.: 71)

Trotz einiger Differenzen wandelt Arendt mit diesem Weltbegriff auf den Spuren der Phänomenologie bzw. ihres Lehrers Heidegger. Für den frühen Heidegger war Dasein gleichbedeutend mit »In-der-Welt-sein« (während nicht-menschliches Sein nicht in der Welt ist, sondern nur innerhalb der Welt). Heidegger warnt, Welt dürfe nicht im ontischen Sinn eines bestimmten Seienden oder als eine Ansammlung von Seienden verstanden werden, woraus schließlich seine eigentümliche Entsubstantivierung von Welt zum Verb welten resultiert: »Welt ist nie, sondern weltet.« (Heidegger 1978: 164) Und auch für die Heideggerianerin Arendt war klar, dass Welt uns nicht umschließt, sondern zwischen uns entsteht, da In-der-Welt-Sein wesentlich Mit-Sein bedeutet.5 Arendt übernimmt also Heideggers Begriff von Welt als Mit-Welt und leuchtet ihn hinsichtlich der menschlichen Tätigkeitsarten, die sie in »Vita Activa« (1992) beschreibt, aus. Bekanntlich unterscheidet sie dort zwischen den drei Tätigkeiten des Arbeitens, Herstellens und Handelns. Diese drei Tätigkeitsarten sind wiederum auf bestimmte Grundbedingungen zurückverwiesen. Die Grundbedingung des Arbeitens ist das Leben selbst, also die physische Reproduktion der Gattung Mensch, die ohne Arbeit im weitesten Sinn nicht überleben könnte. Die Grundbedingung des Handelns, auf das wir noch ausführlicher kommen werden, ist die menschliche Pluralität. Einem ersten Weltbegriff begegnen wir nun im Herstellen, denn dessen Grundbedingung ist die Weltlichkeit, worunter Arendt die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit versteht. Diese Welt ist Dingwelt. Als solche ist sie durch und durch künstlich, d.h. hergestellt und fabriziert durch den Homo faber. Sie dient dem Zweck, eine gewisse Dauer und Beständigkeit jenseits des Lebens der Einzelnen zu gewährleisten. Profaner gesagt: Nicht jeder, der neugeboren wird, muss für sich nochmals den Kinderwagen erfinden. Erst die relative Stabilisierung durch Objekte der Welt erlaubt es dem sterblichen Subjekt, das so gesehen ein Subjekt des Mangels ist, welches auf objekthafte Supplemente angewiesen bleibt, selbst in der Welt zu überdauern, obwohl umgekehrt gerade das Objekthafte der Welt dem Subjektiven entgegensteht und es einschränkt (nur Gott wäre ein nicht vom Objektiven eingeschränktes Subjekt).6 5 | So heißt es bei Arendt schon in ihrer Augustinus-Dissertation: »In der von der creatura konstituierten Menschenwelt steht der Einzelne nicht mehr im isolierten Bezug zu seinem eigensten Von-wo-aus, sondern er lebt in dem mit den anderen gemeinsam konstituierten mundus.« (2003: 90) 6 | Dieses Subjektmodell weist gewisse Ähnlichkeiten mit dem Modell eines Subjekts-des-Mangels auf, das sich von der Heideggerianischen Interpretation Hegels durch Kojève über Sartre und Lacan bis hin zu aktuellen Subjekttheorien der post-

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Die Objekte dieser Welt erfüllen diese Funktion, indem sie sich zwischen die einzelnen Subjekte schieben und sie damit sowohl voneinander trennen als auch miteinander in Beziehung setzen. Damit ermöglichen sie die Herstellung eines Gemeinsamen zwischen den Subjekten und verhindern im selben Moment, dass die Subjekte zu einem Metasubjekt aggregieren. Die gemeinsame Welt versammelt und trennt zugleich die Menschen voneinander. Dieses objektive und hergestellte Band zwischen den Menschen funktioniert ebenso als Trennstrich, als Medium, das zugleich verbindet und trennt. Als solches ist es verortet zwischen uns, so wie etwa »ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen« (Arendt 1992: 52). Wenn wir nun fragen, wo die Dingwelt lokalisiert ist, so lautet die Antwort, dass sie in diesem Zwischenraum entsteht, ja dass sie nichts anderes ist als dieses Zwischen selbst, denn »wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist« (ebd.: 52). Die objektiv-weltlichen ›Interessen‹, denen die Menschen in diesem Zwischenraum nachgehen, sind für Arendt im ursprünglichen Wortsinn »das, was ›inter-est‹; was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt« (ebd.: 173). Dieser objektive Zwischenraum wird von einem weiteren Zwischenraum überwuchert, nämlich einem Bezugsgewebe aus Taten und Worten, entstanden qua Handeln und Sprechen: »Dieses zweite Zwischen, das sich im Zwischenraum der Welt bildet, ist ungreifbar, da es nicht aus Dinghaftem besteht.« (Ebd.) Bei Arendt gibt es also in Abgrenzung zu ihrem ersten Weltbegriff, der auf das Herstellen zurückgeht, noch einen zweiten, radikaleren Weltbegriff, der sich vom Handeln ableitet. Deshalb unterscheidet sie terminologisch zwischen der Dingwelt auf der einen und der Mitwelt auf der anderen Seite. Auch die Welt als Mitwelt ist, wie schon Heidegger bemerkte, Zwischenwelt; auch das Handeln bewegt sich in jenem Bereich, »der zwischen den Menschen qua Menschen« liegt (ebd.: 172). Dementsprechend lässt sich sagen, dass die zwei Weltbegriffe Arendts zwei verschiedene Modalitäten oder Bezugsweisen des Zwischen bezeichnen: eine objekthafte und eine handlungsförmige. Doch nur die handlungsförmige Bezugsweise der Mitwelt ist im eigentlichen Sinn politisch. Nur die Mitwelt ist eine Welt des Handelns. Die Dingwelt, da sie ihre Existenz der Tätigkeit des Herstellens verdankt, ist a-politisch. Das Handeln hingegen macht Welt zu Öffentlichkeit. Arendts Begriff des Öffentlichen bezeichnet in erster Linie einen Erscheinungsraum, in dem jeder, der in ihn tritt, vor der Allgemeinheit sichtbar wird, und zweitens »die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist« (ebd.: 52). Es ergeben sich oft Missverständnisse bezüglich des Arendt’schen Öffentlichkeitsbegriff, die zwar gewissen Unklarheiten ihrer eigenen Texte geschuldet sind, aber bei genauerer Hinsicht zu vermeiden wären. strukturalistischen politischen Theorie verfolgen lässt. Diese Genealogie findet sich nachgezeichnet in Marchart (2005b).

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40 | Oliver Marchart Tatsächlich gibt es bei Arendt wiederum einen doppelten Öffentlichkeitsbegriff. Unter Öffentlichkeit im strikt politischen Sinn dürfen wir in keinem Fall einen der Tätigkeit des Handelns selbst vorangehenden festen Raum verstehen, sondern Öffentlichkeit entsteht performativ im Moment des Handelns selbst. Handeln ist diejenige Tätigkeit, »die einen öffentlichen Raum in der Welt überhaupt erst hervorbringt« (ebd.: 191). Die Öffentlichkeit ist damit aus Perspektive des Handelns ein »Ort«, der außerhalb alles physikalisch Räumlichen liegt. Öffentlichkeit in diesem Sinne ist etwas ungeheuer Flüchtiges, das nur im Moment des Handelns überhaupt sichtbar wird. Der zweite Aspekt von Öffentlichkeit hat umgekehrt damit zu tun, dass diese Öffentlichkeit im radikalen Sinn im »Erscheinungsraum« der Welt entsteht, die, wie gesagt wurde, etwas Beständiges hat. So kann Arendt sagen, ohne dass ein wirklicher Widerspruch entstehen würde, dass nur in dem Maße, in dem die Welt »in der Öffentlichkeit erscheint«, »eine solche Welt das Kommen und Gehen der Generationen in ihr überdauern kann«, und es im Wesen des Öffentlichen liegt, »dass es aufnehmen und durch die Jahrhunderte bewahren und fortleuchten lassen kann, was immer die Sterblichen zu retten suchen vor dem natürlichen Verfall der Zeiten« (ebd.: 54). Dingwelt und Mitwelt, oder auch: das Zwischen, das durch Herstellen, und das Zwischen, das durch Handeln erzeugt wird, sind zu unterscheiden und doch miteinander vermittelt. Die Dingwelt ist der »äußere Rahmen«, der den »Erscheinungsraum umgibt und ihm gleichsam seine Substantialität sichert« (ebd.: 208). Obwohl selbst Produkt des Herstellens, ist dieser Rahmen unabdingbar, soll das Handeln nicht sofort im Moment seines Entstehens wieder verpuffen. Politische Handlungen und Taten, sollen sie fortbestehen und erinnert werden, müssen in die Dingwelt eingehen. Sie müssen zu Versen, Büchern, Bildern und Denk- oder Mahnmalen verdinglicht werden, um fortzuleben (vgl. ebd.: 87). Nur wenn die Taten in Form von Geschichten – egal in welchem »dinglichen« Medium – forterzählt und damit kollektiv erinnert werden, sind sie nicht sofort wieder verschwunden. Daraus folgt, dass es einen Wechselprozess oder ein notwendiges Aufeinanderverwiesensein zwischen dem Augenblick des Handelns und der Welt der Dinge geben muss. Öffentlichkeit im radikalen Sinne würde im selben Augenblick vergehen, in dem sie entsteht, wäre da nicht ihre Fortschreibung und Erinnerung qua »Verdinglichung«. Umgekehrt wäre eine Dingwelt, in die keine zusätzlichen Handlungen strömen würden und in der die bereits vorhandenen Dinge keine Anschlusshandlungen mehr ermöglichten, vollständig mortifiziert. Der dingliche Aspekt der Welt steht also mit dem Handlungsaspekt der Welt in einem wechselseitigen Bedingungs- und dabei auch Begrenzungsverhältnis. Das Flüchtige der politischen Öffentlichkeit trifft auf einen – immer relativ – stabilen Bezugspunkt des allgemeinen Erscheinungsraumes der Welt. So entsteht qua Verdinglichung eine Textur öffentlicher Angelegenheiten. Handeln besteht darin, »den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat«

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(ebd.: 174). Aus dieser Perspektive gibt sich uns Geschichte nur in Form von Geschichten zu erkennen und das Zwischen nur in Form der Textur. Von einem politisch-historischen Ereignis wissen wir nur und können wir nur wissen, wenn es in diese Textur eingegangen ist, d.h. wenn ein Ereignis in der Geschichte in Form von Geschichten erinnert wird. Umgekehrt bildet das Bezugsgewebe der Welt den notwendigen Hintergrund, vor dem jedes neue Ereignis stattfindet. Was sind die politischen Konsequenzen des Arendt’schen Begriffs von Welt? Als erstes muss darauf hingewiesen werden, dass mit der Lokalisierung der Welt im Zwischen der Subjekte notwendigerweise die Grundbedingung der Pluralität in die Welt Einzug hält. Wo ein Zwischen ist, dort ist Relation und daher mehr als ein einzelnes Subjekt. So existiert notwendigerweise eine Mehrzahl von Perspektiven auf jene Dinge, die sich im Zwischen angesiedelt haben. Welt ist Pluralität und Pluriperspektivität: »Welt, mit anderen Worten, entsteht nur dadurch, dass es Perspektiven gibt, sie ist nur jeweilig als die so oder anders gesichtete Ordnung von Weltdingen.« (Arendt 1993: 105) Zweitens sei unter dem Aspekt der Theoriebildung angemerkt, dass die Verschiebung, die Arendt in den philosophischen Diskurs einführt, dessen Politisierung zum Ziel hat: Arendt scheint, obwohl sie sich dazu nicht äußert, den phänomenologischen Begriff des Horizonts (bzw. der Welt als Universalhorizont) genau deshalb vermeiden zu wollen, weil er das Bild einer Welt nahe legt, die uns umschließt, und nicht das Bild eines Zwischen, also einer Welt, die sich zwischen uns schiebt. Die Welt tritt nun in den Blick als, sagen wir, plurale Kommunalität des Mitseins als Mitwelt – und a forteriori als Öffentlichkeit. Und drittens lässt sich das eigentlich Politische anhand des Weltbegriffs nun exakter lokalisieren – nämlich gegenüber dem A-Politischen und dem Anti-Politischen. Einerseits wird dem Handeln und den Taten, die eine vorerst ephemere Öffentlichkeit erzeugen, zur Dauer verholfen durch die selbst a-politische Tätigkeit des Herstellens einer Dingwelt. Andererseits muss beides – Handeln wie Herstellen – abgegrenzt werden von der Tätigkeit des Arbeitens, die selbst anti-politisch ist, weil man im Arbeiten von Mit- und Dingwelt verlassen ist. Das animal laborans ist für Arendt weltlos,7 da unfähig, »einen öffentlich-weltlichen Bezirk zu errichten und ihn zu bewohnen« (Arendt 1992: 146). Selbst wo Arbeit gemeinsam erledigt wird, dort basiert sie nicht auf dem Faktum der Pluralität: Das Gemeinsame der Arbeit ist vielmehr das Kollektiv, das Pluralität einebnet und jedes Zwischen kollabieren lässt, letztlich der »Arbeitstrupp« (ebd.: 208).8 7 | Neben der Arbeit gibt es noch andere Formen der Weltlosigkeit. Am radikalsten erfährt man Weltlosigkeit, Arendt zufolge, im Schmerz, auf andere Weise in der Liebe. 8 | Die »Welt« der Arbeit ist eine »Pseudowelt«. In der modernen Arbeitsgesellschaft, so Arendt, »ersetzt die ›Welt‹ der Maschinen die wirkliche Welt, wenn

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42 | Oliver Marchart Eine vierte Konsequenz, die für ein Neudenken Arendts unter heutigen politischen Bedingungen vielleicht die wesentlichste ist, hat mit einer weiteren Unterscheidung zu tun, die allen anderen vorausgeht: der Unterscheidung zwischen Welt und Erde. Wieder war es Heidegger, der schon zwischen Welt und Erde unterschieden hatte: »Welt und Erde sind wesenhaft voneinander verschieden und doch niemals getrennt. Die Welt gründet sich auf die Erde, und Erde durchragt Welt. […] Das Gegeneinander von Welt und Erde ist ein Streit.« (Heidegger 1994: 35) Die Erde fungiert bei Heidegger als »das Hervorkommend-Bergende«, denn »[a]uf die Erde und in sie gründet der geschichtliche Mensch sein Wohnen in der Welt« (ebd.: 32).9 In dieser Hinsicht kommt der Arendt’sche Begriff der Erde dem Heidegger’schen ausgesprochen nahe – jedenfalls unter Abzug der völkischen Konnotation von Erde als »Boden«. Die Erde ist für Arendt der physische Existenzrahmen des Menschen, letztlich der Planet, auf dem die Menschen ihre Welt errichten. So existiert Welt im Unterschied zur Erde nicht einfach naturgemäß, sondern muss immer erst von Menschen gestiftet werden. Sie ist ein »unnatürlich-künstliches Haus« (Arendt 1992: 122), das zur Bewohnung der Erde unerlässlich ist, und als solches »keineswegs identisch mit der Erde oder der Natur im Ganzen, wie sie dem Menschengeschlecht als ein begrenzter Lebensraum und als Bedingtheit seines organischen Lebens angewiesen sind« (ebd.: 52). Bezieht man den Begriff der Erde zurück auf die drei Arendt’schen Grundtätigkeiten, dann ist es vor allem die Tätigkeit des Arbeitens, durch die der Mensch eben nicht in ein Verhältnis zur Welt, sondern in ein Verhältnis zur Erde tritt, also zur Gesamtheit der natürlichen Bedingungen des physischen Lebens selbst (der Grundbedingung des Arbeitens). Und das Arbeiten hat, wie bereits gesagt, nichts anderes als das Leben selbst – nämlich seine Reproduktion – zum Ziel. Deshalb, so muss man schließen, ist Erde im Unterschied zu Welt ein ausgesprochen a-politischer, wenn nicht anti-politischer Begriff. Die natürlichen Ressourcen der Erde werden qua Arbeit in den Dienst des bloßen Lebens bzw. Überlebens gestellt. Dabei entstehen im strengen Sinn gar keine Dinge, sondern nur die Möglichkeit weiteren Überlebens wird garantiert. Erst die Tätigkeiten des Herstellens und des Handelns lassen eine Welt entstehen. Diese Welt, im Unterschied zur Erde bereits künstlich und unnatürlich, ist immer entweder hergestellt oder verhandelt. Noch aus einem weiteren Grund muss man Erde als etwas Unpolitisches oder sogar Anti-Politisches bezeichnen: Sie ist für Arendt nämlich ein Planet, auf dem nicht die Menschen in ihrer Pluralität leben, sondern vielmehr das Menschengeschlecht in der Einzahl. Als Planet, auf dem die bioauch diese Pseudowelt die größte Aufgabe der Welt nie erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten, die beständiger und dauerhafter ist als sie selbst« (1993: 139). 9 | Zum früheren Weltbegriff s. Heidegger (1983).

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logische Spezies Mensch ihre Existenz fristet, öffnet sie sich nicht zwischen den Menschen, sondern wölbt sich über und unter der Spezies Mensch. In ihrer Eigenschaft als Planet ist diese Erde, wie bei Augustinus, caelum et terra. Um Arendts Thesen auf den in unserer Diskussion entscheidenden Begriff zu bringen: Diese Erde ist globus und nicht mundus. Sie ist das, was uns umschließt, und nicht das, was zwischen uns tritt. Das eigentlich Radikale an Arendts Weltbegriff, dass nämlich die Welt nicht um uns ist, sondern zwischen uns, die wir als Vielheit dieses Zwischen teilen, geht vollständig verloren, sobald der Begriff der Welt mit dem der Erde verwechselt wird. Aber geschieht nicht genau das in den gegenwärtigen Globalisierungsdiskursen – einschließlich vieler Antiglobalisierungsdiskurse? Hängt die Globalisierungsdebatte nicht einem völlig unzulänglichen, ja fatalen Begriff von Welt als Erde an? Erde vielleicht weniger verstanden unter dem Aspekt der physischen Lebensbedingungen der Spezies Mensch, obwohl manch ökologische Antiglobalisierungsdiskurse auch diesem Begriff der Erde huldigen, sondern eher verstanden im Sinne einer allumschließenden Totalität: caelum et terra. Präsentiert sich der Globalisierungsdiskurs – bei Verteidigern wie selbst bei manchen Gegnern der Globalisierung – denn nicht als Diskurs der allumfassenden Ausweg- und Alternativlosigkeit? Genau das ist es, was er mit dem Begriff der Erde in Arendts Verständnis gemeinsam hat. Die Welt jedoch – verstanden als mundus – schließt uns nicht ein wie der Globus, sondern entsteht zwischen uns, sobald wir zu handeln beginnen. Im gleichen Umfang, in dem wir vergessen, was Handeln und Neubeginnen wirklich heißt, vergessen wir auch den Weltcharakter der Welt, die wir ihrerseits mit dem Globus verwechseln. Arendt selbst würde hier nicht so sehr von Weltvergessenheit als von »Weltentfremdung« sprechen, die für sie Kennzeichen der Neuzeit ist (und nicht etwa »Selbstentfremdung« wie für Marx) (Arendt 1992: 249) und zu tun hat mit der fortgesetzten Überwältigung des Politischen durch das Gesellschaftliche. Von ihr unterscheidet Arendt einen wissenschaftlich-technischen »Erdschrumpfungsprozess«. Mit dem Ende der Entdeckung und Kartographierung des Planeten habe »der Mensch begonnen, seine irdische Wohnstätte ganz in Besitz zu nehmen und erst heute haben sich die weit offenen Horizonte, die unerreichbar und lockend alle vergangenen Generationen der Erde durch ihr Leben begleiteten, sich in den Erdball zusammengeschlossen«. In dem Moment, in dem der Raumvorrat der Erde aufgebraucht war, »begann der gleiche Erdball zu schrumpfen« (ebd.: 245). Es begann, was wir heute wohl Globalisierung nennen würden.10 Doch die »Weltentfremdung« ist ein politisches 10 | Zu dem, was wir heute Globalisierung nennen würden, merkt Arendt an: »Zwar haben zum ersten Mal in der Geschichte alle Völker der Erde eine gemeinsame Gegenwart: Jedes Volk ist der unmittelbare Nachbar jedes anderen geworden, und Erschütterungen auf der einen Seite des Erdballs teilen sich mit außerordentli-

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44 | Oliver Marchart Phänomen, was sie unterscheidet vom »Erdschrumpfungsprozess«, der an sich ein technologisches ist, selbst wenn er politische Auswirkungen haben kann. Wenn nun in der Tat zutrifft, dass es im Zuge des herrschenden Globalisierungsdiskurses, der sich an der Figur der Notwendigkeit und Alternativlosigkeit ausrichtet, zu einer wahren Welt- und Politikvergessenheit gekommen ist, muss man dann nicht sagen, dass erst mit der altermondialistischen Bewegung der Globus wieder als Welt ins Bewusstsein getreten ist oder potentiell treten kann? Seit dem Weltsozialforum 2001 in Porto Alegre wurde das Postulat: »Eine andere Welt ist möglich«, jedenfalls zum zentralen Slogan der Bewegung. Nimmt man diesen Slogan, um zum Anfang unserer Diskussion zurückzukommen, beim Wort, dann wird unmittelbar klar, dass es um mehr geht als um eine etwas andere Form der Globalisierung. Es geht um die Erfindung einer gemeinsamen anderen Welt. Das kann natürlich nicht heißen, eine Parallelwelt zur unsrigen sei möglich – damit befänden wir uns nach wie vor im Phantasma des Globalismus. Stattdessen entzieht sich dieses Postulat der überkommenen Disjunktion zwischen Revolution und Reform. Natürlich ist eine andere Welt nur möglich unter der Bedingung, dass sie keine ganz andere Welt ist und der scheinbar totale oder apokalyptische Bruch mit der bestehenden Welt nicht gesucht wird. Andererseits geht das Postulat weit über die bloß reformistische Behauptung hinaus, dieselbe Welt sei ein wenig anders möglich. Weder zielt der Slogan auf eine gänzlich andere Welt, noch zielt er auf dieselbe Welt, nur ein bisschen anders. Genau genommen kann es gar nicht um eine andere Welt gehen, die der jetzigen in toto gegenüberzustellen wäre. Diese Form von ›Einheit‹ wäre durchaus noch im Sinne der Totalität des Globus verstanden. Doch in den Worten von Jean-Luc Nancy: »Die Einheit einer Welt ist nicht Eine: sie besteht aus einer Verschiedenheit [diversité] bis hin zum Disparaten und zum Gegensatz. […] Die Einheit einer Welt ist nichts anderes als ihre Verschiedenheit, und diese wiederum ist eine Verschiedenheit an Welten. Eine Welt ist eine Mannigfaltigkeit an Welten, die Welt ist eine Mannigfaltigkeit an Welten, und ihre Einheit ist die Aufteilung, die gegenseitige Exposition aller ihrer Welten in dieser Welt.« (Nancy 2003: 147)

cher Geschwindigkeit der gesamten Erdoberfläche mit. Aber diese faktische gemeinsame Gegenwart fußt nicht auf einer gemeinsamen Vergangenheit und garantiert nicht im mindesten eine gemeinsame Zukunft. Die Technik, die die Welt ›geeint‹ hat, kann sie genausogut zerstören; und zwar gerade weil sie geeint ist. […] Was alle Völker heute miteinander gemein haben dürften, ist die Sehnsucht nach einer Welt, die ein bisschen weniger geeint ist.« (2001: 95)

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Wenn in der Einheit dieser Welt viele Welten möglich sind, dann lässt sich aus dem Postulat, eine andere Welt sei möglich, nicht schließen, welche Welt – welche Welten – jeweils wirklich gemacht wird. Mit anderen Worten: Das quasi-transzendentale oder ›ontologische‹ Postulat, dass eine andere Welt möglich sei – und damit eine Veränderung des Status quo – präjudiziert noch in keiner Weise den ›ontischen‹ Gehalt dieser Welt. So kann es kaum überraschen, dass die Altermondialisten uns mit einer Vielzahl möglicher Welten konfrontieren, die, würden sie verwirklicht (wo sie nicht schon längst verwirklicht sind), keineswegs alle emanzipatorisch oder fortschrittlich wären. Man denke nur an den kleinbäuerlichen Antiglobalisierungsdiskurs eines José Bové, an die antisemitische Anprangerung eines angeblich »raffenden« Finanzkapitals, wie sie selbst noch bei Attac zu finden ist, oder an den islamistischen Trotzkismus mancher Antiglobalisierungssekten, die zum »Widerstand« im Irak und zur Intifada in Israel werden wollen. All das erinnert daran, dass es auch einen rechten Antikapitalismus bzw. einen Antisemitismus der Linken gibt. Wenn also von einer anderen Welt die Rede ist, wird man im Konkreten immer fragen müssen, welche andere Welt gemeint ist. Nicht weil unbedingt eine utopische Auspinselung oder ein technokratischer blueprint für diese Welt jeweils vorzulegen wäre, sondern weil jeder Weltentwurf auf seinen emanzipatorischen Gehalt hin zu befragen ist. Die Frage nach dem konkreten Gehalt sollte aber nicht überdecken, warum es – gleichsam auf ontologischer Ebene – eigentlich geht: nämlich um einen politischen Begriff des Handelns, der Welt und der Alternative. Daraus folgt, dass die »Bewegung der Bewegungen« sich vor allem als jene Politisierungs- und Demokratisierungsbewegung verstehen muss, die sie in weiten Strecken bereits ist. Antiglobalisierungsforderungen dürfen sich nicht auf ökonomische Fragen beschränken, sondern müssen die politische Frage der Welt, d.h. der Ordnung des Zusammenlebens und damit des Zustands der Öffentlichkeit ansprechen – und das heißt letztlich: die Frage der Demokratie neu stellen. Eine Bewegung, deren Forderungen auf die Neuordnung internationaler ökonomischer Regelungsmechanismen beschränkt blieben, würde nichts ausrichten. Sie würde, wie ihre Gegner auch, den globus nicht durch den mundus ersetzen, sondern durch den oikos: den Haushalt bzw. die Ökonomie. Von Arendt ist hingegen zu lernen, dass das Politische und die Öffentlichkeit im eigentlichen Sinn jenseits der Zwangszusammenhänge des Ökonomischen beginnen, das zum scheinbar unübersteigbaren Horizont der Gesellschaft überhaupt aufgeblasen wurde. Das bedeutet natürlich nicht, dass soziale und ökonomische Fragen nicht verhandelt werden dürfen. Wenn sich Arendt gegen das Vordringen des Ökonomischen in den politischen Raum wehrt, dann vor allem aus Sorge um den Fortbestand dieses Raums selbst. Ohne dass konkrete Forderungen – sei es auch ökonomischer oder sozialer Art – aus dem öffentlichen Raum prinzipiell ausgeschlossen wären, müssen sie von einer Sorge um die res publica als solche begleitet werden. Die öffentlichen Angelegen-

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46 | Oliver Marchart heiten müssen zugleich als Angelegenheit des Öffentlichen verstanden werden. Und dieser Gegenstand des Öffentlichen, der alle anderen konkreten Forderungen begleiten muss, ist die Welt selbst: »In dem Augenblick, in dem ich politisch handele, bin ich nicht an mir interessiert, sondern an der Welt.« (Arendt 1998b: 82) Das impliziert, dass es dem Handeln im Handeln um dieses selbst geht. Darin besteht der Selbstzweckcharakter des Handelns bei Arendt. Das ist weit entfernt von jeder l’art pour l’art-Attitüde. Es bedeutet, dass es dem Handeln im Handeln um seine eigenen Bedingungen gehen muss, also um die Gründung und Aufrechterhaltung eines öffentlichen Raums. Die Welt selbst zum ›Gegenstand‹ des politischen Handelns zu erklären, das heißt, dass die Ordnung der Welt selbst immer mit zur Disposition stehen muss – und damit die Existenz von Öffentlichkeit überhaupt. Unabhängig davon, welche konkrete Forderung sonst noch in die leere Stelle des zu verhandelnden Gemeinguts einrückt (was sich in keiner Weise präjudizieren lässt), worum es im politischen Handeln immer zugleich gehen muss, sind die Bedingungen, unter denen Handeln als solches möglich oder unmöglich wird. Es sind die Grenzen des Öffentlichen, die zusammen mit jeder konkreten Forderung immer zugleich zur Verhandlung stehen. Mit ihnen steht der eigentliche Modus des Verhandelns selbst zur Debatte: Wird Politik verstanden als eine Form des Handelns oder als eine Form des Herstellens, der ›Machbarkeit‹ und des Managements des Bestehenden? Im Diskurs des Globalismus – als Diskurs der vollständigen Ökonomisierung des Politischen und der globalen Alternativlosigkeit – scheinen sich die schlimmsten Befürchtungen Arendts realisiert zu haben. »There is no alternative« – heißt nichts anderes als: Es gibt kein Handeln und keine Öffentlichkeit. Es gibt nur ökonomische Sachzwänge und die Verwaltung des Bestehenden. Aus Arendt’scher Sicht ist das ein Diskurs der Weltlosigkeit. Ihm hat die altermondialistische Bewegung, indem sie sich nicht mit einem Diskurs der Alternativlosigkeit zufriedenstellen hat lassen, nicht so sehr einen Begriff einer »besseren Globalisierung« als einen Begriff der Welt entgegengehalten. Natürlich ist das nicht allein eine terminologische Frage, sondern vor allem eine praktische Demonstration, durch die öffentlich bewiesen wurde, dass politisches Handeln möglich ist – und damit unzählige Alternativen und ›andere Welten‹ möglich sind. Aber der Wechsel des Terrains und Referenzobjekts – vom Globus zur Welt – ist ein wichtiges Element dieser politischen Praxis. Denn fände Globalisierung in einem Raum der Alternativlosigkeit statt, dann könnte es nur um Fragen der entweder effizienteren oder etwas gerechteren Verwaltung gehen – letztlich um ein besseres Globalisierungsmanagement. Man bliebe dabei völlig im Denkhorizont des Ökonomischen, also des Reichs der Notwendigkeit. Wenn es aber um die Welt geht, dann geht es zugleich um Forderungen nach Demokratisierung und nach Ausweitung und Vervielfachung öffentlicher Räume. Erst das wäre die eigentlich politische Alternative zum scheinbar unüberschreit-

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baren Horizont des Ökonomischen. Deshalb haben die Aktionen und der Aktivismus der Altermondialisten, so kritisch man ihnen in vielerlei Hinsicht gegenüberstehen mag, vor allem eines bewirkt: Sie haben demonstriert, dass Handeln im ursprünglichen Sinne von agere – von Agieren als etwas in Bewegung setzen – nach wie vor möglich ist und eine völlig weltlose, das heißt alternativlose Welt in Wahrheit unmöglich.

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1. Die Welt als immer anders mögliche Welten zu verstehen – ist nicht das die große Herausforderung, vor die uns die so genannte ›Globalisierung‹ stellt? Ist nicht die Erfahrung, dass wir die Welt in real-virtueller Realität umrunden können, schlussendlich aber immer wieder am Anfang stehen und doch andere geworden sind, eine andere Beschreibung für das, was sinnvollerweise mit ›Globalisierung‹ gemeint sein könnte? Wenn sich der Mundus1 zu einem global dynamisierten Heteromundus entfaltet, weil Mondialität global entgrenzt ist und als Heteromondialität lebensweltlich konkret und zur Normalität wird – und mit ihr die Erfahrung einer mannigfaltigen Menge von Möglichkeiten, Mensch und im Mundus zu sein?2 Wie, das soll die Frage sein, mit der sich dieser Beitrag auseinander setzt, ist in einer solchen Konstellation Normativität zu denken? Wie ist, anders formuliert, eine dynamisiert-interaktive Pluralität von Welt- (Mundus) und Menschsein mit der Idee von Verbindlichkeit zusammenzubringen – wenn der Mundus sich in einer Weise eröffnet, die seine ›Immer-anders-Möglichkeit‹ unübersehbar werden lässt? Die ›Globalisierung‹ steht für eine Vielzahl von Transformationen, die 1 | Vgl. dazu meine Einleitung zu diesem Band sowie die Beiträge von Marramao und Marchart. Aufschlussreiche Überlegungen zur Kategorie des Mundus finden sich überdies bei Jean-Luc Nancy (2002) und André Tosel (2004). 2 | Der von Robertson (1995) vorgeschlagene Begriff der ›Glokalität‹ scheint mir in diesem Zusammenhang nur von begrenztem Nutzen zu sein, hält es doch die Dimension des Globalen und Lokalen fest – die Herausforderung für die Charakterisierung dessen, was Mondialisierungen heute ausmacht, scheint mir eher darin zu liegen, jenseits dieser Dichtotomie nach begrifflichen Fassungen für Mondialität im Sinne einer interkonnexiven humanen Welt zu suchen.

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50 | Jens Badura nicht nur lebenspraktisch konkrete Auswirkungen zeitigen, sondern auch Auswirkungen auf die Validität der verfügbaren Inventare zur Deutung der Lebenswelt haben: Eine globaler Heteromundus lässt sich nicht einfach als eine höherstufige Lokalität deuten, sondern generiert, so möchte ich behaupten, einen neuen Typus von Komplexität. Freilich sind einige zunächst zentral erscheinende Dimensionen des Phänomens ›Globalisierung‹ weniger neu, als die aufgeregte Globalisierungsdebatte zuweilen den Anschein macht – und daher darf bei aller Notwendigkeit das Neue zu erschließen – also Mondialisierungen in ihrer Eigenart zu denken – nicht im Überschwang vergessen werden, die Kontinuitäten zu identifizieren.3 Jenseits der imperialen Exzesse, der Handels- und Reiseunternehmungen oder Migrationsbewegungen aus den unterschiedlichsten Motiven, die die Geschichte der Menschheit stets geprägt haben, gibt es schließlich schon seit der frühen Neuzeit systematische Wechselwirkungen über den Globus und seine Kontinente hinweg, erstmals in größerem Stile nachweislich im 16. Jahrhundert durch die portugiesischen Eroberungen, die Europa, Süd- und Nordamerika, Afrika und Asien in einen realen Vernetzungszusammenhang brachten (Gruzinski 2004). Dieser Vernetzungszusammenhang, der sich sukzessive von einer Logik der Zentrum-Peripherie-Struktur löst und auf eine polyzentrische Mondialität hin entwickelt und dabei auch Vorformen hyperkultureller Symbolsprachen produziert4, treibt das sukzessive Entstehen der Mondialisierungen – mit all den Ambivalenzen, die diese hervorbringen – voran: Wenn etwa in den Druckerpressen der iberischen Eroberer schon im 17. Jahrhundert erstmals auf vier Kontinenten zur gleichen Zeit die gleichen Bücher gedruckt wurden, lässt sich das – zumindest strukturell – durchaus als ein phänomenaler Vorläufer jener heute oft kritisierten ›McDonaldisierung‹ der Welt begreifen. Andererseits kommt gleichursprünglich jene ›Métissage‹ (Gruzinski 1999) in Gang, die aus dem Gleichen in verschiedenen Kontexten ein immer anderes werden lässt – jener Vorgang der Mischung und Transformation, der schließlich in den mondialen, dynamisch aufeinander verwiesenen Hybridkulturen unserer Tage mündet (Bhabha 1994). Im Nachgang dieser frühen Mondialisierungen ging es bekanntlich Schlag auf Schlag, inklusive jener Verschiebung zwischen Quantität und Qualität von Transformationsprozessen, deren genauerer Untersuchung die hier anvisierte Philosophie der Mondialisierungen gewidmet ist: Hinsichtlich der sukzessiven Nivellierung der räumlichen Distanz durch die rasante Entwicklung von Mobilitäts- und Kommunikationstechniken (wie etwa die 3 | Vgl. dazu die instruktive Überblicksdarstellung zur Geschichte der Globalisierung von Osterhammel/Petersson (2004). Ebenfalls aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Geschichte der Globalisierungstheorie, die lange Zeit in erster Linie eine soziologische Theorie war, vgl. dazu Dürrschmidt (2002). 4 | Vgl. zur Konzeption der Hyperkulturalität den kulturphilosophischen Ansatz von Han (2005).

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Verbesserung der Navigation, die Beschleunigung und Automobilität der Verkehrsmittel, die Erfindung von Telekommunikation) (Mattelart 1997) genauso wie hinsichtlich der Schaffung eines normierten Raum-Zeit-Gefüges mittels geographie- und zeitpolitischer Maßnahmen (Einführung eines globalen Koordinatensystems, Maßsystems, der Weltzeit etc.) (Harvey 1989). Was sich dann ab Anfang des 20. Jahrhunderts durch Flugverkehr, Satellitenkommunikation und Internet zu einem im substantiellen Sinne mondialen Raum hin exponentiell beschleunigt entwickelte, ist also nur der derzeit aktuelle Status quo jenes Werdens des Mundus, im Zuge dessen die Intensität der interkonnexiven Relationen eine im Wortsinne globusumspannende Eigendynamik erlangte. Gemäß einer bekannten Definition von Harvey lässt sich dieses qualitativ ›Neue‹ der heute wirkenden Mondialisierungen gegenüber früheren Stadien der Welterschließung als wirkungsvoll etablierte »Raum-Zeit-Kompression« beschreiben (ebd.)5: Distanz ist nicht mehr das Leitkriterium der Raumwahrnehmung und infolgedessen Zeit nicht mehr vorrangig Distanzüberwindungszeit. Menschen, Ideen, Güter, Kapital zirkulieren – physisch oder virtuell – global, der sich so eröffnende globale Raum erscheint als Möglichkeitsraum, die Zeit als Optionszeit. In jeder interkontinentalen Telefon- oder Videokonferenz, einer Liveschaltung in den Fernsehnachrichten oder bei globalen Ereignissen wie Benefizkonzerten, die zeitgleich in verschiedenen Großstädten rund um den Globus veranstaltet werden, lässt sich die Konstitution konkreter lebenspraktischer, globaler Gleichzeitigkeit erleben – nur der Hall in der Leitung, minimale Phasenverschiebungen zwischen Bild und Ton und die sichtbare Differenz der Tag-Nacht-Verteilung repräsentiert den widerständigen Rest der medial überformten Distanzen auf dem Globus. Fernreisen, mit dem Flugzeug, auf der Kinoleinwand oder am Fernsehschirm unternommen, lassen die Welt als eine zwischen Phantasie und Realität des Optionalen oszillierendes Nebeneinander möglicher Wirklichkeiten erscheinen und werden zu den atmosphärischen Indikatoren dafür, dass wir heute alle im Modus des Passagiers zwischen Möglichkeitsvarianten leben, denen stets eine (zumindest imaginäre) Option auf Verwirklichung anhaftet und die damit eine andere Qualität haben als reine Phantasie (Urry 2001).6 Die Repräsentation phan5 | In diesem Zusammenhang ist auch auf die Analysen Virilios hinzuweisen, dessen im Laufe der 1970er Jahre entstandene ›Dromologie‹ darauf zielte, neue Formen der Konstruktion von Raum und Zeit bezüglich ihrer politischen Dimension zu analysieren – und der in diesem Sinne als Globalisierungstheoretiker avant la lettre gelesen werden kann (Virilio 1980). 6 | Bauman hat zur Klassifikation des ›postmodernen‹ Menschen die Begriffstrias »Touristen – Flaneure – Spieler« vorgeschlagen (Bauman 1997) bzw. die Dualität von Touristen und Vagabunden (als Repräsentanten von Gewinnern und Verlierern einer umfassend mobilisierten Lebenswelt; Bauman 1995); mir hingegen scheint der Begriff des Passagiers besser geeignet, weil er zum Ausdruck bringt, dass

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52 | Jens Badura tasmatischer Räume in Film und Literatur (und die daran anschließenden politischen Utopien à la ›Weltraumbesiedelung‹) lassen deutlich werden, dass die Vorstellungsräume für mögliche Weisen des Menschseins weit über den Globus (und mit ihm das ›Bekannte‹) hinausreichen – symptomatisch für das druckvolle Wechselspiel zwischen phantastischer Vision und dem Begehren nach ihrer Verwirklichung, das Menschen seit jeher zum Überwinden des Horizontes antreibt. Mondialisierungen können zugleich als Effekt und Faktor dieser Dynamik betrachtet werden: Zu ihrer Ermöglichung bedurfte es der vorgängigen Gewahrwerdung eines (realen) Möglichkeitshorizonts, eines Mundus als offenem Raum, um das als gegeben Erfahrene zur Variante des Möglichen umzuwerten. Daraus erst konnte die Handlungsmotivation dazu resultieren, in diesen offenen Mundus aufzubrechen, andere Welten machen zu wollen, zu neuen Ufern aufzubrechen. Erst mit einer Idee des Mundus konnte das Schiff gebaut und auf den Horizont zugesteuert werden, weil hinter ihm ein Mögliches erwartbar geworden war. Ab einem gewissen Realisierungsgrad erzeugen Mondialisierungen eine potentielle Gleichzeitigkeit und prinzipiell mögliche Prägungsrelationen mit jedem Menschen auf dem Globus – und sei es über moralische Empörung hinsichtlich der ›Weltpolitik‹ des US-amerikanischen Präsidenten und dem Denken an jene, die sie betrifft, das Mitgefühl, das durch Informationen aus afrikanischen Hunger- oder Bürgerkriegsgebieten ausgelöst wird, die hilflose Solidarität für die Opfer in pazifischen Katastrophenzonen oder den plötzlichen Gedanken an die konkreten biographischen Kosten eines in der Textilverarbeitung in China arbeitenden Kindes, der sich beim Kauf des soeben gekauften Billig-T-Shirts im Bekleidungsdiscount einstellen kann. Zumindest der privilegierte Teil der Menschheit, der es sich erlauben kann, über das Phänomen der Mondialisierungen nachzudenken und diese durch reale oder virtuelle Reisen auch konkret mit Sinnen und Verstand zu nachzuvollziehen, lebt praktisch in einer Welt, die gleichermaßen zu einer Welt und vielfältigen Welten geworden ist – in der sich die Einheit in unendlichen Differenzierungsbewegungen permanent auflöst, verändert und damit zum Heteromundus als Wirkraum der Vielheiten von Möglichkeiten des Menschseins werden lässt.7 Erfahrungsräume werden mit Möglichkeitsein modernes Dasein auf Dauer gestellt im Zwischenraum des Nicht-mehr-Hier und des Noch-nicht-Dort stattfindet, weil es Erfahrungs- und Möglichkeitsraum nicht mehr zu Deckung zu bringen vermag und die Möglichkeiten den Raum immer neu öffnen, so dass die Passage ihr Ziel nicht mehr zu erreichen vermag; vgl. dazu das Projekt »Passagen – eine philosophische Reportage« (Badura 2005). 7 | An anderer Stelle habe ich die Rede von den »Möglichkeiten des Menschseins« als eine Bestimmung von Kultur vorgeschlagen, die den üblichen Vereinseitigungen der unübersehbaren Zahl von Kulturkonzepten zu entgehen versucht – damit aber durch ihre Unspezifität natürlich neue Probleme generiert – und vor al-

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horizonten kurzgeschlossen, weshalb die Dimension des Möglichen zu einer Dimension lebenspraktischer Erfahrungsnormalität wird und das Denken sich in einem Raum zu orientieren hat, der Wirklichkeit und Möglichkeit zunehmend weniger unterscheidbar erscheinen lässt. Die Trennung zwischen ›Realität‹ und ›Virtualität‹ wird somit pragmatisch unschärfer und kann – mit allen Konsequenzen, die das pragmatisch zeitigt – sogar in dem Maße völlig aus dem Blick geraten, in dem das Bewusstsein von der technisch konstituierten Mittelbarkeit des Weltverhältnis verloren geht.8 Nun ist diese Zunahme an Möglichkeitsbewusstsein natürlich zugleich auch eine manifeste Herausforderung: Die tätige Gleichzeitigkeit einander vernehmender Möglichkeiten des Menschseins bietet mannigfaltige Optionen für das Denken und Orientierungsbedarf für das Handeln – und lässt sich im Sinne einer heuristischen Utopie durchaus positiv perspektivieren: Was bislang abstrakt ›die Menschheit‹ war, ist nun eine konkrete, interaktive Menge von mannigfaltigen je realisierten Menschen-Wirklichkeiten, die eine humane Welt – den Heteromundus – von hoher Dynamik und Komplexität konstituieren. Ein gewaltiges Potential tätiger Differenzen, die sich lem nicht davor zurückscheut, in der Regel als wenig rühmliche Kulturleistungen gewertete ›Möglichkeiten des Menschseins‹ wie etwa die Einrichtung von Konzentrationslagern, Kinderpornographie oder Hamburgerwettessen (die Liste wäre sicher beliebig verlängerbar) als Kulturleistung zu klassifizieren, vgl. Badura/Höhenrieder (2005: 115-118). Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Ich möchte damit nicht ausblenden, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen keine Welt der Möglichkeiten im Sinne von Wahlmöglichkeiten bewohnt – Armut, politische oder ideologische Grenzen verhindern dies de facto. Aber: Dennoch ist es auch in einem Drittweltstaat mit Hunger und Diktatur bekannt, dass es anders möglich ist auf dieser Welt – und um diese prinzipielle Möglichkeits-Dimension geht es mir, was aber keinesfalls heißen soll, dass die Frage der praktischen Ermöglichung von Optionen nicht von höchster politischer Priorität ist – und Missstände solcher Art geradezu danach verlangen, dass eine andere Welt möglich ist. 8 | Vor allem Baudrillard hat in seinen Arbeiten schon früh – vor allem in den Texten der 70er Jahre, die im Deutschen unter dem Titel »Agonie des Realen« versammelt sind, aber auch in den jüngeren Schriften, wie etwa in »La pensée radicale« (Baudrillard 1978, 1994) auf den eigenwilligen und subtil folgenreichen Zusammenhang hingewiesen, der aus dieser Wechselwirkung einer zunehmenden Virtualisierung der Lebenswelt und der sie ermöglichenden, technisch vermittelten Abblendung von physischer Faktizität resultiert. Die Tendenz, auch diese unmittelbare physische Dimension des Menschen, den Körper, in den Dienst kontingenztrunkener virtueller Phantasien zu stellen, mag da nur ein aufschlussreicher Nebeneffekt sein, der einen nächsten Schritt des Aufgreifens des Anspruchs auf das anders Mögliche anzeigt – zugleich aber in der Gefahr steht, Kontingenz rein als Ermöglichungskriterium, nicht aber als Unsicherheitskriterium zu verstehen –, denn schließlich kann es immer anders kommen, als man denkt.

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54 | Jens Badura fortlaufend wechselseitig zu- und voneinander differenzieren: ›Differenzieren‹ meint hier stetige Auflösung von festgelegten Zuordnungen – De-Definition, durch triftige Kontingenzdiagnosen vorangetriebene Rückabwicklung von in den Rang der Eindeutigkeit gerückten Sinnsystemen.9 Mondialisierungen lassen sich dann als Prozesse solcher Differenzierungsvorgänge deuten und damit als Resultat einer spezifischen Form der Moderne begreifen – einer Passsagen-Moderne, in welcher der Übergang zum Dauerzustand geworden und Verbindlichkeit nicht mehr an Definitivität oder Universalität gebunden ist, weil das Bewusstsein der Kontingenz des Mundus ein etabliertes Bewusstsein ist. Eine solche Passagen-Moderne funktionierte nicht mehr im Gestus der Annexions-Moderne, die bis dahin zum dominanten Pfad des Denkens aufgestiegen war und allerorten Gewissheit über endgültige Formen, definitive Theorien oder universelle Gesetze zu installieren und die Grammatik des Denkens mittels dieser Masterpläne zu annektieren trachtete. In einer tätigen Passagen-Moderne wäre die dynamische Pluralität je verwirklichter Möglichkeiten nicht ein Problem und eine Bedrohung, wie es dies für die Annexions-Moderne ist, sondern im Sinne einer Konsequenz der Einsicht in das je Anders-möglich-Sein von Sehen und Sein der humanen Welt zu deuten – und zum Heteromundus werden zu lassen. Sie würde demnach Kulturen ihrer Selbstbeschränkung entwickeln, die das Andere im Sinne realisierter anderer Möglichkeiten des Menschseins genauso wenig bedrohlich findet wie den Umstand, dass unterstellte Fundamente oder Möglichkeitsbedingungen des je eigenen Daseins immer auch anders gesehen werden können. Die humane Welt wäre nicht einfach pauschal ›postmetaphysisch‹ verfasst, sondern offen für plurale Kulturen der Transzendenz im Sinne von Modellen der Daseinskontextualisierung und Sinnstiftung. Sie wäre nicht affirmativ eine ›Welt der unbegrenzten Möglichkeiten‹, sondern engagiert im Bemühen darum, eine je angemessene Perspektivierung von Wirklichkeiten in konkreten Situationen zu bewerkstelligen. Eine solche Moderne wäre durchwirkt von vielgestaltigen Inventaren der Reflexion, Kreation und Selbsttransformation, mittels derer Pluralitäten im Vollzug immer neue konnexive Formen finden können und zugleich eine Sensibilität dafür wach gehalten wird, dass der Mensch sich immer neu in der – und in seiner – Welt verorten muss, ohne dies je in definitiver Weise zu können. Doch, wie gesagt, ist der Mundus weit davon entfernt, in den Modus einer Passagen-Moderne wirklich eingetreten zu sein bzw. sich heteromondial entwickeln zu können – zu stark sind bislang die vielgestaltigen Beharrungskräfte der Annexions-Moderne, als dass das immer wieder deklamierte ›Zeitalter der Globalisierung‹ zugleich ein Zeitalter des Heteromundus 9 | Die aktive Form des Differenz-Begriffs, das Verb ›differenzieren‹, wird hier gebraucht als Bezeichnung für eine Bewegung der Veruneindeutigung, der Auflösung und Neukonstitution von Sinneinheiten.

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wäre. Unschwer ist heute eine starke Tendenz zu vernehmen, der Etablierung einer Passagen-Moderne entgegenzuarbeiten, Mondialisierungen zu der ›Globalisierung‹ zu deformieren und den globalen Menschen auf eine globale Ordnung zu verpflichten. Die bekannten und vielgenannten, mächtigen Derivate der Annexions-Moderne heißen heute Neoliberalismus, Neoimperialismus oder schlicht und einfach Arroganz, Egoismus, Rücksichtslosigkeit bzw. fahrlässige Ignoranz – stets verbunden mit einer Scheu davor, sich dem Umstand auszusetzen, dass es prinzipiell immer anders möglich ist als je verwirklicht. Was zu beobachten ist, sind Effekte der Reduktion von Differenz auf Inklusion, Exklusion oder Egalisierung, machtvoll ins Werk gesetzte Versuche der Zurückführung des Menschen in eine selbstverschuldete Unmündigkeit namens ›Sachzwang‹, der keine andere Welt möglich scheinen lässt als die durch ein bestimmtes Modell ökonomischer Rationalität gebotene Welt der Konkurrenz, des Wachstums und der Gewinnmaximierung, zu der es laut der weltpolitischen Strategen keine Alternative mehr geben soll. Es setzt sich weiter fort eine technische Modernisierung als Fortschrittsapotheose, die den Mensch selbst erreicht hat und ihn immer weitgehender als zu optimierendes Objekt anzusehen und zu behandeln beginnt. Die Idee von der Autonomie des Menschen wird unter dem Banner der ›Wahlfreiheit‹ des selbstbestimmten Konsumenten in zynischer Weise ad absurdum geführt: Zunächst wird die lebenspraktische Verleihung von Würde de facto an ökonomische Leistungsfähigkeit gekoppelt, diese aber grob ungleich verteilt; sodann werden die Mittel zur Ermöglichung des Kaufverhaltens an systemkonforme Lebensgestaltung geknüpft und systemkritische Lebensformen demzufolge unter Druck gesetzt, zum Dritten schließlich werden Praxen der Subsistenz systematisch delegitimiert oder aber gezielt ausgeschaltet (durch die schlichte Privation vom Fertigkeitserwerb durch Lerninhaltspolitik), um zur Teilnahme am Konsumsystem zu nötigen. Schließlich vollzieht sich, ebenfalls im Namen marktbedingter Sachzwänglichkeit, eine fortgesetzte Zerstörung naturaler und kultureller Lebensgrundlagen – und das sind nur einige wenige Punkte, die sich heute im Sinne einer kritischen Diagnose zum gegenwärtigen Verlauf bzw. den Möglichkeitsbedingungen ›gelassener‹ Mondialisierungen anführen lassen. Was könnte dem entgegengehalten werden? Wie, das wäre im ersten Schritt zu zeigen, ist zu erklären, dass Mondialisierungen als Differenzierungen der Modus sind, auf den hin das Denken sich heute richten sollte? Und wie könnte man einen Organisationsmodus von Mondialisierungen dann so denken, dass er dem angedeuteten Konzept einer kontingenzbewussten Passagen-Moderne entspricht? Wie ließe sich dann – gemäß der Fragestellung dieses Artikels – ein solches Modell in normativer Hinsicht ausbuchstabieren, als ›heteromondiale Ethik‹? Kann es im Rahmen einer Passagen-Moderne überhaupt noch einen Typus von Verbindlichkeit geben, für den ein allgemeiner Geltungsanspruch erhoben werden könnte? Oder

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56 | Jens Badura ist, im Spannungsfeld zwischen der mondialen Pluralität von Möglichkeiten des Menschseins und den Möglichkeitsbedingungen dafür, im Lichte dieser Pluralität Regeln des Miteinanders zu generieren, die durch Pluralität hindurch Verbindlichkeit erlangen, keine prinzipielle Lösung mehr denkbar, sodass eine andere Art Normativität als die des Prinzipiellen zu bestimmen wäre?

2. Ein Heteromundus, ein durch Mondialisierungen konstituierter Raum für eine indefinite Pluralität von Möglichkeit des Menschseins (nach der oben skizzierten Interpretation) lässt die humane Welt dem Betrachter – also dem heteromondialen Menschen unserer Tage – als Möglichkeitsraum und als im Wesentlichen kontingent erscheinen. Wird heute von Kontingenz gesprochen, lauert nicht selten eine dubiose Pauschalität und eine Affinität zur Affirmation von Beliebigkeit.10 Also ist zu differenzieren: Es lassen sich im adressierten Kontext zwei Weisen von Kontingenz unterscheiden, die für die Weltwahrnehmung im heteromundialen Modus relevant werden: Zum einen die Kontingenz der Perspektive auf die Welt – man kann die Dinge immer auch anders anschauen als man es jeweils tut, es gibt den definitiven Blick nicht etc. Zum anderen die Kontingenz der Beschaffenheit der Welt selbst, denn unabhängig von dem Blick, den man auf die Welt richtet, lässt sich der Gedanke denken, dass die Welt an sich selbst anders sein könnte, als sie gerade ist. Das ist erläuterungsbedürftig – denn schließlich fragt sich, wie die zweitgenannte Variante unter Voraussetzung der Ersten sinnvoll konzeptualisiert werden könnte: Kann es keinen definitiven Blick auf die Welt geben, dann kann es ja eigentlich auch keine Aussage über eine Kontingenz der Welt an sich selbst geben, da diese ja wiederum an den Blick auf die Welt gekoppelt wäre – über die Welt an sich selbst wäre dann wohl schlichtweg nichts Sinnvolles auszusagen. Dieser Einwand trifft aller10 | Zur allgemeinen Kontingenz-Diagnose ist schon Vielfältiges und auch Substantielles gesagt worden, sodass eine naiv-affirmative Kontingenz-Diagnose, die immer noch eine gewisse Rolle auch in der wissenschaftlichen Debatte spielt, zu vermeiden ist. Zum Stand der differenzierten Auseinandersetzung mit der Kontingenz-Thematik vgl. insbesondere Makropoulos (1997) sowie die weiteren Arbeiten, die Michael Makropoulos zu diesem Themenkontext beigesteuert hat (vgl. auch http://www.michael-makropoulos.de). Ich danke Michael Makropoulos für die intensiven Diskussionen, Anregungen und durch ihn beförderten Einsichten in das Thema »Kontingenz«, die im Rahmen der gemeinsamen Projektarbeit der Forschungsgruppe »Kontingenz und Moderne« am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt entstanden. Das Projekt wird finanziert durch die Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Förderprogramms »Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften«.

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dings nur dann, wenn man die Ebenen im Sinne einer Epistemologie-Ontologie-Unterscheidung scharf trennt – und genau diese Trennung scheint mir eher Probleme zu machen als zu lösen, weil sie Erkenntnis-Pragmatik und Intelligibilität meint scharf trennen zu können – und diese Trennung macht deshalb nur sehr begrenzten Sinn, weil ›die Welt‹, von der ich hier spreche, kein distinktes Objekt, sondern ein Fluchtraum ist, nicht mehr als eine heuristisch konstituierte Quasi-Entität also, der die Wesentlichkeit im ontologischen Sinne in einem Maße abgeht, dass eine ontologische Perspektive hilflos sein lässt bzw. sich der Heteromundus gerade dieser Idee von Wesentlichkeit fortlaufend entzieht, jenseits dessen wirkend, was als Wesensmerkmal repräsentierbar ist. Daher scheint es mir sinnvoll, eine konsequent heuristische Konzeptualisierung des Heteromundus vorzunehmen, die diesen als genau jene Spannung zwischen Deutungspraxis und dem diese Praxis affizierenden Deutungsgegenstand begreift – zugleich aber beide als prinzipiell kontingent, je anders möglich denkt. Dass ›Deutung‹ in dieser Konstellation überhaupt möglich wird, liegt dann daran, dass im Zuge der Deutungspraxis eine Annahme unterstellt werden muss, damit (etwas) Sinn (ge)macht (werden kann). Was als annehmbar unterstellt wird – sei es die Verfassung des in Anschlag gebrachten Deutungssubjekts oder aber jene eines distinkten Deutungsobjektes –, ist dabei nicht festgelegt. Subjekt oder Objekt werden unterstellt, denn ohne die Unterstellung einer Annahme, erkennen zu können oder etwas erkennen zu müssen würde Denken nichts – und sei es nur in vorläufiger Absicht – feststellen können. Der Mundus offenbart sich somit als immer gleichermaßen gemacht und angenommen. In welcher Weise er aber als gemacht oder angenommen konfiguriert erscheint, ist nicht definitiv festzulegen – sondern gleichermaßen einem Spiel von Annahme und Machen ausgesetzt. Das Denken des Mundus als Spannungsfeld von Gemachtem und Angenommenen wird somit jene unendliche Orientierungsaufgabe, die im Spannungsfeld der Unterstellung und InFrage-Stellung fort-wirkt. Sie fordert das Denken dessen, was es denkt, über die Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeitsbedingungen fortlaufend heraus, bleibt aber gezwungen, sich – für den Moment – für eine Welt, einen Ort, eine Perspektive zu entscheiden – ohne jemals davon ausgehen zu können, dass die Entscheidung, die Gründe haben mag, ein Fundament hat. Damit wird das Denken und Deuten des Mundus – in wie gesagt heuristisch-pragmatischer Perspektive anvisiert – zur unabschließbaren Aufgabe für dieses Denken und Deuten, bezogen auf den Mundus und auf sich selbst. Es gibt keinen Weg, der den Mundus vermessen, abschließend umrunden, ihm ein definitives Koordinatensystem zuschreiben könnte – es gibt nur jene unendlichen Passagen, ›Seewege‹ ohne festen Boden, ohne festen Verlauf, die immer neu zu machen, nicht aber vorzufinden und in definitiver Weise zu beschreiben sind. Und damit scheint zugleich auf, in

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58 | Jens Badura welchem Sinne Mondialisierungen als Herausforderungen für das Denken zu begreifen sind – jenseits pragmatischer Problemlösungen: Es geht beim Bedenken der Mondialisierungen darum, das etablierte Denken des Mundus, ja das etablierte Denken selbst einer Revision zu unterziehen, es als ein Denken ohne festen Boden zu konzeptualisieren und von dort her zu fragen, wie sich in diesem Konzept-Kontext vernünftige Praxis begreifen und vollziehen lässt.11 Wie aber lässt sich nun vor diesem Hintergrund dasjenige topographieren, was uns als Lebenswelt im Modus der Heteromondialität entgegentritt, um dann die Frage nach konkreter Orientierung als konkrete Frage stellen und klären zu können? Ich möchte dazu den Mundus – wie gesagt in heuristisch-pragmatischer Perspektive – als unabschließbare Interpretationsaufgabe verstehen, im Rahmen derer zwischen basisweltlichen und konstellationsweltlichen Postulaten zu vermitteln ist und in die sich im Zuge dieser Vermittlung das heuristische Spannungsfeld von Annahme und Gemachtheit des Mundus einschreibt – über das Motiv des Gründens als symbolisierter Form der Orientierungs- und Geltungsstiftungspraxis. Basiswelten bezeichnen dabei jene Dimensionen des Mundus, in denen fester Grund bzw. ein Boden, auf dem man stehen und gehen kann, unterstellt wird – auf diese wird begründend Bezug genommen. Konstellationswelten hingegen spielen in der heuristischen Konstruktion die Rolle dynamischer Optionsräume, in denen es nicht den festen Grund gibt, sondern nur mehr oder weniger flüchtige Konstellationen von Gründen im Plural, die ihre je Wirklichkeit als Grund aus der Wechselwirkung zueinander immer erst generieren. Solche Konstellationen können in ihrer jeweiligen Zusammensetzung ergründet, nicht aber als Varianten eines (basisweltlichen) festen Grundes, auf den sie ihrerseits begründet sind, gedeutet werden – wie sie auch selbst nicht ›fester Grund‹ werden können, auf den man etwas ›begründen‹ könnte. Vor diesem Hintergrund lassen sich Basis- und Ergründungswelten nun auch durch verschiedene Wirklichkeitsmodelle charakterisieren, die als komplementäre Versionen aber stets aufeinander bezogen bleiben: In Basiswelten wird mit Verweis auf zwingende Wirklichkeiten operiert (z.B. Kausalitäten), in Ergründungswelten hingegen geht es um einen anderen Wirklichkeitstyp: Wirklichkeiten sind hier möglich gedacht, nicht notwendig – weshalb man es in Konstellationswelten mit möglichen Wirklichkeiten zu tun hat und diese stets ins Verhältnis mit den als zwingend angenommenen Wirklichkeiten setzen muss. Die Komplementarität von Basis- und Konstellationswelten ist jedoch – und das ist ein Punkt von zentraler Bedeutung für die hier vorgeschlagene Sicht der Dinge – immer nur innerhalb einer symbolischen Ordnung zu begreifen – sie ist eben kei11 | Zu einer ähnlichen Diagnose gelangt Derrida bei seiner Analyse der Möglichkeiten einer Beschreibung der ›Welt der kommenden Aufklärung‹ (Derrida 2003).

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ne von höherstufiger Perspektive aus festzustellende, ihrerseits objektivierbare Größe. Sie ist eine erdachte Komplementarität, welche sich im sprachlichen Ausdruck zeigt – und es ist innerhalb der symbolischen Ordnung der Sprache, in der die jeweilige Formation von Basis- und Konstellationsweltzuordnung stattfindet. Daher kann, um dem Folgenden vorzugreifen, das Topographieren des Mundus als je spezifisch sich äußernde Variante der Herstellung einer Kohärenz von Basis- und Konstellationswelt verstanden werden oder, etwas schärfer formuliert, als ein Kampf um Allokationen von basis- und konstellationsweltlichen Weltdeutungsoptionen.12 Um das Ganze nicht zu schnell in eine eher schlichte Dialektik zu entlassen, ist das korrektive Gegeneinander von Be- und Ergründung zu ergänzen: Beide Stoßrichtungen sind konstruktiv und geltungsschaffend, also darauf gerichtet, etwas Sinnvolles zu tun, etwas Vernünftiges aus der unterstellten Situationsdeutung zu machen – Optionen für das Denken und Handeln in Geltung zu setzen. Begründungsbemühungen zielen darauf, rationale Konstruktionen auf festem Grund zu errichten, Ergründungsbemühungen hingegen darauf, eine rationale Konstellation von Gründen zu schaffen. Auch wenn eine Konfrontation der beiden Strategien – insbesondere hinsichtlich der Zuweisung von basis- und konstellationsweltlicher ›Zuständigkeit‹ – eine Art von Korrektiv darstellt, weil in dieser Konfrontation die unabschließbare Allokation von Deutungen der modalen Logik des Mundus als Indiz der Kontingenz jeglicher Deutung des Mundus aufscheint: Immer bleibt eine Orientierung darauf im Spiel, dass Aussagen über Konstellations- und Basiswelt sowie Aussagen über das Verhältnis beider in Geltung gebracht werden können. Um daher im Rahmen der heuristischen Strategie, welche ich vorschlagen möchte, nicht nur konstruktive (auch wenn sie kritisch-konstruktiv sein mögen) Impulse einzutragen, sondern der Kontingenzdiagnose direkt Rechnung zu tragen, ist eine dekonstruktive Dimension von Nöten: Entgründung – oder, anders formuliert, das immer neu Bezeugen der Unmöglichkeit definitiver Deutungen, seien sie nun im Modus zwingender oder möglicher Wirklichkeiten verfasst. Um somit der Flüchtigkeit des (Hetero-)mundus gegenüber den Versuchen, ihn konzeptuell zu repräsentieren, gerecht zu werden, ist die aktive Ent-sicherung von Begründungen wie Ergründungen nötig. Entgründung bezeichnet dabei eine Praxis fortlaufender Differenzherstellung im Sinne einer Differenzierung, deren Anliegen es ist, auf die Immer-anders-Möglichkeit zu deuten. 12 | Natürlich die begriffliche Anleihe beim »Kampf um Anerkennung« (Honneth 2003) kein wirklicher Zufall: Denn, zumindest der Intuition nach, sehe ich durchaus gewisse Möglichkeiten, die Hegel-Honneth’sche »Anerkennung« so zu konzeptualisieren, dass es eine bestimmte Allokation basis- und konstellationsweltlicher Positionen ist, für die anerkannt zu werden man ›kämpft‹. Das aber bleibt für den Moment das, was es (noch) ist: Eine Intuition …

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60 | Jens Badura Es sind somit zu unterscheiden: a) die heuristische Differenzierung zwischen Basis- und Konstellationswelten mit ihren je spezifischen Wirklichkeiten, b) die auf diese Welten zugreifenden Modi der Bezugnahme (Be-Gründen/Er-Gründen) und c) Entgründung, die den kontingenten Charakter jeglicher Grundbezugnahme zu bezeugen bemüht ist. Begründung, Ergründung und Entgründung stellen unterschiedliche Vektoren des Denkens dar – Annahme, Schaffung und Bezweifelung – aus deren Kräftespiel sich Orientierung im Mundus speist.

3. Sondiert man vor diesem Hintergrund Möglichkeiten und Grenzen der Bestimmung von normativ-moralischer Verbindlichkeit im Mundus und im Rahmen von Mondialisierungen, so wird schnell deutlich, dass die etablierte Forderung nach ›Begründung‹ einer moralischen Normierung dessen, was im Mundus als Mondialisierungen sich vollzieht, nicht sonderlich überzeugend ist. ›Moralisch‹ kann hier in zwei Weisen verstanden werden: Zunächst im Sinne einer stark deskriptiven Konzeption, die unter Moral all jene Normierungen versteht, die darauf zielen, die Möglichkeitsbedingungen individuellen Daseins angesichts des Umstandes sicherzustellen, dass dieses Individum nicht allein auf der Welt ist, sondern der Mundus immer von eine Pluralität von Individuen konstituiert wird, also Normierungen nötig werden, weil das Ganze sonst nicht funktioniert. Eine normativ gehaltvollere Bestimmung von Moral könnte so ausfallen, dass man unter spezifisch moralischen Normierungen jene versteht, die das individuelle gute Leben im Kontext anderer individueller guter Leben vernünftig zu organisieren trachtet. Dann fragt sich aber sogleich, was ›gutes Leben‹ heißt, welches das Kriterium dafür ist, einen Organisationsmodus als ›vernünftig‹ auszuzeichnen und in welchem Sinne ›organisieren‹ gemeint ist: als Erzeugung von Orientierungsmaßstäben oder aber als fortlaufende Bemühung um Selbstorientierung?13 In der philosophischen Tradition wurde – je nach Schwerpunktsetzung – Ethik im Sinne der Moralreflexion eher auf die Frage nach dem guten Leben oder aber jene nach der Vernunft zugespitzt und es wurde der Organisationsanspruch, den Ethik zum Ziel hat, 13 | An anderer, auf diese Frage konzentrierter Stelle habe ich diese Aspekte ausführlicher diskutiert und würde das dort Dargelegte trotz einiger denkevolutiver Verschiebungen zumindest im Grundsatz weiter behaupten, vgl. Badura (2002: Kap. 1 und 2).

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mal als reflektierte Deklaration von Orientierungsmaßstäben, die orientieren sollen, mal als Hilfe zur »Selbstorientierung« (Luckner 2005) verstanden. Es ist hier nicht der Raum, diese Fragen zu diskutieren – gleichwohl kann aber der durch die Tradition gelieferte Sachstand in Sachen ›Ethik‹ hilfreich dabei sein, zu illustrieren, in welchem Sinne das Phänomen ›Mondialisierungen‹ und die Frage nach der Möglichkeit von Moral (im zweitgenannten, normativ imprägnierten Sinne) überhaupt noch im Sinne einer klar formulierbaren Problemstellung zu formulieren ist: Denn wenn, wie es die vorangehende Skizze zu verdeutlichen versucht hat, Orientierung schlechthin – also auch moralische Orientierung – als ein fortlaufender Prozess im Spannungsfeld von Be-, Er- und Entgründung verfasst ist, wenn zudem der Mundus als Heteromundus eine unendliche Pluralität von Möglichkeiten des Menschseins in Wechselwirkung bringt: Ist es dann noch sinnvoll, ›individuelles gutes Leben im Kontext anderer individueller guter Leben in vernünftiger Weise organisieren zu wollen‹? Woher, so zu fragen läge nahe, soll denn der Maßstab kommen, aus dem diese normative Konzeptualisierung des Denkens von Ethik als Auseinandersetzung mit dem Moralischen ihre Geltung beziehen kann?14 Was wäre denn, wenn es eine unbegrenzte Menge von Möglichkeiten des Menschseins gibt, der Maßstab dafür, überhaupt etwas als im Relevanzbereich eines guten Lebens oder aber in den Autoritätsbereich einer Vernunft genannten Metarationalität zu stellen? Diese Fragen sind übrigens nicht jene, die ein affirmativer Relativismus stellen würde und die als Problemstellung an ihn zurückgegeben wurden – denn dieser Relativismus ermangelte stets einer entscheidenden Komponente der hier versuchten Charakterisierung des Heteromundus: den Effekt der Wechselwirkung, die im gängigen Relativismus-Diskurs (sei er ethnologischer oder kommunitaristischer Provenienz) nicht substantiell zu denken ist als Wechselwirkung, die immer schon stattfindet und daher der Fokussierung auf etwas distinktes (relativ ist schließlich immer etwas mit Bezug auf etwas anderes) durch die Dynamik eines Heteromundus schlichtweg den Sinn nimmt – zumindest jenseits der schon diskutierten ›Unterstellung‹, deren Kontingenz aber nicht dazu taugt, verallgemeinert zu werden. Wenn aber dieser exklusive Relativismus nicht mehr gegenstandsadäquat ist – wie steht es dann um seinen klassischen Gegner, den Universalismus? Nun, da scheint die Sache ohnehin recht deutlich: Eine universale Perspektive scheint es in mondialem Modus nicht mehr geben zu können – und das ›nicht mehr‹ ist keine Trauerformel, sondern eine vergleichsweise nüchterne Beschreibung der treibankerhaften Rahmenbedingungen, in de14 | Auf den Einwand, dass die dargelegte Beschreibung des Moralischen ja keineswegs selbstverständlich sei, wäre zu antworten, dass die hier adressierte Problematik auf jede Beschreibung zutrifft, die der Ethik eine distinkt-definite Fragestellung zuschreibt.

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62 | Jens Badura ren es sich heute vollzieht.15 Es ist also letztlich der gleiche Grund, der eine relativistische und eine universalistische Perspektive als exklusive Perspektive obsolet werden lässt: der universale Anspruch auf Exklusivität, den beide darauf erheben, den Mundus grammatisch definieren zu können. Nicht obsolet hingegen scheint mir mit Blick auf eine Konzeptualisierung des Ethischen im Blick auf den Heteromundus, eine Denkfigur, die Universalität und Relativität zugleich denkt – und zugleich stets in genau jener heuristischen Spannung verfasst –; die Be-, Er- und Entgründung als komplementäre Komponenten der Orientierungspraxis ausbildet.

4. ›Globalisierung‹ und Ethik – das heißt allerdings heute meist genau jene Dichotomie, deren unfruchtbarer Exklusivitätsanspruch soeben kritisiert wurde. Ja, es gibt da auch noch jenen Pragmatismus des Rekurses auf bestehende Völkerrechtsverträge, den etwas hilflosen Anruf einer unantastbaren Menschenwürde, das Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte usw. – aber das alles hat ja nun mit Ethik im reflexiven Sinne nicht wirklich viel zu tun. Ein Bedenken des Verhältnisses von Mondialisierungen und Ethik, eine Konstellation also, wo die Frage nach den Möglichkeiten moralischer Normativität im Heteromundus zieloffen durchzuarbeiten und auszutragen die Absicht wäre, scheint mir heute eine eher randständige Angelegenheit zu sein. Daher nochmals in Kürze das, was im Lichte einer solchen Perspektive nicht mehr geht: Es lässt sich der Mundus nicht als ein normativitätsgrammatisch gleichsam prästrukturierter Raum begreifen, der bereits die Verfassung, den einen definitiven Ordnungsrahmen zur Koordination lebenspraktischer Mit-Menschlichkeit repräsentiert: Sei es die Idee kriterial rekonstruierbarer und für alle gleichermaßen verbindlich gesetzter Vernunft (was etwas anderes ist als ein Appell, ›vernünftig zu sein‹ – darauf komme ich noch zurück), sei es die Unterstellung einer alle Differenzen übergreifenden Disposition zur Mitmenschlichkeit, sei es die Bestimmung eines verbindenden Wesens oder einer Natur des Menschen. Manchmal findet sich auch – mehr oder weniger verdeckt – eine Figur des Typs ›Was nicht sein soll, kann nicht sein‹ – insbesondere dann, wenn die ›Unantastbarkeit der Menschenwürde‹ oder aber die unbedingte Geltung der Menschenrechte nicht im Sinne einer wünschbaren postuliert wird. Die in Wechselwirkungen sich befindenden, mannigfaltig sich verwirklichenden Möglichkeiten des Menschseins lassen sich auf diese Weise kaum fassen: ›Alles ist immer anders möglich als je verwirklicht‹, heißt in der Sprache des Normativen, dass es keine eine Vernunft gibt, vor deren Gerichtshof das Handeln sich zu 15 | Vgl. dazu Badura 2004.

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rechtfertigen hat, dass es nicht die Natur des Menschen gibt, dass schließlich nicht der Begriff der Menschenwürde oder das Set an Menschenrechten den Mundus prästrukturiert, aus ihm einen »gekerbten Raum« (Deleuze/Guattari 1992: Kap. 14) werden lässt. Weiter heißt es, dass weder eine Universalmoral noch ausschließlich exklusive Partikularmoralen eine Lösung des Problems sein können – und zwar genaus deshalb, weil alle anstreben, die Lösung zu sein. Es handelt sich jeweils um »abgeschlossene Vokabulare« (Rorty 1989: 127) – und deren Intention mag zwar vor dem Hintergrund einer tiefengrammatisch eingefahrenen Denktradition des Entweder-Oder nachvollziehbar sein und dem Denken und Handeln einen dichotom gesicherten Rahmen bieten, doch stellt dieser auf exklusive Binarität hin reduzierende Rahmen eine Vereindeutigung des Vieldeutigen dar. Anders formuliert: Ihnen fehlt das, was Rorty als ironische Haltung charakterisiert hat16 und was in meinem Vorschlag als die unabschließbare Differenzierung im Spannungsfeld der Vektoren Begründung, Ergründung und Entgründung beschrieben wurde. Denn hier tritt zu jeder Vereindeutigung eine Veruneindeutigung, sodass Eindeutigkeit als solche im Vollzug des Denkens keinen Ort mehr hat. Wenn also angesichts des Mundus, in dem und durch den das Menschsein seine Möglichkeiten mannigfaltig und immer anders verwirklicht, dem Denkstil der ungebrochenen Vereindeutigung die Angemessenheit abhanden kommt – was wäre die Konsequenz, was wären mögliche Lösungen (nicht die Lösung), wie sähe ethisches Nachdenken, wie eine mögliche Refe16 | Rorty charakterisiert die ›Ironikerin‹ wie folgt: »›Ironikerin‹ werde ich eine Person nennen, die drei Bedingungen erfüllt: (1) sie hegt radikale und unaufhörliche Zweifel an dem abschließbaren Vokabular, dass sie gerade benutzt, weil sie schon durch andere Vokabulare beeindruckt war, Vokabulare, die Menschen oder Bücher, denen sie begegnet ist, für endgültig nahmen; (2) sie erkennt, dass Argumente in ihrem augenblicklichen Vokabular dieses Zweifel weder bestätigen noch ausräumen können; (3) wenn sie philosophische Überlegungen zu ihrer Lage anstellt, meint sie nicht, ihr Vokabular sei der Realität näher als andere oder habe Kontakt zu einer Macht außerhalb ihrer selbst. Ironikerinnen, die einen Hang zur Philosophie haben, meinen weder, dass die Entscheidung zwischen Vokabularen innerhalb eines neutralen und allgemeinen Meta-Vokabulars getroffen wird, noch dass sie durch das Bemühen gefunden wird, sich durch die Erscheinungen hindurch einen Weg zum Realen zu bahnen, sondern dass sie einfach darin besteht, das Neue gegen das Alte auszuspielen.« (Rorty 1989: 127f.) Interessant ist mit Blick auf die Rorty-Rezeption, dass fast nie zur Kenntnis genommen wird, welchen Zusammenhang es auch bei ihm zwischen Ironie und Romantik gibt: Rortys Perspektive einer Pluralität, die pragmatische Wege finden wird, es miteinander auszuhalten, ist romantisch – und genau deshalb spielt die Ironie eine so große Rolle: Denn die Rorty’sche Romantik ist nicht naiv wie jene mancher Multikulti-Akteure, sondern klassisch in dem Sinne, dass sie um ihre Romantizität weiß und in permanenter Selbstironie hantiert.

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64 | Jens Badura renz auf die Vernunft aus? Zunächst ist festzuhalten, dass aus dem Gesagten ein kaum bestreitbares Relativitätspostulat folgt. Doch ist eine solche Relativität weder – wie in der klassischen Version des ethischen Relativismus – unüberwindlich noch ist sie durch ein höherstufiges Prinzip, das als ›tertium comparationis‹ fungiert, nur eine unvollständige Perspektive, die es schnellstmöglich zu überwinden gilt – so wie es der klassische Universalismus behauptet. Diese Relativität ist vielmehr konstellar und dahingehend veränderlich, dass sich ihre Relationen stets neu und anders bilden – aus der fortlaufenden Konfrontation und Durchdringung differenter Möglichkeiten des Menschseins, die sich je selbst verändern bzw. fortlaufend anders werden. Es ist keine Relativität zwischen abgeschlossenen Einheiten, sondern die stete Bildung neuer Relationen, welche die Einheiten selbst verändern, anders möglich und wirklich sein lassen. Der Mundus als Relationsraum differenziert sich fortlaufend von dem, was je wirklich gewordene Möglichkeit ist, hin auf andere Möglichkeiten, so dass jede aktuelle Pluralität von Wirklichkeits-Einheiten auf die Möglichkeiten hin ausgreift. Das Universum, welches hier univers ist, ist jenes der Möglichkeiten. Und dieses Universum der Möglichkeiten, das allen Wirklichkeiten offen steht, ist zugleich ein, vielleicht der einzige, Bezugsrahmen, innerhalb dessen alle Wirklichkeiten, alle Verwirklichungen gleich sind – und doch als je ganz andere. In diesen Fluchtraum hinein öffnet sich zugleich die Möglichkeit der Gemeinsamkeit – dieser Fluchtraum bietet eine Option, ethisches Nachdenken gemeinsam entstehen zu lassen, die Wirkliches miteinander möglich werden lässt. Ethik in diesem Sinne der durch den Mundus eröffneten Möglichkeit, gemeinsam wirklich zu sein, folgt keiner durch einen gegebenen Rahmen repräsentierten Autorität mehr, einem ›tertium comparationis‹, das als vorgängige Gemeinsamkeit jeglicher Möglichkeit des Menschseins als normativ relevant unterstellt werden könnte, sondern wird im ins Vernehmen gebrachten Austrag konkreter Differenzen zwischen verwirklichten Möglichkeiten des Menschseins immer neu gestiftet – immer dann, wenn diese sich in ihrer Verwiesenheit auf die zukünftige Möglichkeit eines Miteinanders einlassen. Normativität und Verbindlichkeit entstehen und entwickeln sich im Zuge dieser Stiftung – und mit ihnen all die institutionellen Regelungen, in denen sich Normativität praxisregulativ manifestiert. Doch diese Stiftung muss sich ergeben und bedarf dazu der Einlassung. Sie bleibt in der Schwebe zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Annahme und Konstruktion, zwischen Geben und Nehmen. Sie bedarf der Unterstellung von Grund, der Konstellation von Gründen, der Dekonstruktion jeder Fiktion, dass Grund und Gründe ein für alle Male zusammenpassen, ihre Rollenverteilung im orientierenden Erschließen des Mundus definitiv sein könnten. Kein Gesetz der Vernunft, keine Natur des Menschen, kein Imperativ des sachzwänglichen Reaktionsgebots kann diese Nötigung zur Einlassung auflösen, ohne zugleich den Mundus unangemessen einzuschränken, ihn auf bestimmte

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Möglichkeiten des Menschseins zu reduzieren, ihn zu kerben, ohne dabei aus ironischer Distanz eine andere Kerbe so zu denken, dass jene geglättet wird. Was aber, so läge es nahe nachzufragen, stellt denn sicher, dass jemand sich einlässt? Bedarf es nicht genau dieser Sicherstellung, damit Ethik irgendeinen Sinn macht? Die Frage zielt auf den Kern: Nicht stellt sicher, dass Einlassung geschieht – und zwar nicht deshalb, weil es ein ambitioniertes Vertrauen auf den guten Willen gibt, sondern deshalb, weil es keine Möglichkeit der Sicherstellung gibt, weil – und das ist nur eine andere Weise, ›Mundus‹ zu sagen – die Möglichkeiten des Menschseins sich nicht durch definitive Muster begrenzen lassen. Auch wenn diese Erfahrung keine prinzipiell neue Erfahrung ist17, lässt sich doch konstatieren, dass sie als kollektive Erfahrung, als Massenerfahrung eher neueren Datums ist und in zeitlicher, aber – so sollte es der erste Teil des Beitrags verdeutlichen – auch in konstellarer Beziehung zu dem steht, was in der besagten Massenkultur als ›Globalisierung‹ bezeichnet wird.

5. Mondialisierungen, so hieß es oben, lassen aus der abstrakten ›Menschheit‹ eine konkrete Menschheit werden. Als abstrakte Kategorie mag ›die Menschheit‹ mancherlei Spekulation über die ultimativen Wesenseigenschaften des Menschen ermöglicht haben – die sich in Mondialisierungen konkretisierende Menschheit aber, die uns in wirklichen und möglichen Wirklichkeiten je konkret mittelbar wie unmittelbar betrifft, ist durch solche Kategorien nicht angemessen erfasst. Ebenso wenig lässt sich abstrakt eine universale Ethik für ›die Menschheit‹ formulieren und durch ein Prinzip festschreiben – denn die Sprache dieser Ethik wäre immer eine definite Sprache und keine, die es erlauben würden, Be-, Er- und Entgründung im substantiellen Sinne verstanden fortlaufend zuzulassen – und in Folge darauf zu vertrauen, dass sich viele darauf einlassen. Das heißt nun aber nicht, dass nichts bliebe als ein passives Hoffen – denn wie oben dargelegt verändern und beeinflussen sich Konstellationen – und man sich in ihnen –, bilden Neues, nehmen eine Welt an, machen etwas aus ihr, verwerfen die Annahme und unterstellen eine andere – im Vertrauen darauf, dass es immer anders möglich ist und man die Freiheit dazu hat. Genau das wäre deshalb der Weg, den ethisches Nachdenken heute ge17 | An dieser Stelle ließe sich nun ein kapitaler Appendix produzieren mit Zeugnissen der Unbegrenzbarkeit der Möglichkeiten des Menschseins – doch ich möchte es bei einem wohl für sich sprechenden und dennoch weitgehend willkürlichen und konventionellen ›name-dropping‹ einer bestimmten Art und Weise, darauf zu reagieren belassen: De Sade, Goya, Bataille, Pasolini …

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66 | Jens Badura hen könnte: Statt prinzipieller Konzepte, die den Mundus zu einem gekerbten Raum zu-richten, wäre nach einer Kultur der Orientierung zu streben, die sich zwischen Be-, Er- und Entgründung aus-richtet, die in den Anders-Möglichkeiten ihre Hoffnung sucht und immer wieder auch findet. Ethik wäre eine Ethik im Hier und Jetzt, die weder im Gestern noch im Morgen eine Evidenz zu finden vermag, die nicht auf einen festen Boden oder aber eine Evidenz der Bodenlosigkeit zu verpflichten versucht – wohl aber das immer anders Mögliche als etwas zu denken bemüht bleibt, das auch die Möglichkeit bieten könnte, miteinander zu leben. Mit einer solchen Haltung – ja, es ist nicht mehr als eine Haltung – wäre es vielleicht möglich, vom Mythos der ›Globalisierung‹ zu einer Praxis der Mondialisierungen überzugehen, jene Passagen-Moderne in wirklichen Möglichkeiten sich ausdrücken zu lassen. Dazu aber braucht es mehr als gute Worte und neue Theorien – dazu braucht es tätigen »Widerstand gegenüber der Gegenwart« (Deleuze/Guattari), der von A wie Alternativen bis Z wie Zu-Mutung reicht. Dazu braucht es Aktivitäten, die im Namen des ›Anders möglichen‹ darauf hinwirken, dass alle auch andere Möglichkeiten haben. Dass der Heteromundus eine wirklich mögliche Wirklichkeit wird.

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Philosophie der Mondialisierungen und Mondialisierung der Philosophie François de Bernard »Obgleich dieser Staatskörper für itzt noch sehr im rohen Entwurfe dasteht, so fängt sich dennoch schon ein Gefühl in allen [zukünftigen] Gliedern, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist, an zu regen; und dieses gibt Hoffnung dass, nach manchen Revolutionen der Umbildung, endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein weltbürgerlicher Zustand, als der Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde.« (Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht)

1. Von der Mondialisierung der Philosophie … Eine Philosophie der Mondialisierungen tut gut daran darüber nachzudenken, in welchem Sinne sie selbst als Philosophie – von der Antike bis zur Gegenwart – Gegenstand einer Mondialisierung gewesen ist. Denn will Philosophie in der Lage sein, mondial zu denken bzw. ein mondiales Denken zu ermöglichen – als Philosophie, die eine Teilhabe anbietet, als Philosophie, die ein Paradigma bereitstellt, das in der Lage wäre, die heute eher lahmende internationale Debatte auf eine erfolgversprechende Basis zu stellen, dann muss sie sich auch mit den Modalitäten ihrer eigenen Mondialisierung befassen, und nach Konsequenzen wie auch Optionen fragen, die sich für eine mondialisierte Philosophie zukünftig – in Forschung und Lehre – ergeben. Neben einer ›Philosophie der Geschichte der Mondialisierungen‹, die mit jedem Tag unverzichtbarer scheint – von Hegel bis Jacques Le Goff – wäre daher auch eine eigenständige ›Geschichte der Mondialisierung

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70 | François de Bernard der Philosophie‹ überaus wünschenswert.1 Tatsächlich hätte eine solche Geschichte – die sicherlich nicht am Nullpunkt anfangen müsste – nicht nur historischen Wert oder wäre nur eine Begleitung des eigentlichen philosophischen Projekts. Im Gegenteil: Sie hätte einen zentralen Platz einzunehmen, sowohl hinsichtlich der Entwicklung der Philosophie selbst als auch hinsichtlich deren Rolle für das kosmopolitische Denken im Allgemeinen – in einer Tradition, die von Aristoteles über Kant bis Habermas reicht. Jenseits der allgemeinen Feststellung, dass jede Disziplin heute deutlicher Fortschritte hinsichtlich des Denkens ihrer je eigenen Mondialisierung bedarf, Formen und Inhalte betreffend, gilt für die Philosophie im Besonderen zu klären, in welchem Verhältnis sie zu ihrem eigenen Konzept von Welt (Monde) und, daran anschließend, der Mondialisierung steht. Aus einer historischen Analyse der Mondialisierungen der Philosophie von der Antike an über Mittelalter, Renaissance und Moderne bis in die Gegenwart2 könnten einige Lehren gezogen werden, die auch für die Mondialisierungen anderer Bereiche interessant wären. Denn die Art und Weise, in der die Philosophie sich entwickelt, ihre Formen gefunden, sich institutionalisiert und verbreitet hat – trotz aller Hindernisse in Zeit und Raum und jenseits der ökonomischen Globalisierung –, stellt an sich schon eine bemerkenswerte mondialisierende Bewegung dar – die in all ihren Konsequenzen zu untersuchen wäre. Die Weise, in der sie jegliche Art von Grenzen überschritten und Eingang in Gesellschaften gefunden hat, die eigentlich keinen Grund hatten, ihr a priori mit Sympathie entgegenzutreten, wie sie sich als Disziplin und Lehre einen Respekt erwarb, der ideologische, politische und kulturelle Spaltungen zu überwinden vermochte: Das alles zusammengenommen stellt für jedes Mondialisierungsprojekt ein wertvolles Beispiel dar. Die Philosophie hat sich erfolgreich mondialisiert – ohne dass dies evident und im vorhinein gesichert gewesen wäre. Es reicht, ein weiteres Mal an die Feindschaft zu erinnern, die Sokrates entgegengebracht wurde – bis hin zu Gefangenschaft und Tod –, um zu ermessen, dass ein solches Schicksal die Philosophie auch im Ganzen hätte treffen können. Doch trotz des Todes von Sokrates, trotz der unzähligen und vielfältigen Schwierigkeiten, denen Philosophen sich seither bei Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt sahen, hat die Philosophie ihren Weg inmitten unterschiedlicher Welten fortgesetzt und sich dabei, in verschiedenen und zuweilen komplementären Wellen, mondialisiert.

