Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung: Das islamische Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert [1. Aufl.] 9783839419038

Zeit und Zeitvorstellungen sind zentraler Bestandteil gesellschaftlicher Ordnung. Die konkrete Ausgestaltung von Zeitord

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German Pages 216 Year 2014

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
2. Der historische Rahmen: Vom Zyklon (1872) zur Revolution (1964)
3. Die Zeitlandschaft Sansibar
4. Transzeitlichkeit
5. Die „religiöse“ Zeit
6. Die „Uhrzeit“ in Sansibar
7. Ein neues Zeitgefühl: Sport, Zeitungen und Bollywood
8. Die Schule: eine Institution zwischen den Zeitordnungen
9. Die baraza: Zur Verortung der Zeit in Sansibar
10. Schluss: Die Zeitlandschaft Sansibar im „global now“
Literaturverzeichnis
Akten des Zanzibar National Archive (ZNA) und des Public Record Office (PRO)
Zeitungen
Gesprächspartner in Sansibar
Anhang
Personen-, Orts- und Sachregister
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Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung: Das islamische Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert [1. Aufl.]
 9783839419038

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Roman Loimeier Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung

Roman Loimeier ist Professor für Ethnologie an der Universität Göttingen. Er beschäftigt sich mit der Geschichte und Entwicklung muslimischer Gesellschaften in Afrika. Seine Forschungsaktivitäten haben ihn vor allem nach Senegal, Nigeria und Tansania geführt. Andere Forschungsschwerpunkte sind politische Ökologie, insbesondere Seuchen- und Katastrophengeschichte, historische Anthropologie, Religionsethnologie und die Ethnologie der Seefahrt (maritime Anthropologie).

Roman Loimeier

Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung Das islamische Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Minarett der Jibrin-Moschee und Satellitenschüssel: Symbole für die Koexistenz unterschiedlicher Zeitordnungen in Sansibar Satz: Robert Scheck Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1903-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis | 7 Vorwort | 9 1. Einleitung | 13 2. Der historische Rahmen: Vom Zyklon (1872) zur Revolution (1964) | 23 3. Die Zeitlandschaft Sansibar | 43 4. Transzeitlichkeit | 57 5. Die „religiöse“ Zeit | 71 6. Die „Uhrzeit“ in Sansibar | 87 7. Ein neues Zeitgefühl: Sport, Zeitungen und Bollywood | 117 8. Die Schule: eine Institution zwischen den Zeitordnungen | 133 9. Die baraza: Zur Verortung der Zeit in Sansibar | 155 10. Schluss: Die Zeitlandschaft Sansibar im „global now“ | 181

Literaturverzeichnis | 185 Akten des Zanzibar National Archive (ZNA) und des Public Record Office (PRO) | 201 Zeitungen | 203 Gesprächspartner in Sansibar | 205 Anhang | 207 Personen-, Orts- und Sachregister | 211

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Cover: Minarett der Jibrin-Moschee und Satellitenschüssel: Symbole für die Koexistenz unterschiedlicher Zeitordnungen in Sansibar | 1 Abb. 2: Karte: Sansibar: Unguja und Pemba | 25 Abb. 3: Auswirkungen des Zyklons des Jahres 1872 im Hafen Sansibars | 30 Abb. 4: Die Uhrzeiten für das Gebet in der Moschee, eingestellt auf Swahili-Zeit | 50 Abb. 5: Das global now in Sansibar: das Shangani-Internet-Café | 54 Abb. 6: Eine von vielen Wanduhren im Sultanspalast | 89 Abb. 7: Der Uhrturm Sansibars im Jahre 1879 | 91 Abb. 8: Der Uhrturm von Sansibar nach der Zerstörung (1896) in den 1950er Jahren | 93 Abb. 9: Die Uhr am Gerichtsgebäude in Sansibar, 1950er Jahre | 95 Abb. 10: Die Standuhr an der Einfahrt zum Hafen Sansibars, 1970er Jahre | 106 Abb. 11: Das schwarze Brett der baraza der Fans des 1. FC Liverpool (Liverpool Score Board) | 124 Abb. 12: „…and now, clear the decks for Kismet“ | 131 Abb. 13: Eine QurÞÁnschule auf dem Lande: Die Kinder schreiben noch auf Holztafeln (ubao) | 136 Abb. 14: Eine QurÞÁnklasse in der Regierungsschule, c. 1950er Jahre: Die Kinder sitzen bereits auf Bänken an Tischen | 142 Abb. 15: Die Lehrer und Beschäftigten der Government Secondary School c. 1935/1936, darunter L.W. Hollingsworth, erste Reihe sitzend, sechster von links | 144

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Abb. 16: Ein Klassenzimmer in der Madrasat ÝAmÐriyya, Sansibar, 2002: Nun sitzen auch die Kinder in der modernen QurÞÁnschule in Reih’ und Glied | 148 Abb. 17: Die wichtigsten kommunalen baraza in der historischen Altstadt Sansibars | 162 Abb. 18: Eine baraza in „Jaws’ Corner“ | 166 Anhang: Tabelle der Gebetszeiten für die Moscheen für das ganze Jahr (Nyakati za sala kwa saa za msikiti kwa mwaka mzima) | 208

Vorwort

Die Grundlagen für dieses Buch wurden im Rahmen eines an der Universität Bayreuth angesiedelten Forschungsprojekts zum islamischen Bildungswesen in Sansibar1 gelegt, das ich 2006 am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin weiterführen und 2010 an der Universität Göttingen abschließen konnte.2 Im Rahmen dieser Forschungsarbeiten hielt ich mich zwischen 2001 und 2010 acht Mal in Sansibar auf und lebte dabei ein Jahr in der historischen Altstadt Sansibars.3 Die Beschäftigung mit der islami-

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Meine Forschungsarbeiten in Sansibar waren Teil des von der DFG geförderten „Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs 560“ (Lokales Handeln in Afrika im Kontext globaler Einflüsse) an der Universität Bayreuth, in welchem ich zwischen 2000 und 2005 das Teilprojekt C4 „Das islamische Bildungswesen in Ostafrika im Spannungsfeld von Lokalität und Globalität“ leitete. Die Ergebnisse dieses Projekts konnte ich im Jahre 2009 unter dem Titel Between social skills and marketable skills: The politics of Islamic education in 20th century Zanzibar bei Brill in Leiden publizieren.

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In den Jahren 2006 und 2007 arbeitete ich als „research fellow“ am ZMO und bearbeitete dort gemeinsam mit meinem Kollegen Hassan Mwakimako ein Forschungsprojekt zum Thema „Plurale Konzeptionen von Zeit in (trans)lokalen Kontexten“. Das erste Manuskript für dieses Buch entstand im Jahre 2008 an der University of Florida in Gainesville.

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Ich arbeitete im Februar-März 2001, von Juli-September 2002, im Februar-März und Juli-September 2003, im Juli-September 2004, von Juli-September 2007, im August 2009 und im August 2010 in Sansibar und lebte dabei in fünf Vierteln der Altstadt Sansibars: Malindi, Mkunazini, Baghani, Kajificheni und Shangani.

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schen Bildung scheint zwar nicht direkt zum Thema „Zeit“ zu führen,4 im Rahmen meiner Forschungsarbeiten in den Aktenbeständen des Zanzibar National Archive (ZNA) und in den Gesprächen mit einer Vielzahl sansibarischer Gelehrter, Lehrer und Intellektueller wurde mir aber bald klar, dass Bildung untrennbar mit dem Faktor Zeit verbunden ist, etwa in der Vielfalt von Zeitkonzeptionen, die unterschiedliche Bildungsmodelle mit sich bringen. Meine Beschäftigung mit dem Thema Zeit wurde daher bald ein zweiter Schwerpunkt meiner Forschung in Sansibar. Das Forschungsthema Zeit überwältigt durch seine fachliche Breite und historische Tiefe (s. weiterführend etwa Bergmann 1983, Munn 1992 und Muri 2004).5 Das Themenfeld Zeit eröffnet aber auch vielfältige Vernetzungsmöglichkeiten der Disziplinen, nicht nur in der Physik, Astronomie und Biologie, sondern ebenso in der Philosophie, Theologie, Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Religions-, Sport-, Musik- und Geschichtswissen-

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Für den europäischen Kontext hat Michel Foucault (1994/1975) den Zusammenhang zwischen Zeit und Erziehung im Rahmen seiner Untersuchung der Schule als einer Disziplinierungsinstitution untersucht.

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In der Flut der Texte wurde auch die Diskussion des Begriffs in den letzten Jahrzehnten immer unüberschaubarer. Als ich im Rahmen meines Forschungsprojektes über unterschiedliche Zeitkonzepte in Sansibar den Begriff der „Zeitlandschaft“ in Anlehnung an Arjun Appadurais Idee der „scapes“ (Appadurai 1996) als „timescape“ ins Englische übersetzte, dachte ich zunächst, dass ich der erste war, der diesen Begriff im Englischen in dieser Art und Weise benutzte. Bei der Suche nach Literatur zum Thema Zeit in den Gesellschaften des „Südens“ fiel mir jedoch ein von Ernst Halbmeyer und Elke Mader (Universität Wien) herausgegebener Sammelband zu Zeit- und Raumkonzepten bei Indianervölkern des südamerikanischen Amazonas-Tieflandes in die Hände, in welchem ebenfalls mit dem Begriff der „scapes“ und insbesondere mit dem der „timescapes“ gearbeitet wurde. Halbmeyer und Mader greifen dabei auf eine frühere (2004) Arbeit zurück, die ihrerseits von der Anthropologin Joanna Overing (University of St. Andrew’s) und ihrer Arbeit über Raum und Zeit bei den Piaroa Indianern des Orinoco-Tieflandes in Venezuela beeinflusst war (Overing 2004 und 1995). Besondere Erwähnung gebührt in diesem Kontext Barbara Adams „Timescapes of Modernity“ (1998), das von Appadurais „scape“-Begriff beeinflusst war. Zur Archäologie der Begrifflichkeit s. Halbmeyer/Mader 2004: 141.

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schaft. Auch die jüngere akademische Literatur weist eine große Zahl zeitrelevanter Arbeiten auf (s. Harvey 1989 und Giddens 1996), wobei es neben den klassischen Arbeiten zur physikalischen Zeit- und Kalendergeschichte (s. Hawking 1988; Borst 1990 und Rüpke 2006) globalisierungsbedingt häufig um Fragen der Beschleunigung (s. Rosa 2004) oder der Organisation von Arbeitszeit unter den Bedingungen der Globalisierung (s. Raehlmann 2004) geht. In den jüngeren Diskussionen um Zeit dominiert zudem die analytische Perspektive auf (post)industrielle Gesellschaften, in denen Zeit heute aber meist nur im Sinne von „Uhrzeit“ als ökonomisch, politisch und sozial maßgebliche Größe anerkannt wird (s. Garhammer 1999), selbst wenn Wissen über eine frühere Zeitenvielfalt (Polychronie) weiterhin existiert. Neuere Forschungsarbeiten zum Thema Zeit aus der Perspektive der an unterschiedlichen Zeitkonzeptionen und Zeitordnungen vergleichsweise reichen Gesellschaften des „Südens“ sind hingegen bisher ausgesprochen rar.6 Der vorliegende Text stellt daher einen weiterführenden Beitrag zu eben diesem Bereich der Zeitforschung dar. Es geht darin vor allem um die Frage, wie im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels in einer islamischen Gesellschaft wie der Sansibars unterschiedliche Konzepte von Zeit verhandelt werden. Für die Entwicklung von Zeitvorstellungen in Sansibar werden dabei zwei historische Zeitbrüche, nämlich der Zyklon des Jahres 1872 und die Revolution des Jahres 1964, als historischer Rahmen angenommen, innerhalb dessen sich eine spezifisch sansibarische Zeitlandschaft entwickelt hat. Als Daten- und Quellengrundlage für meine Ausführungen konnte ich auf den Aktenbestand des Zanzibar National Archive zurückgreifen, insbesondere eine Vielzahl von Akten des Public Works Departments und des Departments of Education, aus denen sich die Entwicklung der kolonialen Zeitordnung Sansibars gut erschließen ließ. Im Rahmen meiner Besuche Sansibars konnte ich zudem zahlreiche, die Zeit in Sansibar strukturierende Ereignisse mit verfolgen: Den Fastenmonat RamaÃān und die Auseinandersetzungen um seinen Beginn und die Feier des Fastenbrechens, die alljähr-

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Ausnahmen sind ein Forschungsprojekt von Vanessa Ogle an der Freien Universität Berlin zum Thema „Zeitordnungen. Globale Geschichten von Uhrzeiten und Kalendern um 1900“ und die Arbeit von Christian Meier über Beschleunigungsprozesse im Ägypten des 19. Jahrhunderts im Rahmen eines Doktorandenkollegs an der Universität Konstanz zum Thema „Zeitkulturen“.

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liche Feier des Neujahrs nach dem persischen Sonnenkalender in Makunduchi und den Kampf der QurÞÁnschulen um „Zeitfenster“ für ihren Unterricht in Konkurrenz zu den übermächtigen Regierungsschulen. Zudem stand mir eine Anzahl sansibarischer und tansanischer Tages- und Wochenzeitungen zur Verfügung und ich konnte meine Forschung mit den Mitgliedern kommunaler Sitz- und Gesprächsgruppen (swa.: baraza) diskutieren. Vor allem standen mir zahlreiche Freunde und Kollegen vor Ort mit Rat und Tat zur Seite und haben meine Überlegungen zum Thema Zeit kritisch kommentiert. Für ihre Kommentare danke ich insbesondere Bi Fatma Alloo, Mwalimu Idris, Ahmad Mgeni, Umar Sheha, Mwalimu Ramadhani Kututwa, Mwalimu Masoud Ahmad Shani, Mwalimu Muhammad Ali und Professor Abdul Sheriff. Ebenso bin ich Cornelia Panzacchi, Rita Schäfer und Christoph Marx dankbar, mit denen ich mich zum Thema Zeit austauschen konnte. Schließlich möchte ich Ulrike Freitag, Svenja Becherer, Katrin Bromber, Knut Graw und Heike Liebau am Zentrum Moderner Orient meinen Dank für ihre konstruktiven Kommentare und das gründliche Lektorat ausdrücken: nashkuru kabisa! Ein Hinweis zur Lektüre: Im Buch finden sich vier Darstellungsebenen. Zum einen der Text selbst, in dem das zentrale Thema diskutiert wird. Zum zweiten die Fußnoten, in denen Angaben zur Literatur erfolgen. Des Weiteren die in den Text eingebauten Themenkästen (TK), in denen historische oder thematische Hintergrundinformationen gegeben oder andere Aspekte des Lebens in Sansibar angesprochen werden, die nicht direkt das Thema Zeit ansprechen, für das weitere Verständnis des Kontexts und des jeweiligen Kapitels aber von Nutzen sind. Und schließlich die Abbildungen, Karten und Tabellen, die der Illustration des Textes dienen. Die Abkürzung swa. steht für Swahili, arab. für Arabisch. Bei der Umschrift arabischer Termini habe ich mich an den Gepflogenheiten der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft orientiert. Die Aufnahme von Daten für den vorliegenden Text habe ich im Herbst 2010 nach meinem achten Forschungsaufenthalt in Sansibar beendet. Potsdam, im April 2011

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Einleitung

Texte und Vorträge zum Thema Zeit beginnen häufig mit dem bekannten und weidlich strapazierten Augustinus-Zitat,1 dass man eigentlich gar nicht wisse, was Zeit sei. Im Übrigen habe man trotz einer langen Beschäftigung mit dem Thema noch immer keine systematische Theorie entwickelt.2 Ich möchte hier keineswegs eine weitere Litanei des Jammerns darüber anstimmen, wie schwierig es ist, Zeit angemessen zu erfassen. Auch möchte ich mich nicht mit einer anderen Verweisquelle auseinandersetzen, die sich auf das „alltäglich-vulgäre Zeitverständnis“ Heideggers bezieht (Heidegger 1927/2006: 18 und 404f), die gerne zur Erstellung kulturpessimistischer

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„Quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio“ (Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiss ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiss ich es nicht; Augustinus 2000: 25).

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Etwa in einem Vortrag von Frau Prof. Dr. Eva Cancik-Kirschbaum zum Thema „Im Anfang...“ Über die Ordnung der Zeit im Alten Orient“ an der Universität Göttingen (25. Jänner 2006), in welchem gleich eingangs festgestellt wurde, dass es „immer noch keine Meta-Theorie zur Zeit gäbe, obwohl das Thema so alt wie aktuell sei und entsprechend umfassend diskutiert werde“. Dieser Annahme stehen jedoch sowohl jüngere (Herrmann 2009) wie ältere theoretische Arbeiten (etwa Adam 1995, Aminzade 1992, Bergmann 1983, Elias 1984, Gell 1992, Kosselek 1979 oder Nowotny 1989) entgegen. Die vorliegende Arbeit versteht sich daher auch nicht als ein weiterer Beitrag zu einer Theorie der Zeit, sondern als Fallstudie zur Frage der (Be-)Deutung der Zeiten in einem konkreten lokalen Kontext (Sansibar).

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Szenarien herangezogen wird, in denen es um zunehmende Zeitknappheit und die Beschleunigung des Lebens in der Moderne geht. Ich selbst definiere Zeit in einem ersten Schritt als Versuch der Menschen, gesellschaftlichen Prozessen eine chronologische Ordnung zu geben (etwa in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Dieser Versuch der Etablierung einer temporalen Ordnung ist mit den Bestrebungen der Menschen verbunden, gesellschaftliche Prozesse zu synchronisieren, zu koordinieren und zu standardisieren, um so einer möglichst großen Zahl von Interaktionspartnern Mitwirkung, Teilhabe und aktives Handeln „in ihrer Zeit“ an entsprechenden gesellschaftlichen Vorgängen zu ermöglichen. Zeit stellt so ein zentrales Organisationsmuster des Alltags dar. In diesen Organisationsmustern drückt sich der konstruierte Charakter von chronometrischen Zeitordnungen aus. Zeit dient darüber hinaus dazu, temporale Deutungszusammenhänge herzustellen und kann deshalb sowohl in Bezug auf ihre sozialen Funktionen als auch hinsichtlich ihrer Qualitäten beschrieben werden, also Sequenzialität (vorher, nachher, gleichzeitig), Dauer (duration), Rhythmik (pace), Zyklik (cycle) und Linearität (trajectory) (s. hierzu Aminzade 1992). Zeit kann schließlich in Hinblick auf den Nexus zwischen Raum und Zeit, der sich historisch und kulturell verändert, untersucht werden, sowie in Hinblick auf Fragen der Konstruktion von Zeit und Geschichte. Zeit spielt so eine zentrale Rolle bei der Herstellung legitimatorischer Bezüge in die Vergangenheit und, damit verbunden, bei der Konstruktion entsprechender Utopien.3 Zeit und Zeitvorstellungen definieren sich somit nicht aus sich selbst heraus, sondern aus der Erfahrung und Praxis menschlichen Handelns und Deutens: sie sind zentraler Bestandteil menschlicher Sinngebung und gesellschaftlicher Ordnung. Dabei sind bestimmte Konzeptionen von Zeit und damit verbundene Zeitordnungen und Zeithaushalte (auch: Zeitregime) sowohl Medium gesellschaftlicher Integration als auch Ausdruck gesell-

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Koselleck hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es für Menschen drei wesentliche „temporale Erfahrungsmodi“ gibt: die Erfahrung der irreversiblen Sequenzialität der Zeit, die Erfahrung der Wiederholbarkeit von Handlungen und Ereignissen, sowie die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die aus „Brechungen in geschichtlichen Abfolgen“ entstehen, wenn verschiedene Zeitschichten zusammengeführt werden (Koselleck 1979: 132).

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schaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse (s. hierzu Bergmann 1983, Durkheim 1981, Elias 1984, Thompson 1980, Weber 1920/1922; s. hierzu auch Themenkasten 1). Die konkrete Ausgestaltung von Zeitordnungen, die häufig nebeneinander bestehen, jedoch auch miteinander konkurrieren, ist Inhalt vielfältiger Aushandlungsprozesse, welche wiederum in lokale, translokale und universale Kontexte eingebettet sind. In Zeiten gesellschaftlichen Wandels, vor allem in und nach einschneidenden Zeitbrüchen, ändern sich aber die Zeitvorstellungen und das Zeitempfinden der Menschen und es kommt zu Auseinandersetzungen um Fragen der „rechten“ Zeit und der Vorrangigkeit einer Zeitordnung in bestimmten Lebensbereichen. Im Wandel der Zeiten und der Generationen verändert sich zudem der persönliche Blick zurück, die Erinnerung an das Erlebte. Hieran entzünden sich Diskussionen um die Deutung der Vergangenheit und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Das Gewicht dieser letzten Frage tritt bei der Betrachtung der anhaltenden Bedeutung der Revolution des Jahres 1964 für das öffentliche Leben Sansibars besonders deutlich hervor.

Themenkasten 1: Zeit und Macht Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden insbesondere in der Frage des „wer muss auf wen warten“ abgebildet. Bei Forschungsarbeiten in Nordnigeria im Jahre 1986/1987 konnte ich so im Rahmen einer Benefiz-Veranstaltung zu Gunsten der (muslimischen) Opfer der Kafancan-Unruhen Ende 1987 feststellen, dass die historisch einflussreichste Person der Stadt Kano, der Emir von Kano, mit seinem Gefolge als erstes auf der Ehrentribüne Platz genommen hatte, dann war der aktuelle Machthaber Kanos mit seinem Gefolge erschienen, nämlich der Armeegouverneur der Provinz Kano. Erst lange nach ihm kamen die religiösen Gelehrten der Stadt, insbesondere Scheich Nasiru Kabara, der Führer des einflussreichen Sufi-Ordens der QÁdiriyya (s. hierzu Loimeier 1997). Bei einem ähnlichen öffentlichen Spektakel, einem Benefiz-Fußballspiel zwischen einer Parlamentsauswahl Sansibars und einer Auswahl der diplomatischen Vertretungen in Dar es Salaam im Jahre 2004 im Amani Stadium Sansibars waren hingegen die religiösen Gelehrten Sansibars, etwa der Vorsitzende der waqf-Kommission, schon lange vor der Ankunft des Präsidenten auf der Tribüne der Ehrengäste plaziert und mussten dementsprechend lange warten.