1 | Eine solche Geschichte der Mondialisierung der Philosophie ist das zentrale Thema des ›philosophischen Romans‹ »Sphären II« von Peter Sloterdijk (1999). 2 | Vgl. dazu den Artikel von Yves Laberge: »La mondialisation de la philosophie: la réappropriation des idées selon les cultures. L’exemple de Gaston Bachelard« (Laberge 2003).

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2. … zur Philosophie der Mondialisierungen? Die Mondialisierung der Philosophie war nicht einfach gegeben, sie ist entstanden und hat dabei ihre eigene Effektivität entwickelt. Mehr noch: Sie verstummt nicht, sie gibt nicht auf, sondern sie schreitet fort, trotz all der sozialen, administrativen, und politischen Hemmnisse, der immer neuen Behinderungen ihrer freien Ausübung, der immer und überall Kräfte entgegenstehen, die eine freie Philosophie nicht woll(t)en. Sie hat durch das Vorantreiben einer Teilhabe am Denken einen mondialen Weg zurückgelegt, mit der Besonderheit, auf diesem Weg nur ein Minimum an strategischer Absprache mit politischen, ökonomischen, intellektuellen oder kulturellen Machthabern gesucht zu haben und, so bleibt zu unterstreichen, sich fernzuhalten vermochte von den ›Zwängen des Marktes‹, dem ›Gesetz des Marktes‹, sei es im Feld der Finanz-, Handels-, Verlags- oder Ausbildungsmärkte. Die Kompromittierungen erwiesen sich als marginal (trotz der üblichen Klagen der Wissenschaftlergemeinschaft, die allen Disziplinen und Wissenschaften zu eigen ist), die Philosophie blieb Philosophie von Jahrtausend zu Jahrtausend, was an sich schon eine Leistung darstellt, und sie blieb es, ohne dass ihre Identität, ihre Würde, ihre Unbeugsamkeit im Kern bedroht gewesen wäre. Im Gegenteil, wenn man es als Anerkennung ausdrückt, könnte man sagen, dass sie »wirklich gut dasteht«, hier und heute. Allerdings steckt in dieser Geschichte mehr als eine nur symbolische Dimension. Denn es tritt noch etwas anderes zu Tage als das Paradigma der philosophischen Teilhabe im Sinne eines mitteilenden Denkens. Und das ist die Idee, die Mondialisierung der Philosophie zum Modell aller Mondialisierungen zu machen – seien sie wissenschaftlicher, künstlerischer, sozialer, politischer oder humanitärer Art – aller Mondialisierungen also, die sich außerhalb des Marktes vollziehen, in dem Sinne, dass sie für sich reklamieren, nicht vorgegebenen Marktgesetzen untergeordnet zu werden. Es geht also darum, die Mondialisierung der Philosophie zum Vorbild zu nehmen, weil sie es, ohne übermäßige Zugeständnisse ihr ureigenes Feld betreffend gemacht haben zu müssen und dabei stetig im Modus des mitteilenden Denkens voranschreitend3 – vermochte, Mondialisierung ›zu machen‹.4

3 | Vgl. zu diesem Thema auch den schönen Text der Philosophin Tanaella Boni »L’inégal partage des savoirs« (2001) wie auch ihren Artikel »Partage des savoirs« für das »Dictionnaire critique de la mondialisation« (2002). Hervorzuheben ist dabei insbesondere die im ersten der genannten Texte gegebene Definition und Erweiterung der Idee von Teilhabe: »Wir müssen zeigen, dass es andere Typen von Teilhabe gibt, die sich nicht auf das Problem der Verteilung oder der Aufteilung zwischen arm und reich reduzieren lassen. […] Wenn wir heute feststellen müssen, dass es eine Ungleichverteilung von Wissen gibt, dann deshalb, weil die Teilhabe am Wissen als eines gemeinsamen Gutes der Menschheit noch nicht ver-

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72 | François de Bernard Vor diesem Hintergrund sollte die Philosophie nicht ihre übliche Zurückhaltung an den Tag legen. Denn, und das ist zu unterstreichen, die anderen Wissenschaften, Disziplinen und Tätigkeitsfelder warten heute nicht nur auf tragfähige und hilfreiche Ansätze, die an die Stelle untauglicher Mondialisierungs-Konzepte treten könnten. Sie zählen ebenso darauf, am Beispiel gelungener Mondialisierungen anschaulich zu erfahren, dass andere Mondialisierungen möglich sind als jene, die heute massiv die Bühne des aktuellen Geschehens dominieren – Mondialisierungen somit, die nach anderen Spielregeln, mit anderen Funktionsmechanismen ablaufen, die auf andere Ziele hin und zu anderen Konsequenzen führen. Wenn also die Philosophie mit etwas Selbstbewusstsein zu ihrer Geschichte steht – was sie unzweifelhaft könnte –, sollte sie auch das Anliegen verfolgen, soweit als möglich das Positive dieser Geschichte zu vermitteln und als ernsthafte Alternative dafür anbieten, was Mondialisierung und ›sich mondialisieren‹ heißen kann. Sie würde dann, indem sie ihre eigene Geschichte als ein jahrtausendealtes Experimentieren mit Mondialisierungen in den Blick nimmt, darauf zielen, ein Konzept von Mondialisierungen zu entwickeln, das über sie hinaus und in andere Disziplinen wie Geschichte und Anthropologie hinein weist.

3. Die Bildung einer wirklich kritischen Beurteilung der Mondialisierungen möglich machen Das Projekt – noch unbestimmt, komplex, anspruchsvoll – einer Philosophie der Mondialisierungen wäre nicht mit dem einer – auf instrumentellen Nutzen und Marktgängigkeit zielenden5 – Philosophie der Mondialisierung gleichzusetzen.6 Letztere würde Philosophie in den Dienst soziopolitischer Ziele stellen, kurz: Sie wäre das philosophische Deckmäntelchen für eine wirklicht ist. Was zählt ein Wissen, das weder gesehen noch anerkannt ist, das nicht mit anderem Wissen in Dialog treten kann?« 4 | »Die Bedingung für eine gelungene Mondialisierung ist der Erhalt und die Stärkung der Diversität von Identitäten und Kulturen. Für konstruktive Debatten bedarf es ausgeprägter Persönlichkeiten. Soll das Weltkulturerbe nicht verarmen, so darf es nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert werden. Im Gegenteil, es werden Beiträge benötigt, um die Debatte anzureichern – und die Qualität dieser Beiträge hängt meist davon ab, in welchem Ausmaß die Beiträger in ihrer Kultur verwurzelt sind [und dadurch starke Persönlichkeiten werden, Anm. d. Herausgebers].« Lucien Bouchard, Premierminister von Québec, Festvortrag anlässlich der 14. Konferenz der francophonen Völker (Jonquière, Québec, 19.8.1997). 5 | Im Sinne des verkaufsfördernden Marketing, wie es im ökonomischen, sozialen und politischen Kontext zur Anwendung kommt. 6 | Vgl. dazu Guèye (2000) und Badji (2003).

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ökonomische Praxis, die auf einen globalen Maßstab zielt. ›Philosophie der Mondialisierung‹, das heißt: die philosophische Tradition, ihren wissenschaftlichen Apparat, ihre Methoden und Werte in den Dienst eines Projekts der Ökonomisierung und Privatisierung der Welt (bzw. deren Erweiterung und Entwicklung) zu stellen. Das wäre nichts anderes als eine ›Mondialisierung der Philosophie‹, die man reduziert auf den Prozess der Dienstbarmachung und Vermarktung philosophischer Konzepte – unter Preisgabe ihrer Eigenart als Philosophie – im Dienste anderer Projekte. Das kann natürlich passieren – und es ist in gewisser Weise bereits Realität. Die These die ich hier verteidigen möchte, zielt jedoch in die andere Richtung. Denn der Plural der ›Philosophie der Mondialisierungen‹ hat schlichtweg nichts zu tun mit einer derartigen instrumentellen ›Philosophie der Mondialisierung‹. Um es genau zu sagen, fordert das Projekt einer Philosophie der Mondialisierungen die Philosophie als Philosophie – ohne Beschränkung und Kompromiss. Und dieses Projekt beansprucht, etwas zu seiner Sache zu machen, das weder Spielerei noch Provokation, keine reine intellektuelle Bastelei oder bloße Kampfmaschine ist, sondern etwas aufgreift, was heute höchster Aufmerksamkeit bedarf: das Aufeinandertreffen und Zusammenspiel von sich immer schneller verändernden übergeordneten Welten (reellen, virtuellen, imaginären, symbolischen), der humanen Welt und der Erde [orig.: mondes terrien]. Die Welt der privatisierenden Mondialisierungen und der Teilhabe stiftenden Mondialisierungen: Das ist der Gegenstand eines philosophischen Denkens, welches man als ›Philosophie der Mondialisierungen‹ bezeichnen könnte und von der ich von nun an ohne Anführungszeichen sprechen möchte. Und diese Aufhebung der Anführungszeichen ist wirklich herbeizuwünschen, denn die Philosophie der Mondialisierungen ist nicht nur kein verzichtbares Extra – im Sinne einer Liebhaberei neben anderen – sondern vielmehr aufgrund ihrer Problemstellung und als Philosophie in Zeiten extremer Konfusion angesichts dessen, was ›die Welt‹ bewegt7 (Terrorismus, 7 | »Hinsichtlich der Entwicklung des internationalen Systems ist die wohl plausibelste Hypothese jene einer Zunahme der hegemonialen Rolle der Vereinigten Staaten bei der Regelung weltpolitischer Angelegenheiten, anlässlich des Kampfes gegen den Terrorismus. Diese Verstärkung wirkt sich zuweilen als Schwächung der Souveränität eines Großteils der anderen Länder aus und, hinsichtlich der territorialen Dimension, als Ausweitung der militärischen Präsenz der USA. Drei Mechanismen des ›Aufruf des Imperiums‹ könnten sich zudem auf mittlere oder lange Sicht entwickeln: Zunächst könnte man eine Internationalisierung der amerikanischen Staatspolitik erwarten. Durch ein Bewusstsein davon, dass die Verteidigung der USA gegen deterritorialisierte terroristische Netzwerke immer mehr davon abhängt, was sich im Inneren anderer Staaten abspielt – sei es in der entwickelten Welt (vorübergehender Aufenthalt der Terroristen in Hamburg oder London) oder in den Entwicklungsländern (Ausbildung und Kontaktzentren in Pakistan) –, ist es gewiss, dass die

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74 | François de Bernard Kommunitarismus, wiedererstarkender Nationalismus, ökologische Probleme, wachsende Armut etc.), schlichtweg unverzichtbar. Das Unternehmen, um das es geht, kann daher nicht darauf beschränkt bleiben, eine neue und einige alte Schublade(n) im großen Vorratsschrank der Philosophie zu öffnen. Das Zusammentragen der Möglichkeitsbedingungen einer Philosophie der Mondialisierungen, die Bestimmung ihrer Fundamente, machen es für die philosophische Gemeinschaft zur Pflicht, einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen und zwar jenen, der eine solche Philosophie auch im weltumspannenden Maßstab vorantreibt. An anderer Stelle habe ich auf die bedeutenden und wenig umstrittenen Gründe verwiesen, die für eine solche Ausweitung sprechen.8 Ich möchte das hier bekräftigen. Das ›Weitergehen‹ lässt sich deshalb wie folgt zusammenfassen: Es geht darum, die Ausarbeitung und weltweite Verbreitung einer Philosophie der Mondialisierungen zu einem unübersehbaren Projekt zu machen. Alliierten Washingtons stärkerem Druck ausgesetzt sein werden. Die Natur der terroristischen Bedrohung und des Kriegs gegen sie wird unvermeidlich eine Entwicklung des internationalen Systems hin zu einer größeren Konfusion zwischen zwischenstaatlicher und interner Politik zur Folge haben.« (Vaisse 2001) Es bleibt anzumerken, dass sich der Autor bei dieser schon älteren Diagnose kaum getäuscht hat 8 | »Was es zu deprivatisieren gilt, ist das Konzept der Mondialisierung selbst, ein exklusiv ökonomisch-politisches Konzept, das man monotheistisch nennen könnte und für das es nur eine (gleichförmige) Bewegung gibt: dass die Ökonomie sich in alle anderen Bereiche menschlicher Aktivitäten verbreitet. Man kann sich vorstellen, dass diese Deprivatisierung andere Wege beschreiten muss als jene, die darin bestehen, einen Ansturm mit Pro- oder Kontra-Argumenten zu starten. Vielmehr ist an den unterschiedlichsten Orten zu zeigen, dass jenes von Politik, Managern und Medien als die ›Mondialisierung‹ dargestellte Phänomen als eine ›Privatisierung der Welt‹ zu requalifizieren wäre. Sodann sind jene anderen Formen der Mondialisierung sichtbar und nachvollziehbar zu machen, die heute stattfinden, Formen die, im Unterschied zu der verkürzten Version, einem Prinzip der ›Teilhabe an der Welt‹ folgen (z.B. die internationale Mobilisierung von Bürgern hinsichtlich bestimmter individueller oder kollektiver Angelegenheiten, die Veränderung des Austauschs innerhalb der scientific communities bezüglich ihrer gemeinsamen Forschungsgegenstände, die Verbreitung und der Austausch von vergessenem, unterdrücktem oder schlicht noch nicht bekannt gewordenem Kulturerbe etc.). Schließlich geht es darum, Mondialisierungen zu denken, das heißt sie zum Thema eines komplexen, vielfältigen, evolutiven, gegenüber differentiellen Prozessen offenen Denkens zu machen (von der Mondialisierung der Umweltbewegung hin zu jener des Kinos über jene des Kleidergeschmacks und der Stadtpolitiken) und sich dabei verschiedenen Entwicklungsstadien auszusetzen (schon erreichte, solche, die im Gange sind, und jene, die noch nicht begonnen haben), von denen wir noch sehr wenig wissen; die Früchte dieser Überlegungen, das liegt auf der Hand, werden von evidentem Nutzen für alle Pädagogen und Politiker sein.« (de Bernard 2001a)

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Warum? Weil die ›großen Fragen der Welt‹9, die heute zur Klärung anstehen, nicht mehr in den engen disziplinären Grenzen und der sektoriellen Spezialisierung10 zu klären sind, in denen man sie heute verhandelt. Was das Verständnis von und die Auseinandersetzung mit diesen groben Fragen angeht, sind wir schlichtweg seit einem Vierteljahrhundert regrediert, während die ökonomische und finanzielle Globalisierung zeitgleich ungehindert vorangeschritten ist. Die ›großen Antworten‹ auf die ›großen Fragen‹, die man von der UNO, anderen multilateralen Kontexten oder den neuen Organisationsformen der Zivilgesellschaft11 erhoffen könnte, diese ›großen Antworten‹ gibt es heute nicht, ganz im Gegenteil. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen einer Mehrheit der Bewohner des Planeten (hinsichtlich der Ernährung, der sanitären Versorgung, der sozialen und finanziellen Situation) sowie der Menschheit insgesamt (angesichts der dramatischen Umweltprobleme)12 hat sich bis zu einem Punkt hin beschleunigt, an dem selbst moderate Experten sie für unkontrollierbar halten – trotz aller juridischen und politischen Bekenntnisse zur Einrichtung einer veritablen ›global governance‹, die sie zu bewältigen verspricht.13 Daher ist 9 | »Der Spielraum, den wir für den Großteil der großen Fragen der Welt lassen, ist eng: sogleich muss reagiert werden, mit Zielvorgaben im 20-Jahres-Zeitraum, nicht einmal ein halbes Jahrhundert. Was denkt man nur hinsichtlich der Erderwärmung, der erschöpften Fischgründe, Pandemien, des beunruhigenden Erfolgs der synthetischen Drogen, des Erfolgs der bislang unkontrollierbaren Biotechnologie?« (Rischard 2003) 10 | Das ist, wie man weiß, ein Thema von Edgar Morin: »Die Hyperspezialisierung des Wissens, die darin besteht, aus der Realität einen einzelnen Aspekt herauszuschneiden, kann erhebliche menschliche und praktische Konsequenzen haben […]. Sie trägt auch dazu bei, Bürger ihrer politischen Entscheidungsmacht zu berauben und diese an Experten zu übertragen […]. Die Reform des Wissens lehrt, der Komplexität unter Inanspruchnahme von Konzepten entgegenzutreten, die in der Lage sind, die verschiedenen Wissensformen zusammenzuführen, die am Ende des 20. Jahrhunderts zu unserer Verfügung stehen. Sie wird in dem Moment entscheidend, in dem es angesichts einer planetaren Ära unmöglich und künstlich geworden ist, ein wichtiges Problem im nationalen Maßstab isolieren zu wollen. Diese Reform des Denkens, die ihrerseits einer Reform der Erziehung bedarf, ist aber nirgendwo schon in Gang, obwohl sie überall notwendig wäre.« (Morin 1997) 11 | Vgl. dazu de Bernard (2001b). 12 | Das UNO Hochkommissariat für Flüchtlinge (HCR) hat im Bericht »Zur Lage der Flüchtlinge in der Welt« von 1993 vier Hauptursachen für die Flüchtlingsströme ausgemacht: politische Instabilität, ökonomische Spannungen, ethnische Konflikte und Umweltzerstörung. Vgl. Lonergan/Swain (1999). 13 | Der normative Diskurs diesen Punkt betreffend wird durch die folgende Deklaration illustriert: »Lösungen für die zahlreichen Probleme, denen sich die internationale Gemeinschaft heute ausgesetzt sieht, können nur mittels einer ausge-

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76 | François de Bernard es zu einer jenseits ideologischer, politischer oder kultureller Differenzen geteilten Überzeugung einer Mehrheit der kosmopolitischen Bürger geworden, dass es höchste Zeit dafür ist, sich neue Konzepte für den gegenwärtigen mondialen Wandel auszudenken und neue konzeptuelle Instrumente für deren Analyse, Interpretation und Kontrolle ins Werk zu setzen. Wenn auch die Philosophie de facto nicht dazu berufen ist, fertige Heilmittel für die Übel ihrer Zeit bereitzustellen (»Du bist nicht besser als Deine Zeit«, schrieb der junge Hegel); ist sie dennoch in besonderem Maße dazu berufen, höchsten Einsatz zu zeigen, wenn es darum geht, die relevanten Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, um ihre Zeit auf den Begriff zu bringen, wie Hegel ebenfalls schrieb – und das vor allem dann, wenn die Zukunft der Menschheit in Gefahr scheint. Wenn sie dabei angesichts der langen Liste ungelöster Probleme, von denen heute Tag für Tag in den Nachrichten die Rede ist, auch keinen simplen Ausweg anzubieten hat, so ist sie doch in der Lage, ihre Werkzeuge des kritischen Denkens anzubieten sowie ihre besondere Kompetenz einzubringen, die verschiedenen, ihr selbst äußeren Disziplinen in einen Zusammenhang zu bringen, indem sie Verbindungslinien zwischen ihnen herstellt (angefangen bei der Anthropologie und der Geschichte, aber auch zwischen der Soziologie, der Psychologie, der Semiologie, der Ökonomie, der Politikwissenschaft und der Kommunikationswissenschaften). Das also sind ihre beiden Trümpfe – zum ersten, besondere Werkzeuge kritischen Denkens zu haben, zum anderen, eine besondere Fähigkeit, andere Disziplinen in Zusammenhang zu bringen – die erwarten lassen, dass die Philosophie mit Bezug auf die Mondialisierungen eine besondere Rolle einnehmen kann, die keine andere Disziplin an ihrer Stelle zu übernehmen in der Lage wäre. Es geht also für eine Philosophie der Mondialisierungen in meinen Augen darum, a) die verschiedenen, z.T. konfliktuellen Formen der Mondialisierungen in Geschichte und Gegenwart vernünftig zu rekonstruieren, sodass jede dieser Mondialisierungen sich mit Blick auf ihre Wechselwirkungen zu anderen geklärt sieht und die Art der Konflikte zwischen diesen Mondialisierungen Eingang findet in die Geschichte und die Geschichte des Denkens; b) diesen Mondialisierungen Herkunft, Ursachen, Geschichte, Orte und Besonderheiten zuzuweisen, ohne dass diese hinter dem Schlagwort der ›Globalisierung‹ verschwinden, auf das sie heute weiterhin Tag für Tag weiteten und intensiveren internationalen Kooperation gefunden werden. Und diese wird nicht möglich sein ohne eine ernstzunehmende ›global governance‹, die auf internationalen, demokratisch kontrollierten Institutionen basiert und dem Interesse der größten Zahl, nicht aber dem einiger weniger dient.« (Ryder 2004)

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von den dominierenden Medien enggeführt werden – denn dieser ›Globalisierungs‹-Diskurs betrachtet nur eine – die ökonomische – Mondialisierung als Faktum, und ist vereinheitlichend und gleichmachend, indem er jegliche andere Dimension der Mondialisierungen der einen unterordnet, und schließlich c) es allen Bürgern möglich zu machen – und nicht nur den Philosophen –, eine im substantiellen Sinne kritische Urteilsfähigkeit die Mondialisierungen betreffend auszubilden, die jene Filter und Raster ideologischer Analysen bloßstellt, die heute so oft eine angemessene Wahrnehmung und ein echtes Verständnis dessen verstellen, was Mondialisierungen sind; eine Urteilsfähigkeit also, die dazu taugt, Mondialisierungen tiefenscharf in den Blick zu nehmen, um sowohl die effektiven Bedrohungen zu ermessen, die von ihnen ausgehen, als auch die Chancen für ein geteiltes Miteinander zu prüfen, die sie für die Menschheit bieten. Aus dem Französischen von Jens Badura.

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78 | François de Bernard Morin, Edgar (1997): »Entretien avec A. Rapin«. In: Label France vom 28. Juli 1997. Rischard, Jean-François (2003): »20 défis pour la planète, 20 ans pour y faire face«. Arles: Actes Sud. Ryder, Guy (2004): Erklärung, Weltsozialforum Mumbai, 15. Januar 2004. Sloterdijk, Peter (1999): Sphären II: Globen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Vaisse, Justin (2001): L’hyper-puissance au défi de l’hyper-terrorisme, Brookings Institution, USA.

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Welten verstehen

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Überlegungen zu Aufgaben und Voraussetzungen interkultureller Philosophie Franz Martin Wimmer

1. Annahmen Ich gehe von mehreren Annahmen aus, die hier nicht alle detailliert ausgeführt werden können und insoweit teilweise hypothetisch bleiben. Die wichtigsten darunter sind folgende: – Es gibt Philosophie in nicht-europäischen Traditionen, wie es Philosophie in der europäischen Tradition gibt, im strengen Sinn des Wortes »Philosophie«: als explizite Reflexion ontologischer oder epistemologischer oder ethischer Probleme. – Eine kulturell geprägte philosophische Tradition kann mit den begrifflichen Mitteln einer anderen erfasst und interpretiert werden. – Kulturell differente Prägungen philosophischer Traditionen betreffen sowohl Fragestellungen als auch Begrifflichkeiten als auch dominante Thesen. – Jede Auseinandersetzung mit einer philosophischen Tradition hat ein Interesse an der Klärung von Sachfragen zur Voraussetzung. – Ziel und Zweck jeder Beschäftigung mit okzidentaler sowohl als nichtokzidentaler Philosophie ist letztlich nicht nur das Erfassen und Interpretieren des Denkens anderer, sondern die Klärung beziehungsweise Lösung von Sachfragen (vgl. ausführlicher Wimmer 2004).

1.1 Mehrfache Ursprünge von Philosophie Die erste Annahme ist zwar notwendig, wenn von ›außereuropäischer Philosophie‹ überhaupt gesprochen wird, sie gibt aber keinen Hinweis darauf, wie viele und welche Traditionen hier in Frage kommen. Es dürfte sehr

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82 | Franz Martin Wimmer schwer fallen, darauf eine einfache und überzeugende Antwort zu geben. Bereits die zuvor formulierte Bedingung, es handle sich um »explizite Reflexion ontologischer oder epistemologischer oder ethischer Probleme« steht unter dem Verdacht, im Ausgang von einem bestimmten Philosophiebegriff allzu viel von vornherein auszuschließen und damit Dialoge – oder Polyloge – eher zu behindern als zu fördern. Und doch kommt niemand darum herum, irgendeinen derartigen Vorbegriff zu formulieren, wann immer eine bestimmte Denktradition als »philosophische« dargestellt werden soll. Ich erwähne nur nebenbei, dass es heute immer noch nicht selbstverständlich ist, unter ›Philosophie‹ im strengen Wortsinn Denktraditionen zu subsumieren, die nicht in griechisch-okzidentaler Geschichte entwickelt worden sind. Es gibt aber, auch wenn diese Grenze überschritten wird, durchaus keine Einigkeit darüber, welche ›außereuropäischen‹ Traditionen einzubeziehen sind und wie dies zu geschehen habe. »Es ist noch nicht lange her«, schreibt Lorenz in der Einleitung zu seinem Buch über indische Denker, »da war das Interesse an außereuropäischen Denktraditionen im wesentlichen eine Sache von Spezialisten, und auch bei ihnen war der Zweifel verbreitet, ob es in Kulturen, die nicht von der griechischen Antike abhängen, von Religion unterschiedene Philosophie überhaupt geben könne.« (Lorenz 1998: 15)

Die »Spezialisten«, von denen Lorenz hier spricht, können unterschiedliche akademische Disziplinen verkörpern: Es kann sich um komparative Philosoph(inn)en handeln, die eine gewisse Randstellung innerhalb ihrer Disziplin einnehmen, es kann sich aber auch um Philolog(inn)en oder allgemeiner Expert(inn)en einer Fremdkulturwissenschaft (wie der Sinologie, der Indologie, der Islamistik, Afrikanistik etc.) handeln. Dass Philosoph(inn)en aus philosophischem Interesse sich damit befassen, ist nicht selbstverständlich, gehört im Allgemeinen nicht zu ihrem Bildungskanon. Mit einem gewissen Maß an Akzeptanz und Plausibilität können heute aber doch Ansätze rechnen, die neben der griechisch-okzidentalen auch noch chinesische und indische Denktraditionen als »Philosophie« ansehen. Das war noch viel weniger so, als Hülsmann und Mall 1989 »drei Geburtsorte der Philosophie« beschrieben (vgl. Mall/Hülsmann 1989), doch findet sich dies auch in anderen philosophiegeschichtlichen Darstellungen, wenngleich sich solche Darstellungen zumeist, was die Abschnitte über China und Indien betrifft, doch nur auf das Altertum beziehen und somit dafür scheinbar einen eher antiquarischen Wert beanspruchen. Die gewöhnliche ›postkoloniale‹ Lösung der Frage besteht nach wie vor in der Rekonstruktion der einen Geschichte der Philosophie, der dann die separaten Geschichten (im Plural!) zur Seite gestellt werden.1 1 | Ein Beispiel dafür bieten zwei Reihen, die in den 1990er Jahren bei Rout-

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Jaspers war 1949 in der Frage nach der Zahl der unabhängigen Ursprünge weiter gegangen als viele Autoren nach ihm, indem er mehrere »achsenzeitliche« Ursprünge des philosophischen Denkens in Eurasien annahm, neben einem chinesischen und einem indischen etwa noch einen iranischen durch Zarathustra wie einen jüdischen im Denken der alttestamentlichen Propheten.2 In ähnlicher Weise setzt der Versuch einer »globalen Geschichte der Philosophie« von Plott (ab 1963) an, indem darin, ebenfalls für die »Achsenzeit«, mehrere ostasiatische, südasiatische und westasiatische bzw. mediterrane Ursprünge parallel behandelt werden und im weiteren Verlauf versucht wird, diese Parallelen in den jeweiligen Denkgeschichten im einzelnen aufzuzeigen.3 Wieder anders gingen marxistische Philosophiehistoriker(inn)en an die Frage heran, indem sie grundsätzlich annahmen, dass philosophisches Denken, als Schaffung eines ideologischen Überbaus, in allen Klassengesellschaften anzunehmen sei. So sind entsprechende Darstellungen grundsätzlich internationalistisch angelegt. Dass es sich dabei keineswegs nur um ledge erschienen sind: Die »Routledge History of Philosophy« bringt die Geschichte der okzidentalen Philosophie, wogegen die »Routledge History of World Philosophies« separat davon z.B. eine Geschichte der jüdischen, der islamischen etc. Philosophie zum Gegenstand hat. 2 | Jaspers beschreibt die Ursprünge des Philosophierens »zwischen 800 und 200« in der »Achsenzeit« so:»In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten. […] In diesem Chaos wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. […] Einsiedler und wandernde Denker in China, Asketen in Indien, Philosophen in Griechenland, Propheten in Israel gehören zusammen, so sehr sie in Glauben, Gehalten, innerer Verfassung voneinander unterschieden sind.« (Jaspers 1956: 14f.) 3 | Die groß angelegte, jedoch unvollständig gebliebene »Global History of Philosophy« von John C. Plott et al. (5 Bde., 1963-1989) zeigt den Anspruch wie die Schwierigkeit, einen umfassenden Überblick zu geben. Die dabei leitenden Begriffe und Einteilungen sind dargestellt in Plott (1999).

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84 | Franz Martin Wimmer schematische Variationen eines Grundthemas – des ewigen Streits um den Primat von »Materie« oder »Geist«, was bekanntlich Engels als die »Grundfrage der Philosophie« bestimmt hatte – handelt, belegt etwa ein Sammelband aus den späten Jahren der DDR, in dem gefragt wird, »wie und warum« Philosophie »in verschiedenen Regionen der Erde« entstand, und dieser Frage im alten Indien, China, in Japan und im islamischen Bereich, im subsaharischen Afrika und im präkolumbinanischen Mexiko nachgegangen wird (vgl. Moritz et al. 1988). Es ist denkbar, dass Philosophie in jeder menschlichen Gesellschaft ab einer gewissen Entwicklungsstufe entsteht. In Richtung dieser These gehen Arbeiten, in denen als ›Ethnophilosophie‹ das Denken einer Vielzahl von Gesellschaften untersucht wird, deren oft orale Traditionen man zu rekonstruieren versucht. Wir brauchen im Zusammenhang mit unserer Fragestellung nicht auf solche Versuche einzugehen, denn es ist ausreichend, wenn gezeigt werden kann, dass für Philosophie etwas aus der Befassung mit außereuropäischen Traditionen überhaupt zu gewinnen ist. Daher ist auch auf Untersuchungen einzelner regionaler philosophischer Traditionen nur am Rande hinzuweisen. Sie sind, nimmt man die okzidentale Tradition als Gegenstand, Legion in jeder Literatursprache. Will man sich näher über Philosophie in China oder Indien informieren, so sind immerhin auch im Deutschen viele verlässliche Arbeiten vorhanden. Abzählbar hingegen werden deutschsprachige Überblicksdarstellungen bereits zur Philosophie in Japan, sicherlich aber zur Philosophie in Lateinamerika und Afrika. Man könnte bei der Frage nach den Ursprüngen des Philosophierens primäre von sekundären Ursprüngen unterscheiden. Erstere wären solche Traditionen der Weltbildreflexion, die in wesentlichen Zügen ohne bestimmenden äußeren Einfluss in einer Gesellschaft oder Kultur entstanden sind, wie das zumindest für die klassische chinesische, indische und griechische Philosophie gesagt werden kann, wogegen als sekundäre Ursprünge jene bezeichnet werden könnten, die wesentliche Anregungen zur Bewältigung eigener Fragestellungen übernehmen konnten. Beispiele für letzteres finden sich in der Geschichte des arabisch-islamischen Denken seit den ersten Kalamschulen und insbesondere in der spezifischen Aneignung der griechischen Philosophie; in der Übernahme und originären Weiterbildung sowohl des Konfuzianismus als des Buddhismus, wohl auch viel später der westlichen Philosophie in Japan; in den Reflexionen auf das »Afrikanische« an der Philosophie in Afrika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; in Entwicklungen einer »lateinamerikanischen Philosophie« u.a. Sowohl bei primären wie bei sekundären handelt es sich jedoch um wirkliche Ursprünge, die jeweils Eigenes im Konzert des philosophischen Denkens beitragen. Wichtig scheint mir die Frage nach Einzigkeit, Vielheit oder Allheit bezüglich möglicher Ursprünge der Philosophie in zweierlei Hinsicht.

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Erstens deshalb, weil das weltanschaulich-philosophische Denken mehrerer, nicht aller klassischen Traditionen, z.B. der chinesischen, indischen, arabisch-islamischen und griechischen, in heutigen Gesellschaften stark weiter wirkt. Das rechtfertigt nicht nur, es verlangt eine interkulturell orientierte Ausrichtung auch der Philosophie, wie Holenstein zu Recht feststellt: »Ein Plädoyer für die Vermeidung von behebbaren Missverständnissen und für die Besinnung auf zivile Umgangsformen in der Auseinandersetzung mit uns fremden Kulturen bedarf keiner moralischen Motivation. Schieres Eigeninteresse genügt.« (Holenstein 1999: 30) In dieselbe Richtung geht Collins’ Bemerkung, dass gebildete Menschen, wenn erst einmal durch wirtschaftliche Beziehungen und Migrationen eine gemeinsame Weltkultur entstanden sein wird, ein Unbehagen darüber empfinden werden, wie wenig sie über die intellektuelle Geschichte anderer als ihrer eigenen Kultur wissen (vgl. Collins 2000: xviii). Das klingt nun tatsächlich anders als Coplestons Motiv für das Studium der Philosophiegeschichte um die Mitte des 20. Jahrhunderts, ein gebildeter Engländer müsse doch, wie er etwas über Cromwell und Nelson, Dante, Shakespeare und Goethe wissen sollte, immerhin auch über Platon und Aristoteles, Descartes, Kant und Hegel Bescheid wissen (vgl. Copleston 1985: 1). Solche Denker werden nicht übergangen werden, aber es wird doch eine Reihe anderer in der okzidentalen Geschichte geben, an deren Stelle man sich etwa mit Nagarjuna und Shankara, mit Konfuzius und Zhuang Zi, mit Ibn Ruschd und Ibn Khaldun befassen wird, um nur einige Namen aus älterer Zeit zu nennen. Einen zweiten Anlass zur Beschäftigung mit außereuropäischen Denktraditionen sehe ich in dem Umstand, dass darin andere Modelle schöpferischer Aneignung oder auch der kritischen Absetzung von Fremdem sichtbar werden können als diejenigen, die wir aus dem christlich-hellenistischen Hintergrund kennen. Dies kann dazu beitragen, allzu monolithische Auffassungen vom Eigenen wie vom Fremden, etwa in der Frage des Verhältnisses von Tradition und Modernität, zu vermeiden.

1.2 Gegenseitige Interpretierbarkeit Ausgesprochen spekulativ klingt die zweite Annahme, wenn damit behauptet würde, dass jede kulturell geprägte Philosophie mit den begrifflichen Mitteln jeder anderen interpretierbar ist. Sie wäre, da es sich im Unterschied zur erstgenannten um eine Allaussage handeln würde, nicht im strengen Sinn verifizierbar. Es ist jedoch eine heuristisch fruchtbare Frage, zu untersuchen, wie und mit welchen Ausdrucksmitteln derartige Übernahmen geschehen. Zunächst ist die Möglichkeit der Gegenseitigkeit zu suchen. Dies ist mit einem Interesse an außereuropäischer Philosophie nicht zwangsläufig gegeben, was zum Beispiel eine meiner »Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika« deutlich macht. Bei diesem Versuch, den gewöhnlich eurozentrischen Blick auf die Gegenwartsphilosophe kritisch zu

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86 | Franz Martin Wimmer bedenken, formulierte ich als zweite Frage »an Kolleg(inn)en in Regionen außerhalb von Europa und Nordamerika«: »Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Probleme des ›Übersetzens‹ von philosophischen Grundbegriffen aus dem Kontext außereuropäischer Kulturen in den Kontext der gegenwärtigen, vor allem europäisch-angloamerikanischen Philosophie zu bewältigen?« (Wimmer 1988: 11)

Es kam mir damals offensichtlich bei dieser Formulierung nicht in den Sinn, dass der gegenläufige Prozess des Übersetzens von ebenso großer Bedeutung sein könnte. R.A. Herra, der in seiner Antwort eine kritische Reflexion aller meiner damaligen Fragen vornahm, verweist auf die Einseitigkeit eines solchen Interesses und gibt zu bedenken: »Die Antwort muß mit okzidentalen Konzepten erfaßt werden: was bedeutet das? Es bedeutet erstens, daß die Frage die Art des Antwortens vorbestimmt, und zweitens, daß die Art des Antwortens voraussetzt, mit okzidentalen Zeichen umzugehen und zu denken. Oder, um es weniger rhetorisch auszudrücken: die Antwort auf eine Frage nach der globalen Philosophie muß sich, um verstanden, ja sogar um formuliert zu werden, auf die begrifflichen Mittel dieser Philosophie stützen und von hier aus antworten. Schon der Akt des Fragens nach einer Philosophie der Philosophie aus interkultureller Perspektive selbst ist ein okzidentaler Akt, globalisierend, ausschließend. Diesen Akt auszuführen heißt, sich für die Philosophie, für den Okzident engagieren zu lassen.« (Herra 1988: 16f.)

Letztlich lag meiner Frage nach nur einer Richtung des Übersetzens wohl unbewusst so etwas zugrunde, wie Tempels es in seiner Rekonstruktion einer ›Bantu-Ontologie‹ ausdrücklich formuliert hatte, wenn er betont, dass es sich dabei zwar um eine Ontologie im vollen Wortsinn handle, aber um eine solche, in der nicht die begrifflichen Mittel entwickelt wurden, sich selbst explizit zu artikulieren. Zur Darstellung und kritischen Diskussion dieser Ontologie seien die begrifflichen Mittel der okzidentalen Philosophie angemessen, ausreichend und auch notwendig (vgl. Tempels 1956). Verallgemeinert man dies, so ergibt sich die Auffassung, dass ›Europa‹ und nur ›Europa‹ in der Lage ist, kompetent über sich selbst und auch über alles andere zu sprechen. Interkulturell orientierte Philosophie geht dem gegenüber von einer Einsicht aus, wie sie Garfield beispielsweise formuliert hat, nämlich dass »kultureller Abstand etwas offensichtlich für einen irgendwie fremden Interpreten macht, was für den in einer Kultur Lebenden verborgen ist. Vielleicht lesen wir so Platon mit größerem Verständnis als Platon selbst es je gekonnt hätte, Tibeter oder Tutsis können Platon – und insbesondere Quine – mit größerem Verständnis lesen, als wir es je könnten« (Garfield 2000: 47).

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Ob dies wirklich so ist und ein solches »größeres Verständnis« wiederum kommunikabel gemacht werden kann, bleibt eine Frage in jedem Einzelfall. Die heuristische Annahme jedoch, dies könne der Fall sein, ist wesentlich.

1.3 Mehrfache Differenzen Die dritte eingangs formulierte Annahme betrifft Schwierigkeiten, die sich allgemein im Vergleichen von philosophischen Richtungen ergeben. Es ist ein wohlbekannter Sachverhalt, dass Philosophierende nicht immer und überall mit gleicher Intensität sich denselben Fragen zuwenden, dieselben Begriffe verwenden oder auch nur dieselbe Aufgabe als die ihre ansehen. Solche Unterschiede sind sowohl in diachroner Betrachtung der Entwicklungen in einem Kulturbereich als auch im synchronen Vergleich verschiedener Gesellschaften und Kulturen wie schließlich auch gleichzeitig innerhalb ein und derselben Gesellschaft zu beobachten. Es ist darum die Aufgabe einer interkulturellen Hermeneutik nicht wesentlich verschieden von einer intrakulturellen, mit Ausnahme des Sachverhalts, dass jede kulturelle Tradition auch ihre besonderen hermeneutischen Methoden entwickelt hat, die miteinander in ein fruchtbares Gespräch zu bringen nicht leicht ist. Der hauptsächliche Grund dafür liegt darin, dass Verstehen selbst aus einer Tradition heraus möglich ist, woraus aber auch folgt, dass es sich dabei immer um ein interessegeleitetes Auswählen handelt.4

1.4 Sachbezogenheit von Vergleichen In der vierten Annahme liegt eine Formulierung vor, die nahe legt, in der Philosophie zwar nicht von historischen Untersuchungen und Vergleichen abzusehen, diese aber auch nicht als Endzweck zu betrachten. Die Forde4 | Garfield (2000: 50) schreibt: »Traditionen ermöglichen Verstehen. Aber diese Möglichkeit wird immer nur durch Abschließung erlangt. Wenn wir einen Text verstehen, so beuten wir dessen rückverweisendes Verhältnis zu seinen Vorläufern ebenso wie unseren Hintergrund an Vorurteilen aus, den wir aus unserer kulturellen Situiertheit geerbt haben. Diese Überlegungen sind mutatis mutandis auf gesprächsweise Interaktionen anzuwenden. Einen Text als Analyseobjekt einzuordnen beinhaltet, dass bestimmte Merkmale dieses Texte als entscheidend herausgestellt, andere unterdrückt werden, dass gewissen zwischentextlichen Bezügen der Vorrang vor anderen zugesprochen wird, dass unter den Kommentartraditionen eine Auswahl getroffen wird. Das Befragen eines Textes ist immer interessegeleitetes Befragen. Ein Text, ganz aus dem Kontext gerissen, kann unmöglich gelesen werden; einem kontextlosen Austausch kann man unmöglich folgen, einfach wegen des wesentlich intertextuellen Charakter eines jeden Texts. Aber all dies bedeutet, dass wir beim Auswählen und Hervorheben unvermeidlicherweise auch gegen etwas auswählen. Verstehen schließt darum als Teil seiner Struktur selbst auch Blindheit ein.«

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88 | Franz Martin Wimmer rung nach der Einbeziehung von außereuropäischer Philosophie in der Darstellung ihrer Geschichte oder in systematischen Fragestellungen kann auf verschiedene Arten eingelöst werden. Nicht in jedem Fall einer solchen Einbeziehung kann man auch schon von ›interkultureller Philosophie‹ sprechen. Es ist zu unterscheiden zwischen einem ständigen und systematischen Einbeziehen von Argumenten, Begriffen und Thesen aus okzidentalen wie nicht-okzidentalen Traditionen bei der Klärung von Sachfragen einerseits (also einem ›interkulturell orientierten‹ systematischen Philosophieren) und einem Vergleichen einzelner philosophischer Traditionen andererseits. Diese zweite Art wird von der komparativen oder vergleichenden Philosophie betrieben, denn jeder, »der heute über die verschiedenen Philosophieund Kulturtraditionen denkt und schreibt, kann nicht umhin, diese miteinander in Beziehung zu setzen, zu vergleichen. Dies nennt Matilal ›comparative philosophy in a minimal sense‹« (Mall 1995: 52; Matilal 1982: 259). Komparative Philosoph(inn)en in diesem Sinn würden in der Regel jedoch nicht sagen, dass Philosoph(inn)en in jedem Fall, bei jeder Fragestellung – und nicht nur, wenn sie »über die verschiedenen Philosophie- und Kulturtraditionen« nachdenken – die Vielfalt von Philosophien vor Augen haben sollten. Dies allerdings ist ein Postulat interkultureller Philosophie. Während also jemand in der Tradition komparativer Philosophie bei einem bloß historischen – historisch interessierenden – Thema bleiben kann, steht dieser Weg innerhalb der interkulturellen Philosophie nicht offen. Obwohl dieser Beitrag explizit nur mit spezifischen Fragen im Zusammenhang mit Philosophie zu tun hat, werden zwei Thesen zum »Kulturbegriff« kurz formuliert, die allerdings mit meiner Thematik eng zusammenhängen.

2. Thesen zum Kulturbegriff 2.1 Weder »europäische« noch »außereuropäische Kultur(en)« sind territorial abzugrenzen. Territoriale Abgrenzungen einer ›Kultur‹ beziehen sich jeweils nur auf einen bestimmten, oft schmalen Zeitraum und sind häufig auch darin nicht im Bewusstsein aller Agierenden gleich zu verstehen. Das könnte bereits an Beispielen von Zuschreibungen zu ›Europa‹ ausgeführt werden, dessen ›Grenzen‹ in alltäglichen, aber auch in politischen Kontexten sehr unterschiedlich aufgefasst werden (vgl. Holenstein 1998a; Diaconu 2004). So wenig wie ›europäische Kultur‹ ist ›europäische Philosophie‹ territorial abgrenzbar; sie kann in jedem Teil der Erde praktiziert werden. Dasselbe trifft auch auf andere, ehemals ebenso regional konzentrierte Denktradi-

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tionen, wie indische, chinesische, tibetische oder mögliche andere zu. Wenn eine territoriale Abgrenzung ohne Weiteres als sachfremd außer Betracht gelassen werden kann, so ist damit doch noch nicht geklärt, ob und in welchem Maß bestimmte Prägungen, die mit der Primärsprache oder mit der Sozialisation im Allgemeinen zu tun haben, denkende Individuen prädisponieren, mehr in der einen oder der anderen Tradition zu denken. Wir können uns daher sinnvollerweise fragen, ob ›europäische Philosophie‹ in jeder Sprache und jeder für Argumentation und Reflexion relevanten kollektiven Disposition praktiziert werden kann. Diese Fragen wären dann auch umkehrbar, sie könnten etwa lauten: Kann in einer europäischen Sprache ›afrikanische Philosophie‹ praktiziert werden und was sind die Bedingungen dafür? Kann in traditionskritischer Weise ›tibetische Philosophie‹ authentisch betrieben oder auch nur verstanden werden?5 Ich gehe jetzt auf diese oder ähnliche Fragen nicht weiter ein, stelle nur fest, dass allen Schwierigkeiten zum Trotz offenbar doch immer wieder Kommunikation über Traditions- und Kulturgrenzen hinweg stattfindet. Seit jeher wandern kulturelle Produkte, darunter auch (philosophische) Ideen, werden aufgenommen, abgewandelt, weitergeführt (vgl. Holenstein 2004). Es ist darum eine oft gestellte Frage gewesen, in welcher Weise ›Einflüsse‹ der einen auf die andere Tradition nachweisbar sind. Wie in anderen kulturgeschichtlichen Disziplinen auch, sind in der Philosophiehistorie bezüglich dieser Frage diffusionistische Ansätze ebenso wie indepentistische vorzufinden. Diffusionisten nehmen an, dass jede Ähnlichkeit, die sich in Denktraditionen einer anderen Kultur als derjenigen, die sie für die ursprüngliche halten, findet, auf irgendeinem Weg von dieser dorthin gelangt sein muss. Es ist interessant, dass selbst unter dieser Annahme von okzidentalen Diffusionisten die Idee vertreten werden konnte, es sei Wesentliches aus nicht-okzidentaler Philosophie zu lernen. Dazu war allerdings eine weitreichende Arbeitshypothese vonnöten. Ich spreche von der These der Komplementarität chinesischer und christlich-abendländischer Philosophie, wie sie von Leibniz und Wolff im frühen 18. Jahrhundert vertreten worden ist: Erstere sei auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, der Ethik und politischen Philosophie überlegen, letztere jedoch in der theoretischen Philoso5 | Garfield zitiert den Direktor des »Central Institute of Higher Tibetan Studies« mit folgender, in unserem Zusammenhang nachdenklich machenden Aussage: »Wie kann ein authentischer Kommentar seinen Bezugstext kritisieren? […] Einen Kommentar, der authentisch sein soll, kann nur jemand schreiben, der in der Nachfolge des Bezugstextes steht und die Erlaubnis hat, ihn auszuführen. Aus diesem Grunde könnte ich nie einen authentischen Kommentar zu einem westlichen Text schreiben. Wenn ich den Kommentar eines westlichen Gelehrten lese, frage ich sofort: ›Wer war sein Lehrer?‹ und dann: ›Kommentiert diese Person aus der Perspektive dieser Nachfolge?‹« (Garfield 2000: 42)

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90 | Franz Martin Wimmer phie, der Logik, Metaphysik und den mathematischen Disziplinen.6 Eine diffusionistische Erklärung für diesen Sachverhalt liefert der Wolffianer Gottsched mit der These, dass beide Kulturen und Philosophien aus ein und derselben Quelle stammten, nämlich aus der Uroffenbarung, die nach der biblischen Sintflut von Noah, den er für den Begründer der chinesischen Kultur hält, in reiner Form in Ostasien, hingegen in weniger reiner Form von Noahs drei Söhnen in Vorderasien, Europa und Afrika weitergeführt worden sei.7 Eine ziemlich reine Version der entgegengesetzten Aufassung, also die These von vollkommen unabhängigen Kulturen und deren Philosophien, hat Spengler vertreten. »Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine.« (Spengler 1975: 34) In der Kultur- und Philosophiegeschichte finden wir diese Idee aber auch dort, wo von einem grundlegenden und unüberbrückbaren Unterschied zwischen 6 | Leibniz veröffentlicht 1697 »Neuestes über China«, worin er eine Komplementarität der abendländischen und der chinesischen Kultur behauptet: »Durch eine einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dazu gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und in Tschina (so nämlich spricht man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die Höchste Vorsehung dabei das Ziel – während die zivilisiertesten (und gleichzeitig am weitesten voneinander entfernten) Völker sich die Arme entgegenstrecken –, alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßeren Leben zu führen.« (Leibniz 1985: 9) Dass diese Ausführungen Leibniz’ in Zusammenhang stehen mit seiner Unterstützung des Missionskonzepts der Jesuiten, das durch die päpstliche Bulle »Ex illa die« (1715) beendet wurde, sei hier nur am Rand erwähnt. 1721 hält Christian Wolff seine Antrittsvorlesung über die Überlegenheit der chinesischen Morallehre über alle anderen, selbst die christliche, die ihm die Verbannung aus Preußen einbringt (vgl. Wolff 1985). 7 | Gottsched erklärt, warum in China derart hochstehende naturrechtliche Gedanken entwickelt worden seien: »[N]ichts ist wahrscheinlicher, als daß Noah eben der erste Monarch und Stammvater der Chineser gewesen ist.« (Gottsched 1756: 7) Der legendäre »Gelbe Kaiser« der Chinesen sei niemand anders als der biblische Stammvater aller Menschen nach der Sintflut: »Endlich sind auch die Lehren der Weisheit vor Alters nirgends in solcher Vollkommenheit bekannt gewesen, als in China. Ihre Geschichte sind weit richtiger, ihre politische Regierungsforme weit dauerhafter und ordentlicher gewesen, als der anderer Völker ihre: welches ohne Zweifel der grössern Weisheit des Noah, vor seiner Söhne ihrer, zuzuschreiben ist. Und zuletzt, sagen die Chineser, daß ihr FOHI in der nordwestlichen Provinz Xensi gewohnt habe; von welcher Gegend er nothwendig gekommen seyn muß, als er in Armenien oder Mesopotamia, aus dem Kasten gegangen, und allmählich nach China gezogen.« (Ebd.: 9)

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›östlichem‹ und ›westlichem Denken‹ die Rede ist: »… and never the twain shall meet …«. Was als ›Ethnophilosophie‹ benannt worden ist, kann ebenfalls unter diesen Typus von Zentrismus subsumiert werden. In kulturvergleichenden Ansätzen der Philosophie findet sich die Auffassung dann, wenn etwa von einer ›anderen Logik‹, einer ›ganz anderen Hermeneutik‹ o.Ä. die Rede ist und das Feststellen bzw. Festhalten der behaupteten Differenz zum Hauptzweck zu werden scheint. Für das Philosophieren wäre eine solche Auffassung in ihren Konsequenzen fatal, denn sie fordert streng genommen einen Verzicht auf Argumentation und sieht als erreichbares Ziel höchstens ein ›Verstehen‹ oder ›Tolerieren‹ der Andern in dem Sinn, dass deren Ideen und Wertvorstellungen zwar nicht akzeptiert werden, dass darüber aber auch kein inhaltlich argumentierender Dialog als notwendig oder möglich erachtet wird (vgl. Wimmer 1997).

2.2 Angehörige von Kulturen haben Bilder von sich selbst und von den ihnen bekannten anderen Kulturen. Ein Sachverhalt, über den sich Philosoph(inn)en der Gegenwart nicht leichthin hinwegsetzen sollten ist mit der Pluralität von (philosophie-)historischen Perspektiven gegeben. Es ist nicht mehr einfach selbstverständlich, dass Kategorien und Periodisierungen, die in der Auseinandersetzung mit okzidentaler Geschichte gebildet und als treffend gefunden wurden, auf andere Traditionen übertragen und dass das Umgekehrte nicht stattfinden könne. Dazu ein einfaches Beispiel: Als ich vor vielen Jahren einen Vortrag über ›afrikanische Philosophie‹ hörte, war der Einleitungssatz ausreichend, um für vollkommene Irritation meinerseits zu sorgen. Bilolo behauptete nämlich, man könne die »afrikanische Philosophie« in vier Perioden einteilen: afrikanische Philosophie im pharaonischen Ägypten; während der griechisch-römischen Zeit; kopto-islamische und vorkoloniale Philosophie und schließlich die afrikanische Philosophie der kolonialen und postkolonialen Periode (vgl. Bilolo 1991: 199). Meine Irritation begann mit der ersten Periode, gegen die ich zwei Einwände hatte: erstens, dass man im pharaonischen Ägypten noch nicht von ›Philosophie‹ sprechen könne, und zweitens, dass die ›alten Ägypter‹ unsere, der Europäer Vorläufer seien und nicht die der heutigen Afrikaner; nach den Ägyptern und Babyloniern seien die Griechen, unter ihnen die ersten Philosophen gekommen, dann die Römer und dann ›wir‹. So hatte ich es in der Schule gelernt. Die Irritation setzte sich mit den weiteren Perioden fort, wenngleich aus anderen Gründen – und sie erwies sich als fruchtbar, denn man lernt etwas aus einem anderen Blick auf eine scheinbar vertraute Sache. Was ich mit dem Beispiel andeuten will: Eigenzuschreibungen wie Fremdzuschreibungen sind ein konstitutiver und nicht zu vernachlässigender Teil von Prozessen gegenseitigen Verstehens. Sie erzeugen Stereotype,

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92 | Franz Martin Wimmer die zwar im Einzelnen stets reduktive Verkürzungen darstellen, die aber nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Mall hat diesen Gedanken präzise ausgedrückt: »Erstens geht es um ein Selbstverständnis Europas durch Europa. Trotz aller inneren Unstimmigkeiten hat sich Europa, zum größten Teil unter dem Einfluß außerphilosophischer Faktoren, den Nichteuropäern als etwas Einheitliches präsentiert. Zweitens gibt es das europäische Verstehen der nicht-europäischen Kulturen, Religionen und Philosophien. Die institutionalisierten Fächer der Orientalistik und Ethnologie belegen dies. Drittens sind da die nicht-europäischen Kulturkreise, die ihr Selbstverständnis heute auch selbst vortragen und dies nicht den anderen überlassen. Viertens ist da das Verstehen Europas durch die außereuropäischen Kulturen.« (Mall 1997: 3)

Es kann sehr wohl sein, dass in den beiden von Mall zuletzt genannten Perspektiven Beurteilungen und Erklärungen vorgebracht werden, die sich in der ersten Perspektive, nämlich in der kritischen Auseinandersetzung innerhalb der europäischen Traditionen ebenfalls finden. Wenn wir beispielsweise bei Nakayama lesen, die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Natur- wie in der Menschenwelt als bestimmender Faktor okzidentaler Wissenschaft sei eng mit dem Monotheismus verbunden, wogegen Gelehrsamkeit in Ostasien stets von der Annahme der Veränderlichkeit aller Dinge und darum der Berechtigung des Außergewöhnlichen in gleicher Weise wie des Normalen ausgegangen sei8, so werden wir vergleichbare Reflexionen beispielsweise auch in der (okzidentalen) Kritik am Logozentrismus finden. Das macht das Hinhören nicht überflüssig, wenn auch nur etwas von dem stimmt, was derselbe Autor zu bedenken gibt: »Japanese, it would seem, know ten times more about the West than Westerners know about Japan and the East. Indeed, in discussing world history or thought, academically backward nations have a wider field of vision. It is at this point that they can be said to stand in an advantageous position. Although there are obviously vast differences in the perspectives with which scholars in the West view the world, when compared to Western specialists in their own tradition the non-Westerners always have broader horizons.« (Nakayama 1984: 236)

8 | Vgl. Nakayama (1984: 60): »The persistent reluctance of the Western academic tradition to acknowledge and accommodate the anomalous might well be seen as its most distinctive feature. A transcendent God ruled over all, and just as men were obliged to obey His will, so nature was constrained to obey absolute laws. […] No room is left for the intrusion of wayward anomalies. […] East Asian scholarship began with the assumption that mutability and change were the ways of the world, recognized the legitimacy of the extraordinary as well as the normal, and sought within that framework to create a suitable place for any and everything.«

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Man kann das durchaus bestreiten. Man kann durchaus darauf hinweisen, dass auch Lateinamerikaner, arabisch schreibende Intellektuelle, englisch schreibende Inder oder Afrikaner sich als »non-Westerners« sehen und dennoch nicht unbedingt daran interessiert sind, miteinander in einen vergleichbar intensiven Dialog einzutreten, wie sie es jeweils mit dem ›Westen‹ tun. Zwar muss, wer sich mit der Geschichte des Buddhismus befasst, in der Lage sein, japanische Literatur zu lesen. Aber es gibt mit Sicherheit in China, Japan oder Indien weniger Studien zur afrikanischen und lateinamerikanischen Philosophie als in Europa (wo sie auch nicht allzu zahlreich sind). Die Rede von den »non-Westerners«, die »always« einen breiteren Horizont haben, ist im Allgemeinen also wohl zu relativieren auf die jeweilige Region. Doch darf das nicht als Ausrede dienen, sich darüber zu beruhigen, dass der Zugang zu Informationen in nichteuropäischen Sprachen, weil er schwierig ist, gar nicht von Bedeutung wäre. Um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass derartige Bilder vom Eigenen und Fremden lediglich bei Zuschreibungen und Einschätzungen zwischen Menschen, die in kulturgeschichtlicher, sprachlicher oder auch geographischer Hinsicht sehr distant sind, eine Rolle spielen, möchte ich noch ein Beispiel anführen, das von Elmar Holenstein stammt. Es handelt sich um die Interpretation eines Textes, den ich hier nicht zur Gänze wiedergeben kann. Ein paar kleine Ausschnitte müssen genügen: »Wir Japaner sprechen die Dinge nicht aus. Inhalte werden bei uns verinnerlicht und nicht ausgesprochen. Die Europäer aber sprechen. […] Eine Rede in Japan ist immer eine Ausrede. Und die Europäer, die sprechen uns zu viel. Sie sprechen immer, und sie sprechen alles aus. […] Europäischer Exaktheit wäre unsere Unentschiedenheit ein Greuel. Die Europäer schaffen eine Bürokratie, die fast unerträglich ist – Formulare, Formulare, Formulare: es gibt in Europa nichts mehr, was nicht gesetzlich geregelt wäre. […] Die Europäer sind eigenartige Internationalisten. Sie haben sich wirklich die Welt geöffnet, aber sie können es nicht lassen, zu erobern. Sie begreifen und ergreifen zu schnell. Sie verstehen die Welt nur, wenn sie europäisiert ist.« (Holenstein 1998b: 360ff.)

Dieser Text wurde unterschiedlichem Publikum sowohl in Japan als auch in Deutschland, der Schweiz und Österreich vorgelegt, und nirgendwo tauchte der Verdacht auf, es könnte darin von etwas anderem als von ›Japan‹ und ›Europa‹ die Rede sein. Die Bilder schienen stimmig und aufschlussreich, es schien sogar sinnvoll, Vermutungen darüber anzustellen, welcher japanischen Tradition der Autor des Textes angehören könnte. Tatsächlich stammt der Text von dem Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel und wurde von Holenstein nur leicht verfremdet: wo Bichsel ›Schweiz‹ und ›schweizerisch‹ schreibt, ersetzt Holenstein dies durch ›Japan‹ und ›japanisch‹; ›Deutschland‹ und ›deutsch‹ bei Bichsel wird zu ›Europa‹ und ›europäisch‹. Dem »Selbstverständnis Europas durch Europa«, von dem Mall spricht,

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94 | Franz Martin Wimmer sind offenbar Differenzen inhärent, die nicht viel anders bei Vergleichen mit »Außereuropäischem« wieder auftauchen. Und Ähnliches ist auch in ›Asien‹, ›Afrika‹ oder ›Lateinamerika‹ zu erwarten.

3. Thesen zu interkulturell orientierter Philosophie 3.1 Jede als universell geltend intendierte These von Philosophierenden ist möglicherweise kulturell geprägt; kulturell-partikuläre Thesen sind jedoch in der Philosophie nach deren eigenem Anspruch nicht ausreichend. Es liegt ein Dilemma der Kulturalität darin, dass in interkulturell orientierter Philosophie mehr zur Frage steht als bloß eine Komplettierung der Philosophiegeschichte durch eine vergleichende Interpretation außereuropäischer Denktraditionen. Das Projekt der Philosophie – in unterschiedlichen Kulturtraditionen – bestand und besteht darin, in grundlegenden Fragen zu allgemein verbindlichen Einsichten zu gelangen. In diesem Sinn geht es seiner Intention nach nicht darin auf, eine bestimmte, kulturell geprägte Tradition weiterzuführen. Und doch ist jeder konkrete Anspruch auf allgemeine Einsichtigkeit oder Intelligibilität nur mit den Mitteln zu formulieren und zu rechtfertigen, die eine bestimmte Tradition zur Verfügung stellt. Das wichtigste dieser Mittel ist die Sprache, in der Denken sich jeweils ausdrückt – Philosophierende haben nichts anderes, um zu zeigen, was sie denken, als ein jeweils bestimmtes symbolisches System, sprachliche und metasprachliche Begriffe. Ich will hier zur Illustration auf ein Projekt hinweisen, das Wiredu vorgeschlagen hat. Er spricht von der Notwendigkeit einer »begrifflichen Entkolonisierung« der philosophischen Sprache in Afrika, die darin gegeben sei, dass selbst so zentrale Begriffe wie »Truth, Knowledge, Reality, Self, Person, Space, Time, Life, Matter, Subjectivity« und zahlreiche andere für ihn, dessen Primärsprache das westafrikanische Akan ist, oft und in für die Philosophie systematisch wichtigen Zusammenhängen Konnotationen haben, welche bestimmte Thesen der europäischen philosophischen Tradition unformulierbar oder zumindest höchst unplausibel erscheinen lassen. Sein Vorschlag für die zentralen Termini der Philosophie lautet nun, die jeweiligen Thesen und Probleme in der je eigenen Sprache zu durchdenken und nach deren Maßstäben die Überzeugungskraft der fraglichen Thesen zu beurteilen (vgl. Wiredu 1997: 12). Wiredus Vorschlag ist ernst zu nehmen, doch führt er weit. Konsequenterweise dürfte das Verfahren nicht auf solche Sprachen begrenzt werden, deren Sprecher einem Kolonisierungsprozess unterworfen waren, sondern müsste bei jeder Sprache durchgeführt werden – und bestünde dann wohl in einer ›Enthistorisierung‹ der philosophischen Terminologie. Es wäre

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aber, im Unterschied zu ähnlichen enthistorisierten Projekten (wie beispielsweise im Wiener Kreis) gefordert, die vielen jeweils ›eigenen Sprachen‹ zu nutzen, aus ihnen Maßstäbe der Plausibilität zu gewinnen, und erst dann Einsichten, Urteile, Thesen »on independent grounds« zu prüfen. Das schreibt den ›eigenen Sprachen‹ eine große Aufgabe zu. Zudem bliebe weiterhin das Problem, die so gewonnenen Einsichten wieder zu übersetzen, es sei denn, man zöge sich eben auf so etwas wie eine ›ethnische‹ Philosophie zurück und ließe die jeweils anderen außerhalb des Diskurses. Das Entscheidende in Wiredus Überlegung ist, dass eine starke Unplausibilität von Aussagen, die in einer Sprache formuliert wurden, in einer anderen Sprache bewusst werden kann, für oder gegen die dann argumentiert werden muss, und zwar nunmehr unabhängig von den zunächst sprachlich bedingten Assoziationen oder Plausibilitäten. Wie auch immer das Ergebnis einer solchen Argumentation aussieht, eines will Wiredu festhalten: Viele zentrale Konzepte und Lehren der okzidentalen Metaphysik und Theologie sind, wenn er sie in seiner Muttersprache auszudrücken versucht, hoch unplausibel (ebd.: 17) – und dies ist Grund genug, sie einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Ich sehe nur eine Möglichkeit, Wiredu in diesem Punkt zu widersprechen – eine allerdings höchst zweifelhafte Möglichkeit: indem man nämlich behaupten würde, Akan und andere Sprachen seien eben strukturell ungeeignet für philosophisches Denken. Die These wäre dann etwa: es gibt einige Sprachen (vielleicht auch nur eine einzige), die geeignet sind, philosophische Begriffe und Thesen angemessen auszudrücken. Andere Sprachen seien dies nicht oder doch so lange nicht, bis sie vielleicht entsprechend angepasst wären. Diese These, so seltsam sie zunächst klingt, ist doch nicht ganz unbekannt. Die These klingt nicht nur seltsam – und ich erlaube mir hier, Heideggers einschlägige Formulierungen nicht zu zitieren –, sie setzt schlicht zuviel voraus: Nähme man sie ernst, so könnte sie nur begründet werden von jemand, der/die selbst in allen fraglichen Sprachen gleicherweise kompetent und philosophierend erfahren wäre (was natürlich eine unsinnige Vorstellung ist) oder wenn zumindest gewährleistet wäre, dass eine durchgehende und stets gegenseitige Kritik aller (und nicht nur einiger europäischer) Sprachen in Bezug auf die darin nahe liegenden philosophisch einschlägigen Plausibilitäten bereits geleistet ist. Dann allerdings wäre Wiredus Programm der »conceptual decolonization« bereits durchgeführt. Dem ist nicht so. Was können Philosoph(inn)en von einer Entkolonialisierung philosophischer Begriffe erwarten, wie sie Wiredu (ebd.: 21) vorschlägt? Übertragen auf europäische ›Ethnien‹ könnte man sagen: Es kommt nicht an auf deutsche, französische oder englische Konzepte von diesem oder jenem, sondern nur auf den Begriff von dem, was gerade zur Frage steht, und zwar mit Blick darauf, philosophische Argumente zu provozieren, die unabhängig

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96 | Franz Martin Wimmer von den jeweiligen (deutschen, französischen, englischen usw.) Traditionen geprüft, also bewährt oder widerlegt werden können. Es ist die Hoffnung eines Universalisten in der Philosophie, die hier zum Ausdruck kommt, nicht die eines Ethnophilosophen. Aber es ist zugleich eine Kritik am voreiligen Universalismus. Entscheidend für die Debatte innerhalb der akademischen Philosophie dürfte auf Dauer jedoch die Frage sein, ob in solchen interkulturell orientierten Diskursen, wie Wiredus Programm einen darstellt, ein »enlargement of conceptual options« oder nicht doch nur eine exotistische Abschweifung geschieht. Mit anderen Worten gefragt: Haben wir diese Argumente gegen Descartes, gegen die Sinnhaftigkeit metaphysischer Aussagen über die Existenz des Universums etc. nicht schon in Europa selbst gehört und gelesen? Brauchen wir tatsächlich die Kritik, die der Akan-Denker aus seinem sprachlich-kulturellen Hintergrund schöpft? Ich habe Wiredus Vorschlag nur als Beispiel für eine Analyse des Dilemmas der Kulturbedingtheit im Philosophieren und für einen Lösungsvorschlag angeführt. Die Frage stellt sich allgemeiner: Brauchen okzidentale Philosoph(inn)en, etwa wenn sie sich Gedanken über ein globales Ethos oder über die Begründbarkeit von Menschenrechten machen, von der Sache her eine gegenseitig kritische Auseinandersetzung mit afrikanischem, chinesischem, indischem, lateinamerikanischem Denken wirklich? Es ist nicht unmöglich, dass alle Einwände und Überlegungen, die da kommen mögen, in der eigenen Tradition schon einmal gemacht, alle Differenzierungen schon einmal vorgeschlagen worden sind. Es ist nicht unmöglich. Aber der Blick bloß in die eigene Denkgeschichte wird uns nicht lehren, ob es wirklich so ist. Wenn es nicht so ist, so entgeht uns als Philosophierenden etwas – der Sache nach. Wenn uns jedoch nichts inhaltlich wirklich Anderes begegnet, so hätte durch ernsthafte Auseinandersetzung unsere Tradition einen wichtigen Test bestanden. In jedem der beiden Fälle ist ein Gewinn, kein Verlust durch eine wirkliche Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Denktraditionen zu erwarten.

3.2 Unter den Bedingungen der Globalisierung sind Verfahrensweisen philosophischer Diskussion und Argumentation zu entwickeln, die mindestens tendenziell polylogisch sind. Es ist eine in postkolonialen Diskursen verbreitete Haltung, in einer Kritik an europazentrierter Philosophie und Philosophiegeschichte den Vorwurf des Kulturzentrismus und damit verbundener Willkür zunächst gegen okzidentale Begrifflichkeiten und Systeme zu erheben, die sich zu Unrecht als allgemeingültig ausgegeben haben, und diesem dann das je Eigene entgegenzusetzen. Für dieses Eigene kann konsequenterweise ein vergleichbarer Allgemeinheitsanspruch nicht mehr erhoben werden – man weist vielmehr

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darauf hin, dass Philosophieren immer in einem bestimmten kulturellen Kontext stehe und auch nur in seinem jeweiligen Bezug zu diesem Kontext beurteilt werden könne. Wird dies aber wörtlich genommen, so ist damit jeder Anspruch auf Universalität und Allgemeingültigkeit aufgegeben. Damit aber ist Argumentation in Sachfragen und letztlich auch nur gegenseitiges Interesse nicht mehr einzufordern. Doch gerade im Anspruch darauf, dass in Argumentation Erkenntnis stattfinden könne und zwar nicht nur für mich oder uns, für hier und jetzt, hatte Philosophieren bestanden – und zwar bei Philosophierenden aller Kulturen. Universalismus als Intention ist dem Philosophieren inhärent.9 Was daher eigentlich als Resignation der Vernunft bezeichnet werden muss, gilt nicht selten als hohe Tugend der Toleranz. Es gibt im Zusammenhang dessen, was man allgemein als »Ethnophilosophie« bezeichnen kann, eine Art von sperrigem Ethnozentrismus, der sich als Bescheidenheit ausgibt. Er tritt etwa dann auf, wenn eine Formel wie »für die Tradition N gilt p« zugleich einen Rückzug vom Anspruch des allgemeinen Geltungsanspruchs von »p« signalisiert und andererseits die Forderung impliziert, im Konzert der Weltbilder und Meinungen gehört zu werden – auch außerhalb der »Tradition N«. Ist dergleichen gar nicht angezielt, hat man sich wirklich zu fragen, was da eigentlich wozu ausgesagt wird. Mit solchem scheinbar bescheidenen Rückzug kann allerdings auch ein durchaus stolzes Isolierungsbeharren verbunden sein. Nehmen wir nun an, es gebe nach gegenseitiger Information in einer Sachfrage der Philosophie10 die relevanten und miteinander nicht vereinbaren Positionen A, B, C und D. Es könnte sich beispielsweise um solche Fragen wie die Begründbarkeit von Menschenrechten, die Gültigkeit von Normen, die Argumentierbarkeit ontologischer Voraussetzungen o.Ä. handeln. Derartig differente Positionen können intra- wie interkulturell feststellbar sein. Nehmen wir ferner an, es bestehe ein gemeinsames Interesse an der Klärung solcher Fragen. Zwischen Vertreter(inne)n solcher differenter Positionen werden Prozesse in Gang kommen, die zum Ziel haben, eine 9 | Einen außerordentlich interessanten Ansatz verfolgt Pier Cesare Bori, wenn er in seinem Ethikunterricht an »einem multikulturellen Ort schlechthin«, nämlich im Gefängnis »Dozza« von Bologna mit Häftlingen vorwiegend aus Nordafrika grundlegende Texte der »Moralphilosophie aus dem Osten und dem Westen« liest und meditiert und damit zu einer »Befreiung von Ignoranz« führen will. Vgl. dazu Bori (2004; 2006). 10 | Die »gegenseitige Information in Sachfragen der Philosophie« bei kulturell differenten Traditionen ist eine Aufgabe der Komparatistik. Soll sie »gegenseitig« sein, so setzt dies die interessierte Beteiligung möglichst aller Traditionen voraus. Interessant in systematischer Hinsicht sind dabei sowohl Differenzen wie Überlappungen. Die erste und unübersehbare Schwierigkeit dabei ist mit der Frage verbunden, ob es sich jeweils um dieselbe Sachfrage handelt.

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98 | Franz Martin Wimmer der bisher vertretenen oder auch eine neu zu entwickelnde Position zur allgemeinen Anerkennung zu bringen. Derartige Prozesse können logisch als einseitige oder als gegenseitige Beeinflussung gedacht werden. Von gegenseitiger Beeinflussung, die zu dem angegebenen Ziel führen kann, sprechen wir dann, wenn beide oder alle Seiten aktiv an der Herausbildung des Neuen beteiligt sind; bei einseitigen Beeinflussungen ist dies nicht der Fall. Unter dieser Annahme sehen wir, dass Beeinflussungsprozesse von dreierlei Art sein können, die mit den Wörtern ›manipulieren‹, ›überreden‹ und ›überzeugen‹ zu bezeichnen sind, wovon nur der letzte Ausdruck ein derartiges Verfahren der Änderung von Urteilen meint, in dem alle am Verfahren beteiligten Partner(inne)n bereit sind, ihre bisherigen Urteile in einer solchen Weise zu ändern, dass der ganze Prozess als ›philosophisch‹ bezeichnet zu werden verdient, insofern Auffassungen ausschließlich nach Maßgabe eigener Einsicht entweder aufrechterhalten oder aber geändert werden. Die beiden erstgenannten sind einseitig, ihr Ergebnis ist nicht durch Urteilsleistungen der Adressat(inn)en eines Arguments bestimmt. Die Urteilsänderung aufgrund von Manipulation erfordert nicht einmal Zustimmung, diejenige aufgrund von Überredung erfordert zwar Zustimmung, nicht aber eigene Einsicht. Wir können unter diesen Annahmen schematisch folgende Modelle von Beeinflussungsprozessen im genannten Fall des Bestehens von vier differenten Urteilen unterscheiden: (a) Einseitig zentraler Einfluss: Monolog Unter der Annahme, dass die Tradition »A« allen von ihr differierenden endgültig oder eindeutig überlegen ist, wird deren Verhältnis zu diesen anderen so gedacht, dass Beeinflussungen mit dem Ziel der Angleichung an A in Richtung auf B, C und D ausgehen, dass von diesen jedoch keinerlei relevante Rückwirkungen auf A erfolgen. In diesem denkmöglichen Fall gibt es keine Dialoge und natürlich auch keinen Polylog zwischen A, B, C und D. Jede Tradition mit Ausnahme von A wird als ›barbarisch‹ eingestuft, sofern sie verändert, letztlich beseitigt und überwunden werden soll.11 Ziel ist also die Ausweitung der Tradition A und das Verschwinden von B, C und D. Im kulturtheoretischen Diskurs kann dies mit Ausdrücken wie ›Zivilisierung‹, ›Verwestlichung‹, ›Kulturimperialismus‹, auch ›Kulturzentrismus‹ oder ›Akkulturation‹ bezeichnet werden. B, C und D können in diesem Modell einander ignorieren. 11 | Das Verhältnis zu Anderen als zu »Barbaren« sehe ich darin, dass deren Maßstäbe des Verhaltens und Urteilens mit den von mir für richtig gehaltenen nicht vereinbar sind. Wo immer eine derartige Differenz auftritt und gemeinsames Handeln dadurch unmöglich wird, ist keine Toleranz zu erwarten, sondern werden Verfahren praktiziert, dieses »Andere« aus der Welt zu schaffen (vgl. Wimmer 1990).

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(b) Gegenseitiger teilweiser Einfluss: die Stufe der Dialoge In der Realität kommt es beim Aufeinandertreffen von A, B, C und D auch dann zu Dialogen und gegenseitigen Beeinflussungen, wenn sie aufgrund von traditioneller Selbsteinschätzung theoretisch wegen der selbstverständlichen Überlegenheit der je eigenen Tradition gar nicht als notwendig oder, weil eine unüberschreitbare Verstehensgrenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden gedacht wird, strenggenommen als nicht möglich erachtet werden. Solche Verfahren können wir als Prozesse einer selektiven Akkulturation verstehen. Für A sind einige andere Traditionen auf dieser Stufe nicht mehr ›barbarisch‹, sondern ›exotisch‹12, und dasselbe gilt für B, C und D, jedoch nicht vollständig. Komparative Philosophie ist hier zunehmend etabliert. (c) Gegenseitig vollständiger Einfluss: die Stufe des Polylogs Für jede Tradition ist jede andere ›exotisch‹ in dem Sinn, dass jede für jede andere fremd ist und keine von ihnen außer Frage steht: Darin liegt die konsequente Form des Polylogs und einer interkulturellen Philosophie. In der menschlichen Wirklichkeit existiert diese Form gegenseitiger Beeinflussung unter Voraussetzung tatsächlicher Gleichrangigkeit und unter Infragestellung aller Grundbegriffe, lediglich als programmatische oder praxis-regulierende Idee; dasselbe trifft allerdings ebenso für die erstgenannte Vorstellung eines einseitig zentralen Einflusses zu. Wenn also die Wirklichkeit sich stets als eine mehr oder weniger vielseitige Form der zweiten Stufe beschreiben lässt, so ist doch zu fragen, nach welchem der beiden Extreme hin eine Orientierung begründet werden kann. Das heißt: Es ist nach der Argumentierbarkeit, nach den logischen Voraussetzungen oder Vorannahmen des Modells eines nur einseitigen Einflusses bzw. desjenigen eines Polylogs zu fragen. In theoretischer Hinsicht scheint mir diese Frage unschwer zu beantworten: Solange die Möglichkeit relevanter, jedoch divergierender Traditionen hinsichtlich philosophischer Sachfragen besteht, ist das erste Modell einer bloß einseitigen Beeinflussung nicht zu rechtfertigen, das Modell des Polylogs jedoch sehr wohl. In praktischer Hinsicht ist damit noch nicht allzu viel gewonnen. Fraglich ist ja, mit welchen Verfahren der Argumentation dann philosophiert werden kann, wenn nicht von vornherein feststeht, welche Begriffe, Kategorien, Ausdrucksmittel überhaupt als angemessen zu betrachten sind. Dies ist zwar kein neuartiger Sachverhalt – es gibt in der Philosophie so gut wie in anderen Disziplinen unterschiedliche Stile, die ein gegenseitiges Verste12 | Das Verhältnis zu Anderem als zu etwas »Exotischen« kann darin bestimmt werden, dass es Gegenseitigkeit zulässt. Damit ist eine grundsätzliche Anerkennung des Anderen als einer kompetenten, wenn auch fremden Sicht der Dinge gemeint (vgl. Wimmer 1990).

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100 | Franz Martin Wimmer hen oder auch nur Ernstnehmen erschweren können, aber unvermeidbar sind –, jedoch verschärft sich die Sache, wenn Angehörige mehrerer Kulturen miteinander zu argumentieren beginnen. Dies ist nicht auf die Frage der gemeinsamen Sprache bezogen: Eine solche ist unabdingbar und es ist nicht unbedingt ein Nachteil für die Klarheit des Ausdrucks, wenn sie nicht die Muttersprache ist. Soll aber beispielsweise die Rezitation eines Liedes aus Afrika ebenso als Bestandteil einer philosophischen Argumentation gelten wie die Interpretation der These eines Klassikers der okzidentalen Tradition? Selbst wenn innerhalb der Gegenwartsphilosophie – etwa im Bereich der Beispiele, die von Philosophen der Analytischen Philosophie gerne angeführt werden – die Grenze der als zulässig erachteten Quellen manchmal ziemlich weit gezogen wird, dürfte es doch Widerstände hervorrufen, wenn jemand ein afrikanisches Lied im Rahmen eines Arguments singt und vielleicht auch noch darauf besteht, es müsse, um den Sinn zu erfassen, dazu getanzt werden. Dies ist ein konstruiertes Beispiel. Doch werden Philosophierende welcher Tradition auch immer, wenn sie die Vielheit des kulturellen Ausdrucks ernst nehmen, Argumentationsformen begegnen, die ihnen fremd und gelegentlich auch unpassend erscheinen. Darin liegt eine Herausforderung. Sie besteht darin, dass Wege gefunden werden müssen, in Argumentationen Formen zu finden, die offener gegenüber neuen Ausdrucksweisen sein müssen als die gewohnten, die aber doch zu inhaltlichen Ergebnissen führen sollen.13 Experimente, die der Suche nach neuen und angemessenen Methoden zur Überwindung von kulturell bedingten Argumentationsschranken in der Philosophie dienen, scheinen insgesamt sehr selten zu sein. In der Regel werden unter dem Titel einer interkulturellen Philosophie lediglich gewohnte akademische Formen – der Vortrag mit oder ohne Diskussion, die Abhandlung, Zitat und Interpretation der respektiven Klassiker usf. – auf ungewohnte oder bislang unbeachtete Quellen (meist wieder Texte) angewandt. Die Suche nach angemesseneren, neuen und doch konsensfähigen Methoden scheint eine Aufgabe für die Zukunft zu sein.

13 | Ein Beispiel, in dem diese Zielsetzung experimentell verfolgt wurde, stellen die Experimente mit dem so genannten »Renko« dar, wie sie ein Arbeitskreis der »Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie« (WiGiP) durchgeführt hat. Die Idee geht zurück auf eine japanische Tradition innerhalb der Dichtkunst, das »renga« oder »Kettengedicht«. Mit dem Neologismus »Renko« sollte ein »Kettendenken« bezeichnet werden. Vgl. dazu im Internet: http://homepage.univie.ac.at/Franz.Martin. Wimmer/intphdt96.html.

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Von »Matrix« zu Campanella. Kulturelle Métissagen und Mondialisierungen Serge Gruzinski

Die spektakulärsten, allgegenwärtigsten und offensichtlichsten Métissagen1 vollziehen sich auf den unzähligen Bildschirmen und Leinwänden, die heute unser Leben begleiten, seien es Kinoleinwände, Fernseh- oder Computerbildschirme. Genügt es aber, von ›kulturellen Métissagen‹ zu sprechen, um über solche Prozesse der Vermischung Aufschluss zu geben? Die Verwendung dieser beiden reduktiven Begriffe – ›Métissage‹ und ›Kultur‹ – führt nur selten zu der Frage, wie solche Produktionen zusammenmontiert werden, welche Bedeutungen sie transportieren können und welche Tragweite man ihnen zuerkennen muss.

»Matrix« – mixed bag und Mischlings-Trilogie Man kann sich keinen phantastischeren melting pot vorstellen als den Vorrat an Bildern, Ideen und Glaubensvorstellungen, von denen sich die Brüder Wachowski beim Schreiben des Drehbuchs und bei der Verfilmung der Trilogie »Matrix« inspirieren ließen. Sie ist mit Zitaten aus Kino und Literatur gespickt. Sie steht im Schatten Bruce Lees und der Kung-Fu-Filme, von »Superman II«, »Akira« und »Total Recall« (Paul Verhoven); dazu kommen Anspielungen auf die Science-Fiction-Literatur und Zitate aus Klassikern

1 | Anm. d.Ü.: métissage, le = dt. Mestizentum, Rassenmischung. Der Ausdruck wird hier terminologisch für die verschiedensten Prozesse der (kulturellen) Vermischung, insbesondere des religiösen Synkretismus verwendet. Im Folgenden wird das Substantiv mit ›die Métissage‹ wiedergegeben (oft auch im Plural: ›die Métissagen‹), das Adjektiv métis mit ›gemischt‹ oder ›Mischlings-‹.

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104 | Serge Gruzinski wie »Alice im Wunderland« (mit der der von Keanu Reeves verkörperte Held Neo verglichen wird).2 Aber in der Trilogie wimmelt es ebenso von Anleihen an verschiedene religiöse und philosophische Strömungen. In »Matrix« flirten Judaismus, christlicher Gnostizismus, calvinistische Prädestinationslehre, Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und Islam mit Fetzen von Platonismus und postmodernem Denken (Baudrillard). Man mag sich darüber mokieren. Wir werden es vorziehen, darin die Entstehung einer weltumspannenden Kultur zu sehen, die man ebenso in dem weltweiten Bestseller am Werk findet, zu dem »Der Da Vinci Code« von Dan Brown geworden ist (Brown 2004). Soll man die Frage damit abtun, dass man von religiösem Synkretismus spricht, oder muss man nicht vielmehr einräumen, dass man vor einer Montage steht, die umso komplexer ist, als sie sich teilweise ihren Schöpfern entzieht und nie in ihrer Gesamtheit wahrnehmbar oder auch nur vorstellbar ist? Die Komplexität der Textur und die Diversität der möglichen Zugänge erfordern multiple Lesarten, und die Filmkritik in den USA und anderswo hat es auch nicht versäumt, sich darauf einzulassen. Man würde sich auch täuschen, wollte man »Matrix« auf eine Abhandlung über Religionsgeschichte reduzieren, in der man die Seiten durcheinandergebracht hat. Das Wesentliche steckt nicht in den Weisheiten, die die Trilogie ausbreitet oder von denen sie das Gefühl gibt, sie würde sie heraufbeschwören, sondern in der Mobilisierung multipler Zugänge, von denen keiner völlig mit einer klar abgegrenzten Tradition oder mit einem bestimmten Credo zusammenfällt. Zitate, Einflüsse, Mischungen? »Matrix« ist beispielhaft für die Métissagen am Ende des 20. Jahrhunderts. Die unaufhörliche Verschmelzung von Bildern und Ideen – diese Kakophonie, die für unser akademisches Wissen und Arbeitswerkzeug so verwirrend ist – lässt zunächst den von Anfang bis Ende konstruierten Charakter der Trilogie hervortreten. Ständig glaubt man, bekannte Elemente wahrzunehmen, ohne dass aber irgendeine Episode in einem einfachen Pastiche aufgehen würde. Eine Anthropophagie – ähnlich der, von der die brasilianischen Modernisten sprachen3 – verwandelt jedes Versatzstück, indem sie es in Verbindungen einfügt, die von variabler Kohärenz, aber jeweils einzigartig sind. Deshalb erscheint jedes identifizierbare Element in Form eines Restbestands: Überbleibsel von Glaubensvorstellungen, Fragmente von Mythen, Bruchstücke von Filmen oder von literarischen Werken, die nie ohne Weiteres übernommen werden. Neo nähert sich der Figur des Christus an, ohne jemals darin aufzugehen, 2 | Aus der Flut der Schriften, die von der Trilogie angeregt wurden, sind hervorzuheben: Kapell/Doty (2004); Haber (2003). 3 | In Bezug auf die Akkulturationen und Assimilationen, aus denen die Geschichte Brasiliens gewoben ist. Die Anthropophagie der Schöpfer von »Matrix« entstammt aber nicht mehr der Moderne.

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er kann nur ein Christus ›in Anführungszeichen‹ sein. In der Trilogie finden immer wieder verfälschte Echos ihren Widerhall, ungefähre, endlos abgestufte Resonanzen; sie spielt mit Reflexen, die aus zerbrochenen oder teilweise verhangenen Spiegeln aufscheinen. Diese mythischen Restbestände verweisen auf die Erscheinungsformen, unter denen heute in Westeuropa und in den USA oft Religionen und ›religiöse Kulturen‹ weiterleben. Aber sie stimmen auch mit den Formen, Ideen, Erwartungen und Ängsten zusammen, die die Vorstellungshorizonte4 der westlichen Welt im weiten Sinne durchziehen und ihnen Ausdruck verleihen. Solche Restbestände – Ikonen, Visionen, Szenarien, Symbole und visuelle Codes – sind immer noch fruchtbar genug, um vom Zuschauer wiederaufgenommen werden zu können, und um die Fragen erneut aufzuwerfen, die von den ursprünglichen Mythologien, den literarischen Werken vergangener Jahrhunderte oder den großen Traditionen des Kinos transportiert wurden. Solcher Ersatz5 ist wiederaufladbar, anders gesagt, er kann »reloaded« werden (Kapell/Doty 2004: 65), als wäre er nach wie vor in der Lage, einen Einfluss auf die Vorstellung auszuüben. Zugleich hat er sich weit genug aufgelöst, um multiple Interpretationen zuzulassen und sich auf diesem Weg in die Vorstellungswelten der Zuschauer einzuschreiben – und in das, was ihnen heute als ›Weltkultur‹ gilt.6 Aus all dem lässt sich also ein heterogenes und bunt zusammengewürfeltes Ensemble komponieren, das der Fachmann belächelt, aber auch ein weicher und bildsamer Stoff, nützlich in einer Zeit der Auflösung, der Diversifikation und Umgestaltung des Wissens, und damit nach wie vor stark genug, um die entlegensten Vorstellungswelten miteinander zu verbinden. Vergessen wir nicht, dass »Matrix« in der ganzen Welt ausgestrahlt worden ist, und dass der Trilogie überall ein beeindruckender Empfang zuteil wurde. Die Tokyoter Massen wohnten der Premiere von »Matrix reloaded« in Anwesenheit der Stars der Trilogie bei, während in Moskau Getreue der alten kommunistischen Partei, die vor dem Puschkin-Kino zusammengekommen waren, wo das Werk gezeigt wurde, Slogans skandierten und ihren Neo-Kommunismus proklamierten – der Held von »Matrix« heißt Neo! – und ihren Willen, die »Matrix« zu überwinden … Die Merchandising-Produkte, die die weltweite Ausstrahlung der Trilogie begleitet haben, haben

4 | Anm. d.Ü.: Frz. les imaginaires. Im Folgenden auch übersetzt mit ›Vorstellung‹ oder ›Vorstellungswelten‹. 5 | Anm. d.Ü.: Im Original deutsch und im Plural (ces ersatz). 6 | Der Erfolg von »Der Da Vinci Code« beruht auf ebenso bunt zusammengewürfelten und fragmentarischen Verbindungen: Der Rückbezug auf die biblischen Apokryphen ist beispielhaft für diese Wiedergewinnung des Fragments. Dieses Gemisch aus Anleihen gestaltet sich aber zu einem Ganzen, das kohärent genug ist, um Hunderttausende von Lesern in seinen Bann zu ziehen.