Historische Großereignisse, etwa Katastrophen, Revolutionen, verheerende Krisen und (Bürger-)Kriege, aber auch umwälzende Entdeckungen können

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in der Tat tief greifende Veränderungen im gesellschaftlichen, sozialen, politischen, ökonomischen und/oder religiösen Leben und Gefüge einer Gesellschaft bewirken. Sie werden als „entscheidendes Kollektivereignis“ und als Zeitbruch im historischen Gedächtnis einer Gesellschaft verankert und können einen spezifischen Generationszusammenhang begründen, der sich im Sinne Mannheims als „Problem- und Deutungszusammenhang“ verstehen ließe (s. hierzu Fietze 2008: 49). Die Menschen beschäftigen sich in vielfältiger Art und Weise (öffentliche Diskussionen, Schulbücher, Memoiren, Denkmäler, Gedenkveranstaltungen) mit solchen Zeitbrüchen und versuchen in der fortlaufenden Interpretation von Zeitbrüchen zu einer sinnstiftenden Geschichte zu kommen. Die Aushandlung der Überlieferung des Vergangenen wird aber häufig von Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit in Bezug auf vergangene Ereignisse begleitet, insbesondere wenn es in der Folge eines Zeitbruchs zur Etablierung neuer Zeitordnungen kommt, die gesellschaftliche Gültigkeit einfordern. In diesen Konflikten werden bestehende gesellschaftliche, politische, religiöse und soziale Machtverhältnisse abgebildet. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie lange und in welchen Bereichen ihres Lebens Menschen einer bestimmten Zeitordnung folgen und wann sie beginnen, neue Zeitordnungen zu akzeptieren. Dieser Prozess der Verhandlung muss nicht zur vollständigen Verdrängung einer etablierten Zeitordnung führen, sondern kann die Koexistenz unterschiedlicher Zeitordnungen in verschiedenen Lebensbereichen begründen. Die Akzeptanz neuer Zeitordnungen drückt in jedem Fall den Versuch der Menschen aus, Handeln in der Krise und im Wandel neu zu synchronisieren. Dieses Bemühen bildet sich in der Entwicklung einer spezifischen Zeitkultur ab und erlangt in entsprechenden Zeitregimen alltägliche Wirkmächtigkeit. Dabei können sich zwischen etablierten und neuen Zeitordnungen vielfältige Konflikte um die „rechte“ Zeit ergeben und zwar deshalb, weil neue Zeitordnungen häufig zugleich universale Orientierungsund lokale Alltags-Gültigkeit beanspruchen. Etablierte Synchronisationsleistungen werden in Frage gestellt und sollen sich dem Hegemonieanspruch neuer Zeitordnungen beugen. Der primäre Bezugsrahmen für Dispute um die „rechte“ Zeit ist dabei der lokale Kontext, in welchem sich das alltägliche Leben der Menschen abspielt. Im lokalen Kontext werden die Selbst-,Welt- und Zeitvorstellungen der Menschen geformt, die im täglichen Handeln Bedeutung erlangen, wenn ein Konsensus darüber hergestellt

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werden soll, wann beispielsweise also zu den Bedingungen welcher Zeitordnung Feste stattfinden. In islamischen Gesellschaften haben Konflikte um die „rechte“ Zeit eine besondere Dynamik, weil religiösen Normen eine zentrale gesellschaftliche Rolle zugewiesen wird und Religion Ausdruck muslimischer Identität ist, die sich im täglichen Gebet, im Fastenmonat oder in der Pilgerreise zeitwirksam präsentiert: Muslimische Gemeinschaften sind ausgeprägte Zeitgemeinschaften und Auseinandersetzungen um die „rechte Zeit“ sind elementarer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. In diesen Auseinandersetzungen vertreten muslimische Reformer häufig andere Zeitkonzeptionen als Sufi-Gelehrte.4 Zu lokal etablierten (und zum Teil nichtislamischen) Zeitkonzeptionen und muslimischen Zeitvorstellungen, die ihrerseits universale Gültigkeit beanspruchen, kommen im heutigen „global now“ (Appadurai 1996) jedoch Zeitvorstellungen hinzu, die sich nicht mehr aus innermuslimischen Legitimationsquellen speisen. Es kommt daher in vielen islamischen Gesellschaften zu vermehrten Auseinandersetzungen um die Frage der Gültigkeit lokal etablierter islamischer Zeitvorstellungen. Diese Auseinandersetzungen haben im Zeitalter der Globalisierung (s. Themenkasten 2) an Schärfe gewonnen, weil die im Rahmen der beschleunigten Verflechtung der Welt verbreiteten neuen und universale Gültigkeit beanspruchenden Zeitkonzeptionen einen Bruch mit bestehenden Zeitvorstellungen beinhalten: Die „neuen“ Zeiten werden eben nicht mehr als „islamisch“, sondern als Symbol einer neuen, nicht-muslimischen Weltordnung erkannt. Themenkasten 2: Globalisierung Der hier als „Globalisierung“ beschriebene Transformationsprozess meint, so Ulrich Beck, „das erfahrbare Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und Zivilgesellschaft, und damit im Grunde genommen etwas zugleich Vertrautes und Unbegriffenes, schwer Begreifbares, das aber mit erfahrbarer Gewalt den Alltag elementar verändert und

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Zum Konzept der Zeit im islamischen Kontext s. u.a. die Arbeiten von Ammann (1997), Damir-Geilsdorf (et al., 2005), Freitag (1995), Hartmann (2004), Schimmel (2001), Stowasser (2005), Wild (2005), sowie die Beiträge von Boer (1934), Watt (2002) und Mallet (2002) in der Enzyklopädie des Islams.

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alle zu Anpassungen und Antworten zwingt“ (Beck 1997: 44). Entgrenzung bedeutet also nicht nur die Relativierung von Entfernungen oder die Aufhebung des Machtmonopols der Nationalstaaten, sondern kann für die Vervielfachung kultureller Kontakte ebenso stehen, wie für den Bedeutungswandel oder Bedeutungsverlust bestehender ethnischer, religiöser, sprachlicher und sozialer Identitäten und Zuschreibungen. An der ostafrikanischen Küste kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum „take-off“ der Globalisierung, der mit der Etablierung neuer Zeitordnungen, neuer Kleidungsstile und neuer religiöser Rituale ebenso verbunden war, wie mit technologischen Neuerungen (Telegraph, später Telefon, Radio), mit der Etablierung des Dampfschiffs (später des Flugzeugs) und dem damit verbundenen Schrumpfen der Räume und Kommunikationszeiten. In diesen Prozessen des Wandels kam es nicht nur zu einer signifikanten Ausdehnung des Außenhorizontes der Sansibaris, zur Beschleunigung gesellschaftlicher Transformationen, zu einer Vervielfachung der Orientierungspole (Multizentralität) und zu einer Veränderung der Weltsicht (Entgrenzung), sondern auch zu einer signifikanten Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostafrika, in deren Rahmen bestehende Formen der Vergemeinschaftung durch neue Definitionen gesellschaftlicher Identität ersetzt wurden (Neuverortung).

Die unterschiedlichen und zunächst abstrakten Zeitkonzeptionen sowie die ihnen nachgeordneten konkreten Zeitordnungen, beziehungsweise die für das alltägliche Handeln der Menschen relevanten Zeithaushalte stellen sich jedoch je nach Zeitort unterschiedlich dar und müssen entsprechend unterschiedlich skizziert werden. Die Frage nach der Entwicklung und Durchsetzung bestimmter Zeitkonzeptionen und der gesellschaftlichen Verhandlung entsprechender Zeitordnungen und Zeithaushalte wird im Folgenden am Beispiel des Zeitorts Sansibar untersucht. Dabei gehe ich von der These aus, dass die translokale Verflechtung Sansibars in Ostafrika und im Indischen Ozean für die Entwicklung von Zeitvorstellungen in Sansibar wesentliche Bedeutung hatte und sich diese Entwicklung in einer Vielzahl unterschiedlicher und teilweise konkurrierender Zeitordnungen manifestierte. In Ostafrika waren vorkoloniale Zentren wie Sansibar und Mombasa seit langer Zeit in die translokalen Beziehungsgeflechte der „Indian Ocean Seascape“ (Reinwald/Deutsch 2002) integriert. Sie wurden im 20. Jahrhundert wie die kolonialen und post-kolonialen Metropolen Dar es Salaam und Nairobi in neue translokale Kontexte integriert, die sich über den Indischen Ozean hinaus auf den weiteren afrikanischen Raum sowie den „Westen“

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beziehen, der (auch) in Hinblick auf seine Vorstellungen von Zeit universale Geltung einfordert. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verlor das alte Handelszentrum Mombasa jedoch seine politische Eigenständigkeit in Abhängigkeit von zunächst Sansibar, später der britischen Kronkolonie Kenia und konnte sich lediglich als wichtige Hafenstadt behaupten. Sansibar erlebte im 19. Jahrhundert als Metropole eines omanisch-sansibarischen Handelsimperiums eine politische und ökonomische Blüte, verlor dann aber als Sultanat unter britischem Protektorat (1890-1963) seine politische Autonomie. Diese Krise wurde durch den Aufstieg konkurrierender Hafenstädte an der ostafrikanischen Küste, insbesondere Tanga und Dar es Salaam in Deutsch-Ostafrika (ab 1919 Tanganyika) verstärkt. Bis zu seiner erneuten Unabhängigkeit im Jahre 1963 konnte Sansibar aber seine kulturelle Führungsrolle an der Küste behaupten. Auch waren die Briten bereit, Sansibar bis 1963 als „saluting station“ der internationalen Handelsschifffahrt anzuerkennen. Selbst nach der Revolution vom Januar 1964 und der politischen Vereinigung mit Tanganyika im April 1964 konnte Sansibar als einer der beiden Staatsteile Tansanias eine gewisse Eigenständigkeit pflegen, während Mombasa im 20. Jahrhundert innerhalb Kenias gegenüber dem aufstrebenden Zentrum Nairobi zurücktrat. Aber auch die kolonialen und postkolonialen kosmopolitischen Zentren Ostafrikas, Dar es Salaam und Nairobi, unterscheiden sich in wesentlichen Punkten: So hatte Dar es Salaam als Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas (18841918) und des britischen Völkerbund-Mandats Tanganyika (1919-1961) eine doppelte koloniale Geschichte, während Nairobi das politische Zentrum der britischen Siedlerkolonie Kenia wurde. In der nachkolonialen Zeit spielte Dar es Salaam wiederum eine wichtige Rolle als Zentrum eines afrikanisch-sozialistischen Regimes mit Orientierung auf die sozialistische Staatenwelt, während Nairobi als Machtzentrum des westlich-kapitalistisch orientierten Kenia eine konkurrierende politische Ausrichtung vertrat. Auf Grund dieser unterschiedlichen Erfahrungen entwickelten sich in Sansibar, Mombasa, Dar es Salaam und Nairobi im 19. und 20. Jahrhundert spezifische Zeitlandschaften. Der Begriff der Zeitlandschaft wird hier somit als die Summe historisch gewachsener Zeitkonzeptionen, Zeitordnungen und Zeitregime eines bestimmten Zeitortes verstanden. Zeitlandschaften und die mit ihnen verbundenen Zeitkonzeptionen und Zeitordnungen stellen sich aber nicht nur aufgrund ihrer spezifischen historischen Entwicklung oder ihrer jeweiligen

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translokalen und transzeitlichen Verflechtung verschieden dar, sondern auch, weil sie lokal immer wieder neu ausgehandelt werden. So sind Dispute über Fragen der „rechten“ Zeit häufig mit Konflikten um Ansprüche auf gesellschaftliche, religiöse oder politische Deutungshegemonie verbunden, wenn etwa der MuftÐ von Sansibar, Harith Khelef Harith al-Ghaythi, die Ansprüche muslimischer Aktivisten zurückweist, saudi-arabische Zeitsetzungen in Bezug auf den Beginn des Fastenmonats RamaÃÁn anzuerkennen. Hier stellen sich Fragen der Macht, der gesellschaftlichen Verbindlichkeit und Gültigkeit von Zeitordnungen: Wer kann in welchem Kontext festlegen, welcher Zeitordnung allgemeine Anerkennung gebührt. Dabei stellt der Streit um den Vorrang der lokalen Mondsichtung gegenüber der saudi-arabischen Mondsichtung, der universellen „Mecca time“, der zunächst als primär religiöse oder politische Auseinandersetzung erscheint, stets auch eine Auseinandersetzung um grundsätzlichere Fragestellungen dar, in der allgemeine Gültigkeit und Wirkmächtigkeit bestimmter Konzeptionen von Zeit im Sinne einer umfassenderen kosmologischen Kontrollgewalt über die Zeit verhandelt wird (Munn 1992: 109). In solchen Konflikten werden nicht nur neue Zeitvorstellungen in Form neuer Zeitordnungen auf den Markt gebracht und in Hinblick auf ihre lokale Gültigkeit diskutiert, sondern auch lokal bestehende Zeitordnungen neu definiert. Dies zieht die weitere Veränderung einer bestimmten Zeitlandschaft nach sich. Aber auch das Spannungsverhältnis zwischen etablierten religiösen Autoritäten und muslimischen Reformern gestaltet sich in jeder Zeitlandschaft verschieden. Das Aufeinandertreffen lokal etablierter Zeitkonzeptionen mit Zeitvorstellungen, die universale Gültigkeit beanspruchen, und in vielfältigen Aushandlungsprozessen durchgesetzt werden, lässt sich dabei in vielen gesellschaftlichen Bereichen beobachten, etwa in den (trans-)lokalen Diskursen muslimischer Gelehrter, in gesellschaftlichen Umbruchsituationen oder in Generationskonflikten (s. Fair 2001 und Herrera 2000). Auch Fragen der Disziplinierung von Gesellschaft sind mit der Umsetzung bestimmter Konzepte von Zeit verbunden. Religiöse und gesellschaftliche Institutionen (Moscheen, QurÞÁnschulen, Rituale, Behörden, Nationalfeiertage) sind Schauplätze für Zeitkonflikte, über die gesellschaftlich wirkmächtige Zeithaushalte etabliert werden: In der britischen Kolonialzeit und auch im revolutionären Sansibar betraf dies vor allem das organisatorische Ideal der Pünktlichkeit oder die Durchsetzung einer revolutionären Perspektive auf die vorrevolutionäre Geschichte Sansibars.

1. E INLEITUNG | 21

Bei der Diskussion über das Thema Zeit in Sansibar fällt in der Tat der ständige Verweis auf den Zeitbruch der Revolution 1964 auf, der die jüngere Entwicklung Sansibars dominiert. Dieser Zeitbruch, der als Dreh- und Angelpunkt für die gesamte jüngere Geschichte Sansibars betrachtet werden kann, wird aber nur dann in seiner Wirkung deutlich, wenn er im Kontext der Vorgeschichte der Revolution gelesen wird. Diese verweist über die zama za siasa5 („Zeit der Politik“) der 1950er Jahre und die britische Kolonialzeit auf die Blütezeit des Sultanats im 19. Jahrhundert zurück, die im verheerenden Zyklon des Jahres 1872, also in Gestalt eines früheren Zeitbruchs, unterging. Die Revolution des Jahres 1964 und der Zyklon des Jahres 1872 bilden also eine historische Klammer, aus der heraus die gesellschaftliche, politische, religiöse und ökonomische Entwicklung Sansibars bis heute interpretiert wird. Diese beiden großen Zeitbrüche bilden eine Metageschichte Sansibars, die uns im Rahmen der weiteren Diskussionen begleiten wird. Bevor wir uns jedoch mit der Entwicklung der Zeit in Sansibar im Detail beschäftigen, möchte ich mich nach einem historischen Überblick über die Entwicklung Sansibars im 19. und 20. Jahrhundert (Kapitel 2) der Frage zuwenden, was die „Zeitlandschaft“ Sansibar eigentlich ausmacht (Kapitel 3). Dabei ist zu beachten, dass Sansibar in vielfältiger Art und Weise nicht nur mit Afrika, sondern auch mit dem Indischen Ozean und der islamischen Welt verbunden und zudem in eine transzeitliche Vorstellungswelt integriert ist, die stark vom Islam geprägt wird. Diese Dimensionen transzeitlicher Verflechtungen werden in Kapitel vier ausgelotet. Muslimische Vorstellungen von Zeit haben wiederum unmittelbaren Einfluss auf die „religiöse Zeit“ Sansibars, die im Mittelpunkt des fünften Kapitel steht. Dieses Kapitel stellt zudem das erste einer Reihe von Kapiteln dar, in denen ausgewählte Zeitordnungen detaillierter diskutiert werden: In Kapitel sechs wird ausgeführt, wie die „Uhrzeit“ im kolonialen Sansibar etabliert und im Rahmen von vielfältigen Disziplinierungsprozessen durchgesetzt wurde.

5

Die Zeit zwischen 1954 und 1963 war von zahllosen Auseinandersetzungen zwischen den gerade begründeten politischen Parteien gekennzeichnet und wird daher im historischen Gedächtnis Sansibars als zama za siasa oder als wakati wa siasa bezeichnet. S. hierzu die Arbeiten von Muhammad Bakari (2001), Fred Cooper (1980), Laura Fair (2001), Jonathon Glassman (2000; 2004) und Abdul Sheriff/Ed Ferguson (1991).

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Mit der Durchsetzung der Uhrzeit war das „Ordnen von Zeit“ verbunden, das sich in zahlreichen Dekreten, der Signalordnung und in der Diskussion um Bürozeiten und Feiertage niederschlug. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand in Sansibar aber auch ein neues Zeitgefühl, das sich in der Entwicklung moderner Medien (Zeitungen, Radio und Film) und neuer Formen des Zeitvertreibs und der Freizeitgestaltung äußerte (Kapitel 7). In Kapitel acht wird dann gezeigt, welche Auswirkungen die Konkurrenz unterschiedlicher Zeitordnungen auf das etablierte islamische Bildungswesen hatte: Insbesondere die koloniale Schule war eine zentrale Institution für die alltagswirksame Umsetzung der kolonialen Uhrzeitordnung. Nach der Schule wird in Kapitel neun mit der baraza ein weiterer zentraler Zeitort Sansibars vorgestellt, an dem der Nexus zwischen Zeit und Raum deutlich wird und an dem sich auch der Begriff der „sozialen Zeit“ darstellen lässt. In Kapitel zehn wird abschließend resümiert, wie sich die Zeitlandschaft Sansibar zwischen alten und neuen Utopien darstellt. Angesichts der Komplexität des Themas soll betont werden, dass die vorliegende Arbeit keineswegs beansprucht, alle denkbaren Fragen in Hinblick auf die Zeit in Sansibar erschöpfend zu behandeln. Auch eine eindeutige akademische Zuordnung etwa zur Islamwissenschaft, Geschichte oder Ethnologie, ist nicht gewollt. Viele Themen, etwa lebenszeitliche Perspektiven und Generationenwandel, historisches Gedächtnis und Erinnerung, Krankheit und Heilung oder die Bedeutung „magischer Zeiten“ in populärreligiösen Praktiken und Ritualen (s. hierzu etwa Nisula 1999) verdienen eine gesonderte Betrachtung und sollten in weiteren und fachspezifischen Forschungsarbeiten vertieft werden. Die vorliegende Arbeit hofft, solche weiterführenden Forschungen anzuregen.

2.

Der historische Rahmen: Vom Zyklon (1872) zur Revolution (1964)

D IE B LÜTEZEIT S ANSIBARS

IM

19. J AHRHUNDERT

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts existierte an der Spitze der ShanganiHalbinsel an der Westküste der Insel Unguja lediglich eine kleine FischerSiedlung nebst einem alten Fort aus portugiesischer Zeit, das 1709/1710 unter omanische Kontrolle gekommen war. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Sansibar jedoch zum wichtigsten Hafen an der ostafrikanischen Küste zwischen ÝAden im Norden und Kapstadt im Süden. Diese Entwicklung Sansibars war wesentlich mit dem Schicksal des Archipels als Teil des Sultanats Oman verbunden.1 Der eigentliche ökonomische und politische Auf-

1

Der Sansibar-Archipel, bestehend aus den beiden Hauptinseln Unguja und Pemba sowie zahlreichen kleineren Inseln wie Uzi oder Tumbatu stellte im 19. und 20. Jahrhundert immer eine kleine Welt dar. Die Einwohnerzahl Sansibars betrug am Ende der britischen Protektoratszeit 1963 kaum mehr als 340.000. Nach dem letzten tansanischen Zensus 2004 bewohnten 980.000 Menschen den Archipel. Die größte Insel, Unguja, gliedert sich in drei geographische Zonen: die historische Altstadt (swa.: mji mkongwe), die heute als Stone Town bezeichnet wird, mit etwa 20.000 Einwohnern im Jahre 2004; sodann die eigentliche metropolitane Agglomeration Ng’ambo (ca. 360.000 Einwohner); und schließlich die ländlichen Gebiete Sansibars (ca. 250.000 Einwohner). Die Insel Pemba verzeichnete 2004 etwa 350.000 Einwohner, verfügte aber, von Orten wie Wete und Chake abgesehen, über kein mit Sansibar-Stadt vergleichbares städtisches Zentrum.

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stieg Sansibars begann im frühen 19. Jahrhundert mit der Entwicklung der ersten Gewürznelken-Plantagen (s. Themenkasten 3).

Themenkasten 3: Die Gewürznelkenökonomie Die ersten Gewürznelkenbaumsetzlinge waren vermutlich im Jahre 1812 nach Sansibar gebracht worden und auf der Kizimbani-Plantage angepflanzt worden. 1819 hatten die Bäume eine Höhe von 5 Metern erreicht, 1822 gab es bereits zwei Plantagen mit Gewürznelkenbäumen, ab 1823 fanden erste Exporte von Nelken statt. In den 1830er und 1840er Jahren kam es zu einer explosionsartigen Ausdehnung der Gewürznelkenplantagen auf Unguja, ab den frühen 1850er Jahren auch auf Pemba, dort allerdings langsamer. Gewürznelkenkulturen erfordern saisonal enormen Arbeitsaufwand: vom Jäten des Bodens um die Bäume über die zweimalige Ernte der Fruchtstände pro Jahr, ständiges Wenden und Trocknen der Früchte (wenn nötig unter Bedachungen) bis hin zur Weiterverarbeitung (etwa als Öl).

Bereits in den 1820er und 1830er Jahren war der Gewürznelkenhandel (später auch Elfenbein und Sklaven) so lukrativ geworden, dass Sultan SaÝÐd b. SulÔÁn (r. 1804-1856) im Jahre 1840 seinen Herrschaftssitz von MasqaÔ nach Sansibar verlegte. Rückgrat der omanischen Herrschaft im westlichen Indischen Ozean und an der ostafrikanischen Küste war eine Flotte von Kriegs- und Handelsschiffen, die es dem Sultanat ermöglichte, alle Häfen der Region zu blockieren und eine effektive Kontrolle des Küstenhandels zu erlangen, ohne kostspielige Garnisonen in den jeweiligen Hafenstädten anlegen und unterhalten zu müssen. Nach dem Tode von Sultan SaÝÐd b. SulÔÁn 1856 kam es zur Teilung des Sultanats unter seinen Söhnen MÁÊid (Sansibar) und ÕwaynÐ (MasqaÔ). Ein Versuch ÕwaynÐs, 1859 die Herrschaft über Sansibar zu erlangen, scheiterte an der britischen Marine, die ÕwaynÐs Flotte zur Umkehr zwang (Bennett 1978: 63). Die von Sultan SaÝÐd b. SulÔān begonnene Expansionspolitik des Sultanats in Ostafrika wurde nach der Krise des Jahres 1859 von seinen Söhnen und Nachfolgern, MÁÊid (reg. 1856-1870) und BarÈaš (reg. 18701888) fortgesetzt, wobei sowohl MÁÊid als auch BarÈaš eine Politik der Modernisierung betrieben, die in vielen Bereichen dem Vorbild Ägyptens folgte. Insbesondere Sultan BarÈaš, der in Indien erzogen worden war und 1875 Ägypten besuchte, wo er den ägyptischen Vizekönig, Khedive IsmÁÝÐl, traf, war von dessen Modernisierungspolitik beeindruckt und ver-

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suchte sie auf Sansibar zu übertragen (Bennett 1978: 99 und Pouwels 1987: 127). Abb. 2: Karte Sansibar: Unguja und Pemba (Copyright Roman Loimeier)

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Das Zusammenspiel dieser politischen und ökonomischen Faktoren führte dazu, dass sich Sansibar in den 1870er und 1880er Jahren zu einer ostafrikanischen Metropole entwickelte (s. hierzu detailliert Sheriff 1987: 138ff). Reiseberichte hatten die Einrichtung des Sultans-Palastes noch in den 1850er Jahren als Ansammlung von einigen wenigen Stühlen bezeichnet und die Vielfalt der Gerüche in Sansibars Gassen bewog den britischen Reisenden Burton 1857 dazu, von Sansibar als „a filthy labyrinth“ (Sheriff 1987: 149) zu sprechen. In den 1880er Jahren glich die Hofhaltung von Sultan BarÈaš aber der eines indischen Maharaja: 1883 wurde ein bait alÝaÊÁÞib, ein „Haus der Wunder“, erbaut und mit elektrisch betriebener Beleuchtung und Aufzug versehen, um die von den Sultanen gesammelten Kuriositäten öffentlich auszustellen; vor dem Sultanspalast erhob sich seit dem Jahre 1879 ein Leuchtturm mit einer großen Uhr, die die neue Zeit allen sichtbar anzeigte.2 Die Stadt Sansibar verfügte bald auch über Wasserleitungen und eine Kanalisation, und die engen Gassen wurden nachts mit Gaslampen erleuchtet (Pouwels 1987: 127-8). Die zunächst aus Lehm und Kalksteinbruch erbauten ebenerdigen Häuser wurden durch mehrstöckige Steinhäuser der reichen Händlerfamilien ersetzt, während sich die ärmere Bevölkerung jenseits (swa.: ng’ambo) des „creek“ ansiedelte, ein Meeresarm, der bis in die 1950er Jahre die Altstadt von den Stadtgebieten östlich des „creek“ trennte.3 In der Altstadt entstanden neben dem Palastkomplex des Sultans zahl-

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Ähnliche Entwicklungen, insbesondere der Bau von Uhrtürmen, waren zeitgleich auch in anderen Teilen der islamischen Welt zu beobachten, so im Osmanischen Reich.