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106 | Serge Gruzinski deren Wirkung in den Köpfen der Zuschauer und Konsumenten noch verstärkt.

Messianismen und Millenarismen Heterogen, fragmentarisch, bunt zusammengewürfelt, aber nie willkürlich oder zufällig, gruppieren sich die Versatzstücke, aus denen »Matrix« zusammengesetzt ist, um eine Reihe von Rastern, ohne die seine narrative und filmische Alchemie nicht funktionieren könnte. Eines davon stellt die Frage nach der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation: Die Protagonisten leben in einer virtuellen Realität, der sich manche zu entziehen versuchen, indem sie die Lücken eines Computersystems oder Fehler seiner Programmierung ausnutzen. Diese Dimension ist zum Gegenstand einer Menge von mehr oder weniger treffenden Kommentaren geworden. Danach gehört »Matrix«, insofern es schon aufgrund seines Charakters als filmisches Spektakel die etablierten Grenzen zwischen Illusion und Wahrheit, Immanenz und Transzendenz verwischt, in die Kategorie der reinen Simulation. Besser gesagt, weil die zweite Episode behauptet, alles sei nur Simulation, stellt »Matrix reloaded« seine radikal postmoderne Herkunft zur Schau. Aber »Matrix« ist auch eine Konstruktion mit religiösen Anklängen. Die Weise zum Beispiel, wie das Christentum »wiederaufgeladen« wird, die Einbettung in eine in den USA beheimatete christliche und heroische Tradition und die vielfältigen Abstände, die »Matrix« im Verhältnis zu diesen Modellen herstellt, weisen auf das Schicksal des Religiösen in den westlichen Gesellschaften vom Anfang des 21. Jahrhunderts hin. Wie sollte einem die Verarbeitung messianischer und millenaristischer Elemente nicht auffallen, die sich von einem Ende zum anderen durch die drei Episoden ziehen, auch wenn die Kritik diesen so einzigartigen Aspekten kaum die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sie verdienen? Diese Elemente rhythmisieren nicht nur den Ablauf der drei Filme, indem sie den Faden der Erzählung halten; großenteils liegen sie den emotionalen Reaktionen zugrunde, die die Vorstellung beim Zuschauer auslöst. Sie scheinen unlösbar mit der extremen Gewalt verbunden zu sein, die alle Teile der Trilogie durchtränkt und die in dem Videospiel »Enter« noch deutlicher zutage tritt. »This violent translation of world religious traditions within the Matrix has serious implications for our own violent culture with which it resonates.« (Kapell/ Doty 2004: 106) Die Aneignung der verschiedenen religiösen Traditionen vollzieht sich unter Ausschluss jeder friedfertigen oder pazifistischen Regung; jedes Harmoniestreben wird verbannt, sei es christlich, hinduistisch oder buddhistisch inspiriert. Ganz im Gegenteil beutet die Trilogie den Anteil an Aggressivität aus, den diese Religionen auch immer verbreitet oder legitimiert haben. Neo, der Held von »Matrix«, ist auserkoren, die Reste einer Menschheit

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zu verteidigen, die sich in der unterirdischen Stadt Zion verschanzt hat, über die der Prophet Obadja schrieb: »Aber auf dem Berge Zion werden Gerettete sein, und er soll heilig sein.«7 Neo kämpft gegen eine Inkarnation des Bösen, Agent Smith. Er stirbt und steht wieder auf als Träger der Offenbarung, dass das alltägliche Universum nichts als eine Illusion ist, erzeugt von einer künstlichen Intelligenz, die die menschliche Energie im materiellsten und brutalsten Sinn des Wortes absorbiert. Christus und Messias, der von der Vorsehung gesandte Retter einer versklavten Menschheit, ein Supermann, der durch die Luft fliegt, all das zusammen ist Neo. Namen wie Seraph, Zion, Trinity und Nebukadnezar, die Spiele mit Vorbestimmung und Prophezeiung, die Prüfung des Glaubens,8 einige Auferstehungen, ebenso Neos Tod, der von einem »It is done« (»Es ist vollbracht«) markiert wird, das der deus ex machina verkündet (»Matrix Revolutions«, vgl. Johannes 19:30): Eine ganze Palette von Elementen weist ständig auf eine jüdisch-christliche Herkunft hin, ohne dass sie jemals als solche ausgewiesen würde.9 Was lehrt uns »Matrix« mit seiner Aufmachung als religiöse Mischlings-Trilogie? Sind die messianischen und apokalyptischen Themen, die das Geheimnis der Welt enthüllen sollen, die Métissagen, die in die Trilogie und in die weltweite Rezeption dieses Hollywood-Produktes einfließen, eine Erscheinung der Mondialisierung der Vorstellungen? Oder stehen wir nur vor einem Wust von Erfindungen, die den Köpfen der geschäftstüchtigen Schöpfer der Trilogie entsprungen sind?10

7 | Obadja 17 (in: »Die Bibel oder Die ganze heilige Schrift«, nach der Übersetzung von Martin Luther, mit Apokryphen, Deutsche Bibelstiftung Stuttgart 1978, S. 846). Für den geretteten Rest von Juda (vgl. Jesaia 4:3) bringt der Tag des Herrn keinen Schrecken mehr, sondern die Sicherheit des Heils auf dem Berg Zion als einem unantastbaren Heiligtum, in dem die Fremden nicht mehr ein- und ausgehen werden. Vgl. auch Joel 3:5 und 4:17. 8 | Vgl. das »Now do you believe« (»Glaubst du es nun?«) des Morpheus, nachdem Neo Trinity aus einem abstürzenden Hubschrauber gerettet hat (zitiert in Kapell/Doty 2004: 67). 9 | Tatsächlich ist nichts davon förmlich christlich, auch wenn der Hinweis auf die Trinität ein Leitmotiv darstellt, das sich mit Morpheus als Stellvertreter des Vaters, Neo, dem opfergeweihten Sohn und Trinity, einem weiblichen Heiligen Geist leicht entschlüsseln lässt. So lässt sich die katholische Trinität wiederherstellen und zugleich verschieben, umformen oder korrigieren: Morpheus ist ein Afro-Amerikaner und Trinity eine Frau. Political correctness und gender verpflichten (vgl. Kapell/Doty 2004: 67). 10 | »Matrix« ist ja auch nicht die einzige Hollywood-Produktion, die Schemata verbreitet, in denen sich die dynamischen Aspekte der Action mit leicht verallgemeinerbaren Erwartungen und Weltdeutungen verbinden. »Krieg der Sterne«, »Dune –

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Spiegelungen der iberischen Mondialisierung Wenn sich die Filmkritik wenig für die millenaristischen und messianischen Komponenten von »Matrix« interessiert hat, so deshalb, weil sie dazu in der Zeit hätte zurückgehen müssen, fernab der Räume und Perioden, die von den heutigen Gesellschaften frequentiert werden. Diese Art von Archäologie wäre ohne großes Interesse, wenn sie sich darauf beschränken würde, die Genealogie der Glaubensvorstellungen aufzustellen, mit denen die Hollywood-Produktionen ihr Spiel treiben. Die Auflistung ist gewiss nicht unnütz, aber sie allein hilft kaum, die Triebkräfte und die Tragweite des Phänomens zu erfassen. Anders steht es damit, wenn man den Komplex untersucht, den in bestimmten Epochen der Vergangenheit Métissagen, Messianismen und Mondialisierung bilden; weniger um Vorläufer der Produktionen der Brüder Wachowski auszugraben als um tiefer in die näheren Umstände der Hollywood’schen Bilderwelt einzudringen. Dieser Rückgang in der Zeit wird uns mitten in die europäische Renaissance führen, in die Epoche der iberischen Mondialisierung, in der sich apokalyptische Visionen der Geschichte und der Welt erneuern und über die Kontinente ausbreiten (vgl. Gruszinski 2004; Prosperi 1999: 15-63, 1976: 1-67). Wenn es wahr ist, dass die Welt schon andere Mondialisierungserfahrungen gesehen hat, so war die ›iberische Mondialisierung‹ unstreitig die erste, die es erreicht hat, Europa mit den anderen Kontinenten zu verbinden. Während der Vertrag von Tordesillas (1493) den Globus zwischen Portugal und Kastilien aufgeteilt hatte, versammelte die iberische Vereinigung der beiden Königreiche der Halbinsel weniger als ein Jahrhundert später, im Jahr 1580, europäische, amerikanische, afrikanische und asiatische Besitzungen unter einem einzigen Szepter, nämlich dem Philipps II. Diese Mondialisierung, die im Verlauf des 16. Jahrhunderts Schritt für Schritt aufgebaut wurde, war zugleich die Frucht eines politischen und dynastischen Unternehmens und hatte religiöse, ideologische, ökonomische, intellektuelle und künstlerische Dimensionen, die wir in einem anderen Werk erforscht haben. In Afrika, Asien und Amerika entstanden Mischlings-Gesellschaften, so dass Métissagen in allen Formen zu einer der bestimmenden Achsen der iberischen Mondialisierung wurden. Ausbrüche von Messianismus und Millenarismus begleiteten die Expansion der iberischen Herrschaft innerhalb wie auch außerhalb der Christenheit. In Europa und Amerika entzündeten sich Brandherde, ohne dass dem islamischen Asien diese Strömungen fremd geblieben wären. Versuchen wir, den Zusammenhang genauer zu bestimmen, der damit zwischen Messianismen und iberischer Mondialisierung entsteht. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war das christliche Europa UmwälzunDer Wüstenplanet« oder »E.T.« sind weitere Beispiele dafür, um nicht von einer ebenso berühmten Trilogie zu sprechen, nämlich »Terminator«.

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gen und Schocks ausgesetzt, die seine Grundlagen und Gewissheiten ins Wanken brachten. Das lutherische Schisma hat die religiöse Einheit Westeuropas zerbrochen. Durch den Aufstieg des ottomanischen Reiches zur Macht und durch die Bedrohungen, die es über den Küsten des christlichen Mittelmeers und über dem Herzen Europas selbst schweben lässt, tritt der Orient auf alarmierende Weise auf den Plan. Vasco da Gamas Vorstoß nach Indien hat den Fernen Osten ins Blickfeld Europas gerückt, während im Westen, auf der anderen Seite des Atlantiks, die kastilischen Entdeckungen die Horizonte der für die Europäer bekannten Welt erweitert haben. Für den spanischen Historiker und Humanisten López de Gómara stellte die Entdeckung der Neuen Welt das wichtigste Ereignis seit Christi Geburt dar. Die Expansion der Iberer in den Orient hinein und nach Amerika, das Zusammenrücken und die Paniken der Christenheit gegenüber dem Islam sowie die von der Reformation bewirkten inneren Erschütterungen und Wirren stellen die lateinische Christenheit innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen radikal in Frage. Man kann verstehen, dass manche Europäer das 16. Jahrhundert als eine unerträgliche Gegenwart erlebten, als einen beispiellosen Ebenenwechsel, und dass sich einige sogar in die Erwartung der bevorstehenden Rückkehr des Messias flüchteten (vgl. Prosperi 1999: 49). Im Gegenzug zu den gegenüber dem Islam und Luther erlittenen Verlusten interpretieren Rom und die Katholiken die Expansion bis ans Ende der Welt als eine offene Tür für die Bekehrung der Völker der ganzen Erde, plenitudo gentium. Ein Zeichen der Nähe des Jüngsten Tages, wird diese Bekehrung als Vorspiel zur Ankunft des Antichrist betrachtet, von der Luther und der Türke bereits einen furchterregenden Vorgeschmack geben. Deutungen des Alten und Neuen Testaments bringen den Jüngsten Tag mit der »Mondialisierung« des Christentums in Verbindung. Die lateinische Formel plenitudo gentium/plenitudo temporum bringt diese Zuversicht und die Hoffnungen eines Jahrhunderts auf den Punkt, das für viele ein »apokalyptisches Saeculum« war, um den Ausdruck des deutschen Historikers W.-E. Peuckert aufzunehmen (Peuckert 1966, zitiert in Prosperi 1999: 42, Fn. 101).

Messianismen in Europa Wenn man mit gutem Recht von einer »millenaristischen Konjunktur auf der eurasischen Ebene« hat sprechen können (Subrahmanyam 2001), so erscheint natürlich zunächst in der iberischen Welt der Zusammenhang zwischen europäischer Expansion, ›Schock der Zivilisationen‹ und messianisch-apokalyptischer Deutung am offensichtlichsten. Die messianischen Ideen zirkulieren umso besser, als sie sich in außergewöhnlichen Persönlichkeiten und Kontexten verkörpern. Der Fall Grenadas im Jahr 1492, das Ende der Reconquista und die Vertreibung der Juden ließen eine Kette von Ereignissen vorausahnen, die letztlich zur Parusie führen mussten: Rücker-

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110 | Serge Gruzinski oberung Jerusalems, Bekehrung der Moslems, Juden und Heiden, Vereinigung der Menschen in einer einzigen Herde unter einem einzigen Hirten (vgl. Johannes 20:16). Von Joachimismus und Pseudo-Joachimismus genährte Prophezeiungen, geschürt von visionären Franziskanern – Arnaud de Villeneuve und Francesc Eiximenis –, unterstützt durch astrologische Vorhersagen, die ihrerseits mit Traditionen keltischen oder muslimischen Ursprungs verbunden wurden, nicht zu vergessen der von den Schriften Isidor von Sevillas inspirierte Traum einer Wiederherstellung des christlichen Spaniens: Das war mehr als genug, um Bewegung in Vorstellungswelten zu bringen, die zu eschatologischen Verzückungen bereit waren. Zu außergewöhnlichen Umständen gesellten sich außergewöhnliche Persönlichkeiten. Christoph Kolumbus, ausgebildet in einem Portugal, das ebenso sehr den Expansionsdrang, den Geschäftssinn und den Messianismus kultivierte, strebte danach, seinen Reisen eine metaphysische Dimension zu verleihen, indem er sich auf Passagen der Heiligen Schrift berief, die seine Unternehmungen mit der Christianisierung der Welt in Verbindung brachten. Der Genueser ist überzeugt, dass die Entdeckung in den heiligen Texten angekündigt wird: Bald wird das Evangelium in der ganzen Welt gepredigt, und er und die katholischen Könige sehen sich bereits als Werkzeuge Gottes. »Hierusalem y el monte Sion han de ser reedificado por mano de cristianos.«11 (Phelan 1972: 37; vgl. Milhou 1998) Kolumbus ist von der Macht des Goldes fasziniert, und mit dem Gold der beiden Indien soll der Tempel von Zion wiedererbaut werden. Der Messianismus des Kolumbus vermischt sich mit einem dynastischen Messianismus, der Ferdinand von Aragon und seine Nachfolger zu den ›letzten Kaisern‹ oder ›verborgenen Königen‹ macht.12 Die spanischen Herrscher werden die heiligen Stätten erobern und dann die Bekehrung der Völker der Erde in Angriff nehmen. Hielt sich Kolumbus für den joachimitischen Messias, der das dritte Zeitalter anführen sollte, das des Heiligen Geistes? Glaubte er wirklich, er werde auf dem neuen Kontinent das Paradies auf Erden entdecken? Umso mehr hat er den geographischen und metaphysischen Übergang vorbereitet, der Amerika an die Stelle Jerusalems setzen und daraus ein neues gelobtes Land machen sollte. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass in derselben Zeit Portugal und der Hof von Lissabon ebenfalls von messianischen Formeln wiederhallten (vgl. Subrahmanyam 2001; Jermann 1998). »As ondas navegavam do oriente [com] Todo o Céu determinado de fazer de Lisboa Nova Roma.«13 (Camões 1996: 237) 11 | Anm. d.Ü.: »Jerusalem und der Berg Zion sollen durch die Hand von Christen wiederaufgebaut werden.« 12 | Encubert auf Katalanisch, encubierto (verborgen) auf Kastilisch. 13 | Anm. d.Ü.: »Wir segelten durch die Wogen des Ostens […]. Der ganze

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Die berühmten Verse von Camões verweisen auf eine Tradition, die ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert hat. In ihnen klingt ein königlicher Messianismus nach, der sich in Antwort auf die planetarischen Ambitionen des Königs Manuel (1495-1521) am Hof von Lissabon entwickelte. Erzogen von Franziskanern, die sich den Ideen von Joachim de Flore und seinen Schülern verschrieben hatten, angeregt von Prophezeiungen wie denen des Franziskaners Jean de Roquetaillade aus der Auvergne, träumte auch der portugiesische Herrscher davon, auf dem Weg über den indischen Ozean Jerusalem zu erobern und Kaiser des Ostens zu werden. Er stellte sich vor, wie er die heiligen Stätten erreichen und an der Seite seines Schwiegervaters, Ferdinands des Katholischen, aus den Händen des Kardinals Cisneros die Kommunion empfangen würde. Während die iberischen Messianismen durch die Expansion Kastiliens und Portugals über das Meer regelrecht aufgeputscht waren, zog der Nachfolger Ferdinands und Isabellas der Katholischen, Kaiser Karl V., die Hoffnungen, die seine Großeltern geweckt hatten, auf seine Person. Sein Aufstieg zur Kaiserwürde gab Anlass zu politischen Reden, die seine universelle Mission priesen. Im Jahr 1517 verfasste der Berater des Kaisers, Mercurio de Gattinara, ein »Somnium de futura orbis monarchia« (»Traum von dem zukünftigen Königreich der Welt«). Er empfahl Karl V., sich an die Spitze der Welt zu setzen, um den Sieg des Christentums zu sichern. Alonso de Valdés schließt seinen Bericht über den Sieg von Pavia mit der Losung des christlichen Messianismus, »Fiet unum ovile et unus pastor« (»Es wird nur eine Herde und ein Hirte sein«). Die Rückeroberung der Herrschaft über Konstantinopel und Jerusalem schien zum Greifen nahe. Die ganze Welt könnte dann den christlichen Glauben empfangen (vgl. Bigalli 2000: 124). Nach dem Sieg von Mühlberg verkündet Hernando de Acuña den Anbruch des goldenen Zeitalters, »una grey y un pastor solo« (»nur eine Herde und ein Hirte«), und ruft aus: »ein Monarch, ein Reich und ein Schwert« (ebd.: 76). Wenn Karl V. und seine Nachfolger sich auch hüteten, offen das messianische und millenaristische Gedankengut auszuschlachten, so wussten sie doch das Bild des guten Hirten zu kultivieren, der dazu berufen ist, die Gläubigen der ganzen Welt zu versammeln:

Himmel [war] entschlossen, Lissabon zu einem neuen Rom zu machen«. In der Übersetzung von Rudolf von Belzig (Stuttgart: Cotta 1886) lautet die ganze Passage (6. Gesang, 6.-7. Strophe): »So schiffend durch des Ostens salz’ge Fluten /Dem Indus nah, wo schon das Lager prangt, /Von dem sich Sol erhebt in Strahlengluten, /Ist schon die Flotte fast ans Ziel gelangt: /Als Bacchus, dessen Ränke nimmer ruhten, /Und welchem sehr um die Erfolge bangt, /Die dort den Lusitanen sich verhießen, /In Zorn und Wut beginnt sich zu ergießen. /Er weiß es, wie die Himmlischen entschlossen, /Als neues Rom soll Lissabon erstehn […].« (Ebd.: 142)

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112 | Serge Gruzinski »Ia a nova geraçam vem do alto ceo e deixadas as armas correrão mundos dourados Agora se compriram as profecias dos prudentes que vos sereys hum Rey e hum pastor na terra.«14 (Bouza Alvarez 2000: 90)

Aber die Erwartungen, die um die Person des kastilischen Herrschers kreisen, sind weit davon entfernt, die Kraft der Glaubensvorstellungen zu haben, die sich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts in Portugal ausbreiten. Der auf die Dynastie bezogene Messianismus bezog eine ungeahnte Kraft aus einem militärischen Desaster. Das mysteriöse Verschwinden des Königs Don Sebastian in der Schlacht von Kasr al-Kebîr im Jahr 1578 schürte bald leidenschaftliche Hoffnungen, die den Sebastianismus begründeten. Die Rückkehr des verschwundenen Königs stand außer Zweifel: Sebastian würde Portugal von der kastilischen Vormacht befreien15 und das fünfte Kaiserreich der Welt gründen. Im Sebastianismus finden volkstümliche Glaubensvorstellungen ihren Niederschlag, die im 16. Jahrhundert in Portugal und auf der iberischen Halbinsel durch eine Reihe von Prophezeiungen in Versform, den Trovas von Bandarra, erneut angefacht wurden. Der um 1500 geborene Gonçalo Andres Bandarra, Schuhmacher in Trancoso, hatte die Ankunft des Encoberto (des Verborgenen) angekündigt, des »rei das passagens do Mar e sua riqueza« (des »Königs der Durchfahrten des Meeres und seines Reichtums«), wobei er erklärte, dass dann »todos crerão que já veio o Ungido Salvador« (dass »alle glauben werden, der gesalbte Erlöser sei schon gekommen«). Bandarra wurde 1541 in Lissabon verurteilt. Aber seine Ideen pflanzen sich in der portugiesischen Welt und sogar darüber hinaus fort. Ausgestattet mit offen subversiven Dimensionen, regt der Sebastianismus vom Ende des 16. Jahrhunderts die anti-kastilische politische Propaganda an, die der Enkel eines Vizekönigs Indiens, João de Castro, betrieb. Dieser verbreitet einen regelrechten Mythos, der den Encoberto mit dem König Sebastian gleichsetzt. Behauptet João de Castro nicht in seinem »Discurso da vida do sempre bem vindo e apparecido Don Sebastião« (»Darstellung des Lebens des immer willkommenen und erschienenen Don Sebastian«), der 1602 in Paris veröffentlicht wurde, der König von Portugal sei am Leben, er durchschweife die weite Welt und bekämpfe die Türken, bevor er schließlich in sein Reich zurückkehren werde?16

14 | Anm. d.Ü.: »Schon steigt das neue Geschlecht vom hohen Himmel, / und die Waffen niedergelegt, werden sie goldene Welten durchziehen. /Jetzt erfüllen sich die Prophezeiungen der Weisen, /dass Ihr ein König und ein Hirte auf Erden sein werdet.« 15 | Wie man weiß, hatte Sebastian keinen Erben. So war es Philipp II., der die portugiesische Krone an sich riss und die Vereinigung der beiden Reiche vollzog. 16 | João de Castro hatte auch einen Text »Da quinta e última monarquia futura

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Unterdessen findet angesichts der Virulenz der portugiesischen Strömung ein scheinbar der spanischen Krone treuer königlicher Messianismus auf italienischem Boden einen begnadeten Wortführer. Ganz am Ende des 16. Jahrhunderts steht der spanische Anspruch auf die Weltherrschaft im Zentrum der Reflexionen eines kalabrischen Mönches. In einem Werk zum Ruhme Spaniens, der »Monarchia di Spagna«, bestimmt Tommaso Campanella die Position des katholischen Königs in der ›katholischen‹ und somit universellen Welt: Dieser »gira da Spagna per il Bresil, per lo stretto di Magaglianes, per il mar Pacifico e per le Filipine, per il Giappone, per la China, per l’arcipelago di San Lazaro, per Malaca, per Bengala, per Narsinga, per Calicut, per Goa, per l’Indo, per Ormus, per il Capo delle Guarde (Gardafui), per l’isola di San Lorenzo, per la costa orientale d’Africa, per il capo di Buona Speranza, per la costa d’Africa occidentale, per la Ghinea, per Capo Verde, per l’isole Fortunate di Spagna medesima, attorniando il mondo col Sole«17 (Campanella 1997: 32-34).

Für Campanella bekundet sich diese Weltherrschaft durch die Feier der heiligen Messe zu jeder Stunde, eine »stupenda cosa e segno di grand’imperio« (»Eine staunenswerte Sache und Zeichen großer Herrschaft«), ein »Sacrificium, welches eine machtvolle Wirkung auf die Herzen der Untertanen ausübt«. Diese weltweite Ausdehnung fällt mit dem Nahen des Jüngsten Tages zusammen: »Das Ende der Königreiche ist gekommen […]. Wir befinden uns in der Zeit, in der sich alles im Reich der Heiligen und in der Kirche zusammenfinden muss […]. Dies wird geschehen, wenn die vier Königreiche vergangen sind und der Antichrist tot ist.« Der König von Spanien spielt also eine messianische Rolle. Er wird der neue Kyrus, »die Salbe, die Gott genommen hat, um die ganze Welt zu unterwerfen, Jerusalem wieder aufzurichten, es aus der Gefangenschaft zu befreien und den Tempel für den Gott des Himmels zu erbauen«. Nach der Befreiung der Kirche von

con muitas outras coisas admiravéis dos nossos tempos« (»Vom fünften und letzten Königreich der Zukunft, mit vielen anderen wunderbaren Dingen unserer Zeit«) verfasst (Paris 1597). 17 | Anm. d.Ü.: Dieser »zieht von Spanien nach Brasilien, durch die Magellanstraße, über den Pazifik und zu den Philippinen, nach Japan, China, zum St. Lazarus-Archipel, nach Malakka, Bengalen, Narsinggarh, Kalkutta, Goa, zum Indus, durch die Straße von Ormus, zum Kap Guardafui, zur Insel San Lorenzo, entlang der Ostküste Afrikas, vorbei am Kap der Guten Hoffnung, entlang der Küste von Westafrika, nach Guinea, zum Kap Verde, zu den glückseligen Inseln Spaniens selbst, die Welt mit der Sonne umrundend«.

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114 | Serge Gruzinski ihren Übeln wird er »mit Leichtigkeit die Vorherrschaft über die Welt erreichen können«, und er wird die Herde wieder vereinigen, »facendo unum ovile et unus pastor«. »Das Ende der Welt ist nahe, es wird nur noch eine einzige Herde geben, unum ovile […]. Alle Nationen und alle Reiche, die ihm nicht dienen, werden untergehen.« (Ebd.: 5, 25, 33, 53) Einmal mehr rufen die weltweite Ausdehnung der iberischen Herrschaft und die Vermischung der Völker apokalyptische und messianische Visionen hervor.

Messianismen in Amerika und andernorts Diese iberischen und mediterranen Ausdrucksformen sind zeitgleich mit amerikanischen, die im Laufe des 16. Jahrhunderts vermehrt auftreten. Manche entstehen aus den Ablegern der Alten Welt, während andere Reaktionen der Ureinwohner auf die iberische Kolonisation zum Ausdruck bringen. Die Franziskaner Mexikos bildeten die erste Phalanx der in Mittelamerika gelandeten Missionare. Angesichts von Massen von Indianern, die es zu christianisieren galt, gestärkt durch die Erfolge, die die Taufe von Zehntausenden von ihnen darstellte, schöpfen diese Franziskaner aus den joachimitischen Schriften die Ideen und die Tatkraft, die der beispiellosen Unternehmung, deren Träger sie sind, einen Sinn geben. Die Entdeckung der Neuen Welt und die Bekehrung der Indianer markieren in ihren Augen einen Abschnitt in der Geschichte der Kirche und der Welt. Zudem beabsichtigen sie, eine primitive Christenheit wiederzuerschaffen, oder vielmehr eine Christenheit der Endzeit, kurz: eine neue und erneuerte Welt, in deren Mitte Cortés als ein neuer Moses und Karl V. als Kaiser eines neuen Zeitalters auftreten. Die Hoffnungen der Franziskaner gehen in den königlichen und kaiserlichen Messianismus einer katholischen und universellen Monarchie ein, die zugleich ein ›Königreich der beiden Indien‹ ist. In Peru, in einer Gegend, die lange von der Conquista und von Bürgerkriegen heimgesucht worden war, waren die Geister durch die Revolte des Hernández Girón (1553-1554) erhitzt, die einen unbestimmt messianischen und millenaristischen Einschlag hatte. Die Ausgestoßenen der Conquista waren bereit, einem Mann zu folgen, der sich als Beschützer der Armen ausgab und dem der heilige Franziskus selbst erschienen war, um ihn zu ermutigen, seiner Berufung zu folgen. Etwa 20 Jahre später waren offen ausgesprochene messianische und millenaristische Bestrebungen der Auslöser für eine beispiellose Affäre. Sie brachte den Mönch Francisco de la Cruz (1529-1576), der eine der herausragendsten Persönlichkeiten des Dominikanerordens in dieser Gegend der Welt war, auf den Scheiterhaufen. Theologe, Prediger und zweimal Rektor der Universität von Lima, übertraf Francisco de la Cruz die apokalyptische Dreistigkeit des Bartolomé de las Casas, der Spanien mit einer neuen ›Zerstörung‹ für die in der Neuen Welt begangenen Ungerechtigkeiten gedroht und sogar die Idee einer Überfüh-

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rung der Kirche nach Amerika in die Welt gesetzt hatte.18 Verkündete nicht Francisco de la Cruz, er werde das Haupt der Kirche werden, Rom und Spanien würden zerstört werden? Der Dominikaner sollte König von Peru und Papst der katholischen Kirche werden (vgl. Abril Castelló/Abril Stoffels 1992: 1055). Ein neuer David, ein neuer Christus (ebd., II, 2: 1197) – zwei eindeutig aus der joachimitischen Tradition aufgenommene Beinamen – Erbe der Könige von Spanien und derer von Israel (ebd., II, 2: 1198), würde er über Israel herrschen (ebd., I: 1032), ein indisches Israel, bewohnt von Indianern, in denen er die Nachkommen der verlorenen Stämme Israels zu erkennen glaubte. Wenn die Prophezeiungen des Francisco de la Cruz eine Antwort auf die Fragen zu geben versuchten, die die Christianisierung der Indianer und der Ursprung dieser neuen Menschenrasse aufwarfen, so stellten sie zugleich die Kolonisierung Amerikas radikal in Frage und überantworteten ein katholisches Europa, das seines Erlösers nicht würdig war, der Zerstörung durch die Hand der Türken. Messianische und millenaristische Explosionen erschüttern ebenso das Amerika der Ureinwohner von Mexiko bis Brasilien und bis zu den Anden. Sie alle antworten auf den Einbruch der Europäer in die Welt ihrer Ahnen. Viele verbinden indianisch-amerikanische Traditionen mit europäischen Glaubensvorstellungen. In Mexiko ziehen Gott-Menschen durch die Landschaften des Altiplano und rufen zur Revolte gegen die Spanier auf. Diese Indianer erklären, sie seien Götter, und verkünden das Ende der Welt (vgl. Gruszinski 1985). In Peru macht in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Bewegung der Ureinwohner von sich reden.19 In den 1560er Jahren erscheint in der Region von Cuzco und Huamanga (Ayacucho), dann in einem riesigen Gebiet, das sich von Lima bis La Paz erstreckt, der Taki Onqoi. Zeugen berichten, dass die Indianer tanzen, um den Krieg gegen den Gott der Spanier vorzubereiten und die Rückkehr der Huacas, ihrer alten Gottheiten anzukündigen. Einige Adepten nehmen sogar die Namen Maria und Maria Magdalena an (vgl. Abercrombie 2002: 88). Ein Pachacuti, das heißt eine Umwälzung der Welt, würde bald zur Ausrottung der Eindringlinge führen. Es scheint aber, dass diese Indianer weit davon entfernt waren, alle christlichen Praktiken abzulehnen, und dass ein Teil der Tänze und Riten Eingang in die christliche Liturgie fanden; was dazu Anlass gibt, in dieser Bewegung eine synkretistische Dimension zu erkennen, die von den Zerstörern der Kirche bewusst unterdrückt wurde, um ihren subversiven Charakter besser herauszustellen.20 18 | Las Casas verglich die Truppen der Konquistadoren mit Mohammedanern, die darauf aus waren, Indien zu zerstören, so wie die Türken die Christen vernichteten. 19 | Über den Taki Onqoy vgl. MacCormack (1991). 20 | Vgl. dazu die kritische Bibliographie in Abercrombie (2002). Die Andauer der Encomienda hat unzweifelhaft die Feindschaft gegen die Spanier geschürt, inso-

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116 | Serge Gruzinski Im portugiesischen Brasilien vereinigen Santidades (»Heiligkeiten«) Gruppen und Glaubensvorstellungen unterschiedlicher Herkunft. In Salvador de Bahia gibt im August 1591 ein Portugiese, ein alter Christ, der aus der Algarve stammt und Eigentümer einer Fazenda (eines Landgutes) in Jaguaripe ist, bei der Inquisition eine Affäre zu Protokoll, die sich sechs Jahre zuvor auf dem Gebiet seiner Besitzungen abgespielt hat (vgl. Vainfas 1997: 63). Eine »nova seita« (»neue Sekte«) sei bei den Indianern (gentio, den Heiden) des Sertão (des Landesinneren) erschienen, sie nenne sich eine Santidade. Bestehend aus heidnischen und christlichen Indianern, Freien sowie Sklaven, hatte diese Santidade einen christianisierten Eingeborenen zum Oberhaupt, der sich als »Pape« (Papst) anreden ließ. Er wurde von einer Indianerin begleitet, die »Mutter Gottes« oder »mãe de todo o mundo« (»Mutter der ganzen Welt«) genannt wurde (ebd.: 182, 352, 357). Ihr Gott würde sie von »cativeiro em que estavam« (»der Gefangenschaft, in der sie sich befanden«) befreien, er würde sie zu »senhores da gente branca« (»Herren über die weiße Rasse«) machen, »e […] os brancos haviam de ficar seus cativos« (»und die Weißen würden ihre Gefangenen sein«). »Havia de nascer um fogo novo entre eles (= cristãos)« (»Ein neues Feuer würde unter ihnen [= den Christen] auflodern«), während sich die Ungläubigen »em pássaro e em bichos do mato« (»in Vögel und Tiere des Waldes«) verwandeln würden.

Die Welt denken und sie verändern Es würde sich empfehlen, auch die Messianismen und Millenarismen zu untersuchen, die in demselben Jahrhundert die islamischen und asiatischen Gesellschaften durchziehen. Man würde dann besseren Aufschluss über die weltweite Sprache gewinnen, in der sich diese Hoffnungen in völlig unterschiedlichen Kontexten auf je unterschiedliche Weise artikulieren. Aber was lässt sich dieser messianischen Welt entnehmen? Im 16. Jahrhundert sind Messianismus und Millenarismus in vielen Fällen mehr als nur kollektive Schwärmereien oder verwirrte Glaubensvorstellungen. Sie inspirieren Gesellschaften und Individuen, die in eine weltweite Geschichte hineingeraten sind. Sie geben den völlig neuen Beziehungen einen Sinn, die sich fortwährend zwischen den Kontinenten vervielfältigen. Zum ersten Mal treten indianisch-amerikanische, afrikanische und asiatische Völker mit Europäern in Kontakt. Diese Beziehungen werden vor dem Hintergrund einer religiösen, wirtschaftlichen und maritimen Expansion, von Eroberungen, Konfrontationen und Zerstörungen geknüpft: Die Unternehmungen der Christianisierung und Kolonisierung, der Sklavenhandel, die Ausbreitung von Krankheitserregern in Amerika, der weltweite Kampf gegen den Islam – oder gefern sie die Indianer, Adlige wie niederes Volk, in eine von den neuen Herren völlig beherrschte Gesellschaft einzuschließen drohte (vgl. ebd.: 79-120).

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gen das Christentum – markieren die Öffnung der Welt. Die iberische Mondialisierung und die von ihr ausgelösten Reaktionen vervielfältigen die Schockwellen, die die Vorstellungswelten in Verwirrung stürzen. In Mexiko, Lima, Goa, Nagasaki, Luanda oder Macao, mitten in den Anden ebenso wie in den Ebenen von Manila wird das Lokale von dem durch die Iberer verkörperten Globalen erfasst. Traditionen, Gewohnheiten, einheimische Glaubensvorstellungen werden in Frage gestellt. Wiederholte Zerstörungen und Angriffe lassen sich durch den bloßen Rückgriff auf den Bestand an überlieferten Deutungsmustern nicht mehr erklären. Diese in Ausdehnung begriffene Welt erfordert die Übernahme und/oder Anpassung von Erklärungen von universeller Tragweite, eben die des Messianismus und des Millenarismus. Messianismen und Millenarismen bedienen sich einfacher Modelle, immer auf der Grundlage dualistischer und manichäischer Entgegensetzungen: Der Kampf des Guten gegen das Böse, des Erlösers gegen den Antichrist … Eine allgegenwärtige Gewalt zählt den Feind zu den gefürchteten Scharen des Dämons, sofern sie ihn nicht schlichtweg der Ausrottung überantwortet: Abschlachtung der Christen durch die Türken, Vernichtung der Türken durch die Kreuzritter, Ausrottung der Weißen durch die Indianer … Es geht nicht nur darum, die Welt zu denken, sondern auch, auf sie einzuwirken: Gegenwarten und Zukünfte sind beständig angekündigte Gegenwarten und Zukünfte, deren Lauf man beschleunigen muss: Führt die von der Christianisierung der Welt versprochene plenitudo gentium nicht zur plenitudo temporum? Daraus resultiert ein Aktivismus, gegründet auf Prophezeiungen, die es dringend ins Werk zu setzen gilt und die zu einem kataklystischen Sieg führen sollen, der mit spektakulären Verwüstungen und Verwandlungen einhergeht: der Zerstörung Roms oder Konstantinopels, dem Erscheinen des neuen Zion. Viele erwarten die Ankunft eines allmächtigen Helden, der fähig wäre, Ordnung in der Welt zu schaffen. »Es ist klar, dass der Mann, der das türkische Reich zerstören wird, der Herr der Welt sein wird«, schreibt Tommaso Campanella ganz zu Anfang des 17. Jahrhunderts, – er, der den König von Spanien zum großen Einheitsstifter der universellen Monarchie stilisiert. Dieser von der Vorsehung gesandte Held heißt bei den portugiesischen Anhängern des verschwundenen Königs Sebastian oder Francisco de la Cruz bei den Erleuchteten von Lima. Das besagt, dass Macht und Messianismen immer durch ein starkes Band verbunden sind. Im 16. Jahrhundert dienen Glaubensvorstellungen dazu, alle möglichen universellen Ambitionen zu rechtfertigen: die des Großmoguls ebenso wie die des Großtürken oder des katholischen Königs. Alle diese gekrönten Häupter bedienen sich zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Herrschaft messianischer Glaubensvorstellungen, die ihre Ansprüche rechtfertigen. Schließlich bieten diese Bewegungen einen privilegierten Raum zur Verschmelzung von Glaubensvorstellungen und Religionen, wobei sie orthodoxe Erwartungen und heterodo-

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118 | Serge Gruzinski xe Sonderformen vermischen und Mythologien, die früher durch die Ozeane voneinander getrennt waren, miteinander kreuzen.

Zurück zu »Matrix« Zu welchen Vermutungen führt uns unsere Vertrautheit mit dem 16. Jahrhundert? Wie man sich denken kann, geht es nicht darum, Erscheinungen der Vergangenheit, die zum Bereich des Religiösen gehören, mit heutigen Produktionen zu vergleichen, die sich dem Spektakel und dem Entertainment verdanken. Auf der einen Seite die Umsetzung millenaristischer Traditionen in Verträgen, Glaubensvorstellungen und Riten – seltener in sozialen Bewegungen –, auf der anderen Seite Bilder und Geschichten, die sich flüchtig auf der Kinoleinwand und in den vielfältigen Nebenprodukten materialisieren, die man unter dem Namen franchise zusammenfasst.21 Wenn wir die Vergangenheit der iberischen Halbinsel mit der Gegenwart Hollywoods in Zusammenhang bringen, so deshalb, weil beide uns die Weise erkennen lassen, wie sich Vorstellungswelten mondialisieren, um auf die Herausforderung einer sich öffnenden Welt zu antworten. »Matrix« bietet eine Weltdeutung an. Zugleich enthüllt die Trilogie, auf welche Weise man auf den Lauf der Geschichte und der Zeit Einfluss nehmen kann. Der Held von »Matrix« gibt alle Schuld dem Computerhirn, das die Welt regiert; er nimmt es mit der Gottheit – dem Architekten – auf, der die Falle konstruiert hat, in der die Menschheit gefangen ist. Er ist »The One«, der Auserwählte, ein außergewöhnliches Wesen, dessen mysteriöse Identität sich an einer Kette geheimnisvoller Zeichen ablesen lässt. Er ist der verborgene Held. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass Bin Laden heute ebenso präsent ist und ebenso unauffindbar bleibt, wie es zu seiner Zeit der König von Portugal, Don Sebastian, war. Verborgen, aber mit einer unbegrenzten Macht ausgestattet, auserkoren, der Herr der Welt zu werden, erfüllt der Auserwählte unausweichlich die ihm aufgetragene planetarische Mission. Die Perspektivierung, die durch den Rückgang in der Geschichte möglich wird, setzt Parallelen frei, die uns noch bedeutsamer erscheinen. Gestern wie heute wirken Messianismen und Millenarismen als mächtige Triebkräfte der Mondialisierung. Sie binden lokale Erinnerungen in eine globale Erzählung ein, in der jeder einen Teil seiner selbst wiederzufinden glaubt. Sie sprechen auf je unterschiedliche Weise eine gemeinsame Sprache. Wenn ihnen dies gelingt, so deshalb, weil sie eine erhebliche Anziehungskraft auf die Vorstellungen ausüben: Sie polarisieren die Ängste, sie katalysieren die Hoffnungen in einem Kontext der weltweiten Zirkulation 21 | Im Fall von »Matrix« die japanisch inspirierten Zeichentrickbilder, aus denen »Animatrix« zusammengesetzt ist, das Computerspiel »Enter« sowie die verschiedenen Merchandising-Produkte, die zum Verkauf angeboten werden.

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von Gefühlen und Glaubensvorstellungen. Sie ziehen alle möglichen Traditionen an, unabhängig von ihren jeweiligen Quellen. Indem sie mit einer Art von Faszination des Absoluten spielen, erzeugen Messianismen und Millenarismen geteilte Vorstellungswelten, die ebenso sehr auf dem emotionalen Schock und dem Ansturm der Bilder beruhen wie auf der intellektuellen Überzeugung. Zu dieser Anziehungskraft kommt noch ein Verbindungsvermögen. Diese Glaubensvorstellungen verbinden Traditionen, Zeitigungsweisen und Vergangenheiten miteinander, indem sie weltweite Verflechtungen herbeiführen.

Politik und Messianismus Die Mondialisierung ist nicht nur eine ökonomische oder kulturelle Metamorphose. Im 16. Jahrhundert erscheinen Messianismen und Millenarismen in erster Linie als Werkzeuge der Politik, die sich in verschiedenen oder auch einander gerade entgegengesetzten Richtungen verwenden lassen: Sei es, dass es darum geht, eine etablierte Macht zu stützen, indem ihr ein weltweiter Erfolg vorhergesagt wird, oder darum, eine als unerträglich empfundene Herrschaft frontal anzugreifen. Als Motoren universeller Ambitionen und Instrumente der Rechtfertigung arbeiten Messianismen im Dienst einer königlichen oder kaiserlichen Macht. Manuel von Portugal, Karl V., Suleiman, Akbar und die portugiesischen Thronanwärter haben in einem solchen Maß von dieser planetarischen Perspektive profitiert, dass sie selbst zu ihrer Zielscheibe werden konnten. Gegen die etablierten Mächte brechen andere Messianismen hervor, volkstümliche, einheimische und solche der Mischlingsgesellschaften (vgl. Adas 1979). Diese Messianismen vermögen dann durch ihre subversive Kraft, ihre terroristische Gewalt und ihren radikalen Fundamentalismus zu verführen. Die Messianismen des 16. Jahrhunderts weisen damit auf eine gefährliche Zweideutigkeit hin, die in der Trilogie der Brüder Wachowski durchscheint. In ihrer Entschlossenheit, eine diktatorische Ordnung umzustürzen, geraten Neo und seine Komparsen auf die Bahn der subversiven Millenaristen. Neo ist auf seine Weise ein ›Gottmensch‹ oder ein wiedergeborener Francisco de la Cruz. Subversion reimt sich hier auf Terrorismus. Die Helden von »Matrix« verhalten sich wie ›gnostische Fundamentalisten‹, die jede Art der Gewalt einsetzen würden, um unsere Welt zu zerstören. Ihre Fähigkeit, Wolkenkratzer einzureißen, erinnert unweigerlich an den Angriff auf die »Twin Towers« vom 11. September 2001. Aber der Messianismus von »Matrix« ist ebenso hollywoodgemäß wie virtuell. Er bedient sich des Kinos als Medium, um den Anspruch eines weißen und amerikanischen Messianismus auf die Weltherrschaft im Dienste der Erde und der Menschen zu veranschaulichen. Neo und seine Freunde stellen sich auch sehr klassisch als Befreier einer durch Compu-

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120 | Serge Gruzinski terprogramme versklavten Menschheit dar – eine postmoderne Version des Teufels oder des Antichrist. Einmal mehr liegt das Heil der Welt in den Händen von Messiassen, die von der Vorsehung gesandt, aber von Hollywood benannt werden. »Terminator« bietet dafür ein weiteres bemerkenswertes Beispiel. Der Gegensatz zwischen der Subversion der etablierten Ordnung und der Einschärfung der Werte des Imperiums verschwimmt, wenn man die Offenbarungen in Betracht zieht, die die zweite Episode der Trilogie, »Matrix reloaded«, bereithält. Die Rebellion ist demnach nichts als ein Programm, das der Matrix entstammt, ein einkalkulierter Fehler, der gerade für die Lebensfähigkeit und den Fortbestand des Systems nötig ist. »Außerhalb der Matrix gibt es kein Heil.« Jede Hoffnung auf Befreiung ist somit nur eine Illusion, sie kann nichts als reine Simulation sein. In diesem Fall wären Messianismus, Subversion und Terrorismus Teil des Systems, das sie erzeugt, um sich desto sicherer erhalten zu können. Ohne sein Wissen wird Neo vom Architekten, dem deus ex machina, benutzt, um das Programm auszuführen, dessen Träger er ist. Auf dieselbe Weise lassen mehrere messianische Episoden des 16. und 17. Jahrhunderts Effekte einer gegenseitigen Befruchtung zwischen subversiven und offiziellen Messianismen erkennen: In Portugal, Mexiko, Peru und Italien erweisen sich die Strömungen und Ideen zu dieser Zeit oft als eigenartig durchlässig. Diese grundsätzliche Zweideutigkeit, diese gleitenden Übergänge von der etablierten Ordnung zur Subversion, die mit der synkretistischen Montage einhergehen, erklären die vielfältigen und gegensätzlichen Lesarten, die die Trilogie »Matrix« anregt (vgl. die zahlreichen Internetseiten). Stoff genug, um über die Beziehungen nachzudenken, die zwischen dem millenaristischen Terrorismus und den weltumspannenden Mächten bestehen, die sich seiner Unterdrückung verschrieben haben. Wenn die bunt zusammengewürfelte Montage, deren filmische Illustration »Matrix« ist, unserem cartesischen gesunden Menschenverstand zuwiderzulaufen scheint, so ist sie also nicht nur die filmische Ausstattung eines Videospiels. Die Métissagen, deren Produkt sie ist, sind untrennbar mit den Mechanismen der Mondialisierung verbunden. Sie sind nur dem Namen nach kulturell. Durch diese Métissagen und durch seine Nebenprodukte gelingt es dem Produkt, über die ganze Erde verstreute Milieus in seinen Bann zu ziehen. Messianische und millenaristische Schemata prägen eine gemischte Vorstellungswelt der Macht, die zweideutig genug ist, dass ihr so unterschiedliche und räumlich entfernte Existenzen wie die Fans von Videospielen oder die Altkommunisten aus Putins Russland ins Netz gehen. In ihrer neuen technologischen Aufmachung bieten sie jedem die Illusion der Revolte und der Erlösung, das Phantasma der Vollendung, und sichern den Empire-Filmstudios zugleich bequeme Einnahmen. Aus dem Französischen von Andris Breitling.

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Musik als universale Sprache der Welt Andreas Luckner

Bringen Sie hinreichend offenherzige Musiker zusammen, z.B. einen vietnamesischen Flötenspieler, einen Percussionisten aus Mali, einen argentinischen Gitarristen und eine isländische Sängerin. Dabei wird, wenn es gute Musik ist, nicht einfach ein Gemenge entstehen, eine Verschmelzung zwischen vietnamesischer, malinesischer, argentinischer und isländischer Musikkultur. Das Bild von der Verschmelzung der Kulturen ist hier (wie vielleicht überhaupt) irreführend. Im Gegenteil, während – und in gewisser Weise, weil! – sie zusammen spielen, werden die verschiedenen Musikkulturen in ihrer Differenz zueinander hörbar. Diese Differenz ist nun keine der Fremdheit – obwohl uns gerade Musik sehr fremd vorkommen, ja in ihrer Fremdheit geradezu verstören kann, so wie den nichts Böses ahnenden jugendlichen Radiohörer, der zufällig in ein öffentlich-rechtliches Nachtprogramm mit tibetanischer Begräbnismusik geraten war und seitdem vom Thema Verstehen von Musik nicht mehr losgekommen ist. Es ist keine Beziehung einer absoluten Fremdheit, nein, offenbar können wir immer noch verstehen, sogar fasziniert sein vom ganz Andersartigen – nein, es ist eine Beziehung der (kommunikativ gestaltbaren) Alterität, keine der (kommunikativ nicht gestaltbaren) Alienität. Absolute Fremdheit nämlich lässt verstummen. Das Schweigen wiederum lässt in einen Abgrund der Kommunikation blicken, und dieser Abgrund mag sogar, wie anderweitig zu zeigen wäre, ultima ratio der Kommunikation und der Sprache überhaupt sein, aber er lässt sich selbst per definitionem nicht kommunizieren, sondern entzieht sich auf immer – und wir bemerken nur die Spuren seines Sogs. Aber in der Musik wird schon kommuniziert; ja man könnte vielleicht sagen: Die Musik ist diejenige Form der Kommunikation, die dem eben nur erwähnten Abgrund der Sprache näher steht als jede andere menschliche Ausdrucksform. Das erste, so könnte man sagen, was Menschen voneinander mitbekommen, ist ihre Musik im weitesten Sinne. Im Medium der Mu-

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124 | Andreas Luckner sik verstehen sich die Menschen, gleichgültig, welcher Kultur sie entstammen und auch unabhängig davon, ob sie Musiker sind oder nicht (jeder Mensch ist ein Musiker – ob gut oder schlecht, ist hier zunächst unerheblich). Musiker, also Menschen, verstehen einander musikalisch – nicht nur, aber zuvörderst. ›Verstehen‹, das ist in Bezug auf Musik weder Analogie noch Metapher im Verhältnis zum Verstehen von gesprochener Sprache, nein, es gibt ein genuines Verstehen im Medium der Musik. Es gibt Dinge, die lassen sich nur mit Klängen sagen. Natürlich werden unsere Musiker mit ihren jeweiligen Musikkulturen im Hintergrund über die Musik mit sich und ihrem Publikum ohne weiteres kommunizieren können, wie man es heute in Zeiten der so genannten »Weltmusik« ja auch allenthalben erfahren kann. Aber: Man könnte sich hier eigentlich einmal auffallen lassen, wie wenig selbstverständlich dies ist. Ja, es ist eigentlich ein ziemlich großes Rätsel: Wieso sind die Kulturen auf der Ebene der Musik einander so durchlässig, wie dies in keiner anderen kulturellen Sphäre der Fall ist? Wenn die Musiker kommunizieren – ist die Musik also eine Sprache? Ja. Aber eine – oder besser: die – vorbabylonische Sprache. Musik ist die universale Sprache der Welt vor ihrer babylonischen Zersplitterung in die Einzelsprachen, ›vor‹ nicht nur in einem zeitlichen, sondern in einem genealogischen Sinne. Die Sprache wird aus dem Geiste der Musik geboren. Es gibt tatsächlich so etwas wie ›die Musik‹ in ihren vielfältigen konkreten Ausprägungen der verschiedenen musikalischen Kulturen der Welt, welche gewissermaßen Dialekte der einen Sprache ›Musik‹ sind. Die Fremdheit, das Nicht-Verstehen weicht bei Teilnehmern einer Sprachgemeinschaft in Bezug auf ihre unterschiedlichen Dialekte ganz von alleine einer verstandenen und damit auch schon anerkannten Andersheit, wenn man sich in einen Dialekt ›einhört‹. So auch in der Musik. ›Die Sprache‹ i.S. gesprochener bzw. geschriebener Sprache dagegen gibt es nur als ein Abstraktum, denn hier existieren nur die vielen Sprachen und zwischen denen kann eine Fremdheit, ein Nicht-Verstehen nicht getilgt oder kommunikativ eingeholt werden. So kann es durchaus sein, dass der Malinese und die Isländerin wunderbar miteinander musizieren können, aber auf der Ebene der gesprochenen Sprache sich bei den einfachsten Dingen, etwa beim Ordern einer Pizza, nicht oder nur unter Zuhilfenahme außer- und vorsprachlicher Zeichen und Signale verstehen bzw. verständigen können. Wenn aber Musik die universale Sprache der Welt sein sollte, wie kann sie dies überhaupt sein? Zunächst: Was unterscheidet die vorbabylonische Sprache, also die Musik, von den babylonischen Sprachen? Nun, die Musik ist einschichtig, die besonderen Sprachen nach dem Turmbau sind zweischichtig. Hier gibt es, vermittelt durch die relativ stabilen Formatvorgaben von Grammatik und Semantik – die keine Entsprechung in der Musik haben! –, die Möglichkeit,

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eine Differenz zwischen Sprachträger und Bedeutung zu legen, so dass z.B. auch Übersetzungen möglich und sogar notwendig sind. Das Entscheidende dabei ist die Entstehung von Begrifflichkeit. Elemente der Sprache, die Wörter, werden zu Worten, die etwas außer sich begreifen. Mit anderen Worten: Der Geist der Sprache lässt sich von seinem klingenden Körper lösen. Bei der Musik ist dies nicht der Fall, hier gibt es nur eine Schicht, d.h. keine Differenz von Sprachträger und Bedeutung. Musik meint nicht etwas anderes als sie selbst. Sie ist nicht-begriffliche Mitteilung, sie ist, mit einem anderen Wort: Ausdruck. Wegen dieser Einschichtigkeit sind Übersetzungen weder möglich noch überhaupt notwendig. Die Unterscheidung von Einschichtigkeit der Musik und Doppel- oder auch Mehrschichtigkeit der begrifflichen Sprache stammen von Helmuth Plessner, der schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bislang viel zu wenig beachtete Überlegungen zur Phänomenologie und Anthropologie der Musik angestellt hat. Hier ein Zitat aus dem sehr viel später, nämlich 1967 entstandenen Text »Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks« (wobei ›nichtsprachlich‹ hier meint: nicht-sprachlich im engeren Sinne, also nicht begriffssprachlich): »Ihre [der Musik, A.L.] Einschichtigkeit versperrt dem Unmusikalischen [der die Musik zu übersetzen versucht] den Zugang, gewährt aber eine direkte Vermittlung von ausführender Aktion und Gehalt, die ihn jeder anderen Explikation entzieht. Einschichtigkeit gibt dem Musizieren seine Weite, Tiefe und Offenheit […] Sagen, Meinen, Bedeuten unterwirft sich dagegen einer Beschränkung, indem sie den verbalen Ausdruck aus seiner expressiven Einkleidung herauslöst, ihn fixiert und zum Wort, zum Satz macht, der eine Sache trifft.« (Plessner 1967: 473)

Man könnte also auch sagen: Musik ist vorbegriffliche Sprache. Wolfgang Rihm, der Komponist, sagte einmal in einem Vortrag: »Musik ist Sprachsuche«, wobei er nicht meinte, dass die Musik etwas Mangelhaftes wäre, sondern im Gegenteil: Die Musik besitzt eine genuine Sprachlichkeit, eine unfixierte Offenheit, die auch jede begriffliche Sprache im Grunde am Leben erhält. Man könnte sagen, Musik ist Sprache in statu nascendi oder auch: Sie ist der Quellgrund der Sprache. Schon Schopenhauer hatte sie in dieser Weise eingeschätzt, als er schrieb, dass die Musik »eine im höchsten Grade allgemeine Sprache [ist], die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen« (Schopenhauer 1961: 365). Auch nach Schopenhauer ist es die (vorbabylonische) Sprachlichkeit der Musik, welche ihre elementare Wirkung ausmacht: Sie wirkt »so mächtig auf das Innerste des Menschen, wird dort so ganz und tief von ihm verstanden, als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft« (ebd.: 357).

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126 | Andreas Luckner Hier taucht die nächste, schwierigere Frage auf: Was ist denn eigentlich Musik? Denn schließlich ist nicht alles, was klingt, schon deswegen, weil es klingt, Musik zu nennen. Was macht Klänge zu musikalischen Klängen? Musik ist zunächst einmal gestalteter Klang, ›Komposition‹ im weitesten Sinne. Wobei der Begriff Komposition hier wörtlich genommen werden soll, also gestaltete Zusammensetzung. Sie dürfen hier nicht nur an den Komponisten denken, der am Schreibtisch Partituren kritzelt. Auch wer improvisiert, komponiert schon in diesem Sinne. Ja, auch schon der, der das, was ohnehin schon klingt, zu einem Stück integriert, als eine strukturierte Einheit auffasst. Alles Klingende kann im Prinzip als Musik aufgefasst werden, wenn nur unterstellt wird, dass es sich um ein gestaltetes Gefüge, eben eine Komposition, handelt. Bekanntlich konnte schon Pythagoras und nach ihm so manch anderer den Klang der Planetensphären hören, die berühmte Sphärenmusik. Auch die Erfahrungen mit der so genannten »aleatorischen Musik«, die ihre Blüte in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhundert hatte, belegen das. Extremfälle mögen hierbei die Kompositionen John Cages sein, etwa das berühmte Werk »4’33«, das aus drei »Sätzen« besteht, wobei auf den 3 Notenblättern jeweils nur das Wort »tacet« steht. Vier Minuten dreiunddreißig Sekunden Stille in drei Sätzen. Aber es gibt natürlich dennoch was zu hören, Verkehrslärm von draußen, Huster im Publikum, Füße Scharren, Atmen, Räuspern usw. Alle diese Klänge bilden zum Zeitpunkt der Aufführung eine Ausführung dieses Werkes; auch hier gibt es daher eine gewisse unterstellte Gestaltung des Klanges; denn wie die ready mades von Duchamp werden die zufälligen (und wohl meist sehr leisen) Klänge, die während der viereinhalb Minuten im Konzertsaal entstehen (man könnte sich aber auch Aufführungen in Maschinenhallen vorstellen) ihrer Alltäglichkeit enthoben und auf eine ästhetischen Weise erfahren; wie in einem Goldring gefasste Halbedelsteine. Die Klänge werden zu Musik, indem sie zelebriert werden. Was ist der Unterschied zum alltäglichen Hören? Nun, einfach der, dass die Aufmerksamkeit auf das, was erklingt, eigens gerichtet wird und zwar in der Weise, dass das Gehörte zu einem Ganzen, zu einer Komposition sich fügt. Musik ist also zunächst einmal nichts anderes als gestalteter Klang, Komposition im weitesten Sinne. Nun gehen wir einen Schritt weiter: Was ist denn das, was am und mit dem Klang gestaltet ist? Man kann sich einer Antwort nähern, indem man sich fragt, was man bei Musik- bzw. Klanggestaltung eigentlich alles braucht bzw. nicht braucht. Was kann man bei einer Komposition, sei es nun notierte oder unnotierte, Kunst- oder Gebrauchsmusik alles weglassen, um dennoch von musikalischer Gestaltung bzw. von Komposition in diesem weiten Sinne zu sprechen? Man kann die harmonische Ordnung der Tonhöhen weglassen (wie etwa im Falle monodischer Musik). Man kann die melodische Ordnung der Tonhöhen in einer Melodie weglassen, ja man kann sogar die Ordnung der Tonstärken in der musikalischen Dynamik vernachlässigen (man denke an

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einen sich bewegenden Klangteppich ohne irgendwelche Lautstärkeunterschiede). Was man aber offensichtlich nicht weglassen kann, um noch von Musik zu sprechen, ist die zeitliche Ordnung der Tondauern und also die Rhythmik. Also kann man sagen: Was immer Musik noch ist, sie ist als gestalteter Klang vor allem eines: rhythmische Gestaltung. Gestalteter Klang, also Musik, ist wesentlich Rhythmus. Was aber genau ist Rhythmus?1 Der Begriff des Rhythmus ist nicht auf Hörbares beschränkt, wie man etwa an den sinnvollen und nicht unbedingt metaphorisch zu verstehenden Ausdrücken ›Rhythmus der Jahreszeiten‹ oder ›Biorhythmus‹ bemerken kann. Auch kann man, etwa im Film beim Schnitt, Rhythmen ›sehen‹. Dennoch ist es das Hören, welches paradigmatisch für das Gewahrwerden einer Tätigkeit der Bewegungskoordination, der Zeitgestaltung sein dürfte. Ein Rhythmus ist, ganz allgemein gesprochen, eine bestimmte Bewegungsform. In ihr sind die für sich allein genommen abstrakten (motorischen, akustischen, visuellen usw.) Ereignisse in einer Einheit verbunden, die eine höhere sinnliche Qualität bildet. Denn um etwa einen musikalischen Rhythmus erfassen zu können – und: sich von einem solchen erfassen zu lassen –, ist schließlich ein Hinaushören über das, was aktual klingt, erforderlich. Erst dadurch entsteht die für Rhythmen charakteristische Bindung, wie sie in der Gebundenheit der Rede, der Bindung der Klänge und der Stille zwischen den Klängen oder der Bindung der Körperbewegungen im Tanz vorliegt und im Prinzip beliebige Geschehnisse umfassen kann. Im musikalischen Rhythmus sind die für sich allein genommenen abstrakten und endlichen Töne so aufeinander bezogen, dass sie zu Teilen größerer Einheiten, eben Bewegungsformen werden. Hierfür ist das Verklingen der Töne geradezu Bedingung: Es gäbe keinen Rhythmus, wenn die Töne nicht endlich wären, wie auch umgekehrt die Bewegungsform sich notwendig in der Zeit und nur so manifestiert, dass die Form momentan und provisorisch ist. Das darf nicht dazu verleiten, sich hier doch wieder einen unendlichen Fluss vorzustellen, wie es unser vom parametrischen Zeitbegriff der klassischen Mechanik bestimmten Denken über Zeit nahe legt. Griech. rhythmós stammt zwar von rheô, »fließen«, ab, bezeichnet aber, wie Benveniste (1974) gezeigt hat, bei den Griechen eine in sich bewegte, gleichwohl aber eben in sich geschlossene Form. Eher als an das nichtrhythmische Fließen eines Flusses wäre hier also an das rhythmische Anund Abfließen der Meeresbrandung zu denken. In der in sich bewegten Form des Rhythmus haben wir es nun mit einer (im weitesten Sinne) hörbaren Koordination und Integration von Bewegungen zu tun, also mit einer Form der Bewegtheit, in der sich die Zeit der

1 | Vgl. hierzu genauer auch Luckner 2000.

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128 | Andreas Luckner Dinge und die Zeit des Ichs als ein und dieselbe erweisen. Nicht umsonst war der rhythmós bei den Griechen Ausdruck des êthos, d.h. desjenigen, was uns zu Menschen macht, wie uns Georgiades (1958) gezeigt hat. Hören und Spielen der Musik, Tanzen, gebundenes Sprechen, aber auch jedwede im weiteren Sinne Bewegungen koordinierende Tätigkeit bis hin zu Bindungen im moralisch-rechtlichen Sinne (Verbindlichkeiten) stellen, mit Hegel gesprochen, ein »Abbrechen der bloß unbestimmten Veränderung« (Hegel 1970: 165) dar, und sind damit nicht bloße Füllung irgendwoher gegebener Quanta von Zeit, sondern vielmehr das Tilgen von Zeit als einer gegebenen unendlichen Größe: Die Koordinierungstätigkeit wird nicht weiter als ein Außen, als eine fremde Macht mit Namen ›Zeit‹ vorgestellt, sondern in einer Praxis zu- und angeeignet. Dadurch werden die Zeitrahmen für bestimmte Tätigkeiten allererst aufgespannt; es emanzipiert sich vom ihm gegebenen Zeitrahmen.2 Und genau darin besteht nach Hegel auch die »elementarische Macht« der Musik, die uns zum Begriff des Rhythmus zurückbringt: »Ich ist in der Zeit und die Zeit ist das Sein des Subjekts selbst. Da nun die Zeit […] das wesentliche Element abgibt, in welchem der Ton in Rücksicht auf seine musikalische Geltung Existenz gewinnt und die Zeit des Tons zugleich die des Subjekts ist, so dringt der Ton schon dieser Grundlage nach in das Selbst ein, fasst dasselbe seinem einfachsten Dasein nach und setzt das Ich durch die zeitliche Bewegung und deren Rhythmus in Bewegung […]. Dies ist es, was sich als wesentlicher Grund für die elementarische Macht der Musik angeben lässt.« (Hegel 1970: 156)

Ganz ähnlich schreibt, allerdings ohne expliziten Bezug auf Hegel, Hans Heinrich Eggebrecht von der Musik als »Stiftung der Zeit« (Eggebrecht 2001: 25). Die Musik findet nicht einfach nur in der Zeit statt, sie stiftet sie und dadurch befreit sie von der Zeit, sie spielt mit ihr, sie ist ein Zuspiel von Zeit als der Weise, wie Menschen, als die Zeitlichen, sind. Was die Musik durch die Strukturgleichheit ihres Materials mit der Subjektivität auszudrücken vermag, ist also nicht, was der Mensch ist oder idealerweise sein könnte (da würde man auch eher, wie bei den bildenden Künsten, von »Darstellung« sprechen), sondern vielmehr und schlicht: wie es ist, zu sein. Letztlich, indem Musik wesentlich Rhythmus ist – und das heißt eben: Zeitgestaltung –, befreit die Musik von der Zeit, denn in ihr und durch sie wird die Zeit gestiftet und gestaltet. Dies ist möglich, weil der Stoff, aus

2 | Von Hegel lässt sich über das Wesen der Musik in seinen »Vorlesungen zur Ästhetik« überhaupt einiges lernen. Schopenhauers Ausführungen sind davon nicht so weit entfernt, wie man es beim selbst erklärten Hegelhasser meinen möchte; freilich hat dieser nichts von Hegels Musikästhetik gewusst.

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dem die Musik ist, nämlich die Klänge, wie wir von Hegel, in seltener Eintracht auch von Schopenhauer, haben hören können, eine innere Beziehung zur Zeit haben. Helmuth Plessner schrieb hier von den »Impulswerten«, die musikalische Klänge besitzen: Da wir selbst sprachlich Klänge produzieren, die wir zugleich hören können, kann ein jeder Klang aufgefasst werden als Äußerung eines Inneren, eines Willensmomentes (was für Schopenhauer der Grund war, die Musik als direkten Ausdruck des Welt-Willens aufzufassen). Des Weiteren sind Töne bzw. Klänge »schwellfähig«, anders als z.B. Farben. Man kann sich zwar vorstellen, etwa in einem abstrakten Film, der uns erst eine bestimmte blasse, z.B. blassrote Farbfläche zeigt, die mit der Zeit eine immer stärkere Farbe annimmt. Könnte man da nicht auch sagen, dass hier auch die Farbe »schwellfähig« ist? Ja, man kann sagen, dass die Farbe in ihrer Farbigkeit anschwillt, aber dies ist der Farbe als Farbe völlig äußerlich; es gehört gewissermaßen nicht zu ihrem inneren Wesen, dass sie zeitlich veränderlich ist, dies ist vielmehr kontingenterweise so, eben wenn das jemand in einem Film mit einer Farbe macht. Aber dem Klang kommt dies wesentlich zu, dass er verklingt und sich ändert in der Zeit. Er hat eine, wenn man so will, eingebaute Zeitlichkeit, er ist zeitlich konstituiert, Farben und Formen sind dies nicht. Einer Farbe ist es äußerlich, wenn sie stärker wird, sie hat keine innere Beziehung zur Zeit. Dem Stoff der Musik (also dem Klang, das ist entweder ein Ton oder ein Geräusch) ist seine Zeitstruktur nicht äußerlich. Damit eng zusammen hängt, dass ein Klang nach Plessner eine so genannte »Fern-Nähe« aufweist. Im Unterschied zur Farbe und zum Taktilen eröffnet die Musik gleichsam den Raum von Haut zu Haut von Stimme zu Trommelfell und das auch noch bei einem selbst. Wir hören immer auch, was wir an Klängen produzieren. Und das wiederum ist eine Voraussetzung für den Impulswert, den ein jeder Klang besitzt, die leibliche, gefühlsmäßige Wirkung. Nicht Gefühle werden durch die Klänge erzeugt, sondern leibhafte Wirkungen, die den Gefühlen in einer bestimmten Hinsicht ähnlich sind. Wie, das wollen wir noch sehen. Wichtig ist jedenfalls, dass wir als Musikhörende in die Lage versetzt werden, mit unseren Gefühlen zu spielen bzw. spielen zu lassen. Sie sind uns in und durch die Musik nicht mehr nur nah (was das ›Gefühlte‹ eben immer ist, sondern auch fern, distanzierbar, so eben, dass man mit ihnen spielen kann). Letztlich stellt also die Musik weder Gefühle dar (das wäre »Ferne«), noch erzeugt sie Gefühle (das wäre »nah«), sondern sie bringt »auditive Züge« (Riemann) hervor, die aufgrund ihrer zeitlichen Gestalt der Art und Weise, wie wir sind bzw. fühlen korrespondiert. »Erst die Unterbindung der angeregten Motorik, derer der Mensch […] fähig ist, macht die Töne zu Trägern eines Spiels unter sich, zu Zwecken eines Sinnzusammenhangs, der sich im Laufe des Spiels enthüllt […]. Die Weltweite der Musik hat darin ihren Grund.« (Plessner 1951: 198f.)

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130 | Andreas Luckner Wir sagten weiter oben, dass die Musik nicht darstellt, was ist, sondern ausdrückt, wie es ist, zu sein. Ja, Musik ist unmittelbarer Ausdruck dessen, wie es ist (auf eine bestimmte Weise) zu sein (Schopenhauer). Deswegen ist sie auch die »Sprache der Gefühle« (Richard Wagner). Das heißt gerade nicht, dass sie diese Gefühle erzeugt bzw. im Hörer verursacht, auch nicht, dass sie diese Gefühle darstellt. Sie bringt Wirkungen hervor, die uns die Art und Weise, wie wir Stimmungen und Gefühle erleben, erfahren lässt. In der Musik erleben wir nicht Freude, Trauer, Wut, sondern wie es ist, freudig, traurig, wütend usw. zu sein. Wir befinden uns also nicht in dem bestimmten, durch die Musik ausgedrückten ›Gefühlsmodus‹, sondern erfahren im Grunde nur, wie es sich anfühlt, wenn man das betreffende ›Gefühl‹ hat, und dass dieser Modus für unser Leben einschlägig ist. Wie kann man durch die Musik wunderbar traurig gestimmt sein, ja sogar weinen, im Konzert und völlig ohne Grund, nur weil die Musik so wunderbar traurig ist. Und trotzdem ist es nicht eine wirkliche, eine besondere Traurigkeit wegen oder aufgrund von irgendwas, sondern so etwas wie die Traurigkeit, die Heiterkeit usw. an sich. Das war im Wesentlichen auch der Punkt Schopenhauers über die Musik: Die Musik (eig. »die Melodie«) »erzählt die Geschichte des von der Besonnenheit beleuchteten Willens, alles das, was die Vernunft unter dem weiten und negativen Begriff ›Gefühl‹ zusammenfasst« (Schopenhauer 1961: 362). Wobei: »Überall drückt die Musik nur die Quintessenz des Lebens und seiner Vorgänge aus, nie diese selbst.« (Ebd.: 365) So offenbart der Komponist »das innere Wesen der Welt und spricht die tiefste Wahrheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht« (ebd.: 363). Die Musik, die ja nicht irgendwo außen, sondern regelrecht »in uns« klingt, ist deswegen unmittelbarer Ausdruck dessen, wie es ist, zu sein. Das liegt, noch einmal, daran, dass das Material der Musik ein inneres Verhältnis zur Zeit besitzt, ja selber nichts anderes als geformte, komponierte, gestiftete Zeit ist. Zeit aber ist eben die Weise, wie das Leben ist. Musik stellt daher nicht Seiendes dar, sondern drückt das Sein aus; sie steht daher, den heideggerschen Begriff aufnehmend, in einer ontologischen Differenz zu den anderen Künsten. Noch einmal Schopenhauer: Die Musik ist »unmittelbare Objektivation des ganzen Willens« (Schopenhauer 1961: 359), wie dies die Welt selbst auch ist (wobei »Wille« für Schopenhauer bekanntlich das weltdurchherrschende Prinzip überhaupt ist). Die anderen Künste reden von den Ideen, d.h. wie die Welt als Vorstellung ist, als Erscheinung, für uns. Die Musik dagegen redet von der Welt, wie sie an sich ist. Die anderen Künste »reden vom Schatten, sie aber vom Wesen« (ebd.). In der Musik wird also nicht eine bestimmte Freude, ein bestimmtes Leiden, eine bestimmte Ruhe ausgedrückt, sondern Freude an sich, Trauer an sich, Wut an sich, Ruhe an sich. Deswegen auch wird unsere Fantasie angeregt durch die Musik und wir versuchen Bilder, Szenen oder Worte uns

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vorzustellen, die anschauliche Beispiele dafür sein könnten, was durch die Musik ganz allgemein ausgedrückt wird. Wir suchen gleichsam ›Fleisch und Bein‹ für die in der Musik abstrakt (aber eben nicht begrifflich) ausgedrückten Gefühle. Musik drückt den Willen aus (d.h. das Prinzip des Handelns), nicht ist sie eine Darstellung der Welt. Eine Szene, ein Bild oder einen Text vertonen heißt daher niemals, etwas, was in der Szene, dem Bild, dem Text schon gegeben ist, in Musik zu ›übersetzen‹, das geht gar nicht, weil die Musik nicht zweischichtig ist. Sondern es heißt, die Szene, das Bild, den Text als konkretes Beispiel dessen aufzufassen, was durch die Musik allgemein so und so ausgedrückt wird: Und hier müssten nun musikalische Gedanken zu ihrer Sprache, der Musik kommen, keine Begriffe. Mit anderen Worten: Nicht die Musik lädt die Bilder und Worte mit Gefühl auf – das ist gleichsam die harmlose, dekorative Auffassung der Musik –, sondern umgekehrt: Der Musik wachsen die Bilder und Worte zu, werden als Beispiele dessen aufgefasst, was erklingt. Der Vortrag, der diesem Beitrag zugrunde liegt, bot die Gelegenheit, diesen vielleicht abstrakt klingenden Vorgang anschaulich zu machen; freilich geht dies in einem Buch nicht, ich muss Sie, liebe Leser, daher um etwas Einbildungs-, wenn nicht sogar Einhörungskraft bitten. Es wurde ein Foto von einer spätabendlichen Hafenanlage im Finistère in der Bretagne projiziert (das Foto stammt von Jens Badura, herzlichen Dank!):

Quelle: http://www.hds.de/files/img/Auge_mit_Globus2.jpg (gesehen am 10.4.2005)

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132 | Andreas Luckner Diesem Bild wurden, jeweils mit Abblendungen dazwischen, nacheinander fünf verschiedene kurze Stücke Musik ›unterlegt‹ (und dieser Ausdruck ist denkbar passend für den Vorgang): jeweils den Anfang von Jimi Hendrix’ »1983« von der LP »Electric Ladyland«, Giora Feidmanns Klezmerstück »Friling«, der »Neunten Sinfonie« von Anton Bruckner, mit Jörg Birkenkötters »Spiel und Abbruch« und mit dem 1. Satz des »Klarinettenkonzerts A-Dur« von Mozart. Die Zuhörer – und es waren Zuhörer, nicht Zuschauer – sahen zwar immer dasselbe Bild, aber jeweils als Darstellung von etwas völlig Verschiedenem, was die Musik jeweils ausdrückte: etwa von Freiheitsgefühl, sanfter Trauer, von großer Kraft, von Zerstörung und am Ende gar von tänzerischer Heiterkeit, bei dem die beiden Kräne anfingen, sich im gemeinsamen Tanze zu bewegen. Es gingen »fünf verschiedene Filme« ab, wie eine Zuhörerin treffend sagt. »Toll, was alles so in einem Bild steckt!«, sagte dagegen ein Zuhörer nach dem Vortrag. Er hatte es nicht verstanden. Im Bild steckt gar nichts. Dies ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie man die dunkel klingende These Schopenhauers, dass die Musik die Welt, wie sie an sich ist, ausdrückt. Die Musik sagt, wie das, was dort abgebildet ist, eigentlich, in seinem Wesen ist. Dabei muss aber immer wieder daran erinnert werden, dass sie es nur vorbabylonisch sagt, unübersetzbar. Was sie sagt, sagt sie nur mit Klängen, aber sie sagt es mit Klängen. Und gerade wie der Musik die Bilder erwachsen und nicht umgekehrt, erwachsen der Musik die Worte. Deswegen ist Musik Sprache auf der Suche. Das ist es denn auch, was an der Musik für das Thema Interkulturalität interessant sein dürfte: Im gemeinsamen Musizieren hat man ein Urbild davon, wie es gelingt, kulturelle Ausformungen miteinander in ein Verhältnis jenseits von Disparenz und Subordination zu setzen. Man hört bisweilen, auch ich schrieb so am Anfang dieses kurzen Beitrags, in der Musik einer bestimmten Gruppe oder auch eines Solisten seien verschiedene Musikkulturen miteinander ›verschmolzen‹; wohl aus dem Unbehagen an der Unangemessenheit dieses Ausdrucks ist ein anderer geprägt worden, der die Sache weit besser trifft: den der Amalgamierung: Das ist eine solche Verschmelzung, bei denen die einzelnen Bestandteile nicht aufgelöst werden, sondern sich in ihrer Differenz wechselseitig erhalten. Die Musik ist das Medium dieses Vorgangs, sie ist die universale Sprache der Welt.

Literatur Benveniste, Émile (1974): »Der Begriff ›Rhythmus‹ und sein sprachlicher Ausdruck«. In: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: List, S. 363-373 (orig. »La notion de ›rhythme‹ dans son expression linguistique«. In: ders., Problèmes de linguistique générale, Bd. I, Paris 1966).

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Eggebrecht, Hans Heinrich (2001): Musik als Zeit. In: Albrecht v. Massow/Matteo Nanni/Simon Olbert (Hg.), Wilhelmshaven: Heinrichshofen. Georgiades, Thrasybulos (1958): Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg: Rowohlt. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Werke in 20 Bänden, Bd. 15, Vorlesungen über Ästhetik III, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luckner, Andreas (2000): »Zeit, Begriff und Rhythmus. Hegel, Heidegger und die elementarische Macht der Musik«. In: Richard Klein/Eckhard Kiem/Wolfgang Ette (Hg.), Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, Weilerswist: Velbrück, S. 108-138. Plessner, Helmuth (1925): »Zur Phänomenologie der Musik«. In: Günther Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker (Hg.) (1980-1985), Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Band VII, Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 59-66. Plessner, Helmuth (1951): »Zur Anthropologie der Musik«. In: Günther Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker (Hg.) (1980-1985), Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Band VII, Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 184-200. Plessner, Helmuth (1967): »Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks«. In: Günther Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker (Hg.) (19801985), Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Band VII, Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 459-477. Schopenhauer, Arthur (1961): Sämtliche Werke, Bd. 1, Die Welt als Wille und Vorstellung I, hg. von Wolfgang Fr. v. Löhneysen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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Mondialisierungen als philosophisches Experiment. Kulturelle Diversität und transkultureller Dialog Jacques Poulain

1. Ökonomische Globalisierung, kulturelle Mondialisierungen und philosophisches Experimentieren Die ökonomische Mondialisierung schwingt sich heute, so scheint es, nicht nur zu ›der Globalisierung‹ auf und zwingt allen Ländern das Gesetz des freien Marktes und die Deregulierung des sozialen Lebens auf, sondern sie zielt zunehmend auch darauf, sich zum Prinzip anderer Mondialisierungen zu machen, die unabhängig von ihr bestehen bzw. die ihr vorausgingen und sie als ökonomische Mondialisierung erst hervorgebracht haben: Das gilt etwa für die Mondialisierung des politischen Liberalismus, jene der okzidentalen und orientalen Kulturen, der Religionen oder Säkularismen, für die Mondialisierung der NGO, die Mondialisierung der Kunst, der Wissenschaft und der Technik. Doch auch wenn diese ökonomische Mondialisierung als Globalisierung das denkbar effizienteste System von Verarmung und Ausschluss hervorgebracht hat, ist mit ihr und durch sie eine gegenläufige kulturelle Welt entstanden – und obwohl die ökonomische Globalisierung auch die Entwicklungsdynamik dieser kulturellen Welt diktiert, sieht es so aus, als ob diese im Stande wäre, eine bislang nicht da gewesene, internationale Öffentlichkeit ins Werk zu setzen, die einen Prozess des weltumspannenden Austauschs antreibt, eine Delokalisierung des Kulturellen mit dem Effekt, Kreativität und Kritik jenseits staatlicher Regulationen zu einer emanzipativen Kraft werden zu lassen. Die auf diese Weise gewonnene Unabhängigkeit kultureller Mondiali-

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136 | Jacques Poulain sierungen von nationalstaatlichen Strukturen scheint das Gegengift gegen ›die Globalisierung‹ im Sinne einer vereinheitlichenden Einsetzung des Marktprinzips zu sein. ›Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch‹, dieser Satz Hölderlins hat sich noch nie auf so umfassende Weise bewahrheitet. Die größten Übel, die größten sozialen Ungerechtigkeiten, die die Globalisierung schafft, scheinen zugleich das größte Gut hervorzubringen – eine verstärkte intellektuelle und kulturelle Emanzipation der Völker und Individuen bezüglich der Gestaltung ihrer materiellen Existenzbedingungen und gegenüber den Gefahren der Entfremdung im Konsum. Die kulturelle Diversität scheint sich somit zum spezifische Ort eines ›Nein‹ entwickelt zu haben, von dem aus die ungerechten, unsozialen Folgen der Globalisierung kritisierbar werden. Doch darf man sich trotz des Bestehens dieser Kritik keine Illusionen machen. Denn zum einen muss diese die Anhänger der ökonomischen Globalisierung erst noch dazu bringen, sie wirklich ernst zu nehmen und damit ernst zu machen, auf eine nachhaltige Entwicklung, die ihren Namen verdient, umzuschwenken. Zum anderen ist diese weltumspannende Kritik einem Konflikt zwischen den Kulturen ausgesetzt: Um sich im Rahmen einer mondialen kulturellen Diversität behaupten zu können – etwa als religiöse Kultur, wie die christliche, muslimische, und jüdische Kultur oder auch als Kultur eines Republikanismus oder Liberalismus, als wissenschaftliche oder technologische Kultur –, muss jede Kultur die Einzigartigkeit ihres Anspruchs auf Geltung unterstreichen und schließlich doch wieder das Monopol auf die Bestimmung der ihr jeweils eigenen kulturellen Form beanspruchen, auf die gleiche Weise also, wie die ökonomische Globalisierung die liberale Konkurrenz im Sinne der Monopolisierung und Privatisierung des Weltmarktes zum Königsweg erklärt. Der Kampf um die verschiedenen Monopole wiederbelebt Fundamentalismen aller Art und neutralisiert im Endeffekt jene kritische Emanzipation, die sich im Nachgang der Schwächung der Rolle von Nationalstaaten im Zuge der ökonomischen Globalisierung ergeben hatte. Das notgedrungene Verschwinden der letzten Rückzugsräume der Nationalstaaten und ihrer politischen Souveränität sowie das Ausschütten der neoliberalen Büchse der Pandora über die ganze Welt gibt nicht nur das politische Leben in die Hand der Neokonservativen, es drängt auch die Kulturen dazu, ihre Stärke und geistige Überlegenheit wie zugleich das Ungenügen der jeweils anderen zu bekräftigen, eine jede sieht sich nun wiederum als Trägerin des universellen und ewigen Heils. Die Zeit der Koexistenz und des friedlichen Nebeneinander im Rahmen eines toleranten und wohlmeinenden Multikulturalismus ist daher längst vergangen. Die Kulturen entheben sich eitel und selbstgenügsam jeder Kritik ihrer selbst, sie sehen ihren kritischen Anspruch ein für alle Mal dadurch gesichert, dass sie die ökonomische Globalisierung als oberste Unkultur zurückgewiesen haben. Es wird erkennbar, dass sie sich folglich schon im Voraus selbst dis-

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qualifizieren, denn die kulturellen Mondialisierungen wie auch die ökonomische Globalisierung sind beide von einem Prozess des umfassenden Experimentierens mit den Möglichkeiten des Menschseins (l’expérimentation totale de l’homme) getragen, der das Modell liberalen Denkens, welches beiden Entwicklungen zugrunde liegt, aus dem Blick geraten lässt. Dieses Modell liberalen Denkens zielt darauf, die Bedürfnisse des Einzelnen maximal zu befriedigen und gleichzeitig die Freiheit eines Jeden zu respektieren, und es setzt deshalb dem Experimentieren des Menschen Grenzen durch einen zur letzten Instanz erhobenen Konsens, den die Mitglieder eines sozialen Verbundes zu beschließen haben – ein demokratischer Konsens darüber, was von den verschiedenen möglichen Denkmodellen des ökonomischen und sozialen Lebens zu halten ist. Die Ermittlung des Konsens erfolgt auf die gleiche Weise, in der auch naturwissenschaftliches Experimentieren die Gültigkeit seiner Ergebnisse ermittelt: durch die Prüfung der Beweisbarkeit einer Hypothese mittels empirischer Anschauung. Die Begründung für diese Parallele ist einfach: Der soziale Konsens scheint genauso unabhängig von den Wünschen der Einzelnen die Ergebnisse ihrer ökonomischen oder kulturellen Experimente zu validieren wie es ein Ergebnis empirischer Untersuchungen in Bezug auf die Wünsche der Wissenschaftler, ihre Hypothesen bewiesen zu sehen, tut. Weil die Bestätigung bzw. der Geltungsaufweis selbst als neutral und unprogrammierbar gedeutet wird, scheint in beiden Fällen die erwünschte Objektivität sichergestellt. Da keine andere Instanz als ein solcher demokratischer Konsens vorstellbar und mondialisierbar scheint und weil er als die beste Instanz gilt, die denkbar ist, wird ihm eine quasi unhinterfragbare kritische Kraft von universeller Reichweite und Geltung zugesprochen, eine Kraft, die in Frage zu stellen sich bislang wohl nur die Philosophie gewagt hat. Die verschiedenen kulturellen Mondialisierungen, die sich auf den demokratischen Konsens berufen, beziehen sich also auf die gleiche Instanz, wie es die ökonomische Globalisierung auch tut – und sie scheinen dabei unfähig zu sein, demjenigen Urteil effektive Geltungskraft zu verschaffen, das sie mit Blick auf die Folgen der ökonomischen Globalisierung fällen – sie sind diesbezüglich genauso unfähig wie sie es im Bezug darauf sind, sich – die eine wie die andere – von der Anmaßung freizumachen, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit gepachtet zu haben. Nun geht es nicht um irgendeinen Konsens: Denn in der heutigen Wissensgesellschaft wird ein kognitiv-rational legitimierter Konsens zum Prinzip gemacht, der dazu nötigt, Globalisierung und Mondialisierungen einer substantiellen und kritischen Beurteilung zu unterziehen und schließlich auch die einzelnen Kulturen auffordert, sich wechselseitig im Sinne einer solchen kritischen Urteilspraxis zu beurteilen. Erlaubt aber die Einbindung dieser kritischen Urteilspraxis, die kulturelle Mondialisierungen hervorbringen, in den Prozess des Experimentierens mit den Möglichkeiten des Menschseins, Auswirkungen auf den weltweiten sozialen Konsens zu er-

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138 | Jacques Poulain warten? Kann sie mehr erreichen, als nur die neoliberale Globalisierung zum endgültigen Faktum zu erklären und die endgültige Preisgabe der nationalen und internationalen Politik an Pokerspiele von Markt und Finanzspekulanten zu konstatieren? Gelingt es mit ihrer Hilfe, jene Gesellschaften zu mobilisieren, die sich einer sozialstaatlichen Kultur verbunden fühlen; kann sie die neoliberale Ungerechtigkeit als politisches Problem kennzeichnen und ihr eine Kultur des sozialen Miteinanders entgegensetzen, die eine echte Alternative darstellt? Oder wird angesichts der Dynamik des Experimentierens mit den Möglichkeiten des Menschseins im Zuge der Mondialisierungen eine Idee des Menschen sichtbar, die es denkbar erscheinen ließe, dass die Art, in der politische Kultur seit der Moderne über den anderen Kulturen waltete, längst vergangen ist? Kann und soll der Umstand, dass dieses Experimentieren den Menschen dazu zwingt, sein eigener Gesprächspartner und Richter zu sein, dazu führen, dass er sich wieder auf vormoderne Bilder seiner selbst zurückzieht? Kann er auf diese Weise den Krieg der Kulturen beenden? Oder ermöglicht ihm das Modell des Experimentierens mittels der universellen Implementierung des kritischen Geistes, jene mondiale Form des Lebens herzustellen, auf dessen Verbreitung er eigentlich hinwirken will? Vielleicht aber ist das nicht mehr als die Quintessenz eines okzidentalen Traums? Um auf diese Fragen auf innovative Weise zu antworten, gilt es zunächst, kurz daran zu erinnern, wie die Offenbarungen des Neoliberalismus die interkulturelle Welt ins Leben gerufen haben, die uns heute als Horizont dient – und daran, dass sie zugleich auf die Dekonstruktion der modernen politischen Welt hinwirken.

2. Die neoliberale Genese der interkulturellen Welt und die Dekonstruktion der modernen politischen Welt Der Rückzug der Völker und Individuen in kulturelle Gemeinschaften und deren Resakralisierung ist gleichermaßen dem Scheitern des liberalen Staates und dem zunehmenden Verlust ziviler Rechte, die dieser seinen Mitgliedern gewährt, geschuldet – und beides trat auf den Plan mit der Einrichtung des neoliberalen Staates und der in Folge starken Vermehrung des Phänomens der Exklusion. Wie es die Analysen von Sheldon Wolin in seiner Zeitschrift »Democracy« nachgezeichnet haben, nahm diese Entwicklung ihren Ausgang in den Vereinigten Staaten, bevor sie sich über deren Verbindungen zu anderen Industriegesellschaften und den Entwicklungsländern weltweit ausbreitete. Ursprünglich hatte die Verfassung der Vereinigten Staaten die Menschenrechte über die politisch-ökonomische Gemengelage gestellt und dem Staat nur die Rolle des Minderheitenschutzes zugewiesen sowie die Aufgabe, die Bürger vor den Eigeninteressen der jeweils gewählten Parteien und Mehrheiten zu schützen, insofern diese eine

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Bedrohung für die Freiheit darstellen. Aufgerufen, die Freiheit aller gegenüber allen zu garantieren und von dort her jedem Einzelnen die Möglichkeit zu sichern, seine Bürgerrechte auszuüben, hatte der Staat letztlich als Vermittler zwischen verschiedenen kapitalistischen Fraktionen zu dienen, und er konnte seine rechtsschützende Funktion im 19. und dann vor allem im 20. Jahrhundert nur dadurch ausfüllen, dass er den Rechten einen ökonomischen und politischen Inhalt gab – diesen aber musste er immer neu zum Gegenstand von Verhandlungen machen und ihn sich schließlich von jeweils dominanten ökonomischen Machtinteressen diktieren lassen. Relegitimiert und rehabilitiert nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Weltmacht, die in der Lage schien, Verarmungstendenzen auszugleichen und allen die ›ökonomischen Rechte‹ (economical rights) auf Ausbildung, soziale Sicherheit, Gesundheit, Alterssicherung und Unterkunft auch faktisch zu gewähren, musste der US-amerikanische Staat schließlich seine Funktionen als Vorsorgestaat während der Stagflation der 1970er Jahre aufgeben. Der Verlust eines ökonomisch gesicherten Status zwang die Ausgeschlossenen zu sehen, wie zugleich alle ihre staatsbürgerlichen Rechte verschwanden: Sie verloren sogar notwendigerweise den Schutz ihrer Menschenrechte. Im Anschluss ließ der Staat der Zunahme gesellschaftlicher Ausschlussmechanismen freie Bahn. Und da nun dieser neoliberale Staat seine politischen Verantwortlichkeiten den Bürgern gegenüber aufgab, zwang er einen immer größeren Teil der Bevölkerung, Schutz in einem Ersatzstaat – in den verschiedenen kulturellen Gemeinschaften – zu suchen. Und damit hat sich der Status dieser Gemeinschaften verändert: Zuvor war die Koexistenz der Kulturen durch den Staat unter dem Aspekt eines leeren Multikulturalismus dort geschützt gewesen, wo der Stellenwert ideologischer Konkurrenz dadurch begrenzt war, dass die ökonomischen Abhängigkeiten der Kulturen untereinander unter dem Dach des Staates eine Verbindung schufen, die allen gemeinsam die Fortexistenz ermöglichte. Diese multikulturelle Koexistenz hat sich nun transformiert in einen durch interkulturelle Dynamiken geprägten Raum, in dem die kulturelle Identität wieder zur Orientierungsquelle von Gruppen und Individuen geworden ist, zusammengehalten von einem interkulturellen Konsens, der sich als Ersatzpolitik jenseits der Staaten gebildet hat. In dem Maße, in dem sich dieser Trend zur Abdankung des Staates und seiner Folgen in den Rest der Welt hinaus ausgedehnt hat, erfolgte auch eine weltumspannende Ausweitung des interkulturellen Raumes – indem sich, nachdem die von den Nationalstaaten gegebenen, säkularen Heilsversprechungen nicht erfüllt worden waren, nun neue Organisationsformen fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften entwickelten und die interkulturelle Mondialisierung hervorbrachten. Diese interkulturelle Mondialisierung, deren gemeinsamer Nenner die Zurückweisung der Ungerechtigkeit des Neoliberalismus ist, hat auch die Konstruktion eines alternativen Europa veranlasst, zugleich politisch und intellektuell, basierend auf der Rückkehr zum Sozialstaat und geprägt von

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140 | Jacques Poulain Figuren wie Jacques Delors, Dominique Strauss-Kahn, Michel Rocard und Jürgen Habermas. Das neoliberale Experiment scheint nach dieser Sichtweise de facto aufzugehen in den Diktaten des Weltmarktes und dessen immer weiterer Deregulierung, zu der Spekulanten ihn benutzen, was dazu führt, dass das Deregulationsprinzip um jeden Preis durchzusetzen versucht wird – und sei es mittels Staatsstreich oder aufwändiger Militäroperationen. Um dem entgegenzutreten, würde es nach der alternativen Sichtweise reichen, ein kritisches Gesellschaftsmodell wiederherzustellen und einen effektiven Sozialstaat wiedereinzusetzen, einen Staat, der stark genug ist, um als regulative Instanz der Dynamiken zu fungieren, die das umfassende Experimentieren mit den Möglichkeiten des Menschseins hervorbringt und der sich dabei auf einen Dialog mit der öffentlichen Meinung mittels all seiner deliberativen – exekutiven wie juristischen – Organe stützt. Mit Jürgen Habermas lässt sich das als ›deliberative Demokratie‹ bezeichnen, und diese Alternative wertet die republikanische Idee der Demokratie auf, die nicht mehr auf der negativen Freiheit aller gegenüber allen fußt, sondern auf einer vom Recht allen zuerkannten positiven Freiheit, im legislativen Konsens Gesetze zu akzeptieren, die eine gerechte Verteilung von Rechten, Aufgaben und Gütern garantieren und es von dorther zu ermöglichen, die Resultate der jeweils erreichten sozialen Gerechtigkeit zu beurteilen. Von dieser Warte aus gesehen würde aus der Europäische Union eine Union der Mitgliedsstaaten, die fähig ist, den Einfluss ihrer gemeinsamen Währung und die Macht ihrer Produktions- und Handelsbeziehungen international so wirksam werden zu lassen, dass nicht nur ihre eigene innere soziale Gerechtigkeit befördert wird, sondern zugleich auch eine Neuausrichtung ihrer Beziehung zu den Ländern des Südens in Gang kommt und ein gerechtes und realistisches Urteil hinsichtlich der Bedingungen für eine substantiell nachhaltige Entwicklung gefällt werden kann. Nun sind die Probleme nicht neu, die die Verwirklichung dieses in der Tradition von Rousseau und Kant stehenden Ideals behindern. Gegründet auf einer Kommunikationstheorie, die der Kommunikation eine zentrale Rolle für die Dynamik von Institutionen und Psyche zuspricht und die im Zuge des ›linguistic turn‹ der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhundert weiterentwickelt wurde, wird in einer deliberativen Demokratie dem Föderal- oder Nationalsaat die politische Kompetenz zugewiesen, die ideale Kommunikationsgemeinschaft in actu zu repräsentieren, im Rahmen derer sich jeder als ethisches und politisches Subjekt begreift und selbsttätig darüber zu urteilen vermag, was er zu sagen, anzuerkennen und im Namen aller zu tun hat. Auf diese Weise nimmt der Staat, egal ob er national oder föderal organisiert ist, in den Institutionen und der Mentalität der Bürger die Rolle eines souveränen Dritten an, eine Konstellation, die jener analog ist, welche man von Religionen kennt, die sich auf ein heiliges Drittes, einen souveränen Gott beziehen – nur dass der heilige Dritte nun von der ›idealen Kommunikationsgemeinschaft‹ repräsentiert wird. In der Annah-

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me, notwendigerweise zum Besten aller auf die Erwartungen reagieren zu können, die die Bürger angesichts der Veränderungen der Welt zu formulieren heute als ihr Recht ansehen, ist der Staat angesichts seiner unterstellten Unfehlbarkeit gezwungen, diesen Erwartungen bedingungslos gerecht zu werden, oder aber hinnehmen zu müssen, von seinen Wahlbürgern unerbittlich abgestraft zu werden. Als eine Version politisch-kultureller Mondialisierung, die neben anderen existiert, hat sich die Europäische Union zwar zum Schutz eine Währungsunion gegeben, doch der demokratische Konsens, den sie in allen durch sie verbundenen Mitgliedsstaaten beschwört, reicht nicht hin, um die Staaten vor den Attacken der Finanzspekulation und dem Erbe des finanziellen Ungleichgewichts abzuschirmen, das dem Osten durch den sowjetischen Staatskapitalismus aufgezwungen wurde; und somit steht sie unter einem enormen Druck, ihre deliberativen Demokratien und Sozialstaaten in neoliberale Demokratien umwandeln zu müssen, und damit ihre vorsorgestaatlichen Ambitionen aufzugeben, um ihr ökonomisches Überleben sichern zu können. Die ökonomischen Schwierigkeiten, denen Deutschland angesichts der Wiedervereinigung ausgesetzt war und ist, sind in dieser Hinsicht paradigmatisch für das, was der Europäischen Union im Zuge der politischen Integration der zehn neuen Mitgliedsstaaten bevorsteht und sollten daher nicht unterschätzt werden. In all diesen Fällen, auf europäischer wie nationaler Ebene, scheint der deliberative Konsens von jenem neoliberalen Konsens niedergerungen worden zu sein, der sich im Zuge der ökonomischen Globalisierung allgegenwärtig als einzige Option aufdrängt. Nur als kultureller Konsens vermag der demokratische Konsens noch, die Anerkennung als eine weltweit geltende kulturelle Instanz herzustellen, indem er den Respekt gegenüber kultureller Diversität fordert, Verletzung der Menschenrechte durch Nationalstaaten im internationalen Raum anklagt und die Entstehung einer internationalen Öffentlichkeit befördert, die sich an den Schnittstellen der kulturellen Mondialisierungen herausbildet. Ist dieser Konsens also gezwungen, seine politische Ohnmacht einzugestehen? Den Krieg der Kulturen im Horizont einer neodarwinistischen Globalisierung einfach geschehen zu lassen? Das ist die historische Frage, die sich uns angesichts der Existenz des interkulturellen Raums stellt, der in der Regel unter dem Namen ›kulturelle Diversität‹ figuriert. Man sollte meiner Ansicht nach nicht darauf antworten, ohne das neue Verständnis vom Menschen ausgelotet zu haben, das die Geisteswissenschaften und insbesondere die Philosophie entworfen haben, um das umfassende Experimentieren mit den Möglichkeiten des Menschseins zu erfassen, welches das traditionelle Bild widerlegt, das die Philosophie den modernen Gesellschaften vererbt hat und das immer noch deren Orientierung prägt. Denn es wird mit diesem Denken möglich, auf der Basis dessen eine transkulturelle Philosophie zu konzeptualisieren, was im interkulturellen Dialog bereits am Werke ist und in verschiedenen Gestalten und im zivilgesellschaft-

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142 | Jacques Poulain lichen politischen Engagement zum Ausdruck kommt; und es gilt nun, einen Prozess der Verbreitung dieses Denkens in Gang zu bringen, im Zuge dessen vor allem die Universitäten aufgerufen sind, eine zentrale Rolle zu spielen, indem sie Lehre und Forschung in die Öffentlichkeit hinein demokratisieren. Weil dieses Denken einen interkulturellen Reflexionsraum eröffnet, der es ermöglicht, objektiv zu beurteilen, auf welchen a priori geltenden Grundlagen kulturelle Mondialisierungen überhaupt erst möglich werden, erschließt es einen Weg zur wechselseitigen Einbeziehung der unterschiedlichen kulturellen Traditionen der Welt in den Prozess kultureller Mondialisierungen und erlaubt es, sie aus dem fruchtlosen Konflikt herauszuholen, auf den sie die neoliberale Globalisierung zurückgeworfen hat.

3. Die philosophische Transformation des Menschen im Zuge des Experimentierens mit kultureller Diversität Um diese Mondialisierungen angesichts der neoliberalen Attacken auf die ›ökonomischen Rechte‹ und des Dogmatismus kultureller Hegemonialansprüche zu wappnen, gilt es, eine kopernikanischer Wende auf der Ebene des Handelns und des Wünschens zu vollziehen; eine theoretische Revolution analog zu jener, die Kant im Bereich des Wissens ausgerufen hatte. Jeder Einzelne und jede Nation muss anerkennen, dass jeder, einzig dadurch, dass er spricht und sich gegenüber einem anderen zum Ausdruck bringt, sich selbst und den Angesprochenen zu einem Richter dessen macht, was ausgesagt wird, was diesem Ausgesagten an Wissen zugrunde liegt und was es an Konsequenzen für das je eigene Handeln und dasjenige anderer zeitigt. Voraussetzung dafür ist, dass jedes Individuum bzw. jedes Volk sich die Anerkennung eines Rechts bewusst macht und dafür sorgt, dass es tatsächlich die mit diesem gekoppelte Pflicht zur Objektivität im ethisch-politischen Bereich erfüllt – nämlich objektiv darüber zu urteilen, wer und was man ist und welche die gemeinsamen Lebensbedingungen sind; und dass es zugleich gilt, Menschen anderer Kulturen das gleiche Recht zuzuerkennen, darüber zu urteilen, wer und was sie sind; wobei der einzige Maßstab derjenige ist, dass diese Urteilspraxis den ihr eigenen theoretischen Anforderungen auf Objektivität genügt – unabhängig davon, zu welchem Urteil sie gelangt. Einzig dieses zweite Moment, der faktische Zugang der Individuen und der Völker zum Recht auf in dem genannten Sinne objektive Selbstbestimmung mittels einer aus eigenem Vermögen getragenen Urteilskraft, ermöglicht es ihnen, sich von dem politischen Wahnsinn zu heilen, der aus der Vereinnahmung der Urteilskraft durch ein Monopol im Namen des Dritten herrührt, im Zuge dessen letztlich doch nur das dominante Denken, welches sich als quasi göttliches Wissen ausgibt, bestimmt, was sein soll und

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was die jeweils anderen zu tun haben. Diese Gründung der Rechte in einer auf Wahrheit zielenden Urteilskraft, die dem Sprechen inhärent ist, setzt eine Transformation der Kultur und mit ihr eine Transformation der Idee der Menschenrechte und der Politik in Kraft. Und diese Transformation ermutigt dazu, hinter den Auswüchsen des Kapitalismus und dessen kollektiver moralischer Verurteilung seitens der Kräfte der kulturellen Mondialisierungen ein und denselben positiven Prozess zu erkennen, an dem beide letztlich nur parasitierend teilhaben – einen Prozess, im Zuge dessen sich nach den Regeln der Kreativität, die der Psyche und der Sprache Eigen sind, eine mondiale Öffentlichkeit herausbildet. Durch das Denken und Sprechen hindurch zeigt sich eine affektive, kognitive und praktische Prä-Harmonisierung der Welt, mit sich und anderen in jeder problematischen Situation, eine Urteilspraxis ermöglichend, die eine solche Welt als dasjenige ansehen lässt, dessen man unbedingt bedarf und die die einzig denkbare Realität darstellt, in der man sich und andere überhaupt erst objektiv erkennen kann. Es ist hinlänglich bekannt, dass man nur dann eine sinnvolle Konzeption der Zivilgesellschaft und des Rechtssystems erhält, wenn man auf die Dynamik von Angebot und Nachfrage Bezug nimmt, die beiden zu Eigen ist – indem man also die kommunikativen Dynamik von Frage und Antwort auf den Bereich der täglichen Bedürfnisse überträgt, denn Handel und Unternehmen entfalten ihre imaginäre Funktion nur dann, wenn sie die Rolle dessen übernehmen, was G. Mead ›den generalisierten Anderen‹ nannte und was die pragmatischen, sozialkritischen Ethiken von Apel und Habermas, hier Erben eines christlichen Platonismus, als die ›kontrafaktische Unterstellung eines Konsens mit der Gesamtheit der Mitglieder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft‹ bezeichnen. Es ist weniger bekannt, dass das Antizipieren der eigenen Bedürfnisse und derjenigen anderer sowie die Wahl der notwendigen Mittel zu deren Befriedigung genauso von einem Wahrheitsurteil abhängt, wie es die empirisch operierende Wissenschaft und das aus ihr hervorgehende wissenschaftliche Wissen tun. Bevor aus dieser Antizipation nämlich ein moralisches, soziales oder regulatives Prinzip entstehen kann, hängt diese Antizipierungsbewegung von der Identifizierung des menschlichen Wesen mit den von ihm ausgedrückten und vernommenen Lauten oder Gedanken ab: Es zwingt den lebendigen Menschen, sich selbst mit dem von ihm ausgehenden Sprechen überhaupt zu identifizieren, und diese notwendige Identifikation bringt das Gesetz hervor, das sowohl für den Zusammenklang von Denken und Realität wie auch für jenen mit dem Anderen verbindlich wird. Es zwingt den Menschen dazu, seine Wünsche und Handlungen genauso zu objektivieren wie er es mit seinen Wahrnehmungen tun muss: Um zwischen den ausgesendeten und den vernommenen Lauten in seiner Wahrnehmung, seinen Wünschen und den Handlungen, die für deren Verwirklichung zu unternehmen sind, einen Zusammenhang herzustellen, muss

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144 | Jacques Poulain man diese Wahrnehmung, Wünsche und Handlungen als Wirklichkeiten anerkennen, die von den Lauten und Gedanken unterschieden sind, sich von ihnen lösen und dadurch wirklich werden, dass der Mensch sich selbst anerkennt. Er anerkennt, dass er diese Wahrnehmungen, diese Handlungen und diese Wünsche ist, wenn und nur wenn er zu dem Urteil gelangt, dass sie die objektiven Bedingungen seiner Existenz sind. Man muss sie in der Tat in Sätzen denken, die – um sie denken zu können – wahr sein müssen und muss sie zugleich, als Adressaten ihrer selbst, als die objektiven Bedingungen der eigenen Existenz anerkennen, um sich selbst logisch und praktisch mit diesen Bedingungen identifizieren zu können, um in ihnen also die eigene objektive Wirklichkeit zu finden. Um die Wünsche, Handlungen und die zu ihrer Verwirklichung notwendigen Hilfsmittel denken zu können, muss man sie also als wahr denken können, sonst wären sie nicht denkbar. Nur in diesem Fall kann man anerkennen, dass, wenn die Welt, die man auf diese Weise schafft, dem entspricht, was notwendig ist, um auf die Wünsche zu reagieren, man sie dann mittels wahrer Sätze denken musste, um sie überhaupt denken zu können und dass man sie durch die Ausübung unserer Urteilskraft als die tatsächlichen Bedingungen unsere Existenz anerkennen musste. Die praktische Anerkennung dieses Gesetzes charakterisiert das, was man ein totales Experimentieren mit den Möglichkeiten des Menschseins nennen kann, auch wenn heute der liberale Missbrauch des demokratischen Konsens dieses Experimentieren von jener grundlegenden Urteilspraxis abgetrennt hat, welches das Experimentieren begleiten muss, und diese durch ein ethisches Substitut ersetzt hat, in Form eben jener europäischen und republikanischen Regulation des umfassenden Experimentierens mit diesen Möglichkeiten durch einen unterstellten ethischen Konsens. Die Konstruktion einer ökonomischen und politischen Sphäre kann sich diesem Gesetz aber letztlich nicht entziehen und bringt deshalb beständig Korrekturen dessen hervor, was das liberale Idol eines unbedingten Wachstums des Bruttoinlandsproduktes – einer ungebändigten Furie gleich – fordert. Sie entkommt diesem Gesetz nicht nur nicht, sondern sie zielt letztlich sogar darauf, ihm im öffentlichen Raum Respekt zu verschaffen, und diesen Raum so erst zu einer im objektiven und vollinhaltlichen Sinne politischen Welt zu machen – und zwar aus dem einfachen Grund, dass man als wahr einsehen muss, dass ein anderes Leben möglich ist, als dasjenige, das die liberale Ideologie fordert. Die allgemeine Verbreitung des in jeder Kommunikation und jedem öffentlichen Urteilen wirkenden Wahrheitsurteils hat zur Folge, dass sich die Vorstellung von Menschenrechten ändert. Während die moderne Rechtstheorie als Erbin des neuzeitlichen und des modernen Denkens die Menschenrechte aus der Gleichheit der Menschen und der ihnen als rationalen Wesen zukommenden Handlungsfreiheit herleitet, hat die zeitgenössische Philosophie herausgearbeitet, dass der Mensch ein Sprachwesen ist,

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das der Praxis des Urteilens bedarf, um sich als menschliches Wesen anerkannt zu sehen und um mit anderen die Wahrheit seiner Urteile teilen zu können. Die Gleichheit der Menschen untereinander und die Handlungsfreiheit können nicht mehr einfach als angeborene Eigenschaften angesehen werden, die allen a priori zukommen und die zu verteidigen wären, wie man ein Besitzrecht verteidigt – also durch Verträge, die das Zugriffsrecht der Eigentümer auf ihren Besitz sicherstellen und es anderen verbieten, sich dieses Besitzes ungefragt zu bedienen. Als Zuhörer und Gesprächspartner der anderen und seiner selbst widmet sich ein jeder der sachlichen Beurteilung seiner Lebensbedingungen und orientiert sein Handeln nur an denjenigen Wahrheitsurteilen, die er als wahr anerkennen kann und die er als solche mit den anderen teilen kann. Sein Wahrheitsurteil ruht somit auf der Praxis dieser Wahrheitsurteilskraft und auf der Mitteilbarkeit ihrer Ergebnisse als solcher – diese sind notwendige Bedingungen dafür, ein Urteil als objektiv anerkennen zu können. Dieses Urteil muss sich mit dem aktuellen Wissen und der Möglichkeit zur Handlung genauso auseinander setzen wie mit der Objektivität der Wünsche, die jeder als menschlich anzuerkennen hat. Daher reicht es nicht mehr, jedem durch Vertrag die Freiheit zuzusprechen, gemäß der Ergebnisse antizipierter Urteile zu handeln, sondern es gilt vielmehr, jedem die Möglichkeit zu verschaffen, sie wirklich selbst zu ergründen und in ihrer Wahrheit einzusehen. Das Recht auf Ausübung dieses grundlegenden Wahrheitsurteils ist die Wurzel allen Rechts, denn die Ausübung der Fähigkeit, zu urteilen, fußt in dem Vermögen, die objektiven Lebensbedingungen und die Wahrheiten, die mittels dieser Fähigkeit erschließbar werden, dadurch im Urteil zu objektivieren, dass es zu einem anderen gegenüber als objektiv ›mit-teilbaren‹ Urteil wird. Dieses Urteil ist daher in der Tat philosophisch und macht aus jedem einen Philosophen, der zu seiner Humanität nicht anders gelangt als dadurch, dass er für die anderen die Anerkennung von Wahrheit durch ihre Rede möglich macht, in der gleichen Art und Weise, wie er selbst diese Wahrheitsanerkennung möglich gemacht hat. Die öffentliche Anerkennung dieses Rechts eines jeden, selbst zu urteilen, geht zusammen mit der Anerkennung der Demokratie als einer objektiven Bedingung des menschlichen Lebens. Wenn dieses Recht nicht ein leeres Versprechen bleiben soll, kann man sich also nicht damit zufrieden geben, es so zu verteidigen wie einen Besitz, indem man jemandem das Recht zu- oder abspricht, auf diesen Besitz zuzugreifen – unter Inanspruchnahme also einer rein defensiven, vertraglichen und negativen Konzeption von Rechten. Angesichts der Globalisierung im Modus neoliberaler Ökonomie zwingt die Ausübung dieses Rechts nicht nur jeden dazu, den spekulativen Wahnsinn der kapitalistischen Maximierung der Wünsche und die Perversion des kapitalistischen Bewusstseins zu erkennen, das die Verarmung und den Ausschluss von Bürgern und ganzer Völker rechtfertigt, indem einfach von deren Grundrechten abgesehen wird; es zwingt zugleich dazu,

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146 | Jacques Poulain die falschen anthropologischen Grundlagen der etablierten Staatsmodelle zu erkennen und offen zu legen, dass Staaten und Individuen sich im Zuge ihrer Orientierungsbemühungen stets der Urteilskraft bedienen müssen, die sie auf die Wahrheit durch eigenes Urteilen verpflichtet. Der hier eingeforderte kulturelle Umbruch ist ein Umbruch und ein kultureller Umbruch zugleich, denn es handelt sich um einen Bruch, dem sich Individuen und Staaten hinsichtlich ihrer Praxis und der Funktionsweise ihrer Institutionen ausgesetzt sahen, schon bevor sie erkannt haben, weshalb sie es sind. Die basale anthropologische Fehlannahme, die dem souveränen Staat, dem Rechtsstaat und den moralischen Rechtfertigungen der liberalen Justiz zugrunde liegt, besteht in der Unterstellung, dass der Mensch einem Antagonismus zwischen Geist und Begehren ausgeliefert sei, und der daran anschließenden Notwendigkeit, das soziale und mentale Leben als einen Prozess der Züchtigung des Begehrens und der Interessen durch den Geist zu deuten. Seit Plato wurde der Antagonismus des Begehrens, der für eine Fortsetzung des ewigen Antagonismus der Götter gehalten wurde, den Menschen immer wieder als ihre determinierende Natur zugesprochen, was Folge der Annahme war, dass der Körper einst mit Geist beseelt wurde. Diese antagonistische Natur findet sich in die Moderne hineinprojiziert in Konzeptionen von intersubjektiven und politischen Zusammenhängen, bis zu dem Punkt, dass der begehrende Mensch zum Feind des geistigen Menschen wird und dass er sich, gemäß der bekannten Formel von Hobbes, zum Wolf für seinesgleichen umgewandelt wird. Der aktuelle Antagonismus der kulturellen Mondialisierungen ist nur eine zeitgenössische Version dieses Modells. Es handelt sich aber um einen philosophischen Fehler, der einer Unkenntnis geschuldet ist, die von der Antike bis in die Moderne hineinreicht und den manche Zeitgenossen noch heute machen, hinsichtlich der Bezugnahme des Menschen auf sein Begehren, die eine a priori rationale Bezugnahme ist: Man kann seine Wünsche nicht anders denken als auf dem Wege wahrer Aussagen, das heißt man ist gezwungen zu denken, dass dieses Wünschen objektiv betrachtet Teil von einem selbst sind – und es kann daher nicht anders als wahr sein, dass man denken kann, dass sie Teil von einem selbst sind. Zugleich muss man dieses ›Wahrheits-Vorurteil‹, das jeder Repräsentation des Begehrens inhärent ist, ebenfalls auf seine Wahrheit hin prüfen und beurteilen, ob diese Wünsche objektiver Teil eines selbst sind. Deshalb besteht die politische Aufgabe des Wahrheitsurteils darin, nur dasjenige zu verwirklichen oder verwirklichen zu lassen, von dem man gedacht hat, das man selbst oder ein Dritter es hätte denken können und müssen. Und dies lässt sich nicht anders bewerkstelligen, als durch die Mitteilung des als wahres Urteil beurteilten, das man zum Ausdruck bringt. Die demokratische Identität der Mitglieder eines Sozialwesens kann also nur durch ein Urteil zustande kommen, in dem die Teilhabe an einer Lebensform als grundlegende Wahrheit eingesehen wird – und das ge-

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schieht in jeder Kommunikation. Das Übereinstimmen aller dieses Urteil betreffend wie auch die allgemeine Anerkennung dieser Übereinstimmung, ergeben sich aus sich selbst und bedürfen der Einsicht: Sie sind im engen Sinne philosophisch und man kann sie nicht dadurch herbeiführen, dass man sich auf ein juridisches, moralisches, politisches oder linguistisches Regelsystem beruft, sie erfordern vielmehr von Seiten aller die Achtung des Gesetzes der Wahrheit, welches erkennbar in die Sprache eingeschrieben ist, und sie machen es notwendig, dass die Objektivität des Wahrheitsurteils anerkannt wird. Es ist die Achtung vor diesem Gesetz, die eine Teilhabe an der Wahrheit möglich macht und eine Bezugnahme auf Gerechtigkeit dort herstellt, wo sie hingehört: in den Verhältnissen, die die Verteilungen des Denkens und damit die Wahrheitsvergütung zu regulieren. Solange der Zusammenklang von sichtbarer und sozialer Welt als Vorwegnahme eines Einvernehmens verstanden wird, das zwischen einem selbst und einem Gesprächspartner bestehen soll, ein Einvernehmen, das uns nötigt, im Voraus und ein für alle Mal vom Standpunkt des Dritten aus zu urteilen, aus dem Blickwinkel eines nur unterstellten, blinden Konsens, der Position des idealen mit allen anderen identifizierten Sprechers, den niemand konkret anerkennen kann und muss, solange bleibt die Hoffnung auf einen Zusammenklang unerfüllbar und unverfügbar. Es können Interessen nur dann als antagonistisch klassifiziert werden, wie es der Neoliberalismus tut, wenn man sich erspart, dieses Wahrheitsurteil ausüben zu müssen, unter Berufung auf eine Moral, die diese Abstinenz schon im vorhinein legitimiert. Eine solche Moral rechtfertigt jeden, indem sie ihm die quasi göttliche Eigenschaft einer völlig autonomen Person verleiht und ihm großzügig die Freiheit als grundlegendes Gut zuteilt, während dieser dafür mit der Erkenntnis bezahlen muss, sich in seinem Erleben unglücklich zu fühlen, ganz im Unterschied zu dem, was ursprünglich vorgesehen war: Denn derjenige macht sich selbst zu seinem Besitz, so wie er sich Dinge zu Eigen macht, dadurch, dass er sich zum Herr seiner eigenen Autonomie in all ihren Hinsichten erklärt, sich auch das aneignet, was ihn andersartig und unabhängig von allen anderen macht so wie man es den Dingen unterstellt, indem er seine eigene Finalität dadurch bestimmt, sich selbst einer Sache gleich zu machen und sein eigener Besitz zu werden. Hier wird versucht, aus dem Menschen ein auf richtiges Funktionieren programmiertes Lebewesen zu machen, d.h. ein rigides und unfehlbares System zur Koordination eines einzigen und einzigartigen Systems von Handlungen und Wünschen, für ein einziges und einzigartiges System der Kognitions- und Reizwahrnehmung. Diese Konzeption des zoon logicon wurde von Artistoteles geerbt, und geht nicht weniger fehl als dieser selbst bezüglich der Annahme, dass dem Menschen zu Beginn seiner kulturellen Entwicklung nur intraspezifische Instinkte zur Verfügung standen: wie die zur Nahrungsaufnahme, Sexualität und Verteidigung. In Folge dieser An-

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148 | Jacques Poulain nahme wurde dann vergebens versucht, von diesen intraspezifischen Instinkten aus eine Genese institutioneller Anpassungen an die physische und soziale Umwelt herzuleiten, die in ihren Funktionen strukturanalog zu den Instinkten der höher entwickelten Tiere funktionieren sollen. Wenn man nun eine politische Lösung für das Problem sucht, welches das umfassende Experimentieren mit den Möglichkeiten des Menschseins stellt, dann greift man auf die Kraft der Sprache zurück, die zum Schutz des Menschen vor der Aggressivität Anderer benutzt wird, jene Sprache, die in den Religionen der souveränen Götter zur regulativen Instanz des öffentlichen Lebens geworden ist, zur ›institutio princeps‹ des politischen Lebens. In der politischen Verwendung dieser Sprache sucht man somit ein dem Instinkt funktional äquivalentes Regulativ und reduziert auf diese Weise die Verwendung des Wortes auf einen politisch-regulativen Zweck. Die Machtlosigkeit des Nationalstaates hinsichtlich der konkreten Durchsetzung der Menschenrechte, bezüglich der Aktivitäten multinationaler Unternehmen oder der Finanzspekulation, hat jedoch das Unvermögen sichtbar werden lassen, dass der Säkularisierung der souveränen Götter zu nationalstaatlichen Souveränen eignet. Die Exklusionsphänomene, das Programmieren von Arbeitslosigkeit durch den gezielten Abbau von Arbeitskräften im Namen einer Rationalisierung durch Nutzung effizienter Technologien zur Steigerung der Rentabilität sowie das Missbrauchen des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung, um die Verarmung der Entwicklungsländer noch zu verschärfen, haben den Glauben an den Staat und an eine kulturelle Mondialisierung der Politik erschüttert, da sie die Versprechen und Anmaßungen widerlegten, mit denen das mondiale, nach den Gesetzen der Hegemonie des Weltmarktes geregelte, Regime hantiert. Die Destabilisierung des klassischen politischen Machtzusammenhangs, die durch von Spekulanten gesteuerte Finanzkrisen eingeleitet wurde, erlaubte Staaten nur noch, die kleinen ihnen verbliebenen Handlungsspielräume dadurch geltend zu machen, dass sie die internationalen Beziehungen von politischer und ökonomischer Macht zur Notwendigkeit im Blick auf die einzigmögliche Gestaltung der Lebensbedingungen erklärten und gegenüber der internationalen öffentlichen Meinung geltend machten, dies als Ausdruck ihrer Souveränität zu werten – nicht aber als Folge von Dominanz- und Hegemonialbeziehungen einiger Länder gegenüber anderen. Sie konnten ihre Entscheidung nur dadurch rechtfertigen, dass sie sich als Vollmitglieder der internationalen demokratischen Gemeinschaft anerkennen ließen, als Träger einer souveränen Urteilsmacht, um glaubhaft machen zu können, dass es sich bei dieser Wahrheitsurteilsausübung um eine sachliche Notwendigkeit handelte, die die internationalen Partner zu respektieren haben. Auch wenn die Sieger des 3. Golfkrieges die totalitäre Tyrannei zerstört haben, die sie selbst errichtet hatten: Die Legitimation ihres Handelns wird ihnen für immer abgesprochen bleiben und die Falschheit der Lügen, die es gerechtfertigt haben – die angebliche Kenntnis

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von im Irak entwickelten Massenvernichtungswaffen – wird durch die Weltgemeinschaft der Bürger und der Intellektuellen immer verurteilt und angeprangert werden. Im Kontext der kulturellen Mondialisierungen stellt sich der interkulturelle Dialog als eine Notwendigkeit heraus, da er die Fähigkeit jeder Kultur auf die Probe stellt, sich als eine Lebensform anbieten zu können, an der alle – die Mitglieder dieser Kultur wie die andere – teilhaben können. Er muss sich dabei vor allem des universitären Dialoges zwischen den Kulturen bedienen. Dieser universitäre Diskurs ist nämlich nicht irgendeine Möglichkeit für eine Kultur, sich zum Ausdruck zu bringen: Er ist die Instanz, mittels derer diese Kultur sich ein kritisches Bewusstsein der ihr eigenen Grenzen schafft, die ihr Verständnis anderer Kulturen beschränken. Der universitäre Diskurs dient zudem dazu, den interkulturellen Dialog nicht nur als reine Kommunikationsbeziehung oder als Einrichtung zur Feststellung wechselseiten Verstehens oder Missverstehens zu sehen. Durch ihn entsteht die Möglichkeit, zu erkennen, wie die zur Herstellung einer kulturellen Komplementarität nötigen Wechselbeziehungen jene anthropologischen Konstanten freilegen, die nur dadurch erkannt werden können, dass sich Partner verschiedener Kulturen diese zu Eigen machen. In einem kritischen Dialog können die verschiedenen Kulturen ihre Grenzen ausfindig machen, und die Weise, in der die eine Kultur die Grenzen zu überschreiten vermag, die eine andere beschränken, kann auf letztere zurückwirken. Der Respekt der Kulturen im kulturellen Dialog darf allerdings nicht auf eine formelle Attitüde reduziert werden, die einzig darin besteht, die Existenz einer anderen Kultur auf die gleiche Weise anzuerkennen, wie das Recht uns verpflichtet, eine andere Person anzuerkennen. Es muss ein Respekt sein, der im Akt des kritischen Dialogs selbst ausgeübt wird – dann also, wenn eine Kultur im und durch den Dialog mit einer anderen Kultur anerkennt, dass ihr das fehlt, was die andere Kultur als andere Kultur auszeichnet. Diese Anerkennung der Besonderheit der je anderen Kulturen in actu, ihrer anthropologischen Gültigkeit und ihres faktischen Beitrags zur Konstruktion einer Humanität, die ihren Namen verdient, beeinflusst entscheidend einen Austausch mit kritischem Impetus, wie er im Zuge des universitären Diskurses als Teil des interkulturellen Dialogs stattfindet. Er erlaubt also eine Einbindung der Akademiker in den Prozess der Transformation ihrer Kultur und der Institutionen, die diese Kultur hervorgebracht hat und ermöglicht es zudem – wenn erst einmal der kritische Beitrag jeder fremden Kultur als anthropologischer Wert anerkannt ist –, sich in anderen Kulturen dadurch Gehör zu verschaffen, dass diese zunächst im Dialog anerkannt werden, und zwar dadurch, dass diejenigen anerkannt werden, die in diesen anderen Kulturen ausgebildet wurden. Denkt man beispielsweise an die jüngste interkulturelle Spaltung, die zwischen Liberalismus und der muslimischen Kultur entstanden ist,

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150 | Jacques Poulain scheint es evident zu sein, dass eine Notwendigkeit dahingehend besteht, die Vertragskultur des amerikanischen Liberalismus dadurch zu erweitern, dass sie den Zusammenhang zwischen der ökonomischen und der sozialen Entwicklung der Kulturen der Welt und der realen Situation der Menschen anerkennt und in Folge dessen in die Regeln des ökonomischen Austauschs eine Gerechtigkeit bezüglich der Verteilung der Güter, der Rechte und der Pflichten einzuschreiben bereit ist. Nur mittels einer derartigen Praxis der Anerkennung der Notwendigkeitsverhältnisse wird es möglich, den europäischen Traum einer weltumspannenden, deliberativen Demokratie aus seinen internen ethischen Beschränkungen zu befreien. Die muslimische Kultur eröffnet die Möglichkeit, die immanenten Beschränkungen des Vertrags-Denkens und die willkürlichen Regeln des Austausches, für die es steht, zu kritisieren. Sie eröffnet diese Möglichkeit aber nur unter der Bedingung, sich selbst auf das Bild des Menschen einzulassen, welches ein umfassendes Experimentieren mit den Möglichkeiten des Menschenseins vorschlägt, sich für dieses Experimentieren zu öffnen und den unkritischen Rückzug in ein Denken in Kategorien des Schicksals aufzugeben, das zum Kampf gegen alles ermutigt, dem unterstellt werden kann, dass es sich dem Schicksal derer entgegenstellen könnte, die sich für auserwählt halten. Aber diese universitäre Kritik muss auf transkulturellem Wege erfolgen, wie es Fathi Triki überzeugend gezeigt hat. Auf eine Weise also, in der im Zuge der Kritik der Standpunkt der jeweils anderen Kultur wirklich angenommen wird: Um die kulturelle Kreativität wie auch das kritische Vermögen der jeweils anderen Kulturen verstehen und prüfen zu können, reicht es nicht hin zu denken, dass der andere Recht haben könnte; vielmehr muss man denken, dass er Recht hat, indem man selbst dasjenige, was er denkt, wahrhaftig als Wahres denkt, so dass man schließlich anerkennen kann oder zurückweisen muss, dass er Recht hat. Diese Unverfügbarkeit des einzigen anthropologischen Kriteriums – die Anerkennung der Wahrheit des Anderen – war vielleicht das, was mit dem Verbot eines Urteils in letzter Instanz gemeint war, das nur dem jüdischen Gott, nicht aber dem Menschen gewährt war. Auch wenn es nicht in Frage kommt, dem Menschen der kulturellen Mondialisierungen zu verbieten, sich als ein Wesen mit Urteilskraft und Zugang zur Wahrheit zu verstehen, lässt die jüdische Kultur die Unfähigkeit vernehmlich werden, welche den Mensch hinsichtlich der Anerkennung der Wahrheit dessen, was er sagt und denkt, kennzeichnet, solange er nicht einen Anderen an seinem Wahrheitsurteil hat teilhaben lassen, indem er diesen die Objektivität der Erfahrung seiner selbst und der Welt anerkennen lässt, die ihn zu sich gemacht hat. Vielleicht bildet das die versteckte jüdische oder islamische Seite des Europäischen, wie es Reyès Maté denkt, vielleicht bildet es die interne Begrenzung des Gebrauchs des philosophischen Urteils, sei es im alltäglichen oder im professionellen Sinn, wenn es wahr ist, dass diese Teilhabe und die Gewährung des Zugangs (für sich und andere) zu dieser Teilhabe, die einzigen

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Zeugnisse für die Existenz der Wahrheit darstellen, die um zu sein somit des Gemeinsam-Seins und des Gemeinsam-anerkannt-Seins bedarf. Aus dem Französischen von Jens Badura.

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Technik und Interkulturalität 1 Christoph Hubig/Hans Poser

Dass Technik Kultur prägt und in ihrer jeweiligen Gestalt Teil der einzelnen Kultur ist, gehört heute zum festen Bestand der Sozialgeschichte. Dass Technik eine Globalisierung bewirkt, die uns weltweit zu telefonieren, die gleichen Autos zu fahren und die gleichen CDs und DVDs abzuspielen erlaubt, scheint dem radikal zu widersprechen: Wie die Naturwissenschaft und die Mathematik erweckt die heutige Technik den Eindruck, von allen regionalen Kulturunterschieden unabhängig geworden zu sein. Jedoch lässt sich nämlich – erstens – feststellen, dass die globale Verbreitung von Techniken unter dem »universalistischen Pool« des Knowhows von Hochtechnologien (Hughes 1983) dazu führt, dass eine Homogenisierung und Entdifferenzierung der Kulturen insbesondere bei den Massenprodukten stattfindet. Allerdings sind gerade für ›triviale Techniken‹, deren Bedienung von Individuen ohne Fachkenntnis vorgenommen wird, umso professionellere, organisatorisch zentralisierte, von Spezialisten entwickelte Infrastrukturen vorauszusetzen. Wenn diese Strukturen nicht in die entsprechenden Kulturstandards integrierbar sind, kann der Techniktransfer nicht gelingen. Globalisierungskritik und neue Regionalismen sind die Folge und prägen aufgrund der Defizite der Angebotsseite die Nachfrageseite bis hin zum Boykott. Die Märkte bleiben kulturell und national unterschieden. Ihren Ansprüchen kann nur ein differenziertes Leitbild vom ›globalen Markt‹ entsprechen. Ferner weisen – zweitens – verschiedene Kulturen unterschiedliche Standortvorteile (geographische Lage, Ressourcen etc.) sowie unterschiedliche Leistungspotentiale (Bevölkerungsstrukturen, Belastbarkeit und Erwartungen im Rahmen etablierter Praxen etc.) auf, auf deren Basis neue Herausforderungen und neue Konkurrenzen die Technikentwicklung und das

1 | Ulrich Johannes Schneider zum 50. Geburtstag.

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154 | Christoph Hubig/Hans Poser globale Marktgeschehen bestimmen. Kooperation und Wettbewerb können unter diesen Bedingungen nur gelingen, wenn die Verschiedenheit kultureller Bedingungen zum Thema wird. Schließlich lässt sich – drittens – beobachten, dass im Zuge der globalen Vernetzung die Gesellschaften intern multipel und multikulturell werden, so dass ihre innere Kohäsion abnimmt. Alte Adressatenprofile und Nutzerstereotypen verändern sich genauso wie die großen kulturellen Muster; neue kulturelle Bindungen bilden sich heraus und unterliegen ihrerseits in immer höherem Tempo Veränderungen. Wenn die Entwicklung, Produktion und Distribution von Technik auf jene Dynamisierung und Flexibilisierung der Techniknutzung reagieren will, muss sie für die auslösenden Faktoren dieser Entwicklung sensibilisiert werden.

1. Was ist Kultur? Kultur als Gegenbegriff zur Natur umfasst alle menschlichen Hervorbringungen – Leistungen gerade so wie Orientierungen, die die ›bloße‹ Natur des Menschen überschreiten. Dazu zählt nicht nur das von ihm geschaffene Gegenständliche, vom Werkzeug über die Technik bis in die Kunst, sondern auch die dahinter stehenden geistigen Vermögen und Inhalte, von der Sprache über die Wissenschaften bis hin zu Formen des Sozialgefüges, Werten, Sinnzuschreibungen und Religionen. Solche Hervorbringungen sind durchweg zeit- und raumspezifisch – ablesbar an der Kulturgeschichte gerade so wie an den regionalen Ausprägungen von Kleingruppen einer Subkultur (einer Familien- oder Firmenkultur etwa) bis zu übernationalen Räumen, wenn von den Kulturspezifika des Westens, des Islam oder Asiens gesprochen wird. In diesem Sinne sind Technik, Technologien und Ingenieurwissenschaften fraglos Teil der Kultur. Als Inbegriff von Ideen, Werten, Leitbildern und Sinngehalten hingegen wird ›Kultur‹ als Gegenbegriff (oder gar Kampfbegriff) von ›Zivilisation‹ als Gesamtheit von (bloß äußerlichen) Techniken abgegrenzt. Während das erste Konzept zu weit gefasst ist, um für unsere Fragestellung Klärendes beizutragen, setzt sich das zweite in dogmatischer Verengung darüber hinweg, dass jede Kultur einerseits technisch geformt ist, andererseits aber diese Formung ›irgendwie‹ orientiert. Gerade dieser Zusammenhang ist genauer zu erhellen, und hierzu kann – jenseits der abstrakten Stilisierungen – ein Blick auf die Verschiedenheit der Kulturen Erhebliches beitragen. Schon die Weite dieses Kulturbegriffs bereitet Schwierigkeiten, die durch eine operationale Definition nicht nur nicht behoben, sondern in ein deutliches Licht gerückt werden: »Kultur ist alles das, was man wissen, empfinden und können muss, um sich in einem Umfeld unauffällig wie ein Angehöriger dieses Umfeldes aufhalten zu können.« (Schmitt 2000: 266, zitiert in Atanasov/Göhring 1991) Doch dies kann niemand gänzlich

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beurteilen, der nicht der fraglichen Kultur angehört. Die Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur kommen hierbei zwar in den Blick, nicht aber die Frage, wie sich unterschiedliche Kulturen zueinander verhalten und insbesondere, wie es überhaupt zu einem Brückenschlag zwischen Kulturen zu kommen vermag, da jeder doch immer schon in der Kultur und Tradition steht, in die er hineingeboren ist. Genau diese Aufgabe wird heute unter dem Begriff der Interkulturalität abgehandelt, beginnend bei dem praktischen Problem der Interkulturellen Kommunikation, die, hervorgegangen aus Fremdsprach- und Übersetzungsstudiengängen, inzwischen zu einer eigenen Disziplin geworden ist (Nagels 1996; Rösch 1999), weiterführend in Spezialdisziplinen wie Interkulturelles Lernen als Behandlung der Erziehungsprobleme unserer multikulturellen Gesellschaft (Böhm et al. 1999). Später trat die Interkulturelle Philosophie hinzu, die sich der theoretischen Problematik eines Brückenschlags annimmt und zugleich für eine Überwindung rein westlicher Philosophieorientierung eintritt (Wimmer 1990; Mall 1995; Kimmerle 1996; Cesana/Eggers 2000). Angesichts der Breite der Phänomene, die der Kultur zugehören, ist es geboten, im Hinblick auf die Interkulturalität eine Strukturierung vorzunehmen, welche Vergleiche und Bezüge herauszuarbeiten gestattet. Entsprechend veranlasst der offenbar handlungsermöglichende und handlungsorientierende Charakter von Kultur, nach Kultur als Inbegriff von Handlungsmustern bzw. Praxen und diese begleitenden Deutungssystemen (»Kultur als Text«, Geertz et al. 1987: 46) zu fragen. Für unsere Zwecke erscheint es daher zielführend, von einem Kulturkonzept ›mittlerer Reichweite‹ auszugehen, das einerseits hinreichend spezifisch ist, um nicht alle anthropogenen Phänomene zu umgreifen (wie das erste Konzept), andererseits aber auch hinreichend neutral ist, um die Verschiedenheit von Kulturen nicht zu nivellieren. Denn wenn Kulturen auch Deutungsmuster von Praxen sind, schließt dies ein, dass zur jeweiligen Kultur schließlich ihr eigenes Konzept von ›Kultur‹ selbst hinzugehört, also ihre Deutung dessen, wie Subjekte und ihre Handlungen sich selbst erscheinen in ihrem Verhältnis zu anderen Subjekten, zur Natur, zur Gesellschaft und (ggf. oder zentral) zu Gott. Hierin unterscheiden sich Kulturen fundamental. Wir schlagen daher vor, ›Kultur‹ als Inbegriff von Strukturen als tradierten ›Schemata‹ zu begreifen, die die Möglichkeiten des Handelns (inneren Handelns als Denken und Planen, äußeren Handelns als Realisierung oder Unterlassung des Bewirkens) ausmachen und zugleich in bestimmter Form darstellen bzw. deuten, so dass man sich an ihnen orientieren kann im Sinne einer Anerkennung und Nutzung oder Ablehnung und Widersetzung oder Infragestellung und Modifikation oder Ignorierung und Vernachlässigung oder Umgehung. Wir können hier eine materiale Ebene solcher Muster (1) von einer kognitiven/epistemischen Ebene (2) und schließlich einer normativen Ebene (3)

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156 | Christoph Hubig/Hans Poser unterscheiden (nicht aber trennen, s.u.). Auf der materialen Ebene finden wir – gestaltete Räume (von Wohnungen und Stadtvierteln bis zu Landschaften) als verdinglichte soziale Strukturen jeder Art (der räumlich situierten Trennung von Schichten, Ständen und Gruppen und der Einrichtungen, die koordiniertes und kooperatives Handeln in der Bereitstellung, Nutzung und Entsorgung von Technik in je spezifischer Weise ermöglichen), die räumliche Anordnung der Fertigung (von Kombinaten bis zu ›virtuellen Unternehmen‹), die Foren und Stätten öffentlicher Kommunikation und Interaktion, architektonische Gestaltungen der Administration und des Wirtschaftens/der Distribution (Märkte), Orte und Objekte jeglichen ritualisierten Handelns (Kirchen, Museen), Spor tund Erholungsräume; – Infrastrukturen und Netze (des Verkehrs, der Versorgung, der Kommunikation etc.); – verfügbar gemachte Ressourcen jeder Art (Boden, Kapital, Arbeitskräfte, Zeitmanagement, insbesondere im Blick auf unterschiedlich standardisierte Opportunitätskosten der Zeit). Solche strukturierten materialen Möglichkeitsräume kann man als ›performative Medien‹ bezeichnen (Hubig 2003). Damit diese materialisierten Schemata entsprechende Praxen orientieren können, müssen sie als solche Schemata bewusst und in gewisser Weise auch anerkannt sein. Das verweist auf die epistemische und normative Ebene. Die kognitiv-epistemische Ebene (2) umfasst – das theoretische (know that und know why) und praktische (know how und know where, ›state of the art‹) Wissen, instrumentelle Regeln und Taktiken; – paradigmatische Weltbilder, Naturbilder und Menschenbilder; – Symbole i.w.S. im Rahmen von Zeichenrepertoires/Codes/Darstellungsmitteln überhaupt, einschließlich der instrumentellen Regeln des Umgangs mit diesen (bis hin zu Präsentationstechniken); – höherstufiges Wissen der Einschätzung von Wissen, etwa der Rolle von Logik, Mathematik, evidenzbasierter visueller Veranschaulichung sowie – noch höherstufiger – der Einschätzung von Sicherheit und Unsicherheit des Wissens im Spannungsfeld von Kalkülisierung und pragmatischen Konventionen über hinreichende Näherungslösungen, Vernachlässigbarkeiten etc.; – die kollektive Einschätzung eines tacit knowledge, impliziten Wissens und Könnens (Kompetenz); – kollektive Kenntnisse bzw. anerkannte Bewährtheitstraditionen der Ge-

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nese, Akquisition und Vermittlung von Wissen, Bildung und Kompetenz in Erziehungssystemen. Auf dieser Ebene »konzeptualisierter Medien« (Hubig 2002; Ramming 2006) finden wir Bezüge zu Elementen der materialen Ebene, die die dinglichen Voraussetzungen der Akquisition, Genese, Vermittlung und Anwendung von Wissen umfasst, als auch zur normativen Ebene, die Werte, Kriterien und Standards für dasjenige enthält, was als Wissen, Glauben, Können anerkannt werden soll. Auf der normativen Ebene (3) finden wir schließlich die Gesamtheit der Prinzipien, Normen, Regeln, Leitbilder, Normalitätsstandards, unter denen – gratifikationen- oder sanktionenbewehrt – die intentionalen Momente unseres Handelns ihre Rechtfertigung finden. Das betrifft – die Auffassung von der Subjektposition des Handelnden in Gestalt von Selbstbildern, Images, Rollen (auch und gerade der Geschlechter) einschließlich ihrer Symbole als Statussymbolen; – Kriterien des Mitteleinsatzes (vgl. VDI 3780 – das Wertoktogon), Werte der Haupt- und Nebenfolgen des Mitteleinsatzes; – die Rechtfertigbarkeit von Zwecksetzungen und Motivationen; – die Gesamtheit der Hintergrundannahmen, unter denen die jeweiligen Handlungsstrategien stehen, wie etwa Kriterien der Vertrauenswürdigkeit und der Vertragstreue beim kooperativen Handeln, Zuschreibung von Verantwortung/Verantwortlichkeit (z.B. Patronage oder formalisierte Selbstverantwortung), Erwartungen und Erwartungserwartungen bei Interaktionen jeglicher Art; – Kriterien für die Zulässigkeit experimentellen und improvisatorischen Handelns oder für die Notwendigkeit quasi algorithmisch zu planender Vollzüge, also Auffassungen über die jeweilige Rationalität des Handelns. Die Verbindungen zwischen diesen drei Ebenen dürften offenkundig sein. Hierzu gibt es weit in die Tradition zurückreichende Überlegungen, etwa bei Wilhelm Dilthey oder Karl Marx in ihren Konzepten von »materialen Kategorien« als handlungsleitenden Konzepten der Identifizierung und Deutung jeweils praktisch relevanter Rollen der Handlungssubjekte, Handlungsmöglichkeiten (Kompetenzen und Bedingungen) sowie der realen Konsequenzen der Realisierung von Zwecken. In neuerer Zeit wurden etwa bei Michel Foucault unter seinem Konzept des »Dispositivs« diejenigen materialen, kognitiven und normativen Elemente bezeichnet, die eine bestimmte kollektive Handlungsstruktur ausmachen (hierzu Hubig 2000). Es dürfte deutlich sein, dass sich gerade in diesem Punkt die verschiedenen Kulturen unterscheiden.

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158 | Christoph Hubig/Hans Poser Nun ist Technik ein Kulturphänomen, dessen Elemente alle drei Ebenen tangiert. Dies ist beispielsweise an der Definition Klaus Tuchels ablesbar: »Technik ist der Begriff für alle Gegenstände und Verfahren (materiale Ebene), die zur Erfüllung individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse auf Grund schöpferischer Konstruktion geschaffen werden (epistemische Ebene), durch definierbare Funktionen bestimmten Zwecken dienen und insgesamt eine weltgestaltende Wirkung ausüben (normative Ebene).« (Tuchel 1967: 24)

Tuchel selbst schreibt zwar, es gäbe keine deutsche, französische oder englische Technik – doch fraglos muss dies differenzierter gesehen werden, fraglos gibt es Technikkulturen, also regionale, durch spezifische kulturbedingte Bedürfnisse wie durch charakteristische Lösungstraditionen bestimmte Techniken. Beispiel: Versuche einer unmittelbaren Implementierung von Versorgungssystemen (etwa einer zentralisierten Wasserversorgung einer afrikanischen Stadt) scheitern, wenn bestehende soziale und ökonomische Abhängigkeiten sowie etablierte Formen der Information und sozialen Kontrolle ignoriert werden zugunsten der Ermöglichung individualisierter und zentral registrierter/kontrollierter Nutzung unter Unterstellung eines Bewusstseins, dass die Nutzung des Versorgungssystems (Wasserentnahme) Marktverhalten sei. Eine technische Lösung, die auf der Linie ›Finanzierung – Technik – Know-how‹ denkt, scheitert, wenn sie nicht die unterschiedlichen Codes von Finanzier/Kreditgeber, Projektträger, Consultant, Administration und ›Kunden‹ berücksichtigt.

Des Weiteren ist festzustellen, dass nicht nur Elemente dieser Ebenen in horizontaler Zuordnung Strukturen bilden, sondern auch – kulturspezifisch – vertikale Zuordnungen stattfinden dergestalt, dass Elemente der drei Ebenen untereinander Hierarchien der Ermöglichung bilden. So hebt die Rede von der ›Normativität des Faktischen‹ darauf ab, dass bestimmte traditional verfestigte materiale Strukturen Handlungsschemata vorgeben, u.a. Technik handlungsnormierend wirkt (so wie das ›Berliner Türschloss‹ zum Abschließen der Tür zwingt, sofern man den Schlüssel weiter mit sich führen will). Umgekehrt können verfestigte normative Standards nicht bloß bestimmte Wissensbestände als solche anerkennbar machen, sondern sich auf die gesamte Einschätzung von Wissenstypen und der sie garantierenden Instanzen (wie z.B. Logik oder Mathematik) beziehen: Beispiel: Die deutliche Orientierung einer uns so verwandten Kultur wie der amerikanischen auf Dienstleistung hat zur Folge, dass in der entsprechenden Konstruktionskultur der Mathematik und den Naturwissenschaften ein anderer Stellenwert eingeräumt wird als beispielsweise in Frankreich, weil es nicht in erster Linie um die technischen Qualitäten des Produktes an sich geht, sondern um seine Zweckdien-

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Technik und Interkulturalität | 159 lichkeit im Rahmen der Qualität der Dienstleistungen, die zu gewährleisten ist: auch und gerade über Mechanismen der Kontrolle, ständigen Begleitung, Versicherung, Ersatz bei Ausfall, Haftung etc. Das führt dazu, dass auch andere Wissensbestände für die Kalkulierbarkeit der Erfolgsträchtigkeit der technischen Aktion in Rechnung gestellt werden und hat einen so genannten ›pragmatischen‹ Entwicklungsstil zur Folge.

Die Einschätzung von Ressourcen wie Natur/Boden, Kapital oder Zeit ist ebenfalls in unterschiedlicher Weise wesentlich normativ geprägt. Entsprechend solcher Prägung wird ermöglicht oder verunmöglicht, ein spezifisches Wissen über solche Ressourcen zu entwickeln, beispielsweise Berechnungen des Zeitaufwandes im Rahmen unterschiedlicher Kalkülisierung der Zeit (Kontierung, Diskontierung) oder monetäre Bezifferungen des Wertes natürlicher Ressourcen o.Ä. Denn ob Erlebnis- oder Verwertungsqualitäten auf der Basis von Eingriffen und Experimenten oder auf der Basis von Anschauungen und Erfahrungstraditionen als eruierbar erachtet werden, hängt von entsprechenden normativen Standards der Kulturen ab – bis hin zur Tabuisierung. Dass die Unterschiedlichkeit von Bezügen zwischen diesen Ebenen ([1] – [3], horizontal und/oder vertikal) einschließlich der Möglichkeit, wie diese Hierarchien ihrerseits auf einzelnen Ebenen reflektiert werden, in unserer Begrifflichkeit ausdrückbar sind, mag dafür sprechen, mit dem vorgeschlagenen begrifflichen Werkzeug zu arbeiten. Diese Begrifflichkeit erlaubt auch, Typen der Verschiedenheit von Kulturen zu kennzeichnen, (a) denjenigen der bloßen Alterität/Unterschiedlichkeit von Kulturen, dessen Behauptung ja die Voraussetzung eines gemeinsamen Bezugspunkts verlangt, von dem aus die Unterschiedlichkeit in ihrer Spezifik erscheint. Dies gelänge, wenn im Ausgang von der Struktur einer Ebene (sei sie material-technisch oder kognitiv-epistemisch oder normativ) kulturunterschiedliche Zuordnungen von Elementen der anderen Ebenen feststellbar sind. Demgegenüber treffen wir (b) eine Verschiedenheit anderen Typs an, wenn gänzlich unterschiedliche Hierarchisierungsformen der Schemata und der an ihnen orientierten Praxen in verschiedenen kulturellen Kontexten vorliegen. So kann in einem Kontext unter dem Primat wissenschaftlich-technischer Rationalität gedacht und gehandelt werden, in einem anderen unter einem normativ-traditionalem Primat der Verweigerung des Einsatzes eines bestimmten ›Wissens‹, welches zugunsten eines anderen Wissenstyps als solches nicht zugelassen wird. Oder eine Problemlösung wird überhaupt tabuisiert. Wir sprechen dann von Alienität. Generell ist zu beobachten, dass kulturspezifisch ein Technikeinsatz eher im Ausgang von Ebene (1) ›pragmatisch‹, oder von Ebene (2) ›logisch‹ oder von Ebene (3) ›traditionsbasiert/kommunikationszentriert‹ konzipiert werden kann. Entsprechend werden kulturspezifisch ›Können/Nichtkönnen‹ oder ›Müssen/Nichtmüssen‹ i.S. von Determiniertsein (durch Macht

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160 | Christoph Hubig/Hans Poser und Zwang) in unterschiedlicher Weise zu ›Dürfen/Verbotensein‹ oder ›Sollen/Verbotensein‹ (im Zuge von legitimer oder illegitimer Herrschaft) in Bezug gesetzt. Auch an dieser Stelle wiederholt sich das Problem: Wie lässt sich derlei fassen, wie kann mir, der ich meinem Kulturkreis angehöre, solches in einem anderen Kulturkreis überhaupt zugänglich werden? Das näher auszuleuchten ist der eben skizzierten Linie folgend die Absicht dieses Beitrags: Von der Interkulturalitätsproblematik ausgehend soll der Weg über die Methoden interkultureller Philosophie einerseits, des Übersetzungsproblems technischer Texte andererseits zur Frage des Verhältnisses von Technikkulturen zueinander vordringen.

2. Interkulturalität ›Interkulturalität‹ ist zum Schlagwort und Modewort geworden, dessen Abgrenzung zur Multikulturalität (Robertson-Wensauer 2000), gar zu MultiKulti oder zur Transkulturalität (Welsch 2000) genauso schwer fällt wie bei dem inzwischen verblassten Modewort Interdisziplinarität und seinem Dunstkreis, fassbar in Komposita wie Multi-, Trans- und Metadisziplinarität. Eines allerdings ist für Interkulturalität konstitutiv, nämlich ein Vermögen des Menschen, das jeweils Andere in seiner Verschiedenheit oder auch Fremdheit zu erfassen und in seiner Besonderung zu respektieren. Mittlerweile hat das neue Modewort genügend Zauber entfaltet, um ganze Lehrstühle und Zeitschriften zu ermöglichen. Bemerkenswert ist, dass diese Entwicklung wohl zwei unterschiedliche und verschieden starke Wurzeln hat: die eine, schwächere, in der Besinnung auf andere als abendländische Denktraditionen, die für sich auch das Recht in Anspruch nehmen, zur Philosophie zu zählen, etwa das, was früher einmal als ›Weisheit des Ostens‹ apostrophiert wurde, in der Gegenwart ergänzt um eine ›südamerikanische‹ wie um eine ›afrikanische‹ Philosophie, die um 1990 zusammenfließen zur Interkulturellen Philosophie. Der andere, deutlich stärkere Zweig ist aus der Sprachwissenschaft hervorgegangen; denn in dem Maße, in dem die Linguistik ihr Heil in der Theorieentwicklung und Formalisierung sah, lag ein ganzer Zweig danieder – jener der Fremdsprach- und insbesondere Übersetzungswissenschaften. Sie waren es, die sich von Zentralinstituten für Sprachen vielfach zu Interkulturalitätsinstituten mauserten. Aus dem Fachgebiet ›Deutsch als Fremdsprache‹ wurde beispielsweise in Bayreuth ›Interkulturelle Germanistik‹; ebenso mutierte das Sprachenzentrum der Technischen Fachhochschule Wildau zum Institut für Interkulturelle Kommunikation. Sein besonderes Gewicht erlangte dieser Zweig jedoch durch die manifesten Schwierigkeiten in Schulklassen mit einer großen Zahl solcher Kinder, die einer anderen Kultur entstammen und bislang in deren Sprache heranwuchsen; hier wa-

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ren praktische Lösungen gefordert. Ähnlich praxisorientiert ist schließlich der Bereich der interkulturellen Wirtschaftsproblematik, weil die ökonomische Globalisierung neue Formen des Umgangs mit fremden Wirtschaftsformen verlangt (Nagels 1996; Röttgers/Koslowski 2002). Diese zweite starke Wurzel gründet sich jedoch keineswegs nur auf praktische Handlungserfordernisse, hat vielmehr durchaus ihre theoretische Berechtigung; denn gerade im Vergleich der Sprachen liegt die Möglichkeit und Notwendigkeit, Kulturen aufeinander zu beziehen. Dahinter aber steht in beiden Zweigen einschließlich ihrer Verästelungen das vordringliche Anliegen, das Verstehensproblem zu lösen. Beide Zweige lassen sich also in die Hermeneutiktradition einordnen. Dies gilt sowohl für die Methodenfrage, wie Emilio Betti sie verfolgt hat, als auch für die erkenntnistheoretische Problematik, die hinter Hans-Georg Gadamers Zugang steht. Doch während beide, Betti wie Gadamer, das Verstehen innerhalb ein und derselben Kultur thematisieren, geht es hier um eine näher zu bestimmende Weise, das Andere der fremden Kultur zu erfassen. So wendet sich Alois Wierlacher gegen die »inflatorische Verwendung des Ausdrucks interkulturell« (Wierlacher 2000: 274) und sucht eine »wissenschaftliche Konzipierung« (ebd.: 275) dieser Beziehungskategorie, die die »kulturelle Pluralität als Grundverfassung der mitmenschlichen Wirklichkeit annimmt«, dabei aber über einen bloßen Kulturvergleich hinausgeht: »›Interkulturalität‹ […] setzt sowohl die Annahme einer kulturhermeneutischen Vielfalt als auch die Wahrung der gleichen Ursprünglichkeit der unterschiedlichen Blickwinkel unserer Partner und ihrer Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit voraus; sie verlangt ferner als Kooperationsbedingung einen Verständigungswillen, der […] auf der wechselseitigen Anerkennung der Vertragspartner als gleichberechtigt handelnde beruht.« (Wierlacher 2000: 283)

Daraus folgt, dass ein Drittes ins Spiel kommt: Es muss ein »interkultureller Verstehenshorizont«, nämlich eine »kulturelle Überschneidungssituation ins Leben gerufen« werden (ebd.: 285). Damit aber ist das theoretische Problem bezeichnet, das es auch im Hinblick auf Technik zu lösen gilt: Worauf gründet sich dieses Dritte, dieser Verstehenshorizont? ›Interkulturalität‹ unterstellt eine solche gemeinsame Basis (wie bei ›Interdisziplinarität‹ ein gemeinsames Verständnis von ›wissenschaftlicher Disziplin‹ oder bei ›Intersubjektivität‹ ein gemeinsames Verständnis von ›Subjekt‹). Im Lichte grundlegender Voraussetzungen bezüglich geteilter und als gemeinsam vollzogen unterstellter Anerkennungsakte (›Präsuppositionen‹) bis hin zu einem als gemeinsam unterstellten Verständnis von Kultur überhaupt können dann Verschiedenheiten als Unterschiede/Alterität formulierbar und als Widersprüche reflektiert und aufgehoben werden. In den Worten Hegels: Schranken werden als Grenzen erachtet, die aufgehoben werden können.

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162 | Christoph Hubig/Hans Poser ›Transkulturalität‹ hingegen markiert die Überschreitung eines Kulturhorizonts hin in andere Kulturbereiche. Damit geht die Erfahrung von Verschiedenheit als Fremdheit/Alienität einher; die Schranke wird ›als Barriere‹ empfunden, weil eben eine gemeinsame Bezugsinstanz aussteht. Alterität und Alienität bedürfen also unterschiedlicher Formen des Konfliktmanagements. Im Bereich der Alterität, bei dem man davon ausgehen kann, dass in einer abstrakten Form Werte als gemeinsamer Bezugsinstanzen gelten, können folgende Unterschiedlichkeiten auftreten: – Die Träger der Werthaltungen können unterschiedlich gefasst sein (z.B. unter dem Wert ›Ehre‹ Individuen oder Kollektive [Familie, Clan, Unternehmen, Behörde etc.]). – Mit gemeinsamen Werten können unterschiedliche Konnotationen einhergehen bezüglich weiterer Charakteristika dieser Werte (ob z.B. ›Ehre‹ erworben oder allenfalls tradiert/›übertragen‹ werden kann). – Es können ferner Unterschiedlichkeiten vorliegen in der Frage, was unter einem gemeinsamen Wert zu subsumieren ist. Verbunden sind dabei Unterschiedlichkeiten in der Beurteilung der adäquaten Strategie maximaler oder optimaler Werterfüllung (z.B. bei der Beantwortung der Frage: ›Was gereicht zur Ehre?‹). – Schließlich können unterschiedliche Beurteilungen vorliegen bezüglich der Frage, wie strikt und rigide Handlungen auf bestimmte Wertideale hin zu beziehen und unter diesen zu beurteilen sind. Wie hoch ist der Spielraum für ›second best‹-Lösungen, vorläufig-pragmatisches Handeln, Improvisation etc.? Es geht hier also generell um die Frage, inwieweit unter einer universalen Wertbasis plurale Realisierungsformen zugelassen werden können. Dieses Problem stellt sich grundlegend anders im Feld der Alienität. Hier können keine direkt wirksamen Lösungsstrategien verfochten werden. Es wird dann darum gehen zu suchen, wie trotz weiteren Bestehens grundlegender Dissense Räume erschlossen werden können, in denen eine transkulturelle Kooperation bescheideneren Anspruchs möglich ist. Während im Felde der Alterität Konfliktregelungen zu einem Wertabgleich führen können (Offenhalten individueller Lösungssuche unter individuell anerkennten Werten, Konzessionen an eine regionale Anpassung von Lösungen, Kompensationen und Kompromisse zum Ausgleich unterschiedlich verteilter Vor- und Nachteile), scheinen im Felde der Alienität hingegen die Probleme nicht direkt lösbar, so dass Konfliktlösungsstrategien eher in Form einer Problemumgehung bzw. -vermeidung, Problemverlagerung (z.B. auf eine gemeinsam als grundlegender oder dringlicher erachteten Problematik, ›Problemwurzel‹), Moratorien, die partielle Problemlösungen zunächst untersagen (und im extremen Falle durch prohibitive Maßnahmen zu ergänzen wären, was nur dann seine Rechtfertigung finden

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kann, wenn nur durch solche Maßnahmen zu verhindern wäre, dass unter fundamentalistischen Werthaltungen Problemlösungen verfochten werden, die den Spielraum gemeinsamer Lösungssuche zerstören). Die Wahl der Konfliktregelungsstrategien hängt von der Lage der Ausgangsbedingungen ab (Not, Handlungsdruck, Ressourcen und Potentiale) und sollte sich am Erhalt bzw. der Gewinnung grundlegender Handlungsbedingungen orientieren (Klugheitsethik, vgl. Hubig 2001). Wenn verhindert werden soll, dass unter den jeweils fundamentalistischen Varianten der Wertkonzepte ein clash von Kulturen stattfindet, und andererseits auch nicht davon ausgegangen werden kann – wegen der fundamentalistischen Ausprägung entsprechender Wertkonzepte –, dass eine Hybridisierung/Überlagerung zweier Kulturen und damit einhergehend das Entstehen einer neuen Kultur zu erwarten ist, bleibt nur, zwischen den konfligierenden Wertkonzepten eine Zone des Aushandelns – ›trading zone‹ – zu suchen. Hier wird nicht einfach ein Wertabgleich unter einem ›Metacode‹ als neutralem Deutungssystem erstrebt, denn warum sollten diejenigen, die die entsprechenden Werthaltungen tragen und die entsprechenden Werte anerkennen, einen solchen Metacode anerkennen? Vielmehr werden neue Subjektpositionen (Rollen) im Zuge neuer Interaktionsformen und dem Aufbau neuer sozialer Beziehungen (Vertrauensbeziehungen) hergestellt, von denen aus dann möglicherweise eine Änderung der Anerkennungsprozesse und eine Annäherung erwartet werden kann. In einer solchen Zone (Rottenburg 2002: 159-212) wären die Rollen der Finanziers, Projektträger, Consultants und Kunden sowie deren Informationsbasen (Wissen) allererst gemeinsam zu erarbeiten und zu sichern. Keineswegs kann die Ebene technischer Rationalität eine solche Plattform abgeben. Demgegenüber sollte man sich eingestehen (1), dass mangels einer Klärung der Problemlage, der Betroffenheit und der Zuständigkeiten noch gar nicht klar sein kann (worauf man überhaupt hinaus will), was die Ziele der Konfliktregelung sein könnten. Von dort aus wäre (2) zunächst zu eruieren, welches Wissen zu akquirieren ist, wie es zu akquirieren ist, um dann schließlich einen Wissensbestand hervorzubringen und vorläufig zu sichern, der die Uneinigkeit auf den Begriff bringt. Erst dann lassen sich (3) im Lichte dieser Uneinigkeit unter den oben erwähnten Strategien des Umgangs mit Alterität und Alienität Lösungen aushandeln, die schließlich (4) die Formulierung von Problemstellungen technischer Art (Gewinnung geeigneter Mittel zur Problemlösung) und Vollzug dieser Problemlösung als kalkulierter Intervention ermöglichen.

3. Interkulturelle Philosophie Zu der eben aufgeworfenen Methodenfrage sucht die Interkulturelle Philosophie eine Antwort, wobei sie sich mit Sprachwissenschaftlern einig ist,

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164 | Christoph Hubig/Hans Poser dass es einer eigenen »Interkulturellen Hermeneutik« (Cesana 2000: 444) bedarf. Sie erhebt den Anspruch, über den bloßen Vergleich verschiedener Kulturen hinauszugehen, also eine bloße Komparatistik, wie sie die traditionelle Sprachwissenschaft anstrebte, hinter sich zu lassen. Kultur hat angesichts der drei eingangs bezeichneten Ebenen ein weites Spektrum – von Artefakten bis zu Sinn- und Wertzuschreibungen. Damit muss Interkulturelle Philosophie alle Anliegen und Lebensbedingungen der Menschheit betreffen, wenn »die Stimmen der anderen zu Gehör gebracht« werden sollen (Wimmer 2000a: 34; vgl. auch Wimmer 2000b). Nun geht es hier nicht um die philosophischen Inhalte, sondern um die verwendeten Methoden. Dazu zählt für Franz M. Wimmer die Klärung von Begriffen der jeweiligen Kulturen als Entwicklung einer angemessenen Terminologie – etwas, das scheinbare Selbstverständlichkeiten der abendländischen Tradition allererst sichtbar werden lässt. Aber das wären nur Elemente, die keineswegs interkulturalitätsspezifisch sind, weil begriffliche und terminologische Klärungen Bestandteil einer jeden Wissenschaft sein müssen. Wimmers eigener Vorschlag eines Polylogs betrifft hierbei die formale Struktur der Beziehung der Elemente des Fremden und des Eigenen im Dialog der Kulturen. Nun bringt der Ausgang von einer formalen Struktur eine gewisse Enge mit sich, die es zu überwinden gilt. Darum ist es kaum verwunderlich, dass es vor allem Phänomenologen sind, die sich der Problematik des Fremden und der Interkulturalität systematisch angenommen haben. So entwarf Ram Adhar Mall das Konzept einer analogischen Hermeneutik: »Sie geht von den aus vielerlei Gründen vorhandenen Überlappungen aus, die Kommunikation und Übersetzung erst ermöglichen. Diese Überlappungen können von dem Biologisch-Anthropologischen bis hin zum Politischen reichen.« (Mall 2000: 315)

Damit ist das gesuchte Dritte zur Sprache gebracht, das in den kulturellen Gemeinsamkeiten besteht, die den Aufschluss über »die Andersheit des anderen« ermöglichen. Diltheys Begründung der Möglichkeit von Hermeneutik, »Leben erfasst Leben«, wird von Mall differenziert, wenn er ausführt, die Überlappungen seien »in das Leben eingebettet und hängen von Bedürfniszusammenhängen, Methoden, Erkenntnissen, Werten, Interessen und Interpretationen ab« (ebd.). Deshalb seien sie die »auf dem Boden des Empirischen zu erreichenden und zu begründenden Gemeinsamkeiten« (ebd.). Da nun nicht nur Werte keineswegs empirischer Natur sind, ist dies als phänomenologischer Zugang zu verstehen, der es erlaubt, von den Erscheinungen zu Wesensformen vorzudringen. – Als zweites wesentliches Element Malls analogischer Hermeneutik muss zur Überlappung »ein Verstehen auch im Sinne des Sich-zurücknehmen-Könnens« hinzukommen (ebd.: 316). Damit ist gemeint, dass an die Stelle des Einleuchtens und

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Überzeugens oder der phänomenologischen Konstitution ein schwächeres, eben ein analogisierendes Vorgehen zu treten hat, das erlaubt, über die Grenzen der klassischen Hermeneutik hinauszugehen, zugleich verbunden mit der Einsicht, dass solches Verstehen nie gänzlich aufgeht. Die Analogiebildung wird so zum erschließenden Verfahren. Andere Phänomenologen wie Renato Cristin und Bernhard Waldenfels sehen eine Analogie zur Subjektivität. So zeigt sich die Kulturmannigfaltigkeit für Cristin in der Begegnung mit anderen Kulturen durch »Zögern, Vorbehalte, Vorurteile, Widerstände, Erwartungen«, also auf eine Weise, die der operationalen Kulturdefinition von Schmitt entspricht. Dieser ›weiße Raum‹ der Interkulturalität verlange eine dialogische Füllung (Cristin 1994: 10). Da nun die Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen heute unvermeidbar ist, stellt sie für Cristin das Element des Dritten dar, kommt es doch zwangsläufig zum Dialog und mit ihm zu etwas Neuem, nämlich zu einer »Symbiose« (ebd.: 12). Die Lösung beruht auf der Intentionalität als Möglichkeit der Verständigung. Intentionalität aber ist für Cristin »die innerste Eigenschaft des Subjekts und Tragwerk der intersubjektiven Verständigung«, zugleich aber Ausdruck der Kultur, in der das Subjekt beheimatet ist (ebd.: 13). Damit ist im Rahmen des verbindenden Dritten ein weiterer wichtiger Punkt benannt, nämlich die Intentionalität. Nun bedeutet die Begegnung mit einer anderen Kultur, Bernhard Waldenfels folgend, eine Fremdheitserfahrung mit »paradoxem Charakter«, indem man von einer »Zugänglichkeit des Unzugänglichen« sprechen könne (Waldenfels 2000: 249). Ist die Fremdheit radikal, lässt sich das Fremde in keiner Weise an das Eigene anschließen, es bleibt irreduzibel. Anders dagegen bei relativer Fremdheit; hier ist Anschluss und Aneignung möglich. Genau dies gilt für den Bereich des Interkulturellen. Das Dritte, das Interkulturalität allererst wirksam werden lässt, wird darum im Verstehen schlechthin gesehen: »Wir können kein Wort aussprechen, keine Handlungsgeste vollziehen, ohne dass ein Drittes ins Spiel kommt, das sich weder auf das Verhalten des Adressaten noch auf das des Adressanten zurückführen lässt.« Dieses »Dritte steht für Regeln, Ordnungen, Gesetze, die es erlauben, etwas als etwas, jemanden als jemanden anzusprechen und zu behandeln.« (Ebd.: 257) Dieses Dritte ist die erwähnte normative Ebene, die Ebene der Werte. Solche Wertvorstellungen erstrecken sich dann auch auf die Einschätzung von Strategien, Prozessen/Verfahren, Wegen und Umständen der Technikentwicklung einschließlich Entwerfen und Planen (z.B. bezüglich Medien der Darstellung), der Fertigung, Distribution (einschließlich Geschäftsanbahnungen und -verhandlungen), der Implementation, der Techniknutzung (betr. Werbung, Marketing), der Entsorgung, der Technikvermittlung in Lehre und Nutzerinformation (Lehr- und Lernstile) sowie der allgemeinen Technikkommunikation (z.B. der Risikokommunikation) u.v.a. mehr.

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166 | Christoph Hubig/Hans Poser Beispiel: Im Chinesischen finden sich zwar ein Zeichen für ›Programm‹ sowie für ›Plan‹ im Sinne direkter Umsetzung, direkten Vorhabens, nicht aber für ›Planung‹ als komplex vernetztem Prozess der schrittweisen Entwicklung eines Schemas der Umsetzung eines Programms, welches die Modellierung von Schritten, Meilensteinen, Iterationsschleifen, alternativen Fortsetzungen, Kontrollen, Zwischenbilanzierungen etc. vorsieht. Mag es daran liegen, dass chinesische Kooperationspartner so hohen Wert legen auf die allmähliche und behutsame Herausbildung einer Atmosphäre persönlichen Austauschs und Vertrauens auf der Basis festgestellter persönlicher Integrität, und einem ›sachbezogenen‹, forschen Vorgehen westlicher Verhandlungspartner distanziert gegenüberstehen? Denn eine solche schrittweise gesicherte hintergründige Atmosphäre oder Handlungsumgebung dürfte einen Ersatz-Vertrauensgarant abgeben, da sie die Umsetzung von Programmen leitet und garantiert und somit in gewissem Maße formalisierte Planungsprozesse ersetzt – personalisiertes Vertrauen anstelle von Systemvertrauen?

Die Wertträgerschaft durch Personen scheint anders gefasst als bei uns. Verantwortung und Zuständigkeit hängen von der Bewertung der Rollen ab, die die Individuen wahrnehmen. Nur so etwa wäre zu erklären, dass die Fertigungstoleranzen etwa für den »Transrapid« in China enger gefasst sind, während andererseits Fabrik- und Bergwerkshavarien häufiger auftreten, weil ›Sicherheit‹ unterschiedlich bewertet wird, analog zur unterschiedlichen Bewertung der Rollen, die die Individuen in den Netzen wahrnehmen.

4. Werte und Wertkonflikte Ähnlich wie ein Konzept von ›Kultur‹ in verschiedenen Kulturen unterschiedlich sein kann (was nun in unserer Terminologie so ausdrückbar ist, dass die Hierarchisierung zwischen materialen kognitiv-epistemischen und normativen Strukturen unterschiedlich geartet ist), finden sich auf der normativen Ebene selbst kulturspezifische typische Unterschiede. Diese sind nicht bloß in erster Linie daran erkennbar, was als Wert oder wertvoll erachtet wird – hierzu bestehen auch gravierende Unterschiede innerhalb von Kulturen –, sondern insbesondere darin, dass unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, was überhaupt ein Wert ist, was überhaupt einen Wert ausmacht. Solche Unterschiede erschweren bzw. verunmöglichen sogar eine Diskussion über Werte oder einen ›Wertabgleich‹. So finden wir (1) Auffassungen, dass Werte als Güter zu begreifen sind (»X ist ein Wert«). Wir sprechen dann von Objektwerten, die konkreter Art sein können (ein Mensch, ein Ökotop, ein Heiligtum, ein Ritus o.Ä.) oder auch abstrakte Gegenstände umfassen können (spezifische Formen von Privatheit oder Öffentlichkeit, Autorität oder Partizipation, Freiheit, Ehre,

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Zugehörigkeit oder Unabhängigkeit etc.). Dass etwas ein Wert ist, erkennt man bei den Verfechtern dieser Auffassung am besten daran, dass sie sich einer Diskussion zur Frage verweigern, welchen Wert denn dieser Objektwert habe. Wenn solche Werte absolut gesetzt werden, was oftmals mit einer Tabuisierung und Behauptung der Unantastbarkeit und Integrität des Objektwertes einhergeht, spricht man von einem (jeweils) ›höchsten Gut‹. Dagegen finden wir (2) ein Konzept von Wert, das sich in der Rede »X hat einen Wert« manifestiert und dabei einen bestimmten Wertmaßstab bzw. Bewertungsmaßstab in der Zuweisung einer Wertgröße an dem Objekt aktualisiert. Unter gemeinsamen z.B. ökonomisch-monetären Bewertungsmaßstäben können dann Werte gegeneinander verrechnet und auf diese Weise in einen ›Abgleich‹ gebracht werden. Werte sind also grundsätzlich relativ. Wenn wir einen zugewiesenen Wert als nicht verrechenbar erachten, sprechen wir von »Würde« (Kant). Würde als Wert, den etwas hat bzw. der ihm zukommt, entzieht dieses Etwas einem Wertabgleich. Insofern sprechen wir von ›Menschenwürde‹ als einem Wert, den ein Mensch hat, ohne dass dieser Wert gegen Bewertungen unter anderen Maßstäben (Sicherheit, Vergeltung/Gerechtigkeit o.Ä.) verrechnet werden darf. In einer dritten Weise versteht man unter Werten (3) Konzepte, hinter denen sich latente Imperative als Aufforderungen, diese Werte in bestimmten Zuständen und Vollzügen zu realisieren und ihnen nachzukommen, verbergen. So finden sich unter ›Werten‹ dieses Konzepts wie etwa Freiheit, Liebe, Solidarität o.Ä. »latente Imperative« (Kraft), deren imperativischer Charakter eben gerade dadurch ausgedrückt wird, dass wir die entsprechenden Entitäten als ›Werte‹ bezeichnen. Wenn solche Werte unbedingt gelten, d.h. nicht in Abhängigkeit von Bedingungen/Bedingungslagen anderen Werten entweder über- oder untergeordnet werden können, so dass sich abgestufte Gebote ergeben würden, sprechen wir von ›kategorischen Werten‹ bzw. ›kategorischen Imperativen‹. Für die Erfassung, Modellierung und Berücksichtigung von Kulturunterschieden haben diese Unterscheidungen Relevanz: Sofern grundsätzlich in Frage gestellt würde, dass es keine absoluten höchsten Güter, Träger von Würde oder kategorische Imperative gibt, könnte man sich im Rahmen eines ethischen Relativismus darauf konzentrieren, Kriterien für die Relationierung zu finden und einzusetzen (z.B. Kompensationen und Ausgleichslösungen auf der Basis jeweiliger Anerkennung, die ausgehandelt werden muss). Sofern aber unter diesen Wertkonzepten jeweils die absolute Variante angenommen werden muss (höchstes Gut, Würde, kategorischer Imperativ), sieht man sich mit Ansprüchen auf allgemeine Gültigkeit konfrontiert (Universalismus), obgleich eine generelle Anerkennung damit nicht einhergehen muss. Ein solcher Universalismus wäre mit einem Pluralismus vereinbar (der nicht gleichzusetzen ist mit Relativismus), sofern eine universale höherstufige Instanz gefunden werden kann, die erlaubt, unter-

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168 | Christoph Hubig/Hans Poser schiedliche regionale Werthaltungen als Aktualisierung dieser Werte zu rechtfertigen (Toleranz zur Alterität). Sofern jedoch eine solche Instanz nicht ersichtlich wird und nicht erreichbar erscheint, besteht Alienität. Der Verweis auf Regeln, Ordnungen und Gesetze gibt Gelegenheit, auf einen Problembereich hinzuweisen, der in Zusammenhang mit der Technik Bedeutung erlangen wird – die Interkulturelle Ethik (Röttgers/Koslowski 2002). In Gestalt der Wirtschafts- und Technikethik ist sie in der Gegenwart von ausschlaggebender Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Denn Wirtschaftszonen vom chilenischen Kap Hoorn bis zum Kap Columbia im nördlichsten Kanada oder auch nur von Gibraltar bis zum Nordkap einzurichten ist eines, gemeinsame Spielregeln als verbindlich zu vereinbaren und anzuerkennen ein anderes! So geht es in der Interkulturellen Philosophie dieser Gestalt nicht einfach um eine Vergrößerung des philosophischen Blumenstraußes um ein paar exotische Orchideen oder um mehr Toleranz gegenüber anderen Vorstellungen, sondern viel handfester um eine umsetzbare Ethik mittlerer Reichweite, die – entgegen fast allen abendländischen Traditionen – nicht nach letzten universellen Prinzipien fragt, sondern unbeschadet kultureller Absolutheitsansprüche nach Grundsätzen, die von allen oder doch den meisten Kulturen getragen werden können, um so ein gemeinschaftliches Handeln zu ermöglichen. Zur Methodik des interkulturellen Dialogs hat sich damit ergeben, dass es über das komparatistische Element des Vergleichs hinaus einer analogischen Hermeneutik bedarf, die sich auf ein Drittes, nämlich auf Gemeinsamkeiten gründet. Diese reichen von in das Leben eingebetteten Bedürfniszusammenhängen bis zu Intentionen, die das Fremde an das Eigene anzuknüpfen erlauben, ohne indes dadurch dessen Andersheit und Fremdheit aufzuheben, sondern allenfalls symbiotisch zu assimilieren in gemeinsam zu erarbeitenden neuen Lebensformen.