3

Die Altstadt Sansibars wird hier definiert als der Bereich westlich des „creek“ und der Creek Road sowie zwischen dem Mnazi Mmoja Krankenhaus im Süden der Stadt und der Fungoni-Halbinsel im Norden. Dieses Gebiet umfasst von Norden nach Süden die Viertel Malindi, Kiponda, Kokoni, Darajani, Hurumzi, Forodhani, Hamamni, Mkunazini, Soko Mohogo, Baghani, Vuga, Kibogoni und Shangani, ein Gebiet von etwa zwei Quadratkilometer bei einer Nord-SüdAusdehnung von drei Kilometern, einer Ost-West-Ausdehnung von 300-1000 Metern, sowie einem Netzwerk von etwa zwanzig Kilometern Gassen. Die Entwicklung Ng’ambos begann 1838 und unterlag einer ähnlichen Dynamik wie die Entwicklung der Altstadt: Auch in den einzelnen Vierteln von Ng’ambo ersetzten höhere Steinbauten bereits im späten 19. Jahrhundert die niedrigere Erstbe-

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reiche repräsentative Gebäude reicher Sansibaris, vor allem Araber und Inder, aber auch der europäischen Handelsniederlassungen und Konsulate. Zudem wurden eine Reihe von Hotels, Marktgebäude, neue Hafenanlagen und eine Eisfabrik erbaut. In der historischen Altstadt Sansibars mit ihren Vororten entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine kosmopolitische Gesellschaft (s. Themenkasten 4), geprägt von reichen omanischen Plantagenbesitzern sowie indischen Händlern und Bankiers, Handwerkern aus unterschiedlichen indischen Regionen, vor allem Gudscharat und Cutch (Kuchchh), religiösen Gelehrten aus dem ÍaÃramaut, von den Komoren und aus Brawa (Somalia). Daneben gab es Fischer von den Bajuni-Inseln nördlich von Lamu, Söldner aus Belutschistan, Hafenarbeiter und Matrosen aus dem Jemen oder von der afrikanischen Küste, Plantagenarbeiter und Sklaven (insbesondere Makonde und Nyamwesi) vom afrikanischen Hinterland, Madagassen, Somali, Äthiopier, Perser und einige Europäer. Die ethnische und kulturelle Vielfalt Sansibars setzte sich im Bereich der Religion fort: Abgesehen von den unterschiedlichen muslimischen Orientierungen der šÁfiÝÐtischen und ÎanafÐtischen (sunnitischen) Rechtsschulen, der 12er šÐÝÐtischen (i×nÁÝašarÐ) und ismÁÝÐlÐtischen šÐÝÐtischen Gruppierungen, die wiederum in „Khōja“ und „Bohora“ zerfielen, und schließlich der ibÁÃÐtischen Gemeinschaft, registrierten die Briten einige christliche Gemeinden (Anglikaner, Lutheraner und goanische Katholiken), mehrere Hindu-Gruppierungen, BahÁÞÐs und sogar einige Zoroastrier, die sich vor allem in der Stadt Sansibar selbst etabliert hatten. Auf dem Land lebten die alteingesessenen Shirazi4, die wiederum in Wahadimu (im Süden und Osten Ungujas), Wapemba (auf Pemba) und Watumbatu (auf Tumbatu und im Norden Ungujas) unterschieden wurden. Sie alle waren durch die gemeinsame Sprache, das Kis-

bauung. Im Jahre 1895 umfasste Ng’ambo schon fünfzehn Viertel (mitaa), unter anderem Miembeladu, Miembeshauri, Kikwajuni, Kisiwandui, Saateni, Kilimani, Jang’ombe, Mwanakwerekwe, Mombasa, Chukwani und Gulioni. Zur Entwicklung von Ng’ambo s. Myers 2003 und Bisell 1999. 4

Zum Begriff „Shirazi“ s. Middleton 1992: 30. Obwohl mit dem Begriff eine historische Zuwanderung aus dem südpersischen ŠirÁz suggeriert wird, ist damit heute vor allem eine gegen arabische Einwanderergruppen und deren religiöskulturelle Hegemonieansprüche und gegen frühere „afrikanische“ Dynastien gerichtete Konstruktion von Identität verbunden.

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wahili und mehrheitlich durch die gemeinsame Religion, den Islam, geeint. Die Ausrichtung auf die Zentren arabischer Kultur in Oman, ÍaÃramaut, ÍiÊāz und Ägypten förderte zudem einen Lebensstil, der als ustaarabu („wie ein Araber leben“) bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein zivilisatorisches Ideal darstellte (s. Pouwels 1987).

Themenkasten 4: Kosmopolitanität In der vorliegenden Arbeit wird zwar das deutsche Adjektiv „kosmopolitisch“, aber das englische Nomen cosmopolitanity in deutscher Übersetzung („Kosmopolitanität“) an Stelle des deutschen Begriffs Kosmopolitismus verwandt. Die Debatte zum Begriff der Kosmopolitanität ist in jüngerer Zeit von Clifford (1992), Brennan (1997) und Cheah/Robbins (1998) beeinflusst worden. Der Sammelband von Cheah/Robbins gewährt einen guten Überblick über die Debatten. Kosmopolitanität ist vielfach beschrieben worden als eine Form der Konvivialität, als „kindness to strangers“, als „willingness to engage others“ oder als eine grundlegende Offenheit gegenüber dem Anderen. Als solches ist der Begriff relational und situiert und transportiert wertende Bedeutungsnuancen. Oft impliziert das Wort Gegensätze, die eine parochiale Geschlossenheit einer kosmopolitischen Offenheit gegenüberstellen. Der Begriff Kosmopolitanität kann daher als Signalbegriff gesehen werden, er hat „aspirational quality“ und ist, entgegen weitläufiger Meinung, keine analytische Kategorie. In Hinblick auf Sansibar definierte Abdul Sheriff den Begriff der Kosmopolitanität (swa: mchanganyiko, wörtlich: Mischung, Amalgam) als „natural acceptance of difference“ (Abdul Sheriff, 19. Juni 2004): Unterschiede werden als natürlicher Teil des Alltagslebens und alltäglicher Routinen wahrgenommen, die nicht mehr verhandelt werden oder verhandelt werden müssen. In kosmopolitischen Kontexten werden Unterschiede vielmehr als integraler Bestandteil der kulturellen, religiösen und politischen Imagination einer Person, Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft gesehen.

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UND DIE

K OLONIALZEIT

Ein verheerender Zyklon im Jahre 1872 erschütterte jedoch die Blüte Sansibars nachhaltig: Zunächst vernichtete der Zyklon fast die gesamte Handels- und Kriegsmarine Sansibars, c. 150 Dhaus und die meisten vor Reede liegenden europäischen Segelschiffe. Diese Katastrophe schwächte das mi-

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litärische und ökonomische Rückgrat des Sultanats so sehr, dass das Sultanat in den 1880er Jahren nicht mehr in der Lage war, dem zunehmend aggressiven Vorgehen europäischer Kolonialmächte in der Region wirkungsvollen Widerstand zu leisten. Am 7. November 1890 wurden die verbliebenen Territorien des Sultanats unter britisches Protektorat gestellt.5 Ein letzter Versuch, die Unabhängigkeit des Sultanats wiederherzustellen, scheiterte im Jahre 1896 mit der Bombardierung Sansibars durch die britische Flotte. Trotz seiner Signalwirkung wird das britische Flottenbombardement hier allerdings nicht als ein weiterer Zeitbruch gesehen, weil mit ihm, in Gegensatz zum Zyklon des Jahres 1872 oder der Revolution des Jahres 1964, keine strukturellen Veränderungen verbunden waren. Das Bombardement des Jahres 1896 bestätigte lediglich den 1872 beginnenden Verlust der politischen Autonomie Sansibars. Von 1890 bis 1963 blieb Sansibar so unter britischer Oberherrschaft, auch wenn der Sultan formell als Herrscher anerkannt wurde und die Sitzungen des „Executive Council“ leitete.6 Die wirkliche Macht lag jedoch bis zur erneuten Unabhängigkeit Sansibars am 10. Dezember 1963 bei einem britischen Residenten und einer von ihm geführten Protektoratsverwaltung (Flint 1965: 656).

5

Eine Ausnahme stellten die Sansibar direkt gegenüberliegenden Territorien dar, die Deutsch-Ostafrika zugeschlagen wurden.

6

Der „Executive Council“ und der „Legislative Council“ (LegCo) waren die beiden wichtigsten Machtinstrumente der britischen Kolonialverwaltung in Sansibar seit 1926. Während im LegCo Kolonialpolitik unter der Beteiligung ausgewählter einheimischer Notablen diskutiert wurde, wurden die eigentlichen Entscheidungen im „Executive Council“ gefällt, in welchem neben dem Sultan vor allem der britische Resident, der Chief Secretary, der Attorney General und der Treasurer, sowie drei weitere hochrangige britische Verwaltungsbeamte sassen, die wiederum die unterschiedlichen britischen Verwaltungseinrichtungen vertraten (Department of Public Works, Education, Health etc.). Erst seit 1961 wurden die Mitglieder des LegCo durch Wahlen bestimmt, aus dem „Executive Council“ entstand der Ministerrat.

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Abb. 3: Auswirkungen des Zyklons des Jahres 1872 im Hafen Sansibars (Siravo 1996: 19; Sheriff 1987: 234)

Der Zyklon des Jahres 1872 hatte außerdem nachhaltige Folgen für die ökonomische und soziale Struktur des Archipels: Er zerstörte nämlich einen Großteil (c. 85%) der auf der Insel Unguja gelegenen GewürznelkenPlantagen. Zwar überstanden die auf der Insel Pemba gelegenen Plantagen den Sturm unbeschadet, Sansibar hatte aber einen Einbruch seiner Exporterlöse zu verkraften, der längerfristig nicht ausgeglichen werden konnte. Die Zerstörung der Gewürznelkenplantagen Ungujas führte so zu einer weitreichenden Umstrukturierung der Insel: an Stelle der arbeitsintensiven und langsam wachsenden Gewürznelken-Bäume wurden Kokospalmen angepflanzt, die eine schnellere Rendite versprachen und deren Bewirtschaftung zudem weniger Arbeitskraft erforderte. Dies war ein wichtiges Argument im Kontext der schrittweisen Aufhebung der Sklaverei unter britischem Druck seit 1873 und unter dem Eindruck des Todes eines großen Teils der sansibarischen Sklavenbevölkerung während der Cholera-Epidemie von 1869/1870 (s. Themenkasten 5). In der Folge des Zyklons verstärkte sich die Konzentration des Baum- und Plantagenbesitzes auf Unguja. In den 1930er Jahren befand sich der Großteil der Fruchtbäume auf der Insel im Besitz einiger weniger Grundherren. Auf Unguja bildete sich so in der Kolonialzeit eine gesellschaftliche Struktur heraus, an deren Spitze

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omanische Plantagenbesitzer und indische Händler standen. Die Masse der Bevölkerung setzte sich hingegen aus verarmten Kleinbauern und Saisonarbeitern vom Festland zusammen, die während der zama za siasa der 1950er Jahre die politische Basis der Afro-Shirazi Party (ASP, gegr. 1957)7 und später die soziale Basis der Revolution bildeten. Auf der vom Zyklon verschonten Insel Pemba blieben die Baumbesitzverhältnisse im Wesentlichen bestehen, es entwickelte sich sogar eine Schicht einheimischer Baumbesitzer, die in der zama za siasa die Zanzibar National Party (ZNP, gegr. 1955) oder die Zanzibar and Pemba Peoples’ Party (ZPPP, gegr. 1959) unterstützten.

Themenkasten 5: Die Cholera in Sansibar Die Cholera-Epidemie 1869/1870 tötete fast ein Drittel der Bevölkerung Sansibars (70.000 von 200.000 Einwohnern), darunter „entire establishments of slaves“ (Sheriff 1987: 235). Sie war Teil der vierten Cholerapandemie, die Sansibar im 19. Jahrhundert von Indien ausgehend erreichte (die erste Pandemie begann 1818 und erreichte Sansibar 1821, die zweite begann 1826 und erreichte Sansibar 1836, die dritte begann 1842 und erreichte Sansibar 1858, die vierte begann 1865 und erreichte Sansibar 1869). Der Sklavennachschub nach Sansibar hatte bereits in Folge eines Krieges in Unyamwesi zwischen 1860 und 1865 schwer gelitten (Sheriff 1987: 193, 230 und 235).

Während die ASP für eine späte Unabhängigkeit Sansibars eintrat, um eine Machtübernahme der „Araber“ zu verhindern, engagierten sich die ZNP und die von MuÎammad Shamte geführte ZPPP für die rasche Unabhängigkeit und, in Rückbezug auf den Protektoratsstatus Sansibars zwischen 1890 und 1963, für die Wiederherstellung der Souveränität des Sultanats. Die ZNP war dabei in einen nationalistisch-konservativen und einen progressiven Flügel gespalten. Ersterer stand unter der Führung von ÝAlÐ MuÎsin al-BarwÁnÐ, war am nasseristischen Ägypten ausgerichtet und vertrat in Sansibar das politische und ökonomische Establishment, während sich der linke Flügel, aus dem 1963 die Umma-Partei unter der Führung von ÝAbd al-RaÎmÁn MuÎammad „Babu“ hervorging, an Kuba, der Volks7

Im Jahre 1977 wurde die ASP im Rahmen des Zusammenschlusses mit der Tanganyika African National Union (TANU) in CCM (Chama cha Mapinduzi, Partei der Revolution) umbenannt (s. Bakari 2001).

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republik China und der DDR orientierte und in Sansibar die progressive arabische, indische und komorische städtische Jugend vertrat. In Hinblick auf die in der zama za siasa verbreitete ethnizistische Polemik insbesondere von Seiten der ASP muss beachtet werden, dass trotz anderer Behauptungen der Prozentsatz der Araber in Sansibar niemals mehr als 17% der Bevölkerung betrug. Selbst diese Zahl war ein Ergebnis britischer Kolonialpolitik, die in ihrem Konzept einer „natural hierarchy of races“ der arabischen Bevölkerung Sansibars den Rang einer religiösen, sozialen und politischen Elite zugestand und „Araber“ entsprechend privilegierte. In der Folge gaben sich zahlreiche Sansibaris als „Araber“ aus (s. Glassman 2000). Die Koalition aus ZNP und ZPPP, die vorgeblich das arabische Establishment vertrat, errang in allen vorrevolutionären Wahlen aber weit mehr als 17% der Stimmen, selbst wenn es für die absolute Mehrheit der Stimmen nie reichte (Sheriff 2001: 303). In den drei Wahlen zur Besetzung des „Legislative Council“ und späteren sansibarischen Parlaments in den Jahren 1961-63 gewann vielmehr die ASP die absolute Mehrheit der Stimmen. Die von den Briten vorgenommene Aufteilung der Wahlbezirke und das britische Mehrheitswahlrecht verhinderten aber, dass die ASP die Mehrheit der Sitze errang. Letztendlich gelang es der ZNP gemeinsam mit der ZPPP eine Koalitionsregierung zu bilden, die die ASP von der Regierungsverantwortung ausschloss und Sansibar am 12. Dezember 1963 in die Unabhängigkeit führte. In der Folge begann die Regierung unter Premierminister MuÎammad Shamte die politische Opposition zu marginalisieren. Gleichzeitig wurde eine Reihe von Sparmaßnahmen verkündet, die durch den Rückgang der Exporterlöse bedingt waren und die besonders die Polizei- und Ordnungskräfte trafen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit vom Festland stammten und als „mainlander“ in den Augen der Regierung als unzuverlässig galten (Martin 1978: 57 und Clayton 1981: 53). Die willkürliche Politik der Regierung von MuÎammad Shamte erleichterte die Vorbereitung und Durchführung eines Umsturzes, der schließlich in der Nacht auf den 12. Januar 1964 unter der Führung von John Okello durchgeführt wurde.8

8

Eine detaillierte Darstellung des Verlaufs des Umsturzes von 1964 s. bei Clayton 1981. Der aus Uganda stammende John Okello (geb. 1937) war 1959 nach Sansibar gekommen. Er wurde bereits im März 1964 entmachtet und aus Sansibar ausgewiesen.

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Themenkasten 6: Zur Chronologie des Umsturzes Der Verlauf des Umsturzes lässt sich im Wesentlichen in drei Phasen gliedern: 1. Der eigentliche Umsturz, die Absetzung der alten Regierung und die Übernahme der Macht durch die Revolutionäre, der in der Nacht vom 11. auf den 12. Januar begann und mit der Proklamation der neuen Regierung Sansibars durch John Okello am Abend des 12. Januar 1964 abgeschlossen wurde. 2. Die Massenflucht der reichen arabischen und indischen Bevölkerungsgruppen, Massaker an (ärmeren) arabischen und indischen, Bevölkerungsgruppen sowie die Machtübernahme Karumes und der gut ausgebildeten revolutionären Kader der ASP-Youth League und der Umma-Partei „Babus“. Diese Phase zog sich in Unguja über einige Tage, in Pemba über einige Wochen hin. 3. Die Entmachtung Okellos, aber auch der radikalen Revolutionäre um „Babu“ (Umma-Partei) und Kassim Hanga (ASP-Youth League) durch Karume und, damit verbunden, die Konsolidierung der Macht Karumes, die mit der staatlichen Union Sansibars und Tanganyikas im April 1964 abgeschlossen wurde.

Dieser Umsturz (s. Themenkasten 6) erschütterte ob seiner Radikalität zwar ganz Ostafrika, er kam aber nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Die zama za siasa der 1950er und frühen 1960er Jahre hatte Sansibar bereits heftige Auseinandersetzungen beschert, in denen insbesondere die Hafenarbeiter9 eine zentrale Rolle spielten. Die Modernisierung des Hafens von Sansibar im 20. Jahrhundert und insbesondere der Hafenausbau bis 1925 mit modernen Verladekais hatte eine beträchtliche Stärkung der Rolle der Schauerleute, Bootsleute, Lastenträger, Transporteure und Rikscha„pusher“ erbracht, die von der African Wharfage Company lizenziert wurden und die für das Ent- und Beladen der Schiffe am neuen Tiefwasserkai, aber auch für den Transport der Güter von und zum Hafen von zentraler Bedeutung waren. Auch der erste revolutionäre Präsident Sansibars, Abeid Amani Karume (1905-1972), war aus der Bewegung der Hafenarbeiter hervorgegangen, die unter der Führung von Khamis Abdallah Ameir, dem Sekretär der Maritime and Allied Workers Union, stand. Karume war im Alter von fünfzehn Jahren Matrose geworden und hatte zunächst die Küstenrouten Ostafrikas, später die Weltmeere befahren. Nach seiner Rückkehr 1938 begann er die afrikanischen Boots- und Schauerleute zu organisieren

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Über die Bedeutung des Hafens für die historische Entwicklung Sansibars und für die Revolution s. Loimeier 2007b.

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und gründete ein Shore Launch Service Syndicate (s. Clayton 1976 und 1981: 17).10 Versuche reicher Händler, einen Teil der Arbeiten von den Besatzungen der Dhaus unter Ausschluss der Hafenarbeiter verrichten zu lassen, zogen im März 1946 den ersten Streik in der Geschichte Sansibars nach sich, der vier Monate dauerte und 2.000 Hafenarbeiter mobilisierte. Im Oktober 1946 organisierten sich die Hafenarbeiter in einer eigenen Gewerkschaft und führten im August 1948 den ersten Generalstreik in der Geschichte Sansibars durch, der den Hafen erneut drei Wochen lahm legte, bis die Forderungen der Hafenarbeiter erfüllt waren (Sheriff/Ferguson 1991: 203). Diese Streikbewegungen stellten eine wichtige Etappe für die politische Mobilisierung der Hafenarbeiter Sansibars dar und bereiteten die Gründung der Afro-Shirazi Union vor, die als Afro-Shirazi Party im Rahmen des revolutionären Umsturzes in der Nacht vom 11. auf den 12. Januar 1964 die Macht ergreifen sollte. Der Sultan flüchtete in den Morgenstunden des 12. Januar mit seiner Familie auf den vor Reede liegenden Regierungsdampfer „Salama“ und später ins britische Exil (Petterson 2002: 57).

D IE R EVOLUTION Die Revolution des Jahres 1964 läutete einen neuen Abschnitt in der politischen Entwicklung Sansibars ein (s. Loimeier 2006a: 111-30; s. Themenkasten 7). Von der Bevölkerung Sansibars wurde die Revolution in vielerlei Hinsicht als radikaler Bruch mit der Vergangenheit gesehen, nicht nur wegen der umfassenden Eingriffe der Revolutionsregierung in das alltägliche Leben der Menschen, sondern auch wegen der Etablierung einer neuen Ikonographie, der Einrichtung neuer Feiertage und eines neuen Zeitregimes, etwa im Bereich des Schulwesens. Die Revolution setzte auch zahlreiche Disziplinierungsmaßnahmen der Zeit der Sultane und der Kolonialzeit fort, erfasste über die Bildung revolutionärer Organisationen wie der Youth League (swa.: Yusi Ligi) der ASP aber größere Teile der Gesellschaft. Die Revolution wurde auch in der Umnutzung und Neubenennung

10 Die Rolle der Hafen-, Boots- und Schiffsarbeitervereinigungen war bereits im Trade Union Act 1931 gesetzlich verankert worden. Daneben wurden die Interessen der Hafenarbeiter von der 1934 gegründeten African Association vertreten, aus der später die von Abeid Amani Karume geführte ASP hervorging.

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öffentlicher Gebäude sichtbar: der Sultanspalast wurde zum People’s Museum; das bait al-ÝaÊÁÞib zum Nationalmuseum; der britische Yachtclub eine Bar der CCM, der Starehe Club; aus der einzigen modernen islamischen Oberschule, der Muslim Academy in Forodhani, machte man ein Waisenhaus;11 aus der führenden Sekundarschule des kolonialen Sansibar, dem King George VI College wurde die Lumumba Secondary School und aus dem größten Krankenhaus des Archipels, dem Karimji-Hospital in Mnazi Mmoja, wurde das Wladmimir-Iljitsch-Lenin-Krankenhaus. Die neue revolutionäre Zeit äußerte sich in der offiziellen Anrede „Genosse“ (swa.: ndugu), die das respektvolle shaykh der Kolonialzeit ersetzte, sowie in der Abschaffung des Arabischen und Englischen und der Einführung des Kiswahili als alleiniger Amtssprache.

Themenkasten 7: Revolution Kosellek zufolge hat der Terminus Revolution ein breites Bedeutungsspektrum, das sich im Lauf der Zeit verändert hat: Der Begriff der Revolution konnte so auf einen plötzlichen Umsturz wie auch auf einen Bürgerkrieg verweisen, sowie auf langfristige Prozesse des Wandels, insbesondere wenn grundlegende gesellschaftliche Strukturen betroffen waren. Zudem musste der Begriff der Revolution nicht auf politische Ereignisse beschränkt bleiben, sondern konnte sich auch auf ökonomische Entwicklungen, etwa die industrielle Revolution, beziehen. Erst nach der französischen Revolution, die ihrerseits häufig als ein Bürgerkrieg gesehen wurde, wurde der Begriff der Revolution häufiger als ein plötzlicher und totaler Bruch und Wechsel in Regierungsmacht und politischen Strukturen gesehen, der nicht mehr notwendigerweise Aspekte eines Bürgerkriegs hatte (Kosellek 1979: 67ff). Bürgerkrieg, insbesondere der amerikanische Bürgerkrieg, wurde hingegen zunehmend als eine länger andauernde Krise gesehen, in der es zur Entwicklung paralleler politischer und administrativer Strukturen kommen konnte.

11 Seit dem Jahr 2002 wurde das Waisenhaus schrittweise in ein Restaurant („Monsoon“) umgewandelt, das von einem Mitglied der Karume-Familie betrieben wird. Die Waisen wurden 2010 in ein neues Gebäude am Stadtrand Sansibars umgesiedelt. Das Gebäude soll in Zukunft ein von der Aga Khan-Stiftung finanziertes Meeresmuseum beherbergen und damit die Attraktivität des Forodhani-Viertels für den Tourismus steigern.

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In der Folge des revolutionären Umsturzes wurde in Sansibar ein sozialistisches Regime nach dem Muster der DDR etabliert. Es kam zur Umsetzung planwirtschaftlicher Programme im Bereich des Wohnungsbaus, des Bildungswesens und der Gesundheitsversorgung, zur Verstaatlichung des Außenhandels und zur Einrichtung staatlicher Vermarktungsmonopole insbesondere für die Gewürznelkenernte. Die großen Kokospalmenplantagen auf Unguja wurden enteignet und umverteilt. Ab 1965 distanzierte sich der Staat zunehmend auch von der Religion und beendete 1965 den Religionsunterricht an den staatlichen Schulen. Das Fach „Religion“ (arab.: diÁna) wurde durch die neuen Fächer „Politik“ und „Wissenschaft“ (swa.: siasa, bzw. sayansi) ersetzt. Dazu kamen symbolische Umwälzungen wie das Verbot der Rikschas als Symbol feudaler Ausbeutung und die Ersetzung der britischen Verwaltungsangestellten durch Experten aus den sozialistischen Ländern, vor allem aus der DDR und der Volksrepublik China. Für viele Beobachter stellte Sansibar in den 1960er Jahren das radikalste sozialistische Regime in Afrika dar. Dieses Erbe der Revolution ist bis heute spürbar, da immer noch viele Hinterlassenschaften der Revolution existieren, etwa die Kleidung der sansibarischen Funktionäre im „Ki-Mao“-Stil. Darüber hinaus pflegen die staatlichen Institutionen und die immer noch regierende Revolutionspartei CCM, die 1977 aus der ASP hervorging, das Erbe der Revolution. Nach der Revolution von 1964 wurde Sansibars multiethnischer Charakter von der Politik des ersten postrevolutionären Präsidenten Sansibars, Abeid Amani Karume, in Frage gestellt. Karume betonte gegenüber Sansibars vorgeblicher arabischer (und kosmopolitischer) Identität dessen afrikanischen Charakter und betrieb eine konsequente Politik der Ausgrenzung nicht-afrikanischer Gruppierungen. Diese Politik zog die Vertreibung, Flucht oder Emigration zahlreicher Inder, Araber und Komorer nach sich, die nicht mehr als einheimische Sansibaris betrachtet wurden. Die Revolution von 1964 führte damit zu einer zunehmenden Verengung („closure“) des Spektrums ethnischer und religiöser Orientierungen Sansibars, eine Entwicklung, die einen klaren Bruch mit der früheren Vielfältigkeit der Gesellschaft darstellte. In der Einführung revolutionärer Feiertage, der Etablierung neuer Bühnen für die politische und soziale Repräsentation der Revolution, einer neuen Schulpolitik und der Marginalisierung der Religion zugunsten eines sozialistischen Gesellschaftsmodells zeigte sich wiederum das Bemühen der revolutionären Elite, eine neue sansibarische Identität zu

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schaffen, die auf dem afrikanischen Erbe Sansibars beruhte und sein arabisches und indisches Erbe ablehnte. Die Betonung der Afrikanität Sansibars beinhaltete die Reinterpretation sansibarischer Geschichte aus der Sicht der Sieger. Damit kam es in Sansibar nach 1964 zur Entstehung von zwei konkurrierenden und einander gegenseitig ausschließenden Erinnerungskulturen. Die massiven Umwälzungen des alltäglichen Lebens wie auch der sozialen, religiösen und politischen Strukturen Sansibars, sowie die Tatsache, dass es mit der Revolution zwar zu einem politischen Machtwechsel gekommen war, aber weiterhin beträchtliche Bevölkerungsgruppen existierten, die von der ASP nicht vertreten wurden, bewirkten aber, dass die Revolution umstritten blieb und in der Folge eine Auseinandersetzung um die Interpretation der Ereignisse des Jahres 1964 begann, die bis heute anhält (s. Loimeier 2006b). Die Auseinandersetzungen um die Interpretation der Revolution beziehen sich dabei nicht nur auf das Kollektivereignis der Revolution selbst, sondern auch auf Detailaspekte wie die Frage, wie viele Menschen im Verlauf der Revolution getötet wurden: al-BarwÁnÐ behauptet, dass die Revolution 13.000 Menschen das Leben gekostet habe,12 während Kettani sogar von der unglaublich hohen Zahl von 70.000 Opfern ausgeht (Kettani 1982: 112). Diesen Spekulationen liegen propagandistische Angaben zugrunde, die der Revolutionsführer John Okello drei Tage nach dem Umsturz über das Radio verbreitete: Enemy soldiers and persons killed numbered 11,995; only nine of my own soldiers were reported killed; 1,631 civilian Africans were killed; the total reported killed then was 13,635. In addition, 21,462 enemies and stooges were detained. All jails and fenced prison compounds were full and some detainees were transferred to small islands off the coast (Okello 1967/71: 160).

Andere Quellen und Zeitzeugen versuchen hingegen die Zahl der Opfer niedriger anzusetzen. Der Führer der Umma-Partei, ÝAbd al-RaÎmÁn MuÎammad „Babu“, etwa behauptet: „the real casualty figure was mini-

12 al-BarwÁnÐ behauptet, dass neben den 13.000 Toten des sansibarischen „Holocausts“ zudem 26.000 Menschen inhaftiert worden seien und 100.000 Sansibaris im Gefolge der Revolution geflohen seien, sodass insgesamt 43% der Bevölkerung Sansibars direkte Opfer der Revolution waren (al-BarwÁnÐ 1996: 35, 150). S. hierzu ausführlich Loimeier 2006b.

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mal“ („Babu“ 1991: 241), während Mrina und Mattoke zu diesem Thema vollständig schweigen (Mrina/Mattoke 1980: 94-6). Externe Beobachter, etwa britische Geheimdienstquellen und, in Berufung auf sie, Autoren wie Martin, Clayton und Lofchie, die den akademischen Diskurs über die Revolution in den 1960er und 1970er Jahren bestimmten, gingen dagegen von vagen Mittelwerten zwischen 3.000 und 11.000 Toten aus (Clayton 1981: 81; PRO DO 185/51). Diese Angaben reflektieren unterschiedliche Positionen zur Revolution: Niedrige Opferzahlen dienen vor allem dazu, die Argumentation der Kader der Umma-Partei und der ASP-Youth League zu belegen, die behaupten, das anarchische Morden und Plündern der ersten Revolutionstage unter der Leitung Okellos beendet und für Ordnung gesorgt zu haben. Mit hohen Opferangaben sind die Darstellungsinteressen der Opposition verbunden, die den barbarischen Charakter der revolutionären Ereignisse betonen. Trotz dieser unterschiedlichen Interpretationsmuster lässt sich sagen, dass das Ausmaß und die Folgen der Gewalt während der ersten Wochen und Monate der Revolution zur Grundlage eines nationalen Traumas wurden, das Sansibar bis heute beschäftigt. Viele Revolutionäre und ihre Opfer sind heute noch am Leben und legen für die anhaltende Zerrissenheit Sansibars in widersprüchlichen Erinnerungstraditionen Zeugnis ab. Sansibar blieb nach der Revolution in jedem Fall in zwei fast gleich große politische Lager gespalten, denn auch die soziale Unterstützung für die Revolution kam aus vielen Quellen: Neben Afrikanern vom Festland spielten radikale Araber, Komorer und Shirazi eine wichtige Rolle, insbesondere in den ersten Wochen der Revolution. Eine Unterscheidung zwischen einer Mehrheit „unterdrückter Afrikaner“ und einer Minderheit „arabischer Unterdrücker“ war somit nicht möglich. Mit der Konsolidierung der Revolution waren Abeid Amani Karume (reg. 1964-1972) und seine Nachfolger (Aboud Jumbe 1972-1984, Ali Hassan Mwinyi 1984/85, Abdul Wakil 1985-1990, Salmin Amour 1990-2000 und Amani Abeid Karume 20002010) aber in der Lage, die eigene Interpretation der Geschichte im Schulunterricht, in der öffentlichen Darstellung und im revolutionären Kult zu verewigen. Mit dem Wahlsieg Amani Abeid Karumes am 30. Oktober 2005 verlängerte sich die politisch abgesicherte Deutungshoheit des ASP-CCMRegimes um weitere fünf Jahre (s. Feingold 2005). Erst im Vorfeld der Wahlen des Jahres 2010 kam es zu einer Einigung zwischen der CCM und der größten Oppositionspartei Civic United Front (CUF), die in den Wahlen im Oktober 2010 fast 50% der Stimmen erhielt und nach den Wahlen in

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eine Koalitionsregierung mit der CCM unter der Führung des von der Insel Pemba stammenden CCM-Politikers und neuen Präsidenten Ali Mohamed Shein eintrat. Damit könnte in den kommenden Jahren die politische Blockade Sansibars endlich überwunden werden. In der historischen Rückschau stellt sich die Frage, ob die Fixierung auf die Revolution der tatsächlichen Bedeutung dieses Zeitbruchs gerecht wird. Der starke Fokus auf dieses entscheidende Kollektivereignis lässt einen solchen Schluss durchaus zu. Schließlich definiert sich die gesamte jüngere Geschichte Sansibars, der Diskurs der machthabenden Elite wie auch die Kritik der zivilen Opposition über ihren Bezug zur Revolution. Wenn Zeitbrüche aber, wie eingangs dargestellt, als historische Großereignisse gesehen werden, in deren Folge es zu tiefgreifenden Veränderungen des sozialen, ökonomischen, politischen und/oder religiösen Lebens in einer Gesellschaft kommt, dann muss für die jüngere Geschichte Sansibar der Zyklon im Jahr 1872 als weiterer Zeitbruch vorangesetzt werden. Der Zyklon des Jahres 1872 und die Zerstörung der sansibarischen Handels- und Kriegsmarine im Wirbelsturm führten nämlich zur nachhaltigen politischen Schwächung des Sultanats, das in der Folge dem wachsenden Druck der europäischen Kolonialmächte keinen nennenswerten Widerstand mehr leisten konnte. Diese Schwäche wurde in der Kapitulation des Sultanats im Jahre 1896 und in der darauf folgenden Machtübernahme der Briten in Sansibar deutlich. Zu diesem Zeitpunkt verlor die bis dahin regierende Elite des Sultanats die letzten Reste politischer Handlungsautonomie nach außen und politischer Gestaltungsmacht nach innen. Der Zyklon führte aber auch zu einem Strukturwandel der ökonomischen Verhältnisse auf der Insel Unguja und zur Entstehung eines Plantagenarbeiter- und SquatterProletariats, aus dem die Revolution des Jahres 1964 ihren sozialen Rückhalt bezog. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden großen Zeitbrüchen Sansibars besteht darin, dass der Zyklon zum Verlust der politischen Handlungsautonomie des Sultanats führte, während die Revolution des Jahres 1964 die kulturelle Umorientierung Sansibars und eine Entmachtung der gesellschaftlichen und religiösen Eliten zur Folge hatte. Der Fokus auf die Revolution des Jahres 1964 hat den Blick auf den Zyklon des Jahres 1872 und seine Folgen aber fast vollkommen verstellt. Lediglich im Jahre 1972 kam es noch einmal zu einer kurzfristigen Rückbesinnung auf den Zyklon in der sansibarischen Öffentlichkeit, an die sich etwa Ali Sultan Issa erinnerte, einer der Revolutionäre der ersten Stunde. In

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seinen Memoiren schreibt er: „In those days, people remembered the terrible cyclone of 1872, a hundred years earlier, and people were saying another calamity would happen that year. For me, it happened on April 7, 1972, a Friday“. Gemeint war damit die Ermordung des ersten Präsidenten des revolutionären Sansibar, Abeid Amani Karume (Ali Sultan Issa in Burgess 2009: 132). Für die meisten Sansibaris ist der Zyklon des Jahres 1872 oder auch die Bombardierung Sansibars 1896 heute aber zu einer schon fast sagenhaften Erzählung geraten, in der das vor-revolutionäre Sansibar wie ein fremdes Land erscheint (s. Lowenthal 1985). In ähnlichem Maße trifft diese Feststellung für andere historische Begebenheiten und den Zeitenwandel in Sansibar vor der Revolution zu: die unterschiedlichen Aspekte der Modernisierung Sansibars, die Einführung neuer Technologien zur Zeitmessung oder das Leben in den beiden Weltkriegen. Selbst die Arbeiterkämpfe in den 1940er Jahren und die politischen Auseinandersetzungen der zama za siasa der 1950er Jahre sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten oder werden nur noch selektiv in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Revolution gelesen und als „Anlaufzeit“ (Koselleck 1979: 146) für den Zeitbruch des Jahres 1964 gedeutet. Auch das Regime der ASP/CCM war nicht wirklich an der vorrevolutionären Geschichte Sansibars interessiert. Selbst diejenigen historischen Prozesse, in deren Rahmen sich letztendlich die Weichenstellungen für die Revolution ergaben, wurden nur in Hinblick auf eben diese Weichenstellungen gelesen. Die revolutionäre Regierung Sansibars war insbesondere nicht an einer weiterführenden Interpretation der Geschichte des Sultanats Sansibar interessiert. Selbst die Geschichte der marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die mit der Revolution scheinbar die Macht errungen hatten, blieb der bildungsfernen revolutionären Elite weitgehend egal. Aber auch die oppositionelle Perspektive und die der sansibarischen Diaspora auf die vorrevolutionäre Geschichte Sansibars erinnert nicht etwa an den Zyklon und seine weitreichenden sozialen, ökonomischen und politischen Auswirkungen, sondern an die Blütezeit Sansibars unter Sultan BarÈaš und seine Politik der Modernisierung in den 1870er und 1880er Jahren. Diese Zeit wurde freilich aus der Sicht der Revolutionäre als eine Geschichte der Ausbeutung und Marginalisierung der Afrikaner durch eine arabisch-indische Oligarchie präsentiert und entsprechend negativ beurteilt. Die Geschichte Sansibars vor der Revolution wurde so nach 1964 immer mehr zu einer Vorgeschichte der Revolution. Andere Perspektiven auf die vorrevolutionä-

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re Geschichte Sansibars wurden daher vor allem von nicht-sansibarischen Historikern wie Clayton (1981), Cooper (1980), Lofchie (1965) oder Glassman (2000, 2004) und einigen wenigen Sansibaris wie Sheriff (1987 und 1991) vertreten. Nach 1964 kam es somit nicht nur zu einer völligen Neubewertung der vorkolonialen und kolonialen Vergangenheit, sondern auch zur Entwicklung einer konfliktiven Geschichtsauffassung, weil die neue, revolutionäre Sicht der Vergangenheit von wesentlichen Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert wurde. Gegen die revolutionäre Sicht der Vergangenheit, in der diese als eine düstere Zeit der Sklaverei, des arabischen Feudalismus und der kolonialen Ausbeutung dargestellt wurde, stand eine verklärende Perspektive, in der die Revolution als eine historische Katastrophe dargestellt wurde. Die Bemühungen der Revolutionäre und ihrer Erben um Durchsetzung ihrer Deutungshegemonie im öffentlichen Raum wurden dadurch unterstützt, dass im Rahmen der Revolution und einer gegen die religiöse Gelehrtenelite gerichteten Politik die überwiegende Mehrheit der religiösen Gelehrten Sansibars zwischen 1964 und 1968 zur Emigration gezwungen wurde oder freiwillig emigrierte. Mit der Vertreibung und Emigration der meisten namhaften religiösen Gelehrten wie auch dem natürlichen Tod anderer Gelehrter bis 1967/68, spätestens aber 1972, endete die Geschichte mehrerer Generationen muslimischer Lehrer und Gelehrter in Sansibar (s. hierzu ausführlich Loimeier 2009). Damit wurde der Deutungshoheit der religiösen Gelehrten über die Geschichte Sansibars ein zumindest vorläufiges Ende gesetzt. Karumes Politik richtete sich dabei nicht gegen den Islam per se, sondern vor allem gegen die einflussreichen religiösen Familien und Gelehrten Sansibars, die als einzige moralische Instanz nach 1964 noch in der Lage gewesen wären, die Legitimität seiner Herrschaft in Frage zu stellen. Das Regime Abeid Amani Karumes ließ zwar im Jahr 1972, kurz vor der Ermordung Karumes, erneut islamische Elemente im Bildungswesen zu, aber in der Folge baute das Regime der ASP/CCM in seiner Bildungspolitik vor allem auf Vertreter ländlicher Koranschultraditionen, die bis dahin kaum als namhafte religiöse Gelehrte in Erscheinung getreten waren. Zum anderen stützte sich das Regime auf Absolventen der religiösen Hochschulen in Sudan und Saudi-Arabien, die nach ihrer Rückkehr aus Khartum oder Medina zu loyalen Funktionären des Regimes aufstiegen. Beide Gruppierungen, Koranschullehrer und Medina-Absolventen profitierten vom Zusammenbruch der alten Gelehrtenordnung und unterstützten das Regime in

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seinen Bemühungen sich einen modernen islamischen Anstrich zu geben, der bei Bedarf gegenüber arabischen Geldgebern zitiert werden konnte. Angesichts der zunehmenden Verflechtung der Welt im Zeitalter der Globalisierung erschien Sansibars autoritäres Regime aber spätestens seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks in den späten 1980er Jahren immer mehr als eine Zeitinsel, auf der ein sozialistisches Staatstheater gepflegt wurde: In den Aufmärschen zum 7. Juli und 8. August, im Personenkult um den „chairman“ (swa.: mwenyekiti) Karume, im alltäglichen Sprachgebrauch und der Anrede ndugu, in der Überwachung und Repression der Opposition durch die „Ratten“ (swa.: panya) der Staatssicherheit Sansibars, sowie in den guten Beziehungen zum sozialistischen Bruderland Nordkorea. Die zahlreichen Satellitenschüsseln und das Internet brachten bald jedoch auch ein anderes Bild der Welt nach Sansibar: die Welt von alJazeera und von Bollywood und die Diskussionen der sansibarischen Diaspora in Dubai, Oman, Großbritannien und Kanada, die im „global now“ lebt und ein ganz anderes Bild von Sansibar pflegt. Ihre Vorstellungen von Sansibar speisen sich vor allem aus nostalgischen Erzählungen über das Sansibar des 19. Jahrhunderts, also aus einer bereits einmal stattgefundenen Moderne. Gegenüber dieser früheren kosmopolitischen Moderne erscheint die Revolution von 1964 als atavistischer Rückfall in eine parochiale Identität. Die Hoffnungen der sansibarischen Opposition und Diaspora bestehen darin, dass es Sansibar noch einmal gelingen möge, in eine eigene Moderne einzutreten. Diese Hoffnungen beziehen sich aber nicht mehr auf das Sultanat Sansibar im 19. Jahrhundert, sondern auf eine neue Utopie, nämlich den Wunsch, in Sansibar ein zweites Dubai und somit einen Zeitsprung in die Zukunft zu schaffen. Nach dieser einleitenden Darstellung des historischen Kontexts der Entwicklung Sansibars im 19. und 20. Jahrhundert wird im folgenden Kapitel ein allgemeiner Überblick über die Zeitlandschaft Sansibar und seine unterschiedlichen Zweitordnungen gegeben. In einer Reihe von fokussierten Kapiteln werden dann einzelne Aspekte der Zeitlandschaft Sansibars vorgestellt und diskutiert, bevor ich abschließend noch einmal auf die Verwandlung der Zeitlandschaft Sansibar im größeren Rahmen der Globalisierung eingehe.

3.

Die Zeitlandschaft Sansibar

Zeitkonzeptionen, also Vorstellungen, die sich Menschen zunächst abstrakt zu Zeit machen, wie auch die Art und Weise, wie sie Zeit in konkreten Zeitordnungen organisieren und in entsprechenden Zeithaushalten (Zeitregimen) in ihren Lebensalltag umsetzen, sind lokal geprägt und bestimmen dadurch den Charakter einer Zeitlandschaft. Die Unterschiede zwischen Zeitlandschaften beruhen aber nicht nur auf den individuellen Erfahrungen der Menschen in diesen Zeitlandschaften, sondern können auch auf die variierende translokale Verflechtung dieser Orte und spezifische historische Erfahrungen und Zeitbrüche zurückgeführt werden. Konzeptionen von Zeit und Zeitordnungen sind somit eng mit dem Konzept der Translokalität verbunden. Translokalität wird dabei hier als Summe von Beziehungen verstanden, die geographische, soziale, kulturelle, politische, ökonomische und religiöse Grenzen und Kontexte überschreiten (s. Mandaville 2000a).1 Aus der historisch gewachsenen translokalen Verflechtung Sansibars im Indischen Ozean und in Ostafrika lässt sich eine entsprechende Zeitenvielfalt ableiten. Die Qualität dieser Zeitenvielfalt war allerdings zu allen Epochen

1

Bromber und Hamzah haben Translokalität weiterführend als einen Ort jenseits des räumlichen „Hier“ definiert (Bromber/Hamzah 2005: 5). Gleichzeitig sehen sie das „translokale“ nicht als denjenigen Prozess oder Vorgang an, durch den man vom „Hier“ ins „Dort“ gelangt: „When studying trans-locality then, one would be looking for or at places/spaces beyond the immediate circles of belonging and relating constituted by village, community, nation-state etc., and not at migrancy, cosmopolitan travel, population displacements, etc. per se. While the latter are obvious conductive to trans-locality they do not as such partake in its architecture“ (Bromber/Hamzah 2005: 5; Hervorhebung, RL).