5. Übersetzen von technikbezogenen Texten Interkulturelle Philosophie zielt auf eine Erweiterung des Philosophiebegriffs durch Einbeziehung anderer Kulturen; doch beschränken wir uns auf das Problem der Interkulturalität im Zusammenhang mit Technik als Teil der Kultur. Wie alle Kultur durchzieht Technik die drei eingangs unterschiedenen Ebenen: Als Artefakt nimmt sie materielle Gestalt an, doch gegründet auf Wissen und Können einerseits, verwoben mit Intentionen, Zielen und Werten andererseits, die keineswegs – und entgegen dem sichtbaren Phänomen der Globalisierung – allen oder den meisten Kulturen gemeinsam sind. Um hierfür ein Gespür zu entwickeln, soll der Zugang von Sprach- und Übersetzungsproblemen gewonnen werden, die ja selbst zur Respektierung der Interkulturalität als Disziplin sui generis wesentlich beigetragen haben.

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Wie sehr sich das Technikverständnis in der Sprache niederschlägt und mit ihr verwurzelt ist, wurde von Benjamin Lee Whorf an eindrücklichen Beispielen demonstriert, von denen hier nur eines kurz erwähnt sei (Whorf 1963: 76f.): Whorf hatte bei einer Feuerversicherung die Aufgabe, Brandursachen zu ermitteln. In einem dieser Fälle war ein Gebäude, in dem Häute, Felle, zum Trocknen aufgehängt waren, abgebrannt, weil vom Trocknungsgebläse Funken in den Raum geflogen waren und die Felle entzündet hatten. Doch die eigentliche Ursache lag für Whorf an ganz anderer Stelle: Man wusste um die leichte Entzündbarkeit des Materials – und hatte dennoch den Ventilator nicht etwa an der Luftaustrittsöffnung installiert, obwohl dies strömungstechnisch und für den gewünschten Zweck vollkommen zureichend gewesen wäre, mit dem Unterschied, dass die Funken nach außen geflogen wären. Doch was man einzubauen hatte, hieß blower, ›Gebläse‹, und nicht etwa Gesauge: Es war der Name des technischen Geräts, der zu einer Fehlinterpretation der Sachlage geführt hatte. Was aber innerhalb einer Sprache gilt, vervielfältigt sich, wenn zwei Sprachen aufeinander treffen. Technik verlangt in der Perspektive des Betrachters erklärt zu werden, um in den wertgegründeten Intentionen, Zielen und Mitteln, die in die Entwicklung eines technischen Artefakts Eingang gefunden haben, verstanden zu werden. Es geht also nicht nur um ein bloßes Wissen über den Umgang mit einer Maschine, sondern auch um eines, das die jeweiligen Textsorten einschließlich der semiotischen Mittel wie Zeichnungen, Formeln, Fotos oder Schemata einschließt, deren Informationsgehalt kulturabhängig ist: Eine technische Zeichnung oder einen Schaltplan muss man, wie wir zu sagen pflegen, ›lesen können‹. Der kulturell unterschiedliche Umgang mit Technik lässt sich in drei Ebenen differenzieren: Zunächst ist die Mensch-Maschine-Interaktion so zu modellieren, dass von Entwickler- und Anwenderseite in gleicher Weise die Aufgabenteilung im ›Mensch-Maschine-Tandem‹ begriffen wird. Dann ist die eigentliche Mensch-MaschineSchnittstelle zu legen: Wie hoch soll die Eingriffstiefe des Menschen sein (z.B. beim Accident-Management) oder in welchem Maße soll die Maschine menschliche Aktionen steuern und regeln können? Schließlich muss die Schnittstelle als ›Interface‹ gestaltet werden: Mit welchen virtuellen, akustischen oder taktilen Zeichen soll die Kommunikation vollzogen werden? Welche Zeichentypen werden (von Mensch und Maschine) wie aufgefasst und als Informationen weiter verwertet? Auch hierfür ein Beispiel. In Malawi machte ich (H. Poser) in meiner freien Zeit Skizzen, darunter vom alten Golfclub. Zurückgekehrt wollte der Koch gern sehen, was ich da gezeichnet hatte. Er war ein interessierter Schwarzer, der lesen, schreiben und recht gut Englisch sprechen konnte. Er warf einen Blick auf das Blatt und sagte stolz: »It’s a house, Master!« Erst auf Nachfragen – »Sie kennen es gut, gehen jeden Tag daran vorbei« – und nachdem er im Giebel die skizzenhaft wiedergegebene Zahl

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170 | Christoph Hubig/Hans Poser ›1928‹ entdeckte, die in Rieseneisenlettern den Bau bestimmte, konnte er den Golfclub benennen. Darauf fragte ich deutsche Ingenieure, die afrikanische Flugzeugmechaniker ausbildeten, wie es um technische Zeichnungen bei ihren Mechanikern stünde. Die Antwort. »Können Sie vergessen. Reden, reden, reden! Wenn wir ihnen eine Explosionszeichnung für einen Einbau zeigen, legen sie alles so hin, wie auf der Zeichnung gezeigt, und glauben: das war’s!« Es handelt sich um eine orale Kultur, die Zeichnungen zu lesen nicht gelernt hat und erst mühsam an sie herangeführt werden muss.

Es bedarf also, um Technik und technische Textsorten zu verstehen, einer Technikhermeneutik. Peter A. Schmitt weist darauf hin, dass selbst Format, Typographie, Farbigkeit und Freiflächen in einer Gebrauchsanweisung oder einer technischen Dokumentation kulturabhängig sind (Schmitt 2000: 267)! Dasselbe gilt für die Textstruktur; Es sei daran erinnert, dass sich die Argumentationsstruktur englischer Texte von der deutscher Texte deutlich unterscheidet. Selbst Beispiele sind sprachspezifisch, ebenso was am Beispiel als Beispiel gemeint ist oder auch, was gänzlich dafür ungeeignet ist. Begriffshierarchien spielen dabei zusammen mit Morphologie und Syntax eine bedeutende Rolle, so dass sich Spezifika der Sprachstruktur im Technikverständnis spiegeln können. Dies ist wichtig, denn wenn Begriffshierarchien kulturelle Unterschiede aufweisen, versagen bei einer Übersetzung Argumentationen, und Beschreibungen gehen fehl. Das gilt auch für Techniktexte; so zeigt sich, dass schon die begrifflichen Merkmale einer Technik kulturspezifisch sind (Schmitt 2000: 268). Ein sehr einfaches Beispiel solcher Kulturspezifik möge dies belegen: Das deutsche Wort ›Hammer‹ ist keineswegs identisch mit dem englischen oder amerikanischen ›hammer‹, denn wenn ich sage »Gib mir einen Hammer!«, so wird mir aus einer Sammlung von Hämmern, korrekt formuliert, ein Schmiedehammer gegeben: Er ist im deutschen Sprachraum schlechthin der Hammer. Sage ich hingegen in den USA: »Give me a hammer!«, so wird man mir etwas geben, das wir als einen Zimmermannshammer bezeichnen würden, weil er auch zum Nägelausziehen geeignete Klauen hat. Würde also etwa eine englische Gebrauchsanweisung übersetzt, in welcher der Rat gegeben wird, einen schief eingeschlagenen Nagel mit dem ›Hammer‹ herauszuziehen, so ergäbe dies blühenden Unsinn; vielmehr müsste man bei uns stattdessen von einer Kneifzange sprechen. Noch grotesker wird es, wenn zwar ein Satz dieser Art treffend, nämlich unter Wechsel der Bezeichnung sachgerecht übertragen wird, während die beigefügte Abbildung die alte bleibt: Es entsteht zumindest eine Irritation, weil Semiotik und verbale Information auseinander fallen (Schmitt 2000: 278, 1999: 245f.). Das Beispiel scheint trivial zu sein, doch spiegelt sich das Problem der Begriffshierarchien und ihre Kulturspezifik bei Übersetzungen, die Mehrfachzuordnungen zulassen. So ist eine deutsche ›Schraube‹ je nach Kontext ›screw‹ oder ›bolt‹, ein ›Rohr‹ ›tube‹ oder ›pipe‹, während ein ›Ventil‹ und

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ein ›Schieber‹, im Deutschen scharf unterschieden, im Englischen beide als ›valve‹ bezeichnet werden. Wir differenzieren zwischen ›schweißen‹, ›hartlöten‹ und ›löten‹, was im Englischen alles als ›welding‹ bezeichnet wird, verbunden mit Spezifizierungen, die sich im Englischen und Amerikanischen unterscheiden. Noch größere Schwierigkeiten zeigen sich bei der Übersetzung von Lehrbüchern, weil diese den Lehrstoff strukturiert anbieten, die Struktur aber »normalerweise kulturgebunden« ist, wie Schmitt betont (Schmitt 2000: 272). Pkws etwa werden in den USA völlig anders als bei uns, nämlich einzig nach Länge und Innenvolumen, klassifiziert, so dass ein deutscher Mittelklassewagen keineswegs einem amerikanischen ›midsize car‹ entspricht. Und so geht es weiter: ›Airbags‹ sehen in den USA ganz anders aus als in Deutschland. Damit kann Schmitt resümieren: »Auch technische Fachtexte sind kulturgeprägt und können Übersetzungsprobleme enthalten, die nur dann erkannt und skoposgerecht bewältigt werden, wenn der Translator über entsprechende Kulturkompetenz verfügt.« (Ebd.: 264) Er weist darauf hin, dass solche Schwierigkeiten, die bei literarischen oder rechtstheoretischen Texten von jedermann erwartet werden, für technische Texte trotz aller Normierungen technischer Größen in völlig gleicher Weise als Kulturspezifika in Erscheinung treten.

6. Technik und Globalisierung Vor allem das Globalisierungsphänomen hat vielfach zu der These Veranlassung gegeben, wir steuerten auf eine einheitliche Weltkultur zu. Vielleicht hat dies den Münchner Soziologen Ulrich Beck dazu verführt, folgende kosmopolitische Parole auszugeben: »Weltbürger aller Länder, vereinigt euch!« (Beck 1998) Der Saarbrücker Sprachwissenschaftler Wolfram Wilss kommentiert: »Diese Parole ist ein Musterbeispiel dafür, dass da, wo das kritische Denken abdankt, Wirklichkeit und Utopie durcheinandergeraten.« (Wilss 2000: 2) Halten wir uns also an die Wirklichkeit und die Vielheit ihrer Kulturen. Doch ist nicht gerade die Technik ein schlagendes Beispiel dafür, dass solche Utopie, schärfer noch als Beck dies meint, längst schon Realität geworden ist? Wohnt man in Peking in einem Hotel, in dem nur sparsame 25-Watt-Birnen in den Lampen waren, bei deren schwachem Licht man abends die Vorlesung nicht vorbereiten kann, kauft man eine amerikanische 100-Watt-Birne und kann das Problem lösen, weil in China wie in Deutschland wie in den USA der Edison’sche E27-Sockel ebenso Standard ist wie 230 Volt. Geradeso verbindet das in Deutschland gekaufte japanische Mobiltelefon mit aller Welt – kulturspezifisch störend wird nur empfunden, dass alle chinesischen Mobiltelefonbesitzer immer und allezeit einem Anruf nachkommen und dafür sofort jedes Gespräch unterbrechen. Natürlich werden wir dadurch nicht zu Weltbürgern, und natürlich haben

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172 | Christoph Hubig/Hans Poser wir gerade bezüglich der Technik eine ›Weltmarktgesellschaft‹ und keine Weltkultur – sondern, und dies gilt es methodisch zuzuspitzen – tiefgreifende Differenzen, die im interkulturellen Vergleich sichtbar werden. Nur scheinbar werden die Differenzen durch den in den Wissenschaften und in der Technik inzwischen häufigen Gebrauch der Weltverkehrssprache Englisch zugetüncht. Auch hier gilt: »Wir bleiben die Kinder Babylons« (Wilss 2000: 4), weil, so eine Leibniz’sche Argumentation, unterschiedliche Klimate, Lebensweisen und Lebensprobleme unterschiedliche Sprachen erfordern – und, so muss man ergänzen, auch unterschiedliche Problemlösungen im Rahmen der Technik. Schmitt betont: »Für viele, vielleicht sogar für die meisten technischen Begriffe und Gegenstände (dürfte) gelten, dass ihre Merkmalsausprägungen kulturspezifisch variieren. Und dies wird zumindest so lange so bleiben, wie es nationale Normen, Gesetze, Vorschriften, Klimabedingungen, Mentalitäten usw. gibt.« (Schmitt 2000: 279; Hervorhebungen hinzugefügt)

Denn »vom Türgriff bis zur Toilettenspülung ist […] in typischen amerikanischen Häusern alles anders als in typischen Häusern in Deutschland«; und dasselbe gilt für Fundament, Bauart der Wände, Decken, Anordnung der Räume, Regenrinnen und Fallrohre, Dachdeckung, Fenster und Türen und deren Schließmechanismus (ebd.). Diese Differenzen in technischen Artefakten, also auf der materialen Ebene, sind komparatistisch erschließbar, nicht aber die Gründe des technischen Handelns und das damit einhergehende Technikverständnis, denn, systematisch gesehen, beruhen sie darauf, dass Technik mit individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen zusammengeht, welche die Zwecke bestimmen und ihrerseits erstens Wertzuschreibungen voraussetzen und zweitens funktional geeignete Mittel zu bestimmen oder kreativ hervorzubringen verlangen. Technik beruht also in höchstem Maße auf nicht-materielle Bedingungen der zweiten und dritten Ebene, die nur interpretativ freizulegen sind. So lässt sich beobachten, dass der Pick-up ein typisches nordamerikanisches Auto ist; versucht man dies zu deuten, so bietet sich möglicherweise an, auf alte Planenwagenkonzepte der Kolonisten zurückzugreifen. Die Technikhermeneutik bezieht sich also keineswegs nur auf Technik-Textsorten, sondern zugleich auch auf das Artefakt, sei es ein Objekt, ein technischer Prozess oder ein großtechnisches System, denn wir schreiben ihm interpretierend Zwecke und dahinterstehende Intentionen auf der Basis von Werten zu. Das hat Folgen für das interkulturelle Technikverständnis, denn es genügt nicht, das Artefakt auf der materiellen Ebene als das geeignete Dritte anzusehen, um hierauf das Verstehen zu gründen. Gewiss hat es über Jahrhunderte einen Artefakthandel gegeben – man denke an Obsidianwerkzeuge im Mittelmeerraum und an den Güteraustausch längs der Seidenstraße; doch hier waren ähnlich wie beim Hammer oder

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beim Handy Zwecke leicht erkennbar, und deshalb war ein Handel über kulturelle Grenzen hinweg dort möglich, wo die unmittelbaren Zwecke – vom Schneidwerkzeug bis zur schmückenden Seide – kulturell nicht oder geringfügig differierten. Wofür hingegen die Artefakte als Mittel eingesetzt wurden, bleibt dennoch kulturelle Besonderheit. Alle eben genannte Elemente der zweiten und dritten Ebene – Bedürfnisse, Wertzuschreibungen, die Sicht von etwas als geeignetes Mittel, die Richtung der kreativen Problemlösung ebenso wie die dahinter stehenden Intentionen – sind durchgängig kulturspezifisch und bilden deshalb einen für die interkulturelle Problematik hochrelevanten Ankerpunkt jeder Hermeneutik. Eben darum sind technische Artefakte stets Ausdruck der Kultur, der sie zugehören – denn sie sind durch kulturelle Werte bestimmt. Die Zwecke sind (uns) offensichtlich, wenn Milch fettarm und Marmelade zuckerfrei sein soll – Ausdruck eines Schlankheitsideals. Wenn Autos in den USA in aller Regel eine Automatik haben, während Europäer den Schaltknüppel bevorzugen, so liegt es nicht daran, dass Europäer sportlich sind (obwohl ihnen das Schalten als sportlich gilt), sondern weil Europäer viel kürzere Fahrten zu bewältigen haben, um ihre Arbeitsstellen zu erreichen. Selbst die technischen Normen sind kulturspezifisch. Reaktorsicherheit wurde in den Ostblockländern anders buchstabiert als im Westen; CrashTests folgen in den USA anderen Bedingungen als bei uns, und dasselbe gilt für Entflammbarkeitsprüfungen; deshalb sind auch viele Meldungen über technisches Fehlversagen oft genug nicht auf die Technik zurückzuführen, sondern auf die jeweils kulturspezifischen Normierungen, denen sie zu genügen hatte. Wäre nun Technik selbst nicht gerade der ideale Kandidat für den kulturübergreifenden Überschneidungshorizont? Ja und nein. Ja, wo es um den einfachen Anknüpfungspunkt geht, um das bloß Dingliche des Artefakts auf der materialen Ebene: Die Glühbirne leuchtet auch in China. Nein hingegen, wenn man nur ein wenig weiterfragt, etwa nach denkbaren oder verfügbaren Mitteln, nach Systemzusammenhängen der Technik, also nach den epistemischen Bedingungen, und nach wertenden Zielvorstellungen der normativen Ebene: Sobald man den Horizont einschlägiger Wertungsbereiche einbezieht, den die VDI-Richtlinie 3780 zur Technikbewertung aufzeichnet (vgl. VDI-Report 15: 78), zeigen sich höchst kulturspezifische Differenzen. Diese Wertungsbereiche sind 1. technische Effektivität: die Maschine muss funktionieren; 2. einzelwirtschaftliche und 3. gesamtwirtschaftliche Wirtschaftlichkeit: die Maschine soll Gewinn abwerfen; 4. individuelle und 5. allgemeine Sicherheit: die Maschine darf weder dem Arbeiter noch anderen schaden;

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174 | Christoph Hubig/Hans Poser 6. Umweltverträglichkeit; 7. Sozialverträglichkeit; 8. Wahrung der Persönlichkeitsrechte. Schon die Frage, mit welchen Gewichten die vielfach antagonistischen Wertzuschreibungen zu belegen sind (etwa Kosten für die Sicherheit vs. wirtschaftlicher Gewinn), verweist auf gravierende Kulturdifferenzen. Ein simples Beispiel: Glühbirnen sind bei uns auf 1000 Stunden Brenndauer ausgelegt, in China auf 5000 Stunden; bei uns wird so mehr verkauft (einzelwirtschaftlicher Gewinn) und der Umstieg auf Energiesparlampen befördert (gesamtgesellschaftlicher Gewinn), in China wird dem gesamtwirtschaftlichen Rahmen der Vorzug gegeben – längere Brenndauer und niedrigere Wattzahl. – Ein dramatischer Fall: In Bophal wollte die Betreiberfirma nach westlichen Sicherheitsstandards bauen, aber die indischen Behörden sollen dies abgelehnt haben, weil in Indien indische Vorschriften zu beachten seien, gleichviel, ob die nun schärfer oder – wie in diesem Fall – laxer sind. Das Standardbeispiel für China ist der Jangtse-Staudamm; doch es erlaubt viele unterschiedliche Deutungen, die uns mitten hinein in das Spektrum hermeneutischer Auslegungskünste führen: So betont Welf Schnell, nach chinesischer Auffassung werde Natur erst durch den menschlichen Eingriff schön; deshalb komme in der chinesischen Kritik am Staudamm beispielsweise das Fluten der ›Drei Schluchten‹ nicht vor (Schnell 2000: 203f.). Zwar ist die Politik die maßgebliche Größe, die sich über alle anderen genannten Ebenen hinwegzusetzen vermag. Doch wird in dieser Politik nicht gerade einer uralten kulturellen Tradition Chinas gefolgt, immer das Größte zu verwirklichen – vom Kaiserkanal über die Große Mauer zur ersten im regulären Betrieb laufenden Magnetschwebebahn? Schließlich haben Sicherheitsbedenken beim Bau des Kölner Doms weder im Mittelalter noch im 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt – und wirtschaftlich (nämlich durch Almosengaben) ist er gewiss nie gewesen. Dies alles sind Analogien: Staudamm-Motiv vs. Kaiserkanal im einen vs. Kölner Dom im anderen Fall. Zugleich zeigen sich Fruchtbarkeit und Begrenztheit solcher Plausibilitätsbetrachtungen.

Nicht besser steht es um immer wieder zu beobachtende Versuche zu erklären, wieso China – und andere ostasiatische Länder – so gut wie widerstandslos westliche Technologien übernommen haben. (Nur die Hofschranzen wollten Pu Yi das Fahrradfahren verbieten, es sei zu gefährlich; aber das hätte für Wilhelm II. sicher auch gegolten, nur mit der Begründung, das sei nicht standesgemäß.) Die Wurzel wird im Konfuzianismus gesehen, der wesentlich durch zwei Elemente gekennzeichnet sei: – eine nicht-universalistische Ethik, die eigenständige regionale Lösungen fördert und deshalb für Veränderungen stets offen ist, sowie

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– eine auf das soziale Rollenverhalten, nicht auf das Individuum gerichtete Sicht. »Das erste traditionelle soziokulturelle Grundmerkmal, das zur Erklärung der ostasiatischen Modernisierungserfolge beiträgt, liegt in den verhältnismäßig geringen Widerständen, die der Übernahme (Transfer) des technisch-wirtschaftlich Möglichen, insbesondere neuer Technologien mit weltanschaulicher ›Brisanz‹, aus dem traditionellen Menschen- und Gesellschaftsbild erwachsen. Dies lässt sich anhand des weltanschaulichen ›Stellenwertes des Individuums‹ verdeutlichen, der weniger herausragend als im Westen ist […]. Diese Tatsache ermöglicht den betreffenden Gesellschaften ein wesentlich schnelleres, von psychologischen Reibungsverlusten freieres Agieren/Reagieren auf weitreichende, neue technologisch-organisatorische Veränderungen. Das gilt z.B. für Bereiche wie die Datenverarbeitung und Informationstechnologie ebenso wie für die Gentechnologie und anderes technologisches Neuland mit sozialem Konfliktpotential. […] Das zweite traditionelle soziokulturelle Grundmerkmal, das sich ebenfalls vom Stellenwert des Individuums her ableiten lässt oder auch aus der vielbeschworenen Gruppenorientierung ostasiatischer Gesellschaften, ist ein prinzipiell andersartiges Verständnis des Ethischen. […] In Ostasien […] hat sich eine Ethik vervollständigt, in der sich Werte und Normen nicht – wie in der westlichen Ethik – nach dem Prinzip universalistischer Gültigkeit ausrichten, sondern vorrangig nach den Anforderungen der hierarchischen sozialen Bezugsverhältnisse, […] eine ›situative‹ Ethik […], was nichts anderes heißt, als dass die ethische Verpflichtungsintensität für die Betroffenen je nach sozialem Bezugsverhältnis oder Logik der Situation unterschiedlich stark ausfällt.« (Machetzki 1993: 24f.)

Einmal davon abgesehen, dass man mit gleicher Überzeugungskraft vermöge der genau entgegengesetzten Position universalistische – utilitaristische oder deontologische – Ethik, basierend auf dem Konzept des Individuums, die schnelle Ausbreitung neuer Techniken seit der Renaissance in Europa plausibel machen könnte, müsste man sich fragen, ob China heute noch ein konfuzianistisches Land ist, und falls ja, wie es auch dort heute in der jungen Generation zu Formen von krassem Egoismus und Individualismus kommen konnte. Fraglos gibt es jedoch Grundvorstellungen, die, ohne sich noch direkt auf den Konfuzianismus zu berufen, dennoch dessen Lebensformen und moralische Vorstellungen zum Inhalt haben; Machetzki etwa verweist auf die konfuzianische »Arbeitsethik« (1999: 38f.; vgl. Döring 2001: 145). Ersichtlich liegen die Dinge komplexer als bislang dargestellt. Zum einen erweist sich die heimliche Globalisierungsthese, die hinter den Argumentationsvorschlägen zur chinesischen Modernisierungsbewegung steht, als keineswegs selbstverständlich. Beispielsweise kann es in einer sonst homogenen Kultur zu gänzlich lokalen Lösungen kommen – der so genannte ›Berliner Schlüssel‹ ist ein ebenso treffendes Beispiel wie das ›Ber-

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176 | Christoph Hubig/Hans Poser liner Zimmer‹. Zum anderen gibt es aber einen weltweiten Globalisierungsprozess insofern, als gleichartige oder sogar gleiche Artefakte überall auf der Erde anzutreffen sind: Der Euro-Stecker passt in die Steckdosen von 18 europäischen Staaten; und deren Wechselspannung ist längst schon standardisiert – nicht um eines Standardisierungswahns willen, der der EU vielfach unterstellt wird, sondern um der Wirtschaft willen, die nun baugleiche Elektrogeräte in 18 Ländern vermarkten kann. Längst schon sind nicht nur Gewinde genormt; auch Fachbegriffe, Telefontechnik, Videoformate, PC-Programme etc. sind weltweit standardisiert. Wo aber bleibt angesichts solchen Globalisierungsdrucks die vielbeschworene Regionalisierung, die doch nur auf dem Boden kultureller Differenzen zu gedeihen vermag? Gewiss gibt es Übersetzungsprobleme bei Gebrauchsanweisungen und Handbüchern – aber sind diese Ausdruck unterschiedlichen Technikverständnisses? Wären alle Begriffe genormt, ließe sich die Aufgabe doch einem PC-Programm überantworten, und alle hermeneutischen Schwierigkeiten wären gelöst! Wird nicht alle Regionalkultur genauso wie alle Interkulturalität in der sich entwickelnden Globalkultur gegenstandslos, so dass alle angesprochenen Probleme nur zum Abgesang des Verflossenen zählen? Es soll abschließend nicht um die allgemeine Wertproblematik gehen, die hinter den Rede- und Straßenschlachten zwischen Regionalisierern und Globalisierern steht, sondern um das hermeneutische Problem. Alle Hermeneutik stellt nicht nur Methoden bereit, das relativ Fremde vermöge eines Dritten symbiotisch an die eigene Kultur anzuschließen – Gadamer nannte es Horizontverschmelzung –, sie hebt stets auch hervor, dass die Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, ein menschliches Grundphänomen ist, das sich nicht ausbügeln und ausradieren lässt. Dies gilt auch für die Technik und ihre Hermeneutik – und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen: So wenig es das eine Universalauto gibt, sondern selbst ein und dasselbe Grundmodell Anpassungen an den regionalen Markt erfährt, so wenig wird es eine weltweit einheitlich-globale Technik geben: Schon auf der materialen Ebene zeigen sich vielfache Differenzierungen. Zum anderen: Die Gründe für die Regionalanpassung wurzeln im herausgearbeiteten kulturellen Horizont der Wissens- und der Wertebene, unter dem Technik gesehen und interpretiert wird, denn – um das eingangs Gesagte zu verschärfen: So lange es klimatische, sprachliche, mentale und in den Lebensbedingungen liegende Differenzen unter Menschen gibt, so lange wird es neben unterschiedlichen Wissensformen unterschiedliche Bedürfnisse und Wertzuschreibungen geben – und damit auch differierende technische Zwecke und Mittel. Selbst also wenn wir alle das gleiche System der Informationsübertragung benutzen, werden die Gründe für die Benutzung und damit der Inhalt sich stets kulturgebunden unterscheiden. Dass diese Kulturgebundenheit zugunsten einer technologischen Einheitskultur mit einer Welt-Einheitssprache unterminiert werden wird,

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ist weder eine Orwell’sche noch eine optimistische Zukunftsperspektive, sondern gehört in den Bereich der Mythenbildung. Denn selbst wenn wir davon ausgehen, dass neue Techniken gerade so wie Elemente anderer Kulturen in einem symbiotischen Verhältnis an die jeweilige Kultur angeschlossen werden, ergibt sich daraus keine Konvergenz aller solcher Symbiosen, weil schon die stillschweigende Voraussetzung falsch ist, ein Teil der Symbiose – nämlich jener der technischen Artefakte – sei allen Kulturvarianten gemeinsam. Mögen auch die materialen Artefaktanteile gleich oder ähnlich sein, so sind diese erst Artefakte zusammen mit der wertenden Interpretation, die gerade dem nicht-symbiotischen Kulturteil entspringt. Eine Globalisierung ist also an dieser Stelle weder zu wünschen noch gar zu befürchten. In einer anderen Hinsicht jedoch ist sie zwingend geboten – nämlich in jenem Bereich der Interkulturellen Ethik, in dem es um Technikethik und -bewertung geht. Hier sind globale Regeln zwingend geboten, denn die Gefährdungen, die von FCKW, Dioxin und Radioaktivität, von Seveso, Bophal und Tschernobyl (und hoffentlich nie vom JangtseStaudamm) ausgehen, sind gerade nicht regionaler Natur. Solche Gemeinsamkeit der Regeln in Kraft zu setzen, ist aber keineswegs so einfach wie es klingt; es sei daran erinnert, dass, wie Machetzki betont, chinesischen Wertvorstellungen der Gedanke eines Universalisierbarkeitskriteriums fremd ist, weil je nach Gegebenheit differierende ›hierarchische soziale Bezugsverhältnisse‹ eine ›situative Ethik‹ hervorgebracht haben. Eine der herausragenden Aufgaben der Technikphilosophie der Gegenwart muss deshalb darin bestehen, mitzuwirken an einer globalen interkulturellen Technikethik und -bewertung und deren institutionellen Umsetzung. Eine Klugheitsethik, die auf den Erhalt der Handlungsbedingungen abhebt, hat möglicherweise am ehesten Aussicht, den Rahmen einer globalen Ethik abzugeben, während Versuche, dies auf der Basis der Goldenen Regel als Wurzel eines Weltethos zu erreichen, scheitern: Ein »verallgemeinerter Egoismus« (so Kant zur Goldenen Regel) spaltet die Kulturen!

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Welten gestalten

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Demokratie in der Weltgesellschaft? Einige Überlegungen | 183

Demokratie in der Weltgesellschaft? Einige Überlegungen zu den normativen Grundlagen politischer Ordnung und ihrer globalen Realisierung Andreas Niederberger

1. Von der politischen Autonomie zur Nicht-Beherrschung Moderne demokratische Verfassungen streben nach einer doppelten Absicherung von Autonomie: Einerseits enthalten sie Grund- oder Menschenrechtskataloge, die ihren Bürgern persönliche und zivilgesellschaftliche Autonomie, d.h. Handlungsspielräume zuschreiben, die diese ohne Beeinträchtigung durch Eingriffe anderer Bürger oder staatlicher Institutionen für das Verfolgen ihrer Interessen und Bedürfnisse nutzen können. Andererseits wird den Bürgern aber auch ein (zumindest formales) Recht auf Teilhabe zugesprochen, das gewährleisten soll, dass sie in kollektiver Ausübung politischer Autonomie nur solchen Einschränkungen ihrer persönlichen und zivilgesellschaftlichen Autonomie unterworfen sind, denen sie selbst zugestimmt haben (können). Jürgen Habermas hat dafür argumentiert, dass diese beiden Autonomiedimensionen sich als gleichursprünglich und sich wechselseitig begründend erweisen, sobald die Konstitutionsbedingungen legitimer politischer Ordnung systematisch untersucht werden (Habermas 1992: 112-135). Denn politische Ordnungen können nicht als solche jenseits individueller Ansprüche und Interessen allein unter Rekurs auf kollektive oder vermeintlich höherrangige allgemeine Ziele gerechtfertigt werden, während die rechtliche Garantie der persönlichen und zivilgesellschaftlichen Freiheitsräume nur im Rahmen einer politischen Ordnung möglich ist. Auf diese Weise wendet sich die Demokratie sowohl gegen eine

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184 | Andreas Niederberger liberale Auffassung politischer Ordnung, in der natürliche oder moralische Rechte die demokratischen Verfahren einfachhin transzendieren, als auch gegen einen Republikanismus, der eine Ausrichtung politischer Beratungen und Entscheidungen ausschließlich an Zielen und Werten des Kollektivs verteidigt. Die Bedingungen der Teilhabe am demokratischen Prozess müssen die beiden Autonomiedimensionen verbinden, da dieser Prozess nur mit der Eigenständigkeit der Teilhabenden und der Letztgültigkeit ihrer Entscheidungen zu Ergebnissen führt, die von den Betroffenen1 als legitim erachtet werden (können). Der doppelte Rekurs auf die Autonomie ist zentral für die Demokratietheorie, da in ihm – neben der Referenz auf einen möglichen Eigenwert der Autonomie als Inkarnation von Freiheit2 – zwei grundsätzliche normative Überzeugungen hinsichtlich der politischen Verfassung unserer sozio-politischen Welt zum Ausdruck kommen, die die Demokratie in ihrer Struktur sowie in ihren Verfahren und Entscheidungen umzusetzen hat: Erstens soll die Demokratie keine umfassende politisch-soziale Ordnung sein, so dass jegliche Lebens- und Handlungsweise erst aus ihr hervorgehen würde oder auf sie bezogen sein müsste. Die Demokratie sollte vielmehr supplementär zum zivilgesellschaftlichen Leben sein, in das sie bei Bedarf steuernd und regulierend eingreift, wobei diese Eingriffe mehr oder weniger weit reichende Auswirkungen haben (Rödel 1990). Zweitens sind die demokratischen Verfahren jedoch der einzige Ort, an dem kollektive Verbindlichkeit erzeugt werden kann, die legitimerweise auch mit Zwang durchgesetzt wird. D.h. wenn immer es zu Spannungen oder Konflikten im zivilgesellschaftlichen Leben kommt, die nur durch das ungleiche Kräfteverhältnis der Betroffenen, also nicht durch eine zwanglose Übereinkunft zwischen ihnen, gelöst werden (können), so ist eine solche innerzivilgesellschaftliche Lösung illegitim und dementsprechend letztlich nicht bindend. Die kollektive politische Autonomie soll folglich gewährleisten, dass die z.T. kontingenten Vor- oder Nachteile in gerechter Weise ausgeglichen werden kön1 | Der Begriff der Betroffenheit wird hier und im Folgenden gebraucht, um zum Ausdruck zu bringen, dass jemand das Handeln einer politischen Instanz motiviert oder steuert bzw. dass der Handlungsspielraum dieser Person durch deren Wirken eingeschränkt, reguliert oder abgesichert wird. Das deutsche Wort »Betroffenheit« unterstreicht dabei die Passivität, die sicherlich gemeint sein kann, es aber nicht notwendig ist. In der anglo-amerikanischen Diskussion haben sich für ähnliche Bestimmungen des Verhältnisses zu politischen Instanzen unterdessen der ökonomische Ausdruck »Stakeholder« bzw. allgemeiner derjenige der »Stakeholder-Democracy« eingebürgert, die stärker das aktive Moment des Interesses am Handeln einer Instanz betonen (und dabei ein wenig die passive Seite vernachlässigen, vgl. dazu mit Blick auf supranationale Institutionen Shell [1995: 907-925]). 2 | Vgl. zu einer Problematisierung dieser Gleichsetzung von Freiheit und Autonomie Frankfurter Arbeitskreis (2004).

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nen, die aus den jeweiligen Voraussetzungen oder Konsequenzen der Nutzung bzw. der Unmöglichkeit der Nutzung persönlicher oder zivilgesellschaftlicher Autonomie resultieren und die in den Augen der Betroffenen einen ungleichen Wert der Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten nach sich ziehen (vgl. Gosepath 2004: 340-347). Gerade angesichts der zweiten normativen Überzeugung ist es wenig überraschend, dass viele Demokratietheorien bloß aggregative Ansätze ablehnen, auch wenn diese den supplementären Charakter der Demokratie besonders unterstreichen. Solche Ansätze gehen von der vorpolitischen Gegebenheit von Interessen, Ansprüchen und Bedürfnissen aus und konzipieren den demokratischen Prozess als die Integration oder Aggregation dieser vorpolitischen Gegebenheiten, etwa in der Form von Mehrheitsentscheidungen über die Interessen und Ansprüche, die kollektiv unterstützt werden (sollen). Den Ausgangspunkt bildet also eine nahezu absolut gesetzte persönliche oder zivilgesellschaftliche Autonomie, der gegenüber der politische Prozess nur insofern autonom ist, als in ihm keine anderen Interessen Geltung erlangen dürfen oder können als diejenigen, die die Betroffenen in ihn einbringen – es darf in ihm nicht einmal eine allgemeinverbindliche Bewertung dieser Interessen gelten, weshalb auch häufig allein das Mehrheitsprinzip bestimmen soll. Das, was ›politisch autonom‹ entschieden wird, hängt ausschließlich von der faktischen persönlichen oder zivilgesellschaftlichen Autonomie ab bzw. von den Kompromissen, die zu Zwecken der Vereinbarkeit mit anderen Interessen autonom geschlossen werden. Die politischen Entscheidungen realisieren jene Autonomie lediglich auf einer höheren Stufe, indem sie qua Aggregationsverfahren konstatieren, welche Interessen welche Verbreitung und damit Anspruch auf kollektive Unterstützung oder Sicherung haben (Buchanan/Tullock 1962). Die Zurückweisung des umfassenden Charakters der Demokratie geht in den aggregativen Ansätzen so weit, dass die Aggregation nicht mehr sein soll als der ordnende Spiegel der zivilgesellschaftlichen Verhältnisse. Gegen diese Ansätze lässt sich mit der zweiten normativen Überzeugung, die oben angeführt wurde, festhalten, dass die bloße Aggregation der Interessen, Ansprüche und Bedürfnisse weder eine Auskunft über die Genesebedingungen dieser Interessen gibt, noch in Rechnung stellt, wie gemeinverträglich die jeweiligen Interessen sind. Es ist nicht auszuschließen, dass die Aggregation zur Unterdrückung von Minderheiten oder zur Aufrechterhaltung ungerechter sozialer Herrschaftsverhältnisse führt (vgl. Young 2000: 19-21). Spätestens seit Rousseaus Unterscheidung der volonté de tous von der volonté générale wird daher ein anderes Modell gegen die aggregative Demokratieauffassung gerichtet.3 Dieses Modell schlägt vor, die politische Zu3 | Vgl. zur grundsätzlichen Kritik der Orientierung an Rousseau bzw. einem Begriff des Gemeinwohls Shapiro (2003: 10-34); zur Bandbreite der Anschlussfiguren an Rousseau vgl. Cohen (1986).

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186 | Andreas Niederberger lässigkeit von Interessen, Ansprüchen und Bedürfnissen mit Blick auf die Existenzbedingungen von politischer Kollektivität bzw. die Bedingungen der gemeinsamen dauerhaften Existenz auf einem Territorium einzuschränken, d.h. der Aufnahme solcher Interessen in den demokratischen Verfahren wird eine Art ›Filter‹ vorgeschoben, mit dem ihre grundsätzliche kollektive Verträglichkeit bzw. allgemeine vernünftige Akzeptabilität garantiert wird. Insofern die ›Bedingungen der gemeinsamen dauerhaften Existenz auf einem Territorium‹ aber in wesentlichen Aspekten nicht a priori, sondern nur im Rahmen tatsächlicher demokratischer Übereinkunft bestimmbar sind, legen dabei zunächst allein die Bedingungen der Ausübung von kollektiver politischer Autonomie die Grenzen legitimer persönlicher und zivilgesellschaftlicher Autonomie fest, zumindest in dem Maße, in dem diese in die demokratischen Verfahren eingehen soll. Der Übergang von der zivilgesellschaftlichen Ebene zum demokratischen Verfahren ist somit kein bloßes Aufheben der vorpolitischen Interessen, sondern er impliziert die Anerkennung des Zwecks der politischen Autonomie, eine Koordination und Integration der Interessen zu finden, die gegenüber allen Betroffenen gerechtfertigt werden kann (vgl. Forst 1999) – wobei diese Rechtfertigung natürlich nicht bedeutet, dass jede politische Entscheidung für Jeden hinsichtlich seiner faktischen Interessen und Ansprüche gleichermaßen von Vor- bzw. Nachteil sein muss. Diejenigen, die in einer Demokratie leben, räumen damit zugleich den Bedingungen der Ausübung politischer Autonomie einen Vorrang vor ihrer kontingenten persönlichen und zivilgesellschaftlichen Autonomie ein. Aber auch in diesen Ansätzen gilt natürlich die erste Überzeugung, d.h. die Zurückweisung der Demokratie als umfassender sozio-politischer Ordnung, so dass der Übergang von der zivilgesellschaftlichen zur politischen Autonomie kein Wechsel zwischen zwei prinzipiell distinkten oder gar inkompatiblen Autonomieverständnissen ist. Der politischen Autonomie wird vielmehr als primäres Ziel die Verwirklichung vernünftiger persönlicher und zivilgesellschaftlicher Autonomie einbeschrieben, was bedeutet, dass die ›Einschränkung‹ der kontingenten persönlichen oder zivilgesellschaftlichen Autonomie letztlich nur deren vernünftige Neubestimmung ist, nicht aber die Ausrichtung auf ein substantielles bonum commune, das die politische Ordnung inkarnieren würde. Während die vorpolitische Autonomie also zunächst – wenn sie nicht moralphilosophisch im Anschluss an Kant verstanden wird und somit immer schon die wechselseitige Vereinbarkeit der verschiedenen Handlungsvollzüge impliziert – keinen weiteren Beschränkungen unterworfen ist außer denjenigen, die selbstgesetzt sind oder sich den natürlichen Handlungsgrenzen verdanken, so realisieren die demokratischen Verfahren eine vernünftig begründete Autonomie aller. In gewisser Weise sind damit der Ausgangspunkt und das Ziel der demokratischen Ordnung identisch, denn es geht primär um die Bestimmung und Sicherung persönlicher und zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume, d.h. das normative Ziel, den eige-

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Demokratie in der Weltgesellschaft? Einige Überlegungen | 187

nen Lebensvollzug selbst zu bestimmen, in ihm also nicht dem Eingriff anderer ausgesetzt zu sein, soll darüber garantiert werden, dass jeglicher Eingriff, der vorgenommen wird oder werden muss, in letzter Instanz durch die Teilhabe des Betroffenen am politischen Verfahren von ihm selbst autorisiert wird und dementsprechend in gewisser Weise auf seine eigene autonome Entscheidung, die nun nicht mehr nur seine faktische, sondern auch eine vernünftige Entscheidung ist, zurückgeht. Eine solche Konzeption politischer Autonomie wird sicherlich der doppelten normativen Überzeugung des nicht-umfassenden Charakters der Demokratie sowie der Letztgültigkeit allein der Demokratie besser gerecht als das aggregative Modell. Dennoch stellt sich die Frage, ob wirklich – wie signifikante Teile der Demokratietheorie denken (vgl. etwa Held 1995: 143-158) – die Autonomie am besten dazu geeignet ist, als Bestimmungsgrund der Demokratie und der legitimen Geltung ihrer Entscheidungen zu dienen. Hängt die Legitimität politischer Entscheidungen wirklich daran, dass sie den allgemeinen Anspruch auf unbeeinflusste Selbstbestimmung in demokratischer reiner Selbsteinwirkung realisiert? In seinem Buch »Republicanism« bestreitet Philip Pettit, dass der Begriff der Autonomie in politischen und sozialen Kontexten sinnvoll zu verwenden ist, da in seinen Augen die Abwesenheit von Eingriffen weder faktisch jemals existiert, noch als (politisches) Ideal tauglich ist (Pettit 1997: 51-109). Das gesamte soziale Leben besteht in Interaktionen mit anderen sowie in Einwirkungen von uns auf andere oder von anderen auf uns selbst; es gibt weder einen Lebensvollzug, bei dem wir nicht auf andere angewiesen sind und bei dem Handlungen keine Konsequenzen für andere Handelnde haben, noch gibt es politische Prozesse, die nicht durch Bedingungen konditioniert sind, über die diejenigen nicht verfügen können, die die Auseinandersetzungen führen, deliberieren und entscheiden. Er schlägt deshalb vor, die normative Orientierung an der Autonomie zugunsten einer Orientierung am Kriterium der Nicht-Beherrschung (non-domination) aufzugeben. Eine gerechte und demokratische sozio-politische Ordnung wird dementsprechend dann erreicht, wenn jegliche Beziehung zwischen Bürgern bzw. zwischen Institutionen und Bürgern so beschaffen ist, dass in ihr nicht willkürlich in Entscheidungen eingegriffen werden kann, die der Betroffene selbst treffen könnte.4 Diese Bestimmung des neuen normativen Ideals mag zunächst so ähnlich klingen wie das Autonomie-Ideal; obwohl sie dieses in wichtigen Aspekten nur reformuliert, schränkt sie es jedoch zumindest in zwei wesentlichen Hinsichten ein: Erstens richtet sie den 4 | Die Kursivierung des »kann« ist deswegen relevant, weil die Ordnung nicht schon deshalb gerecht ist, wenn in ihr faktisch nicht willkürlich in Entscheidungen anderer eingegriffen wird, sondern sie erst dann zu Recht so genannt wird, wenn in ihr grundsätzlich keine Möglichkeit besteht, willkürlich in die entsprechenden Entscheidungen einzugreifen.

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188 | Andreas Niederberger Blick nicht primär auf die autonome Person oder Instanz, sondern auf die Art der Relation zu anderen Personen bzw. Instanzen. Zweitens wird der Eingriff in den Handlungsvollzug einer Person dann als legitim erklärt, wenn er sich nicht der Willkür des Eingreifenden, sondern strukturell den relevanten Interessen desjenigen verdankt, der von dem Eingriff betroffen ist, d.h. ein Eingriff kann legitim sein, er muss dazu aber direkt durch die Interessen des Betroffenen motiviert sein, wobei diese ›Direktheit‹ bzw. die zuvor genannte ›strukturelle‹ Abhängigkeit bedeuten, dass der Eingreifende nicht bloß willkürlich entschieden hat, in diesem Fall die Interessen des Betroffenen zu berücksichtigen. Diese normative Neuausrichtung hat wichtige Konsequenzen für das Design der demokratischen Verfahren: Das Autonomieideal verpflichtet eine legitime politische Ordnung zu gewährleisten, dass tatsächlich alle Betroffenen an den demokratischen Verfahren teilhaben (können), was die verschiedensten Konstruktionen direkter und repräsentativer Demokratie nach sich zieht, wobei erstere (d.h. die Konstruktionen direkter Demokratie) bei komplexen und weitreichenden Themen unter Praktikabilitäts- und Reduktionsproblemen leiden, während zweitere (d.h. die Konstruktionen repräsentativer Demokratie) an den Schwierigkeiten, Repräsentation kohärent und umfassend zu konzipieren, scheitern. Demgegenüber ist es für das Nicht-Beherrschungs-Ideal sekundär, wie die relevanten Interessen derjenigen, die von Entscheidungen und Regulierungen betroffen sind, in diesen Entscheidungen und Regulierungen zur Geltung gebracht werden – wichtig ist allein, dass sie in ihnen zur Geltung kommen. Aber obwohl diese Verschiebung zur Folge hat, dass die strukturelle Inklusion von einer grundsätzlichen zu einer eher verfahrenstechnischen Frage wird, heißt dies nicht notwendigerweise, dass die Schwierigkeiten geringer werden. Es erweitern sich allerdings auf jeden Fall die Optionen, die Inklusion relevanter Interessen zu gewährleisten. Pettit macht dementsprechend – in einer gewissen Analogie zur commitology innerhalb der Europäischen Union – den Vorschlag, die primäre Inklusion der Interessen über ein Wechselspiel von administrativen Institutionen, mehr oder minder großen Kommissionen und deliberierenden Körperschaften zu konzipieren und den Entscheidungen dann Institutionen oder Instanzen gegenüberzustellen, in denen die Betroffenen, so sie ihre Interessen und Ansprüche in den Entscheidungen und Regulierungen nicht berücksichtigt finden, Einspruch gegen diese erheben können (Pettit 2004). Gerade angesichts der Konsequenzen für das institutionelle Design demokratischer Verfahren und Entscheidungsprozesse zeigt sich, dass das Ideal der Nicht-Beherrschung eine überzeugende Alternative zum Autonomieideal ist. Es beruht allerdings auf einer Prämisse, die weder selbstverständlich noch unproblematisch ist, denn es setzt Instanzen voraus, die immer schon relevante Interessen aufspüren und diesen in den beschriebenen Weisen zur Geltung verhelfen. Eine solche Annahme übersieht je-

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doch, dass in vielen Fällen Institutionen, Kommissionen oder deliberierende Körperschaften eines ›Anstoßes‹ von außen bedürfen, der die verschiedensten Formen annehmen kann, um sich der Realisierung von Ansprüchen zu widmen, die berechtigterweise vorgebracht werden. Für diese Schwierigkeit bietet das Autonomieideal mit seiner zirkulären Struktur des politischen Prozesses und der personalen Inklusion zumindest als Modell eine Lösung, indem es in der Befähigung zur politischen Teilhabe auch die Befähigung zur Artikulation und zum Einfordern der Unterstützung und (eventuell institutionellen) Absicherung der eigenen berechtigten Interessen umfasst. In diesem Modell werden die Institutionen und Deliberationen ja in strikter Abhängigkeit von dem Input gedacht, den die Betroffenen selbst vorbringen, so dass die Etablierung oder gezielte Programmierung von Institutionen ein wesentliches Ziel des demokratischen Prozesses darstellt. Eine politisch-institutionelle Struktur, die gemäß dem Ideal der NichtBeherrschung konzipiert ist, muss also nicht nur eine Einspruchsinstanz, sondern auch eine gewichtige Instanz zur Initiierung von Entscheidungen und Regulierungen für diejenigen vorsehen, die sich nicht bereits innerhalb der beteiligten Instanzen befinden (Bohman 1996: 110). Und insgesamt ist natürlich festzuhalten, dass auch eine politische Ordnung, die sich am Ideal der Nicht-Beherrschung ausrichtet, verpflichtet ist, die von ihr Betroffenen dazu zu befähigen, ihre Interessen zu konstatieren, zu artikulieren und in den entsprechenden Verfahren der Entscheidungsanbahnung und -findung zu Gehör zu bringen (vgl. Bohman 1997). Diese Neubestimmung der normativen Grundlagen demokratischer Verhältnisse bildet eine wichtige Voraussetzung für die Erörterung der Frage, ob eine globale demokratische Ordnung denkbar ist. Allerdings reicht eine solche ›Denkbarkeit‹ nicht aus, um auch deren ›Gewünschtheit‹ zu begründen, denn globale demokratische Verhältnisse sind nur dann anzustreben, wenn sie die allgemeinen normativen Anforderungen an eine globale Ordnung erfüllen. Es wird deshalb nun zunächst gezeigt, warum es überhaupt wünschbar ist, dass Demokratie in der Gestalt von ›Nicht-Beherrschung‹ (wie es nun abkürzend heißen soll) global realisiert wird, und warum nicht andere normative Ziele Vorrang genießen sollten. Daran anschließend wird untersucht, wie die ›Globalität‹ der gesuchten politischen Ordnung zu verstehen ist, bevor zuletzt einige (institutionelle) Überlegungen zur demokratischen Selbstregierung unter Bedingungen der Weltgesellschaft präsentiert werden.

2. Demokratie vs. Gerechtigkeit? – Überlegungen zu den normativen Prinzipien einer globalen Ordnung Schaut man auf die gegenwärtige philosophische und politik- oder sozialtheoretische Auseinandersetzung mit den globalen Verhältnissen, so steht

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190 | Andreas Niederberger nur bei wenigen Autoren die Frage nach globalen demokratischen Verfahren und Institutionen im Vordergrund. Selbst wenn solche Verfahren und Institutionen für die meisten auch wünschbar sind, so scheinen doch die globale Armut, die ökonomische Ungleichheit, die die postkoloniale Situation oder die ›Globalisierung‹ mit ihren Ungleichzeitigkeiten und ihrer unterschiedlichen politischen Unterstützung und Abwehr mit sich bringen, sowie die weltweite Sicherheitslage so dringliche Probleme zu sein, dass sie Lösungen und Handlungen selbst unter Abwesenheit von globalen demokratischen Strukturen fordern – manchmal hat man sogar den Eindruck, als benötigten sie Lösungen, die gerade nicht in z.T. umständlichen und aufwendigen demokratischen Prozeduren generiert werden, etwa weil solche Prozeduren die Generierung vermeintlich oder tatsächlicher gebotener Handlungen auch verhindern können (vgl. etwa Ballestrem 2001; Buchanan 2004: 233-260; Pogge 2002). Solche Argumentationen machen angesichts von dringenden Notfällen zu Recht darauf aufmerksam, dass der Verweis auf das mittel- und längerfristige Ziel einer Etablierung globaler demokratischer Verhältnisse keine Ausrede für ein Nichthandeln in Situationen moralisch gebotener Hilfeleistung sein darf. Werden diese Argumentationen jedoch verallgemeinert, so übersehen sie mindestens zwei Dinge: Erstens impliziert die zweite normative Überlegung zur Demokratie, die oben angeführt wurde und die besagt, dass nur der demokratische Prozess letztgültig Zwang legitimieren kann, dass spätestens unter nachmetaphysischen und pluralistischen Bedingungen moralische Urteile nicht als solche mit Zwang und gegen den Willen von Betroffenen umgesetzt werden dürfen. In jedes moralische Urteil fließen – gerade in der Applikation universeller Prinzipien auf den Einzelfall – Elemente ein, deren Universalität aus der Perspektive desjenigen, der das Urteil fällt und umsetzt, nicht garantiert werden kann. Selbst das moralisch motivierte Handeln im Einzelfall muss daher sensibel für die Wahrnehmungen, Einschätzungen und Widerstände derjenigen sein, die von diesem Handeln tangiert werden. Umso mehr gilt dies aber für ein dauerhaftes globales politisches und soziales Handeln, das sich in der Geltung allgemeiner (Rechts-)Prinzipien und in der Ein- und Ausrichtung von Institutionen niederschlägt, so dass dieses Legitimität nur dadurch erlangen kann, dass es in demokratischen Verfahren gegenüber allen Betroffenen gerechtfertigt wird – im Sinne der Anwendung des Ideals der Nicht-Beherrschung muss es also zumindest gewichtige Institutionen geben, die den Betroffenen Einspruchs- bzw. Initiierungsmöglichkeiten gegen bzw. für Handlungsweisen eröffnen. Zweitens ist zudem zu sehen, dass die Etablierung demokratischer Verhältnisse wesentlich zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit beizutragen vermag. Auf der idealen Ebene wurde schon vermerkt, dass die Demokratie nur dann ihren Ansprüchen gerecht werden kann, wenn sie diejenigen, die von ihren Entscheidungen und Regulierungen betroffen sind, auch befähigt, eigene Interessen und Bedürfnisse zu erkennen und zu

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artikulieren. Dies setzt wiederum eine Ausstattung mit sozialen, kognitiven und kulturellen Ressourcen voraus, die bereits an sich Armut verhindern und ein relatives Maß an Gleichheit erzeugen. Aber auch empirisch hat die Errichtung demokratischer Verhältnisse zur Folge, dass Ungleichheiten zumindest unter Rechtfertigungsdruck geraten, was den Handlungsspielraum der Benachteiligten so erweitert, dass Ausgleichsansprüche einfacher benannt und erstritten werden können (Sen 2000). Wie die beiden vorstehenden Punkte zeigen, hängen Gerechtigkeit und Demokratie intern zusammen, denn einerseits lässt sich kein rein moralischer Gerechtigkeitsbegriff widerspruchsfrei und universell formulieren, während andererseits die Befähigungsrechte, die die Demokratie notwendig impliziert, eine ›Materialisierung‹ darstellen, die sich sonstigen basalen Gerechtigkeitsansprüchen zumindest annähert. Nimmt man Rainer Forsts Vorschlag einer Unterscheidung von minimaler, d.h. zur Demokratie befähigender, und maximaler, d.h. in den demokratischen Verfahren zu beschließender, Gerechtigkeit hinzu (Forst 1994, 2002), dann vermag ein gerechtigkeitstheoretisch explizierter Demokratiebegriff sogar unterschiedliche Reichweiten von Gerechtigkeitsansprüchen bzw. kontextuell differenzierte Prinzipien zu begründen. Insgesamt ist damit zu konstatieren, dass die globale Realisierung von Nicht-Beherrschung in wesentlichen Hinsichten die ansonsten häufig anderweitig begründeten moralischen Ansprüche umsetzt und selbst für die Verwirklichung weitergehender oder anderer Ansprüche als Voraussetzung gelten muss. Die Einschränkung ›in wesentlichen Hinsichten‹ ist notwendig, da das Verhältnis der demokratischen Strukturen zur globalen Sicherheit komplizierter ist als dasjenige zu anderen Gerechtigkeitsansprüchen (vgl. auch Lutz-Bachmann 2002). Offensichtlich garantieren demokratische Strukturen, selbst wenn sie als Umsetzung eines positiven Friedensbegriffs verstehbar sind, nicht schon als solche ein Gewaltmonopol, sie können dessen Errichtung und Aufrechterhaltung aber sicherlich erleichtern und unterstützen. Auf der anderen Seite können demokratische Strukturen allerdings nur dann dauerhaft existieren und funktionieren, wenn ein Gewaltmonopol besteht und dieses zur Durchsetzung der demokratischen Entscheidungen und Regulierungen beiträgt. Mit Blick auf die globale Sicherheit ist also einzuräumen, dass deren Begründung und Etablierung in gewissem Maße unabhängig von globalen demokratischen Verhältnissen ist und es damit auch möglicherweise zu Spannungen zwischen Ansprüchen auf die Durchsetzung oder Erweiterung der globalen Demokratie und denjenigen auf die Sicherung eines globalen Gewaltmonopols kommen kann (vgl. auch Cooper 2003).

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3. Globalität – Internationalität – Transnationalität Nachdem damit erwiesen wurde, dass die Umsetzung globaler Nicht-Beherrschung tatsächlich das normative Ziel ist, das wir anstreben sollten, bleibt nun vor der Erörterung der genaueren Perspektiven einer Realisierung globaler Demokratie noch demokratietheoretisch zu diskutieren, wie die Globalität in dieser Demokratie eigentlich zu verstehen ist. Eine solche Diskussion ist notwendig, da sowohl das Autonomie- als auch das NichtBeherrschungs-Ideal nicht einfach irgendeine Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse derjenigen erfordern, die von Entscheidungen und Regulierungen betroffen sind, sondern eine solche, in der die Interessen und Bedürfnisse in angemessenster Weise Aufnahme finden. Mit Blick auf den Geltungsanspruch der Interessen und Bedürfnisse richtet sich die politische Ebene der Aufnahme von Interessen und Bedürfnissen nicht primär nach der Ebene, die diese Interessen aufnehmen ›will‹ – selbst wenn dies faktisch häufig die entscheidende Berücksichtigungsvoraussetzung von Interessen und Bedürfnissen ist –, sondern nach der Reichweite, auf die die Interessen und Bedürfnisse bzw. die Entscheidungen und Regulierungen, die zu ihrer Unterstützung und Sicherung gewählt werden, abzielen. Wenn etwa mit einer Entscheidung ein Schulsystem auf einem bestimmten Territorium eingerichtet werden soll, so ist diese Entscheidung in solcher Weise zu treffen, dass alle, die von der Einrichtung betroffen sind, in sie einbezogen werden bzw. gegen sie Einspruch erheben können. Allerdings ist die Einbeziehung bzw. das Recht zum Einspruch nur dann einklagbar, wenn tatsächlich eine Betroffenheit gegeben ist und nicht bloß eine abweichende Vorstellung hinsichtlich der Tatsache und der Weise der Einrichtung existiert. Ein globaler Einspruch gegen ein Schulsystem würde zu Recht vorgebracht werden können, wenn Bedenken bestehen würden, dass das entsprechende Schulsystem keine Befähigung zur politischen Teilhabe leistet. Kein globaler Einspruch gegen dieses Schulsystem könnte jedoch die Präferenz für eine andere Gliederung des Schulsystems, für andere Lehrinhalte oder eine andere Dauer der Schulzeit sein – weshalb eine Entscheidung über diese Punkte oberhalb der Ebene des Territoriums, auf dem dieses Schulsystem errichtet wird, die Relevanz der Interessen der Betroffenen unnötig reduzieren würde. Bei sozialpolitischen, ökonomischen oder ökologischen Entscheidungen ist die Lage natürlich häufig viel schwieriger, weshalb die Anwendung dieses Subsidiaritätsprinzips in vielen Fällen nicht evident und unproblematisch ist und daher selbst einer institutionellen Verankerung bedarf (vgl. Føllesdal 1998, 2000). Demokratietheoretisch kann dazu aber auf keinen Fall eine reine Weltstaatlichkeit angestrebt werden, da in einer solchen Weltstaatlichkeit – zumindest der Möglichkeit nach – über alle Angelegenheiten, und d.h. auch solcher, die in begrenztem Rahmen verwirklicht werden könnten, immer

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unter der Berücksichtigung der Überzeugungen, Interessen und Bedürfnisse aller entschieden würde. Da es aber natürlich Fragen gibt, deren Lösung in der Tat global alle betrifft oder bei denen es wenigstens strittig ist, wie weit deren Auswirkungen reichen, können demokratische Verhältnisse auch nicht einfach nur auf national- oder kontinentalstaatlicher Ebene etabliert und die Berücksichtigung der möglichen Effekte außerhalb dieser Ebene in das Belieben des entsprechenden National- oder Kontinentalstaats gestellt werden. Das Modell einer föderalen Weltstaatlichkeit, wie es etwa Otfried Höffe (2002a: 296-314; Höffe 2002b) entwickelt hat, geht sicherlich in die richtige Richtung; es leidet allerdings darunter, dass es die Kompetenzaufteilung von einem Status quo herleitet, aber für zukünftige Streitfälle und für die Dynamik neuer Einsichten in bzw. neuer Entscheidungen über kürzere oder weitere Reichweiten die eigentümlichen Antagonismen föderaler Strukturen unterschätzt. Die überzeugendste Alternative ist daher das – unter anderem von James Bohman (2005a, 2005b) entworfene – Modell eines transnationalen Netzwerkes verschiedener politischer Ebenen mit verschiedenen Reichweiten, das selbst intern wieder nach dem Prinzip der Nicht-Beherrschung verfasst ist. In diesem Modell muss jede Instanz oder Ebene die Prüfung vorsehen, ob sie mit der Entscheidung oder Regulierung, die sie für den Raum trifft, den sie umfasst, willkürlich in die Entscheidungsmöglichkeiten anderer Instanzen oder Ebenen eingreift. Ein solches Netzwerkmodell ist für den mehr oder minder kontingenten Wandel von Problem- und Interessenlagen offener als das föderale Staatsmodell, muss allerdings um eine Instanz ergänzt werden, die in Fällen nicht lösbaren Konflikts in der Bewertung von Entscheidungsreichweiten und entsprechenden Entscheidungs- und Regulierungskompetenzen letztgültig und legitim entscheiden kann – im doppelten Sinn der Berechtigung zu dieser Entscheidung und zu ihrer Durchsetzung.

4. Kann es eine transnationale Struktur der Nicht-Beherrschung geben? Die letzten Ausführungen haben schon in Umrissen skizziert, welche Aspekte einer transnationalen Struktur der Nicht-Beherrschung verwirklicht sein müssten, damit von der Existenz globaler demokratischer Verhältnisse zu reden wäre. Gerade mit Blick auf konkrete Entwicklungsschritte, die zu nehmen sind, ist die wichtigste Einsicht dabei, dass sich die Existenz einer solchen transnationalen demokratischen Struktur weniger daran bemisst, dass es eine staatliche Ordnung gibt, in der eine klare Aufteilung von Kompetenzen und Machtbefugnissen besteht, sondern dass die verschiedenen Akteure, Ebenen und Instanzen, die Entscheidungen treffen, die für jeweilige Gruppen und Territorien kollektiv bindend sind oder zumindest äquiva-

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194 | Andreas Niederberger lente Effekte haben,5 intern so verfasst sind, dass sie neben der Inklusion der relevanten Interessen derjenigen, auf die die Entscheidungen primär abzielen, auch reflektieren, inwiefern sie mit diesen Entscheidungen willkürlich in die Entscheidungskompetenzen anderer Individuen, Akteure, Ebenen und Instanzen eingreifen. Im Fall einer solchen Auswirkung müssen die entsprechenden Individuen, Akteure, Ebenen oder Instanzen zwingend in den Prozess der Entscheidungsbildung einbezogen werden, sei es durch die Wahl einer höheren Ebene, die alle faktisch oder potentiell Betroffenen umfasst, oder aber durch eine kooperative Entscheidungsbildung. Eine solche Erfordernis für die Existenz einer transnationalen Demokratie hat mindestens einen wesentlichen Vorteil, allerdings auch einen wesentlichen Nachteil gegenüber dem Versuch, in der Form einer einheitlichen und klar gegliederten Weltstaatlichkeit das normative Modell des Nationalstaats in den globalen Raum zu übersetzen. Der Vorteil besteht darin, dass keine globale Ordnung und Hierarchisierung der verschiedenen Akteure, Ebenen und Instanzen angestrebt werden muss, die sich historisch entwickelt haben. Es muss also keine völlig neue institutionelle Struktur mit verschiedenen Ebenen ›erfunden‹ werden (was auch heißen würde, dass bestehende Strukturen zum Verschwinden gebracht werden müssten), sondern die existierenden sowie in Zukunft erscheinenden Strukturen, die zumeist aus konkreten Problemlagen hervorgehen und nicht aus gezielten Konstruktionen, die von der Architektonik eines all-umfassenden Staatswesens abgeleitet werden, erfüllen bereits durch ihre interne Verfassung den Anspruch der Nicht-Beherrschung. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Vorteils ist, dass der Eigenwert der Akteure, Ebenen und Instanzen berücksichtigt werden kann, der diesen von denjenigen, die sich in ihnen organisiert haben, zugeschrieben wird oder der sich aus ihren jeweiligen Leistungen im komplexen globalen Gefüge ergibt. Denn die Vorstellung einer Konstruktion all-umfassender Staatlichkeit, d.h. eines institutionellen Settings, das für jedes anstehende Problem und für jeden Versuch kollektiver (Selbst-)Organisation die notwendigen Voraussetzungen immer schon bereitstellt und dabei nie seine interne Hierarchie und Kohärenz gefährdet, ist angesichts der komplexen sozio-politischen Problemlagen schon auf der Ebene von Einzelstaaten eine Idealisierung, die zwar Auswüchse exekutiver oder administrativer Selbstermächtigung zu kritisieren erlaubt, die Notwendigkeit solcher Kompetenzaneignungen für die Erfüllung der Erwartungen, die an die entsprechenden Institutionen und Instanzen gerichtet werden, aber zu Unrecht leugnen muss. 5 | Z.B. ökonomische Akteure können quasi kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen, auch wenn diese nicht explizit als solche intendiert sind oder charakterisiert werden. Auch für solche Akteure gilt in der transnationalen Nicht-Beherrschung natürlich, dass sie intern so verfasst sein müssten, dass sie nicht willkürlich in die Entscheidungsmöglichkeiten anderer Akteure eingreifen können.

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Der Nachteil ist offensichtlich derjenige, dass die Etablierung einer zentralen oder föderalen globalen Staatlichkeit im Gegensatz zum transnationalen Netzwerk in der Lage ist, ein globales Gewaltmonopol zu konzipieren und von diesem ausgehend zu gewährleisten, dass die verschiedenen Ebenen und Instanzen sich auch tatsächlich den Erfordernissen des Prinzips der Nicht-Beherrschung unterwerfen. Wie zuvor in der allgemeinen Erörterung des Ideals der Nicht-Beherrschung ausgeführt wurde, reicht es zur Erfüllung des Ideals nicht aus, dass faktisch keine willkürlichen Eingriffe in die Entscheidungsmöglichkeiten anderer vorgenommen werden, sondern die Möglichkeit solcher Eingriffe muss grundsätzlich ausgeschlossen sein. In der Sprache des Rechts heißt dies, dass selbst eine vertragliche, d.h. privatrechtliche Vereinbarung der Berücksichtigung der relevanten Interessen anderer nicht an die Stelle öffentlichrechtlicher Verbindlichkeit einer solchen Berücksichtigung treten kann, auch wenn etwa Gunther Teubner demonstrieren kann (Teubner 2003; vgl zur Kritik daran auch Lutz-Bachmann 1999), dass solche privatrechtlichen Vereinbarungen in der Tat sehr weit reichend ›funktionieren‹, indem sie umfangreiche Zwangskompetenzen an Schiedsgerichte delegieren. Mit dem Verweis auf das Recht ist aber bereits auch schon eine Lösung der Schwierigkeit angedeutet: Das transnationale Netzwerk muss ergänzt werden um mindestens eine Urteilsinstanz, die einerseits über die entsprechenden Mittel verfügt, ihre Urteile auch durchzusetzen, und die andererseits keine eigenen ›Interessen‹ verfolgt, d.h. nicht dazu befähigt ist, selbst Entscheidungen zu fällen oder Regulierungen vorzunehmen. Eine solche Urteilsinstanz muss nicht unbedingt ein Gericht sein, sondern es könnte sich durchaus um eine deliberierende Körperschaft wie etwa ein Parlament handeln. Das Kriterium für das Urteil dürfte wiederum nicht die eigene Vorstellung dieser Körperschaft darüber sein, wie die entsprechende Angelegenheit geregelt werden sollte, sondern es müsste ausschließlich darüber befunden werden, ob die Entscheidung oder Regulierung einer Instanz willkürlich in die Entscheidungsmöglichkeiten derjenigen, die von den Entscheidungen und Regulierungen betroffen sind, bzw. einer anderen Instanz und ihrer Klientel eingreift. Von transnationaler Demokratie ist dann zu reden, wenn ein Netzwerk von Akteuren, Ebenen und Instanzen existiert, dass erstens in der Vielfalt der vernetzten Elemente die Aufnahme, Unterstützung und Sicherung relevanter Interessen der gesamten Bevölkerung des Globus in den verschiedensten Weisen möglich ist und faktisch geschieht (also Nicht-Beherrschung im Verhältnis der Institutionen zu denjenigen, die von ihren Entscheidungen und Regulierungen betroffen sind, sowie im Verhältnis dieser Betroffenen untereinander zu konstatieren ist), während zweitens die Art der Vernetzung ausschließt, dass die verschiedenen Akteure, Ebenen und Instanzen willkürlich in die jeweils anderen Entscheidungsmöglichkeiten eingreifen (also Nicht-Beherrschung im Verhältnis der Akteure, Ebenen und Instanzen zueinander besteht). Diese Art der Vernetzung kann nur da-

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196 | Andreas Niederberger durch garantiert werden, dass es eine Art globales Gewaltmonopol bei einer Urteilsinstanz gibt, die letztgültig darüber befinden kann, ob eine Instanz ohne Einbeziehung anderer Instanzen dazu berechtigt ist, eine Entscheidung zu treffen oder nicht.6 Mit Blick auf das oben angeführte institutionelle Initiierungsdefizit des Nicht-Beherrschungsideals muss das Netzwerk sicherlich auch um Institutionen ergänzt werden, die es denjenigen, deren Interessen bisher oder momentan durch keine Akteure, Ebenen oder Instanzen aufgenommen, unterstützt und gesichert werden, erlauben, ihre Interessen entsprechend zur Geltung zu bringen – dies heißt natürlich vor allem, dass die existierenden parlamentarischen Körperschaften beizubehalten sind und dass eventuell sogar – im Sinne der verschiedenen Vorschläge, die im Rahmen der Diskussionen über deliberative Demokratie entwickelt wurden – weitere direkt-deliberative und -entscheidende Instanzen einzurichten sind (Cohen/Sabel 1997). Sind die normativen Verschiebungen und institutionellen Differenzen gegenüber Modellen von Weltstaatlichkeit aber schon Garanten dafür, dass die transnationale Demokratie eine realistische Perspektive ist? Wenn mit ›realistisch‹ gemeint ist, dass das Ideal grundsätzlich realisierbar ist, dann ist das Modell der transnationalen Demokratie sicherlich wesentlich ›realistischer‹ als die Weltstaatsmodelle, da diese sowohl normativ als auch mit Blick auf die Empirie von einer Idealisierung der sozio-politischen Wirklichkeit ausgehen, die deren Komplexitäten gewöhnlich nicht gerecht wird. Wenn mit ›realistisch‹ die Frage nach der Wahrscheinlichkeit der Umsetzung des Ziels der transnationalen Demokratie gemeint ist, so ist festzuhalten, dass bei allen Verschiebungen und Differenzen gegenüber anderen normativen Modellen noch keine Aussage dazu getroffen wurde, ob die transnationale Demokratie, wie sie zuvor entwickelt wurde, weniger anspruchsvoll ist als die anderen Modelle, so dass sich daraus kein Hinweis auf die größere Realisierungswahrscheinlichkeit ableiten lässt. Allerdings kann dieses Modell auf Tendenzen aufmerksam machen, denen zufolge verschiedene Akteure und Instanzen sich den Nicht-Beherrschungsanspruch nach innen und/oder nach außen zu eigen machen – die vermeintlichen Zwänge der ›Globalisierung‹ erzeugen nämlich auch Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Welt oder Forderungen danach, so dass der Ausdruck der ›Mondialisierung‹ besser geeignet ist, um einen Zustand der 6 | Ein globales Gewaltmonopol sollte man sich natürlich wiederum nicht analog zum innerstaatlichen Gewaltmonopol vorstellen, da der Militär- und Polizeiapparat, der zur Etablierung einer globalen Macht notwendig wäre, die in jeder problematischen Situation sowie in allen solchen parallel bestehenden Situationen reagieren könnte, einen sowohl kostenmäßig als auch von der eigenen Bedrohlichkeit irrationalen Umfang annehmen würde. Es müsste lediglich gesichert sein, dass es einen unmittelbaren Zugriff der globalen »Letztinstanz« auf die verfügbaren Mittel lokaler Gewaltmonopolität gibt.

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globalen politischen und sozialen Verhältnisse zu bezeichnen, in dem die politische Ordnung strukturell unabgeschlossen ist und es zu immer neuen Versuchen der Aneignung der Welt kommt. Ob sich jedoch ohne gravierende sozio-politische Umwälzungen alle existierenden und zukünftigen Akteure und Instanzen das Nicht-Beherrschungsprinzip zu Eigen machen, ist mehr als fragwürdig. Insbesondere die Unterwerfung unter eine globale Struktur der öffentlichen Kontrolle der Einhaltung dieses Prinzips sowie die allgemeine Befähigung zur Artikulation und zum politischen Einbringen eigener Interessen und Ansprüche sind sicherlich kaum ohne Weiteres zu erwarten, da dies einerseits etwa bei den bestehenden Nationalstaaten eine weitere Abgabe angestammter Souveränitätsrechte zur Folge hätte, während andererseits die sozialen, kognitiven und kulturellen Leistungen, die insbesondere die reichen Bevölkerungsteile weltweit zu erbringen hätten, wesentlich ansteigen würden. Trotzdem ist schließlich festzuhalten, dass die Existenz legitimer politischer Strukturen ein wesentlicher Stabilitäts- und Sicherheitsfaktor ist, so dass bei aller Verweigerung von gravierenden Veränderungen der soziale Druck doch so groß ist, dass eine allmähliche und graduelle Etablierung von Verhältnissen transnationaler Demokratie zumindest erhofft werden kann.7

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Demokratie in der Weltgesellschaft? Einige Überlegungen | 199

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Global Justice. Kapitalismus als ›civilizing agency‹ Birger P. Priddat

In der Form der ›reinen Marktwirtschaft‹ hat sich der Kapitalismus nirgendwo realisiert; er bleibt eine neoliberale Fiktion, die Asymmetrien ideologisch überhöht. Die Kritik am expandierten Wohlfahrtsstaat ist, außer in einigen ›neoliberalen‹ radikalen Phantasien, keine Kritik am Wohlfahrtsstaat, sondern an seinen unzweckmäßigen institutionellen Formen. Die Effizienz, die man im Markt historisch als wohlfahrtssteigernd erfahren hat, legt man jetzt als Kriterium an die institutionellen Arrangements (›institutional choice‹): Was leisten die Sozialsysteme? Brauchen wir nicht andere Anreizstrukturen? Wie stellen wir die Balance zwischen privaten und öffentlichen Gütern neu ein? Als mixtum compositum von Markt und Institutionen ist der ›Kapitalismus‹ die Ausbildung eines ›cultural capital‹ eigener Dignität: eine civilizing agency, die durch positive Wohlfahrtseffekte und eine institutionelle Struktur wirkt. Dessen Stabilität ist aber nicht inhärent gesichert, sondern muss politisch immer wieder neu generiert werden. Die Institutionen des ›Kapitalismus‹ sind nicht, wie in den vormodernen Epochen, durch hyperstabilisierte Sets von ethischen Habitus und reziproken moralischen Obligationen normativ gesichert, sondern unterliegen einem ›institutional change‹, der zwar in einer sehr viel langsameren Geschwindigkeit verläuft als die parallele Marktdynamik, aber modern an Beschleunigung zunimmt, vor allem deshalb, weil er selbst Entscheidbarkeiten offen legt. Die moderne Ökonomie ist eine political economy, die governances bedarf, um die Balance zwischen wealth und welfare aufrechtzuerhalten. Das System der Wirtschaft ist kein reines Marktphänomen, sondern ein Politik/Markt-Nexus, der immer wieder Regelungen, governance, sogar Interventionen erfordert, zumindest aber politisch installierte institutional frames of market dynamics. Der Purismus der Adam Smith’mschen Alleinstellung des

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202 | Birger P. Priddat Marktes, damit er seine Effizienz voll entfalte, wird im Politik/Markt-Nexus durch politische Entscheidungen unterbrochen, die nach anderen Effizienzen als den rein ökonomischen gefällt werden. Wohlfahrt wird immer über eine Matrix diverser Interessen bestimmt, deren Verteilung Legitimation braucht, gegebenenfalls durch Verfahren. Wirtschaft wäre eine metaphysische Konstruktion, würde sie allein durch den Markt determiniert: Sie ist immer eine politische Ökonomie, deren governance-Struktur entscheidend ist für die Balance von Volkseinkommen und Wohlfahrt. Auch ist der Begriff ›Markt‹ nur eine Abkürzung für marktliche, also weisungsungebundene Handlungen vieler Einzelner – ›der‹ Markt handelt nicht, entscheidet nicht, bietet nichts an und fragt nichts nach, hat keine Vorlieben. Die Präferenzen von Konsumenten und Unternehmen und die Institutionen, in deren Rahmen Entscheidungen getroffen werden, beeinflussen sich gegenseitig. Das ›Faktum der Pluralität‹ in der modernen Moderne gibt uns mehr Optionen, als es das Abendland kannte. Institutionen, als ›cultural capital‹ interpretiert, stehen selbst in einem Evolutionsprozess. Wenn Adam Smith noch die Illusion hegen konnte, dass der Markt sein eigenes Gleichgewicht fände und zugleich auch ein, wenn auch asymmetrisches, Wohlfahrtsgleichgewicht erreiche; wenn im 19. und 20. Jahrhundert eine neue Illusion entstand, dass Steuerung und Ordnung der Marktprozesse in Hinblick auf eine gezielte Wohlfahrtspolitik möglich sei, stehen wir heute vor einem komplexeren Phänomen, das es nicht ohne weiteres erlaubt, einer der beiden ›governance-structures‹ zu vertrauen: weder der Selbststeuerung noch der politischen Steuerung der Märkte (vgl. dazu Benz 2004). Das Wechselwirkungsgleichgewicht zwischen Markt und Staat aber hat keine eigene institutionelle Arena. Wir stehen vor einem neuen Phänomen, das neue Formen der Steuerung entwickelt: neue Formen der privat/public-partnership, neue Kooperationsformen.

Neue Sozialkontrakte im Zwischenraum von Markt und Staat In der Zivilgesellschaftsdebatte, die die Frage der ›new governance‹ stellt, wird die Formel vom ›aktivierenden Staat‹ eingeführt; die Bürger sollen für Teile ihrer sozialen Sicherung selbständig und eigenverantwortlich sorgen. Neue policy-mixes, insbesondere in der Sozialpolitik, werden formuliert, die eine neue Kooperation der Bürger mit dem Staat anbahnen. Ohne die Programme en detail anzusprechen, wird deutlich, dass weder der neoliberalen Illusion gefolgt wird, die Wohlfahrt der Bürger dem Markt zu überlassen, noch aber der alten Sozialstaatsillusion angehangen wird, der Staat sei umfassend für die Sicherung des Lebens zuständig. Wenn wir das so interpretieren, dass die Bürger für ihre Lebensprogramme selber verantwortlicher

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werden, können wir die Wohlfahrtssysteme als Hybride kennzeichnen, die neue ›social commitments‹ mit neuen institutionellen hybriden Designs entwerfen. Die neuen Wohlfahrtshybride sind Readjustierungen des Verhältnisses von Staats- und von Bürgerverpflichtungen, neue ›social contracts‹ (vgl. auch Priddat 2000a und 2001). Wenn wir Wohlfahrtsprogramme als moralische Institutionen interpretieren, erleben wir den Anfang einer Reformulierung des ›moral commitments‹, das die Bürger mit sich selbst und ihrem Staat einzugehen aufgefordert werden. In diesem ›moral commitment‹ wird die Frage zu klären versucht, welche gerechtfertigten Anforderungen an die Allgemeinheit zu stellen berechtigt sind, welche aber nicht. Diese Fragen werden als Gerechtigkeitsfragen thematisiert, als ›new fairness‹. Der entscheidende Punkt ist erstens der, dass Gerechtigkeitsfragen als politische Fragen eingeführt werden, und zweitens, dass es dabei um eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Wirtschaft geht. In den alten Wohlfahrtssystemen war die Frage der Moral in sozialen Angelegenheiten vollständig an den Staat delegiert (oder reprivatisiert, an die auf Benevolenz trainierten non-markets). In den neuen ›commitments‹, die gefordert werden, wird die Moral der Solidarität neu definiert. Der soziale Anspruch, im Falle der eigenen Einkommenslosigkeit von der Gesellschaft gestützt zu werden, bleibt aufrechterhalten, aber unter der Nebenbedingung, dafür zu sorgen, dass die eigene Einkommensfähigkeit erhalten bleibt, oder, im Falle ihres Verlustes, neu und selbständig aktiv gesucht wird. Der bisher gepflegten Erwartung, in jedem Fall unterstützt werden, wird ein neuer Vorschlag gemacht, nur dann unterstützt zu werden, wenn man willig ist, in die eigene Zukunft zu investieren. Das Sozialsystem soll auf Ko-Investition umgestellt werden: der Staat bietet eine ›equality of opportunity‹/Chancengleichheit an, aber keine ›equality in outcomes‹/Gleichheit im Ergebnis. Jeder Bürger nutzt seine Chancen verschieden; es kommt darauf an, dass er die Nutzung von Chancen aktiv angeht und mit dem Staat kooperiert. Zwischen Markt und Staat, zwischen privaten Gütern und öffentlichen Gütern entsteht eine Arena von Hybriden, die als spezifische Kombinationen von öffentlichen/privaten Gütern eigene Formen neuer Kooperationen bilden. Im Bildungswesen werden Hochschulen z.B. teils öffentlich, teil privat finanziert werden; die Rentenversicherung wird dual kombiniert, mit öffentlichen Zwangsrententeilen und privaten Zusatzanteilen; im kommunalen Bereich werden viele kulturelle, aber auch jegliche anderen Projekte mischfinanziert; im Arbeitslosenversicherungsbereich haben wir bereits angeführt, dass Ansprüche auf Auszahlungen nur dann aktiviert werden, wenn die Betroffenen selber aktiv an ihre Qualifikationen oder Arbeitsbeschaffungen gehen etc. Aber auch neue Formen der Kooperation der Bürger mit sich selbst werden entstehen, die Aufgaben übernehmen, die jetzt noch dem Staat alleine als Versorgungsleistung zugeschrieben werden; Betriebs-

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204 | Birger P. Priddat renten der Unternehmen können Leistungen des Staates übernehmen; Bürger gründen ihre eigenen Kindergärten und Schulen, warum nicht auch Hochschulen? So wie Konsumenten heute bereits über das Internet Konsumeinkaufsgemeinschaften bilden, die über eine ›economy of scale‹ die Preise senken, so können Bürger auch Anspruchsgemeinschaften bilden, die über Angebote von Eigenleistungen den Staat zur Produktion von (hybriden) öffentlichen Gütern anreizen können. Dabei ersetzen die Bürger den Staat partiell (der Souverän organisiert eine Rückholung nur verliehener Kompetenz), oder bürgerliches Engagement dient als Ferment für Veränderungen bestehender Strukturen. Make or buy, oder kooperiere – alles aus Sicht des Bürgers, nicht des Staates. Das Verhältnis von ›equality of opportunities‹ und ›responsibility‹ wird neu definiert, und zwar als neue Form einer Kooperationsökonomie, die sich nicht mehr der alten Semantik der ›Solidarität‹ bedient, sondern neue Semantiken der ›new governance‹ und ›fairness‹ entwirft, deren Basis neue institutionelle Designs mit neuen Anreizstrukturen sind. Der Unterschied zu bekannten institutionellen Formen liegt vor allem darin, dass sie stärker als bisher Momente der Eigeninitiative und unternehmerischen Aktivität der Bürger anreizen (›enabling‹; ›empowernment‹). Das ›moral commitment‹, das in diesen institutionellen Redesigns entworfen wird, dient nicht mehr nur dazu, moralische Ansprüche nach Regeln zu justieren, sondern moralische Ansprüche an Verantwortlichkeiten zu binden, um individuelle Investitionen anzureizen. Die institutionellen Muster ändern sich. Über das Regelbefolgen hinaus wird eine ›institutional entrepreneurship‹ angereizt. Es geht nicht mehr darum, institutionelle Regeln einzuhalten, sondern sie durch individuelle Investitionen in das ›social capital‹ zu überschreiten. Das ›moral commitment‹ der Gesellschaft ändert sich, indem mehr oder minder nur diejenige Moral zugelassen wird, die am ehesten dafür sorgt, dass sie nicht in Anspruch genommen zu werden braucht. Wir können es auch so formulieren: die Moral ist am effektivsten, die ihre Nachfrager anreizt, dafür zu sorgen, dass sie nicht in die Lage kommen, auf sie angewiesen zu sein. Das sind nicht nur interne Regeln, sondern Kriterien für Entwicklung, ohne dass unterschlagen werden kann, welche Investitionen erforderlich sind, um diese Selbständigkeit zu erreichen.

Globalisierung und ›Co-opetition‹ Wenn diese Re-Adjustierungen der Wohlfahrtsprogrammatik vorgenommen wird, ändert sich auch der Blick für das, was interkulturelle Gerechtigkeit heißt. Auch wird die Legitimität von Verteilung überprüft (vgl. Kersting 2000; Schefczyk 2003), und zwar nach ähnlichen Mustern wie im Binnenverhältnis: Welche co-operation haben die Länder anzubieten, denen – traditionell in Form von Entwicklungshilfe – Kapital angeboten wird, in welcher

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Form auch immer? Und wie gelingt die Verschränkung mit competition, ohne spätmerkantile Handelskriege auszulösen, bei der heimische Probleme in Form subventionierter Lebensmittel exportiert werden, geistiges Eigentum gestohlen, fremde Umwelt verschmutzt wird? Die Fragen, die im ›Antiglobalisierungsdiskurs‹ aufgeworfen werden, lassen sich reformulieren, sobald wir die Matrix der Bewegungen, die zusammen die Globalisierung formen, entfaltet haben. Globalisierung der Wirtschaft umfasst vier Entwicklungen: – »die Herausbildung weltweit standardisierter Konsumpräferenzen für immer mehr Güterarten (etwa Autos, Informations- und Kommunikationstechnologien – IuK –, Bekleidung), deren Produktion und Distribution sich damit von vornherein auf nicht weniger als die Welt als Markt bezieht; – die Bereitschaft und die Fähigkeit von Unternehmen, die eigenen Ressourcen mit dem weltweit jeweils fortschrittlichsten F&E-, Produktions- und Distributionswissen anderer Wirtschaftsakteure zu kombinieren, da I) Wissen, vor allem nicht imitierbares Wissen, zur wettbewerbsentscheidenden Ressource geworden ist, II) in immer mehr Sektoren der Wirtschaft die Amortisationszeit für Produkt- und Verfahrensinnovationen schrumpft und III) zunehmend ›Systemleistungen‹, also die Integration verschiedener Produkte und Dienstleistungen zu einem Produkt, vom Markt erwartet werden; – die Entwicklung und Nutzung neuer IuK-Technologien, die sowohl Produkt als auch infrastrukturelle Voraussetzung der soeben skizzierten globalen Transaktionen sind, so wie es der Kanal-, Eisenbahn- und Straßenausbau sowie die Luftfahrt für die Nationalökonomie und deren Internationalisierung waren; – die Herausbildung eines globalen Kapitalmarktes, der nicht nur die Mittel für die enormen Investitionen der soeben skizzierten Transaktionen bereit stellt, sondern auch deren Erfolgsmaßstab ist.« (Wieland 1999a: 11f.)1

Diese vier Entwicklungen bilden den Prozess der (ökonomischen) ›Globalisierung‹; sie hängen zusammen, haben aber jeweils eigenständige Konsequenzen. Die Ausbildung eines einheitlichen Weltmarktes für Konsumgüter lässt weltweit verteilte Produktion über eine weltweit laufende Logistik zu. Die Weltfirma »Nike« z.B. besteht nur noch aus einer kleinen Konzernzentrale und lässt weltweit, jedes Jahr z.T. woanders, produzieren. Sie mietet sich ihre Produktionen dort, wo am kostengünstigsten hergestellt wird. Das wird nicht nur durch Lohnkosten gesteuert, sondern z.B. auch durch

1 | Zu alternativen Listen vgl. z.B. die Aufsätze in Beck (1999) – Wielands Liste ist aber die genaueste. Vgl. auch Hirst/Thompson (1999); Perraton/Goldblatt/ Held/McGrew (1999); Archibugi/Howells/Michie (1999), aber auch de Soto (2002), Dollar/Kray (2002) und Priddat (2000b).