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vom zeitspezifischen kosmopolitischen „Cocktail“ Sansibars abhängig und litt entsprechend unter Prozessen der ethnischen, religiösen und politischen Verengung nach der Revolution 1964. Die Herausbildung der kosmopolitischen Handelsmetropole Sansibar und die Zeitbrüche des 19. und 20. Jahrhunderts bedingten somit die Entstehung einer für Sansibar typischen Zeitlandschaft, die sich durch die Koexistenz mehrerer Zeitordnungen auszeichnete, die wiederum eng mit der religiösen, politischen und sozialen Ordnung Sansibars verbunden waren. Für die Zeitlandschaft Sansibars können zumindest sechs Konzeptionen von Zeit und damit korrespondierende Zeitordnungen unterschieden werden, die als konkrete Zeitregime in bestimmten Lebensbereichen Gültigkeit beanspruchen, Anerkennung finden oder auch hinterfragt werden. Diese Zeitkonzeptionen können an konkreten Zeitplätzen festgemacht und dort vergleichend untersucht werden, etwa in Hinsicht auf ihre historische Tiefe oder ihre politische und soziale Bedeutung. Die unterschiedlichen Zeitkonzeptionen sollten allerdings nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Sie stellen vielmehr ein breites Spektrum möglicher Zeitgestaltungen dar, die zum Teil miteinander konkurrieren oder sich sogar gegenseitig ausschließen, die sich dabei aber auch immer wieder aufeinander beziehen und ineinandergreifen. Im Einzelnen können für Sansibar folgende Zeitkonzepte und Zeitordnungen identifiziert werden: I. Die Zeit der Monsun-Winde, kusi (April-Oktober) und kaskasi (November-März) sowie der Regenzeiten, vuli und masika. Diese natürlichen, zyklischen und ökologisch-biologischen Zeiten sind von zentraler Bedeutung für Handel, Landwirtschaft und Fischerei. Sie repräsentieren die „systemspezifischen Eigenzeiten“ (Adam 1998: 4) saisonaler und zirkadianer Rhythmen, der Ökosysteme, des Wachstums der Pflanzen sowie des Biorhythmus des Menschen und der Tiere, der wiederum durch die Wachstumszyklen der Pflanzen, der Jahreszeiten und der Ökosysteme definiert wird. Die Zeit der Monsunwinde bestimmt die Ankunft und die Abfahrt der Dhaus: In der demani-Phase (August-Oktober) segeln sie nach Norden, in der mausim-Phase (Dezember bis Februar) kommen sie von dort. In der mausim-Phase, wenn die Winde aus dem Nordosten besonders stark in Richtung der afrikanischen Festlandsküste wehen, beginnen die Fischer auch über das Riff hinaus auf die hohe See zu fahren und Haie und Langusten zu fischen. Bis April wird das Meer dann ruhiger und die Hauptfischfangsaison jenseits des Riffs beginnt. Mit dem kräftigen kusi aus dem Süd-

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westen, der auf den offenen Ozean gerichtet ist, stellen die Fischer ihre Arbeit auf dem offenen Meer ein und fischen nur noch innerhalb des Riffs. Zu den „Windzeiten“ kommen in Sansibar die Regenzeiten, wenn die Arbeit auf den Feldern (swa.: shamba) im Mittelpunkt des Arbeitslebens steht): Gegen Ende Oktober setzt die kurze vuli-Regenzeit ein, in der Reis und Cassava aber auch Gemüse, vor allem Bohnen, gepflanzt werden, die wiederum am Ende der vuli-Regen im frühen Januar geerntet werden. Daraufhin folgt eine Phase des Jätens und Rodens in Vorbereitung der längeren masika-Regenzeit zwischen Anfang Februar und Ende April. In der masikaZeit werden vor allem Süßyams und erneut Cassava gepflanzt, die im Juli und August geerntet werden. Im Mai und Juni stehen vor allem das Jäten der Felder und der Schutz der Pflanzen vor Schädlingen im Mittelpunkt der landwirtschaftlichen Arbeit. Im September können dann die Erbsen und erneut Bohnen geerntet werden. Im Oktober erfolgt wieder das Roden und Vorbereiten der Felder für die vuli-Regenzeit. Der landwirtschaftliche Kalender stützt sich vor allem auf das Erscheinen und Verschwinden des Sternbilds der Plejaden (swa.: kilimia): das vuli-Pflanzen beginnt, wenn die Plejaden um den 10. November bei Einbruch der Nacht am Himmel erscheinen. Wenn sie um den 18. Februar hoch am Himmel stehen, beginnt das masika-Pflanzen und wenn sie um den 9. Mai vom Nachthimmel verschwinden, endet die masika-Pflanzsaison. Die Regenzeiten sind für die Landwirtschaft (swa.: kilimo) prägend und definieren so gemeinsam mit den Windzeiten jahreszeitliche Rhythmen, die die landwirtschaftlichen Aktivitäten und den Fischfang innerhalb und außerhalb des Riffs bestimmen (s. Themenkasten 8). Themenkasten 8: Die Ökologie Sansibars Auf Unguja und Pemba gibt es eine Reihe unterschiedlicher ökologischer Zonen: das relativ flache Unguja besitzt im Zentrum und Westen der Insel eine fruchtbare und baumreiche Hauptanbauzone, die sich seit den 1830er Jahren zum Hauptanbaugebiet der Gewürznelkenbäume entwickelte. Weite Teil des Südens, Nordens und Ostens der Insel sind hingegen vergleichsweise unfruchtbare Buschgebiete mit Sand oder Korallenkalkböden (swa.: maweni), die historisch nur dünn besiedelt waren und vor allem von den Dörfern des östlichen Küstenstreifens (swa.: changasimani) für die Gewinnung von Kalksteinbruch, Brennholz und die Jagd genutzt wurden. In einigen Senken finden sich kleine Oasen von Fruchtbäumen. Die stark gegliederte Insel Pemba kann auf fruchtba-

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re und gut beregnete Hügelketten verweisen, die seit den 1850er Jahren in Baumplantagenkulturen verwandelt wurden. In den teilweise langgestreckten und engen Tälern wurde hingegen Reis für den Export angebaut.

Die Jahres- und Windzeiten können im Hafen (swa.: bandari) und am Strand (swa.: pwani), aber auch im Markt (swa.: soko) verortet werden. Im Hafen und am Strand ankern die Dhaus und die Fischerboote, auf dem Markt werden die Produkte der Saison angeboten. Sowohl die Regenzeiten als auch die Zeiten der Monsunwinde können für ein Konzept der longue durée von Zeiten und Epochen stehen, die im alltäglichen Leben selbstverständlich erscheinen mögen, die aber die Entwicklung der Gesellschaft langfristig und grundlegend beeinflussen, insbesondere wenn sie im Rahmen des Zyklons, einer natürlichen Katastrophe, die ökonomischen Lebensgrundlagen Sansibars treffen. Die natürlichen Eigenzeiten Sansibars, die Monsunwinde, Gezeiten, Regenperioden und agrarischen Zyklen sind eng mit den Wachstumsphasen der Früchte, der Kokospalmen, der Gewürznelkenbäume, der Mangroven und des Riffs verknüpft, die sich in Länge und Form der Pflege und Ernte unterscheiden. Der Anbauzyklus von Cassava kann dabei mit einer Wachstumszeit von wenigen Wochen als relativ kurz bezeichnet werden, während ein Gewürznelken-Baum sieben oder acht Jahre bis zur ersten Ernte benötigt. Noch länger dauert das Wachstum der Mangrovenwälder oder des Riffs. Darüber hinaus beruhen die natürlichen Eigenzeiten Sansibars auf der Zyklik der Gestirne (Sonne, Mond und Sterne) und ihren Kalendarien, auf der Rhythmik von Tag und Nacht, von Ebbe und Flut. Das Wissen über diese natürlichen Zeiten und ihre Berechnung war von enormer Bedeutung für die Seeschifffahrt und die Fischerei, aber auch für das Reisen, die Landwirtschaft und die Organisation des religiösen und sozialen Lebens. Dabei ist zu beachten, dass die Sonnen, Mond- und Sternekalendarien immer parallel genutzt wurden, weil beide für die Landwirtschaft, Fischerei, Seefahrt und das religiöse Leben wichtig waren. II. Eng mit Sonnen- und Mondkalendern verbunden und ebenfalls zyklisch verfasst ist die „religiöse Zeit“ (s. Kapitel 5). Sie manifestiert sich in den täglichen fünf Gebeten, im aÆÁn (Gebetsruf) des Muezzins, im Kalender, in den religiösen Festen, in der Festlegung des Fastenmonats RamaÃÁn oder des Pilgermonats ÅÙ l-ÎiÊÊa. Die Bedeutung der Gebetszeiten und des Gebetsrufes für die Strukturierung des Tages zeigt sich deutlich im islami-

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schen Bildungswesen, insbesondere vor dem Hintergrund der Etablierung eines neuen kolonialen Bildungskonzepts, das sich nicht mehr am Gebetsruf orientierte, sondern am Stundentakt der Uhrzeit. In Hinblick auf den Kalender muss betont werden, dass Sansibar seit dem späten 19. Jahrhundert zumindest vier unterschiedliche Kalendarien kannte, die sich durch eine unterschiedliche Ordnung der Festtage auszeichneten: Neben dem islamischen Mondkalender gibt es einen sansibarischen Mondkalender, den gregorianischen Sonnenkalender und den alten persischen Sonnenkalender, der gegenüber dem gregorianischen Kalender um einen Vierteltag kürzer ist (365 Tage statt 365 Tage und sechs Stunden). Der sansibarische Mondkalender unterscheidet sich gegenüber dem islamischen Mondkalender dadurch, dass neun der zwölf Mondmonate mit dem Swahilibegriff mfunguo (oder mwesi, Monat) bezeichnet und durchnummeriert werden, wobei der „erste Monat“ (swa.: mfunguo wa mosi) dem (10.) Monat ŠawwÁl entspricht, der „zweite Monat“ (swa.: mfunguo wa pili) dem (11.) Monat ÅÙ l-qaÝda, und der „dritte Monat“ (swa.: mfunguo wa tatu) dem (12.) Monat ÅÙ l-ÎiÊÊa. Lediglich die letzten drei Monate des sansibarischen Mondkalenders, Rajabu, Shaabani und Ramadani haben die arabischen Namen übernommen. Damit beginnt das neue Jahr nach dem sansibarischen Mondkalender nicht, wie im islamischen Mondkalender, mit dem Monat MuÎarram (swa.: mfunguo wa nne, „der vierte Monat“), sondern mit dem Monat ŠawwÁl, also mit dem Fest des Fastenbrechens, dem ÝÐd al-fiÔr, am Ende des Fastenmonats RamaÃÁn.2 Die „religiöse“ Zeit kann beispielhaft in der Moschee verortet werden, sie wird aber auch im Kalender gesellschaftlich wirkmächtig. III. Die religiöse Zeit konkurriert heute insbesondere mit der „Uhrzeit“ (swa.: wakati wa saa; s. Kapitel 6). Die Einführung der Uhrzeit begann in Sansibar mit dem Bau des Uhrturms (swa.: saa ya mnara) im Jahre 1879 und mit der Etablierung der Uhrzeit als Grundlage einer mathematischabstrakten Zeitmessung. 1884 wurde Sansibar im Rahmen der Festlegung der Weltzeitzonen Teil der „Moskau-Zeit (Greenwich Mean Time, GMT, plus drei Stunden). In der Kolonialzeit breitete sich die Uhrzeit rasch aus und wurde über die Installation von öffentlichen Uhren sichtbar gemacht. Die Durchsetzung der Uhrzeit war eng mit Disziplinierungsmaßnahmen, etwa der Durchsetzung von Pünktlichkeitsvorstellungen verbunden. Uhrzeit

2

S. hierzu ausführlich van de Bruinhorst 2007: 166ff.

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(Stundenpläne, Terminkalender und Bürozeiten) verortet sich vor allem in den Schulen und anderen Institutionen und öffentlichen Einrichtungen, etwa Standuhren. Mit der Einführung der Uhr und der zunehmenden kommunikativen Vernetzung durch Telegraph und Telefon geriet die Wissenschaft von der Berechnung der Zeiten (swa.: elimu ya wakati) langsam in Vergessenheit. Die alten astronomischen Techniken hatten eine breite Bedeutung für die Navigation, wurden aber zudem für die Berechnung der Mondzyklen und der Gezeiten herangezogen und stellten so für die Fischer ein wichtiges Wissen dar. Nach der Einführung der Uhrzeit blieb das Wissen von den alten astronomischen Techniken aber nur in der Navigation von Bedeutung, bis es auch dort im späten 20. Jahrhundert von der satellitengestützten GPSTechnologie abgelöst wurde. Lediglich in der Landwirtschaft und der Fischerei behaupteten Sonnen- und Mondkalendarien lokal begrenzte Bedeutung. Ein sansibarischer Gelehrter, AÎmad b. SumayÔ (st. 1925) hatte jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen Kalender für die korrekten Gebetszeiten entwickelt, der mit einer entsprechenden Uhrzeiten-Tabelle verbunden war, die sich wiederum auf die (Uhr-)Zeiten der „(Zeit-)Zone“ (swa.: majira ya zoni) bezog, in der Sansibar lag. Diese Tabelle der neuen zoni-Gebetszeiten war gegenüber den etablierten „Moschee-Stunden“ (swa.: saa za mskiti) um ein erhebliches genauer und gab diese Zeitunterschiede auch an. Im 20. Jahrhundert wurde diese Tabelle der Gebetszeiten von ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy (st. 1982) und AÎmad b. ÍÁmid ManÒab (st. 1977) noch einmal überarbeitet (s. Anhang). Bis heute gibt es in Sansibar zwei unterschiedliche Uhrzeiten: die translokal geltende „britische“ Uhrzeit, die den Beginn des Tages auf Mitternacht festlegt, und die lokal anerkannte „Swahili-Zeit“: Dem Begriff der Swahili-Zeit liegt die zeitliche Gliederung des Tages (swa.: siku) und der Nacht (swa.: usiku) in zwei gleich lange Zeitperioden von jeweils zwölf Stunden zu Grunde, die nochmals nach hohem (swa.: mchana und adhuhuri, mittags) oder niedrigem (swa.: asubuhi am Vormittag, jioni am Nachmittag) Sonnenstand unterschieden werden. Der Tag (siku) beginnt in Sansibar mit dem Sonnenaufgang (swa.: alfajiri) um etwa sechs Uhr morgens (6am GMT) und endet bei Sonnenuntergang (swa.: magharibi) um etwa 18 Uhr (6pm GMT). In Sansibar gilt sechs Uhr morgens (6am) aber noch als die letzte Stunde der Nacht und wird daher als saa kumi na mbili (usiku), als „zwölf Uhr (nachts)“ bezeichnet, während analog sechs Uhr nachmit-

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tags (18 Uhr, 6pm) als letzte Stunde des Tages gilt und daher als saa kumi na mbili (siku), als „zwölf Uhr (tags)“ betrachtet wird. Die erste vollendete Stunde des Morgens (saa moja asubuhi) entspricht wiederum der siebten Uhrzeit-Stunde in europäischen Ländern und „7am“ britischer GMTRechnung. In Sansibar war und ist die lokale Berechnung der Tages- und Nachtstunden also um sechs Stunden gegenüber der britischen Uhrzeitrechnung verschoben. 12 Uhr Mittag (12pm) entspricht saa sita mchana (sechs Uhr „tags“), 13 Uhr wäre saa saba mchana (sieben Uhr „tags“). Analog beginnt die Nacht (usiku) bei Sonnenuntergang um etwa sechs Uhr abends und endet mit Sonnenaufgang um etwa sechs Uhr morgens. Die Mitternacht (usiku wa manane, 24 Uhr, 12am) wird folglich als saa sita usiku (sechs Uhr „nachts“) bezeichnet. In den Kolonialakten wurde die „Swahili-Zeit“ aufgrund der für die Briten ungewohnten Berechnungsmodalitäten als „not convenient to (the) public” charakterisiert: “(it) leads to misunderstandings between Europeans and Swahilis…(the) setting of clock by sunset (is) not (a) precise method, (and it is) inconvenient to passing travellers” (ZNA AB 49/155). In den Moscheen Sansibars zeigen die Uhren jedoch bis heute die „Swahili“-Zeit an: Wenn die Zeiger der Uhr für das Freitagsgebet (ÊumÝa) auf dem Zifferblatt auf 7.00 Uhr (nach europäischem Zeitverständnis) stehen, dann wird das zwar mit saa saba übersetzt, bedeutet aber eben nicht sieben Uhr morgens (oder 7am), sondern saa saba mchana, also „sieben Uhr Tags“, und entspricht damit 13 Uhr oder 1pm GMT. Neben der britischen Uhrzeit und der Swahili-Tag/Nacht-Zeitrechnung blieb weiterhin die Orientierung an den Gebetszeiten bestehen und von religiöser und sozialer Bedeutung: die Zeit zwischen ÝaÒr- und maÈribGebeten (ca. 4pm und 6pm) gilt bis heute als die Zeit, in der soziale Kontakte gepflegt werden. Die Zeitlandschaft Sansibars wurde also von der Koexistenz mehrerer unterschiedlicher Zeitregime gekennzeichnet, unter denen die „Uhrzeit“ zwar eine zunehmend zentrale Rolle für die Synchronisierung des Wirtschaftslebens einnahm, andere Zeitregime jedoch ihre Bedeutung für die Gestaltung des sozialen Lebens Sansibars behielten. Auch besitzen viele Sansibaris heute zwar eine Armbanduhr und/oder ein mobiles Telefon, aber die Armbanduhr und das mobile Telefon haben häufig keine wirklich chronometrische Funktion: sie sind Statussymbole, mit deren au-

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genscheinlichem Besitz3 Wohlstand und die Integration in ein weitmaschiges soziales Netz signalisiert wird. Abb. 4: Die Uhrzeiten für das Gebet in der Moschee, eingestellt auf Swahili-Zeit (Foto: Roman Loimeier)

3

Viele Sansibaris besitzen zwar ein mobiles Telefon (oder eine Plastikattrappe), haben aber nicht das Geld, Telefonkarten zu kaufen, um mit ihrem „Handy“ zu telefonieren. Sie sind aber zumindest telefonisch erreichbar. Nur die wirklich Wohlhabenden können es sich leisten, selbst zu telefonieren.

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IV. Mit der religiösen Zeit und der Uhrzeit ist die „soziale Zeit“ eng verbunden (s. Kapitel 7 und 9). In der sozialen Zeit manifestieren sich die lokal etablierten gesellschaftlichen Konventionen und Normen des Alltagslebens. Vorstellungen von Höflichkeit und Pünktlichkeit, von Respekt und Anstand (swa.: heshima), von gutem Benehmen (swa.: adabu) und „Zivilisation“ (swa.: ustaarabu, ungwana) beeinflussen die temporale Organisation des Alltagslebens und bestimmen die Art und Weise, wie Verabredungen getroffen und unterschiedliche Zeitregime sozial wirkmächtig werden. Soziale Zeit meint aber auch die „persönliche“ Zeit der Sansibaris, Geburt, Kindheit, Jugend, Heirat und das Erwachsenenleben, das Alter und der Tod, sowie das Verhältnis der Generationen und der Geschlechter zueinander (s. Themenkasten 9). Besonders ausgeprägt zeigt sich die soziale Zeit in der baraza und in den für sie geltenden Regeln des höflichen (und zeitintensiven) Grüßens. Angesichts der hohen sozialen Bedeutung von gutem Benehmen und Höflichkeit werden Verspätungen bei Verabredungen meist (aber nicht immer) toleriert4 und als Teil des Alltags betrachtet, da Respekt und Höflichkeit sozial höher bewertet werden als Pünktlichkeit. Soziale Zeit äußert sich aber auch in den Gewohnheiten des Zeitvertreibs, etwa im Sport oder im Kinobesuch, und den unterschiedlichen Formen der FreizeitGestaltung, die wiederum in den Zeitungen Sansibars und im Radio, aber auch in den baraza berichtet, diskutiert und reflektiert werden. Themenkasten 9: Geburt, Heirat und Tod Geburt, Heirat und Tod als zentrale soziale Ereignisse werden von entspechenden „rites de passage“ strukturiert: dem neu geborenen Kind werden am siebten Tag die Haare geschnitten. Zwischen 7. Lebenstag und 7. Lebensjahr findet die Beschneidung der männlichen Kinder statt. Am vierzigsten Tag (swa.: arubaini) nach der Geburt wird die rituelle Unreinheit der Mutter aufgehoben. Eheschließungen werden in Sansibar von den Frauen und Männern getrennt in umfangreichen Festlichkeiten gefeiert, bevorzugt im Monat ŠaÝbÁn, der dem Fastenmonat RamaÃÁn vorausgeht. Bei einem Todesfall wird zunächst der Leichnam nach dem Waschen in ein weißes Tuch gehüllt (swa.: kafini), dann erfolgen die Todesgebete und das eigentliche Begräbnis, das nach islamischen Vorstellungen so schnell wie möglich erfolgen soll. Drei Tage lang wird kann dann kondoliert, am siebten Tag

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Die Toleranz endet in stark hierarchischen Beziehungen. Auch den Alten gegenüber ist man pünktlich (s. hierzu Kapitel 9).

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wird mit der Rezitation des QurÞÁn die eigentliche Trauer abgeschlossen (swa.: hitima). Am vierzigsten Tag findet noch einmal ein Trauerfest (arab./swa.: sadaqa) statt. Die Trauerzeit einer Witwe endet nach vier Monaten und zehn Tagen.

V. Die „Zeit der Revolution“ bezeichnet eine politisch nachhaltige Ereigniszeit, die für die neuere Geschichte Sansibar prägend ist und die mit der Revolution begann. Die Zeit der Revolution wird bis heute von der Bevölkerung Sansibars als radikaler Bruch mit der Vergangenheit gesehen, und zwar nicht nur aufgrund der umfassenden Eingriffe der sozialistischen Revolutionsregierung in das alltägliche Leben der Menschen, sondern auch hinsichtlich der Etablierung einer neuen Ikonographie und neuer Feiertage: Neben die etablierten religiösen Feiertage trat ein revolutionärer Kalender, in welchem der Jahrestag der Revolution (12. Januar) oder die nationalen Arbeiter- und Bauernbewegungen am 7. Juli (swa.: saba saba) und 8. August (swa.: nane nane) in den Repräsentationsorten des Regimes, insbesondere im neu errichteten Amani-Stadion am Stadtrand Sansibars, aber auch im älteren Mao Tse-tung-Stadion in Kikwajuni, zelebriert wurden. Die Zeit der Revolution kann in den Sirenen (swa.: king’ora, honi) akustisch verortet werden, die bis heute um 7.30 Uhr, 15.30 Uhr und 18.30 Uhr den „sozialistischen Arbeitstag“ strukturieren. Daneben können die Denkmäler der Revolution als zentrale Erinnerungsorte der revolutionären Ära betrachtet werden: das Hauptquartier der CCM an der Creek Road, das BwawaniHotel in Fungoni, der Volksvergnügungspark in Raha Leo, das von der Volksrepublik China erbaute Amani-Stadion und die allgegenwärtigen Büros der Regierungspartei mit ihren grünen Fahnen auf denen Zahnrad, Hammer und Sichel das vorrevolutionäre „Logo“ Sansibars, eine Gewürznelkenblüte, ersetzt haben. VI. In der Gegenwart wurde die „revolutionäre Zeit“ von der „globalen Gleichzeitigkeit“, dem „global now“ überlagert, das über die Verbindung mit dem international anerkannten System der Weltzeitzonen universale Gültigkeit beansprucht. Die Entwicklung der globalen Gleichzeitigkeit war eng mit der Herausbildung einer entsprechenden Kommunikationstechnologie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden. Dabei kam es zunächst durch den Telegraphen und das Telefon, später durch das Radio zur zeitnahen akustischen Übertragung von Nachrichten und Daten, seit der Einführung des (Life-)Fernsehens auch zur Übertragung von visuellen Informationen. Diese Entwicklung erhielt mit der digitalisierten Übertragung

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von akustischen und visuellen Signalen über das Internet und das mobile Telefon seit den 1990er Jahren eine zusätzliche Qualität. Die neue Qualität globaler Kommunikation in fast simultaner „Echtzeit“ (real time)5 macht sich konkret in lokalen Kontexten bemerkbar, wenn etwa aktivistische muslimische Gruppierungen in Sansibar Entscheidungen des obersten Gelehrtenrats Saudi-Arabiens zur Mondsichtung in Mekka fast zeitgleich in Sansibar bekannt geben. Die theologisch begründeten Forderungen von aktivistischen Muslimen, die Vorgaben der „Mecca time“ in Sansibar im Sinne der „Einheit der Umma“ gegenüber der lokalen Zeitenvielfalt als globale Normzeit umzusetzen, bestärken das Konzept der globalen chronometrischen Gleichzeitigkeit, weil die vom obersten saudi-arabischen Gelehrtenrat vorgenommene astronomische Berechnung des islamischen Kalenders und damit die alljährliche Datensetzung der Pilgerreise und des Fastenmonats auf dem System der Weltzeitzonen beruhen. Die Forderung nach einem muslimischen „global now“ wird so zur Grundlage entsprechender lokaler Auseinandersetzungen, die sich etwa um die Frage drehen, zu den Bedingungen welcher Zeitordnung die Muslime das Fasten im Fastenmonat beginnen und beenden. Verortbar ist die „globale Gleichzeitigkeit“ im Internet-Café, in der Moschee und in den baraza. Für viele Sansibaris, die „mit der Zeit gehen“ (swa.: kwenda na wakati) stellen die Internet-Cafés, die seit den späten 1990er Jahren entstanden sind, tatsächlich nicht nur eine neue Form der Unterhaltung und der Freizeitgestaltung dar, sondern auch eine überaus wichtige Verbindung zur Außenwelt, zum „global now“ und zur sansibarischen Diaspora.

5

Zur Problematik des Konzeptes der „globalen Echtzeit“ (real time) s. Hassan 2007: 48-50. Hassan schlägt angesichts der Tatsache, dass eine wirklich simultane Übermittlung von Zeichen in Echtzeit (real time) bislang nicht möglich ist, den Begriff der „network time“ vor, der die fortbestehende Zeitgebundenheit selbst modernster Übertragungstechnologien anerkennt.

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Abb. 5: Das global now in Sansibar: das Shangani-Internet Café (Foto Roman Loimeier)

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Im Modell kann die Zusammensetzung einer bestimmten Zeitlandschaft als Summe von Zeitkonzeptionen, Zeitordnungen und Zeithaushalten (Zeitregimen) am Beispiel Sansibars wie folgt dargestellt werden: Zeitkonzept I: „natürliche Zeiten“ Zeitordnung (z.B. Jahreszeiten, Naturzyklen, biologische und zirkadiane Rhythmen) Zeithaushalt (Wirkmächtigkeit im Alltag)

Konkret: Monsune (kusi, kaskasi), Regenzeiten (vuli, masika)

Zeitplatz (Raumbezug, Verortung)

Hafen (bandari), Strand (pwani), Markt (soko)

landwirtschaftl. Rhythmen; Handel-Schifffahrt, Fischerei

Zeitkonzept II: „religiöse Zeiten“ Zeitordnung (z.B. islamische Sonne-/Mondzyklen) Zeithaushalt (Wirkmächtigkeit im Alltag) Zeitplatz (Raumbezug, Verortung)

Konkret: Mondsichtung, Gebetszeiten Orientierung an den Gebetszeiten Moschee

Zeitkonzept III: „Uhrzeiten“ Zeitordnung (z.B. chronometrischer Takt) Zeithaushalt (Wirkmächtigkeit im Alltag) Zeitplatz (Raumbezug, Verortung)

Konkret: 12-Stunden-Tag Terminierung von Verabredungen nach der Uhrzeit Uhrturm, öffentliche Uhren

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Zeitkonzept IV: „soziale Zeiten“ Zeitordnung (z.B. persönliche Lebenszeiten, soziale Rhythmen) Zeithaushalt (Wirkmächtigkeit im Alltag) Zeitplatz (Raumbezug, Verortung)

Konkret: lokal etablierte Konventionen, etwa in Bezug auf Höflichkeit und Pünktlichkeit Terminierung von Verabredungen nach sozialen Konventionen Baraza

Zeitkonzept V: „politische Zeiten“ Zeitordnung (z.B. Zeit der Revolution) Zeithaushalt (Wirkmächtigkeit im Alltag) Zeitplatz (Raumbezug, Verortung)

Konkret: sozialistische Zeitdisziplin; revolutionäre Erinnerungskultur Sirenensignale, revolutionäre Fest- und Feiertage Amani-Stadium (Sportstadien als Repräsentationsräume), Hafen

Zeitkonzept VI: „globale Zeiten“ Zeitordnung (z.B. globale Gleichzeitigkeit) Zeithaushalt (Wirkmächtigkeit im Alltag) Zeitplatz (Raumbezug, Verortung)

Konkret: Weltuhrzeit 24-Stunden-Tag; Verabredungen nach der GMT Internet-Café

4.

Transzeitlichkeit

T RANSLOKALE UND V ERFLECHTUNGEN

TRANSZEITLICHE

Wenn sich Translokalität dadurch auszeichnet, dass bestehende räumliche Fixierungen und Grenzen aufgehoben oder überschritten und Verbindungen zu Orten jenseits des räumlichen „Hier“ hergestellt werden, dann gilt dies auch für die Infragestellung von Zeitordnungen: Konflikte um das Thema „Zeit“ entstehen in der Tat häufig dann, wenn lokal etablierte Zeitvorstellungen auf translokale oder universelle Gültigkeit beanspruchende Referenzrahmen treffen, in denen Aussagen über Zeit gemacht werden. Solche translokalen Referenzrahmen können die „islamische Welt“ sein oder der mit dem Islam verbundene und allgemein anerkannte Kanon von maßgeblichen Texten, aber auch abstraktere Bezüge wie internationale Vereinbarungen zur Ordnung der Weltzeitzonen. Werden lokal etablierte Zeitkonzeptionen und Zeitordnungen durch neue, translokale Gültigkeit beanspruchende Zeitkonzeptionen und Zeitordnungen in Frage gestellt, die Gültigkeit in entsprechenden Zeitregimen einfordern, dann kann dies zu Spannungen zwischen, aber auch zur Distanzierung von bestehenden Zeitordnungen führen, insbesondere wenn diese in neuen translokalen Bezügen aufgehoben werden und damit eine Auflösung von lokal akzeptierten zeitlichen Fixierungen stattfindet. Translokale Verflechtungen verweisen somit aus der Perspektive von Raum und Räumlichkeit in den Bereich der Zeit: Neben „translokalen“ gibt es „transzeitliche“ Verflechtungen. Analog zu den Überlegungen von Bromber und Hamzah zur Translokalität als eines „place beyond“ (s. Fußnote 1 in Kap. 3, S. 43), wird Transzeitlichkeit hier als Begriff verstanden,

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der auf eine „time beyond“, also eine Zeit jenseits des zeitlichen „Hier und Jetzt“ verweist, und zwar sowohl in der Vergangenheit wie in der Zukunft. In Gegensatz zum Begriff der Translokalität bezieht sich der Begriff der Transzeitlichkeit aber nicht nur auf Verflechtungen zwischen dem „Hier und Jetzt“ und dem „Früher“ oder „Später“ über die Zeiten hinweg, sondern auch auf die Verbindung zwischen dem „Hier und Jetzt“ und dem Vergangenen (oder Zukünftigen) durch die Zeiten hindurch („across the times“). Lineare transzeitliche Bezüge finden in einer chronologisch strukturierten islamischen Geschichtsschreibung, in Familiengenealogien oder in einer Übertragungskette (arab.: silsila) religiöser und spiritueller Autorität ihren Ausdruck. Transzeitlichkeit kann im Sinne eines „Reisens durch die Zeiten“ aber eben auch als spezifische Bezugnahme von einer gegenwärtigen Beobachtungs- und Interpretationsperspektive auf eine frühere (oder spätere) Zeit gesehen werden. Das Reisen durch die Zeit wird in islamischen Kontexten in transzeitlichen Bezügen zur „Zeit des Propheten“ in den Träumen und Visionen der Muslime besonders deutlich, aber auch in der Konstruktion von Utopien, im Verweis auf den „Tag des Jüngsten Gerichts“ und das Paradies. Träume und Visionen des Propheten sind etablierte Bestandteile islamischer Heiligenlegenden. Die visionäre Begegnung mit dem Propheten ist so ein zentraler Bezugspunkt der Vita des nordafrikanischen Heiligen AÎmad al-TiÊānÐ (st. 1815) oder des tunesischen Heiligen MuÎammad alZawāwÐ (st. 1477, s. Katz 1996). Transzeitliche Begegnungen mit dem Propheten in Träumen und Visionen wie auch in seiner persönlichen Gestalt (arab.: ruÞyat ÆÁtihi) (Meier 1985: 33ff) waren und sind ein akzeptierter Teil muslimischer Vorstellungswelten (s. Lory 2007), die prominent in der mystischen UwaysÐ-Tradition Zentralasiens (Baldick 1993) zum Ausdruck kommt. Visionen und Träume werden in islamischen Vorstellungswelten somit als legitime Form der Erfahrung des Transzendenten gesehen. In der Folge werden Visionen des Propheten in zahlreichen Preisgedichten wiedergegeben, etwa dem qaÒÐdat al-Burda (al-kawākib al-durriyya fÐ-madÎ Ìayr al-bariyya) von Šaraf al-DÐn MuÎammad b. SaÝÐd b. Íammād alBÙÒÐrÐ (st.1294), das al-BÙÒÐrÐ sogar mittels einer Vision des Propheten empfangen haben soll. In diesem Gedicht zitiert al-BÙÒÐrÐ den folgenden ÎadÐ×: “Leugne nicht die Offenbarung im Traum, denn durch sie wird das Herz wach, selbst wenn die Augen schlafen” (lā tunkiri al-waÎÐ min rÙÞiyāt

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inna lahu qalban iÆān nāmati al-Ýaynāni lam-yanamÐ, al-BÙÒÐrÐ, qaÒÐdat alburda, 141). Transzeitliche Verflechtungen und Bezüge sind in islamischen Gesellschaften aber nicht auf den Propheten beschränkt, sondern ein weit verbreitetes Element von Heiligenwundern (arab.: karÁmāt) und Heiligenvisionen und schließen transzeitliche Begegnungen zwischen den Menschen und dem Propheten oder Heiligen mit ein. Dazu gehört die in zahlreichen Hagiographien (arab.: manÁqib) beschriebene Fähigkeit der Heiligen, durch die Zeiten zu reisen und sich an mehreren Orten gleichzeitig zu zeigen, mit anderen Heiligen oder dem Propheten transzeitlich kommunizieren oder über die Zeiten hinweg Träume und Visionen zu senden. Träume und Visionen vom Propheten gelten dabei als besonders wahrhaftig, weil der Teufel unfähig sei, die Gestalt des Propheten anzunehmen.1 Besonders spektakulär in der transzeitlichen Vorstellungswelt des Islams waren Reisen von entfernten Orten nach Mekka, in drei Tagen, an einem einzigen Tag oder in einem Augenblick, wie es etwa von dem sudanesischen Heiligen MuÎammad alMaÊÆÙb (s. Hofheinz 1996) berichtet wird. Das Thema der „fliegenden Heiligen“ ist vor allem in Sufi-Kreisen weit verbreitet. So galt Scheich AÎmad SirhindÐ (1564-1624), der Begründer der NaqšbandiyyaMuÊaddidiyya in Indien als befähigt, in wenigen Schritten um die Welt zu reisen (Werbner 2003: 161; s. hierzu auch Mittermaier 2008). Bei einer genaueren Analyse der Träume und Visionen der Heiligen und ihrer Reisen durch Zeit und Raum zeigt sich vor dem Hintergrund ihrer Verbundenheit mit bestimmten lokalen historischen, sozialen und religiösen Kontexten, dass Distanzen und Charakter der Reisen durch Raum und Zeit in einem besonderen Verhältnis zueinander stehen: Zeitreisen aus der jeweiligen Gegenwart einer Gesellschaft in das Mekka des Propheten, in das Bagdad des ÝAbd al-Qādir al-ÉÐlānÐ, des mystischen Begründers des SufiOrdens der Qādiriyya im 12. Jahrhundert, oder zu einem anderen zentralen „lieu de mémoire“ (Gedächtnisort) des Islams nehmen in ihrer Bedeutung für die jeweilige Gesellschaft zu, je weiter die Ausgangsorte dieser Zeitrei-

1

Das Kapitel über Träume in der ÎadÐ×-Sammlung al-BuÌÁrÐs enthält eine Überlieferung AbÙ Hurayras in Hinblick auf Visionen des Propheten in Träumen. Der ÎadÐ× lautet: „Wer auch immer mich im Traum sieht, sieht mich auch im Wachen. Der Teufel ist nicht fähig, meine Person anzunehmen“ (ÒaÎÐÎ alBuÌÁrÐ: 464).

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sen von Mekka oder Bagdad und anderen Gedächtnisorten des Islams entfernt sind und umso mehr „vor Ort“ der Bezug zu den historischen Zentren des Islams gesucht wird. In diesem Zusammenhang kann das Beispiel des javanischen Scheichs ÝAbd al-MuÎyÐ genannt werden, der im frühen 17. Jahrhundert eine „Traumreise“ nach Bagdad unternahm, dort das Grab des Begründers der Qādiriyya besuchte, der ihm wiederum auftrug, nach seiner Rückkehr die Qādiriyya auch in Java zu begründen. Dieser von Bagdad weit entfernte Zweig der Qādiriyya wurde später durch eine imaginäre Übertragungskette spiritueller Autorität (arab.: silsila, Pl. salāsil) mit Bagdad verbunden (Kraus 2000: 298ff). Die salāsil der Sufi-Orden, die über Räume und Zeiten hinweg spirituelle Beziehungen begründen, sind eine von mehreren Grundlagen für transzeitliche Verbindungen in translokalen Verflechtungen. Dies gilt ebenso für die Übertragung der Lehrautorität (arab.: iÊāza) für einen Text durch einen Meister an einen Schüler im Kontext der Praxis der Bildungsreise und der Wissenssuche (arab.: Ôalab al-Ýilm), die von jeher eine wichtige Grundlage für die Entstehung und Pflege translokaler und transzeitlicher Verflechtungen in muslimischen Gesellschaften war. Die Reisen der Studenten und Lehrmeister und ihre Itinerarien stellen ein weiteres wichtiges Element für die Herausbildung islamischer transzeitlicher Vorstellungswelten dar: Studenten wie Lehrer haben an unterschiedlichen Orten studiert und wurden im Rahmen ihrer Wissenssuche mit berühmten Lehrenden und Wissenden und ihrer jeweiligen Bildungstradition verknüpft. Im Laufe der Zeit entstand so ein translokales Geflecht von Lehrtraditionen und Lehrzentren, das in seinen Teilen und in seiner Gesamtheit eine „learned (mental) map“ der islamischen Welt bildete (s. Hartmann 2005: 7ff). Diese imaginierte Landkarte islamischer Gelehrsamkeit war wiederum Teil der „sacred/sacral geography“2 der muslimischen Umma, die sich aus berühmten Lehrzentren, Wallfahrtsstätten und anderen islamischen Gedächtnisorten wie Mekka und Medina zusammensetzt. Lokale Wallfahrten, insbesondere aber die Pilgerreise (arab.: ÎaÊÊ) nach Mekka sind ihrerseits immer wieder Reisen in die Zeit. Unabhängig von der Tatsache, dass die Pilgerreise einen Akt der Vergegenwärtigung der Vergangenheit darstellt, der sich auf die Zeit des Propheten und seine letzte Wallfahrt bezieht, haben rituelle Aspekte der Pilger-

2

Zum Konzept der „sacred geography“ in islamischen Gesellschaften s. Stauth 2004 und 2005 sowie Weingrod 1990.

4. T RANSZEITLICHKEIT | 61

reise auch Bedeutung für das Thema der Zeit. Im Rahmen seiner letzten ÎaÊÊ proklamierte der Prophet nämlich am yaum al-Ýarafa, am neunten Tag des Monats ÅÙ l-ÎiÊÊa des Jahres 632, der das Ende des alten, heidnischen Mondzyklus darstellte, die neue Zeit des Islam. Die transzeitliche und translokale Vorstellungswelt der Muslime wird also durch die iÊÁzÁt der Gelehrten und die Praxis des Ôalab al-Ýilm vernetzt, durch Träume und Visionen vom Propheten und den Heiligen mit Leben erfüllt, durch Reisen und Wallfahrten3 vergegenwärtigt, durch vielfaltige ökonomische und politische Verflechtungen verwandelt und durch die gemeinsamen Rituale des Islams immer wieder neu erfahren. Gerade der Prophet ist dabei im kollektiven Gedächtnis der Muslime besonders präsent, er ist ein zentrales und zugleich alltägliches Element der Vergegenwärtigung der Vergangenheit durch die Muslime und ihres Dialogs mit der Geschichte. Der Prophet wird nicht (nur) als historische Persönlichkeit gesehen, sondern als Orientierungspol für die Gegenwart, ein Vorbild, in dem Raum und Zeit aufgehoben sind. Obwohl der Prophet vor fast 1400 Jahren starb, ist er für die Muslime als vergegenwärtigtes Ideal nach wie vor am Leben und wird, auch in Sansibar, alljährlich am Prophetengeburtstag (arab.: maulid al-nabÐ) am 12. RabÐÝ al-awwal besonders erinnert und gefeiert.

T RANSZEITLICHKEIT

UND

E RINNERUNG

Die islamische Welt kann somit nicht nur als translokaler Raum beschrieben werden, der geographisch in Form historischer „Land-Karten“ abgebildet wird, sondern auch als imaginierter transzeitlicher „Zeit-Raum“, der eine „Zeit-Karte“ der islamischen Welt darstellt. Der translokale und der transzeitliche Raum bilden in ihrer Gesamtheit wiederum einen wichtigen Teil der Vorstellungswelt und Erinnerungsräume der Muslime. Diese Erinnerungsräume (s. Ahmed/von Oppen in Speitkamp 2005) sind für die Muslime von anhaltender Bedeutung, weil sie einen gemeinsamen Korpus erinnerter historischer Bezüge, eine gemeinsame Symbolsprache, einen ge-

3

Barbara Metcalf zufolge sind Pilgerreise und Reiseberichte in Hinblick auf die Rekonstruktion transzeitlicher und translokaler Erinnerungsräume besonders aussagekräftig, weil sie die kulturellen Kontexte wiederspiegeln, durch welche die Reisenden und Pilger ihre Erfahrungen filtern (Metcalf 1990: 89).

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meinsamen Kanon von Texten und gemeinsame Traditionen wie die Sunna des Propheten darstellen, die wiederum die Vorstellung der gemeinsamen Umma begründen. Fortbestehende transzeitliche Bezüge zu diesem Kanon und zu den islamischen Erinnerungsräumen gewähren zudem die Möglichkeit, Muslime translokal zu mobilisieren, weil die symbolische Bedeutung und die Zitate aus dem Kanon immer noch weitgehend verstanden werden. In der „Zeit-Karte“ der islamischen Welt finden wir die bekannten Gedächtnisorte des Propheten, etwa Badr und UÎud, Mekka und Medina, alQuds und al-Íabaša (Äthiopien, als dem Ort der ersten hiÊra des Jahres 615), aber auch Plätze wie QÁdisiyya, ÑiffÐn oder, im Rahmen šÐÝitischer Erinnerungsräume, KarbalāÞ und die heiligen Orte der šÐÝitischen ImÁme und Märtyrer wie NaÊaf und Samarra.4 Die imaginäre Karte der „lieux de mémoire“ der islamischen Welt umfasst aber auch die Reiseberichte Ibn BaÔÔÙÔas oder „erinnerte Räume“ wie Andalusien (al-Andalus), die der Umma in realpolitischer Hinsicht zwar verloren gegangen sind, aber immer noch einen zentralen Platz in der Konstruktion islamischer Utopien einnehmen.5 Auch die Gemeinschaft der ersten Muslime in Mekka und Medina sowie die Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen, die Zeit der „verehrungswürdigen Vorfahren“, der salaf al-ÒāliÎ bis 661, diente seit jeher der Konstruktion islamischer Utopien6 und für Mystifizierungen im Rahmen der Konstruktion kollektiver Identitäten wie auch als Orientierungsmaßstab für individuelles Handeln. Der utopische Charakter transzeitlicher Bezüge wird noch deutlicher im Falle transzeitlicher Projektionen in die Zukunft, wie der eines „Paradieses auf Erden“, in welchem nach der Herstellung einer endzeitlichen Gerechtigkeit sogar die šarÐÝa überflüssig wird und aufgehoben werden kann.7

4

Eine ausführliche Debatte des Konzepts der „lieux de mémoire“ in islamischen Kontexten s. in Hartmann 2005.

5

Zur Bedeutung imaginärer Karten der Welt s. Schlögel 2006: 157.

6

Die Präsentation der Gemeinschaft der ersten Muslime kann freilich aus vollkommen unterschiedlichen Motiven erfolgen und zu vollkommen unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen führen, s. etwa die Darstellung bei ÝAlÐ ÝAbd alRāziq, al-Islām wa-uÒÙl al-Îukm, Beirut, 1925 und Sayyid QuÔb, maÝālim fi-lÔarÐq, Kairo, 1981.

7

S. Halm 1991 und seine Diskussion der „Aufhebung des Rechts“, rafÝ al-šarÐÝa, durch die frühen Fatimiden in Tunesien.

4. T RANSZEITLICHKEIT | 63

Utopische Konstruktionen der Zukunft sind häufig mit millenaristischen Ideen verbunden, etwa mit der Vorstellung eines von „Gott rechtgeleiteten“ MahdÐ oder „letzten Imāms“, eines Erlösers der Muslime aus der Ungerechtigkeit gegenwärtiger Lebensbedingungen. Sowohl die in die Vergangenheit wie auch die in die Zukunft gerichteten Utopien können so Kritik an gegenwärtigen Gesellschaftsordnungen und politischen Ordnungsmodellen zum Ausdruck bringen und haben revolutionären Charakter. Die transzeitlichen Vorstellungswelten der Muslime sind aber auch Teil des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses muslimischer Gesellschaften und von zentraler Bedeutung für die Produktion und Stiftung von lokalen, translokalen und transzeitlichen Solidaritäten und Identitäten (Baldick 1993: 222; Westphal 2004: 260). Die genannten Beispiele haben gezeigt, dass es möglich ist, die Umma der Muslime über den gemeinsamen Bezug auf einen Kanon von Texten und Traditionen, auf der Basis gemeinsamer Erinnerungsräume und Vorstellungswelten im Sinne Benedict Andersons als eine „imagined community“ zu verstehen (Anderson 1983: 7). Im Falle der Umma wird Gemeinschaft aber nicht nur über die oben genannten transzeitlichen Bezüge hergestellt, sondern auch dadurch, dass sich aus der Wirkmächtigkeit islamischer Erinnerungsräume und Vorstellungswelten das Konzept einer „messianischen Zeit“ ableiten lässt, die sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft und ihren jeweiligen Utopien Wirkmächtigkeit für die jeweilige Gegenwart einräumt (Anderson 1983: 24). Imaginäre Räume und die mit ihnen verbundenen Vorstellungswelten und sakralen Geographien bilden so die Grundlage aller zeitlich gegenwärtigen Lebenswelten. Die heiligen Orte der Lebenswelt der Gegenwart beziehen ihre gesellschaftliche Bedeutung wiederum aus ihrer zeitlichen Tiefe und Verankerung in der Vorstellungswelt der Muslime: al-Quds (Jerusalem) ist nicht (nur) deswegen für die Muslime heilig, weil diese Stadt und ihre heiligen Orte von den Politikern der Gegenwart zu einem zentralen Symbol des Kampfes für den palästinensischen Staat erklärt wurde, sondern (auch) weil in al-Quds die Himmelsreise (arab.: miÝrÁÊ) des Propheten stattfand, die wiederum ein zentrales Element einer Rahmenerzählung darstellt, die allen Muslimen bekannt ist. Heilige Orte wie Jerusalem, Mekka, Medina oder KarbalāÞ sind daher Schaltstellen zwischen gegenwärtigen Lebens- und transzeitlichen Vorstellungswelten, Plätze, an denen der Dialog mit der Vergangenheit seinen räumlichen Ausdruck findet.

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D IMENSIONEN TRANSZEITLICHER V ERFLECHTUNGEN IN LOKALEN K ONFLIKTEN : KONZEPTIONELLE Ü BERLEGUNGEN Was sind nun die Inhalte translokaler und transzeitlicher Verflechtungen in der islamischen Welt und welche gesellschaftliche Rolle spielen sie? Wie erwähnt stellen translokale und transzeitliche Verflechtungen zunächst einen wichtigen Bestandteil der Vorstellungswelt der Muslime dar, haben aber gleichzeitig große Bedeutung für die Konstruktion von Geschichte, von Familien-Genealogien oder religiösen Lehrtraditionen. Darüber hinaus können transzeitliche Verbindungen, etwa Visionen des Propheten, Rechtleitung in Zeiten von Unsicherheit und Krisen verschaffen, moralische Maßstäbe für gegenwärtige Generationen beinhalten, aber auch Kritik an gegenwärtigen Verhältnissen äußern. Transzeitliche Verbindungen sind so von großer Bedeutung für die Konstruktion von (islamischen) Identitäten oder stellen in der Dynamik translokaler Verflechtungen wichtige Legitimationsbezüge her. Dies gilt insbesondere für den Fall lokaler oder regionaler Konflikte und Auseinandersetzungen um das „rechte“ Ritual oder die „rechte“ Zeit. Transzeitliche und translokale Bezüge sind daher von besonderer Bedeutung für die Verhandlung von religiösen, sozialen oder politischen Positionen. Dabei stellt sich aber immer wieder die Frage, wer zu welcher Zeit in welchem Kontext welchen transzeitlichen und/oder translokalen Bezug aus welchem Grunde aktiviert. Dies wird besonders deutlich in Konfliktsituationen, die verborgene oder „schlafende“ Allianzen sichtbar machen (Streck 1985: 574) und spezifische translokale und transzeitliche Verflechtungen belegen. Diese Verflechtungen zwischen religiösen Gelehrten können unterschiedliche Gestalt annehmen: I. Eine Gruppe von Gelehrten kann eine neue zeitgleiche oder zeitnahe translokale Verbindung mit einem Zentrum der eigenen Lehrtradition, etwa Bagdad im Falle der Qādiriyya, aktivieren, die bis dahin im lokalen Kontext unbekannt, unbedeutend oder vernachlässigt war und dadurch versuchen, konkurrierende Lehrtraditionen, die sich aber auf die eigene Lehrtradition beziehen, zu marginalisieren.