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206 | Birger P. Priddat Wechselkursdifferenzen. Durch solche Strategien werden lokale Beschäftigungslosigkeiten erzeugt, mit Folgen für die nationale Sozialpolitik. Die Globalisierung der Produktion entwickelt auch neue Organisationsformen wie Fusionen, Strategische Allianzen, Joint Ventures, Netzwerke, Franchisingverträge etc. Die Wertschöpfungskette wird international neu geknüpft, und ist nicht nur marktgesteuert-kompetitiv (wie auch Willke unterstellt [Willke 1997: 235f.]), sondern es wird ihr parallel ein kooperatives Muster eingewoben (Jansen/Schleissing 2000). Kapital wird international; keine dieser global agierenden Firmen kann eindeutig noch einem ›Mutterland‹ zugeordnet werden (vgl. Hirst/Thompson 1999: 91f.). Die Mitglieder dieser Organisationen sind weltweit verteilt. Die alte Nationalökonomie oder Volkswirtschaft hat ausgedient. Wir sind gewohnt, noch in folgendem Schema zu denken: national produzieren, international verkaufen. Unsere bisherigen Form der Internationalisierung waren Export und Import (und entsprechende Handelsbilanzen). Als ›Exportweltmeister‹, wie wir uns titulierten, waren wir Deutschen in der Vorstellung groß geworden, dass damit der Reichtum unserer Nation gestärkt wurde. Der indirekte Nutzen der Exportstrategie war die Stärkung unserer kulturellen Identität, die wir über unsere ›Wirtschaftsmacht‹ definierten. Das hatte Folgen für die Definition der ›Wirtschaftsmacht‹, wie aber auch für die kulturelle Identität, die nicht als eigenständiger Begriff, sondern als Schattenprodukt der ›Exportmacht‹ entstand. Doch hat sich innerhalb dieses Diffusionsprozesses ein neues Muster herausgebildet: – die Wirtschaft muss ihre internationale, globale Wettbewerbsfähigkeit auf Waren- und Kapitalmärkten beweisen, und – sie muss ihre Kooperationsfähigkeit zwischen den Organisationen der Wertschöpfungskette entwickeln. »Nur wer im globalen Markt bestehen kann, ist auch ein gesuchter Kooperationspartner für globale Wertschöpfungsketten. Nur wer kooperationsbereit ist und -fähig ist, kann jenen Zugriff auf innovatives Wissen, weltweite Vertriebskanäle und Kapitalmärkte organisieren, der notwendig ist, um in globalen Märkten Konkurrenzfähigkeit zu erreichen.« (Wieland 1999b: 19; vgl. auch Dosi 1999)

Hier entsteht ein neues Ordnungsmuster, das nicht mehr mit den nationalstaatlichen Konzeptionen vergleichbar ist, aber auch nicht mit reiner marktwirtschaftlicher Konkurrenz. Innerhalb der Globalisierung, die von vielen als der ›große Ausbruch des Kapitalismus‹ aufgefasst wird, d.h. als der Exzess der Märkte und ihrer Konkurrenz, entsteht eine Anforderung an Kooperation, die ein mitlaufendes Gegenprogramm zu wettbewerblichen Strukturen darstellt. Die Kooperation der vielen internationalen und differenten Organisa-

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tionen entlang der Wertschöpfungskette: innerhalb von Fusionen, von Netzwerken, Allianzen etc., ist eine neue Anforderung, jedenfalls in der neuen Dimension, die die Globalisierung einführt. Märkte koordinieren Handlungen im Wettbewerbszusammenhang; weltweite Organisationen kooperieren intern wie extern, um im globalen Wettbewerbszusammenhang erfolgreich zu bleiben. Es reicht nicht mehr aus, die weltweite Wirtschaft als globale Marktund Wettbewerbsdiffusion zu beschreiben, weil man dann das zunehmend wichtigere Moment der Kooperationsanforderungen außer Acht ließe, das eine Nicht-Wettbewerbsdimension entfaltet, die nicht mehr als Markt-, sondern als inter- und intraorganisationale Dynamik notiert werden muss. Die neue Dynamik ist ein Parallelprozess von Wettbewerb und Kooperation: co-opetition (vgl. Jansen/Schleissing 2000). In diesen Kontext gehören die Netzwerkorganisationen (vgl. Castells 2001a/b; Lovink 2002) und, weiter gefasst, die Zusammenarbeit mit Akteuren wie NGOs (vgl. Klein 2001). Statt einer Aufteilung der Welt in ›privat versus öffentlich‹ herrscht in der neueren Politphilosophie-Debatte eine Dreiteilung vor in Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Doch dabei handelt es sich nicht, wie Michael Walzers Werk »Spheres of Justice« suggerierte, um disjunkte Mengen, in denen jeweils eigene Gerechtigkeitslogiken walten und miteinander inkommensurable Kommunikationsstile herrschen. Die drei Begriffe und die dazugehörenden Logiken markieren vielmehr Ideale, die spezielle Interaktionsmuster beschreiben. In der Realität mischen diese sich, in Bezug auf Handlungen und auf moralische Ansprüche: Auch Wirtschaft braucht Vertrauen, in der Zivilgesellschaft muss auch Wettbewerb herrschen, an den Staat werden Effizienskriterien angelegt etc. Zwar macht es Sinn, das jeweilige Ideal als vorherrschendes Profil beizubehalten – aus einem börsennotierten Unternehmen soll keine Wohltätigkeitsorganisation entstehen, aus einer Kirche kein schlichter Sinnvermittlungsbetrieb … (vgl. Karitzki 2000). Ihre spezielle Kontur gewinnen die Akteure aber durch die Beimischung anderer Medien zu ihrem Basal-Steuerungsinstrument (z.B. Geld plus reichlich Vertrauen plus etwas bürokratische Regelgebundenheit plus eine Prise Identitätsstiftung). Globalisierung heißt hier dann auch Reformulierung der Konkurrenz/Kooperations-Matrix. Das ist eine andere Bewegung als die der bisherigen 1./3. Welt-Beziehungen, die entweder als Geber-Empfänger- oder als Täter-Kolonialopfer-Relation eingeführt ist. Dennoch sind beides cross-culture-Relationen; beide haben Gerechtigkeitsthemen. Bei der normativen Bewertung der aktuellen globalen Ungleichheit stehen sich mehrere Lager mit unterschiedlicher Sicht der Realität reichlich sprachlos gegenüber: Geht es »nicht um einen fairen Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten […], auch nicht um eine faire Verteilung der Kooperationsgewinne und Kooperationslasten, sondern um menschenrechtliche Solidarität und allgemeine Subsistenzsicherung« (Kersting 2002: 110)? Oder geht

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208 | Birger P. Priddat es um Ebnung des »very uneven playing field«?2 Oder ist jeder Versuch, die Welt als Ganzes gerechter zu gestalten, vergebene Liebesmüh, die dialektisch das Gegenteil des Intendierten bewirkt, die Behübschung eines untergangswürdigen globalen Empire?3 Schauen wir uns drei Vorschläge an, die soziale Institutionen als gestaltungsfähig und -notwendig ansehen, die sich somit gegen laissez-faire ebenso verwahren wie gegen jede Verschwörungstheorie. Alle drei sind keine vollständigen Theorien globaler Gerechtigkeit, beleuchten vielmehr unterschiedliche Aspekte des Themas von unterschiedlichen Warten aus. Es gibt hier aber keine gravierenden Gegensätze, die nicht jeweils theorieimmanent geheilt werden könnten. Alle drei Konzeptionen verstehen sich selbst als liberal, interpretieren Freiheit aber je anders und weisen ihr einen unterschiedlichen Platz zu. Der ›Feind‹ ist mehr in der Realpolitik, im Geiz der Besitzenden und in der Lethargie der Abhängigen zu suchen als im Felde akademischer Gelehrsamkeit.

Gerechtigkeit I: John Rawls – moralische und ökonomische Austerität Nachdem der Sozialismus als reale politische und wirtschaftliche Alternative zur Marktwirtschaft – vorerst – verschwunden ist, findet in der akademischen westlichen Welt das Ringen um die philosophische Begründung für eine gerechte Zuteilung von Lebenschancen und Einkommen vornehmlich unter der generellen Akzeptanz von Marktwirtschaft und Demokratie statt. In den letzten Jahren wurde dieser Diskurs hauptsächlich vom Liberalismus und vom Kommunitarismus beherrscht. Die letztgenannte Strömung ist von einem der Protagonisten, Amitai Etzioni, charakterisiert worden als »Bewegung für eine bessere moralische, soziale, politische Umwelt. Kommunitarier wollen Einstellungen verändern und soziale Bande erneuern, wollen das öffentliche Leben reformieren.«4 Der normative Rückgriff des 2 | Soros (2002: 5). Ähnlich Stiglitz (2002), der aufzeigt, wie Sonderinteressen einiger Branchen in den OECD-Ländern weltweit über Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank oder die Welthandelsorganisation durchgesetzt werden. 3 | Vgl. Hardt/Negri (2000: 36). So schwebend die Begründungszusammenhänge in diesem Werk auch sind (was genau ist dieses Empire … – eine virtual entity?), so konsequent sind doch die Forderungen nach einem Weltbürgerrecht und einem garantierten Einkommen für alle (ebd.: 396-403), die Anhänger kosmopolitischer Positionen gerne vermeiden, ohne überzeugend zu begründen, warum. 4 | Etzioni (1995: 277, Hervorhebung durch die Autoren). Es gibt ein vierstufiges Schema der Verantwortlichkeit hin zu einer neuen öffentlichen Moral: Familie, Schulen, soziale Netzwerke (Nachbarschaften etc.), Gesellschaft (ebd.: 278).

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Kommunitarismus auf gewachsene Sozialstrukturen erschwert es allerdings, ein kohärentes Modell zu finden, mit dem etablierte Institutionen kritisiert werden können. Insbesondere Experten aus Entwicklungsländern und nahe stehenden Nichtregierungs-Organisationen, die oft eine sehr fundamentale Kritik am derzeitigen System der Weltwirtschaft in die öffentliche Debatte einbringen und mehr als nur graduelle Veränderungen fordern, wird man mit Rückgriff auf die kommunitaristische Position nur schwer gerecht (auch wenn inhaltlich durchaus ähnliche, an das Subsidiaritätsprinzip angelehnte Sichtweisen vertreten werden können). Ein Denkmodell, mit dem gerade das erreicht werden soll, ist vor über 30 Jahren von John Rawls mit dem Konstrukt des Urzustandes entwickelt worden: Risikoaverse Repräsentanten einer Gesellschaft beschließen Prinzipien der Gerechtigkeit ohne Kenntnis der Position, die sie selber, nach Lüften des Schleiers des Nichtwissens, einnehmen werden. In den 1990er hat Rawls dieses Modell auf die Welt als Ganzes ausgedehnt und ist dabei in der Fachwelt auf nahezu geschlossene Ablehnung gestoßen.5 Der Urzustand, der Unparteilichkeit garantieren soll, ist aber nach wie vor sinnvoll, weil er Normenfindung anschaulich, damit nachvollziehbar, damit überzeugend macht: Grundlagen für Verbindlichkeit. Was würden Menschen als gerecht empfinden, wenn sie bei der Formulierung ethischer Prinzipien, die sie für und gegen sich gelten lassen wollen, nicht heimlich auf ihre eigene – aktuelle und antizipierte – Situation schielen könnten? Wie die entsprechende Frage für den Fall globaler (Verteilungs-)Gerechtigkeit aussehen muss, ist nicht selbstverständlich, sondern transportiert eine Auffassung über bestehende Kausalzusammenhänge in der Welt. Wie würden Menschen Gerechtigkeit formulieren, wenn sie nicht wüssten, ob sie als Sohn wohlhabender US-Ostküsten-Akademiker, weiß, mainstreamchristlich, wohlerzogen, PISA-plus gebildet, zur Welt kämen, oder als Tochter einer ethnischen Minderheit in einem armen afrikanischen Land, in dem die finanzielle Trennlinie zwischen Mittel- und Unterschicht durch die Differenz ›arm versus elendig‹ markiert wird und Hoffnung auf Besserung nicht besteht? 5 | Der »justice industry« (Brown 2000: 131) war das ursprünglich 1993 verfasste, 1999 in wesentlichen Punkten überarbeitete »Law of Peoples« nicht rawlsianisch genug, weil es das Differenzprinzip mit der Forderung nach Maximierung der Aussichten der worst-off nicht auf die ganze Welt ausgedehnt hat; Vertretern eines machtorientierten Realismus wird immer noch zuviel Ethik enthalten gewesen sein. Vgl. zu der ursprünglichen Gerechtigkeitstheorie Rawls (1999a – überarbeitete Version der Originalfassung von 1971, allerdings keine Änderung im Vergleich zur deutschen Übersetzung von 1975), für Weiterentwicklungen und Klarstellungen Rawls (1998 und 2001), für die Übertragung auf das Völkerrecht Rawls (1996 und 1999b). Für eine Darstellung und Kritik der Politikrichtung des Realismus vgl. Laubach-Hintermeier (1998).

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210 | Birger P. Priddat Oder: Welche Prinzipien würden Vertreter von Nationen in einem Urzustand wählen, wenn sie wüssten, dass alle wesentlichen Fragen der Gerechtigkeit bereits in ihren Heimatländern zufriedenstellend abgehandelt wurden und es nur noch darum geht, wenige Aspekte der Zwischenstaatlichkeit unparteilich zu beschließen? Für die erste Variante hat sich der Begriff »kosmopolitischer Urzustand«, für die andere Sicht »Urzustand zweiter Ebene« eingebürgert. John Rawls vertritt die letztgenannte Version. Die Grundidee ist dabei, dass die großen Übel der Menschheit wie Kriege, Hungersnöte, Unterdrückungen aller Art »eventuell«6 verschwinden werden, wenn gerechte, zumindest aber anständige Basisinstitutionen etabliert sind. Der Begriff der Anständigkeit verweist auf ein Hauptanliegen im »Law of Peoples« und zugleich auf einen Punkt wesentlicher Kritik: Die acht Prinzipien internationaler Gemeinschaftlichkeit7 werden zwar zunächst vom Standpunkt liberaler konstitutioneller Demokratien als Leitidee für deren Außenpolitik entwickelt, doch sollen sie auch für »anständige« Nationen akzeptabel und damit verbindlich sein. Diese sind nicht liberal, achten aber gewisse basale Menschenrechte8, behandeln ihre Bürger als verantwortliche und koope6 | Rawls (1999b: 7). Diese Einschränkung unterscheidet Rawls’ Ansatz von vielen, aus ähnlicher Intuition heraus geschriebenen Konzeptionen: Auch die Existenz vollkommen gerechter Institutionen garantiert keineswegs einen »ewigen Frieden«, wie Kant ihn teils hoffnungsvoll, teils ebenso skeptisch programmatisch ausgearbeitet hat (und wie er immer wieder von Rawls als Referenz zitiert wird) – auch innerhalb gerechter Institutionen besteht die Gefahr unerwünschter Ergebnisse, wenngleich mit geringerer Wahrscheinlichkeit. Wer sich aber wie Rawls als Liberaler versteht, schätzt Freiheiten hoch und akzeptiert deshalb auch die Möglichkeit von deren Missbrauch, wenn die Alternative wäre, auf Freiheiten zu verzichten. 7 | Vgl. Rawls (1999b: 37). Die Prinzipien eins bis fünf und sieben, bei denen es um die Gleichheit und Souveränität von Völkern, ihre Pflicht zur Vertragserfüllung sowie Rechte und Pflichten bei Kriegen geht, lehnen sich an Ausführungen in der Theorie der Gerechtigkeit an (Rawls 1999a: 332). In dieser Deutlichkeit neu und daher besonders zu beachten sind die Prinzipien sechs (Völker müssen Menschenrechte beachten) und acht (Völker haben die Pflicht, anderen Völkern zu helfen, die unter ungünstigen Bedingungen leben, die sie davon abhalten, eine gerechte oder anständige politische und soziale Ordnung zu haben). 8 | Es sind dies die Rechte (1) auf Leben (im Sinne von Existenz und Sicherheit), (2) auf Freiheit von Sklaverei, Leibeigenschaft und gewaltsamer Unterdrückung sowie ein hinreichendes Maß an Gewissensfreiheit, um Religions- und Gedankenfreiheit sicherzustellen, (3) auf persönliches Eigentum, (4) auf formale Gleichheit in dem Sinne, dass Gleiches gleich behandelt wird (Rawls 1999b: 65). Rawls betont, dass diese Rechte universal sind und nicht auf westlichen Traditionen beruhen, und tatsächlich fehlen Rechte wie Presse-, Versammlungs- oder Gewerbefreiheit; allerdings wirkt die Aufnahme des Rechts auf persönliches Eigentum in diese Liste basa-

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rierende Mitglieder von repräsentativen Gruppen, ihr Rechtssystem wird von einer gemeinsamen Idee der Gerechtigkeit geleitet, und sie sind nicht aggressiv gegen andere Staaten, weshalb sie in die Kategorie der »wohlgeordneten Gesellschaften« fallen. Letzteres impliziert, dass liberale Gesellschaften nicht versuchen dürfen, jene decent societies zu liberalisieren, beispielsweise über Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds wirtschaftlichen Druck ausüben. Zwar widersprechen die Basisinstitutionen anständiger Staaten vielen liberalen Prinzipien, zum Beispiel nur eingeschränktes statt gleiches aktives und passives Wahlrecht, informelle Debattenkultur statt transparente Gesetzgebungsverfahren unter einer abstrakten rule of law und dergleichen. Dennoch sind aus Rawls’ Sicht diese Institutionen nicht so schlecht, dass jene Nationen wie aggressive »outlaw«-Staaten aus Gründen des Selbstschutzes bekämpft werden dürfen oder ebenso wie die »belasteten Gesellschaften« Hilfe brauchen. Diese duty to assistance, die zu leisten die wohlgeordneten Völker verpflichtet sind, ist aber nur eine Hilfe zur Selbsthilfe: Sobald ein Land liberale oder anständige Institutionen hat, versiegt der Zahlungsstrom aus anderen Staaten. Wir haben es mit einem empowermentKonzept zu tun. Ein Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern ist nicht beabsichtigt. Ob er erwünscht ist, bleibt unklar. Die Kritik an diesem Denken, Gerechtigkeit global zu formulieren, ist umfangreich – die wesentlichen Punkte führen über den Zwischenschritt eines verbesserten Nationenurzustandes zum kosmopolitischen Gegenmodell. Warum sitzen beispielsweise nicht Vertreter aller Nationen am Tisch, wenn doch ein für alle Nationen verbindliches Völkerrecht entworfen werden soll? Man mag den Ausschluss aggressiver Staaten noch rechtfertigen können, aber was ist mit belasteten Völkern, die materiell oder kulturell zu arm sind, sich funktionierende Institutionen leisten zu können: Warum nehmen diese nicht, gemeinsam mit den anständigen und liberalen, von Beginn an an den Verhandlungen im Urzustand zweiter Ebene teil? Der Nachweis, dass die von liberalen Nationen entwickelten Prinzipien von den anständigen akzeptiert werden können (die anderen werden gar nicht gefragt), ist nicht ausreichend; berücksichtigte man die Wünsche und Vorstellungen aller wohlgeordneter Staaten von vornherein, so hätten ebenfalls akzeptable, gleichwohl aber andere Prinzipien entwickelt werden können. Der Urzustand ist zwar keine reale Zusammenkunft wie etwa die UNO-Vollversammlung, sondern lediglich ein Gedankenexperiment, um eigensüchtige Hintergedanken bei der Formulierung einer politischen Ethik durch den Schleier des Nichtwissens auszuschließen. Doch dieses Gedankenexperiment soll Menschen – im Sinne einer von Rawls angestrebten ler Menschenrechte deplaziert: Dessen Negierung macht eine Gesellschaft weder nach außen hin aggressiv, noch verletzte dies Bedingungen, die einen Menschen zu einem moralischen Wesen machen.

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212 | Birger P. Priddat »realistischen Utopie« (Rawls 1999b: 11-23) – zu gemeinsam getragenen Prinzipien führen, die aufgrund der von allen empfundenen Verpflichtung9 diesen Prinzipien gegenüber zu einer sich selbst verstärkenden Stabilität führen. Wie soll aber bei den von Rawls als anständig charakterisierten Nationen in der realen Welt jenes Verpflichtungsgefühl aufkommen, wenn man ihnen lediglich erklärt, dass ein von anderen beschlossenes System für sie akzeptabel ist, ihre möglichen Einwände aber nicht einmal bedacht worden sind? Das Gefühl der Ohnmacht, Unterdrückung und Exklusion, das viele Menschen aus wirtschaftlich unterentwickelten Ländern in der realen Welt haben, findet seine Entsprechung in Rawls’ Theorie globaler Gerechtigkeit. Sinnvoller (und nach wie vor mit einer kollektivistischen Denkweise kompatibel) wäre es, die Vertreter wüssten zwar, dass sie Nationen vertreten, aber nicht, ob diese wohlhabend oder bedürftig sind, groß oder klein, eine lange Geschichte besitzen, sich gerade erst konstituiert haben oder als potentielle Nation (vgl. Gellner 1991: 69-75) noch in der Warteschleife sind und das Gut ›Souveränität‹ durch Anerkennung der anderen Nationen erst noch erlangen wollen. Der methodologische Kollektivismus, mit dem Rawls sein »Law of Peoples« konzipiert hat, erzwingt nicht das von ihm gewählte Vorgehen: Eine konsistentere Begründung wäre auch methodenimmanent möglich.

Gerechtigkeit II: Thomas Pogge – Verantwortung globalisieren Diese ist zwar konsistenter – aber nicht angemessen angesichts der bestehenden Weltordnung, bei der globale Strukturen das Leben von Menschen weltweit direkt beeinflussen, würden Anhänger eines kosmopolitischen Urzustandes einwenden. So sieht zum Beispiel Thomas Pogge die Ursache weltweiter Armut vor allem darin, dass den Menschen aus wirtschaftlich unterentwickelten Ländern ein zu geringes finanzielles Ergebnis aus dem internationalen Handel mit Rohstoffen verbleibt – bedingt 1. direkt durch einseitig durchgesetzte, dennoch gemeinsame globale Institutionen, die die armen Länder gegenüber den reichen benachteiligen, beispielsweise den entschädigungslosen Ausschluss von der Nutzung wichtiger Rohstoffe; 2. indirekt durch das Erbe einer ungünstigen Geschichte, bei der die heute 9 | Vgl. Rawls’ Ausführungen für den Fall heimischer Gerechtigkeit (2001: 102-103): »[T]he parties are seen as making an agreement; it is not simply that they each separately make the same choice. An agreement must be made in good faith […]. But if we make an agreement, we have to accept the outcome and live with it in accordance with our pledge as given.«

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armen Länder durch Kolonialisierung und Versklavung in eine schlechte Ausgangslage manövriert worden sind; 3. ebenfalls indirekt, wenngleich mit verheerenden Effekten, sind das internationale Ressourcen- und Darlehensprivileg, das es einer herrschenden Elite in wirtschaftlich unterentwickelten Ländern erlaubt, die Rohstoffe eines Landes auf den Weltmärkten zu verkaufen beziehungsweise dort Kredite aufzunehmen, ohne dass die Einnahmen daraus notwendigerweise bei den leidenden Menschen ankommen (vgl. Pogge 1998, 2001a). Die faktische (und oftmals rechtliche) Anerkennung dieses Privilegs durch die reichen Länder als Handelspartner – zum Tango gehören immer zwei – verhindert einen Demokratisierungsprozess in den unterentwickelten Ländern, erlaubt es Despoten doch, mit den Erlösen aus dem Rohstoffhandel die Macht zu behaupten beziehungsweise gibt überhaupt erst den Anreiz, diese anzustreben. Und Demokratie bedeutet zwar nicht automatisch Wohlstand, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung und einer fairen Verteilung. Normative Grundlage dieser Argumentation ist die »negative Verantwortung«: Nicht weil es den Menschen in den Industrieländern so gut geht und es für sie ein Leichtes wäre, den Armen zu helfen, sind die Wohlhabenden zu einem Nettovermögenstransfer verpflichtet, sondern weil sie – als Konsument, als Wähler – eine Weltordnung mit aufrechterhalten, die eine radikale Ungleichheit in der Welt erzwingt (vgl. Pogge 1998: 325-330). Wie können die Bessergestellten dieser Erde ihrer Verantwortung gerecht werden? Die Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, aber die schlechte Ausgangslage ließe sich beheben – Pogge schlägt die Einführung einer globalen Ressourcendividende (GRD)10 vor. Konkret sollen drei Ziele erreicht werden: (1) die Bekämpfung absoluter Armut, die eine Versorgung der betroffenen Menschen mit den für ein Überleben notwendigen Gütern verhindert; (2) die Reduzierung der relativen Armut, die bewirkt, dass sich die Bewohner von Ländern mit geringem Bruttosozialprodukt pro Kopf als Bürger zweiter Klasse in der Welt fühlen, selbst wenn eine Basisversorgung mit lebenswichtigen Gütern sichergestellt ist; (3) eine Verbesserung des Umweltschutzes, von dem alle Menschen weltweit, vor allem aber die Bewohner ohnehin unterprivilegierter Länder profitieren, die Bodenerosion, Versteppung, vermehrte Sturmfluten 10 | Vgl. zur Beschreibung Pogge (1998, 2001b), für eine philosophische Kritik und Verweis auf verschiedene Zielkonflikte und Umsetzungsschwierigkeiten Karitzki (2002).

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214 | Birger P. Priddat und dergleichen mangels Finanzkraft nicht adäquat kompensieren können. Die Funktionsweise der GRD: Jedem Land verbleibt die Verfügungsgewalt über die Rohstoffe, die auf seinem Territorium lagern.11 Werden diese allerdings gefördert – für den eigenen Verbrauch oder zum Export – und in den Wirtschaftskreislauf eingeführt, so ist darauf eine Abgabe abzuführen: für jeden Barrel Rohöl beispielsweise 2 USD. Besteuert werden sollen alle natürlichen Rohstoffe, also Erze, Edelmetalle, Edelsteine, Erdöl und Gas, aber auch die Verschmutzung von Luft und Wasser oder Landverbrauch für Agrarwirtschaft und Hausbau. Die Höhe der Abgabe muss nicht konstant sein: Zum einen hält Pogge es für sinnvoll, zu Beginn einen höheren Betrag zu verlangen, als wenn das System schon einige Zeit etabliert ist,12 zum anderen variiert die GRD zwischen verschiedenen Rohstoffarten: Unwiederbringlich zerstörte Ressourcen wie Erdöl werden höher besteuert, für nachwachsende Rohstoffe wie Holz ist weniger zu zahlen. Die Einnahmen der GRD sollen für eine Verbesserung der Situation jener Menschen verwendet werden, derentwegen diverse UN-Organisationen regelmäßig Armutskonferenzen abhalten – über die Art der zu fördernden Projekte und die Kanäle, über die das Geld fließen soll, wird fallweise von einer zentralen GRD-Agentur (in der Art der Weltbank) entschieden mit dem Ziel, den unterprivilegierten Menschen und nicht korrupten Eliten zu helfen. Pogge will eine Umverteilung zwischen reichen Konsumenten und den Mittellosen in armen Ländern erreichen. In gleiche Richtung, aber radikaler zielt Andrew Kuper mit seiner Forderung nach Schaffung eines »Cosmopolitan Law of Persons«, denn »the interests of all human individuals and those of the same persons assumed to be grouped as members of states do not necessarily coincide and that we may come to have good reason to jetti11 | In neueren Arbeiten schränkt Pogge (2001a) dies aber insofern ein, als dass er fordert, nur demokratisch legitimierte Regierungen dürften über die jeweiligen Ressourcen verfügen, um die negativen Folgen für den Demokratisierungs- und damit wirtschaftlichen Gesundungsprozess armer Länder, die das internationale Ressourcen- und Darlehensprivileg verursacht, zu vermeiden. 12 | Vgl. Pogge (1998: 341) – motiviert ist diese Forderung durch die Notwendigkeit, die elendige Situation armer Menschen möglichst schnell zu ändern: Dafür sind zu Beginn große Geldmengen erforderlich. Allerdings erhöht diese Vorgehensweise die Gefahr einer Schockreaktion der Weltwirtschaft – vergleichbare Varianten nationaler Ökosteuern werden aus gutem Grund Schritt für Schritt eingeführt, damit die Wirtschaftsakteure sich auf die veränderten Knappheitssignale einstellen können. Das Nebenziel solcher nationaler Steuerpolitik, das allgemeine Vertrauen in die Wirtschaftspolitik durch deren Berechenbarkeit zu erhalten, ist im internationalen Fall allerdings zumindest diskussionswürdig: Gibt es schutzwürdige Interessen in einem System, wenn dieses als insgesamt ungerecht eingestuft wird?

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son thin statism in favour of a global original position that represents all the persons of the world.« (Kuper 2000: 647)13 Er illustriert dies mit einem Beispiel zur Migration, die von Vertretern reicher wie unterentwickelter Staaten aus Staatsinteresse begrenzt werden müsste (um eine Senkung des vorhandenen Wohlstandes bzw. um einen ›brain drain‹ zu verhindern), wohingegen Vertreter von Individuen sich für ein relativ umfassendes Migrationsrecht einsetzen würden, wüssten sie bei Entscheidungsfindung nicht, ob sie später einmal selbst in die Lage geraten könnten, ihr Heimatland verlassen zu müssen. Die Reichweite dieser Kritik ist aber unklar: Sollen Grenzen gar nicht mehr beachtet werden, darf sich ein jeder Mensch auf der Erde niederlassen, wo er will, auch in Gemeinwesen, an deren mühevollen Aufbau er nicht beteiligt war und die er aufgrund fehlender spezifischer kultureller Kompetenz nicht mit erhalten kann? Menschen wandern – außer in akuten Notsituationen – ja nicht nur aus, um von einem Ort wegzukommen, sondern auch, weil sie zu einem Ort hinwollen, der ihnen lebenswerter erscheint: und das nicht wegen der reinen Naturschönheit, sondern wegen eines besseren Institutionensystems, das Schutz und Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Wenn aber solche Institutionensysteme einen Wert haben und nicht ein freies Gut sind, muss die Partizipation daran gerechtfertigt werden – ein Verweis auf ein Bedürfnis reicht dann nicht aus. Die Vertreter beider Lager haben jeweils mit Problemen zu kämpfen, die aus der Wahl ihrer Methode herrühren. Rawls diskutiert die Rechte und Pflichten von Völkern und grenzt sich damit von der Theorierichtung des Realismus ab, die (aktuelle) Staaten als Basis ihrer Argumentation nimmt. Doch die gleiche Kritik, die er selbst gegen den Realismus vorbringt, lässt sich auch gegen ihn wenden: Wieso Völker, nicht Schichten, Klassen, Lebensstilgruppen – oder eben Einzelpersonen?14 Rawls’ Position ist nicht per se unvernünftig, doch sie ist nicht hinreichend begründet – vor allem fehlen jegliche Hinweise darauf, welche Gruppe von Menschen sich als Volk deklarieren und damit bestimmte Rechte für sich in Anspruch nehmen darf, und welche Gruppe von Menschen sich mit dem Status einer ›nationalen Minderheit‹ begnügen muss.15 13 | Grundlegend für diese Position: Beitz (1979: insb. 143-153). 14 | Vgl. für Positionen, die die Irrelevanz von Nationen behaupten, Buchanan (2000) und van Creveld (1999: 371-463). 15 | Rawls (1999: 23) nennt zwar drei Eigenschaften, die ein liberales Volk üblicherweise hat (eine einigermaßen gerechte demokratische Regierung; Bürger, die durch gemeinsame Sympathien verbunden sind; eine moralische Natur), doch beschreibt er damit mehr Staaten als Völker – staatenlose Völker mindestens haben keine Regierung, und vielen Völkern wird man die Existenz als Volk nicht absprechen können, auch wenn ihre Führung beileibe nicht auf demokratischem Wege installiert worden ist. Genauer in Karitzki (2004).

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216 | Birger P. Priddat Aber selbst wenn man diese Erklärungen nachreicht, bleibt unklar, wie er die ungleichen Startchancen egalisieren will, mit denen verschiedene Nationen offensichtlich in den internationalen Handel eintreten. Die Beispiele, mit denen er arbeitet, suggerieren, es gäbe nicht nur einen hypothetischen Urzustand als Gedankenexperiment, sondern es existiere ein realer Nullpunkt in der Geschichte, der als gerecht anzunehmen ist, und von dem ausgehend man im Sinne einer Verfahrensgerechtigkeit Umverteilungen ablehnt. Diese an John Locke und Robert Nozick angelehnte Auffassung verträgt sich aber nicht mit der Grundströmung seiner sämtlichen Werke: Unverdiente Vorteile sind auszugleichen, und unverdient ist jede Startposition, die jemanden ohne eigenes Zutun in eine bessere Lage versetzt als Vergleichspersonen, unabhängig vom Zustandekommen dieser Lage in der Vergangenheit. Die Ansätze von Pogge und Kuper scheinen von solchen Problemen befreit zu sein: Während man begründen muss, warum man aus der Vielzahl der Unterteilungsmöglichkeiten der Menschheit gerade jene in Völker wählt, ist der Rückgriff auf Individuen offensichtlich: Gruppenzugehörigkeiten sind konstruiert, Individuen aber ›real‹. Doch diese Sichtweise birgt andere Schwierigkeiten: wieso sollen nur Arme in Entwicklungsländern, nicht aber beispielsweise Obdachlose in Europa oder ›working poor‹ in den USA Zahlungen aus der GRD erhalten, am besten direkte Zuwendungen statt der Förderung von Institutionen, die (auch) öffentliche Güter produzieren, von denen die Wohlhabenden nicht ausgeschlossen werden können? Mit der möglichen Begründung für den Ausschluss von armen Menschen in reichen Staaten, die Industrieländer seien reich genug, diese Probleme ohne Griff in eine Solidaritätskasse zu lösen, näherte sich Pogge Rawls’ Sicht, »the crucial element in how a country fares is its political culture – its members’ political and civic virtues – and not the level of its resources« (Rawls 1999b: 117).16 Auch verkennt ein strikter methodologischer Individualismus, so er auf die Begründungsleistung von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit rekurriert, dass dort im Idealteil des Urzustandes Familienlinien, bei der Ausformulierung des Differenzprinzips Schichten vertreten sind, nicht Einzelpersonen. Begreift man hingegen die GRD als eine Art Gebühr für die Nutzung des nur durch gemeinsame Anstrengung aller Länder errichteten Weltwirtschaftssystems, so muss man zudem fragen, wieso gerade die Länder, die durch Leistungen im ressourcensparenden Tertiärbereich (also Tourismus, Bankwesen, Beratung etc.) besonders wohlhabend sind wie beispielsweise die Schweiz, relativ wenig zur Finanzierung der Armutsbekämpfung beitragen sollen, obwohl gerade diese für ihre Geschäfte auf Frieden und Stabilität in der Welt angewiesen sind.

16 | Ebenso Landes (1999: 494). Vgl. generell Karitzki (2004).

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Gerechtigkeit III: Amartya Sen – Freiheit als Mittel und Ziel Sens Generalthema: Freiheitsentwicklung als Basis für wirtschaftliche und Wohlfahrtsentwicklung. Länder, denen die Freiheit fehlt, sind entwicklungsdefekt. Interkulturell sind ihre Bewohner von Gerechtigkeit ausgeschlossen. Die UNO (unter Kofi Annan) wie die Weltbank (unter James Wolfensohn) sind durch Amartya Sens Konzeption beeinflusst: nicht vollständig, aber angeregt. Im Zentrum seiner Theorien steht das Freiheitsproblem, das zu lösen er als conditio der Lösung von Entwicklungsproblemen ansieht. Hier bietet er eine Inversion bekannter Vorstellungen an: Die Beseitigung gewichtiger Unfreiheiten ist die Voraussetzung für das Gelingen von Entwicklung. Sens Konzeption lässt die schlichteren Wachstums-Entwicklungstheorien hinter sich. Er ist, ohne expliziten Bezug, ein institutional economist. Freiheit beruht auf individuellem freien Handeln, ist aber beschränkt durch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten. Individuelles Handeln und soziale Einrichtungen: Institutionen sind komplementär angelegt. Freiheit und Restriktion (die Macht der Einflüsse) bilden die Basisrelation: Ökonomische wie politische Freiheiten verstärken sich wechselseitig, ebenso soziale Bildungschancen und Gesundheitsfürsorge etc. Sen konzentriert sich auf die Analyse der Verflechtung und Entwicklung von fünf Grundrechten, die er als Freiheitsrechte darlegt: – – – – –

ökonomische Chancen politische Freiheit Existenz Zugang zu sozialen Einrichtungen Gewährleistung von Transparenz und soziale Sicherheit (vgl. Sen 1999: 10f.).

Development as Freedom ist eine andere Entwicklungstheorie, die Sen als Prozess der Erweiterung realer Freiheiten versteht, die den Menschen – als Menschen – zukommen. Das hebt sich ab von Entwicklungstheorien, die auf das Wachstum des Sozialprodukts abstellen oder auf den Anstieg des persönlichen Pro-Kopf-Einkommens (vgl. Sen 1999: Kap. 2). Wachstum dieser Art ermöglicht Freiheit, aber nur der Akteure, die im WirtschaftsWachstumsprozess aktiv sind, an ihm überhaupt teilnehmen können. Sens Ansatz fordert hingegen, Entwicklung als Analyse von Unfreiheiten zu beginnen, um die Entwicklung zu realen Freiheiten einleiten zu können. Unfreiheiten umfassen alle Ungerechtigkeiten. Empirisch sind diese Zustände höchst different; es bedarf genauer Analyse, um Freiheitsstrategien zu entwerfen, die historisch und kulturell geeignet sind.

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218 | Birger P. Priddat Sen wechselt die Leistungsziele der Wirtschaften aus: Nicht ausschließlich Sozialproduktszuwächse, sondern Lebensqualitätssteigerungen. Seine Konzeption rückt die substantiellen Freiheiten ins Zentrum der Analyse und unterbreitet einen Ansatz, der sich auf die Verwirklichungschancen der Menschen konzentriert, bestimmte Dinge zu tun und über die Freiheit zu verfügen, ein von ihnen mit Gründen für erstrebenswert gehaltenes Leben zu führen. Sen sieht seinen Ansatz als Integrator. Er beruht, methodisch ausdrücklich, auf einem pragmatischen Eklektizismus. Sen verwandelt auch den Effizienzbegriff – als Zentralbegriff der Ökonomie – vom Nutzen- in einen Freiheitsterm: »[Die] Bedeutung substantieller Freiheit [besteht] nicht allein bezüglich der Zahl der verfügbaren Wahlmöglichkeiten […], vielmehr ist auch deren Attraktivität in Anschlag zu bringen. […] [Es] lässt sich bei der Erklärung des freiheitsbezogenen Effizienzergebnisses zeigen, dass bei kluger Wahl der Individuen die Effizienz bezüglich des individuellen Nutzens weitgehend davon abhängig ist, ob ihnen angemessene Chancen geboten werden, unter denen sie wählen können. Diese Chancen sind nicht allein dafür ausschlaggebend, was die Individuen wählen, sowie für den von ihnen erlangten Nutzen, sondern auch dafür, welche nützlichen Wahlmöglichkeiten ihnen offenstehen und welche wesentlichen Freiheiten sie genießen.« (Ebd.: 146f.)

Das ist der Kern des Sen’schen Konzeptes, in dem nicht die individuellen Nutzen den Leistungszusammenhang der Wirtschaft definieren, sondern die Nutzen in Kombination mit Freiheiten, die Sen als Angebote von Chancen beschreibt. So sinnvoll Sens Ausweitung des ökonomischen Konzeptes gerade für die Entfaltung von Entwicklungspolitiken ist, so ist es zugleich nicht vollständig ausgereift. Die Chancen sind nicht gleich-gültig, sondern bedürfen der Entwicklung von Vermögen der Menschen, sie tatsächlich nutzen zu lernen. Demnach sind die Bildungsangebote nicht chancentheoretisch einzuführen, sondern wahrscheinlich als ein meritorisch-öffentliches Gut, dem sich keine Familie, kein Kind entziehen darf, um die Fähigkeit zu lernen, Chancen wahrzunehmen und effektiv umzusetzen (vor allem Lesen, Schreiben und Rechnen als minimale Kulturtechniken). Sens Konzept müsste um eine Theorie der basalen Investition in human capital ergänzt werden. Denn die Freiheit, wählen zu können, setzt die Fähigkeit voraus, erkennen zu können, was relevant ist und welche weiteren investment in human capital zu tätigen wären. Ohne dieses Können wird jegliches Sollen obsolet. Armut ist für Sen explizit ein Mangel an Verwirklichungschancen (capabilities), d.h. eher ein (Un)Freiheits- als ein Mangelthema (vgl. hierzu auch Nussbaum 2001). Hierzu hatte Sen, zusammen mit Dreze, bereits früher seine berühmte Hungerstudie veröffentlicht (vgl. Dreze/Sen 1989). Ökonomen haben ein positives Verständnis von Einkommensungleichheit, aber das ist nur ein Aspekt möglicher Ungleichheiten und Ungerechtigkei-

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ten. Sen besteht auf einer Unterscheidung zwischen einkommens- und ökonomischen Ungleichheiten. Es wäre müßig, Sens ausführliche Erörterungen komplexer Beziehungen, die bei der Entwicklungsproblematik eine Rolle spielen, auch nur anzureißen. Doch sind seine Resultate klar: z.B. die Erörterung der Ubiquität der Freiheitsthematik, die es z.B. nicht erlaube, asiatischen Werten eine Sonderrolle zuzugestehen (Sen 1999: 294). Der ›zu große Respekt‹ westlicher Welten vor nicht-westlichen wird ebenso angeprangert wie die Demokratisierung von Gesellschaften als conditio sine qua non der Freiheitsentwicklung eingefordert.17 Das sind alles keine neuen Themen, aber komplex zusammengestellt von einem Ökonomen, der der Ökonomie rät, die Komplexität anzuerkennen und neu strukturierte Ansätze zu fahren. Explizit spricht Sen von der »Notwendigkeit eines vielseitigen Ansatzes« (ebd.: 156), dass bei der Liberalisierung Indiens seit 1991 nicht nur die Rückdrängung von Staatsintervention ein Rolle spielen darf, sondern auch die sozialen Chancen (z.B. auf Grundschulbildung) hätten berücksichtigt werden sollen. Was in Indien versäumt wurde, muss für China wiederum nicht stimmen; dort bedarf es eines anderen Komplexitätsdesigns (vgl. ebd.: 156ff.). Sen hat eine große Matrix neu aufgespannt: diverse Institutionen, die gebildet und verwoben werden müssen, um den Menschen die Chance der Entwicklung ihrer Chancen zu geben. »Entwicklung heißt dann: sich auf die Möglichkeiten der Freiheit ernsthaft einzulassen« (Sen 1999: 353). Das sind scharfe Aussagen, die eine Oszillation zwischen homo rationalis und homo potenialis einleiten, die in der Ökonomie nicht bekannt ist, eher zwischen Ökonomie und Soziologie, falls es dort Diskurse gäbe. Man möchte meinen, Sen schriebe das nächste Stadium der Zivilisationsentwicklungstheorie, die Adam Smith (auf den Sen ausführlich und immer wieder rekurriert) bei der commercial society enden ließ. In der global society entdeckt Sen, dass die commercial society auf der Erde ausgebreiteter ist als die civil society. Was für Smith noch synonym lief, wird von Sen als zum Teil erhebliche Diskrepanz ausgebreitet, mit der Konklusion, die civil society stärker zu entwickeln als die commercial society, um die Lebensstandards zu heben. Sen erweitert den Begriff des einfachen Lebensstandards um den der Fähigkeit. Bernard Williams, ein Philosoph, der Sen kommentiert, fasst hier nach: Welche komplexere Struktur Sen mit diesem Konzept einführe. Williams weist darauf hin, dass verschiedene Bewertungen vorgenommen werden müssen, wenn der Fähigkeiten-Ansatz im Zusammenhang mit dem Lebensstandard in angemessenere Weise zur Anwendung kommen soll

17 | De Soto hingegen betont nur die Bedeutung des Rechtssystems (de Soto 2000). Demokratisierung samt ›rule of law‹ ermutigt aber Unternehmungen aller Art durch die Herstellung von Öffentlichkeit, Transparenz und Information – sie produziert Kreativität.

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220 | Birger P. Priddat (vgl. Williams 2000). Sen stimmt dem, in einem Kommentar des Kommentars, zu. Allerdings stimmt Sen nicht mit Williams überein, wenn dieser die Konzeption des Lebensstandards auf die wirtschaftlichen Interessen von Menschen reduziert. Wenn jemand schwer krank sei, verringert sich sein Lebensstandard, ohne dass dies ausschließlich von ökonomischen Interessen abhänge. Es geht schließlich darum, dass es nicht einfach ist, eine Klassifikation zu entwerfen, in der zwischen Lebensstandard als wirtschaftlichem Interesse und Wohlergehen sinnvoll unterschieden werden kann. Sen plädiert dafür, muss man resümieren, Lebensstandards nicht nur an wirtschaftliche Interessen zu binden. Er konnotiert Entscheidung, Freiheit und Fähigkeit. Die Fähigkeit ist eine Kompetenz, die mit der Extension der Freiheit zunimmt, d.h. in einem erweiterten Optionenraum wählen zu können. Das ist die Quintessenz der Zivilisationstheorie Sens, die er für neue Entwicklungsszenarien ausfaltet: Nicht die Menge der Güterzuwächse, sondern die Zunahme von Fähigkeiten charakterisiert zivilisierte Gesellschaften. Denn jede Fähigkeit ist potentiell eine Problemlösung in einer komplexen Welt. Ohne es so zu thematisieren, leitet Sen ein in eine Theorie der modernen Wissensgesellschaften, wenn wir Fähigkeit als Wissen, Möglichkeiten zu realisieren, übersetzen. Wenn wir Sens Konzept in den laufenden Globalisierungsdiskurs eintragen, verschiebt sich die Betonung von den politischen Freiheiten und Grundrechten der Menschen auf diejenigen Fähigkeiten, die Entwicklungsländer in der global knowledge society in unmittelbare Konkurrenz zu den klassischen Wohlfahrtsstaaten bringt. Sen faltet die Konflikte, die eine Wissensgesellschaftsentwicklung bringt, nicht aus, weil es nicht seine Dimension ist. In China wird die ITBranche genauso gefördert wie die Ausbreitung des Internets, zugleich restringiert durch Verbote von Demokratiediskussionen in den chats. Hier zeigt sich die Brisanz: dass spezifische Fähigkeiten – Bildung, Wissen zu entwickeln – bedeutet, die Demokratisierung von Ländern anderer Herrschaftskonventionen voranzubringen. Wissen kann nicht reglementiert werden, wenn es seine Qualität nicht verlieren soll. Um Anschluss an Globalisierungsszenarien zu bekommen, muss Wissen frei nutzbar bleiben, weil sonst die Ressourcenpotentiale unausgeschöpft bleiben. Moderne Wissensgesellschaften werden politische Kulturgeneratoren: civilizing agencies. Doch geht das bereits über Sens Konzeption hinaus (vgl. dazu Stiglitz 1999).

Freiheit durch Bindung Lord Dahrendorf bestätigt Sens Konzeption zur Hälfte. Das Ziel einer »Politik der Freiheit [sind] die Lebenschancen einer größten Zahl […]. Lebenschancen sind zunächst Wahlchancen, Optionen. Sie verlangen zweierlei; Anrechte auf

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Global Justice. Kapitalismus als ›civilizing agency‹ | 221 Teilnahme und ein Angebot von Tätigkeiten und Gütern zur Auswahl. Menschen müssen wählen dürfen und wählen können. […] Dennoch sind Optionen allein nicht genug. Wahlchancen müssen einen Sinn haben. Das ist aber nur der Fall, wenn sei eingebettet sind in gewisse Wertvorstellungen, die Maßstäbe liefern. […] Auf Lebenschancen bezogen heißt dies, dass Optionen allein nicht ausreichen; sie müssen begleitet werden von Ligaturen […]. Ligaturen sind tiefe Bindungen, deren Vorhandensein den Wahlchancen Sinn gibt.« (Dahrendorf 2002: 33)

Welche Form der Selbstbindung Dahrendorf meint, folgt stante pede: »Die tiefen Bindungen, denen hier das Wort geredet wird, lassen breiten Raum für die Anrechte der Bürger und das Angebot an Wahlmöglichkeiten, zu denen diese Zugang verschaffen. Sie geben Menschen zugleich ein Rüstzeug, um diesem Angebot nicht hilflos gegenüber zu stehen. Sie beenden die Beliebigkeit, ohne dabei in neue Unmündigkeit zu führen. Nur wer aus Festigkeit tiefer, also mehr als modischer Bindungen seine Entscheidungen trifft, kann im vollen Sinn des Begriffs von seinen Optionen Gebrauch machen.« (Ebd: 34)

Dahrensdorfs Vision geht in Richtung der Entwicklung und Forcierung von Institutionen, die Ligaturen bilden. »Politik heißt dabei Politik der Freiheit, also Ligaturen, die Optionen nicht zerstören, sondern kräftigen.« (Ebd.: 36) Doch bleiben auch die Institutionen fragil, wenn sie nicht durch Werte gestützt werden, »von denen wir uns leiten lassen« (ebd: 41). Dahrendorf betrachtet vor allem die Innenseite der Globalisierung: den politischen und sozialen Innenraum der nordatlantischen Staaten. Seine Sorge geht eher auf Haltlosigkeit durch Postmodernismus als auf die Fragen der interkulturellen Gerechtigkeit. Dennoch macht er dazu Aussagen, wenn auch implizite. Die Wahl der Optionen auf der Basis eines festen Wertekanons ist ein klassisches Muster. Variiere die Mittel, wenn die Zwecke fixiert sind. Jede Ligatur, die ja als Wertebindung verstanden werden muss, ist natürlich im internationalen oder cross-culture-Geschäft einerseits ausgangspositionenklärend, zum anderen aber differenzierend. Lediglich kann Dahrendorf, wie Sen, empfehlen, die Freiheit einzuführen, um die Bedingungen selber festlegen zu können, die auch dann gelten müssen. Freiheit ist die Wahl der eigenen Bindung. Der Zustand der Debatte ist unbefriedigend, aber so ist das bei komplexen Themen eben. Daraus ist zumindest ein Hinweis zu gewinnen für den ubiquitären Einsatz der Menschenrechte: Nicht für jeden Preis. Die Diskussion darüber, dass dieses bereits eine Form der mentalen Globalisierung darstelle, ist hilflos gegen die Nach-Frage: wer es finanziere. Hier ändert sich bereits etwas im nordatlantischen Interieur: Neue Formen des Sozialdesigns werden erörtert, neue Grenzziehungen, neue Gerechtigkeiten: social fairness. Wir hatten das für die internen Gerechtigkeitsdiskurse ange-

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222 | Birger P. Priddat deutet: Transformation in die social investment-Debatte, die bei allen sozialen Verträgen nach dem return on investment zu fragen lernt. Die Veränderung geht von Transfers zur Kooperation.

Diversität von Lösungsansätzen Die normativen Ideen globaler Gerechtigkeitslösungen, vor allem die menschenrechtsbasierten, sind längst Gemeingut oder social capital der Welt geworden – aber nicht, weil sich die Menschenrechte durchsetzen, sondern weil sie eine hervorragende Folie bieten für die Forderung nach globaler Umverteilung. Das geschieht nach folgendem Muster: – Das Land A behandelt seine Bürger nach Maßstäben, die in Europa als menschenrechtsinkonform eingestuft werden. Es erfolgt international Kritik. – Die Führung des Landes A fordert dann Geld, weil die Kosten der Durchführung der Aufhebung von Menschenrechtsverletzungen vom Land A nicht aufzubringen seien. – Wenn B nun auf diese Gerechtigkeitsherstellungsforderung eingeht und zahlt, ist unklar, ob das Geld zum Zweck der Aufhebung der Menschenrechtsverletzung verwendet wird oder in die üblichen Konten läuft. – Weil das unklar bleibt, ist es – und hier beginnt der neue Diskurs über globale Gerechtigkeit – zulässig, neue Verträge einzuführen. Wir können bei dieser Argumentation den Ländern A nicht verwehren, die Kosten der Änderung der Rechtssysteme finanziert bekommen zu wollen, aber wir können – anstelle von unspezifischen Finanzierungen – auf Vertragserfüllung bestehen und damit auf Zweckerfüllung. Das hätte zur Folge, Zahlungsabbruch (und Rückzahlungsforderungen) bei Nichteinhaltung der global contracts einzuführen. Wir reden nicht mehr von Ausgleichszahlungen18, sondern von Verträgen, die von Fall zu Fall zu schließen und von beiden Seiten zu erfüllen sind. Nun ist es schwierig, die Leistung zu kontrollieren, aber schwieriger noch wird es, den Bevölkerungen der zahlenden Demokratien B eine global justice anzuempfehlen, die die Budgets benötigt, die intern gerade durch social reform eingespart werden. Es geht hier um neuartige sustainability-Phänomene: wie kommt ein Land A in die Lage, institutionelle Gewährleistun-

18 | Kontrakttheoretisch basieren diese auf einem imaginären Vertrag, den der Westen nicht erfüllt hat, so dass er jetzt nachzahlen muss, mit Zins und Zinseszins. Vgl. für einen kurzen, aber eindrucksvollen Text, der diese Position vertritt, Cuautémoc (1997).

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gen zu bieten, die den Aufbau von Institutionen oder/und ihre Stabilität garantieren, damit B legitim (vor allem wegen seiner Reformlage innenpolitisch legitimierbar) investieren kann. Wir haben es mit mehreren Problemdimensionen zu tun:

Unvollständige Verträge Zahlungen, aber kein monitoring, keine supervision – es herrscht eine systematische Unklarheit. Man weiß inzwischen: Globale Beziehungen sind mehrfach auf rentseeking ausgelegt: Innerhalb der Länder A, deren Eliten sich direkt oder indirekt aus dem Staatshaushalt bedienen, und in den Geberländern B, in denen Interessengruppen darauf achten, dass nur solche global contracts geschlossen werden, die ihre Renten ermöglichen bzw. erhöhen.

Aysmmetrische Marktlösungen Was der ›Globalisierung‹ negativ vorgehalten wird, dass sie alle Kulturen und Gesellschaften nach dem Marktmodell konfirmiere, ist insofern unvollständig, als sich die nordatlantischen Märkte gegen die kostengünstigeren Agrarprodukte der Dritten Welt abschotten. Die Marktöffnung, die wir im Globalisierungstrend den Ländern A empfehlen, gewähren wir ihnen nicht an uns. Wir hintertreiben ihren Marktzutritt (wieder wegen rentseeking z.B. europäischer Bauern). Das wirkt doppelt: Mangelnde Reziprozität macht eine Ethik unglaubwürdig, und dieser Zweifel an dem Sinn eines freien Marktzutritts ist Wasser auf die Mühlen aller Besitzstandswahrer zu Hause. Die Empfehlungen liberaler Wirtschafts- und Wachstumspolitik (vgl. z.B. Altenburg 2001; Dollar/Kray 2002) wirken dann lediglich wie ein Verkaufsförder-Programm, das sich parasitär der Sprache der Moral bedient und Ökonomik nur halb verstehen will. Die harmlos klingende Formel der unvollständigen Verträge bezeichnet ein weitaus größeres Problem: die Heterogenität der Politikformen und ihrer Rechtszustände. Hier laufen Gerechtigkeitsdiskurse schwer und gehemmt, weil die Unterstellung, es gäbe weltweite Normen, fehlt. Wir haben es nicht mit einer Zunahme von Menschenrechtskonventionalität zu tun, sondern mit der Zunahme der Auszahlungen in deren Namen. Das global justiceThema ist rentseeking-sensibel, d.h. ausbeutbar. Da wir die Verträge nicht auf Erfüllung prüfen, wissen wir nicht, wofür tatsächlich gezahlt wird: für den Gerechtigkeitsausgleich oder an die in A herrschenden Eliten, die dem Zahler B nichts anderes verkaufen als eine formelle Ausgleichslegitimation, ohne tatsächlichen Ausgleichseffekt. Vielfältig erweisen sich die politischen Zahlungen, die als Gerechtigkeitskompensationen gelten, als Transaktions-

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224 | Birger P. Priddat kosten der Monopolisierung von Marktbeziehungen zwischen spezifischen Handelsgruppen. Doch ist das monitoring oder gar die supervision ein Eingriff in die Staatssouveränität. Wenn man ausschließen will, dass die Gelder, die als social investment gezahlt werden, für die Rentenauszahlungen an die herrschenden Clans dient, dann ist die Direktauszahlung das Beste, was aber souveränitätstaktisch nicht erlaubt wird wegen der minderen Zugriffschancen der Eliten auf ihre politisch-globalen Zusatzrenten. Auch ist eine damit verbundene vollständige Übernahme der Verantwortung für andere Länder weder effizient gestaltbar (die Ausbeutungs-Spielräume vergrößern sich), noch ist dies als Dauerlösung sinnvoll. Es ist zu teuer, und ein entmündigtes Volk wandelt sich leicht zum entfesselten Mob. Deshalb sind andere Ideen zu eruieren, wie sie in Konfliktbereichen bereits Anwendung finden: Sicherheitszonen. Solche Zonen schränken die Staatssouveränität ein. Wenn man die Gründe verschiebt: statt militärischer zivile nimmt, z.B. effektive Hungerhilfe, effektive Agrarreform etc., könnte es sinnvoll sein, quasi autonome Zonen einzurichten, zeitlich beschränkt auf das social investment-Projekt, in denen die Zahler B direkt an die Bevölkerung auszahlen, ohne Zwischenschaltung von lokalen Clans und Herrschaften. Das wäre ein Eingriff höherer Ordnung (aber in Krisenfällen längst durch die UNO praktiziert), weil er neue Sozialität ausbilden würde, neben dem Investitionseffekten. Solche korruptionsfreien Zonen freier Hilfe sind temporäre Souveränitätsaufhebungen durch legitimierte Dritte, auf der Basis von global contracts, deren Nichteinhaltung aber nicht nachträglich sanktioniert, sondern effektiv umgesetzt wird. Wenn die Vertragshalter in A nicht fähig sind, die global justice contracts zu erfüllen, übernehmen Stellvertreter diese Aufgabe, bis sie erledigt ist. Die Drohung – statt Sanktion Supererfüllung – macht nicht aus einer Vertragsverletzung eine weitere, sondern ist umgekehrt ein Fall von Erfüllungserzwingung: Supererfüllung. Das wird manches Mal nicht ohne militärischen Schutz gehen (vgl. die Erörterung des nation building bei Fukuyama 2004). Damit soll nicht ein moralisches Mäntelchen genäht werden für eine als Hilfsmaßnahme verbrämte Hegemonialpolitik (Quasi-Machtübernahmen durch CIA und KGB sind jahrzehntelang als ›politische und militärische Beratung‹ bezeichnet worden). Auch das Zustandekommen und die Art der Durchführung der Supervision unterliegen einer Supervision – das Modell des UNO-Mandats ist eine brauchbare Möglichkeit, besser als nichts, wenn auch nicht gut. Um Legitimation durch Verfahren herstellen zu können, dürfen diese nicht bloß ein Widerschein der politischen Situation Mitte des letzten Jahrhunderts sein. Die Hebammen der UNO-Geburt sind nicht deren Vormund. Wir werden solche Modelle der Supererfüllung vielfältig durchspielen müssen, wie z.B. auch die Frage nach freiwilligen Anschluss von Ländern

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des Typus A an leading partners. Wieso sollen sich afrikanische Staaten nicht ihren ehemaligen Kolonialherren anschließen, wenn sie sich Ordnungs-, Politik- und Entwicklungsvorteile versprechen – unter Aussetzung gewisser Selbständigkeiten? Oder neuen Staate: Indem z.B. die BRD das Patronat für Gambia übernimmt – oder Namibia, Kasachstan, oder Palestina? Die politische Ordnung, die man in Ländern A von selber nicht stabilisiert bekommt, jedenfalls nicht so, dass die Weltbank zustimmt, oder andere Länder B Zahlungen für sinnvoll halten, leiht man sich von Patronatsländern. Sie übernimmt Ordnungs- und Politikfunktion für eine Epoche: policy-leasing bzw. institution-leasing. Damit werden andere Investitionsgewährleistungen geboten: Mehr Investoren als je zuvor aus den Ländern B investieren in A etc. Solche temporären Politik- und Ordnungsleasings hätten den Vorteil, eine kurzfristig nicht reduzierbare kulturelle Komplexität und eth(n)ische Diversität im Fluss halten zu können: solange, bis diese Pluralität in geeigneten Institutionen sozial und wirtschaftlich produktiv wirken kann, statt als Auslöser für Bürgerkriege zu dienen. Weitaus brisanter sind andere Fragen: warum gehen wir, globalisierungspositivistisch, davon aus, dass die vorhandenen Länder die angemessenen Akteure und Vertragspartner sind? Warum beginnen wir bzw. die UNO nicht, political designs neu auszuschreiben, für Länder-Reformen im strengeren Sinne. Muss Belgien ein Land sein? Besteht Afrika nicht aus hunderten von Ethnien, die alle ihre – dann zu dezentralisierenden – Gebiete bekommen sollten, um eigene Länder zu werden, um auf dieser Basis dann neue Allianzen einzugehen? Sind Argentinien, Brasilien, Uruguay, Kolumbien, Venezuela etc. stabile Länder? Sind ihre Grenzen sinnvoll? Wir Deutschen dürfen das thematisieren, da wir zwei staatliche Gebilde zu einem neuen agglomeriert haben, ohne an die Vergangenheit falsch anzuschließen. Wir sind political-merger-erfahren, wenn auch nicht glücklich über den Lösungsverlauf. Auch andere können Kompetenzen einbringen: Tschechen und Slowaken zeigen, wie man sich ohne Blutvergießen trennt (wenn auch nicht ganz ohne Bitterkeit), um später vielleicht in einer größeren Einheit aufzugehen; Großbritannien hat, zunächst getrieben, dann mehr und mehr freiwillig, seine Kolonien entlassen etc. (vgl. auch Pogge 1992 und Kuper 2000). Hier stellt sich die Frage der globalen Gerechtigkeit schärfer: es geht nicht um Bestreitung von eventuellen Ansprüchen, sondern um die Bestreitung von Selbständigkeitskompetenz. Viele der ethnisch hoch diversifizierten Länder sind Agglomerate von Spannungen, deren Politik wesentlich darin besteht, hohe Transaktionskosten der Reibungsminderung zu haben. Diesen Ländern fehlen natürlich Energien für ihre Entwicklung. Sie starren auf ihren ethnischen Binnenzirkus und versuchen, Balancen zu halten, die entfielen, wenn die Ethnien eigene Länder wären. Natürlich ist es überzogen, daraus zu schließen, ein space & state-design zu entwerfen für ›optimale Länder‹, aber die political mergers, die wir allent-

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226 | Birger P. Priddat halten erleben, laufen ja bereits: die EU voran, aber auch russische, asiatische und pazifische wie inneramerikanische Pakte und Koalitionen bzw. strategische Allianzen. Warum sollte es nicht möglich sein, über die laufenden Koalitionierungen hinaus konkrete state-mergers zu planen, die die Frage nach der global justice zu einer inner-nationalen machen, insbesondere dann, wenn reiche und arme Teile zusammengeführt werden, in einem demokratischen political-institutional setting. Wenn Staaten ihre Geldpolitik durch Kopplung an den Dollar oder an den Euro delegieren, warum nicht auch andere Staatsfunktionen? Wenn sie im Gegenzug Souveränität anders gelagert zurückerhalten: nun als Teil ernst zu nehmender Einheiten gleiche Augenhöhe erfolgversprechend einklagen können? Es ist das alte LeviathanSpiel von Machthergabe, um legitime Herrschaft zu gewinnen – aber vielfältiger, temporärer, freier. Die Ethnien sind dabei nicht ausschlaggebend. Es geht nicht um ›Rassenpolitik‹, sondern um optimal states. Was optimal ist, ist nur historisch-situativ zu entscheiden, nicht abstrakt. Welche Ethnien kooperieren können, ist nicht vorgegeben. Sprache, Ethnien, Ressourcen, Geographie, Kulturund Wirtschaftinteressen, Religionen, shared mental models sind alles Komponenten eines je speziellen Mixes.

Globale und heimische Gerechtigkeit Wieso – und damit kommen wir wieder zurück auf die Frage im engeren Sinne (um zu sehen, dass wir sie die ganze Zeit erörtert hatten) – erörtern wir die Frage einer global justice als Verteilungsfrage? Und wenn: Warum in spezifischer Sortierung? Arme arabische oder muslimische Länder z.B. wenden sich an den Westen, um ausgleichende Gerechtigkeit zu suchen; warum geben wir die arm/reich-Verteilungsfrage nicht an einen arabischmuslimischen Kontext ab: Warum sollen nicht reiche arabische Staaten die vornehmlichen Ansprechpartner sein? Umgekehrt gibt es Gründe, Zahlungen an Staaten, die keine Trennung von Religion und Politik kennen, nur dann zu finanzieren, wenn sie diese Trennung einführen. Denn die Trennung selegiert die Empfänger der Gelder danach, welchem Bekenntnis sie angehören und sortiert Kompetenzen nach Kriterien, nach denen wir gewöhnlich keine Finanzierungen aufwenden. Die, die finanzieren, haben andere Kriterien als die, die meinen, fordern oder zumindest empfangen zu dürfen. Die Finanzierung einer Religionsgemeinschaft ist nicht Sinn und Zweck von Entwicklungshilfe. Das einfach zu respektieren kann nicht erwartet werden: aus den Erfahrungen der eigenen – hier: der europäischen – Geschichte, deren Religionskriege im 17. Jahrhundert ein für allemal beendigt wurden, im Rahmen der Institutionalisierung von ›Toleranz‹. Wir dürfen eigene Standards anlegen, weil wir sonst interne Legitimationsprobleme bekämen. Natürlich wäre das ein Ein-

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griff in deren Kultur; aber es geht nicht um positivistische Heiligung jeder institutionell-kulturellen Form, die es auf der Welt gibt, sondern um deren adaptiveness: Welche Formen fördern wir, welche nicht? Welche Varianz/Invarianz bietet die andere Kultur an? Kriterium sind auch die eigenen Steuerbürger, denen eine solche Finanzierung erklärt werden muss, mit Gründen, die verstehbar sind. Eine Hilfe für Kinder, Frauen etc. muss nach unseren Standards vertretbar sein. Ein Krankenhausprojekt zu finanzieren, in dem die Behandlung von Männern gegenüber der von Frauen den Vorrang hat, ist nicht legitimierbar; ebenso wenig die Präferenz für eine bestimmte Religiosität. Dies gilt zumindest für abendländisch-aufgeklärte Demokratien. Eine solche Lösung ist moralisch aber vertretbar, wenn es um S2S-Beziehungen (state-to-state) geht. Als Entwurf einer umfassenden globalen Utopie wäre sie ethisch unterbestimmt, müsste weitreichende Annahmen über die Natur des Menschen verallgemeinern, die im euroamerikanischen bzw. nordatlantischen Kontext gewachsen sind. Wo aber eine Pluralität von Alternativen existiert, da dürfen die einzelnen Länder fundamentalistisch sein, also auf ihren Fundamenten Brückenpfeiler bauen und andere Akteure zu reziprokem Verhalten anregen. Sie müssen sogar fundamentalistisch sein, wollen sie nicht unglaubwürdig werden und langfristig damit Legitimität – at home and abroad – verspielen. Kann ein armes Land unter mehreren Sozialkontrakt-Angeboten auswählen, entfallen viele Begründungsleistungen. Verträge sind freiwillig erzielte Übereinkünfte. Schaffen wir es, unter den Bedingungen realer Zwänge und Unfreiheiten die notwendigen Freiheiten zu verankern? Das ist eine eminente Gerechtigkeitsfrage, in der viele aktuell diskutierten Umverteilungsforderungen – im Hegel’schen Sinne – aufgehoben werden. Gerechtigkeit herzustellen ist, um es noch einmal für den globalen Kontext aufzuspannen, möglich im Rahmen einer gemeinsamen Verfassung, die de facto als Menschenrechtskonvention existiert, als UNO-Satzung etc., aber letztlich nicht außerhalb der tatsächlichen Machtgefüge, Politiken und institutionellen Funktionen realisierbar ist. Global constitutions, welcher Dimension auch immer, sind formelle Voraussetzungen für Interventionen, die allerdings genügend Droh- und Sanktionspotentiale haben müssen, um Wirkung zu erzeugen. Deshalb ist es wahrscheinlich zweckmäßiger, die Fragen der global justice als Fragen einer evolutionary world politics anzugehen (Modelski 2001), denn in einer evolutorischen Betrachtung haben wir es mit economic and social dynamics zu tun, die die Kompensationsgrundlagen mit evolvieren lassen, damit zugleich auch die ehemaligen Gerechtigkeitsanforderungen. Gerechtigkeit ist keine statische Angelegenheit, sondern unterliegt selber einer kulturellen Evolution (z.B. darin, wer in den Kreis der Anspruchsberechtigten gezählt wird. Die Frage, wer als ›Mensch‹ zählt, ist ein entscheidendes zivilisatorisches Moment, d.h. ob das ›Menschsein‹ über den eigenen Clan, über die eigene ›Wir‹-Definition hinausreicht).

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228 | Birger P. Priddat Wenn zudem eigene Bewältigungskompetenzen ausgefaltet werden, entfallen Ansprüche etc. So lohnte es sich, evolutive Pfade herauszufinden, die Gerechtigkeitskompensationsminderungen aufweisen: wegen des Gelingens eigenständiger Entwicklungen. Unter diesem Blickwinkel sind global justice-Maßnahmen als evolutive dann zu vertreten, wenn sie den Gesellschaften, die die Maßnahmen fordern und Zahlungen erhalten, Lernpfade angeben, deren Fortgang beobachtbar ist und deren Resultate als positiver return auf die damalige Investition betrachtet werden kann. Nicht die Zahlung und das Versprechen der Leistung, sondern die Leistung selbst in sichtbarer Entwicklung ist das Ziel einer modernen global justice, die deshalb notorisch auf social and societal change zielt. Dieser Wandel betrifft aber alle Parteien. Der Diskurs über globale Gerechtigkeit hat bereits dazu geführt, die Fragen grenzüberschreitender Verantwortung und Solidarität als Teil westlicher shared mental models zu verankern. Die Antworten bewegen sich aber nicht entlang der entsprechenden philosophischen Debatte – der Diskurs trifft auf bereits entwickelte, aber dynamische Gerechtigkeits-Vorstellungen. Die kulturelle Unberührtheit, gleichsam die Jungfraulichkeit des crossculture-Aktes, ist die große Illusion des global justice-Diskurses: Die Wiederherstellung von Gerechtigkeit ist immer ein Hybrid: Gerechtigkeit A wird mit Gerechtigkeit B entgolten. Das, was die Gerechtigkeit wiederherstellen wollte, erweist sich als Differenz von Gerechtigkeit A und B. Die Verträge, die man einführt, sind hypothetische Gerechtigkeitsgemeinsamkeiten. Gerechtigkeitsausgleiche sind nicht transaktionskostenfrei für die Empfänger: Sie müssen sich modulieren und anpassen. Deshalb ist der Hintergrunddiskurs der global justice-Diskussionen ein anderer: Welche Pfade der Zivilisationsentwicklung gibt es, welche tolerieren wir? Und auf welche Zivilisation bewegen wir uns zu – wir, die schon und doch nicht ›zivilisierten‹ Länder?

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) vakat 232.p 116981493850

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Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht: Normative Realität, konkrete Utopie oder »academic research tool«? Alexander Proelss

I. »Der Nationalismus, das Verlangen kleiner Gemeinwesen, Teile der unparteiischen Erde als Gemeinschaftseigentum zu besitzen – das ist der Fluch des Menschen. […] Man muss Einrichtungen wie Zollgrenzen, Pässe und Einwanderungsgesetze abschaffen und die Menschheit in eine Föderation von Individuen umwandeln. Im Grunde muss man die Nationen abschaffen, nicht nur die Nationen, sondern auch die Staaten; […] für den Menschen […] gilt […], dass die geistige Wahrheit und nicht die Gewalt das Recht ist; und dass das Individuum wichtiger ist als der Staat. Es ist soviel wichtiger, dass es den Staat abschaffen sollte.«

Mit diesen Worten beschreibt der Zauberer Merlin1, verloren geglaubter Lehrer König Arthurs von England, den seiner Ansicht zufolge bestehenden Zusammenhang zwischen Staat und Krieg im »Buch Merlin« (1998: 128, 129, 147), in dem sich T.H. Whites mehrbändiges Werk »Der König auf Camelot« vollendet. Es ist der Vorabend der Schlacht von Camlann, in der Arthur seinem unehelichen Sohn Mordred entgegentreten wird. Merlin begleitet den zwischen Traum und Wirklichkeit wandelnden greisen König in den Dachsbau, den Arthur bereits als Kind aufgesucht hatte. Dort wird Ar1 | »Merlin«, eine Wortschöpfung von Geoffrey of Monmouth, ist die lateinische Version des walisischen Namens Myrddin.

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234 | Alexander Proelß thur von einem absurden Komitee zur Beratung der Macht im Menschen, einer Schule des Lebens – die weiteren Mitglieder: Dachs, Schlange, Ziege, Falke, Eule, Hund, Igel –, erwartet. Seine Ausbildung soll in dieser letzten Nacht beendet werden. Das Thema ist: Krieg, und wie er gestoppt werden kann. Den Staat abschaffen, die Menschheit in eine Föderation von Individuen umwandeln – Forderungen, die den Völkerrechtler irritieren müssen und die der Einführung in das Thema vorliegender Skizze dienen. Bekanntlich fußt das Völkerrecht nach ganz überwiegender Auffassung auf dem Konzept des Staates. Der Staat, nicht das Individuum, ist Träger grundsätzlich aller völkerrechtlichen Rechte und Pflichten. Mag jene Staatszentriertheit der internationalen Beziehungen auch zunehmend infolge neuerer Entwicklungen herausgefordert werden, an der Stellung des Staates als dem einzigen originären und umfassenden Völkerrechtssubjekt hat sich nach herrschendem Völkerrechtsverständnis nichts geändert. Dabei ist unbestritten, dass sich das Völkerrecht der Neuzeit nicht mehr darauf beschränkt, das Nebeneinander voneinander unabhängiger, formell gleichgestellter Subjekte durch negative Kompetenzabgrenzung von staatlichen Jurisdiktionsbereichen zu regeln (Dahm/Delbrück/Wolfrum 2002: 777). Vielmehr erfasst jene Rechtsmaterie, damit über den Charakter eines bloßen Koexistenzrechts hinausgehend, mittlerweile auch Sachbereiche, die die Belange der Gesamtheit aller Staaten tangieren. Es ist unbestreitbar, dass bestimmte Herausforderungen der Rechtswirklichkeit nur gemeinschaftlich, durch Kooperation also, gelöst werden können. Das Völkerrecht hat sich demnach von einem bloßen Koexistenzrecht zu einer Ordnung zwischenstaatlicher Kooperation gewandelt (Friedmann 1964: 365ff.; Graf Vitzthum 2004: 14; Verdross/Simma 1984: § 52f.). Doch kann es dabei angesichts der zunehmenden Bedeutung grenzübergreifender Phänomene (Cyberspace, Klimawandel etc.) sein Bewenden haben? Zwingen die den Gegenstand vorliegenden Bandes bildenden Herausforderungen der multidimensionalen Mondialisierungsprozesse nicht vielmehr dazu, Völkerrecht künftig als grenzübergreifendes Recht der Völker, als globales Weltbürgerrecht zu denken? Verkörpert das überkommene Völkerrecht mit seinem Festhalten am Staat und den traditionellen Völkerrechtsquellen mangels hinreichender Legitimation letztlich gar eine Bedrohung für die Demokratie?2 Bedarf es vor diesem Hintergrund einer demokratisch legitimierten Weltregierung? Steht die Rechtsentwicklung deshalb nicht unmittelbar vor dem Abschied vom Staat? Diesen Fragen wird im Folgenden am Beispiel der sich seit einigen Jahren in der Diskussion befindlichen Rechtsfigur der internationalen Ge2 | So der amerikanische Völkerrechtler Jed Rubenfeld auf einer internationalen Tagung des Göttinger Instituts für Völkerrecht und der Yale Law School. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.5.2003, S. 10.

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meinschaft nachgegangen. Dabei wird zunächst kursorisch jener Wandel des Völkerrechts vom Koexistenz- zum Kooperationsrecht nachgezeichnet (II.), bevor auf eine neue wissenschaftliche Strömung eingegangen wird, nach der das Völkerrecht in einem Wandel von einem kooperativen Recht zu einem »wertebezogenen Recht der Menschheit« (Dicke 2000: 14, 31ff.), einem nicht mehr an der Gemeinschaft der Staaten, sondern an der internationalen Gemeinschaft als solcher anknüpfenden Weltrecht begriffen sei (III.) Diese im Folgenden als kommunitäre Lehre3 bezeichnete Strömung wird anschließend einer kritischen Würdigung unterzogen, um eine Antwort auf die im Titel vorliegender Skizze aufgeworfene Frage zu versuchen. Ist die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht also bereits Realität und damit normatives Instrument im Rahmen einer interdisziplinär ansetzenden Philosophie der Mondialisierungen? Oder handelt es sich um einen zwar erreichbaren, aber noch nicht erreichten Zustand, um eine konkrete Utopie?4 Oder sollte das Konzept der internationalen Gemeinschaft normativ entladen und damit als bloßes »academic research tool« (Tomuschat 1999: 88) begriffen werden?