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II. Muslimische Gelehrte können jedoch auch zeitgleiche oder zeitnahe translokale Kontakte zu einem anderen Zentrum spiritueller Autorität oder einer anderen Traditionslinie herstellen und eine bestimmte lokale Tradition als obsolet oder weniger authentisch darstellen. Diese translokalen Bezüge haben transtraditionalen Charakter. III. Eine Gruppe von Gelehrten mag zudem eine transzeitliche Verbindung zu einer anderen Gelehrtentradition, zum Propheten und seiner sunna herstellen, um damit in einem religiös-dogmatischen Disput mittels einer neuen Interpretation der Quellen eine Lösung herbeizuführen oder der eigenen Lehrtradition zusätzliche Legitimität zu verschaffen. IV. Eine Gruppe von Gelehrten kann schließlich eine transzeitliche Verbindung zu einer früheren Generation der eigenen Lehrtradition herstellen, um damit eine etablierte Gelehrtenmeinung und etablierte Deutungsansprüche in Frage zu stellen. Eine solche transzeitliche Verbindung innerhalb der eigenen Tradition aktiviert nicht nur eine respektierte und vielleicht vernachlässigte Lehrtradition, sondern legitimiert mit dem Rückbezug auf eine frühere Lehrautorität auch die Rebellion gegen das gelehrte Establishment innerhalb der eigenen Lehrtradition.

L OKALE K ONFLIKTE

UND DIE B EDEUTUNG TRANSLOKALER UND TRANSZEITLICHER V ERBINDUNGEN : EIN F ALLBEISPIEL AUS S ANSIBAR Translokale und transzeitliche Verbindungen erlangen vor allem dann Bedeutung für einen bestimmten lokalen (und zeitlichen) Kontext, wenn sie für die Aushandlung lokaler Dispute aktiviert werden. Die Dynamik und Tragweite dieser Aussage kann im Disput über eine bestimmte Form des Æikr (Sufi-Meditation) der Qādiriyya in Sansibar verdeutlicht werden. In den 1890er Jahren kam es zu einem Konflikt zwischen zwei Netzwerken der Qādiriyya in Sansibar, in welchem ein führender Gelehrter der Qādiriyya, Scheich ÝAbd al-ÝAzÐz b. ÝAbd al-ĠanÐ b. Óāhir b. NÙr al-AmawÐ (st. 1896, zu seiner Biographie s. Bang 2003: 94) einen anderen QādiriGelehrten, Scheich Uways b. MuÎammad al-BārawÐ (st. 1909, zu ihm s.

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Samatar 1992, Martin 1976 und Reese 1999) attackierte (s. Themenkasten 10). Themenkasten 10: Die Bedeutung translokaler Verflechtungen Sowohl Scheich al-AmawÐ als auch Scheich Uways stammten ursprünglich aus Brawa an der südlichen Benadir-Küste Ostafrikas. Aber während Scheich alAmawÐ seit den 1850er Jahren eine glänzende Karriere als Gelehrter am Hofe der Sultane von Sansibar erlebte und Berater mehrerer Sultane war, zog es Scheich Uways vor, ein Studium des religiösen Wissenschaften in Bagdad, dem Zentrum der Qādiriyya, und in Mekka zu absolvieren. Nach seiner Rückkehr nach Brawa im Jahre 1884 blieb ihm als Angehöriger einer niederen sozialen Schicht die Anerkennung der etablierten lokalen Gelehrten versagt, sodass er begann, in anderen Teilen Ostafrikas Anhänger zu werben. Von besonders großem Erfolg war seine Lehre in Sansibar, wo es ihm gelang, aus der Qādiriyya eine religiöse Massenbewegung zu formen, deren soziale und religiöse Bedeutung auch von den Sultanen anerkannt wurde, was wiederum zu einem Machtverlust Scheich al-AmawÐs führte. Gestützt auf seine rasch wachsende Anhängerschaft gelang es ihm schließlich in Brawa selbst Anerkennung zu finden und zu einem der führenden religiösen Gelehrten Brawas aufzusteigen.

Scheich Uways hatte im Rahmen eines ersten Besuchs in Sansibar im Jahre 1884 (al-Farsy 1972: 14) eine neue Form des Æikr, den zikri ya kukohoa eingeführt, der sich vor allem durch rhythmische Atemübungen (arab.: anfÁs, swa.: kukohoa) während der Rezitation der Litaneien (arab. awrād, sg. wird) des Æikr auszeichnete. Der neue Æikr erlangte in kurzer Zeit große Popularität unter den Muslimen Sansibars. Die wachsende Popularität des Uways-Zweiges der Qādiriyya bedrohte die Vorrangstellung von Scheich al-AmawÐ innerhalb der Qādiriyya in Sansibar wie auch am Hofe des Sultans (Pouwels 1987: 143). Scheich al-AmawÐ wandte sich in der Folge gegen den Uways-Zweig der Qādiriyya und begann den zikri ya kukohoa als eine „unzulässige Neuerung“ anzugreifen. Scheich al-AmawÐ kritisierte dabei vor allem die rhythmischen Meditationspraktiken und die neuen Atemtechniken, die er als „Keuchen“ beschrieb. In einem polemischen Gedicht verglich Scheich al-AmawÐ den neuen Æikr mit nicht-islamischen afrikanischen Tanz- und Besessenheitspraktiken und stellte die Frage, „wo denn diese Glaubenspraxis erfunden worden sei“ (wapi ilikozuliwa ibada ya kukohoa; al-Farsy 1972: 14-5).

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Obwohl Scheich al-AmawÐ nun den zikri ya kukohoa in den 1890er Jahren als eine „un-islamische Neuerung“ und als ein Vermischen afrikanischer Bräuche mit dem Islam kritisierte, hatte er selbst um 1860 eine andere Form des Æikr, nämlich den zikri ya dufu in Sansibar eingeführt. Der zikri ya dufu war ein Æikr, der mit dufu-Trommeln praktiziert wurde, war wiederum von anderen Gelehrten jener Zeit als eine bidÝa angegriffen worden. Während der AmawÐ-Zweig der Qādiriyya den zikri ya kukohoa in den 1890er Jahren als eine un-islamische Neuerung kritisierte, stellte der zikri ya kukohoa für Scheich Uways aber keineswegs eine Neuerung dar. Vielmehr hatte er selbst im Rahmen seines Studiums im Zentrum der Qādiriyya in Bagdad an diesem Æikr teilgenommen und seine Verankerung in der ursprünglichen Tradition der Qādiriyya erlebt. Während der AmawÐ-Zweig der Qādiriyya den zikri ya kukohoa im Kontext ihres Disputs mit dem Uways-Zweig der Qādiriyya somit als eine Deformation des Æikr kritisierte, wurde der zikri ya kukohoa von den Gelehrten des Uways-Zweiges der Qādiriyya nicht nur als eine gängige Form des Æikr der Qādiriyya verteidigt, sondern zudem als eine religiöse Praxis präsentiert, die direkt mit dem spirituellen Zentrum des Ordens verbunden war und daher im Vergleich zu den etablierten Praktiken des AmawÐ-Zweiges auf eine noch größere Authenzität verweisen konnte. In den 1940er Jahren griff ein anderer führender Gelehrter Sansibars, Scheich ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy (st. 1982), der nicht der Qādiriyya angehörte, sondern einer neuen islamischen Reformbewegung zugeneigt war, den Æikr-Disput der 1890er Jahre auf und zitierte in seiner Geschichte der šāfiÝÐtischen religiösen Gelehrten Ostafrikas (Baadha ya wanavyuoni wa kishafi wa mashariki ya Afrika) das polemische Gedicht Scheich alAmawÐs gegen den zikri ya kukohoa. Des Weiteren griff Scheich ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy diese Form des Æikr in Predigten und Zeitungsartikeln an und wurde dabei sowohl von der etablierten Gelehrtenschaft Sansibars als auch der britischen Kolonialmacht unterstützt, die ihrerseits „ekstatische“ religiöse Praktiken zu unterbinden suchte. Der Hintergrund der religiösen Polemiken der 1940er Jahre war der Kampf Scheich ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsys gegen einen anderen Gelehrten der Qādiriyya, Scheich MaÎmÙd b. Kombo aus Makunduchi (st. 1968), dem es gelungen war, die religiösen Praktiken der Uways-Tradition im südlichen Unguja fortzuführen und eine nicht unbeträchtliche lokale Anhängerschaft aufzubauen. In seiner Polemik gegen Scheich MaÎmÙd b. Kombo konnte Scheich ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy mit

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seinem transzeitlichen Verweis auf Scheich al-AmawÐ zeigen, dass selbst Gelehrte der Qādiriyya bereits in den 1890er Jahren die Praxis des zikri ya kukohoa und seine rituellen Exzesse kritisiert hatten (al-Farsy 1944/1972: 14-15). In seinen Polemiken gegen den zikri ya kukohoa erwähnte Scheich ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy aber nicht, dass Scheich al-AmawÐ um 1860 gemeinsam mit Scheich MuÎyÐ al-DÐn al-QaÎÔānÐ (st. 1869) eine Schrift mit dem Titel tauÃÐÎ al-mubhamāt fÐ Îukm ālāt al-malāÎÐ zur Verteidigung des zikri ya dufu verfasst hatte. Diese Praxis hätte in den 1940er (wie in den 1860er) Jahren als ebenso „un-islamisch“ kritisiert werden können, wie die Praxis des zikri ya kukohoa in den 1890er oder den 1940er Jahren. Scheich ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsys Bezugnahme auf die Polemik al-AmawÐs war also völlig aus dem zeitlichen Kontext gerissen, entsprach aber einer ähnlichen Konfrontationssituation. In jeder der beiden Konfliktkonstellationen wurden jedoch unterschiedliche legitimatorische Beziehungen hergestellt: ein zeitnaher translokaler Bezug (zu Bagdad) im Falle des Streits zwischen Scheich Uways und Scheich al-AmawÐ in den 1890er Jahren und ein transzeitlicher und transtraditionaler Bezug (zu den 1890er Jahren) im Konflikt zwischen ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy und Scheich MaÎmÙd al-Kombo in den 1940er Jahren. Das Beispiel dieser Dispute in Sansibar zeigt, dass translokale, transzeitliche und transtraditionale Bezüge hergestellt und aktiviert werden können, um in lokalen Konfliktkontexten bestimmte Positionen zu legitimieren. Das Beispiel zeigt aber auch, dass in religiösen Konflikten letztendlich immer die lokalen Rahmenbedingungen und die jeweiligen Auseinandersetzungen um Deutungshoheit entscheiden, ob, wann und welcher translokale und/oder transzeitliche Bezug aktiviert und in den lokalen Kontext übersetzt wird.

B EDINGUNGEN VON T RANSLOKALITÄT UND T RANSZEITLICHKEIT Translokalität und Transzeitlichkeit existieren jedoch nicht alleine in der Vorstellungswelt der Menschen, sondern sind an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Zunächst einmal sind wohl die schiere Existenz von Wegen und Routen und das Wissen über ihre Wegsamkeit und Sicherheit eine grundlegende Voraussetzung für die Herstellung von Verbindungen und die

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Pflege translokaler Verflechtungen. Ein diesbezügliches Wissen war von enormer Bedeutung für den Handel, die Durchführung der Pilgerreise und die Praxis des Ôalab al-Ýilm, wie im Falle von Scheich Uways’ Reise nach Bagdad. Im Kontext globaler Modernisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert haben das Dampfschiff und das Flugzeug lange Reisezeiten verkürzt und den Transport von Gütern beschleunigt. Der Telegraph, später das Telefon und schließlich das Internet haben den Austausch von Informationen erleichtert und die weltweite Angleichung lokaler Zeiten und Fahrpläne ermöglicht. Während noch im frühen 19. Jahrhundert die Übermittlung von Briefen auf dem Rücken von Kamelen durch die Sahara oder an Bord von Dhaus über den Indischen Ozean im Idealfall zwei Monate dauerte, kann translokale Verständigung heute in einem Bruchteil der Zeit erfolgen. Auch transzeitliche Verflechtungen bedürfen realer Grundlagen. Besonders wichtig erscheinen dabei die Existenz einer Kultur der Schriftlichkeit und die Pflege einer schriftlichen und mündlichen Gedächtnis- und Erinnerungskultur, die Dokumentation historischer Traditionen und die Wahrung und Weitergabe von Texten, Mythen und Erzählungen. In jüngerer Zeit hat der Druck von Texten die Ausbreitung und Popularisierung von Wissen gefördert. Moderne Medien, insbesondere der (Video-)Film, haben historische Überlieferungen in eine neue Bildersprache übersetzt, die in islamischen Gesellschaften jedoch noch umstritten ist. Diese Entwicklung war nur auf der Grundlage eines bereits bestehenden Bildungsideals und Bildungssystems möglich, das Wissensaustausch und -pflege förderte. Eine vom Ideal des Wissenserwerbs geprägte Gesellschaft schätzte aber nicht nur die Reiseerzählungen eines Ibn BaÔÔÙÔa, sondern besaß auch die Fähigkeit, über die Zeiten hinweg Geschichte zu dokumentieren und zu diskutieren. Die Entwicklung einer reichen Tradition islamischer Geschichtsschreibung legt hierfür Zeugnis ab. Diese Tradition war keineswegs auf die arabischen Gesellschaften Nordafrikas und Westasiens, auf Indien, Iran oder das osmanische Reich beschränkt, sondern etablierte sich auch im sub-saharischen Afrika. 8 Für die jüngere Geschichte Ostafrikas ist der bereits genann-

8

Die bekannten Sudan-Chroniken des taÞrÐÌ al-sÙdÁn und des taÞrÐÌ al-fattÁš sind Beispiele hierfür. Besonders deutlich wird die Bedeutung der Dokumentation der Geschichte und ihrer Reflektion in der „Kano-Chronik“, die seit dem 16. Jahrhundert in immer wieder neuen Versionen die Geschicke der Stadt und des

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te Text von ÝAbdallāh ÑāliÎ al-Farsy zu nennen, Baadha ya wanavyuoni wa kishafi wa mashariki ya Afrika, in welchem den šāfiÝÐtischen ostafrikanischen Gelehrten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Denkmal errichtet wurde. Gerade die Art und Weise, wie in ihm (unter anderem) Traditionen der Qādiriyya in Sansibar diskutiert und für die Gegenwart der 1940er Jahre gedeutet wurden, stellt einen Beleg für die transzeitliche Bedeutung gelehrter Dispute und Überlieferungen dar. Die Vergangenheit hat somit nicht nur symbolische Wirkmächtigkeit in Hinblick auf die Interpretation der Geschichte und eine entsprechende Gegenwart, sondern wird in einem anhaltenden Diskussionsprozess immer wieder neu erfunden und von Personen oder Gruppierungen beschworen, um eine bestimmte Sicht der Welt zu begründen.9 Die Art und Weise wie die Vergangenheit interpretiert wird, sagt somit weniger über die Vergangenheit selbst aus, als über die Gegenwart, in welcher die Vergangenheit, bzw. ein Ausschnitt der Vergangenheit in einer spezifischen Art und Weise zitiert und inszeniert wird (Hartmann 2005: 17).

Königreiches Kano niederlegte, umschrieb und interpretierte. Ebenso müssen die zahlreichen Verzeichnisse von Gelehrtentraditionen und das Verfassen von Heiligenlegenden wie das kitāb al-tabaqāt fi-ÌuÒÙÒ al-awliyāÞ wa-l-ÒāliÎÐn wa-lÝulamāÞ wa-l-šurafāÞ fÐ-l-sÙdān von MuÎammad al-NÙr Âayf Allāh (st. 1809), in welchem mehr als 280 Gelehrten- und Heiligenbiographien des Sudan dokumentiert wurden, als Grundlage für die Entstehung und Pflege transzeitlicher Rahmenerzählungen genannt werden. 9

S. hierzu die Beiträge in Angelika Hartmanns Sammelband Geschichte und Erinnerung im Islam (2004).

5.

Die „religiöse“ Zeit

Z EIT

UND RELIGIÖSER

K ALENDER

Unter den Zeitordnungen Sansibars gebührt der „religiösen“ Zeit sicherlich eine besondere Rolle für die Gestaltung des Jahresablaufs wie auch des alltäglichen Lebens und wird daher gesondert diskutiert. Die „religiöse“ Zeit äußert sich in den täglichen fünf Gebeten, im aÆÁn des Muezzins, in unterschiedlichen Kalendarien und in den Festtagen des islamischen Kalenders, in der Festlegung des Pilgermonats ÅÙ l-ÎiÊÊa und des Fastenmonats RamaÃÁn,1 dessen Beginn und Ende im 19. Jahrhundert jeweils mit Kanonenschüssen von einem Schiff in der Hafenbucht signalisiert wurde. Die sansibarische Prinzessin Salme bint SaÝÐd alias Emily Ruete schilderte die Aufregung in Sansibar in Erwartung des Endes des Fastenmonats in der Mitte des 19. Jahrhunderts wie folgt: Endlich ist der letzte Tag des Ramadan angebrochen, der 29. oder 30.;…Jeder ist nun eifrigst bemüht, den neuen Mond zu entdecken. Kalender gibt es bei uns nur für die Gelehrten und die würden diesmal auch nichts helfen. Der neue Mond muss wirklich gesehen worden sein, ehe der Schuss der Fastenzeit erfolgen kann….Wer ein Fernrohr oder ein Opernglas besitzt, wird viel beneidet; das vielbegehrte Instrument wandert aus einer Hand in die andere;…Unser Vater schickt Leute mit scharfen Augen auf das Dach unserer Festung, welche noch aus der portugiesischen Herrschaft stammt, und auf die Spitzen der Masten, um über Land und Meer hin nach dem neuen Monde auszuschauen. Am Abend befinden sich alle in höchster Span-

1

Zur Frage von RamaÃÁn und Politik s. den Sammelband von Adelkah und Georgeon (2000).

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nung; jeden Augenblick vermeint dieser oder jener einen Kanonenschuss zu hören, der uns die glückliche Entdeckung des Ersehnten verkünden soll. Jedes Geräusch deutet man in diesem Sinne, ohne in der Aufregung daran zu denken, dass ein Schuss von unseren unmittelbar vor dem Hause ankernden Schiffen immer den ganzen Palast erschüttert…Endlich erdröhnt wirklich der Schuss; ein jubelnder Lärm erfüllt die ganze Stadt und jeder ruft dem anderen Id mbarak (gesegnetes Fest) zu (Ruete 2000: 164-165).

Nicht nur der Fastenmonat folgt aber einem bestimmten Zeitregime, sondern jeder Tag, jede Woche, jeder Monat, das ganze Jahr: So sollen die täglichen fünf Gebete genau zu den für sie festgelegten Zeiten erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass das Morgengebet (arab.: ÒalÁt al-faÊr) nicht zum exakten Zeitpunkt des Sonnenaufgangs erfolgt, sondern in der „wahrhaftigen Dämmerung“ (arab.: al-faÊr al-ÒÁdiq), wenn es möglich wird, Gesichter zu unterscheiden; ebenso findet das Mittagsgebet (arab.: ÒalÁt al-Ûuhr) nicht zum genauen Zeitpunkt des Sonnenhöchststandes statt, sondern kurz nachdem die Sonne den Zenit überschritten hat; und auch das Abendgebet (arab.: ÒalÁt al-maÈrib) wird kurz nach dem Sonnenuntergang, in der Zeit der Abenddämmerung, aber vor dem Einbruch der eigentlichen Nacht verrichtet. Im Volksglauben Sansibars werden diese Gebetszeiten damit erklärt, dass insbesondere Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Zeiten seien, in denen böse Geister durch die Lüfte fliegen würden. Das Nachmittagsgebet (Òalat al-ÝaÒr) soll wiederum dann stattfinden, wenn der Schatten der Gegenstände ihrer Länge entspricht; das Nachtgebet (ÒalÁt al-ÝišÁÞ) schließlich soll nach Einbruch und auf jeden Fall im ersten Drittel der Nacht erfolgen. Die zentrale Bedeutung der Gebete für den Tagesablauf in Sansibar schilderte Salme bint SaÝÐd für die 1850er Jahre wie folgt: Die Gebete regeln gewissermaßen den Tag für jeden Muhamedaner. Sie finden fünfmal täglich statt und wenn sie mit allem, was dazu gehört, Waschungen und Wechseln der Kleider, der Schrift gemäß ausgeführt werden, so erfordern sie im ganzen mindestens drei Stunden Zeit. Die Vornehmen werden zwischen vier und halb sechs Uhr früh zum ersten Gebet geweckt, nach dessen Verrichtung man sich noch einmal zum Schlaf hinlegt; der Fromme erwartet aber dabei erst den Sonnenaufgang, der regelmäßig um sechs Uhr erfolgt. Dies gilt natürlich nur für die Vornehmen; für das Volk beginnt auch die Tagesarbeit mit den ersten Gebeten […]. So ist es unvermerkt ein Uhr geworden. Die Bediensteten kommen und melden, dass es

5. D IE „ RELIGIÖSE“ ZEIT | 73

Zeit ist zum zweiten Gebet. Jetzt glüht die Sonne am heißesten und jeder ist froh, nach dem Gebet ein paar Stunden in kühlem und leichtem Gewand auf einer reizend geflochtenen, meist mit heiligen Sprüchen durchwebten weichen Matte angenehm verträumen zu können […]. Um vier Uhr verrichtet jeder sein drittes Gebet und wirft sich dann in die prunkvollere Nachmittagstoilette […]. Unter allerlei Zeitvertreib verging die kurze Frist, bis einige Gewehrschüsse und der Trommelwirbel der indischen Garde uns an den Sonnenuntergang und an unser viertes Gebet erinnerte. Von allen täglichen Gebeten wurde keines mit solcher Hast verrichtet, als gerade dieses. Jeder hatte dabei etwas Eiliges an sich. Denn wer nicht selbst ausgehen wollte, und wer an dem Abend nicht Besuch von außen erwartete, der war sicher im Hause selbst eingeladen oder empfing Besuche von Geschwistern, Stiefmüttern, Stiefkindern und Nebenfrauen […]. Etwa um halb acht soll das fünfte und letzte Gebet des Tages stattfinden. Gerade um diese Zeit aber sind viele durch Besuche oder sonst irgendwie verhindert. Darum besteht die Bestimmung, dass man dieses Gebet auch bis zur Mitternachtsstunde aufschieben darf; man verrichtet es dann in der Regel vor dem Schlafengehen […]. (Salme bint SaÝÐd 2000: 50-54, Auszüge; Auswahl RL).

Auch das gemeinschaftliche Freitagsgebet und das Fasten im Monat RamaÃÁn, bzw. das Fest am Ende des Fastenmonats, der ÝÐd al-fiÔr am ersten Tag des Monats ŠawwÁl, die Pilgerreise (arab.: ÎaÊÊ) und das mit der Pilgerreise verbundene Opferfest (ÝÐd al-aÃÎÁ, auch ÝÐd al-ÎaÊÊ, ÝÐd al-kabÐr) am 10. Tag des Monats ÅÙ l-ÎiÊÊa folgen einem genauen zeitlichen Regime. Exakte Zeiten sind zudem für die anderen islamischen Festtage wie den Neujahrstag (1. MuÎarram), den 10. MuÎarram (ÝāšÙrā) oder den Geburtstag des Propheten (arab.: maulid al-nabÐ) am 12. RabÐÝ al-awwal von zentraler Bedeutung. Verletzungen des islamischen Zeitregimes sind Grundlage wiederkehrender Auseinandersetzungen unter den Muslimen, weil sie das Prinzip islamischer Gemeinschaftlichkeit im Ritual in Frage stellen. Das Feiern und Fasten (oder Nichtfasten) zur „falschen Zeit“ signalisiert Abweichung, Bruch der Gemeinschaftlichkeit und Streit (arab.: fitna). Der genaue Zeitpunkt des Betens, Fastens und Feierns ist eine öffentliche Positionsbezeugung in Hinblick auf das Gemeinschaftsideal jeder islamischen Gesellschaft und stellt einen wichtigen Bestandteil der Identität jeder lokalen Gemeinschaft dar (van de Bruinhorst 2007: 221). Das islamische Ritual und der islamische Kalender sind so voller Zeitbezüge (s. Themenkasten 11), die sich zum Beispiel in der lailat al-qadr abbilden, der „Nacht des Schicksals“, in der die erste qurÞÁnische Offenba-

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rung „herab gesandt“ wurde und die jedes Jahr in der Nacht des 27. RamaÃÁn gefeiert wird. In größerem Maßstab ist die hiÊra eine Zeitschwelle zwischen der Zeit des Islams und der Zeit der ÊÁhiliyya, der Zeit der „Unwissenheit“ vor dem Islam.