3 | Der Begriff knüpft an Nettesheim (2002: 569ff.) an. Er betont das Element der Gemeinschaft (»community«), droht freilich insofern überdehnt zu werden, als mit dem Kommunitarismus eine wortverwandte, auf John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit antwortende sozialphilosophische Strömung Einzug in die öffentliche Debatte gehalten hat, die sich nicht nur durch ihre kritische Haltung gegenüber der fortschreitenden Ökonomisierung und Individualisierung der Gesellschaft, sondern auch durch Skepsis gegenüber der staatlichen Institutionalisierung sozialer Aufgaben auszeichnet. Jedenfalls die auf dem Prinzip der niedrigsten Ebene (Subsidiarität) bestehende Spielart des Kommunitarismus (vgl. etwa Biedenkopf 1997: 103f.) teilt mit dem hier vorgestellten Konzept eines »Weltinnenrechts« (Hobe 1999: 281) zwar die primäre Bezugnahme auf das Individuum, nicht jedoch den Ruf nach stärkerer Verfasstheit und Institutionalisierung der internationalen Gemeinschaft einschließlich der damit einhergehenden Hochzonung bislang dem Staat zugewiesener Aufgaben: »The most promising alternative to the sovereign state is not a one-world community based on the solidarity of humankind, but a multiplicity of communities and political bodies […].« (Sandel 1996: 343) 4 | Konkrete Utopien zeichnen sind nach Ernst Bloch dadurch aus, dass sie sich auf etwas real Mögliches beziehen: »Das Wirkliche ist Prozess; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. […] [D]as real Mögliche zureichend vermittelter, also dialektisch-materialistisch vermittelter Neuheit gibt der utopischen Phantasie ihr zweites, ihr konkretes Korrelat.« (Bloch 1985: 225f., Hervorhebungen im Original)

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II. Nach dem Scheitern des Völkerbundes und seines Systems der Friedenssicherung – augenfällig in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs – bestand die primäre Aufgabe des Völkerrechts zunächst darin, die Bedingungen für ein friedliches Koexistieren der Staaten wiederherzustellen. Die Vereinten Nationen, ursprünglich eine Kriegskoalition gegen die Achsenmächte5, öffneten sich dem Beitritt aller »sonstigen friedliebenden Staaten« (Art. 4 Abs. 1 der UN-Charta). Mit dem Beitritt anerkannten sich die Mitglieder wechselseitig als existenzberechtigte souveräne, also keinem fremden Willen untergeordnete Völkerrechtssubjekte. Die Charta der Vereinten Nationen (BGBl 1973 II, 431ff.) macht dies in Art. 2 Nr. 1 an prominenter Stelle deutlich, wenn es dort heißt, die Organisation »beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder«. Daran anschließend unterstreicht Art. 2 Nr. 3 der Charta, dass die Mitgliedstaaten ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so beizulegen haben, dass der Weltfrieden, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta – heute ein Strukturprinzip, dem zwingender, abweichendes Vertragsrecht brechender Charakter (sog. ius cogens-Charakter) zugesprochen wird – verbietet allgemein den Einsatz von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Im Völkerrecht der Nachkriegszeit hatten somit die »Staatenwerte«, d.h. die Grundrechte und -pflichten der Staaten (Souveränität, Autonomie, Gleichheit, Immunität; Interventionsverbot) Vorrang vor den auf das Individuum bezogenen »menschlichen Werten« (vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum 2002: 777; Henkin 1989: 129f.). Im Vordergrund stand nicht die Schaffung komplexer, auf neuartige Entwicklungen reagierende Rechtsregime, sondern – mit den Worten der von den Hitler-Attentätern des 20. Juli 1944 vorbereiteten Regierungserklärung – die »Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts« und die Sicherung seines Fortbestands. Die solchermaßen auf den Schutz der Eigenstaatlichkeit ihrer Mitglieder fokussierte Rechtsordnung wird von Louis Henkin als Staatengesellschaft qualifiziert. Henkin versteht darunter ein politisches System, dessen pluralistische und fragmentarische Qualität sich im Wert der staatlichen Autonomie widerspiegelt (Henkin 1989: 136f.). Mit der Verwendung des Begriffs der Staatengesellschaft – und der bewussten Vermeidung des Gemeinschaftsbegriffs – knüpft er an den deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies an, der in seiner Studie »Wege zu dauerndem Frieden?« erstmals zwischen beiden Systemen unterschied.6 Tönnies zufolge könne der Gedanke der 5 | Vgl. den Verweis auf die Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942 in Art. 3 der UN-Charta. 6 | Unter deutschen Juristen kann die von Tönnies eingeführte Abstufung von Gesellschaft und Gemeinschaft zu Irritationen führen. Nach deutschem Zivilrecht

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Völkerverbrüderung und einer Gemeinschaft der Menschen, einer internationalen Gemeinschaft also, nur von ethisch-moralischer Bedeutung sein; politisch müsse man sich mit einer Gesellschaft der Staaten als »Verein der Vereine« begnügen, in dem sich die Staaten als ihresgleichen anerkennen (Tönnies 1926: 35f.). Freilich räumt auch Henkin (1989: 138ff., 332) ein, dass die seit Mitte des 20. Jahrhunderts stetig zunehmende Relevanz grenzüberschreitender Faktoren und damit einhergehender Probleme »die Regelung internationaler bzw. globaler Beziehungen allein auf Grundlage des territorialstaatlichen Staatengesellschaftmodells zu einer Unmöglichkeit [werden lässt]« (Paulus 2001: 98). Ungeachtet der Tatsache, dass das Völkerrecht seinen Charakter als Friedensordnung nicht eingebüßt hat, lassen sich jene Probleme nicht im Rahmen Koexistenz der Völkerrechtssubjekte lösen. Vor diesem Hintergrund hat Wolfgang Friedmann bereits im Jahre 1964 den Wandel des Völkerrechts von einem Koexistenzrecht zu einem Recht der internationalen Kooperation konstatiert. Mit Blick auf das Thema vorliegender Skizze trägt dem die u.a. von Hermann Mosler (1974) zur Diskussion gestellte These von der internationalen Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft Rechnung, die nicht nur durch die faktische Existenz und friedliche Trennung der Völkerrechtssubjekte, durch ein loses Nebeneinander also, sondern vor allem durch ein Element der Überzeugung der Gebundenheit an gegenseitige allgemeine Regeln, d.h. durch ein Miteinander gekennzeichnet sei. Damit habe sich zwar das zugrunde liegende Konzept geändert. Auf Charakter, Zielsetzungen und Struktur des Völkerrechts habe dies jedoch keinen Einfluss, wie auch Henkin in seiner Haager Vorlesung unterstreicht: »The new co-operative law represented a radical departure but did not derogate significantly from – and indeed essentially reflects – the fundamental State character of the system and its commitment to State values. Co-operation is not for the benefit of ›the community‹ but of individual States.« (Henkin 1989: 138)7 handelt es sich bei einer Gesellschaft um einen auf Vertrag beruhenden Zusammenschluss mehrerer Gesellschafter zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes (vgl. § 705 BGB), wohingegen die Gemeinschaft gemäß § 741 BGB lediglich den Fall erfasst, dass ein Recht mehreren Personen gemeinschaftlich zusteht. Damit ist auf Ebene des Zivilrechts die Gesellschaft der sachlich engere Zusammenschluss: Nur sie hat die vertraglich vereinbarte Verpflichtung, über die gemeinschaftliche Berechtigung an dem gemeinsamen Gegenstand hinaus einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen, zur Voraussetzung. 7 | Siehe demgegenüber die Erklärung des früheren IGH-Präsidenten Bedjaoui zum Gutachten des Gerichtshofs in »Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons«: »Despite the still modest breakthrough of ›supranationalism‹, the progress made in terms of the institutionalisation, not to say integration and ›globalisation‹, of international society is undeniable. Witness the proliferation of international

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238 | Alexander Proelß Für die These von der internationalen Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft lässt sich insbesondere der eng mit der Bindungswirkung bestimmter völkerrechtlicher Normen verknüpfte Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention (BGBl. 1985 II, 927ff.) in Ansatz bringen. Nach dieser Norm ist »ein Vertrag […] nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.« (BGBl. 1985 II, Hervorhebung hinzugefügt)

Mag auch umstritten sein, welche Rechtsnormen dem solchermaßen definierten ius cogens zurechnen, mögen ferner die weiteren, nicht im Zusammenhang mit dem Vertragsrecht stehenden Rechtsfolgen der betreffenden Normen ungeklärt sein, führt Art. 53 der Vertragsrechtskonvention gleichwohl ansatzweise zu einer unterschiedlichen Gewichtung völkerrechtlicher Normen, zu einer Normenhierarchie, die ihrerseits ein konstituierendes Merkmal von Verfassungen (freilich nur im relativen Sinne; vgl. Schmitt 2003: 11ff., 19) ist. Auch der Internationale Gerichtshof hat in seinem berühmten obiter dictum im Barcelona Traction-Fall (1970) von »obligations of a State towards the international community as a whole« gesprochen und diese sog. erga omnes-Pflichten von traditionellen völkerrechtlichen Pflichten (»obligations […] arising vis-à-vis another State in the field of diplomatic protection«) unterschieden.8 Insofern ist »internationale Gemeinschaft« ein dem positiven Recht bekannter Terminus. Damit steht fest, dass das organizations, the gradual substitution of an international law of co-operation for the traditional law of co-existence, the emergence of the concept of ›international community‹ and its sometimes successful attempts at subjectivization.« (ICJ Reports 1996: 226, 268, 270f.) 8 | Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen erga omnes-Pflichten, zu denen der Internationale Gerichtshof u.a. das Aggressionsverbot, das Verbot des Völkermordes sowie die Prinzipien und Regeln bezüglich der grundlegenden Menschenrechte einschließlich des Schutzes vor Sklaverei und Rassendiskriminierung zählt (ICJ Reports 1970: 3, 32), sind umstritten. Angesichts des Umstands, dass erga omnes-Pflichten gegenüber der Staatengemeinschaft als solcher bestehen (»towards the international community as a whole«), fragt sich insbesondere, wer den Verstoß gegen eine entsprechende Pflicht sanktionieren und gerichtlich geltend machen kann (Frage nach dem ius standi). Anders als im Falle eines Verstoßes gegen eine sonstige völkerrechtliche Norm dürfte die Verletzung einer erga omnes-Norm zur Folge haben, dass in Abkehr von den Regeln des diplomatischen Schutzes jeder Staat – unabhängig davon,

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Modell einer sich im Wesentlichen aus souveränen Staaten zusammensetzenden Staatengesellschaft, in der die Interessen der einzelnen Staaten – unter Berücksichtigung der Rechte des Individuums – koordiniert werden, ob er (etwa wegen einer Rechtsverletzung) ein eigenes rechtlich geschütztes Interesse geltend machen kann – sanktions- und klagebefugt ist (so Barcelona Traction, Sep. Op. Ammoun, ICJ Reports 1970: 3, 286, 326f.; vgl. auch Paulus 2001: 363ff.; Empell 2003: 356ff.). Der Internationale Gerichtshof hat jene Frage bislang nicht entschieden. Im diesbezüglich etwa von Empell (2003: 65, 351) angeführten East Timor-Fall (ICJ Reports 1995: 89, § 29) verneinte der Hof seine Zuständigkeit aufgrund des Umstands, dass die Entscheidung des Rechtsstreits notwendigerweise eine völkerrechtliche Beurteilung des Verhaltens eines nicht am Verfahren beteiligten Drittstaates (Indonesien) mit sich gebracht hätte. Dass ein Staat gegen einen anderen Staat, der gegen eine erga omnes-Pflicht verstoßen hat, nicht unmittelbar gerichtlich vorgehen kann, ist damit nicht gesagt. – Fraglich ist, ob der handelnde Staat im Falle der Geltendmachung eines Verstoßes gegen eine erga omnes-Pflicht gleichsam für die internationale Gemeinschaft als deren Prozessstandschafter handelt und insofern ein fremdes Recht in eigenem Namen geltend macht, oder ob er – wie in der Konstellation des diplomatischen Schutzes – ein eigenes Recht ausübt. Voraussetzung für eine Prozessstandschaft des handelnden Staates wäre, dass nicht der Staat, sondern die internationale Gemeinschaft als solche Trägerin der betroffenen Rechtsposition ist. Dies wird von den Vertretern der kommunitären Lehre bejaht (vgl. etwa Paulus 2001: 423) – zu Unrecht, wie noch näher zu zeigen ist. Zwar spricht der Kommentar zu Art. 48 Abs. 1 lit. b der von der UN-Generalversammlung in die Resolution 56/83 aufgenommenen »Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts« davon, dass »[a]ll States are by definition members of the international community as a whole, and the obligations in question are by definition collective obligations protecting interests of the international community as such« (para. 10). Eine (gewillkürte) Prozessstandschaft des handelnden Staates setzte prozessrechtlich indes voraus, dass der Träger des Rechts – die internationale Gemeinschaft – in der Lage ist, das Recht selbst geltend zu machen. Dies ist zu verneinen, weil andernfalls die in Art. 34 Abs. 1 des IGH-Statuts enthaltene Regel, wonach »[n]ur Staaten […] berechtigt [sind], als Parteien vor dem Gerichtshof aufzutreten«, mittelbar unterlaufen würde (vgl. Hillgruber 2002: 97). Auf prozessualer Ebene ähnelt vorliegende Konstellation daher der Situation, in der ein Staat das Recht des diplomatischen Schutzes für einen seiner Angehörigen ausübt: »Die Durchsetzung der Staatengemeinschaftsnormen (soweit sie Menschenrechte schützen) kann als eine Art erweitertes diplomatisches Schutzrecht gekennzeichnet werden.« (Empell 2003: 286) Nach ständiger Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs macht der Staat in Rahmen des diplomatischen Schutzes ausschließlich ein eigenes Recht geltend (vgl. das Urteil im Fall Barcelona Traction, ICJ Reports 1970: 3, 45f.; kritisch Doehring 2004: 383f.); er gilt als in der Person seines Angehörigen verletzt. – Eine entsprechende Anwendung der sog. local remedies rule, wonach im Rahmen des diplomatischen Schutzes zunächst der innerstaatliche Rechtsweg zu erschöpfen ist, kommt mangels entsprechender Rechtsin-

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240 | Alexander Proelß mit der »überwiegenden Mehrheit der Vorstellungen einer engeren staatlichen Gemeinschaft vereinbar ist« (Paulus 2001: 96). Bedarf es also überhaupt einer höheren Einheit, einer internationalen Gemeinschaft, in der Staaten und Menschen auf gleicher Stufe zusammengefasst werden können? Und: Können aus dem Terminus »internationale Gemeinschaft« Rechtsfolgen abgeleitet werden, die über Art. 53 der Vertragsrechtskonvention, das Konzept der erga omnes-Pflichten und das vom gemeinsamen Interesse der Menschheit hinausgehen?9

III. Diese Fragen werden von den Anhängern der neuen, inhaltlich freilich wenig homogenen kommunitären Lehre bejaht. Nach ihnen haben sich die Staaten der Erde zu einem rechtlichen Gebilde zusammengeschlossen, das seine Grundlage in der Betonung gemeinsamer Interessen, gemeinsamer Werte und der Etablierung gemeinsamer Institutionen (primär im UNRahmen10) finde, das in seiner Gesamtheit die Verantwortung für die Sicherung der Existenzgrundlagen der Menschheit trage und also über die Stellung eines Hüters von Grundwerten verfüge (vgl. Tomuschat 1995: 6). Bei diesem mit »internationale Gemeinschaft« auf den Begriff gebrachten haberschaft der internationalen Gemeinschaft freilich nicht in Betracht. Würde insoweit hingegen auf den klagenden Staat abgestellt, ließe sich die Anwendbarkeit der local remedies-Regel mit dem Argument verneinen, der Verstoß gegen eine erga omnes-Pflicht verkörpere automatisch und implizit eine unmittelbare Rechtsverletzung aller Mitglieder der Staatengemeinschaft einschließlich des klagenden Staates. 9 | Die Politik nimmt zunehmend auf die internationalen Gemeinschaft Bezug, etwa um konzertierte Aktionen gegen Menschenrechtsverletzer (Kosovo) und im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu rechtfertigen. Der britische Premierminister Blair sorgte 1999 mit einer Rede vor dem Economic Club of Chicago, im Rahmen derer er von der Geburt einer »new doctrine of international community« sprach, für Aufsehen, vgl. die Nachweise bei Kritsiotis (2002: 968f.). Doch finden dergleichen Äußerungen ihren Widerhall auch auf der normativen Ebene? 10 | Vgl. Fassbender (2004: 11): Die Vereinbarung der UN-Charta sei als ein schrittweiser Versuch zu begreifen, »der internationalen Gemeinschaft eine Verfassung im Sinne einer Verfassungsurkunde zu geben, in der die Grundregeln des Zusammenlebens der Völker kodifiziert werden – und zwar in einer Weise, die diese Regeln für die Zukunft außer Streit stellt und dem individuellen Zugriff der Staaten entzieht. Es wird eine Hierarchie völkerrechtlicher Normen postuliert und darin ›Völkerverfassungsrecht‹ mit dem relativ höchsten Rang und besonderer Festigkeit ausgestattet. Zugleich greift der Begriff der Verfassung Momente der Organisation und Institutionalisierung auf, wie sie der modernen Staatsverfassung eigen sind.«

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Gebilde handele es sich um eine »legal entity« (Tomuschat 1993: 236), um »normative Realität« (ders. 1995: 8), letztlich also um ein Völkerrechtssubjekt (Paulus 2001: 423). Dieses Subjekt setze sich nicht aus der bloßen Summe der Staaten zusammen, sondern verkörpere »an overarching system which embodies a common interest of all States and, indirectly, of all mankind« (Tomuschat 1993: 222). Allein der Umstand, »[d]ass das Völkerrecht den Staaten die Möglichkeit an die Hand gibt, sich auf reziproker Basis Bindungen zu unterwerfen oder eine ›Gemeinschaft‹ zu gründen, in denen sie kooperieren, konstituiert [damit] noch keine internationale Gemeinschaft« (Nettesheim 2002: 571). Erst der das Völkerrecht nunmehr angeblich prägende Wertebezug, der sich insbesondere im Schutz der elementaren Menschenrechte (vgl. Paulus 2001: 188; Fassbender 2003: 11ff.), zudem im ius cogens-Konzept, in den Verpflichtungen erga omnes und, damit verbunden, im Völkerstrafrecht, schließlich im common heritage-Gedanken (vgl. Tomuschat 1995: 2ff.; Nettesheim 2002: 570, 574, 576) offenbare, mache aus der bloßen Gemeinschaft der Staaten des Kooperationsvölkerrechts die internationale Gemeinschaft.11 Bardo Fassbender hat den Kerngedanken der kommunitären Lehre wie folgt zum Ausdruck gebracht: 11 | Mit der kommunitären Lehre verwandt sind die vornehmlich in den USA entwickelten liberalen Theorien der neuen Weltordnung (vgl. im Einzelnen Paulus 2001: 194-210). Sie legen den Schwerpunkt auf die Kriterien für eine ›richtige‹ Entscheidung, letztlich also auf die Frage der Legitimität des Völkerrechts. Die sog. »New Haven School« verlangt etwa vom Juristen die Einnahme eines bestimmten politischen Standpunktes; der Wissenschaftler fungiere als Berater, der – unter Verzicht auf die klassischen juristischen Methoden – die Aufgabe habe, die gemeinsamen Interessen der Beteiligten zu benennen und zu vertreten (vgl. Paulus 2001: 194f.). Im Unterschied zur kommunitären Lehre lehnt die »New Haven School« internationale Institutionen als zur Verhaltensbeeinflussung ungeeignet ab (Reisman 1997: 416). – Der »New Haven School« ähnelnd lässt eine von Thomas M. Franck entwickelte, auf Fairness des Völkerrechts abzielende Theorie die Legitimität im prozeduralen Sinne auf Kosten der Rechtssicherheit hinter die Gerechtigkeit zurücktreten (1995). Postuliert wird ein in der Entstehung begriffenes Recht auf Demokratie (1992: 46ff.), das freilich nicht an den anerkannten völkerrechtlichen Rechtsquellen festgemacht wird (und nicht festgemacht werden kann), sondern – methodisch zweifelhaft – primär am soft law. – Nach Fernando Tesón schließlich könne sich eine illegitime Regierung nicht auf den völkerrechtlichen Schutz des Gewaltverbotes berufen, da sich die Auslegung des Völkerrechts unmittelbar an den ethisch-moralischen Prinzipien des Naturrechts in seiner gesellschaftsvertraglichen Ausprägung orientieren müsse (1990: 109). Der Zusammenhang mit der jüngst von Juliane Kokott vertretenen These von der Relativierung des Grundsatzes der Staatengleichheit, auf die noch näher einzugehen ist, wird insoweit offensichtlich. – Ohne einer kritischen Auseinandersetzung vorgreifen zu wollen, sei bereits an dieser Stelle angedeutet, dass dem angeblichen Recht auf Demokratie erhebliches Missbrauchspotential inhärent ist. Die Sicherung

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242 | Alexander Proelß »Das Völkerrecht steht nicht mehr im Dienst der Staatsräson, sondern des Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft. Verbindendes Merkmal der verschiedenen normativen Inhaltsbestimmungen dieses Gemeinwohls ist der Schutz des einzelnen Menschen – vor kriegerischer Gewalt, vor Verletzungen seines Lebens, seiner Gesundheit, Freiheit und Würde im Frieden und im Krieg, vor schweren Gefährdungen seiner natürlichen Umwelt.« (Fassbender 2004: 10; Fußnote weggelassen)

In der Konsequenz ersetzt die kommunitäre Lehre damit das zwar der Internationalisierung verpflichtete, gleichsam aber die souveräne Gleichheit der Staaten betonende Völkerrecht der Kooperation durch eine auf den Menschenrechten fußende, letztlich also nicht mehr staatszentrierte, sondern am Individuum ansetzende post-territoriale Rechtsordnung: »Das ›Grundrecht‹ der Staaten auf souveräne Gleichheit verliert seine Funktion«. (Kokott 2004: 521)12 Der Fokus des völkerrechtlichen Denkens verschiebt sich damit von der Friedenssicherung und Stabilität zur Freiheit des Einzelnen – ein Trend in Richtung Einebnung der Unterscheidung zwischen Staats- und Völkerrecht, eine Entwicklung zu einem »Weltinnenrecht« (Delbrück 1993: 103, 129ff.; Hobe 1999: 281), einem »Völkerrecht im Wortsinn« (Krisch 2001: 389 [Hervorhebung im Original]), einer Föderation von Individuen, wie von Merlin im gleichnamigen Buche eingefordert, schließlich: zu einer Relativierung des Staates.13 der Menschenrechte aber kann, wie Andreas Paulus zutreffend festgestellt hat (2001: 204), »nur in einem Umfeld erfolgen, in dem Ordnung und Sicherheit garantiert sind« (Fußnote weggelassen). 12 | Siehe aber den Versuch Fassbenders (2004: 13), souveräne Gleichheit und kommunitäre Lehre miteinander zu versöhnen: »Hält man am Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten fest, also ihrer Gleichberechtigung und Selbständigkeit, welche ihre Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung ausmachen, gibt es für die notwendige weitere Entwicklung des Völkerrechts keinen anderen Weg als den einer konsequenten Konstitutionalisierung.« 13 | Der letztgenannte Aspekt wird u.a. von Krisch (2001: 389) bestritten. Auch in einer auf der Volkssouveränität gründenden, letztlich also auf den Einzelnen zurückzuführenden Völkerrechtsordnung behalte der Staat seine herausragende Bedeutung: »Er vertritt das Volk auf globaler Ebene, stellt den Ordnungsrahmen globaler Interaktion dar und bildet vor allem den politischen Raum, der einem Volk seine Selbstbestimmung erst ermöglicht. Doch wandelt sich die Funktion des Staates: Seine Rechtsstellung ist nicht mehr originär, sondern von der des Volkes abgeleitet; seine Handlungen bedürfen der Rechtfertigung durch Rekurs auf den Volkswillen.« Ungeachtet der von Krisch (2001: 386f.) diesbezüglich angeführten Argumente findet ein solches Völkerrechtsverständnis, wie noch zu zeigen ist, weder in der UNCharta noch in der Staatenpraxis eine Grundlage. Insbesondere lässt sich aus dem Umstand, dass die Präambel der UN-Charta an erster Stelle auf die Völker (und nicht auf die Staaten) Bezug nimmt (»Wir, die Völker der Vereinten Nationen«), nicht ent-

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Damit entgeht die kommunitäre Lehre zwar dem Vorwurf, ein bedeutungsloses Gedankenkonstrukt kreiert zu haben. Denn wenn sich die identifizierten Aspekte bereits in den Kontext des traditionellen Völkerrechtsverständnisses als primär kooperativ geprägter Rechtsordnung einfügen ließen, die Bezeichnung »internationale Gemeinschaft« damit lediglich eine andere Ausdrucksweise für »alle Staaten« wäre, verfügte das gleichnamige Institut über keinen eigenständigen Gehalt (Paulus 2001: 331). Die sich aus den dargestellten Entwicklungen ergebenden Rechtsfolgen der Entstehung einer internationalen Gemeinschaft werden von den Vertretern der kommunitären Lehre freilich nicht einheitlich beurteilt. Während Christian Tomuschat (1999: 88) einräumt, die internationale Gemeinschaft »constitutes no more than an academic research tool suited to focus attention on the substantive specificities of a particular group of legal norms. No additional legal consequences may be attached to the characterization of a rule of international law as pertaining ratione materiae to the constitution of humankind«, vertreten andere die Ansicht, die Staaten der Neuzeit seien nicht (mehr) von sich aus souverän. Vielmehr delegiere die internationale Gemeinschaft die Souveränität an die einzelnen Staaten; bei Ineffektivität der Staatsgewalt (im Gewande des sog. »failed state«) falle die Souveränität automatisch an die internationale Gemeinschaft zurück (etwa Schermers 2002: 191). Nach einem besonders weit reichenden Ansatz ergebe sich aus dem Umstand, dass Demokratie die Achtung der Menschenrechte voraussetze, »als quasi-logische Folge ein völkerrechtliches Demokratiegebot« (Kokott 2004: 526). Damit könne und dürfe das Völkerrecht nicht mehr die Augen verschließen vor undemokratischen Zuständen im Inneren eines Staates (ebd.: 528); undemokratischen Staaten müsse es verwehrt sein, sich auf die Gleichheit der Staaten zu berufen. Demgegenüber bildeten »effektive« und »legitime« Staaten, d.h. »Staaten, die die fundamentalen Menschenrechte und Grundstandards der good governance achten, […] die Exekutive der Völkerrechtsordnung« (ebd.: 532). Letztlich sei das Festhalten am Grundsatz der Staatengleichheit und – damit einhergehend – an einem staatszentrierten Souveränitätsverständnis ein Mittel zur Abwehr von Interventionen anderer Staaten wegen der Nichtbeachtung von Menschenrechten und Demokratie. Von daher wohne dem traditionellen Völkerrecht das Risiko demokratie- und menschenfeindlicher Auswirkungen inne (ebd.: 529). nehmen, dass das Völkerrecht auf der Volkssouveränität basiert. Der Verweis auf die Völker der Vereinten Nationen ist primär symbolischer Natur. Der die wesentlichen Völkerrechtsprinzipien auflistende Art. 2 der UN-Charta verwendet den Begriff der Souveränität denn auch ausschließlich im Zusammenhang mit der Staatengleichheit (Nr. 2). Auch rechtshistorisch knüpft der Begriff »Völkerrecht« nicht an die Völker an; es handelt sich lediglich um eine unzutreffende Fortschreibung des alten Begriffes »ius gentium« (vgl. Fischer/Köck 2000: 22).

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IV. Die solchermaßen konkretisierte Lehre von der internationalen Gemeinschaft rüttelt an den Grundmauern des traditionellen Völkerrechtsverständnisses als einer auf Stabilität und Friedenssicherung ausgerichteten Rechtsordnung. Ein normatives System, in dem einzelne Staaten über die Möglichkeit verfügen, unter dem Deckmantel undemokratischer Zustände in anderen Staaten zu intervenieren – auch der Europäischen Union wird bekanntlich vielfach ein Demokratiedefizit unterstellt14 –, kann Stabilität auf internationaler Ebene nicht gewährleisten. Der Grundsatz der Staatengleichheit hat in Art. 2 Nr. 1 der UN-Charta seine ausdrückliche Normierung gefunden. Dies zu ignorieren bedeutet, rechtspolitisch für wünschenswert Erachtetes an die Stelle des positiven Rechts zu setzen. Dass damit der Rechtssicherheit – wesentlicher Tragpfeiler einer jeden Rechtsordnung – geschadet wird, bedarf keiner gründlicheren Analyse. Der Abgesang auf den Grundsatz der Staatengleichheit überrascht insbesondere deshalb, weil die insoweit einschlägige Norm in eben jenem völkerrechtlichen Vertrag (UN-Charta) enthalten ist, der von den moderaten Vertretern der kommunitären Lehre als Eckpfeiler, als »Verfassungsdokument« der internationalen Gemeinschaft gesehen wird. Erblickt man in den Vereinten Nationen den »Mittelpunkt der entstehenden Architektur eines Weltgemeinschaftsrechts« (Nettesheim 2002: 573), erscheint indes nicht die Relativierung des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten, sondern allenfalls seine Anerkennung als Prinzip mit Verfassungsrang konsequent (Tomuschat 1995: 7). Auch dass der UN-Sicherheitsrat, zumeist auf die Herausforderung des internationalen Terrorismus reagierend, zunehmend als eine Art »Weltgesetzgeber« auftritt (vgl. Talmon 2003: 118ff.; Bauer 1996: 199ff.; Krisch 2001: 400f.), ändert nichts an dem nach wie vor kooperativen Charakter des Völkerrechts. Nicht verkannt werden darf bereits, dass die Bindungswirkung der Sicherheitsratsbeschlüsse nicht auf eine wie auch immer geartete internationale Gemeinschaft zurückzuführen ist, sondern auf der in Art. 25 der UN-Charta verkörperten Zustimmung der UN-Mitgliedstaaten, einem Element der internationalen Zusammenarbeit also, beruht (Talmon 2005: 179). Darüber hinaus sind die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates nach Art. 25 der UN-Charta zwar von den Mitgliedern der Vereinten Nationen »anzunehmen und durchzuführen« und mithin für diese (nicht jedoch für den innerstaatlichen Gesetzgeber: keine unmittelbare Wirkung von Sicherheits14 | Eine Argumentationslinie lautet: Voraussetzung der Demokratie ist nationale Homogenität; nationale Homogenität bedingt ein durch politisches Sonderbewusstsein individualisiertes Volk; ohne gemeinsame Sprache, gemeinsames geschichtliches Schicksal und gemeinsame Traditionen ist ein solches Sonderbewusstsein undenkbar. Vgl. Schmitt (2003: 231).

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ratsresolutionen!) verbindlich; unter den Voraussetzungen von Kapitel VII der UN-Charta kann der Sicherheitsrat zudem sogar militärische Maßnahmen durchführen bzw. einzelne oder mehrere Staaten zu deren Durchführung ermächtigen. Die Befugnisnormen der UN-Charta greifen indes nur unter der Voraussetzung, dass die Anforderungen der Aufgabenzuweisungsnorm Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta gegeben sind (Lailach 1998: 41; Delbrück 2002: Rn. 14; Talmon 2005: 182ff.)15. Nach ihr sind die Kompetenzen des UN-Sicherheitsrates – jedenfalls soweit der Erlass rechtsverbindlicher Beschlüsse in Rede steht – auf den Bereich der »Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« begrenzt.16 Unter diesen Umständen wäre es nicht nur »leichtfertig, den Sicherheitsrat als diejenige Exekutivinstanz auf Weltebene bezeichnen zu wollen, die in der Lage sei, jedes Problem mit nachhaltigen Störwirkungen anzupacken und zu lösen« (Tomuschat 1995: 14). Vielmehr steht der Qualifizierung des Sicherheitsrates als »Weltgesetzgeber« auch dessen kompetenzrechtliche Beschränktheit entgegen, zumal dann, wenn der Begriff der Gesetzgebung, wie dies häufig der Fall ist, in seiner dem Staatsrecht entliehenen Ausprägung zur Anwendung gebracht wird; denn jedenfalls im demokratischen Rechtsstaat sind die Aufgaben, deren Regelung Sache der Gesetzgebung sind, gerade durch ihren umfassenden Zuschnitt gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund kann der Einschätzung Sir Robert Jennings, im Völkerrecht sei die Bezugnahme auf den Terminus »international legislation« nichts anderes als ein »example of wish-fulfilment that has been allowed to become scientifically respectable« (Jennings 1964: 388), eine gewisse Aktualität nicht abgesprochen werden. Im Übrigen wirft ein Verständnis des Sicherheitsrates als Weltgesetzgeber eingedenk seiner Zusammensetzung und des Vetorechts der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder (vgl. Art. 23 Abs. 1, Art. 27 Abs. 3 der UN-Charta) letztlich ähnliche Legitimationsfragen auf, wie sie mit Blick auf den nach innen ›blinden‹ Grundsatz der Staatengleichheit von den Vertretern der kommunitären Lehre gestellt werden (vgl. Bauer 1996: 78f.). Ohne grundlegende Änderung seiner Verfahrensordnung lässt sich die These vom Sicherheitsrat als dem institutionalisierten Kern der menschenrechtsund demokratiefixierten internationalen Gemeinschaft schwerlich aufrechterhalten. Es ist bezeichnend, wenn die Anhänger jener These an anderer Stelle eine Reform des Sicherheitsrates für unter legitimatorischen Gesichtspunkten unumgänglich halten (vgl. Delbrück 2002: Rn. 23). 15 | Anders herum ist umstritten, ob der Sicherheitsrat auf der Grundlage (allein) von Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta tätig werden darf, falls er sich nicht auf eine spezielle Befugnisnorm der Kapitel VI, VII, VIII und XIII der UN-Charta stützen kann (dazu Delbrück 2002: 16ff., Rn. 5). 16 | Zu Art. 41 der UN-Charta vgl. auch Talmon (2003: 125): Die Kompetenzen des Sicherheitsrates seien »auf konkrete Einzelfälle beschränkt«.

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246 | Alexander Proelß Mit Blick auf das geltende Vertragsrecht ist daran zu erinnern, dass Art. 53 der Vertragsrechtskonvention, der, wie gesagt, ausdrücklich auf die »internationale Gemeinschaft« abstellt, seiner Entstehungsgeschichte nach gerade nicht eine Weltbürgergemeinschaft, sondern eine Staatengemeinschaft traditioneller Prägung im Sinn hat (Paulus 2001: 343ff.). Gewiss kann sich der Gehalt einer völkerrechtlichen Norm im Laufe der Zeit verändern, etwa durch spätere Übereinkunft der Vertragsparteien über die Auslegung der betreffenden Norm oder eine spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, vgl. Art. 31 Abs. 3 der Vertragsrechtskonvention. Die Anhänger des kommunitären Völkerrechts vermögen jedoch nicht den für eine solche Übereinkunft bzw. Übung erforderlichen Nachweis zu erbringen. Die »International Law Commission« hat im Jahre 2001 denn auch betont, dass »[t]he insertion of the words ›of States‹ in article 53 of the Vienna Convention was intended to stress the paramountcy that States have over the making of international law, including especially the establishment of norms of a peremptory character«.17 Die zwischenstaatliche Struktur des Völkerrechts wurde im Laufe der Zeit demnach nicht relativiert, sondern eher noch unterstrichen. Allein der Umstand, dass sich die Staaten in der Tendenz zunehmend um gemeinschaftliches Handeln bemühen, macht aus dem geltenden Völkerrecht nicht automatisch kommunitäres Völkerrecht. Auch der von einigen Anhängern der kommunitären Lehre konstatierte Zusammenhang zwischen Demokratie und Menschenrechten ist keineswegs zwingend. Der umfassende Schutz des Individuums kann nicht allein (wenn überhaupt) der Demokratie zugeschrieben werden. Mit Manfred G. Schmidt ist festzustellen, dass »die Demokratie zur Tyrannei der Mehrheit neigen [kann], sofern der Demos und seine Repräsentanten nicht institutionell gebremst werden. Die Bürgerrechte und ihr wirksamer Schutz hingegen kommen hauptsächlich durch einen funktionierenden Rechtsstaat zustande, also durch rechtliche Zähmung der demokratisch gewählten Legislative und Exekutive.« (Schmidt 2000: 529).

Soweit Juliane Kokott demgegenüber unter Rekurs auf rechtsphilosophische Erwägungen – auf den ersten Definitivartikel von Kants Friedensschrift wird ausdrücklich Bezug genommen – davon ausgeht, eine Rechtsordnung, die auf der Gleichheit der Staaten basiere, die Gleichheit der in den Staaten zusammengefassten Individuen jedoch außer Acht lasse, sei illegitim, ist mit John Rawls zu entgegnen, dass »[e]in Volk, das aufrichtig eine nichtliberale Gerechtigkeitsvorstellung bejaht, […] gleichwohl vernünftigerweise erwarten [mag], dass seine Gesellschaft von einem an17 | Vgl. para. 18 des Kommentars der ILC zu Art. 25 der »Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts«.

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Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht | 247 nehmbar gerechten Recht der Völker gleichbehandelt wird. Auch wenn innerhalb einer Gesellschaft keine vollständige Gleichheit besteht, kann gleichwohl vernünftigerweise Gleichheit bezüglich ihrer Ansprüche gegenüber anderen Gesellschaften gefordert sein.« (Rawls 2002: 85f.)18

Von diesem Standpunkt aus bestehen mithin gerade keine Bedenken gegen eine unterschiedliche Behandlung des Individuums einerseits und menschlicher Gesellschaften andererseits. Das sich aus dem Kanon der in Art. 38 IGH-Statut (deklaratorisch) aufgelisteten Rechtsquellen zusammensetzende Völkerrecht verlangt erst recht nicht, die Völkerrechtsunmittelbarkeit des Einzelnen aus einem angeblichen Demokratiegebot abzuleiten. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund des Umstands, dass Demokratie, wie auch die Anhänger der kommunitären Lehre einräumen müssen (Kokott 2004: 527), keineswegs einheitlich definiert wird (vgl. Koskenniemi 2004: 846; von Bogdandy 2004: 889ff.). Wird etwa das Demokratieverständnis Carl Schmitts zugrunde gelegt, wie das Bundesverfassungsgericht dies unausgesprochen in seiner berühmten Maastricht-Entscheidung getan hat (vgl. Weiler 1996: 95; Ipsen 1994: 17)19, besteht gerade keine Verbindung mit der freiheitlich-liberalen Menschenrechtsidee.20 Der Bezugnahme auf Demokratie als einem neuen Völkerrechtsprinzip ist insofern erhebliches Missbrauchspotential inhärent (vgl. Koskenniemi 2000: 438ff.), von moralphilosophischen Bedenken ganz zu schweigen. So ist etwa zu fragen, wer in Ab18 | Rawls (2002: 2) unterscheidet bekanntlich fünf Arten heimischer Gesellschaften: liberale Völker, achtbare hierarchische Völker, Schurkenstaaten (sic!), durch ungünstige Umstände belastete Gesellschaften und Gesellschaften, die eine wohlwollende Form des Absolutismus verkörpern. 19 | Das Bundesverfassungsgericht spricht von hinreichend bedeutsamen eigenen Aufgabenfeldern, »auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck zu geben« (BVerfGE 89, 155, 186). 20 | Vgl. Schmitt (2003: 224ff.): »Als demokratische Prinzipien werden Gleichheit und Freiheit oft nebeneinander genannt, während in Wahrheit diese beiden Prinzipien in ihren Voraussetzungen, ihrem Inhalt und ihren Wirkungen verschiedenartig und oft entgegengesetzt sind. Richtigerweise kann innerpolitisch nur die Gleichheit als demokratisches Prinzip gelten. […] Die größte Unklarheit entsteht daraus, dass der Begriff der Demokratie, wie viele andere politische Begriffe, zu einem ganz allgemeinen Idealbegriff geworden ist, dessen Vieldeutigkeit außerdem noch verschiedenartigen Idealen und schließlich allem, was ideal, schön und sympathisch ist, Platz gewährt. Demokratie wird mit Liberalismus, Sozialismus, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Frieden und Völkerversöhnung verbunden und identifiziert. […]. Die spezifische Staatsform der Demokratie kann nur auf einen spezifischen und substantiellen Begriff der Gleichheit begründet werden.«

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248 | Alexander Proelß wesenheit einer den anerkannten Völkerrechtsquellen zuordenbaren Definition von Demokratie festlegt, ob ein Staat dem postulierten Demokratiegebot genügt oder nicht. Besteht insoweit nicht letztlich die Gefahr einer Vermengung mit postkolonialen Argumentationsstrukturen? Gewiss wird der kommunitären Lehre niemand unterstellen, einer Renaissance der Europa-Zentrik des Völkerrechts unter Einschluss der Vereinigten Staaten von Amerika das Wort reden zu wollen. Gleichwohl bedarf der für zwingend erachtete Schluss von den Menschenrechten auf ein völkerrechtliches Demokratiegebot ebenso wie die Rede von legitimen und illegitimen (weil undemokratischen) Staaten näherer staatstheoretischer Begründung.21 Solange diese nicht erbracht wird, muss gelten: »Invoking ›democracy‹ explains too little.« (Koskenniemi 2004: 846) Zu unterstreichen ist, dass das Völkerrecht weniger auf theoretischen Erwägungen denn auf empirischen Faktoren (Staatenpraxis) beruht. Hiernach sind Staaten »tatsächlich völkerrechtlich verpflichtet, Menschenrechte zu schützen, ihr eigenes Staatsgebiet zu kontrollieren und auch, bis zu einem gewissen Punkt, good governance zu betreiben.« (Nolte 2005) Abgesehen vom ius cogens-Konzept, wonach bestimmte Normen vertraglich oder gewohnheitsrechtlich nicht derogierbar sind, dem der erga omnes-Pflichten, die unabhängig von einer vorangehenden Zustimmung alle Staaten binden und damit auch alle Staaten zur Einforderung berechtigen, sowie den im Zusammenhang mit der Verbreitung und Durchsetzung der Menschenrechte erzielten Fortschritten hat die Vorstellung von der Entwicklung eines Weltrechts in der Staatenpraxis bislang jedoch kein Echo gefunden. Zur Lösung praktisch relevanter Probleme auf eine Rechtsfigur abzustellen, die rechtspolitisch Wünschenswertes statuiert, in der Realität jedoch (noch) keine Wirkmächtigkeit entfaltet, die letztlich also »zu hoch greift«, birgt die 21 | Die Befürworter des völkerrechtlichen Demokratiegebotes begnügen sich insoweit mit bloßen Behauptungen. Ein Beispiel ist die Aussage von Gregory Fox und Georg Nolte, wonach »[i]nternational law is no longer blind to the nature of national political systems« (Fox/Nolte 2000: 448). Juliane Kokott stützt sich zur Begründung ihrer These, das »Demokratiegebot, bezogen auf demokratische Verhältnisse innerhalb der Staaten, [erstarke] seit den 90er Jahren zur Völkerrechtsnorm« (2004: 525), primär auf einen Aufsatz von Thomas Franck (1992), der seinerseits maßgeblich darauf abstellt, dass in der großen Mehrzahl der Staaten – Franck nennt die Zahl 110 – geheime, freie und gleiche Wahlen durchgeführt würden. Unter den Genannten befinden sich freilich auch Staaten wie Weißrussland und Zimbabwe (ebd.: 47f., Fn. 4), Staaten also, die zwar auf dem Papier ihrer Verfassungen freie, gleiche und geheime Wahlen garantieren mögen, sich in der Praxis indes wenig um die einschlägigen Vorgaben scheren. Erneut zeigt sich, dass der Rekurs auf ein völkerrechtliches Demokratiegebot bereits auf Ebene der Begriffsbestimmung scheitern muss. Von einer einheitlichen Staatenpraxis kann vor diesem Hintergrund erst recht nicht ausgegangen werden.

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Gefahr einer Schwächung der geltenden Rechtsordnung. Die Risiken einer wertemäßigen Aufladung des Völkerrechts überwiegen die Nachteile der geltenden koordinativen Ordnung. Zu befürchten steht, dass »[e]ven a benevolent ideological legitimism will deprive international law of its indispensable role as an overlapping consensus among societies that otherwise radically differ on fundamental matters« (Roth 2000: 442). Von daher mag die Lehre von der internationalen Gemeinschaft in ihrem visionären Anspruch Rechtfertigung finden, normative Wirklichkeit ist sie nicht und kann sie eingedenk der mit ihr einhergehenden Gefahren (derzeit) nicht sein. Das Gebot der Stunde heißt – gerade auch im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte – daher nicht »Kommunitarisierung«, sondern vertiefte, auf Kooperation setzende »Internationalisierung« des Völkerrechts. Dies gilt zumal in einer Epoche, in der die friedensstiftende Kraft des Völkerrechts erneut auf dem Prüfstand der Wissenschaft steht (vgl. Posner/Goldsmith 2005).

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Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen? Reinhard Pfriem »Vielleicht beziehen die Dinge um uns ihre Unbeweglichkeit nur aus unserer Gewissheit, dass sie es sind und keine anderen, aus der Starrheit des Denkens, mit denen wir ihnen begegnen.« (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) »Diejenigen, die sagen, es könne nicht gemacht werden, sollten denjenigen Platz machen, die handeln.« (Konfuzius)

1. Betriebswirtschaftslehre, Globalisierung und die kulturellen Produktionen der Unternehmen Dies ist ein betriebswirtschaftlicher Beitrag. Der Betriebswirtschaftslehre wird gemeinhin nicht unterstellt, zu gesellschaftspolitischen oder gar philosophischen Reflexionen etwas beitragen zu können, und für gewöhnlich bestätigt sie dieses Vorurteil eindeutig. Wenn mit diesem Text trotzdem der Anspruch gestellt wird, aus der Sicht eines betriebswirtschaftlichen Hochschullehrers etwas zu Handlungsperspektiven im Kontext von Globalisierung bzw. Mondialisierungen beitragen zu wollen, so im Horizont einer kulturwissenschaftlichen Perspektive für die Theorie der Unternehmung, an der wir uns seit kurzer Zeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg versuchen.1

1 | Dazu grundlegend Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (2004). Vgl. auch Pfriem (2004, 2004a). Inhaltlich wird sich dies im weiteren Gang des Textes genauer erschließen. Das Buch war auch Aus-

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254 | Reinhard Pfriem Als akademische Disziplin ist die Betriebswirtschaftslehre kaum mehr als ein Jahrhundert alt. Inwiefern sie über die systematische Sammlung und Sortierung von Wissen für erfolgreiche Unternehmensführung und damit über die Ausbildungsfunktion hinaus den Status wissenschaftlicher Theoriebildung hat, ist von Beginn an umstritten. In dem schon überdurchschnittlich theoriebezogenen Rahmen der deutschen Entwicklung des Faches setzte Schmalenbach als neben Rieger wichtigster Vorläufer des späteren Klassikers Erich Gutenberg die Betriebswirtschaftslehre noch als »Kunstlehre der Kapitalverwertung« gegenüber reiner Wissenschaft ab (Schmalenbach 1978 [1911/12]). Ob Globalisierung oder Mondialisierungen: Im Rahmen eines (auch heute noch dominierenden) paradigmatischen Selbstverständnisses, dass es die Betriebswirtschaftslehre mit der Optimierung der betrieblichen Leistungserstellungsprozesse zu tun habe, handelt es sich dabei um Rahmenbedingungen und nicht um Gestaltungsparameter. Entsprechend wird das Thema in der Betriebswirtschaftslehre behandelt und, wenn überhaupt, im engen Sinn nur die ökonomische Dimension der Globalisierung betrachtet. Globalisierung ist aber freilich die große Erzählung unserer Tage. Das ist noch nicht lange so (vgl. Krücken 2005: 13), heute jedoch recht offenkundig gültig für den politischen wie sozialwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Raum, obwohl doch die Behauptung, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, selbst bereits zu einer bequemen Meta-Großerzählung geronnen war, wie Sloterdijk (2005: 13) feststellt. Sloterdijk prognostiziert für einige Merkmale, die heute zur Beschreibung von Globalisierung angeführt werden, in naher Zukunft zu »journalistischen Universalien« zu werden (ebd. 233): ein neuer Modus zwischen dem Lokalen und dem Globalen, politische Gemeinschaftsverhältnisse jenseits des Nationalstaats, Verschärfung der globalen Differenzen zwischen Arm und Reich, globale ökologische Gefahren. Es ist offensichtlich, dass diese vier Punkte im gesamten Globalisierungsdiskurs auftauchen, ihre Gewichtung wie ihre jeweiligen inhaltlichen Akzentsetzungen fallen allerdings außerordentlich unterschiedlich aus. So sind Hinweise auf große ökologische Gefahren und Risiken nur bei einem Teil der Diskursteilnehmer anzutreffen, wohingegen ein anderer Teil ökonomistisch wie eh und je nur die Standortwettbewerbe im Auge hat. Auch die Bewertung der globalen Differenzen zwischen Arm und Reich, denen als Problem neben den ökologischen Herausforderungen ja schon die UNKonferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro gewidmet war, und die Anerkennung als Problem, das mit dem eigenen Handeln zu tun hat, werden global sehr unterschiedlich betrachtet. Selbstverständlich finden wir hinsichtlich der Regulierung zwischen Globalem gangspunkt eines Netzwerks »Kultur und Ökonomie«, das inzwischen als Arbeitsgruppe am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen fungiert.

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und Lokalem ebenfalls viele zueinander widersprüchliche Positionen, also inhaltliche und politische Unterschiede, die nur mühsam durch solche rhetorischen Formeln wie »glocalization« übertüncht werden. Der Befund, dass Globalisierung als singularer Begriff2 in solcher Breite heute trotzdem als große Erzählung existiert, trifft freilich zu, und das hat seine Gründe. Jenseits differenter Positionen ist nämlich eine deutlich gestiegene Handlungsreichweite privatwirtschaftlicher Unternehmen gegenüber Staat und Öffentlichkeit zu konstatieren. Unter den 50 größten Haushalten dieser Welt finden sich inzwischen mehrheitlich private.3 Und auch wenn diesbezügliche Statistiken darüber Auskunft geben, dass die Handelsbeziehungen verschiedener Länder nach wie vor vorrangig mit benachbarten Gegenden stattfinden, so konstatieren wir doch ökonomisch, politisch, sozial, ökologisch und kulturell eine neue Stufe internationaler Verflechtung. Natürlich haben dazu die in dieser Weise erst seit zwei Jahrzehnten auf breiter Front Anwendung findenden elektronischen Kommunikationstechniken zwischen den verschiedenen individuellen und kollektiven Akteuren wesentlich beigetragen. Mit der forcierten Globalisierung von Kommunikation und ökonomischen Beziehungen wird in der Tat die Souveränität der Nationalstaaten unterlaufen, aufgrund des Zusammenwachsens der Europäischen Region mit der ausdrücklichen Delegation politischer Entscheidungsbefugnisse an supranationale Gremien ist dies hier nur besonders zu spüren. Von daher ist schon sehr erstaunlich zu beobachten, wie wenig die parteipolitischen Akteure als (potentielle oder aktuell tatsächliche) Repräsentanten der Nationalstaaten damit aktiv umgehen und sich dazu auch bekennen können. Vielmehr entwickeln sie eine besondere Professionalität darin, so zu tun, als ob sie viel wichtiger wären, als sie in Wirklichkeit sind. Ein Teil des dramatischen Reputationsverlustes, dem staatliche Politiker in allen frühindustrialisierten Ländern heutzutage unterliegen, könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie dieses ebenso stur wie permanent aufführen, unbeeindruckt davon, dass ein wachsender Teil der Bevölkerungen längst damit begonnen hat, hinter die Kulissen zu schauen. Was mit (es sei wiederholt und betont) sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen heute als Globalisierung bezeichnet wird, ist nichts anderes als das Resultat einer lang währenden menschlich-kulturellen Vorarbeit. Es ist eines der Verdienste von Peter Sloterdijk, dies herausgearbeitet zu haben.4 Insofern haben wir ein erneutes Belegstück vor uns, wie sehr es sich lohnt, 2 | Auf die Mondialisierungen wird gleich noch zu sprechen zu kommen sein. 3 | Zur Rolle und Tätigkeit insbesondere transnationaler Unternehmen (TNU) s. Lautermann (2005). 4 | Aktuell Sloterdijk (2005), aber im Grunde schon 1999 mit dem Kapitel »Die letzte Kugel. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung« (ebd.: 801ff.).

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256 | Reinhard Pfriem Begriffe und Kategorien auf ihre wirkliche (Vor-)Geschichte zu beziehen. Verwandt sei an dieser Stelle verwiesen auf die in der jüngeren Ökonomiekritik häufig zitierte aristotelische Unterscheidung in Ökonomik, die der Versorgung des Haushalts (oikos) dient, und Chrematistik, womit der bloße Gelderwerb um des Gelderwerbs willen gemeint ist.5 Auch hier nützt es wenig, bei dem vermeintlich Besseren in Gedanken stehen zu bleiben und die praktische Kraft zu übersehen, die der Fernhandel seit der griechischen Antike gespielt hat. Mögliche Entwicklungen sind also vor dem Hintergrund wirklicher zu analysieren bzw. zu eruieren. In diesem Kontext soll mit diesem Text nicht zuletzt der Frage nachgegangen werden, wie offen Geschichte immer noch, weiterhin oder erst recht ist und welche Rolle Unternehmen als Organisationen mit größerer Handlungsreichweite als je zuvor dabei spielen (können). Manche Teilnehmer des Globalisierungsdiskurses reden uns das TINA-Prinzip ein: There is no alternative.6 Wir wollen die Sache einstweilen offen halten und davon ausgehen, dass es sich bei Globalisierung um einen ambivalenten Prozess handelt und voreilige Determinationen in der einen oder anderen Richtung eher zweifelhaft sind. Wir ziehen demgemäß für die Akteure Einschränkung wie Ermöglichung ihrer Handlungsbedingungen in Betracht, so wie wir von einer pazifizierenden und einer aggressiven Seite der Globalisierung ausgehen. Für ein solches Offenhalten der Befunde im weiteren Verlauf der Untersuchung (und überhaupt gesellschaftlicher Praxis) spricht auch, dass der Prozess der Globalisierung, wie schon angedeutet, in verschiedenen Dimensionen abläuft: ökonomisch, sozial, politisch, ökologisch, kulturell usw. Und da ist bei näherer Betrachtung die Lage schon innerhalb der einzelnen Dimensionen verwickelt und widersprüchlich genug. Dazu passt der vom Herausgeber dieses Bandes vorgegebene Begriff der Mondialisierungen, denn eine Philosophie der Mondialisierungen zielt darauf, die Pluralität der wirklichen Welt stark zu machen und den groben Vereinfachern entgegenzutreten, die sich nicht nur im politischen Raum bewegen. Dies ist erst in zweiter Linie eine normative Position, in erster ein Befund: Die von Sloterdijk so bezeichnete »letzte Kugel« (unsere heutige Erde) wird den »Gedanken an eine Super-Monosphäre oder ein machthabendes Zentrum aller Zentren […] in Zukunft nicht unterstützen«.7 5 | Aristoteles (1973). 6 | Solche Einreden kommen bemerkenswerterweise, wenn man sich der alten, eher veralteten politischen Kategorien von rechts und links bedient, von beiden Seiten. 7 | Sloterdijk (2005: 232), wo es von der letzten Kugel auch heißt: »Sie stimuliert neighbourhoods, joint ventures, interkulturelle Transaktionen unter künstlichen, nicht zu steilen Himmeln; sie verlangt nach Foren, Podien, Baldachinen, Schirmherrschaften, Allianzen, Mäzenaten; sie begünstigt Konvente aus Interessengruppen

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Nicht nur, aber gerade auch für Betriebswirte ist es eher selbstverständlich, die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaften8 dahingehend zu spezifizieren, dass dem gesellschaftlichen Teilsystem Wirtschaft eine besondere und in der wirklichen Geschichte der kapitalistischen Marktwirtschaften seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend dominierende Rolle zukommt. Theoriegeschichtlich lässt sich dies anschließen an das ebenfalls umfangreiche Werk von Karl Marx9 sowie die wirtschaftshistorischen Untersuchungen und Überlegungen von Karl Polanyi (1978 [1944]). Bezogen auf ihre aktuelle Zeit bzw. die Aufgabe der historischen Rekonstruktion waren diese Konzeptionen vor allem darauf gerichtet, die Verselbständigung einer Sphäre des Ökonomischen in den Blick zu nehmen und damit die gewaltigste Veränderung dessen verstehen zu wollen, was die Herausbildung kapitalistischer Marktwirtschaften eigentlich war. Bei der theoretischen Ausarbeitung dessen kam bei Marx die Beachtung der umgekehrten und ebenso richtigen und wichtigen Einsicht zu kurz, dass wirtschaftliches Handeln gleichwohl kein Selbstzweck ist, sondern eingebettet in kulturelle und historische Einflüsse.10 An dieser Stelle kommt das Eingangsmotto von Marcel Proust zur Geltung, als philosophische Erkenntnis formuliert von einem Griechen, der den späteren Teil seines Lebens ebenfalls in Frankreich zugebracht hat: »Selbstredend sind die gesellschaftlichen Dinge keine ›Dinge‹; gesellschaftliche Dinge, und zwar diese, sind sie nur, insofern sie gesellschaftliche Bedeutungen ›verkörpern‹ oder, besser gesagt, abbilden und darstellen. Die gesellschaftlichen Dinge sind das, was sie sind, nur aufgrund der Bedeutungen, die in ihnen unmittelbar oder mittelbar, direkt oder indirekt Gestalt annehmen.« (Castoriadis 1984: 582)11 an verschieden formatierten Tischen, in Konferenzsälen von abgestufter Größe.« Noch vor dem Tod des alten, der Wahl des neuen Papstes (in diesem Punkt weitsichtig!) und der dabei vorübergehend entstandenen religiösen Hysterie übrigens der Hinweis, dass es auch in dieser Hinsicht kein Zurück zu einer Sphäre aller Sphären geben wird: »[D]enn wer mit Habermas und Ratzinger weiter auf die vereinigende Macht der Religion setzt, würde ein enttäuschungsfesteres Gemüt brauchen, als die Heutigen es besitzen.« (Ebd.: 230f.) 8 | Soziologisch auf das Eingehendste analysiert von Luhmann. Hier sei aus dem umfangreichen Werk nur verwiesen auf Luhmann (1984, 1997). 9 | Hier sei nur verwiesen auf Marx (1974 [1844], 1967 [1867]). 10 | Insofern sind aus heutiger Sicht Marxens Vorstellungen zu den kapitalistischen Unternehmern als Charaktermasken des Kapitals eben ökonomistisch verengt, übrigens auch seine Sicht von der historischen Mission der Arbeiterklasse. Aus heutiger Sicht muss und kann ein weiterer Blick auf handlungsprägende Faktoren genommen werden, s. etwa Meyer/Jepperson (2005). 11 | Zur gründlicheren Auseinandersetzung mit dieser Einsicht auch Pfriem (2004b).

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258 | Reinhard Pfriem Erst recht interessant ist für uns natürlich die Anwendung dieser Einsicht auf die Ökonomie und damit auch die Ökonomik als zugehörige Wissenschaft: Nach Castoriadis sind »die ›Ökonomie‹ und das ›Ökonomische‹ zentrale gesellschaftliche imaginäre Bedeutungen, die sich nicht auf ›etwas‹ beziehen, sondern die umgekehrt den Ausgangspunkt darstellen, von dem aus zahllose Dinge in der Gesellschaft als ›ökonomisch‹ vorgestellt, reflektiert, behandelt beziehungsweise zu ›ökonomischen‹ gemacht werden.« (Ebd.: 592) Daraus werden wir im Weiteren Konsequenzen zu ziehen haben.

2. Ökonomie als kulturelle Veranstaltung, damit auch: Nivellierung oder Vielfalt – ein Rennen, das noch lange nicht entschieden ist Bevor wir auf die (mögliche) Rolle von Unternehmen im Sinne des Titels zu sprechen kommen, wollen wir bei der kulturellen Selbstvergessenheit der ökonomischen Wissenschaften noch ein wenig verharren. Die zunehmende Relevanz von Kultur für die ökonomische Praxis haben wir in unserer Oldenburger Konzeption eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes von Unternehmenstheorie in vier Hinsichten markiert. Es geht um: »1. die kulturelle Aufladung der betrieblichen Organisation, die sich durch alle relevanten Funktionsbereiche eines Unternehmens zieht, 2. die kulturelle Einbettung von Unternehmen in ihre gesellschaftlichen Umwelten, dabei insbesondere 3. die kulturelle Aufladung der Beziehung zwischen Unternehmen und Konsumenten, die sich wiederum 4. in den, den Produkten anhaftenden Bedeutungen widerspiegelt« (Beschorner/Fischer/Pfriem/Ulrich 2004: 11). Die kulturelle Aufladung der Ökonomie und dann noch einmal speziell der Unternehmen ist also ein sich permanent vollziehender Prozess, der in seiner Rekursivität zu begreifen ist: Kulturelle Faktoren wirken auf das ein, was wir als Ökonomisches aus dem Gesamt der Gesellschaft herauslösen, umgekehrt wirken innerhalb des so markierten Ökonomischen generierte Entwicklungen auf alles Übrige zurück.12 Rekursivität gilt insbesondere für die beiden Seiten der ökonomischen 12 | Eine im 20. Jahrhundert besonders wirksame imaginäre Figur im Sinne von Castoriadis war der Zentralismus. Die zu Zeiten der massenindustriellen Epoche der Wirtschaft besonders effektiv erscheinenden zentralistischen Betriebsstrukturen und der ›draußen‹ verbreitete Glaube an die Nützlichkeit von Gehorsam im politisch-gesellschaftlichen Bereich stabilisierten sich rekursiv.

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Interaktion, nämlich Angebot und Nachfrage. Sind auf der einen Seite Unternehmensstrategien zu lesen als kulturelle Angebote an die Gesellschaft (so der Titel von Pfriem 2004c), so expandiert Marktforschung weiterhin in den verschiedensten Ausprägungen, um unternehmensseitig möglichst genaue Informationen über neue Nachfragetrends zu gewinnen. Es war deshalb nicht nur immer schon zweifelhaft, es wird ganz handfest immer unmöglicher, diese Prozesse theoretisch in Bemühungen der einseitigen Nutzenmaximierung zu erfassen, ohne die Nähe zur Empirie ganz zu verlieren. Die Sache ist gegenwärtig deshalb so brisant, weil wir es insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern mit der Verschränkung zu tun haben zwischen einer immer schon gegebenen kulturellen Aufgeladenheit (ja: Konstruktion) des Ökonomischen damit, dass das, was immer schon war, aus beschreibbaren Gründen heute besonders deutlich zutage tritt. Der Schein, ökonomische Transaktionen würden wesentlich nur zur Deckung physiologischer Bedürfnisse der Menschen getätigt, um den sich immerhin zentrale Ideen der modernen Ökonomik ranken – wie etwa das Knappheitsparadigma –, kann von uns heute leichter entmystifiziert werden, als dies weitsichtige Theoretiker wie Veblen, Simmel oder auch reflexive Praktiker wie Walter Rathenau zur Hochzeit der industriellen Massenproduktion vermochten. Diesbezügliche Analysen der »Erlebnisgesellschaft«13 oder »jenseits der Not«14 dürfen nicht missverstanden werden als Leugnung real existierender materieller Armut. Sie verhelfen vielmehr zu deren genauerer Analyse, weil sie der Aufklärung über die kulturellen Mechanismen dienen, mit denen heutzutage materielle Armut verkoppelt ist. Materielle und kulturelle Verarmung sind nämlich selbst in bisweilen tragischer Weise miteinander verknüpft.15 Das führt uns zu der Frage, ob Wirtschaftsordnungen weiter so simpel und schematisch betrachtet werden sollten, wie das nicht nur im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein, sondern auch im akademischen Raum während des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war – und heute immer noch ist, wie man daran erkennen kann, in welcher Breite von Marktwirtschaft oder Kapitalismus immer noch im Singular gesprochen oder geschrieben wird.16 13 | Schulze (1993) darf für den deutschen Sprachraum hier als einer der Pioniere gewürdigt werden. 14 | So der Titel des ersten Abschnitts des letzten Kapitels bei Sloterdijk (2004), das den bemerkenswerten Titel trägt: »Auftrieb und Verwöhnung. Zur Kritik der reinen Laune«. 15 | Das inzwischen so markierte Unterschichtenfernsehen und besondere Ausprägungen von Ernährungskultur scheinen erstaunlich miteinander verkoppelt. 16 | Nur zwei Beispiele aus gerade diesen Tagen: Die Wochenzeitung »Die Zeit« publiziert eine Artikelserie über die »Zukunft des Kapitalismus«. Und Guido Westerwelle, der wohl irgendwann mal aufgeschnappt hat, Kapitalismus sei etwas

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260 | Reinhard Pfriem Die Rede vom Kapitalismus im Singular suggeriert zum einen, als ob wir zumindest gedanklich über etwas anderes verfügen könnten. Nach dem Scheitern der staatsbürokratischen Zwangswirtschaften als Beleg dafür, dass es sich hier um keine eigenständigen entwicklungsfähigen Wirtschaftsordnungen handelt, ist dies eher keine hilfreiche Denkfigur, macht doch ein Begriff nur in dem Maße Sinn, in dem man sich das andere, von dem er abgrenzt, einigermaßen brauchbar vorstellen kann. Gewichtiger ist uns der Einwand, dass unter dem Dach des Singulars Marktwirtschaft oder Kapitalismus die Vielfalt dessen verloren geht bzw. erst gar nicht beachtet wird, auf die wir stoßen, wenn wir uns die Wahrnehmung zu eigen machen, in Wirtschaftsstilen oder Wirtschaftskulturen zu denken und Wirtschaft auf diese Weise zu analysieren.17 Denn zwischen nationalen Wirtschaftskulturen18 und dann auch noch einmal innerhalb dieser gibt es erhebliche Differenzen. Gerade die letzteren sind übrigens Ausdruck der Eigensinnigkeit, über die Regionen als Handlungsebene individueller und kollektiver Akteure trotz aller Globalisierung anscheinend weiterhin verfügen. Eine kulturwissenschaftlich geprägte Wahrnehmung und Herangehensweise öffnet uns in Bezug auf Wirtschaft also nicht nur jenen Blick, den wir mit den überkommenen Ökonomismen reichlich verschlossen haben19, nämlich den auf die kulturellen Bedingungen und Folgen des ökonomischen Treibens, sondern ferner jenen auf die real existierende Vielfalt (Pluralität) dessen, was uns als Ökonomisches entgegentritt. Ob im 21. Jahrhundert oder sogar noch später sich die Art zu wirtschaften dergestalt entwickeln wird, dass dies mit den elementarsten allgemeinen Bestimmungsmerkmalen von Kapitalismus nicht mehr in Einklang zu bringen wäre, kann derzeit gar nicht ernsthaft prognostiziert werden. Gerade deshalb sollte aber zwischen verschiedenen Erscheinungsformen, die mit dem allgemeinen Begriff von Kapitalismus oder Marktwirtschaft vereinbar sind, genauer unterschieden werden. Das betrifft etwa die mit dem Böses, bestreitet eben deshalb heftig für Deutschland, dass es sich dabei um Kapitalismus handle. Vgl. hingegen den schon vom Titel »Kapitalismus im Plural« her bemerkenswerten Text von Müller (2003). 17 | Für die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland stellt Schefold (1994) an diesem Punkt eine der wenigen Ausnahmen dar. Dasselbe gilt für den Sammelband von Klump (1996). 18 | Unter den tatsächlichen Unfähigkeiten der gegenwärtigen Bundesregierung ist sicher die, die eigene Politik nicht in einer überzeugenden Neubestimmung sozialer Marktwirtschaft verorten zu können, besonders hervorzuheben. 19 | Aufgeklärte Neoklassiker würden nie behaupten, dass die Welt so ist wie in ihren Modellen, leben freilich von der Behauptung, dass man mit ihrem Als-ob besonders gut sehen könnte. Bei Licht besehen erinnern ihre Methoden allerdings eher an väterliche Sprüche nach der Art »Mach die Augen zu, und was Du dann siehst, das gehört Dir«.

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Stichwort Zentralismus schon angesprochene Frage verschiedener Führungskonzepte und -methoden in der Wirtschaft und speziell in Unternehmen. Das betrifft ganz fundamental die verschiedenen Ausprägungen, mit denen materieller und technischer Fortschritt auf die forcierte Ausbeutung von Natur gestützt wird.20 Daran hat sich der ökologische Diskurs immerhin einmal entzündet. Momentan scheint er sich in einer Phase zu befinden, bei der man noch nicht so genau weiß, ob es eine Atempause ist, um neue Kraft zu schöpfen für gesellschaftlich resonanzfähige Kritik an den Grundlagen der modernen Konsumgesellschaft, oder ein Rückschlag auf breiterer Front. Der wäre davon gekennzeichnet, dass die technisch-instrumentelle Engführung im Sinne von Umweltmanagement nicht nur mit sich selbst zufrieden ist, sondern darüber hinaus hinreichend breite Anerkennung zur Legitimation findet und die ökologischen Grundsatzkritiker nur noch die Beachtung eines freundlichen Lächelns finden, ohne mit ihren Kritikpunkten und Ideen noch ernst genommen zu werden. Hat Charles Taylor recht mit seiner Beschreibung, dass die Parallelität von Fortschritt und (nicht nur, aber gerade auch ökologischer) Zerstörung ein unhintergehbares Dilemma des Kapitalismus ist? Was folgt daraus, wenn er formuliert: »Ohne den Kapitalismus können wir nicht leben […], aber mit ihm können wir es kaum aushalten« (Taylor 2005: 52)? Recht hat er mindestens damit, dass man die grundlegend dilemmatische Beziehung zwischen Schöpfung und Zerstörung aus dem Blick verliert, wenn man – wie gegenwärtig in den USA unter dem Begriff der Freiheit – den Kapitalismus als Religion verklärt. Die Formel vom Kapitalismus als Religion ist allerdings gerade auch als kritische keineswegs so geistreich, wie sie auf den ersten Blick daher kommt.21 Denn nicht das Allgemeine von Kapitalismus macht die besonderen kulturellen Muster aus, die dann als religiös bezeichnet werden könnten, vielmehr das, was sich aus den historischen und kulturellen Besonderheiten eines Landes oder einer Region dieser Welt mit den allgemeinen Merkmalen von Kapitalismus verbindet, also das, was wir das effektive Normengefüge einer Gesellschaft nennen könnten – wiederum keineswegs homogen, sondern eher als Kräfteparallelogramm heterogener Akteure verstehbar. Die US-amerikanische Entwicklung liefert dafür deutliche Belege. Wo Gesellschaftskritik früher dazu neigte, von einer Stufe der Allgemeinheit möglichst noch auf die nächst höhere zu klettern (Kapitalismus führt zu Faschismus oder zu sonst was) und damit in den praktischen Konsequenzen Unterschiede einzuebnen, zeigte in den letzten Jahren gerade die Breite des weltweiten Nichtmitmachens inklusive der meisten Regierungen, dass die 20 | Das hängt natürlich mit dem »Prinzip Überfluss« zusammen. Vgl. das so betitelte Kapitel 38 bei Sloterdijk (2005). 21 | Auch an diesem Punkt Zustimmung zu Sloterdijk, hier hinsichtlich seiner Andeutungen zu Walter Benjamins Begriffsschöpfung, s. Sloterdijk (2005: 26).

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262 | Reinhard Pfriem aggressive hegemoniale Weltpolitik der Bush-Administration keine Frucht des natürlichen Entwicklungsprozesses einer bestimmten Wirtschaftsordnung ist, sondern das spezifische Produkt einer spezifischen ideologischen Clique mit messianischen Ansprüchen. Wenn unter den 158 Ländern der Vereinten Nationen in jüngster Zeit die Vereinigten Staaten von Amerika hinsichtlich der Lesefähigkeit auf Platz 49 stehen und rund 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der USA noch niemals ein Buch irgendeiner Art gelesen haben (Berman 2002: 56), dann wäre es weder intelligent noch hilfreich, dies allgemein auf Kapitalismus zurückzuführen. Der historische AEG-Chef Walter Rathenau mag für Bildung und historische Reflexion im deutschen Unternehmertum ein besonders leuchtendes Vorbild sein, er war mit Sicherheit genauso Kapitalist wie jener Manager, den man heute »Bild«-Zeitung lesend auf einem Flughafen antreffen mag. Um die kulturellen Aufgeladenheiten des Ganzen und aller Bestandteile dessen, was wir als ökonomisch bezeichnen, ebenso die kulturellen Aufgeladenheiten der Akteure »im ökonomischen System« begrifflich zu fassen, wollen wir von Symbolökonomie22 und Symbolanalytikern23 sprechen. Zwischen Symbolökonomie(n) als Konstruktion(en) und Symbolanalytikern als Konstrukteuren besteht ›natürlich‹ wieder ein rekursives Verhältnis. Selbstverständlich basteln an den Konstruktionen = gesellschaftlich imaginären Institutionen im Sinne von Castoriadis alle mit, nicht nur jene, die bei Robert Reich unter die symbolanalytischen Dienste fallen. Die Machtverhältnisse, was die prägende Beeinflussung der Konstruktionen angeht, scheinen allerdings auch hier ungleich verteilt. Breitere Beteiligung daran, zu den Gewinnern zu gehören, scheint gegenwärtig nämlich wenig modern zu sein. Wie im Fußball und anderen Leistungssportarten, wo immer mehr schon der zweite Platz als Niederlage verbucht werden muss und die alte olympische Idee (›Mitmachen ist wichtiger als gewinnen‹) nicht nur längst nicht mehr gilt, sondern sich ins genaue Gegenteil verkehrt hat, verstärken sich für den Bereich des Ökonomischen die symbolischen Konstruktionen des ›The winner takes it all‹. Unter materiellen Bedingungen, die wenigstens einem Teil der Menschen auf dieser Erde so viel Zufriedenheit und Gelassenheit ermöglichen könnten, wie dies in der menschlichen Geschichte bis dato unmöglich war, werden erst recht die vermeintlichen Spitzenleistungen vermeintlich Bester in das allei-

22 | Erläuterungen zu diesem Begriff bei Fischer (2005), der ihn im Titel verwendet. 23 | Dieser Begriff stammt von dem US-Ökonomen Robert Reich, seinerzeit Minister der ersten Clinton-Regierung (das waren noch Zeiten), s. Reich (1996: 191ff.). In Abgrenzung zu routinemäßigen Produktionsdiensten und kundenbezogenen Diensten definiert Reich die symbolanalytischen Dienste mit »Aktivitäten der Problemlösung, -identifizierung und strategischen Vermittlung« (ebd.: 198).

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nige Licht gesetzt und in ebenfalls vorher nicht gekanntem Ausmaß Misanthropien und psychische Krankheiten produziert.24 Diese hier nur angedeuteten Erscheinungsformen sind nun allerdings keineswegs auf die USA beschränkt, auch wenn sie kulturkritisch manchmal mit Begriffen wie Amerikanisierung belegt werden. Und es hilft wiederum nichts, sie allgemein auf den Nenner von Kapitalismus oder Primat der Ökonomie zu bringen, auch wenn sie teilweise über Ökonomisierung der Verhältnisse erklärt werden. Nicht nur in der Geschichte, sondern auch aktuell heute existieren andere Weltkulturen nicht ohne Ökonomie, und über die bisherigen Bemühungen von Unternehmen mit interkulturellem Management hinaus würde mit Sicherheit lohnen, einen neuen Diskurs zu organisieren, der die Besonderheiten des abendländischen Westens einordnet in Vergleiche mit dem Anderen und den Anderen, statt einseitig nur die eigene Identität zum Thema zu machen und ins Feld zu führen.25 Für die praktische Überlegenheit von in der Rückschau als reifer angesehenen Kulturen gibt es keine historischen Garantien, das haben die Etrusker vor der von uns markierten Zeitenwende gegenüber den Römern und eineinhalb Jahrtausende später die Mauren in Spanien gegen die katholische Reconquista schmerzlich erfahren müssen. In beiden historischen Fällen haben wir die Niederlage von Vielfalt gegen Homogenisierung vor Augen. Vielfalt und effektive kulturelle Pluralität gegenüber Homogenisierung stark zu machen, könnte von daher immerhin als kleines Erfolgsrezept für kulturelle Errungenschaften gedeutet werden. Was folgt daraus für Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen?

3. Von unternehmenspolitischen Möglichkeiten, zu Knotenpunkten der Mondialisierungen zu werden Die einseitige Vorstellung, Unternehmen würden sich an stattfindenden Wertewandel der Gesellschaft draußen und analog an konkrete Nachfragen situativ optimal anpassen, dient als Voraussetzung für die wirtschaftswissenschaftliche Fiktion der Konsumentensouveränität. Schon vom Standpunkt der betriebswirtschaftlichen Produktionstheorie, wie diese vor allem von Gutenberg seit 1951 entwickelt wurde26, hätte allerdings ein theoreti24 | Wie dieser Mechanismus im Wissenschaftssystem um sich greift, wird im vierten Kapitel noch behandelt. 25 | Zur Selbstverortung europäischer Werte in übergreifendem Kontext s. aktuell Joas/Wiegand (2005), darin insbesondere den Beitrag von Senghaas als Blick auf die historischen Auseinandersetzungen verschiedener Weltkulturen. Zum selben Thema mit viel Rhetorik von Kampf und Kriegen s. Huntington (1997). 26 | Im Jahr 1951 erschien die erste Auflage des ersten Bandes von Erich Gutenbergs »Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre«, in dessen Einleitung er seine

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264 | Reinhard Pfriem scher Bezugsrahmen entwickelt werden können, aus der Gesellschaft auf die Unternehmung einwirkende kulturelle Kräfte als Input zu definieren, der in der Produktion des Unternehmens weiter verarbeitet werden muss. Dazu war die Gutenberg’sche Theorie allerdings im Sinne der der klassischen Mechanik der Physik folgenden Wirtschaftswissenschaften noch zu weit davon entfernt, mit soft skills oder soft factors umgehen zu können (bzw. zu wollen). Im Rahmen der von Heinen, Schanz u.a. betriebenen sozialwissenschaftlichen Öffnung der Betriebswirtschaftslehre in Deutschland (vgl. Pfriem 2004a: 115ff.) wurden die Grundlagen für den unternehmenstheoretischen Umgang mit den nicht zu quantifizierenden und nicht rechenbaren Faktoren gelegt, ergab sich demzufolge auch eine Aufgeschlossenheit für den aus den USA importierten Diskurs über Unternehmenskultur(en). Von daher wäre es prinzipiell möglich gewesen, kulturelle Produktionen von Unternehmen sogar in Gestalt unbewusster und unreflektierter Produktionen wahrzunehmen, war man doch offen auch gegenüber Befunden, dass Unternehmen, deren Leitungen nichts von Unternehmenskultur wissen wollen, sehr wohl über eine solche verfügen bzw. sogar solche sind – vielleicht gerade die, die nichts davon wissen wollen. Die Tatsache, dass mit diesem Typus sozialwissenschaftlicher Öffnung von Betriebswirtschaftslehre der Blick immer noch nicht freigelegt wurde auf die Interaktionen zwischen Unternehmen und Gesellschaft27, hinderte allerdings daran, hinsichtlich der Entwicklung kultureller Orientierungen in der Gesellschaft unternehmenstheoretische Schlüsse zu ziehen. Das Blickfeld auf für Unternehmenspolitik relevante Faktoren erweiterte sich nur instrumentell aus der Innensicht der Unternehmen heraus, die im Grunde weiter als Effizienzmaschinen konzipiert blieben. Knotenpunkte von Mondialisierungen können Unternehmen nur werden, wenn sie lernen, die angefangene innere Befreiung, nämlich den Abbau von organisatorischem Zentralismus und die Respektierung der Entfaltungsmöglichkeiten prinzipiell aller Organisationsmitglieder, auch nach außen zu kehren. Das wiederum hieße, der gesellschaftlichen Imagination, Unternehmen seien vor allem Anpassungsoptimierer, den Rücken zu kehren und ein aktives und reflektiertes Verhältnis zu den eigenen Wirkungen in die Gesellschaft hinein zu entwickeln.28

Konzeption der betrieblichen Elementarfaktoren inklusive deren Kombination durch den dispositiven Faktor Betriebs- und Geschäftsleitung darlegte. 27 | Im Unterschied zu dem zeitgleich entwickelten St. Galler Ansatz einer systemorientierten Betriebswirtschaftslehre, s. Ulrich/Krieg (1974) und Ulrich (1984). 28 | Das gilt übrigens ebenso für die Beraterszene, die selbst in ihren fortgeschrittensten Teilen eher an der einseitigen Innensicht der Unternehmen hängen geblieben ist. Kritisch dazu Pfriem (2005).

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Sachzwänge zu bestreiten bedeutet nicht, für jede unternehmenspolitische Handlungs- und Entscheidungssituation völlige Autonomie zu unterstellen. Wie für Individuen gilt auch für (Unternehmens-)Organisationen als kollektive Akteure (emergente Systeme) die Eingebundenheit in eine Vielfalt historischer, kultureller usw. Bedingtheiten, wofür in der Evolutorischen Ökonomik gern der Begriff der Pfadabhängigkeit verwendet wird.29 Im unternehmerischen Wettbewerb ist deswegen erst recht reflexives Vermögen gefordert30, in Anlehnung an einen Text des Herausgebers dieses Bandes wäre von kultivierter Selbst-Verstörung zu sprechen.31 Das führt zu einem Begriff unternehmenspolitischer Verantwortung im außermoralischen Sinne. Was ist damit gemeint? Ich habe an verschiedenen Stellen bereits Zygmunt Baumans fundamentalen Satz zitiert: »Pflichten machen Menschen tendenziell gleich; Verantwortung macht sie zu Individuen.«32 Dieser Satz gilt zum einen innerhalb des ethischen Diskurses, um zu verstehen, dass es mit den Möglichkeiten der übergreifenden gesellschaftlichen Geltung von Pflichtenethik zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirklich zu Ende ist und die Möglichkeit ethisch-moralisch geleiteter Handlungsvollzüge nur über eine Renaissance und gleichzeitig Neubestimmung tugendethischer Orientierungen machbar. Ich will an dieser Stelle aber ausdrücklich einen außermoralischen Sinn hinzufügen. Wir konstatieren ja nicht nur einen Mangel an gesellschaftsgültigen moralischen Vorgaben. Wir sind angesichts der prinzipiellen Ungewissheiten über zukünftige Entwicklungen außerdem gezwungen, schon für das im engsten Sinne erfolgsstrategische Handeln mit einem Mangel an Vorgaben zurechtzukommen. Wir sind zur Kontingenz verdammt. Unter diesen Bedingungen meint Verantwortung im außermoralischen Sinne (für uns als quasi beliebige Individuen wie für Unternehmen als unterschiedlich handlungsmächtige kollektive Akteure), dass wir dem ständigen Zwang, so oder anders entscheiden zu müssen, und zwar verantwortlich gegenüber dem, was wir als wichtig definieren, nicht entfliehen können.33 Wenn dieser argumentative Schritt

29 | Vgl. Lehmann-Waffenschmidt/Reichel (2000). 30 | Wohlgemerkt: aus erfolgsstrategischen Gründen, nicht primär aus ethischmoralischen. Diese kommen allenfalls bekräftigend noch hinzu. 31 | Denn die Fremd-Verstörungen kommen häufig in erfolgsstrategischer Hinsicht zu spät. 32 | Bauman (1995: 87). Zu der Umstellung von pflichten-auf tugendethische Perspektiven im kulturwissenschaftlichen Kontext gerade hinsichtlich des Akteurs Unternehmen s. Lautermann/Pfriem (2005). 33 | Daran ändert übrigens die aktuelle intellektuelle Mode, uns mit neurobiologischen Mitteln die Freiheit des Handelns rundheraus absprechen zu wollen, nicht das Geringste. Es reicht, dass wir selbst an die Freiheit des Handelns in diesen Entscheidungssituationen glauben – unabhängig von den wirklichen oder vermeintli-

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266 | Reinhard Pfriem akzeptiert wird, fällt es eigentlich nicht schwer, die ganze Diskussion zur Unternehmensverantwortung inklusive praktischer Konzeptionen ebenfalls im außermoralischen Sinne zu lesen. Die ersten systematischen Überlegungen dazu und wohl die meisten heutigen Positionen halten freilich immer noch an der möglichst sauberen Trennung zwischen der ökonomischen und der ethisch-moralischen Welt fest. Für Corporate Social Responsibility unterscheidet etwa das viel zitierte Modell von Caroll (1999) zwischen vier verschiedenen Typen von Unternehmensverantwortung: der ökonomischen, der rechtlichen, der ethischen und der philantropischen. Zu Recht argumentiert Lautermann gegen die damit häufig verbundene Zweiteilung, ökonomische und rechtliche Verantwortung als obligatorisch, ethische und philantropische Verantwortung als freiwillig zu charakterisieren: »Manche scheinbar ganz zwanglosen Handlungsweisen (z.B. bestimmte Umweltschutzmaßnahmen), die im vorhinein gerne lapidar als ›freiwilliges Engagement‹ der Unternehmen bezeichnet werden, können schneller, als man denkt, die faktische Verbindlichkeit und Dringlichkeit von ›obligatorischen‹ ökonomischen oder rechtlichen Zwängen erlangen. Umgekehrt scheinen ›harte‹ gesetzliche Zwänge de facto oftmals gar nicht so verbindlich zu sein, wie allgemein behauptet – und das nicht nur in ›Bananenrepubliken‹.« (Lautermann 2005: 63)34

Wir konstatieren also einerseits, dass eine saubere Trennung zwischen ökonomischer und ethischer Welt bei der Beschreibung von gesellschaftlicher Verantwortung der Unternehmen wegen wechselnder Übergänge bei konkreten Maßnahmen keinen vernünftigen Sinn macht. Auf ein weiteres Argument dafür, eindeutigen Unterscheidungen zwischen erfolgsstrategischem Kalkül und ethisch-moralischen Verhaltensweisen der Unternehmung zu widerstehen, stoßen wir, wenn wir das Strategische Management von Unternehmen als Bündel von Suchprozessen verstehen und diese Suchprozesse dann natürlich wesentlich auch mit Selektionsentscheidungen darüber zu tun haben, welche Stakeholders (Anspruchsgruppen) jenseits der Shareholders (Anteilseigner) denn für das Unternehmen zukunftsbezogen von Bedeutung sind. Nicht zufällig ist ja das Stakeholdermanagement35 von Beginn an ein wichtiges Thema aller Erörterungen über Corporate Social Responsibility gewesen. Gerade die aktive und positive Bezugnahme chen Erkenntnissen der Roths und Singers, die uns für die konkrete Entscheidungssituation sowieso nichts abnehmen und nicht weiter helfen können, die vor allem zur Sozialität allen menschlichen Handelns nichts Substantielles zu sagen haben. 34 | Für den letzten Punkt mag als gerade aktuelles Beispiel die Aufdeckung dienen, dass in Deutschland ungefähr jedes fünfte Unternehmen, das Nahrungsmittel herstellt oder verkauft, gegen geltendes Lebensmittelrecht verstößt. 35 | Stakeholdermanagement und Ethik ist Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu), Jahrgang 5, Heft 3 (2004).

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auch auf außermarktliche Stakeholders kann außer über Verantwortung im engeren ethisch-moralischen Sinne auch über kluges erfolgsstrategisches Vorgehen erklärt werden – Kernproblem des Strategischen Managements ist halt das Wissen darum, dass die Zukunft ungewiss ist. Erst ex post wird sich herausstellen, welche Bemühungen um die Kooperations- oder Zustimmungsbereitschaft spezifischer Stakeholders im engen erfolgsstrategischen Sinne wichtig oder gar notwendig waren, und welche vielleicht nicht. Der neben Corporate Social Responsibility ebenfalls häufig verwendete Begriff von Corporate Citizenship36 hat die Sache nicht einfacher gemacht. Denn zum einen geht es hier im engeren Sinne um solches bürgerschaftliche Engagement von Unternehmen37, wozu durchaus etwa Aktivitäten von Sponsoring u.Ä. zählen, denen dann von kritischen Geistern der Vorwurf gemacht werden kann, damit wolle ein Unternehmen von den ethisch-moralischen Schattenseiten seines Kerngeschäfts ablenken. Auf der anderen Seite38 wird Corporate Citizenship aber auch gleichsam gesellschaftstheoretisch in Anspruch genommen: Unternehmen werden als kollektive Akteure nunmehr selbst als Bürger begriffen. Denn unter den Bedingungen der Globalisierung, des relativen Bedeutungsverlustes der Nationalstaaten, innerstaatlich zunehmender Unfähigkeiten von Regierungen, öffentliche Aufgaben effektiv und effizient zu erledigen, steige bei den Unternehmen, und nicht nur bei den so bezeichneten Global Players, schon analytisch von der Rollenbeschreibung her die Verantwortung, neben die Inanspruchnahme bürgerlicher Rechte die Übernahme bürgerlicher Pflichten zu setzen. Mit dem bis hierhin Gesagten zu Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship lässt sich unsere eingangs geführte kulturwissenschaftliche Argumentation ausgezeichnet verknüpfen: Für Unternehmen gibt es im Strategischen Management, das die prinzipielle Ungewissheit von Zukunft zum Ausgangspunkt hat, unterschiedliche kulturelle (Entwicklungs-)Pfade bei der Gestaltung der Beziehung zwischen sich und verschiedenen gesellschaftlichen Umwelten, verschiedenen Stakeholders, allgemein: der Gesellschaft. Solche Pfade sind einerseits abhängig von der Geschichte und den Traditionen der Unternehmen: Bestimmte Unternehmen können so pfadabhängig im Sinne von verriegelt sein, dass sie zu bestimmten Aufbrüchen in Richtung gesellschaftsorientierter Unternehmenspolitik gar nicht in der Lage sind. Auf der anderen Seite kommt hier die kulturwissenschaftliche Perspektive zum Tragen, dass es nicht nur um kulturelle Ge36 | Vgl. als systematische Darstellung Habisch (2003), kritischer und differenzierter Wieland (2002). 37 | Vgl. dazu Bundestagsdrucksache 14/8900, 219ff. (Deutscher Bundestag, 14.Wahlperiode) sowie Europäische Kommission (2001). 38 | Diese Richtung wird in den letzten Jahren etwa von Dirk Matten prononciert vertreten, s. z.B. Matten/Crane/Chapple (2003).

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268 | Reinhard Pfriem prägtheiten geht, sondern ebenso um kulturelle Innovationen als Neudefinitionen der eigenen Rolle, der Selbstverortung in der Gesellschaft etc. Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship können insofern ohne Weiteres als begriffliche Fassungen der unternehmenspolitischen Aufgabe aufgefasst werden, die eigene Rolle in und gegenüber der Gesellschaft vernünftig zu gestalten, wobei der Begriff der Vernunft das ganze Spektrum zwischen eng erfolgsstrategischen über aufgeklärt gesellschaftsorientierte bis hin zu altruistisch unternehmensethischen Verortungen einschließt. Selbst die operative Umsetzung eines Ethikmanagementsystems (Lautermann/Pfriem 2005) braucht nicht länger nur als reflexives Aufbrechen moralischer Selbstverständlichkeiten im Unternehmen betrachtet zu werden. Es handelt sich ebenso um die Einsicht in die Überlegenheit selbstkritischer Reflexion gegenüber Affirmation aus vielleicht nur erfolgsstrategischen Gründen.39 Insofern ließe es sich als Entlastung für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen bezeichnen, wenn die unternehmensethischen Diskurse die Unternehmenspraxis nicht länger mit dem quasi-religiösen Code von böse und gut traktieren würden. Das Schmutzige ist tatsächlich das Saubere40, will sagen: Die moralischen Parteilichkeiten müssen in jeder konkret-historischen Entscheidungssituation aufgespürt und (hoffentlich) genutzt werden. Die moralischen Zustände sind nach wie vor häufig schlecht genug, mit Denunziationen allgemeinen Charakters leisten wir allerdings keinerlei Hilfe.41 Die Institutionalisierung oder Operationalisierung des sauber Ausgedachten in der schmutzigen Wirklichkeit bringt allemal Probleme, zumal die gesellschaftliche Imagination weiter stark ist, moralische Entscheidungskriterien seien für Unternehmen als ökonomische Organisationen eher sachfremd. Wenn wir uns einlassen darauf, die sauberen Trennstriche unternehmens- und wirtschaftsethischer Beiträge zwischen Gut und Böse als hinder-

39 | Deswegen ziehen wir im Vergleich zu Konstanz in Oldenburg den Begriff des Ethikmanagementsystems dem des Wertemanagementsystems vor (vgl. dazu Wieland 2004) und sind erst recht skeptisch, wenn Begriffe wie Werte-Controlling auf den Plan treten, s. dazu Hirsch (2002). 40 | Das verweist auf den Titel von Pfriem (2004d). 41 | Zu stark in der Richtung auch der Herausgeber dieses Bandes in Badura (2004: 7). Seinen »4 Geboten« zum Schluss desselben Textes ist allerdings voll zuzustimmen: 1. konstruktive Destabilisierung moralischer Selbstverständlichkeiten im Unternehmen, 2. unternehmerische Lobbyarbeit dafür, dem ökonomischen Rahmen die Frage »Warum?« stellen zu können, 3. Unternehmen als Orte der Bürgerlichkeit, 4. kontinuierliches Fragen, welche Zukünfte wünschenswert sind, und unternehmerisches Abarbeiten daran.

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lich eher beiseite zu lassen, dann gelingt es uns vermutlich eher, Anhaltspunkte für mögliche Perspektiven zu gewinnen aus der genaueren Beobachtung, wie Unternehmen mit Problemen und Dimensionen umgehen, die unter dem Blickwinkel der Mondialisierungen relevant sind. Nach meinem Dafürhalten sind hier (a) der Umgang mit Raum und Zeit, (b) die Generierung des Neuen und (c) das Kriterium der Nachhaltigkeit von Unternehmenspolitik besonders bedeutsam. Selbstverständlich sind diese drei Felder wiederum miteinander verschränkt, aber es lohnt doch, sie jeweils für sich zu betrachten. Was (a) den Umgang mit Raum und Zeit betrifft, so stoßen wir auf heftige Ambivalenzen. Grundsätzlich scheint Globalisierung absolut darauf aus zu sein, jegliche räumlichen und zeitlichen Schranken zu überwinden. Daraus resultieren nivellierende und das Besondere niedertrampelnde Eigenschaften, an denen sich ein Teil der Globalisierungskritik entzündet. Im Gegensatz zu früheren kolonialistischen Zeiten beobachten wir auf der anderen Seite ernsthafte Bemühungen transnationaler Unternehmen, Formen interkulturellen Managements auf den Weg zu bringen, die der eigenen Tätigkeit eine wirkliche Einbettung in fremde Länder und Kulturen erlauben. Es wäre unangebracht, diese Bemühungen allgemein und vorab als besonders raffinierte Methoden neo-kolonialistischer Ausbeutung zu denunzieren. Die Vernichtung der fremden Ferne hat selbst 1492 ja nicht erst begonnen, sondern wäre eher als Resultat menschlicher Neugier zu rekonstruieren (vgl. Bausinger/Beyrer/Korff 1991; Leed 1993). Nicht die Aufhebung der Abgeschiedenheit früher Zeiten als solche ist das Problem, sondern mangelnde Wertschätzung des konkreten Raumes. Die scheinbar witzige aktuelle Fernsehwerbung eines Unternehmens der Kommunikationstechnologie, wo zwei miteinander telefonieren und ständig den momentanen Standort des anderen irgendwo auf der Welt missverstehen, gibt von dieser Tendenz zur Beliebigkeit konkreter Räume lebendige Anschauung. Insofern es unter dem Dach von Globalisierung aber derzeit zu einer ökonomischen, politischen und kulturellen Revitalisierung von Regionen als Handlungsebenen kommt (was den Plural Mondialisierungen unterstreicht), sind Unternehmen aktiv daran beteiligt, die Wieder-in-Wertsetzung konkreter Räume zu unterstützen. Im Sinne des Titels bietet sich hier ein Feld, als Knotenpunkte von Mondialisierungen tätig zu werden. Ein weiteres bietet der Umgang mit Zeit. Auch hier stoßen wir wieder auf ein ambivalentes Bild. Zum einen hat die Ökonomie der Zeit schon in der frühen Massenproduktion bedeutet, Zeit nur insofern wertzuschätzen, als es um ihre Minimierung bei der Herstellung von Produkten geht. Und in den Auswüchsen, die die Konsumgesellschaft auf der Nutzungsseite längst erreicht hat, wird die mögliche Zeit lernenden Genießens und lustvollen Lernens ebenfalls vernichtet: »Der User ist der Agent, der es nicht mehr nötig hat, ein bildungsmäßig geformtes Subjekt zu werden, weil er sich von der Last, Erfahrungen zu sammeln, freikaufen kann.« (Sloterdijk

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270 | Reinhard Pfriem 2005: 344) Auf der anderen Seite lässt sich der inhaltliche Kern inzwischen inflationär vieler, teils geradezu therapeutischer Traktate wie Beratungsformen zum Zeitmanagement dahingehend interpretieren, dass die Rastlosigkeit und Zeitvernichtung der heutigen Moderne selbst zum Problem geworden ist.42 Für Unternehmen läuft das zunächst darauf hinaus, in der Arbeitswelt der Herstellung von Gütern und des Angebots von Dienstleistungen (wieder) bewusster mit Zeit umzugehen. Stärkere In-Wertsetzung von Zeit zielt darüber hinaus aber auf die Wiederaufwertung guter alter Dinge wie auf den positiven Wert, im Sinne von Genuss für Konsum bzw. Nutzung Zeit aufzuwenden. Mit den guten alten Dingen ist sehr direkt das Unternehmen »Manufactum« angesprochen, das nach anfänglicher Skepsis inzwischen eine Reihe von Nachahmern gefunden hat. Und die positive Bewertung zeitlicher Aufwände im Sinne von Genuss wird gegenwärtig besonders intensiv auf dem Felde der Ernährungskultur(en) diskutiert, wozu an meinem Lehrstuhl aktuell ein sehr praxisorientiertes Forschungsprojekt durchgeführt wird, das insbesondere das Ziel verfolgt, Erkenntnisse über die ernährungskulturellen Handlungsmöglichkeiten von Unternehmen zu gewinnen (www.ossena-net.de; vgl. Pfriem 2004e). Mit dem Problem der Entwertung von Zeit sind wir natürlich direkt angelangt bei (b) der Generierung des Neuen, zeitgemäß unter dem Begriff der Innovation gefasst. Inflationäre Begriffsverwendungen und Übertreibungen scheinen hier keine Grenzen mehr zu kennen. So ist in einer aktuellen IBM-Werbung von »Innovation der Innovation« die Rede, obwohl zur Definition dieser Begrifflichkeit in den Erläuterungen keine anderen als graduelle Veränderungen angegeben werden. Je mehr von Innovationen die Rede ist, desto unklarer wird, wovon eigentlich gesprochen wird. Typologisch lassen sich jedenfalls Prozessinnovationen, Produktinnovationen, Systeminnovationen, Dienstleistungsinnovationen sowie organisatorische und institutionelle Innovationen unterscheiden.43 Diese Unterscheidung ist im ersten Schritt schon deshalb hilfreich, weil in der Regel Innovationen mit technischen Neuerungen gleichgesetzt werden. Weil Innovationen unter den heutigen Bedingungen nicht nur unternehmensinterne Voraussetzungen haben, sondern »eine offenere, intensivere Zusammenarbeit mit Kunden, Partnern, Händlern, ja sogar Wettbewerbern« erfordern, wie es in der IBM-Werbung heißt, geht es also auch um organisatorische und kommunikative Dimensionen. Ein solches Verständnis bleibt freilich häufig funktionalistisch auf die Innovationsfähigkeit bezogen. Wofür diese eingesetzt wird bzw. werden soll, bleibt dann im Dunkeln.

42 | Einen sehr instruktiven historischen Beitrag zum Problem der knappen Zeit liefert Weinrich (2004). 43 | Vgl. Paech (2004: 41). Als zweites Kapitel liegt es inzwischen auch in Buchform vor, s. Fichter/Paech/Pfriem (2005).

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Mit der Rhetorik von Innovation ist heute kein Hund mehr hinter dem Ofen hervorzuholen. Das Betonen der Bedeutung von Innovationen hat auf dem Wege der Diffusion dieser Plädoyers paradoxerweise zur Entwertung von Innovationen geführt. Angesichts dieser Situation wäre es angebracht, die Möglichkeiten der Generierung von Neuem aus dessen Selbstzweckhaftigkeit zu lösen und im strengeren Sinne auf die Frage zu beziehen, welche Probleme denn mit einer Innovation besser gelöst werden können als ohne sie und welche Schattenseiten diese Innovation möglicherweise mit sich führt. Bei Licht besehen laufen die Begrifflichkeiten ›Innovationshemmnis‹ und ›innovationsfeindlich‹ nämlich ins Leere. Es kann auch in recht engem ökonomischen Sinne als Alternative zur Innovation durchaus vernünftiger sein, ein bestimmtes Problem mit den vorhandenen Methoden gut und solide zu bearbeiten. Der ständige Druck, Neues zu generieren, bedroht in seiner Permanenz die Fähigkeiten dazu und gefährdet insbesondere die Konzentration auf Qualität im herkömmlichen Rahmen. Anknüpfend an die Bemerkungen zu Raum und Zeit ließe sich unternehmenspolitische Verantwortung im Sinne einer Rolle als Knotenpunkt von Mondialisierungen hier über die Bereitschaft und Fähigkeit verstehen, mehr Gelassenheit in die Welt zu bringen: Gelassenheit bei der Identifikation der zu lösenden Probleme, aber auch Gelassenheit bei der Beurteilung neuer Methoden und Konzepte, die sich häufig genug als schnell überholungsbedürftig erweisen. Mit der Mystifizierung und zugleich Entwertung von Innovationen überfordern Unternehmen jedenfalls sich und andere. Die wirtschaftlichen Akteure werden darüber hektischer, orientierungsloser und am nicht sehr späten Ende auch noch therapiebedürftig. Innovation ist also kein Allheilmittel, sondern bedarf der ständigen Prüfung. Für diese ständige Prüfung soll (c) das Kriterium der nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in Vorschlag gebracht werden. Das scheint zunächst einmal weder originell noch einfach. Nicht originell, weil die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro nun schon mehr als zehn Jahre zurückliegt und die Verbreitung des Begriffs nach wie vor auf Schwierigkeiten stößt. Nicht einfach, weil diese Schwierigkeiten natürlich damit zu tun haben, dass es sich bei der Nachhaltigkeit nicht um eine eindeutige und rasch nachvollziehbar operationalisierbare Handlungsmaxime handelt, vielmehr um eine regulative Idee, die Idee nämlich, »die Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensmodelle insbesondere der frühindustrialisierten Länder so zu gestalten, dass sie bei aller Vielfalt, die dabei natürlich nicht nur notwendig ist, sondern auch wünschenswert, prinzipiell auf dem gesamten Globus übertragbar sind« (Pfriem 2004c: 380). Das akzentuiert nebenbei den pluralen Begriff der Mondialisierungen gegenüber jenem singularen der Globalisierung, weil es bei der Gerechtigkeitsidee, die dem Ziel einer global nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zugrunde liegt, gerade nicht um Gleichmacherei

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272 | Reinhard Pfriem geht.44 Wohl aber geht es darum, die Zugangsmöglichkeiten von Völkern und Kulturen dieser Welt zu dem, was sie spezifisch als gelingendes Leben identifizieren, von jenen verzerrenden Einschränkungen zu befreien, die nach wie vor gegeben sind. Nachhaltigkeit ist gerade deshalb eine kulturelle Herausforderung, weil wir heute wissen, dass dieses ohne weiter reichende kulturelle Veränderungen insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern nicht zu haben ist. Sloterdijk (2005: 303f.) markiert das als die »systemische Unmöglichkeit, eine Einbeziehung aller Mitglieder der Menschengattung in ein homogenes Wohlfahrtssystem zu den heutigen technischen, energiepolitischen und ökologischen Bedingungen materialiter zu organisieren.« Die praktizierte Botschaft »Wie im Westen so auf Erden« (Sachs 1993) verschärft einstweilen alle Probleme. An der im schlechtesten Sinne des Wortes Unbekümmertheit, mit der in der immer noch so titulierten Volksrepublik China derzeit die Nachindustrialisierung betrieben wird, lässt sich zunächst einmal ablesen, wie wenig mögliche internationale Lernprozesse zustande kommen. In China und ähnlichen Weltregionen tätige Unternehmen aus solchen frühindustrialisierten Ländern, die über die Schattenseiten rücksichtsloser Industrialisierung bereits einiges gelernt haben, stehen hier natürlich in besonderer Verantwortung. Das verbindende Problem der genannten Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, wie nämlich die weniger entwickelten Länder der Erde ihre wirtschaftliche und Wohlfahrtsentwicklung voranbringen können, ohne erst recht globale ökologische Risiken zu vergrößern und Katastrophen zu befördern, kennt selbstverständlich nicht die eine große Lösung. Allerdings liegt es nicht nur an staatlichen und überstaatlichen politischen Gremien, sondern wesentlich auch an Unternehmen, die vielen kleinen Lösungen dafür zu entwickeln. Ähnliche Verantwortung stellt sich für Unternehmen hinsichtlich sozialer Probleme und Ungleichheiten. Nicht nur global ist die vorherrschende Dynamik gegenwärtig noch auf Vertiefung von Unterschieden gestellt. Berman konstatiert für die USA: »1973 verdiente der typische Chef einer großen Firma etwa 40 Mal so viel wie ein Arbeiter; heute verdient er 190 bis 419 Mal so viel.« (Berman 2002: 38) Und: »Zwischen 1979 und 1990 stieg die Zahl der amerikanischen Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben, um erstaunliche 22 Prozent an.« (Ebd.: 40) Selbst der nach vorgängiger Entwicklungslogik durchgeführte globale Exklusionsprozess, die materielle Wohlfahrt einer Minderheit von Ländern zu Lasten der Mehrheit zu sichern, funktioniert also nicht. Das Nicht-besser-gestellt-Werden der Exkludierten und die Vertiefung sozialer Ungleichheiten innerhalb des Inklusionsfeldes der dominierenden frühindustrialisierten Teile der Welt sind miteinander verkoppelt. Die strategische Führung von Unternehmen lässt sich verstehen als ein 44 | Zur Beziehung von Gleichheit und Gerechtigkeit vgl. Krebs (2004).

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Bündel von Suchprozessen. Nachhaltigkeit ist ein möglicher Orientierungsrahmen für solche Suchprozesse.45 Er handelt nicht einseitig von den externen Anforderungen, die an Unternehmen heute gestellt werden, sondern ebenso von der langfristigen Überlebens- und Entwicklungsfähigkeit des Unternehmens selber. Ein homogener Trend von Fortschritt und Innovation existiert nur als ideologischer Schein. Die aktuelle Anwandlung von Fortschritt zu Innovation könnte dabei als Zeichen ausgemacht werden, dass frühmoderne Hoffnungen eher begraben sind. Jenseits einer ins Leere laufenden Innovationsrhetorik stellt sich allerdings die Frage, wie eine zukunftsfähige Verbindung von Bewahrung und Generierung des Neuen gefunden werden kann. Unterschiedliche Strategien von Unternehmen befördern unterschiedliche kulturelle Entwicklungsstränge und Handlungsmuster. Gesellschaftlicher Verantwortung weisen Unternehmen auf diesem Wege in unterschiedlicher Weise Bedeutung bei. So können Unternehmen der Ernährungswirtschaft etwa die Auflösung familiärer Strukturen insbesondere in den großen Städten und die arbeitsbedingten Veränderungen der Zeitmuster dazu ausnutzen, industrielle Lebensmittel sehr geringer Qualität unter das Volk zu bringen, sie können sich freilich auch an der Aufgabe beteiligen, wie unter gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen trotzdem gesunde, umweltschonende und preiswerte Ernährung möglich ist und sich vielleicht gerade dadurch neue Märkte erschließen. Wenn Unternehmen lernen, die tatsächliche Offenheit Strategischen Managements als Umgang mit prinzipiell offener Zukunft für sich ernst zu nehmen, werden sie besser in der Lage sein, gegenüber Kunden und anderen Marktpartnern auf qualitativ wünschenswerte Entwicklungen hin zu kommunizieren. Knotenpunkt von Mondialisierungen werden zu können, verlangt nach solcher strategischer Aktivität.

4. Wertfreiheit, Moral und Parteilichkeit: von wissenschaftlichen Möglichkeiten, Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen analysieren zu können Wir befinden uns in der Moderne und schauen doch schon zurück. Erwerbswirtschaftliche Unternehmen, die den frühen wissenschaftlichen Beobachtern eingezwängt schienen in eine Struktur von Sachzwängen, die sie als Anpasser zu vollziehen hätten, können inzwischen aus einer Perspektive betrachtet werden, die der Kunsthistoriker Hofmann mit dem Begriff der

45 | Zur Verbindung von Corporate Citizenship und Sustainability s. Zadek (2001: insb. 105ff.).

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274 | Reinhard Pfriem Polyfokalität belegt hat (Hofmann 1998).46 Polyfokalität des Beobachters und Pluralität des Gegenstandes sind miteinander verkoppelt: Unternehmen sind als ökonomische Organisationen erkannt, die so oder anders handeln, so oder anders entscheiden können. Als Wissenschaftler die hinreichende Offenheit für die Beobachtung solcher Prozesse kultivieren zu können, ist allerdings an gewisse Voraussetzungen geknüpft. Aktuell in Deutschland forcierte Bemühungen, mehr wissenschaftliche Exzellenz zu fördern und zu selektieren, vermitteln in ihrer Art und Weise eher einen kontraproduktiven Eindruck. Die mögliche kritische Funktion von Wissenschaft gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft geht eher verloren, wenn die Maximierung von Artikeln in anerkannten Zeitschriften und die Menge von eingeworbenen Drittmitteln in den Vordergrund gedrückt werden. Quantität tritt an die Stelle von Qualität, denn die noch so hohe Qualität veröffentlichter Aufsätze ändert nichts an der Dynamik, dass immer mehr geschrieben als gründlich gelesen und vor allem darüber in der nötigen Gelassenheit kommuniziert wird, also etwa ohne den Druck, die eigene Rezeption dazu möglichst schnell wieder zu veröffentlichen. Die Tendenz zur permanenten Überforderung, die nach der Produktionssphäre den gesellschaftlichen Bereich von Konsum und Nutzung der Güter und Dienstleistungen längst erreicht hatte, droht sich nun das Wissenschaftssystem einzuverleiben. Unter der ständig schneller mahlenden Mühle von Akquisitionen, Publikationen und Konferenzen könnte das eigensinnige kritische Denken eher zermahlen werden. Die forcierte Unterordnung unter bestehende Regeln wissenschaftlicher Exzellenz macht es Regelbrechern noch schwerer, als echte Innovatoren zur Geltung zu kommen. Dieses Problem wird dadurch weiter verschärft, dass die Durchsetzung wissenschaftlicher Exzellenzmaßstäbe über die vorhandenen Institutionen der akademischen Fachdisziplinen erfolgt. Schon vorhandene Einsichten über den Wert inter- oder gar transdisziplinärer Forschung (vgl. Balsiger 2005) werden damit de facto verworfen. Der kritische Blick auf aktuelle Entwicklungen des Wissenschaftssystems ist hier deshalb so wichtig, weil die Herausbildung auch wissenschaftlicher Konzepte und Untersuchungen, die den mit dem Begriff der Mondialisierungen verbundenen Perspektiven Rechnung tragen, vermutlich von großem Gewicht sein wird. Vor der von Sloterdijk (2005: 331) befürchteten Konvergenz von Freiheit und Banalität ist nämlich auch das Wissenschaftssystem keineswegs gefeit. Das gilt zumal für die Betriebswirtschafts- und Managementlehre, der gleichsam systemisch das Risiko anhaftet, die bei Entscheidungsträgern von Unternehmen verbreiteten Untugenden der Machermentalität und der Überschätzung der eigenen Handlungsreichweite zu unterstützen. Eingebaut in reflektierte Verwendungen mögen »Tools« 46 | Eben in diesem Sinne werden bei Pfriem (2004a) die Unternehmen als Gebilde in verschiedenen Dimensionen betrachtet.

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und »best practices« ihren helfenden Wert haben. Der erneuten Homogenisierung werden aber Türen und Tore geöffnet, wenn vermeintlich standardisiertes Wissen für Praktiker aufbereitet wird mit der Botschaft, für mehr seien sie sowieso nicht in der Lage. Die Wissenschaft von Unternehmen als Knotenpunkten von Mondialisierungen erfordert also durchaus widerständiges wissenschaftliches Denken. Die kulturwissenschaftliche Herangehensweise, für die wir in Teilen der Oldenburger Betriebswirtschaftslehre bei der Analyse und Beratung von Unternehmen plädieren, braucht den Vorwurf der mangelnden Wertfreiheit nicht zu scheuen. Nachdem die Betriebswirtschaftslehre bis in die jüngste Vergangenheit hinein bemüht war47, unter dem Begriff praktisch-normativ Werturteile für bloß umsetzungsbezogene Entscheidungen zu reservieren, wird sie abermals von den Entwicklungen der Unternehmenspraxis überrollt. Diese ist mit ihrer Arbeit an Leitbildern und Visionen, über ihre Interaktionen mit den gesellschaftlichen Umwelten längst darauf angewiesen, gerade dafür aus der Wissenschaft hilfreiche, wertgeladene Hinweise zu bekommen. Wie Charles Taylor in seinem bereits genannten Beitrag für »Die Zeit« feststellt, ist die unablässige Bejahung des ökonomischen Fortschritts die verheerendste Verneinung von allen. Wenn es wie oben angeführt stimmt, dass nicht der Kapitalismus im Allgemeinen die Religion ist, vielmehr diese aufgespürt werden sollte in spezifizierenden gesellschaftlichen Imaginationen, unternehmerischen und Wirtschaftsstilen und -kulturen, dann wäre diese Bemerkung zu präzisieren: Bio- und Gentechnik, Wasserstoff- und Atomtechnologie, Energie- und Mobilitätsdienstleistungen, Wellness- und Gesundheitsindustrie, Freizeit- und Erlebnisökonomie und eine ganze Reihe anderer mehr sind Stichwörter für technisch, ökonomisch, sozial, ökologisch und kulturell höchst unterschiedliche Zukunftsoptionen. Eine gesellschaftlich und kulturell aufgeklärte Betriebswirtschaftslehre als Theorie der Unternehmung wie der Unternehmensführung könnte, angefangen von guter vergleichender empirischer Forschung, daran mitwirken, die Orientierungen auf wünschenswerte Zukünfte zu befördern. Die vom Herausgeber mit dem gewünschten Titel »Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen« verbundene Idee ist deshalb sehr mutig, weil sie zum Ziel hat, im Wechselspiel zwischen Unternehmen und Wissenschaft neue gesellschaftliche Imaginationen zu generieren, solche, die dem Handeln von Unternehmen im 21. Jahrhundert einen zukunftsfähigen Sinn geben. Nichts weniger wird gebraucht.

47 | Und im Mainstream der Lehrbücher für das Grundstudium immer noch ist, vgl. Wöhe (2000).

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In die Welt gestellt. Zur Rolle der Kunst | 281

In die Welt gestellt. Zur Rolle der Kunst im Globalisierungsprozess Jens E. Sennewald

1. Zur Darstellung Was ist »Welt«? Bevor der hier gestellten Frage nachgegangen werden kann, welche Rolle international agierende bildende Künstler und Kuratoren »als Vermittler zwischen ›Kunst‹ und ›Welt‹« (Rekade 2001) in der Vorstellung der Mondialisierung haben, soll zuerst die Frage behandelt werden, was »Welt« ist. In der Unterscheidung in »Globalisierung« und »Mondialisierung« hat man versucht, die Differenz zwischen Objekt-Welt und Ich-Welt zu erfassen. Letztlich beschreiben beide Begriffe jedoch dasselbe Phänomen. Es handelt sich um eine die geographische wie kulturelle Welt umspannende Intensivierung von Interdependenzen. Je nach Blickwinkel wird das unterschiedlich gewertet: entweder als Nivellierung kultureller wie ökonomischer Eigenheiten zum Zwecke der Gewinnmaximierung oder als Realisierung der lange ersehnten Internationalisierung von Gesellschaften und einer damit verbundenen Verbreitung von freiheitlich demokratischen Grundhaltungen (vgl. Fuchs 2003: 3ff.). Beide Einschätzungen betonen als Hauptzug der Globalisierung den Zuwachs an Bewegungsfreiheit, das Zusammenrücken von räumlich Entferntem. Sie entwerfen eine Vision weltumspannender Wirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten nie da gewesenen Ausmaßes, an denen tendenziell jeder teilhaben kann: ein Wunschbild, worauf nicht zuletzt Saskia Sassen in ihren Überlegungen zur globalen Stadt hinwies, indem sie betonte, dass es »unzureichend« sei,

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282 | Jens E. Sennewald »die Räumlichkeit der wirtschaftlichen Globalisierung nur im Sinne der Hypermobilität und der Komprimierung von Raum und Zeit – der dominanten Eckpunkte der aktuellen Konzeptualisierung – zu verstehen. Hypermobilität und Raum-Zeit-Komprimierung wollen erzeugt werden, und dies erfordert eine enorme Konzentration an Material und weniger mobiler Einrichtungen und Infrastrukturen. Diese müssen verwaltet und gewartet werden und bedingen somit zumeist ortsgebundene Arbeitsmärkte für Fachleute ebenso wie für Billigarbeitskräfte.« (Sassen 2002: 26)

Die Mobilität nimmt zu, doch nicht für alle. In globaler Dialektik fordert sie Sesshaftigkeit, ja verstärkt sie womöglich noch, indem sie den immobilen Stadtbürger infrastrukturell notwendig macht. Gleichwohl: Von beiden Seiten, aus der Sicht des Reisenden wie des Daheimgebliebenen, zeichnet der Begriff »Globalisierung« das Bild einer spielend erfassbaren Welt. Dies ist ein Bild, das bereits Echo von Urbanitäts- und Globalitätswünschen der späten Moderne ist. So formulierte der Situationist Constant Nieuwenhuys 1966: »Der homo ludens ist ein Nomade, dessen Aktionsradius den ganzen Globus umspannt« (zit. nach Westheider 2001: 9). Scheinbar mit einfacher Geste ist diese Welt zu umfassen, wie eine marmorne Kugel, die der Hand schmeichelt, die sie ergreift. Von welcher »Welt« ist die Rede? »Globus« ist ein vergleichsweise junges Wort, es ist erstmals vor dem 15. Jahrhundert nachgewiesen, damals noch eng an die lateinische Bedeutung »Kugel, Klumpen« gebunden. Der Begriff »Welt« hingegen ist relativ alt, das etymologische Wörterbuch datiert ihn vor das achte Jahrhundert. Es ist im Wortursprung ein zeitlicher Terminus, »wira-aldo«, eine Zusammensetzung aus »Mensch« und »Alter«, mit der bereits ausgedehnten Bedeutung »Zeitalter« (Kluge/Seebold 1999: 885). Greifen wir diese Etymologie auf, so lässt sich »Welt« als etwas definieren, das dem Menschen zustößt, das ihn angeht, das mit ihm wächst und ihn verändert, wie das Altern. »Welt« haftet »meinem Leib [an] wie das Nessoshemd« (Merleau-Ponty 1993: 152). Der Globus ist, anders als die Welt, ein Objekt. Wir sind in der Welt, doch wir blicken auf den Globus – und mit ihm: Die Kugel vor unserem Auge korrespondiert der Kugel, die das Auge selbst ist. Das Bild erhielt mit der Verbreitung des Internet und seiner Mediatisierung enorme Präsenz. Kaum ein Unternehmen, kaum ein Plakat, das im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht entweder Auge oder Weltkugel oder beides miteinander verschmolzen darstellt (vgl. Abb. 1). Mit Anbruch des Kommunikationszeitalters seit Mitte der 80er Jahre sind neben der Netzmetaphorik (vgl. Sennewald 2005) Globus und Auge die prominentesten Sinnbilder der öffentlichen Kommunikation geworden.

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Abbildung 1: Auge und Globus als Kommunikationsmode

Quelle: http://www.hds.de/files/img/Auge_mit_Globus2.jpg (gesehen am 10.4.2005). (gesehen am 10.4.2005).

Die Welt im Auge Das lenkt den Blick auf die Präsenz des Auges in der Bildgeschichte. In der Renaissance, dem Zeitalter der Reisen, Entdeckungen und des Individuums (vgl. Burckhardt 1988: 203ff.), bildet die geometrale Zentralperspektive ein einäugiges Subjekt. Nahezu sämtliche Konstruktionszeichnungen dieser seither vorherrschenden Perspektive zeigen das Sehfeld ausgehend von einem Auge, in dessen Blick sich die Welt zu einem geometrischen Musterbogen ordnet (vgl. Oskui 2004: 96-128) – eine Zentrierung des Auges, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitreichende Kritik fand (vgl. Merleau-Ponty 1964: 21ff.; Derrida 1997: 87ff.). Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in der Aufklärung, trat das Auge als isoliertes Organ in den Vordergrund der Bildwelten. Étienne-Louis

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284 | Jens E. Sennewald Boullée realisierte seinen utopischen Entwurf für ein Newton-Kenotaph als Riesenkugel, die in einer Verdoppelung das Himmelszelt in das Innere einer Weltkugel projiziert. Besonders im Schnitt erinnern die Entwurfszeichnungen an ein gigantisches Auge, in dem der Betrachter im Inneren an der Stelle des Sehpunktes steht und das, unbeeinflusst von der Außenwelt, aus sich heraus strahlt. »Die Kugelform ›bewirkt durch ihre Krümmung, dass der Betrachter sich dem, was er ansieht, nicht nähern kann‹ […]«, zitiert Ludwig Seyfarth den Architekten und fährt fort: »Boulées Beschreibung entspricht genau dem reinen Sehbild des Panoramas, dem ›Kino‹ des 19. Jahrhunderts (das erste wird 1794 in London eröffnet, 1800 die ersten in Paris und Berlin).« (Seyfarth 1989: 111) Es entsteht eine Arena, die Sehen und Gesehen-Werden zu einem Raum-Ereignis verschmilzt. Andere Bilder, wie die von Daniel Chodowiecki realisierten orbes pictus, isolieren das Auge als Sinnbild des männlichen Blicks (Hofmann 1989: 172ff.). Lavater wird über Form und Gestalt des Auges Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften ablesen können (vgl. Barta-Fliedl et al. 1999: 132, 136). Die ästhetisch-kunsttheoretische Konsequenz aus der Verschmelzung von Auge und Globus, von Licht und Erkenntnis und deren Aufhebung im Kunstwerk findet sich in der Farbentheorie des romantischen Künstlers Philipp Otto Runge. Er ordnete die Farben nicht mehr allein im Kreis oder im prismatischen Dreieck an, sondern trug sie auf einem durch Längenund Breitengrade unterteilten Globus ein (vgl. Hofmann 1989: 408; Runge 1982: 243ff.). Mit der Romantik und deren Erkenntnis der Interdependenz von Darstellung und Wahrnehmung wurde die Welt in einem Farbenglobus repräsentierbar, der, wie Werner Hofmann betonte, »nicht dem Geometrismus der ›vermessenen Welt‹ an[gehört];« vielmehr zeige, so fuhr Hofmann fort, der Globus die »Summe« von »Runges Welterklärung«, er könne »in der Kugel ein Konfliktpotential unterbringen, das einem Gesetz gehorcht. Dieses wieder verweist auf den Schöpfer. ›La contemplation du Créateur‹, dieses Ziel, das Boullée der Architektur setzte, kann sich auch beim Betrachten der Farbenkugel einstellen« (Hofmann 1989: 408). Die Schöpferanschauung wird schließlich zur Anschauung des Betrachters selbst. In seinem Auge entsteht, was er als farbige Welt erkennt. Aus dem monokularen Subjekt der Aufklärung ist ein dialogisches Ich geworden, das sich in jedem seiner Gegenüber als In-der-Welt-Seiendes erkennen kann. In der Moderne wird sich dieses Spiegelverhältnis erneut verschieben und mit Rimbauds »Ich ist ein Anderer« eine Rezentrierung finden.

Im Zwischen-Raum Auge und Globus, Blickendes und Erblicktes schieben sich immer mehr übereinander. Die Welt liegt dazwischen. Sie gleicht jenem zweiseitigen Schirm, wie ihn Leonardo in seiner Skizze eines Zeichners dargestellt hat

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(vgl. Abb. 2): Im Blick auf und durch das Gewebe erscheint ein Globus, der, würde er zurückblicken, sich im angestrengt kopierenden Auge des Zeichners wiedererkennen würde. »Die Blicke, die ich auf der Welt herumspazieren ließ«, schrieb Merleau-Ponty, »jemand hat sie vom anderen Ende her aufgegriffen und wendet sie gegen mich, um mich meinerseits zu treffen« (Merleau-Ponty 1993: 150). Abbildung 2: Da Vincis Perspektive

http://www.manovich.net/MEDIA_DB/leonardo-1.jpg (gesehen 10.4.2005).

Die entscheidende Frage im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist, wie diese Ich-Welt dargestellt werden kann. Wenn, wie Nietzsche schrieb, mit der philosophischen Abwertung der »wahren« auch die »scheinbare« Welt »abgeschafft« wurde, dann bleibt nur der Zwischenraum in einem phantomatischen Welt-Gebäude (Nietzsche 1930: 100). »Wahre« und »scheinbare« Welt sind, wie in der Fortführung des Projekts der Moderne Baudrillard nachdrücklich gezeigt hat, aufgehoben im Simulacrum (vgl. Baudrillard 1978; Kamper 1994). Das heißt vor allem: Sie sind noch in der Abwesenheit anwesend, als Spur, als Bahnung oder Einrichtung jenes Raumes, der nun

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286 | Jens E. Sennewald als »Welt« erfahren wird. Im Globus – mit Rekurs auf Boullée wäre zu präzisieren: in seiner Gestalt wie in ihm räumlich platziert – erblicken wir die Welt, wie sie uns entspricht; eine Welt, die überschaubar und zugleich unnahbar bleibt; eine Welt, die wir »im Auge« haben. »Beim Anblick von Kaffeehausbesuchern«, so Roland Barthes, »bemerkte jemand nicht zu Unrecht: ›Sehen Sie doch, wie tot sie wirken; in unserer Zeit sind die Bilder lebendiger als die Menschen.‹ Eines der Kennzeichen unserer Welt ist vielleicht diese Umkehrung: unser Leben folgt einem verallgemeinerten Imaginären« (Barthes 1989: 129). Bilder sind, was sich das Auge einrichtet. Sie bilden die notwendige Differenz zwischen Sehendem und Gesehenem, in der »Welt« als Welt-Alter liegt. In und mit ihr tritt ein Bild hervor, stellt sich zwischen Erfahrung, Erleben und Wahrnehmung und richtet »Welt« ein.

Braucht die Welt Darstellung? Kehren wir zurück zu der Frage, wie sich diese Welt darstellen lässt, indem wir zunächst die Frage stellen, ob sie überhaupt eine Darstellung braucht. Wenn sie als Zwischenraum existiert, dann tritt sie an uns heran, ohne dass wir sie als Bild wahrnehmen müssten. Und dennoch wird, gerade durch ihre Stellung dazwischen, die Präsenz des Bildes, seine Vorstellung zum Dreh- und Angelpunkt dessen, was wir von Welt erleben können. Mit Rückgriff auf Merleau-Pontys Metapher ließe sich sagen: Um Welt zu erfahren, müssen wir das Nessoshemd spüren, doch um es zu spüren, müssen wir es imaginieren. Welt braucht nicht nur Darstellung, sie gebraucht sie um hervorzutreten, zu existieren und im gleichen Augenblick in der Darstellung zu verschwinden. Gleicht das Globus-Auge Leibniz’ fensterloser Monade, die sich auf sich selbst abbildet, so gilt für die mundus als vorgestellter Welt, was Leibniz für die Seele schrieb: »Aber eine Seele kann in sich selbst nur das deutlich Vorgestellte lesen; sie kann nicht auf einen Schlag auseinanderlegen, was in ihr zusammengefaltet ist; denn diese Fältelung geht ins Unendliche.« (Leibniz 1994: 28) Welt ist ihr Bild. Insofern lässt sie nicht sich darstellen, sondern sie lässt darstellen. Welt, so wie sie uns betrifft, fordert uns zur Darstellung auf und sie lässt zugleich keine Wahl, sie nicht darzustellen. Was bedeutet das für jene Identität von Globus und Auge? Zunächst soviel: Die Welt-Bilder hindern sie am endgültigen Ineinander-Aufgehen. Das Bild des Narziss, das sich ihm entgegenstellt, hindert ihn, sich mit dem Objekt, das ihn ansieht, zu verschmelzen und somit sich zu töten. Wir alle kennen den Narziss-Mythos: Er stirbt schließlich doch und zwar just durch die Erkenntnis, dass es sein Bild ist, in das er sich verliebt hat. So verlor das Bild seine Darstellungsfunktion (vgl. Ovid 1986: 74f.). Das Konzept des Bild-Schirms (écran) als Reflexionsmedium des Subjekts fasste schon Lacan in seiner Wirkung für das Subjekt zusammen:

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»Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau.« (Lacan 1987: 102) Das Bild, das sich dazwischenstellt, um sich im Subjekt vorzustellen, ist sein Überlebensgarant. Übertragen auf Auge und Globus ermöglicht erst das Bild, dass sich eins im anderen erkennt, dass sich das blickende Auge im Globus als seiner Welt erkennbar wird. Dieses Bild ist transparent, eine Membran. Mit Bezug auf Ted Nelson, den Apologeten des Hypertext, hat Byung-Chul Han – nicht ohne kritische Ironie – geschrieben: »Windowing ist also der hypertextuelle Modus der Erfahrung. Es eröffnet die Welt. In diesem hypertextuellen Universum gibt es keine für sich isolierten Einheiten, also keine ›subjects‹ mehr. Alle spiegeln einander oder lassen in sich Andere durchscheinen. […] Der Bewohner des hypertextuellen Universums wäre eine Art Fensterwesen, das aus windows bestünde, durch die es die Welt empfinge.« (Han 2005: 49f.)

Durchblick auf Geschichte Ernst Panofsky (1975: 36-67) hat gezeigt, dass Kunst-Imago und Welt-Vorstellung auf eine Weise zusammenhängen, die ihre Bindung zum Modus der Denkbarkeit von Welt werden lässt. So wurde die geometrale Zentralperspektive möglich, indem ein historisches Bewusstsein entstand. Zugleich konnte dieses erst in jenem Raum als Tiefe und damit als temporale Staffelung ordnender Bilder zu sich kommen. Das Bild gewährt, in einem Prozess des Wiedererkennens als symbolische Form und der Übertragung eines Empfindungsgehaltes im Akt der Aneignung, eine Bewusstwerdung des betrachtenden Subjekts, indem auf dieses zurückfällt, was – im räumlichen wie temporalen Sinne – hinter dem Bild liegt. Sehr treffend hat Stéphanie Katz dieses »Zurückfallen« beschrieben, indem sie die Entstehung ihrer Fragestellung nach dem Bild-Schirm als Moment der Betroffenheit in den Höhlen von Altamira schilderte: »Ici et là, sur le territoire du visible des trois derniers millénaires, une réminiscence du projet d’Altamira insiste. De toutes parts, c’est la manifestation d’une image-écran qui apparaît, image biface qui contrarie toutes les dispositions de complétude de l’image-reflet monoface à laquelle nous croyons toujours avoir affaire.« (Katz 2004: 11)

Leibniz’ »Fältelung« aufnehmend, ließe sich das Verhältnis von Reflexion, Bild und Subjektivierung auch als partielles Entfalten oder Entrollen (evolutio) eines Welt-Gemäldes beschreiben, das wie ein gefallener Umhang zu den Füßen des nackten Subjekts liegt. Mit jeder sich öffnenden Falte entstehen neue Nischen und Verwerfungen, aus jeder sich glattziehenden Fläche des Gewebes tritt der durch die Zeiten hindurch abgelagerte Staub der Bedeutung hervor. In jenen Nischen wohnt, wie Georges Didi-Huberman mit Aby Warburg gezeigt hat, die Ninfa, Nymphe der Bewegung und des

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288 | Jens E. Sennewald Rückverweises, durch welche die inneren Bewegungen der Vergangenheit, die sich in Bildern sedimentiert haben, neu zum Vorschein kommen (Didi-Hubermann 2002: 11).1 Was wir sehen, wenn wir einzelne Falten öffnen, ist nicht das Entscheidende. Das Bild der Zeit besteht vielmehr in den kurz aufwallenden Staubwolken, die uns den Atem anhalten lassen und in deren Geruch die Erinnerung wohnt. Damit wird die Verschmelzung von Globus und Auge, von Sehendem und Gesehenem, verkompliziert. Nun kann nicht mehr einfach gelten, dass ein zwischen Ding-Welt und Subjekt tretendes Bild die Aufhebung des einen im anderen verhindert – und damit letzteres als reflektierendes, distanziertes Ich konstituiert. Vielmehr wirkt das Bild in doppelter Weise verhindernd und fördernd. Was sich durch die Membran hindurch abzeichnet, bewirkt erst ein Begehren nach Aneignung, das im gleichen Zuge durch das Bild verhindert wird. Anders gesagt: Das Subjekt, das sich in der Ding-Welt erkennt, die im Blick durch das Bild Geschichte erhält, ist gehalten, um sich als solches zu manifestieren, sich die Ding-Welt einzuverleiben. Genau dieses Bestreben garantiert, dass es eine totale Aufhebung in der Ding-Welt immer verfehlt und sich das auf diese Weise verspannte Gefüge erhält.

Ein Ort in der Welt Weiter oben wurde festgestellt, dass »die Welt dazwischen liegt«, womit gemeint war, dass jene »Welt« – in der das etymologische »Menschen-Alter« noch anklingt, und die sich von Ding-Welt (»globus«) wie Ich-Welt (»mundus«) unterscheidet – einen Platz einnimmt, räumlich situiert ist, als topos wirkt. Es ist ein Ort, auf den sich das Subjekt bezieht und der es bezieht, im dreifachen Sinne der Einkleidung, der Referenz und des Erhalts. Dieser dreifache Beziehungsbegriff gibt recht genau wieder, was das Geflecht aus Welt, Bild und Ich ausmacht, das Jacques Lacan als Borromäischen Knoten aus imaginären (Einkleidung), symbolischen (Referenz) und realen (Erhalt) Bezügen beschrieben hat (vgl. Lacan 1991: 127ff.). Für uns wird hier der Raum interessant, der zwischen und um die ineinander gelegten Stränge des Knotens entsteht. Welcher der drei Dimensionen gehört er an? Oder ist er jenes Flimmern, das Sartre als Bild für den Sinn gefunden hat, der um die Stränge flimmert wie »Hitzedunst«?2

1 | »Héroïne démultipliable de l’inquiétante étrangeté, elle nous fait don d’›arrière-ressemblances‹ où tous les temps, soudain, se mettent à danser ensemble. Et où toutes ses incarnations possibles viennent de mêler comme en un rêve. […] Car Ninfa ne va jamais ›quelque part‹. Toujours elle surgit dans le présent du regard, toujours ce surgissement dévoile un éternel retour.« (Ebd.) 2 | »Sicher, kaum hat dieser [der Maler, JES] sein System von Äquivalenzen

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Der hier gemeinte Raum ist nicht wahrnehmbar, denn er ist die Wahrnehmung selbst. Nicht in ihm spielt sich die Verschlingung von Imaginärem, Realem und Symbolischem ab, sondern mit ihm. Er entsteht im Prozess der Subjektivierung und legt sich um das Ich wie das Nessoshemd. Dieser Raum bedeutet unsere Welt und gibt somit dem Subjekt einen Ort. Einen wechselnden, sich verschiebenden und rutschenden Ort, doch gleichwohl einen topos. Wir haben nun auseinander gelegt, in welche Sphären sich Welt differenzieren lässt. Es ist deutlich geworden, dass sowohl Globus und Mundus miteinander verschlungen sind, als auch, dass es der Abstand ist, die Distanzierung zwischen ihnen durch das Gewebe des Bildes, das den Blick auf die Geschichte lenkt, durch den beide in der Verschlingung gleichzeitig in Bewegung gehalten und fixiert, nämlich aufeinander bezogen werden. »Welt« als Welt-Alter wäre in dieser Betrachtung der Raum, der um die objektivierte wie die erfahrene Welt »flimmert«. Damit ist auch deutlich geworden, dass die Frage nach der Darstellung sich nicht mehr in Abhängigkeit von Kategorien wie Materialität, Form oder Bedeutung aufwirft. Es ist auch nicht möglich zu behaupten, es gäbe eine Welt ohne Darstellung oder die Darstellungen seien Abbilder oder Illustrationen von Welt. In der Beziehung von Welt und Darstellung gibt es, wie zwischen Sprache und Sinn oder zwischen Leib und Seele »weder ein Primäres noch ein Sekundäres« (Beauvoir nach Merleau-Ponty 1993: 129).

2. Zur Kunst Was kann »Kunst«? Indem deutlich wurde, wie zu differenzieren ist zwischen Globus, Mundus und Welt-Alter (und dass diese in einem Darstellungsverhältnis miteinander verbunden sind), wurde auch klar, welche konstitutive Rolle die Darstellung – im weitesten Sinne als »Bild« bezeichnet – für unser In-der-Welt-Sein spielt. Mit diesem Schritt wird neben dem Faktum, dass Kunst und ihre Formen keinesfalls akzidenziell zur Welt hinzutreten, die Frage drängend, wie das, was auf dem Bild zu sehen ist, durch das hindurch die Welt uns (an)erkennt, gestaltet werden kann. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts brach das so genannte Kommunikationszeitalter an, repräsentiert z.B. in der Konjunktur dem Schauspiel der Welt abgerungen, versetzt er es wieder in Farben, in einen Raum, auf eine Leinwand; der Sinn prägt sich eher dem Bild ein, als daß das Bild ihn ausdrückt. […] Der Sinn sickert eher ein in das Bild, bewohnt es oder sucht es heim und flimmert eher ›wie Hitzedunst‹ [Sartre, JES] um es herum, als daß er durch es sichtbar würde.« (Merleau-Ponty 1993: 82)

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290 | Jens E. Sennewald der »Netz«-Metaphorik. Es wurde das »Ende der Gutenberg-Galaxis« ausgerufen (vgl. Bolz 1995) und der Begriff des Textes – von der »Lust am Text« (Barthes 1992) bis zur »Stadt als Text« (Butor 1992; vgl. Smuda 1992) – fand Anwendung auf fast alle Lebensbereiche. Zugleich wandelte sich die Aufmerksamkeit für die Bilder, der so genannte iconic turn setzte ein, dessen Bedeutung Hubert Burda in dem Satz gefasst hat: »Es sind nicht Texte, sondern Bilder, die die Wende zum 21. Jahrhundert markieren und sich in unsere Köpfe eingebrannt haben.« (Maar/Burda 2004: 11) In diesem Zeitraum entstanden im Feld der bildenden Kunst zwei wichtige und für die gegenwärtige Entwicklung des »Kunst-Betriebs« entscheidende Bewegungen »engagierter« Arbeit im Kunst-Feld: zum einen Institutions-Kritik, zum anderen Internationalisierung, spezifisch geprägt dadurch, dass unabhängige Kuratoren ihre Arbeit aufnahmen bzw. breit wahrgenommene Ausstellungen veranstalteten. Als Schlüsselfiguren der Institutions-Kritik gelten Künstlerinnen wie Martha Rosler, Renee Green, Andrea Fraser und Künstler wie Rirkrit Tiravanija (vgl. Möntmann 2002). Als Auslöser der Bewegung »freier« Kuratoren gilt der gerade verstorbene Harald Szeemann (vgl. Rekade 2005, 2001; Greenberg et al. 1996).3 Beide Bewegungen haben auf je unterschiedliche Weise zu einer Diskussion beigetragen, die im philosophischen Feld von Judith Butler in ihrem – nach ihren Arbeiten zur Geschlechter-Frage (vgl. Butler 1991, 1997) – ungleich weniger beachteten Essay zur Frage der Subjektivierung auf den Punkt gebracht wurde (vgl. Butler 2001). Es ist die Frage, wie, wenn man nach Herr-Knecht-Dialektik und nach der Erkenntnis, dass das Unbewusste nicht »Herr im eigenen Haus« ist, das Subjekt noch aktiv politisch handeln kann, ohne sich sogleich in den dialektischen Abhängigkeiten zur Macht, in den Strukturen ihrer Instaurierung qua Unterwerfung und Widerstand, zu verstricken. »Will das Subjekt weiterleben,« so schreibt Butler, »muß es sein eigenes Begehren durchkreuzen. Und damit das Begehren triumphieren kann, muß das Subjekt von Auflösung bedroht sein. […] [D]as ›Ich‹ entsteht unter der Bedingung, daß es seine Formierung in Abhängigkeit, daß es seine eigenen Möglichkeitsbedingungen verleugnet.« (Ebd.: 14f.)

Ein solches Subjekt, für das »im Rahmen der Subjektivation […] Unterordnung der Preis der Existenz [ist]« (ebd. 25), verfehlt sich mit jeder Handlung, mit der es sich zu verwirklichen trachtet. Doch gerade diese Verfeh-

3 | Rekade (2001) liefert in der Einleitung eine gute Übersicht über die bisher vorliegende Literatur zum Thema der freien Kuratoren und Kuratorinnen. Der größere Teil der Diskussion des Phänomens liegt als Zeitschriften-Artikel oder Interviews vor.

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lung konstitutiert es als von mächtigen Strukturen (symbolischer Ordnung) abhängiges Subjekt. Ein freies Subjekt, das von sich unabhängig seine Bedingungen ändern könnte, gibt es demnach nicht. Die zitierten künstlerischen wie kuratorischen Bewegungen setzten sich mit diesem Problem auseinander. Sie traten gerade nicht an, die Bedingungen des künstlerischen Subjekts zu ändern, sondern arbeiteten an den Subjektivierungsprozessen. Überdecken sich Auge und Globus, Betrachtendes und betrachtete »Welt«, wird somit das Subjekt in seiner Bild-Welt aufgehoben, so stellt sich parallel dazu die Frage, wie es in ihr noch wirken, handeln, gestalten kann. Im Feld der Kunst ist die Antwort in den 1990er Jahren nicht mehr der Entwurf eines schöpferisch die Welt gestaltenden Subjekts, sondern eine Wendung auf die Gestaltungsbedingungen selbst.

Die Welt der Schau Auf der Startseite der schon 1975 gegründeten amerikanischen Vereinigung unabhängiger Kuratoren blickt den Internauten eine Augen-Sammlung an (http://www.ici-exhibitions.org, gesehen am 5.4.2005). Anders als im ausgehenden 18. Jahrhundert sind hier die Augen isoliert, ohne Lid und Tränensack, und vor allem nicht im Profil, sondern frontal aufgenommen. Es handelt sich um freigestellte Pupillen mit verschieden weit geöffneter Iris, fast könnten es raffiniert gegossene Glasscheiben sein. Eines der Mitglieder im vielköpfigen Ausstellungskomitee des ICI ist Okwui Enwezor, einstiger Direktor der »documenta 11«. Der freie Kurator nigerianischer Abstammung hatte die Kasseler Kunstausstellung im Jahr 2002 zu einer Manifestation postkolonialer Standpunkte und globaler Kunstpositionen gemacht. Erklärtes Ziel der Schau, bei der die Hälfte der 118 geladenen Künstler aus der südlichen Hemisphäre kamen oder migrantischer Herkunft waren, war, eine der Konsequenzen aus der Internationalisierung der Kunst zu ziehen und deutlich zu machen, dass sich der Kunstdiskurs längst nicht mehr in der ebenfalls als Herr-Knecht-Dialektik beschreibbaren Abhängigkeit »eurozentrischer« Definitionsmacht zu »dem Rest der Welt« aufgeht. Enwezor und sein Kuratorenteam dehnten die »documenta« aus, ließen ihr mehrere Plattformen vorangehen, zu denen namhafte, kritische Denker in verschiedenen Orten der Welt (Wien/Berlin, Neu Dehli, St. Lucia und Lagos) sich zu teils per Livestream über das Internet übertragenen Diskussionsveranstaltungen versammelten und zu zentralen Problemen der Globalisierung diskutierten. So wichtig und folgenreich dieser Schritt und die dann in Kassel stattfindende Ausstellung war, so deutlich wurden auch die Probleme dieser »Welt-Schau«. Was als Plattformen in die Länder international bemerkte Diskussionen tragen sollte, blieb meist auf den Reiseclub global agierender Kunstbetriebler beschränkt. Von den Orten selbst, wie übrigens seit Existenz der »documenta« auch in Kassel selbst

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292 | Jens E. Sennewald immer wieder bemängelt wird, bemerkte der umherziehende Kunstzirkus wie auch das interessierte Publikum am heimischen Computerbildschirm wenig. Statt dass die »fremden« Schauplätze auf die herrschenden Bühnen getragen und letztere damit verändert worden wären, schien sich die Bühne schlicht auszudehnen. Das ließ sich unter anderem an den Veränderungen auf dem Kunstmarkt bemerken, der, wie einst die »primitive Kunst« durch die Aufnahme der Moderne, nun die »engagierte« Kunst der Drittwelt-Länder und den meist mit ihnen verbundenen Transnationalitäts- und Migrationsdiskurs zum Label machte. Das handelnde Subjekt hatte, wieder einmal, seine Absicht verfehlt und sich, obwohl es doch nun im global-engagierten Austausch aufgehen wollte, als rezeptives, perspektivierendes und letztlich herrschendes Subjekt neu eingerichtet. Vielleicht lag diese Konsequenz schon in der Ausgangsfrage, die eine Verortung der aktuellen Kunst in einer durch Internationalisierung, Migration und Pluralität geprägten Gesellschaft anstrebte. Statt sich auf die Dynamik der Zwischenräume einzulassen, wurde nach einem gemeinsam zu besetzenden Ort gesucht: »Wo genau in diesen Zwischenräumen zwischen lokalem Geburtsort und vorübergehendem Aufenthaltsort«, so fragte Enwezor, »lassen sich das Lokale und das Globale ausmachen?« (Müller 2002) Dieser Ort war, für 100 Tage, die »documenta«. Und er wurde zum Topos, zum Referenzort für die danach einsetzende Re-Formierung des Kunstfeldes.

Im Freiheits-Raum Eine andere der Ausstellungen, die vom ICI unterstützt wurde, war »do it«, von dem Schweizer Hans Ulrich Obrist. Der Kurator am Museum für Moderne Kunst der Stadt Paris konzipierte hier, damit einem seiner Hauptthemen folgend, eine Ausstellung von Noch-nicht-Kunst. Die Schau bestand aus Handlungsanweisungen, die Werke waren also erst noch vom Publikum, nach diesen Anweisungen, zu erstellen. Obrist arbeitet seit seinen Anfängen als autodidaktischer Kunstkenner an Kunst in Bewegung und neuen Formen und Konzeptionen von Ausstellung. Er darf als Prototyp einer Kuratorengeneration gelten, die in den frühen 90er Jahren die Arbeit aufnahm und in der Folgezeit maßgeblich das internationale Ausstellungsgeschehen beeinflusste. Diese unabhängigen Kuratoren zeichnen sich vor allem durch ein enormes Reisepensum aus: Weltweit sind sie nicht nur auf der Suche nach neuen Talenten, sondern veranstalten auch mit lokalen Künstlern zusammen Ausstellungen an bisher vom eurozentrischen oder amerikanischen Kunstbetrieb ignorierten, mithin im Kunstdiskurs unterrepräsentierten Orten der Welt. Das führte zu Befürchtungen, namentlich meinte der Kurator und Direktor der 50. Biennale von Venedig, Francesco Bonami, »die Groß-Kurato-

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ren des globalen Zeitalters […] könnten zu Safariveranstaltern werden, die Material für den Kunst-Zoo sammeln, dabei Künstler und Kunstwerke aus ihren lokalen Zusammenhängen reißen und ihre Identität ausbeuten« (Fuhr 2003). Eine Befürchtung, die nur in Teilen zutrifft, denn zunächst eint die neuen Kuratoren das Interesse an der Schaffung flexibler und innovationsfähiger Strukturen, da, so der chinesische Kurator Hu Hanrou, »die Strukturen und Systeme in Europa und den Vereinigten Staaten mittlerweile so statisch sind, dass das auf Kosten künstlerischer Innovation geht« (Kittelberger 2002). Mit der Ausstellung »Cities on the move« realisierten Obrist und Hanrou 1997 eine Ausstellung, die als Plattform dienen sollte, auf der zeitgenössische künstlerische Positionen verscheidener Kulturen und Nationen versammelt werden. Das Postulat neuer kultureller Identitäten im Katalog liest sich wie das Programm für den Kurator im Freiheits-Raum: »The new cultural identities are claimed to be open, unstable, ever-changing, hybrid and transgressive of established boundaries.« (Zit. nach Rekade 2001) Während von künstlerischer Seite der Ausstellungsraum von Museen, Kunsthallen oder Galerien entweder angeeignet (Rosler), de-sakralisiert (Fraser), re-kontextualisiert (Green) oder perforiert (Tiravanija) wurde, erarbeiteten die »unabhängigen« Kuratoren einen, wie Szeemann es nannte, »Freiheitsraum« zwischen Institution und Künstler, den sie zunehmend ausgestalteten. Eine inzwischen kaum noch überschaubare und stetig wachsende Zahl internationaler Biennalen (zuletzt vielleicht am spektakulärsten die Moskau-Biennale 2005) ist nur eine Folgewirkung dieser »Räumung« im Bezugssystem Kunst. Entscheidend ist, dass mit den 90er Jahren die Frage nach den Spiel- und Interventionsräumen der Kunst neu und nachdrücklich gestellt wurde. Autor- und Werkbegriff, schon seit den frühen 60er Jahren im Umbruch, bekamen eine neue Bedeutung, aus dem Künstler als Schöpfer wurde der Werkproduzent, der Gestalter und schließlich der Aktivist. Die Arbeiten tendierten weg vom statischen Objekt und hin zum Ephemeren, zur zeitlich begrenzten Intervention, die temporär Wahrnehmungen und Einstellungen verändern wollte. Eine Antwort auf die Frage, welche Möglichkeiten der Weltgestaltung es gibt, läge in der Schaffung von Nicht-Orten, von Transitionsräumen, die für den Moment ihrer Erfahrung den Blick auf die Welt verschieben.

Darstellung als Dynamisierung von »Welt« Mit der Bewegung der unabhängigen Kuratoren, die sich durch Prozessorientierung und Komplexitätsbereitschaft auszeichnet, wurde auch Rollentausch möglich. So trat der Künstler Rirkrit Tiravanija auch als Kurator, namentlich der mit Hans Ulrich Obrist und der Kuratorin Molly Nesbit veranstalteten Reiseausstellung »Utopia Station« auf. Im theoretischen Konzepttext zu dieser Schau, die als Plattform Werke ausstellte, die vor allem

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294 | Jens E. Sennewald als Diskussionsanstöße wirken sollten und durch entsprechende Veranstaltungen begleitet wurden, nehmen die Kuratoren Bezug auf eine Debatte zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch aus dem Jahre 1964. Ersterer konfrontierte hier letzteren mit der Behauptung, die Utopien der Gesellschaft seien nun realisiert: »›One could perhaps say in general,‹ he noted, ›that the fulfillment of utopia‹ consists largely only in the repetition of the continually same ›today‹.« (http://www.e-flux.com/projects/utopia/about. html, gesehen am 12.4.2005) Bloch erwiderte, mit Bezugnahme auf Brechts »etwas fehlt«, mit einer Frage: »What is this ›something‹?« Und er antwortete: »If it is not allowed to be cast in a picture, then I shall portray it as in the process of being.« (Ebd.) Die Ausstellungsorganisatoren nahmen diese Wendung des Utopischen vom Nicht-Ort und damit, im Sinne Adornos, vom Ort des Stillstandes, zum Prozess selbst auf und gestalteten ihre »Station« sowohl im Aufbau wie in der Referenz und der Produktion als prozessualen Raum. Utopie sollte hier durch das Zusammentragen von Beiträgen gestaltet, nicht definiert werden, der Begriff selbst zum »catalyst« oder »fuel« werden, um eine aktivistische Debatte zur Gestaltung der Welt voranzutreiben. Martha Rosler, die ebenfalls hierzu beitrug, schrieb: »[U]topia is, […] what moves.« (Ebd.) Man könnte ergänzen: Kunst ist Utopie und damit permanent in Bewegung. Auf diese Dynamik zu reagieren, sie zu fördern und zu gestalten, ist zweifellos ein Verdienst jener unabhängigen Kuratoren, die zu dieser Bewegung beigetragen haben. Sie suchen weniger nach Darstellungen des Zwischenraumes als vielmehr danach, solche Zwischenräume entstehen zu lassen und in Bewegung zu halten. Auch das hält Probleme bereit, die bisher ungelöst sind. Sie reichen von der erwähnten »Bedienung« des Kunstmarktes über die Neigung zur Schließung als »Safari-Club« und einer Wiederholung des Gleichen (die Kuratoren zeigen international immer wieder ihre »Lieblings-Künstler«), bis hin zu schlichter Überforderung sowohl der künstlerischen wie der kuratorischen Leistungsmöglichkeiten. Künstler wären mit der Anforderung, zur Lösung der Globalisierungsproblematik beizutragen, ebenso überfordert wie Kuratoren, die beinahe zeitgleich an mehreren verschiedenen Orten der Welt intervenieren wollen. Bei aller Dynamik ist die Grundlage reflektierender Aneignung noch immer das kontemplative Moment und die Einlassung auf Vorgefundenes.

Identifikationsfiguren Mit der Feststellung, dass »Kunst« als Darstellung »Welt« (im Sinne des Welt-Alters) hervortreten lässt, wie sie zugleich von jener dazu aufgerufen ist, wurde bereits deutlich, dass die künstlerische Handlung eine Form von Interdependenz darstellt, die weit entfernt ist von der souveränen Intervention und vielmehr als gegenseitige In-Kraft-Setzung verstanden werden

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muss. Zusammen gesehen mit der Erkenntnis, dass Subjektivation eine Form der Ermächtigung in der Verfehlung und Unterwerfung ist, eignen sich die Beobachtungen an der parallelen Entwicklung von Institutionskritik und unabhängigen Kuratoren zu einer Klärung der Frage nach den Möglichkeiten von engagierter Gestaltung heute. Nicht nur in Ausstellungen (wie der Schau aktueller Aktivisten »hardcore« im Pariser Palais de Tokyo, 2003), sondern auch in konkreten interventionistischen und aktivistischen Projekten nehmen aktuell immer mehr Künstler an der Globalisierungskritik teil (vgl. Royer 2001; Sennewald 2003; 2002). Kuratoren und Künstler selbst sind Faktoren der »Globalisierung«. Wie in den 80er Jahren die Künstler, als »Überlebenskünstler« und Patchworkarbeiter, als Kulturarbeiter im Post-Fordismus, die qua Berufswahl dazu gezwungen sind, immer mehrere Jobs auszuüben, gleichsam zum Idealtypus des »flexiblen Menschen« geworden sind (vgl. von Osten 2000; Sennett 2001), so kann den global agierenden Kuratoren eine Vorbildfunktion des globalisierten Bürgers zugewiesen werden. Sie machen vor, wie mit Globalisierung umgegangen werden kann und beschleunigen, in persona darstellend, was als »Globalisierung« verstanden werden kann, selbst erst den Prozess der weltweiten Intensivierung von Interdependenz. Es handelt sich also nicht, wie in den Kritiken an den Reisekuratoren angeklungen ist, um eine Abbildung bestehender Herrschaftsstrukturen, sondern vielmehr um die Darstellung dieser Strukturen und damit um deren In-die-Welt-Setzen. Künstler wie Kuratoren agieren als jenes Bild, das als Membran den Blick auf Geschichte lenkt und zugleich das Begehren erzeugt, sich diese so dargestellte Welt anzueignen. Ein Begehren, das sich nicht zuletzt in den erwähnten Reaktionen des Kunstmarktes manifestiert und, wie gezeigt, das, wonach es greift, immer verfehlt, auf diese Weise die Verspannung Ich – Bild – Symbol aufrechterhaltend.

Die Welt als Ort Kuratoren erarbeiten Dispositive und werden selbst zum Dispositiv einer »Globalisierung«, die sich als Bild im Identifikationsmuster verwirklicht. Biennalen und andere medienwirksame Ausstellungen in bisher als jenseits der eigenen Kultur wahrgenommenen Ländern schaffen Topoi, die als Referenzpunkt der »Globalisierung« dienen. Bereits im Zusammenhang mit ihrer im Centre Pompidou 1990 realisierten Ausstellung »Passages de l’image« sprach die Kuratorin Catherine David, später Direktorin der »documenta X«, von einer »Krise des Bildes« und fuhr fort: »Es dreht sich um die Strategien des zeitgenössischen Bildes, und die sind nicht mehr dazu da, schön zu sein oder um uns zu erfreuen. Es sind Strategien gegenüber einem bestimmten Zustand der Medien, gegenüber bestimmten politischen Momenten, gegenüber der herrschenden Kultur.« (Haase 1996, zit. nach Rekade 2001)

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296 | Jens E. Sennewald Wie in einem Taschenlampenstrahl, der auf der Weltoberfläche umhertastet, treten die jeweiligen Konstellationen hervor, um, sobald die Suche weitergeht, wieder im Dunkel zu verschwinden. Doch sie bleiben vom einmaligen Auftauchen nicht unverändert, werden, als Topos, zum Bestandteil einer »Welt«, die sich in den Ordnungen ihrer Verweisstrukturen – eines Globus, der sich im Auge – erkennt. »Alle Gestalten unserer Welt sind verändert, weil eine von ihnen ihrer einfachen Seinsweise entrissen worden ist, um alle andern zu repräsentieren und zum Schlüssel oder zum Stil dieser Welt zu werden, zum allgemeinen Mittel ihrer Interpretation.« (Merleau-Ponty 1993: 148)

»Welt« selbst ist eine solche »Gestalt«, mit der interpretierbar werden soll, was uns begegnet. Die kuratorisch/künstlerisch engagierte Arbeit ist gleichsam das »Flimmern« um diese allgemeine Interpretationsarbeit herum. Mit ihm wird die Welt (Globus) neu betrachtbar, erhält andere Aspekte und neue Ding-Qualitäten. Die Ich-Welt (Mundus) wird ihrerseits verändert, indem sie durch Vorbilder angereichert wird, Identifikationsangebote erhält. Der entscheidende Unterschied zu anderen Darstellungsbewegungen ist nun, dass den aktuellen Bewegungen »Welt« selbst zum Topos, zum Bezugsort wird. Künstler wie Kuratoren beziehen sich in ihrer Arbeit nicht mehr allein auf »Welt« im abstrakten Sinne einer Summe der gemeinsam geteilten Erscheinungen, sondern auch und explizit mit Gestaltungs- und Interventionsabsicht auf Welt im Sinne des Globus. An der oben skizzierten Aufstellung, wonach Ding-Welt und Ich-Welt durch das zwischen ihnen stehende Bild aufeinander bezogen und im Begehren des Subjekts miteinander verspannt werden, ändert dieses neue sujet freilich nichts. Nach wie vor liegt »Welt« als »Welt-Alter«, als jenes, das uns angeht, das uns anhängt, um uns liegt und uns berührt, dazwischen. Ist »Welt« im Gefüge der Weltdarstellung das Nicht-Darstellbare, nämlich die Darstellung selbst. Auf die Globalisierungsfrage kann auch aus der Perspektive der Kunst nur eine Frage antworten: Wie gestalte ich meine Welt? Zugleich ist deutlich geworden, dass mit jeder Zuwendung zu »Welt« diese sich verändert. Eine Darstellungsarbeit, die sich auf Zwischenräume, auf Prozesse und Bewegungen konzentriert, wird daher adäquat auf eine Globalisierung antworten, die gleichsam die Reflexion dieser Arbeit ist. Eine distanziert-kontrollierende Gestaltung von Globalisierung wird es nicht geben können. Sie würde aus der Haltung jenes einäugigen Subjekts unternommen, das zwangsläufig verfehlt, was es begehrt. Vielmehr lässt die Auseinandersetzung mit dem Welt-Bild erkennen, dass nur ein Umgang mit Globalisierung diese auch modifiziert. Zuwendung, Vor- und Darstellung sind die Modi, mit denen sich »Welt« gestaltet. Sie schmiegt sich als »Nessoshemd« jeder unserer Bewegungen an. Es ist an uns, statt es uns

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vom Leib reißen oder zu unseren Füßen gleiten lassen zu wollen, dieses Hemd mit Bewegung zu erfüllen.

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298 | Jens E. Sennewald Hofmann, Werner (Hg.) (1989): Europa 1789. Aufklärung, Verklärung, Verfall, Kat. Hamburger Kunsthalle zur gleichnamigen Ausst. v. 15.9.-19. 11.1989, Köln: DuMont. Kamper, Dietmar (1994): Bildstörungen – im Orbit des Imaginären, Stuttgart: Hatje Cantz. Katz, Stéphanie (2004): L’écran, de l’icône au virtuel. La résistance de l’infigurable, Paris: L’Harmattan. Kittelberger, Susanne (2002): »Fernost, Mainstream oder Folklore. Ein Interview mit dem chinesischen Kurator Hu Hanrou«. In: Zeitschrift für KulturAustausch 2, in: URL: http://www.ifa.de/zfk/interviews/dhou.htm, gesehen am 10.4.2005. Kluge, Friedrich/Seebold, Elmar (1999): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin: de Gruyter. Lacan, Jacques (1987): »Linie und Licht«. In: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/ Berlin: Quadriga, S. 97-111. Lacan, Jacques (1991): Das Seminar, Buch XX (1972-1973): Encore, Weinheim/Berlin: Quadriga. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1994): Monadologie, Stuttgart: reclam. Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.) (2004): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont. Merleau-Ponty, Maurice (1964): Le Visible et l’invisible suivi des notes de travail, Paris: Gallimard. Merleau-Ponty, Maurice (1993): Die Prosa der Welt, hg. von Claude Lefort, München: Fink. Möntmann, Nina (2002): Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renee Green, Köln: Walther König. Müller, Jochen (2002): »Irritierende Blicke«. In: Freitag 22 vom 24.5.2002, in: URL: http://www.freitag.de/2002/22/02221601.php, gesehen am 10.4.2005. Nietzsche, Friedrich (1930): »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrtums«. In: ders.: Götzendämmerung, Der Antichrist, Gedichte, Leipzig: Kröner, S. 99-100. Oskui, Daniel (2004): »L’espace sauvage: Merleau-Ponty et la pensée mécanique, picturale et poétique de l’espace«. In: Franck Hofmann et al. (Hg.), Raum – Dynamik /dynamique de l’espace. Beiträge zu einer Praxis des Raums /contributions aux pratiques de l’espace, Bielefeld: transcript, S. 96-127. Ovid (1986): Metamorphosen, 3. Buch, vv. 463-473, übers. a. d. Lat. von Reinhart Suchier, Wiesbaden: Drei Lilien. Panofsky, Erwin (1975): »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance«. In: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: DuMont, S. 36-67.

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Immaterielles kulturelles Erbe als Bildungsaufgabe Christoph Wulf

Das immaterielle Erbe ist ein zentrales Element des kulturellen Erbes der Menschheit, das Werke und Praktiken aus vielen unterschiedlichen Kulturen umfasst, deren Bedeutung für die gesamte Menschheit unstrittig ist. Diese Werke und Praktiken spielen für die Erziehungs- und Bildungsprozesse der Menschen eine wichtige Rolle. Sie sind Ausdruck kultureller Vielfalt und fördern Verständigungsprozesse zwischen den Menschen. Sie initiieren Erziehungs- und Bildungsprozesse, in denen das kulturelle Erbe an die nachwachsenden Generationen weiter vermittelt wird. In diesen Prozessen machen junge Menschen unter den Bedingungen der Globalisierung wichtige Erfahrungen der Heterogenität und Alterität (Wulf/Merkel 2002). Während die Bedeutung der Denkmäler auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes für das kulturelle Selbstverständnis der Menschheit unstrittig ist, wird die Rolle der Praktiken des immateriellen Kulturerbes kontrovers diskutiert. Da die allgemein geschätzten Denkmäler jedoch das Ergebnis immaterieller kultureller Praktiken sind, überrascht diese Diskussion besonders. Wer einen Blick auf die »Masterpieces« und die »Second Proclamation of the Oral and Intangible Heritage« wirft, wird von dem hohen kulturellen Wert dieser Praktiken erfasst und beeindruckt (UNESCO 2001, 2003, 2004). Die materiellen und die immateriellen Produkte des kulturellen Erbes der Menschheit haben viele Gemeinsamkeiten. Doch fehlt bislang eine Bestimmung der Besonderheiten des immateriellen Erbes und ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse in einer trotz der Globalisierung durch kulturelle Verschiedenheit bestimmten Welt. Im Weiteren werden daher fünf zentrale Aspekte der Praktiken des immateriellen kulturellen Erbe entwickelt, die deren spezifischen Charakter deutlich machen und deren Bedeutung für kulturell vielfältige Bildungsprozesse darlegen:

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der menschliche Körper; der performative Charakter von Ritualen und sozialen Praktiken; Mimesis und mimetisches Lernen; Andersheit und Alterität; interkulturelle Bildung und die Notwendigkeit anthropologischer Forschung.

Der menschliche Körper Während die Monumente der Architektur sich leicht identifizieren und schützen lassen, sind die Formen kulturellen Erbes viel schwieriger auszumachen, zu vermitteln und zu erhalten. Während die architektonischen Werke des Weltkulturerbes aus haltbarem Material hergestellt sind, unterliegen die Formen immateriellen kulturellen Erbes stärker dem historischen und kulturellen Wandel und sind weniger dauerhaft. Während architektonische Werke materielle kulturelle Objekte darstellen, haben die Formen und Figurationen immateriellen und kulturellen Erbes den menschlichen Körper als Medium. Dies ist der Fall bei: 1. den oralen Traditionen und Ausdrucksformen einschließlich der Sprache; 2. den darstellenden Künsten; 3. den sozialen Praktiken, Ritualen und Feten; 4. den Praktiken im Umgang mit der Natur; 5. dem traditionellen Handwerkswissen. Wenn man den besonderen Charakter immateriellen kulturellen Erbes verstehen will, muss man sich vor allem vergegenwärtigen, welche zentrale Rolle der menschliche Körper als sein Träger spielt. Wenn der menschliche Körper das Medium immateriellen kulturellen Erbes ist, dann ergeben sich daraus einige Konsequenzen. Die körperbasierten Praktiken immateriellen Kulturerbes werden durch den Gang der Zeit und durch die Zeitlichkeit des menschlichen Körpers bestimmt. Sie hängen von der Dynamik von Raum und Zeit ab. Im Unterschied zu den kulturellen Monumenten und Objekten sind die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes nicht fixiert, sondern unterliegen Transformationsprozessen. Diese sind an den gesellschaftlichen Wandel und Austausch gebunden. Verbunden mit den Dynamiken des Lebens haben sie einen Prozesscharakter und sind viel empfindlicher gegenüber homogenisierenden Einflussnahmen. Deshalb sind sie auch schwieriger gegen die vereinheitlichenden Prozesse der Globalisierung zu schützen.

Der performative Charakter von Ritualen und sozialen Praktiken Wenn der menschliche Körper das Medium der Praktiken immateriellen kulturellen Erbes ist, dann ergeben sich daraus Konsequenzen für die

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Wahrnehmung und das Verständnis dieser Praktiken. Nach meiner Auffassung ist es vor allem der performative Charakter des Körpers, der Rituale und andere Praktiken in sozialer und kultureller Hinsicht so wirkungsvoll macht. Da diese Praktiken mit dem Körper vollzogen werden, müssen wir die körperlichen Aspekte dieser Aufführungen berücksichtigen und überlegen, wie sie durch besondere Arrangements des Körpers vollzogen werden. Auf welchen Körperbildern die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes beruhen, ist dabei eine entscheidende Frage. Auf jeden Fall müssen die historischen und kulturellen Dimensionen der Körpervorstellungen berücksichtigt, sie in den verschiedenen sozialen Praktiken kulturellen Erbes ausgedrückt werden. Rituale haben unterschiedliche soziale Funktionen. Sie tragen dazu bei, den Übergang von einem sozialen Status zu einem anderen zu organisieren. Sie gestalten den Übergang bei sozial und existentiell zentralen Ereignissen wie Hochzeit, Geburt und Tod. Rituale umfassen Konventionen, Liturgien, Zeremonien und Feste. Sie vollziehen sich an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Laufe des Jahres. Wenn sie erfolgreich sind, dann schaffen sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie erzeugen das Soziale und sind für die Konstituierung von Gemeinschaft und Kultur von zentraler Bedeutung. Damit Rituale erfolgreich aufgeführt werden können, bedarf es eines individuellen rituellen Körperwissens und eines Wissens darüber, wie man sich zu den anderen Teilnehmern an einem Ritual verhält. Auch hier ist es die Dimension des Körpers, die die Performativität des Rituals garantiert. Der Charakter eines Rituals, die Seite, die eine Gemeinschaft schafft, ist eng verbunden mit seiner Körperlichkeit und Materialität. Während der physische Charakter einer Aufführung die Ritualteilnehmer dazu anregen kann, verschiedene Interpretationen der rituellen Situation zu entwickeln, spielen diese Unterschiede bei der Aufführung und Evaluation des Rituals lediglich eine sekundäre Rolle. Denn nicht die gemeinsame Interpretation, sondern die kollektive Aufführung ist entscheidend. Wenn in diesem Zusammenhang vom menschlichen Körper die Rede ist, dann handelt es sich um einen in historischen und kulturellen Prozessen geformten Körper, der seinerseits auf die Art und Weise Einfluss hat, in der historische und kulturelle Prozesse geformt werden. Bourdieu hat in diesem Zusammenhang von Habitusformen gesprochen. Sie sind einerseits das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, andererseits formen sie diese ihrerseits (Bourdieu 1976, 1982, 1987). Viele immaterielle ›Aspekte‹ von Kultur und Geschichte werden in der Analyse des performativen Charakters von Ritualen sichtbar. Dieser ist für ihre Inszenierung, Aufführung und Wirkung von zentraler Bedeutung. Drei Aspekte des Performativen lassen sich unterscheiden. Der eine betont die Bedeutung des performativen Charakters der Sprache und ihrer Verwendung in rituellen Situationen. Indem John Austin gezeigt hat, »how to

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304 | Christoph Wulf do things with words«, hat er diesen Aspekt der Sprache herausgearbeitet. Wenn jemand in einer Hochzeitszeremonie »Ja« sagt, dann hat er eine Handlung vollzogen, die ihn verheiratet und die sein gesamtes Leben ändert. Der zweite Aspekt dieser körperbezogenen Performativität besteht darin, dass Rituale und andere soziale Praktiken kulturelle Aufführungen sind, in denen sich Kulturen darstellen und ausdrücken. Mit Hilfe von Ritualen erzeugen Gemeinschaften eine Kontinuität zwischen Traditionen und den Anforderungen der Gegenwart. Der dritte Aspekt der Performativität charakterisiert die ästhetische Seite der körperbasierten Performance von Ritualen und Aufführungen der darstellenden Künste. Rituale können nicht angemessen begriffen werden, wenn ihre Analyse auf ihre bloße Funktion reduziert wird (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Fischer-Lichte/Wulf 2001, 2004). Rituale bearbeiten Differenzen und Alterität und erzeugen kulturelle Gemeinschaften. Durch ihren performativen Charakter erschaffen sie Gemeinschaft und kulturelle Identität. Rituale gehören zu den wichtigsten Praktiken im Bereich immateriellen kulturellen Erbes. Sie bieten den Mitgliedern einer Gemeinschaft die Möglichkeit, eine kulturelle Kontinuität von einer Generation zur anderen zu schaffen. Sie können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Einerseits übermitteln sie traditionelle kulturelle Werte und soziale Praktiken, andererseits tragen sie dazu bei, diese an die aktuellen Anforderungen und Bedürfnisse der Gemeinschaft anzupassen. Rituale sind Fenster in eine Gesellschaft, die es möglich machen, deren kulturelle Identität und deren Dynamiken zu begreifen. Wenn Rituale lediglich traditionelle Werte verkörpern und sich nicht auf die Belange der gegenwärtigen Gesellschaft beziehen, verfehlen sie ihre Aufgabe. Wenn sie nur traditionelle Werte und Perspektiven zum Ausdruck bringen, werden sie rigide Praktiken und Stereotypen und verlieren ihre Gemeinschaft erzeugende Kraft. Wenn sie sich jedoch zu schnell den Herausforderungen der Globalisierung anpassen und ihren spezifischen kulturellen Charakter aufgeben, dann verfehlen sie ebenfalls ihre soziale Identität schaffende Funktion (Wulf et al. 2001, 2004; Wulf/Merkel 2002). Als zentrale Praktiken immateriellen kulturellen Erbes machen Rituale fünf Aspekte besonders deutlich (Wulf/Zirfas 2003, 2004): – Aufgrund ihres performativen Charakters sind Rituale zentrale Formen immateriellen kulturellen Erbes. – Rituale erzeugen Gemeinschaften zwischen Überlieferungen, gegenwärtigen Bedürfnissen und zukünftigen Bedingungen. Dadurch, dass sie dynamisch sind und die Form und Bedeutung ihrer Aufführungen verändern, passen sie Überlieferungen an gegenwärtige Aufgaben und zukünftige Erfordernisse an.

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– Rituale erfüllen ihre Aufgabe nicht dadurch, dass sie rituelle Modelle einfach kopieren. Ihre Aufführung ist keine bloße Wiederholung, sondern ein kreativer sozialer Akt, in dem sich verschiedene soziale Gruppen in einer »Performance« zusammenschließen und eine soziale Ordnung erzeugen, die eine kulturelle Kohärenz schafft und das Potential gesellschaftlicher Gewalt eindämmt. – Die Aufführung von Ritualen erfordert ein praktisches rituelles Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben wird. In Ritualen und anderen sozialen Praktiken immateriellen kulturellen Erbes werden Differenz und Alterität bearbeitet.

Mimesis und mimetisches Lernen Die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes werden zu einem erheblichen Teil in mimetischen Prozessen von der jungen Generation gelernt. Rituelles Wissen wird als praktisches Wissen in mimetischen Prozessen erworben. Dies geschieht vor allem dann, wenn Menschen an rituellen Inszenierungen und Aufführungen teilnehmen. Mimetische Prozesse sind Prozesse kreativer Nachahmung, die sich auf Modelle und Vorbilder beziehen. In diesem Prozess möchte derjenige, der sich mimetisch verhält, wie sein Vorbild werden. Dieser Prozess der Anähnlichung ist von Mensch zu Mensch verschieden, hängt er doch davon ab, wie jemand sich zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst verhält. In mimetischen Prozessen nimmt ein Mensch gleichsam einen ›Abdruck‹ von der sozialen Welt und macht dadurch diese zum Teil seiner selbst. In diesem Prozess wird das immaterielle kulturelle Erbe an die nachwachsende Generation weitergegeben (Gebauer/Wulf 1992, 1998, 2003). Die Bedeutung mimetischer Prozesse für die Weitergabe von Praktiken immateriellen kulturellen Erbes einschließlich der pädagogischen Praktiken kann kaum überschätzt werden. Diese Prozesse sind sinnlich; sie sind an den menschlichen Körper gebunden, beziehen sich auf das menschliche Verhalten und vollziehen sich häufig unbewusst. Durch mimetische Prozesse inkorporieren Menschen Bilder und Schemata von Ritualen und anderen sozialen Praktiken. Diese werden Teil ihrer inneren Bilder- und Vorstellungswelt. Mimetische Prozesse überführen die Welt immateriellen kulturellen Erbes in die innere Welt der Menschen. Sie tragen dazu bei, diese innere Welt kulturell anzureichern und zu erweitern, d.h. sie führen zur Entwicklung und Bildung der Menschen. In mimetischen Prozessen wird praktisches Wissen als zentraler Teil immateriellen kulturellen Erbes erworben. Dieses kulturell unterschiedliche Wissen entwickelt sich im Kontext der Aufführungen des Körpers und spielt eine besondere Rolle dabei, kulturelle Aufführungen in veränderter Form hervorzubringen. Als prakti-

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306 | Christoph Wulf sche Form des Wissens ist dieses Wissen das Ergebnis einer mimetischen Verarbeitung performativen Verhaltens, das selbst aus einem praktischen körperbasierten Know-how entsteht. Da praktisches Wissen, Mimesis und Performativität wechselseitig miteinander verschränkt sind, spielt die Wiederholung bei der Weitergabe immateriellen kulturellen Wissens eine große Rolle. Kulturelle Kompetenz entsteht nur in Fällen, in denen ein sozial geformtes Verhalten wiederholt und in der Wiederholung verändert wird. Ohne Wiederholung, ohne den mimetischen Bezug zu etwas Gegenwärtigem oder Vergangenem kann keine kulturelle Kompetenz entstehen. Deswegen ist Wiederholung ein zentraler Aspekt der Übermittlung des immateriellen kulturellen Erbes in Erziehung und Bildung.

Andersheit und Alterität Um kulturelle Vielfalt zu schützen, bedarf es einer Sensibilisierung für den Anderen. Um die Reduktion kultureller Verschiedenheit auf das Gleiche und die Homogenisierung kultureller Mannigfaltigkeit zu vermeiden, bedarf es einer Sensibilisierung für kulturelle Heterogenität, d.h. für Andersheit und Alterität. Nur dadurch, dass ein Sinn für die Alterität entwickelt wird, kann die Vereinheitlichung von Kultur vermieden werden, die das Ergebnis der uniformierenden Globalisierungsprozesses ist. Hervorragende Zeugnisse und alltägliche soziale Praktiken immateriellen kulturellen Erbes spielen für die Erfahrung von Andersheit und Alterität eine zentrale Rolle. Die Globalisierung hat folgende drei Strategien zur Reduktion von Alterität entwickelt: Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus (Waldenfels 1990). Selbst, wenn es vielleicht einmal so aussah, als ließen sich Andersheit und Alterität allmählich auflösen, so zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre deutlich, dass dies nicht möglich ist. Dinge, Situationen und Menschen werden inmitten unserer vertrauten Alltagswelt plötzlich fremd und unbekannt. Normen des Lebens, die lange gegolten haben, werden in Frage gestellt und verlieren ihre Gültigkeit. Der Versuch, durch die Ausweitung des Verstehens des Anderen habhaft zu werden, hat nicht zu den erwarteten Ergebnissen geführt. Vielmehr machen immer mehr Menschen die Erfahrung, dass das Vertraute des Lebensalltags von Unsicherheit begleitet ist, aus der immer wieder Erfahrungen des Fremden entstehen. Lange für gültig gehaltene Zusammenhänge erscheinen plötzlich verändert und unsicher. Je mehr wir wissen, desto größer wird die Komplexität der Welt, der sozialen Zusammenhänge und unseres eigenen Lebens. Je mehr wir wissen, desto mehr wächst das Nicht-Wissen. Auch wenn häufig versucht wird, den Anderen auf den Selben zu reduzieren, so gelingt dies nicht. Nach wie vor ist Fremdheit eine Bedingung kultureller Vielfalt.

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Egozentrismus Elias (1976), Focault (1977) und Beck (u.a. 1995) haben die Prozesse beschrieben, die bei der Konstitution des modernen Subjekts und bei der Entstehung des Egozentrismus eine Rolle spielen. Technologien des Selbst sind an der Entwicklung der Subjekte beteiligt. Viele dieser Strategien sind an die Vorstellung eines sich selbst genügenden Selbst gebunden, das sein eigenes Leben führen soll und seine eigene Biographie entwickeln muss. Dennoch sind die ungewollten Nebenwirkungen eines sich selbst genügenden Subjekts vielfältig. Oft überfordern die Prozesse der Selbstbestimmung die Menschen. Andere Prozesse widersetzen sich der Selbstbestimmung und der Hoffnung auf autonomes Handeln. Einerseits konstituiert der Egozentrismus das moderne Subjekt, vermittelt ihm Kräfte des Überlebens, der Durchsetzung und der Anpassung, andererseits führt er dazu, Differenzen nicht zuzulassen und Vielfalt zu reduzieren. Der Versuch des Subjekts, den Anderen auf seine Nützlichkeit, Funktionalität und Verfügbarkeit zu reduzieren, ist erfolgreich und schlägt zugleich immer wieder fehl. Diese Einsicht eröffnet neue Perspektiven für den Umgang mit Andersheit und Alterität als einem neuen Feld des Wissens und der Forschung.

Logozentrismus Infolge des Logozentrismus nehmen wir den Anderen mit den Kriterien europäischer Rationalität wahr. Wir akzeptieren nur, was sich nach den Gesetzen der Vernunft verhält. Anderes wird ausgeschlossen. Wer auf Seiten der Vernunft steht, hat recht, selbst, wenn es sich um eine reduzierte funktionale Vernunft handelt. So haben Eltern meistens Recht gegenüber ihren Kindern, zivilisierte Menschen gegenüber den so genannten Primitiven, Gesunden gegenüber den Kranken usw. Wer Vernunft besitzt, ist denen überlegen, die über weniger entwickelte Formen vernünftigen Handelns verfügen. Je mehr eines Menschen Sprache und Vernunft von der allgemeinen Norm abweicht, desto schwieriger ist es, sich ihm zu nähern und ihn zu verstehen. Nietzsche, Freud, Adorno und viele andere haben diese Selbstgenügsamkeit der Vernunft kritisiert und darauf hingewiesen, dass das menschliche Leben der Vernunft nur in begrenztem Maße zugänglich ist.

Ethnozentrismus Im Verlauf der Geschichte hat der Ethnozentrismus nachhaltig viele Formen der Andersheit und Alterität zerstört. Todorov (1985), Greenblatt (1994) und andere haben die Prozesse analysiert, die zur Zerstörung fremder Kulturen geführt haben. Zu den fürchterlichsten Beispielen gehört die Kolonialisierung Mittel- und Südamerikas im Namen Christi und der christ-

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308 | Christoph Wulf lichen Könige. Die Eroberung Südamerikas führte zu der Unterwerfung der dortigen Kulturen. An die Stelle der Werte, Vorstellungen und Glaubensformen der Eingeborenen wurden die Formen und Inhalte der europäischen Kultur gesetzt. Alles Fremde, Andersartige wurde vernichtet. Die indigenen Völker konnten die Hinterhältigkeit der Spanier nicht begreifen. Sie machten die Erfahrung, dass deren Freundlichkeit nicht das war, was sie zu sein schien. So wurden Versprechen nicht gegeben, um sie zu halten, sondern um die Eingeborenen in die Irre zu führen und zu täuschen. Jede Handlung diente anderen Zwecken, als sie es vorgab. Die Interessen der Krone, der christlichen Mission und die Inferiorität der Eingeborenen legitimierte das koloniale Verhalten. Ökonomische Motive kamen hinzu und führten zur Zerstörung anderer Formen der Weltsicht. Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus sind wechselseitig miteinander verbunden; als Strategien der Umformung des Anderen verstärken sie einander. Ihr gemeinsames Ziel besteht darin, die Andersartigkeit zu zerstören und an deren Stelle Vertrautes zu setzen. Die Vernichtung der Mannigfaltigkeit der Kulturen ist die Folge. Menschen konnten nur überleben, wenn sie die Kultur der Sieger übernahmen. Besonders tragisch ist diese Situation in den Fällen, in denen sie zur Auslöschung der lokalen und regionalen Kulturen führte.

Heterologisches Denken Um Menschen für die Bedeutung der kulturellen Vielfalt und des immateriellen kulturellen Erbes zu sensibilisieren, bedürfen sie der Erfahrung der Alterität. Nur mit Hilfe dieser Erfahrung sind sie in der Lage, mit Fremdheit und Differenz umzugehen und ein Interesse am Nicht-Identischen zu entwickeln. Individuen sind keine in sich geschlossen Entitäten. Sie bestehen aus vielen widersprüchlichen und fragmentarischen Elementen. Rimbaud fand für diese Erfahrung den nach wie vor gültigen Ausdruck: »Ich ist ein Anderer«. Auch Freuds Erfahrung, dass das Ich nicht Herr in seinem Haus ist, weist in diese Richtung. Die Integration der aus dem Selbstbild ausgeschlossenen Teile der Subjekte ist eine Bedingung dafür, dass Andersartigkeit und Alterität im Außen wahrgenommen und respektiert werden kann. Nur wenn Menschen ihre eigene Alterität wahrnehmen können, sind sie in der Lage, die Andersartigkeit anderer Menschen wahrzunehmen und mit ihr umzugehen. Gelingt es, das Andere in der eigenen Kultur wahrzunehmen, entsteht Interesse am Fremden in anderen Kulturen und die Möglichkeit, dieses wertzuschätzen. Dazu ist es notwendig, die Fähigkeit zu entwickeln, vom Anderen her, also heterologisch zu denken und zu versuchen, sich selbst mit den Augen anderer Menschen zu sehen.

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Interkulturelle Bildung und die Notwendigkeit anthropologischer Forschung Um junge Menschen für den Wert kultureller Vielfalt und für die Bedeutung des Schutzes und der Förderung immateriellen kulturellen Erbes zu gewinnen, bedarf es heute in der Erziehung mehr als jemals zuvor der Berücksichtigung interkultureller und transkultureller Perspektiven. Sie erfordern ein Interesse an kultureller Vielfalt und Alterität. Viele Menschen gehören heute nicht nur einer Kultur, sondern mehreren unterschiedlichen kulturellen Traditionen an. Interkulturelle bzw. transkulturelle Bildung unterstützt sie dabei, mit den kulturellen Unterschieden in ihrer eigenen Person, in ihrem Umfeld und in der Begegnung mit Anderen zurechtzukommen. Da Identität nicht ohne Alterität gedacht werden kann, beinhaltet interkulturelle Erziehung eine relationale Verbindung zwischen einem fraktalen irreduziblen Subjekt und vielen Formen von Alterität. In diesen Prozessen gewinnen hybride Formen der Kultur zunehmend an Bedeutung (Featherstone 1995; Wulf 1995, 1998; Wulf/Merkel 2002). Wenn die Frage nach dem Verständnis anderer Menschen auf das Selbstverständnis und die Frage nach dem Selbstverständnis auf das Verständnis anderer Menschen verweisen, dann ist der Prozess interkultureller Erziehung auch ein Prozess der Selbsterziehung. Wenn er erfolgreich ist, dann führt er zur Einsicht in die prinzipielle Unverstehbarkeit des Anderen. Angesichts der Entzauberung der Welt und der Verringerung der kulturellen Vielfalt entsteht die Gefahr, dass die Menschen in der Welt nur noch sich selbst und ihren Produkten begegnen und dieser Mangel an Fremdheit zur Reduktion der Weltund Selbsterfahrung führt. Wenn die Verringerung kultureller Vielfalt den Reichtum menschlichen Lebens gefährdet, so ist die Förderung kultureller Differenz auch eine zentrale Aufgabe von Erziehung und Bildung. Kulturelles bzw. interkulturelles Lernen darf nicht auf die Fähigkeit zum Umgang mit Minoritäten begrenzt werden. Vielmehr ist Bildung heute in Europa eine interkulturelle Aufgabe, in deren Rahmen der Umgang mit fremden Kulturen, mit der Alterität der eigenen Kultur und mit dem Anderen im eigenen Subjekt von zentraler Bedeutung ist. So gesehen erfordert interkulturelles Lernen auch heterologisches Denken. Um die Spannungen zwischen den Zielen der Erhaltung und Förderung immateriellen kulturellen Erbes und der Dynamik der Veränderung zu begreifen, bedarf es nachhaltiger anthropologischer Forschungen. Solche Forschungen umfassen wenigstens drei anthropologische Paradigmen: die philosophische Anthropologie, wie sie in Deutschland entwickelt wurde und wie sie auf Immanuel Kant zurückgeht, die den prinzipiell offenen Charakter menschlicher Geschichte und die Möglichkeiten menschlicher Perfektibilität betont; die historische Anthropologie der »Schule der Annales«, in der der historische Charakter menschlicher Kultur und Fragen der Erforschung von Mentalität im Zentrum stehen; die angelsächsische Kulturan-

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310 | Christoph Wulf thropologie oder Ethnologie mit ihrem Interesse an kultureller Vielfalt und Heterogenität (Wulf 2004, 2005, 2006). Auf der Basis dieser drei Paradigmen der Anthropologie bedarf es der Entwicklung einer historisch-kulturellen Anthropologie, die nicht auf bestimmte Kulturen und Epochen begrenzt ist. In der Reflexion der eigenen Geschichtlichkeit und Kulturalität muss diese Anthropologie in der Lage sein, den Eurozentrismus der Humanwissenschaften und das bloße historische Interesse an der Geschichte zu überwinden und sich für die ungelösten Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu öffnen (Wulf 1997). Eine solche Anthropologie bedarf der philosophischen Selbstkritik und erfordert transdisziplinäre und transkulturelle Forschung. Mit ihren Untersuchungen kann eine historisch-kulturwissenschaftliche Anthropologie zu einer Analyse der Spannungen zwischen dem kulturellem Erbe und den Dynamiken der Globalisierung beitragen (Wulf/Merkel 2002). In der gegenwärtigen Situation sind diese Forschungen von erheblicher Bedeutung. Sie leisten zum Verständnis der Rolle der Praktiken des immateriellen Erbes für kulturell vielfältige Bildungsprozesse einen wichtigen Beitrag.

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312 | Christoph Wulf Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.) (2004): Die Kultur des Rituals, München: Wilhelm Fink. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.) (2005): Ikonologie des Performativen, München: Wilhelm Fink.

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Autoren | 313

Autoren

Jens Badura, Geschäftsführer von »durchdenker.de – agentur für reflexive wissenschaft und praxis«. François de Bernard, Direktor der »Groupe d’Etudes et de Recherches sur les Mondialisations« (GERM) in Paris. Serge Gruzinski, Directeur de Recherche an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) und des CNRS in Paris. Christoph Hubig, Professor für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart. Andreas Luckner, akademischer Oberrat am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Oliver Marchart, SNF-Förderungsprofessor am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Giacomo Marramao, Professor für Philosophie an der Universität Rom 3. Andreas Niederberger, wiss. Assistent am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt am Main. Reinhard Pfriem, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Jacques Poulain, Professor für Philosophie an der Universität Paris 8 (Vincennes-St. Denis).

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314 | Autoren Hans Poser, Professor für Philosophie an der Technischen Universität Berlin. Birger P. Priddat, Professor für Politische Ökonomie an der Zeppelin University Friedrichshafen. Alexander Proelß, wiss. Assistent an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen. Jens Emil Sennewald, Publizist, Paris. Franz Martin Wimmer, Professor für Philosophie an der Universität Wien. Christoph Wulf, Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft und Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin.

Kontakt: [email protected] www.durchdenker.de

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