Themenkasten 11: Der Begriff der Zeit im QurÞÁn Zu den arabischen Begriffen (dahr, waqt, zamÁn) für Zeit siehe die entsprechenden Einträge in der Enzyklopädie des Islam. Im QurÞÁn wird in Sure 45:24 zum Begriff der Zeit vermerkt: „Und sie, die Ungläubigen sagen: Es gibt nur unser diesseitiges Leben. Wir sterben und leben, und nur die Zeit lässt uns zu Grunde gehen, und dort endet ihr Wissen“ (Paret 1979: 352: wa-qÁlÙ, mÁ hiya alaÎiyÁtunÁ al-dunya bi-maut wa-naÎyÁ; wa mÁ yuhlikunÁ illa al-dahr wa-mÁ lahum bi-Æalika min Ýilmin). Der qurÞÁnische Begriff für Zeit ist somit dahr und bezeichnet eine lange Zeitspanne, die Lebenszeit, die Ewigkeit, eine Epoche, ein Zeitalter; dahra al-dÁhirÐn meint „bis in alle Ewigkeit“, „für immer“. Der Begriff waqt (Zeit) ist dagegen jüngeren Datums. Zeit wird vielfältig auch im ÎadÐ× belegt, etwa in der Aussage, „verfluche niemals die Zeit, denn Gott ist die Zeit“ (fainna allÁha huwa al-dahr). Dieser ÎadÐ× wird etwa im ÒaÎÐÎ Muslim zitiert, und zwar in Buch 27, Kapitel 5580, mit folgenden Worten: „Abu Huraira berichtete: Ich hörte den Gesandten Gottes (SAW) sagen: Gott der Allmächtige und Allerbarmer sagte: Der Sohn Adams verwünscht die Zeit (dahr), während ich doch die Zeit (dahr) bin, denn meine Hände sind der Tag und die Nacht“. In Buch 27, Kapitel 5582 berichtet erneut Abu Huraira: „Der Sohn Adams bereitet mir Schmerzen wenn er sagt: Verflucht sei die Zeit! Niemand unter Euch soll so etwas sagen, denn ich bin die Zeit, weil ich den Tag und die Nacht aufeinander folgen lasse und wenn ich es wünsche, so kann ich diesem auch ein Ende setzen“, oder schließlich, in Buch 27, Kapitel 5583: „Niemand unter Euch soll sagen, „Verflucht sei die Zeit“, denn wahrlich Gott ist die Zeit“.

Der Prophet nutzte die Abschiedswallfahrt des Jahres 632, um am Tage der Zusammenkunft am Berge ÝArafa, am 10. ÅÙ l-ÎiÊÊa, als der Zeitzyklus des alten, vor-islamischen Mondkalenders abgelaufen war, die neue islamische Zeitordnung zu verkünden: „Die Zeit hat ihren Kreislauf beendet und ist so wie am Tage, als Gott die Himmel und die Erde erschaffen hat. Bei Gott ist die Zahl der Monate zwölf; davon sind vier heilig, drei aufeinanderfolgende (ÅÙ l-qaÝda, ÅÙ l-ÎiÊÊa und MuÎarram) und der RaÊab von MuÃar zwischen ÉumÁdÁ und ŠaÝbÁn“ (Ibn IsÎÁq 1982: 245). Diese neue Zeitordnung

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bezog sich wiederum auf die im QurÞÁn (Sure 9: 37) getroffene Verurteilung der vor-islamischen Kalenderordnung: „Die Verschiebung der Kalenderordnung durch einen Schaltmonat ist ein Übermaß an Unglauben. Diejenigen, die ungläubig sind, werden dadurch noch mehr irregeführt. Sie erklären den Heiligen Monat in einem Jahr für nicht heilig, in einem anderen für heilig, um der Zahl dessen, was Gott an Monaten für heilig erklärt hat, gleichzukommen, und für nicht heilig, was Gott für heilig erklärt hat.“ Für die zeitlich exakte Festlegung des Beginns (und Endes) der islamischen Monate und der mit ihnen verbundenen islamischen Festtage, insbesondere das Opferfest am 10. Tag des Monats ÅÙ l-ÎiÊÊa und das Fest des Fastenbrechens am Ende des Fastenmonats, spielt die Frage der verbindlichen Sichtung (arab.: ruÞya) der Mondsichel, des hilÁl eine zentrale Rolle (s. Themenkasten 12).

Themenkasten 12: Zur Sichtung des Mondes Konkret erfolgen etwa in der MuwaÔÔa von ImÁm MÁlik b. Anas, dem grundlegenden Rechtswerk der mÁlikitischen Rechtsschule, in Kapitel 18: 1 sowie 20: 13, 14, 15 und 32 Verweise auf die Sunna des Propheten bezüglich der Sichtung des hilÁl. In 18.1.1 heißt es: „YaÎyÁ überlieferte mir von MÁlik und dieser von NÁfiÝ, der von ÝAbdallÁh und jener von ÝUmar, dass der Gesandte Gottes sagte: „Beginnt das Fasten nicht, solange ihr nicht den neuen Mond gesehen habt und beendet das Fasten nicht, solange ihr den Mond seht. Wenn der Mond verborgen ist, so rechnet es aus“. Dieser ÎadÐ× wird sowohl von al-BuÌārÐ wie Muslim auf der Grundlage der Autorität des Prophetengefährten AbÙ Huraira anerkannt: „Beginnt und beendet das Fasten, sobald ihr die Mondsichel seht. Und wenn der Himmel bedeckt und eine Beobachtung des Mondes daher nicht möglich ist, vervollständigt die Anzahl der Tage im ŠaÝbÁn auf dreißig (Ferchl: ÑaÎÐÎ al-BuÌārÐ, 233). Die Frage der Sichtung des hilÁl bei Bewölkung wurde im Jahre 1981 durch ein Rechtsgutachten der Islamischen Weltliga, der RÁbiÔat al-ÝÀlam alIslÁmÐ beantwortet. In diesem Gutachten wird geraten, bei Bewölkung der Mondsichtung der „nächsten islamischen Stadt“ zu folgen.

Das islamische Mondjahr umfasst zwar 355 Tage, der Beginn jedes Monats und damit auch die genaue Anzahl seiner Tage (29 oder 30) hängt aber von der Sichtung des jeweiligen Neumondes ab. Je nach Mondsichtung kann der Fastenmonat (wie jeder andere Monat) 29 oder 30 Tage dauern. Kann der hilÁl des folgenden Monats in der Nacht vom 29. auf den 30. eines zu

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Ende gehenden Monats nicht gesichtet werden, dann gilt der 30. Tag als „Tag des Zweifels“ (swa.: siku ya shaka). Diese Regelung ist vor allem deshalb wichtig, weil das gemeinschaftliche Ritual die religiöse Identität aller Muslime definiert: So ist allen Muslimen im RamaÃÁn das Fasten geboten. An bestimmten Tagen des Jahres ist ihnen das Fasten aber auch verboten. Diese Tage sind zunächst der Freitag, der Tag des gemeinschaftlichen Gebets; sodann das Fest des Fastenbrechens; das Opferfest und die Tage des gemeinschaftlichen Feierns (arab.: tašrÐq) nach dem Opferfest (11.-13. ÅÙ l-ÎiÊÊa); sowie schließlich der „Tag des Zweifels“, der letzte Tag des Monats ŠaÝbÁn zum Beispiel, wenn die Sichel des RamaÃÁn-Mondes noch nicht gesichtet wurde, wodurch sich der Monat ŠaÝbÁn um einen Tag auf 30 Tage verlängert. Analog gilt ein Fastengebot für den letzten Tag des Monats RamaÃÁn, wenn der hilÁl des kommenden Monats (ŠawwÁl) nicht verbindlich gesichtet werden konnte: Auch in diesem Fall des „Zweifels“ gibt es die Verpflichtung zum Fasten am 30. Tag. Ein Verstoß gegen die Regeln des gemeinschaftlichen Feierns, Fastens und Nicht-Fastens mit dem Verweis auf unterschiedliche lokale Sichtungen des Neumondes wird daher als schwerwiegender Verstoß gegen das Gebot islamischer Gemeinschaftlichkeit empfunden und entsprechend verurteilt. Heute haben astronomische Berechnungen, Satellitendaten und die Uhr die zeitliche Berechnung des Beginns der Monate zwar stark erleichtert, die eigentliche und verbindliche Sichtung des Mondes aber nicht ersetzt, so dass es immer wieder zu Konflikten über die Berechnung der Monate und ihrer Festtage und zu zeitlichen „Dis-Synchronien“ kommt. Bei diesen Konflikten geht es um die zentrale Frage, welche Gültigkeit die lokale Sichtung des hilÁl für die translokale Gemeinschaft der Muslime hat. Muslimische Aktivisten und „Universalisten“ wie beispielsweise die anÒÁr alsunna2 in Sansibar schlagen vor, die lokale Sichtung des hilÁl (und auch die

2

Die Bezeichnung anÒÁr al-sunna verweist auf ein breites Spektrum muslimischer aktivistischer Gruppierungen in Sansibar, Tansania und Kenia, die sich seit Mitte der 1970er Jahre in Opposition zu regierungstreuen islamischen Dachverbänden wie etwa BAKWATA (Baraza Kuu wa) in Tansania bildeten. Viele Wortführer der ersten Generation der ansar al-sunna studierten in den 1960er und 1970er Jahren bei Scheich ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy in Sansibar und Mombasa. Auf Grund ihrer ständigen Angriffe auf vorgeblich „unislamische Neuerungen“ (arab.: bidÝa, pl. bidaÝ), meist populäre religiöse Praktiken und Feste wie die Fei-

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Methode des Zählens der Tage seit dem letzten Neumond) durch eine allgemeinverbindliche Festlegung des Monatsbeginn auf der Grundlage der astronomischen Berechnung des Neumondes zu ersetzen. Dahinter steht wiederum die Überlegung, dass die lokale Sichtung des hilÁl zwar auf der sunna des Propheten beruht und durch entsprechende Texte gestärkt wird, die astronomisch exakte Berechnung des hilÁl aber dazu beitragen würde, das „wichtigere“ Gebot des zeitgleichen gemeinschaftlichen Feierns, Fastens und Nichtfastens der globalen umma zu stärken. Muslimische Universalisten wie die anÒÁr al-sunna erkennen so zwar die grundsätzliche Gültigkeit der lokalen Sichtung des Neumondes als Teil der Sunna des Propheten an, ordnen sie aber letztendlich dem Wert der islamischen Gemeinschaftlichkeit unter, die besagt, dass es für alle Muslime nur einen ÝÐd al-ÎaÊÊ und einen ÝÐd al-fiÔr geben sollte. Das Gebot der Gemeinschaftlichkeit im Feiern und Gebet, im Fasten und Nichtfasten würde mit vielen lokalen Sichtungen des hilÁl gebrochen werden. Im Rahmen der zunehmenden technologischen Vernetzung der Welt führe eine Vielzahl lokaler Sichtungen des Mondes zu einer anachronistischen Vielfalt der religiösen Fest- und Fasttage, die angesichts der kommunikativen Vernetzung der Welt und der Geschwindigkeit des Austausches von Informationen zur Sichtung des Mondes nicht mehr vertretbar sei. Dieses „universalistische“ Argument wird dadurch verstärkt, dass muslimische Aktivisten darauf verweisen, dass viele Gemeinschaften, die sich in der Vergangenheit durch divergierende lokale Sichtungen des hilÁl auszeichneten, in der gleichen Zeitzone liegen. Schon aus diesem Grund könne man von der „Übereinstimmung der Dämmerungszeiten“ (d.h. der Zeitzonen, arab.: ittiÎÁd al-maÔÁliÝ, RL) ausgehen und eine einzige Mondsichtung innerhalb der jeweiligen Zeitzone anerkennen (van de Bruinhorst 2007: 246). Hinter diesen Fragen steht letztlich die Grundfrage, wessen ruÞya lokal akzeptiert wird (s. hierzu ausführlich van de Bruinhorst 2007: 195ff). Diese Frage steht auch im Zentrum zahlloser lokaler Konflikte, weil sich über die Frage der Sichtung des hilÁl lokale Gelehrtentraditionen mit Reformbewegungen auseinandersetzen, die gerade in symbolischen Fragen wie der Sichtung des Neumondes ihre universale Ausrichtung demonstrieren. Hinter aktivistischen und universalistischen Bewegungen wie den anÒÁr al-sunna in Sansibar steht

er des Prophetengeburtstages, der maulid al-nabÐ, wurden die anÒÁr al-sunna im Volksmund bald als „watu wa bidaa“ (Leute der bidaÝ) bezeichnet.

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wiederum häufig der Anspruch Saudi-Arabiens, als „Hüter der beiden heiligen Orte“, Mekka und Medina, auch in Fragen der Mondsichtung die alleinige und universale Rechtleitung für die gesamte Umma zu haben.3 Der Streit um die Kontrolle des Kalenders und die Festsetzung der religiösen Fest- und Feiertage drückt somit grundsätzliche gesellschaftliche Konflikte aus.

Z EIT

UND

R ITUAL

Auseinandersetzungen um die „rechte“ religiöse Zeit finden aber nicht nur in Hinblick auf die Sichtung des Neumondes statt, sondern auch in Fragen der Gebetsordnung und anderer Rituale des Islams. Häufig geht es dabei um die zeitliche Dauer des Rituals: Im RamaÃÁn praktizieren zum Beispiel die Angehörigen der ibÁÃitischen Glaubensrichtung in Sansibar eine kurze Version des tarÁwÐÎ-Gebetes, das am Abend nach dem letzten rituell vorgeschriebenen Gebet, dem ÝišÁÞ-Gebet, gebetet wird und nach gängiger sunnitisch-šÁfiÝitischer Auffassung zwanzig rakaÝÁt (Niederwerfungen) umfasst. Anstelle dieser zwanzig rakaÝÁt wird in den ibÁÃitischen Moscheen eine nur acht rakaÝÁt umfassende Version des tarÁwÐÎ-Gebetes gebetet. In jüngerer Zeit haben nun Muslime šÁfiÝitischer Ausrichtung begonnen, in der Fastenzeit in ibÁÃitischen Moscheen zu beten, und zwar mit der Begründung, das Gebet sei dort „short and straight“ (Juma Saloum al-Mughayri, 31. Juli 2004 und Umar Sheha 3. August 2004). Die Verkürzung der Gebete ist aber nicht nur ein Merkmal der alten Lehrtradition der IbÁÃiten, sondern wird in vielen Teilen Afrikas von Angehörigen jüngerer Reformtraditionen als die wahre Sunna ausgegeben (Masoud Ahmad Shani, 12. August 2004; eigene Beobachtungen in Senegal 1990-1993 und Nordnigeria 19861988). Hinter der Sympathie für das kurze Gebet steht also häufig die Ablehnung zeitintensiver Praktiken, die mit den Lehrtraditionen der Sufis ver-

3

Gegen saudi-arabische Ansprüche auf Rechtleitung in Fragen der Mondsichtung wird eingewandt, dass der hilÁl eigentlich zuerst in den östlichsten Ländern der Umma, etwa Indonesien, gesichtet wird und im Sinne einer universalen Einheit der umma die indonesische Sichtung des hilÁl anerkannt werden müsste (s. hierzu van de Bruinhorst 2007: 224).

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bunden sind, wie superogatorische Gebete, zeitintensive Beerdigungs- und Trauerrituale (s. Themenkasten 13) oder Sufi-Rituale. Themenkasten 13: Zeit und Trauerritual Die Verurteilung ausgedehnter Trauerriten ist Teil des reformistischen Diskurses in vielen muslimischen Gesellschaften. Im Sudan gibt es seit 1989 eine von den muslimischen Aktivisten geführte Kampagne gegen das Ritual des „Klagens“ (arab.: bikāÞ), wobei nicht nur ostentatives Jammern kritisiert wird, sondern auch die Dauer des Rituals und die damit verbundene zeitliche Verzögerung der eigentlichen Beerdigungszeremonien (Seesemann 2005). In Senegal widmete der Begründer der Reformbewegung Union Culturelle Musulmane, Cheikh Touré, der Verurteilung der in Senegal üblichen Trauerriten ein ganzes Kapitel in seinem Hauptwerk Le vrai et le faux: LʼIslam au Sénégal (s. Loimeier 2001: 198/199). Ähnliche Verurteilungen lokal etablierter Trauerriten finden sich im Diskurs der aktivistischen ÞYan Izala in Nordnigeria. Dabei war die Verurteilung lokal etablierter Trauerriten in Ansätzen bereits in den Schriften früherer muslimischer Reformer ein Thema, so im Werk des nordnigerianischen Gelehrten Usman dan Fodio (gest. 1817), IÎyāÞ al-sunna wa-iÌmād al-bidÝa, wo Kapitel 17 (S. 130-147) den unislamischen Neuerungen bei Beerdigungen (arab.: maqābir) und Trauerriten (arab.: ÊanāÞiz) gewidmet ist, darunter auch der Brauch des Klagens (hier: bukāÞ), der als bidÝa muÎarrama (verbotene Neuerung) bezeichnet wird (dan Fodio: 136).

Diskussionen um Fragen der Zeit haben sich in Sansibar in den letzten Jahren auch im Rahmen der Feier des Neujahrsfestes (mwaka kogwa, wörtlich, „das Jahr waschen“) in Makunduchi im Süden der Insel Unguja ergeben. Dieses Fest wurde bislang nach der Zeitregelung des alten persischen Nauruziyya-Sonnenkalenders gefeiert und wurde daher, aber auch wegen der zum Teil recht ekstatischen Festlichkeiten, von der islamischen Opposition als „unislamische Neuerung“ attackiert. Einer der wichtigsten Sprecher 4 der islamischen Opposition, NaÒÒor Bachu, hat das Neujahrsfest in

4

NaÒÒor Bachu (sein Name wird auch Nassoro Bachoo oder Nassor Pachu buchstabiert), ein Sansibari indischer Abstammung, war seit Anfang der 1990er Jahre der wichtigste Führer der anÒār al-sunna in Sansibar. NaÒÒor Bachu hat bei dem bekannten Reformgelehrten ÝAbdallāh ÑāliÎ al-Farsy (st. 1982) studiert und wurde schließlich imām der „oberen“ Moschee im Kikwajuni Viertel. Er hat ei-

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Makunduchi sogar als Götzenanbeterei (arab.: shirk, swa.: ushirikina) bezeichnet, die sich bis zu „Namrudh“ (Nimrod) zurückverfolgen lasse. NaÒÒor Bachu bestand darauf, dass es nur zwei wirkliche muslimische Festtage gäbe, nämlich den ÝÐd al-fiÔr und den ÝÐd al-ÎaÊÊ. Das mwaka kogwaFest sei nach den Vorschriften des Islam nicht rechtens (mwaka hamna she5 ria, Mohamed Saleh, 2. April 2005). Der Konflikt um das Neujahrsfest in Makunduchi erfuhr jedoch eine neue Wendung, als die Regierung Sansibars im Jahre 2002 versuchte, die Feierlichkeiten für das Neujahrsfest auf einen festen Termin im Juli zu legen, um es besser als touristisches Ereignis vermarkten zu können. Weil der persische Sonnenkalender gegenüber dem gregorianischen (Sonnen)Kalender um einen Vierteltag kürzer ist, beginnt das Jahr nach dem persischen Kalender aber alle vier Jahre einen Tag früher. Auf diese Art und Weise kam es in Sansibar mit der Zeit zur schrittweisen Vorverlegung des Neujahrbeginns gegenüber dem gregorianischen Kalender auf den 22. Juli im Jahre 2001 (im Jahre 2009 fand das Fest am 20. Juli statt). In Reaktion auf diesen Versuch der Regierung, den Zeitpunkt des mwaka kogwa dauerhaft festzulegen, schlugen sich die anÒār al-sunna auf die Seite des Ältestenrates in Makunduchi, der in Widerspruch zur Regierung Sansibars darauf bestand, dass weiterhin der Nauruziyya-Kalender gelten sollte. Um sich der Vereinnahmung durch die Regierung zu entziehen, schob der Ältestenrat von Makunduchi im Jahre 2002 anlässlich eines Besuches des Präsidenten sogar das Gebet vor, um sich der geplanten Instrumentalisierung des Festes für den Tourismus zu entziehen. Dies wurde wiederum von den anÒār al-sunna mit der Bemerkung kommentiert, dass selbst die „Götzendiener“ (arab.: mušrikÙn) in Makunduchi „islamischer“ seien als die Regie-

ne 165-seitige Abhandlung mit dem Titel Ufafanuzi wa mgogoro wa kuandama kwa mwezi (Erläuterung zum Disput über den Beginn des Monats; n.p., 1998) über die Frage der Sichtung des Mondes verfasst, die dem Autor jedoch nicht zugänglich war. Versuche, diesen Text bei den Buchhändlern Sansibars zu erwerben, scheiterten an der Tatsache, dass der Text vergriffen war. 5

Damit ist aber auch gemeint, dass es im Rahmen des Festes zu „unmoralischen Handlungen“ kommt. S. die Darstellung des Mwaka Kogwa in an-Nuur vom 26. Juli 2001: Epukeni ushirikina wa Mwaka Kogwa („Lasst uns von den götzendienerischen Praktiken des mwaka kogwa Abstand nehmen“).

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rung Sansibars (Issa Ziddy, 23. Juli 2002).6 Das mwaka kogwa Fest zeigt erneut, dass Auseinandersetzungen um die Zeit, hier den Kalender, leicht eine politische Dimension erlangen können und Zeitkonflikte Fragen der Macht und der gesellschaftlichen Deutungshegemonie spiegeln.

D ER K ONFLIKT UM DIE IN S ANSIBAR

S ICHTUNG DES N EUMONDES

Während die Diskussion um das tarÁwÐÎ-Gebet noch akademische Züge trug und die Debatte um das mwaka kogwa die Fähigkeiten der islamischen Opposition zu überraschenden Positionswechseln offenbarte, hat sich in Sansibar die Auseinandersetzung um eine weitere Dimension „religiöser Zeit“, nämlich die Festsetzung der religiösen Festtage, insbesondere im Fastenmonat RamaÃān, und damit verbunden das Problem der Sichtung des Mondes seit den 1980er Jahren zu einer anhaltend scharfen Debatte zwischen den muslimischen Aktivisten und dem MuftÐ entwickelt, dessen Amt viele Sansibaris als ein politisches betrachten: Der MuftÐ sei für die „Kontrolle“ der Muslime zuständig (F.S. Soraga, 22. Mai 2007) und für die Umsetzung der Regierungspolitik im religiösen Bereich. Den MuftÐ zu kritisieren bedeutet daher in Sansibar auch immer wieder, die CCM-Regierung zu attackieren. Besonders deutlich wurde der Konflikt zwischen den muslimischen Aktivisten und dem MuftÐ in Hinblick auf die Sichtung des Mondes und die damit verbundene Festlegung der Festtage, insbesondere im RamaÃÁn mit dem ÝÐd al-fiÔr und im Pilgermonat ÅÙ l-ÎiÊÊa mit dem ÝÐd alÎajj. Im Kontext dieser Auseinandersetzungen wurde der MuftÐ von der islamischen Opposition Sansibars beschuldigt, ein Büttel der Regierung zu sein und sich in religiöse Angelegenheiten einzumischen, die nicht von einer sozialistischen und säkularen Regierung, sondern von den Muslimen selbst geregelt werden sollten. Die muslimischen Aktivisten verlangten insbesondere, dass die Muslime in Sansibar, ähnlich wie in Kenia und auf dem tansanischen Festland, in Hinblick auf die Sichtung des Mondes der universalen „Mekka-time“ folgen sollten und zwar nicht nur, weil Saudi-Arabien

6

Zum rituellen Ablauf und zur Ritualgeschichte des mwaka kogwa s. Echtler 2006.

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die qibla, der Orientierungspol aller Muslime sei, sondern auch weil SaudiArabien tatsächlich in der gleichen (geographischen) Zeitzone wie Sansibar liege. Der MuftÐ bestand hingegen auf der Unabhängigkeit der religiösen Gelehrten in Sansibar und ihrer Handlungsautonomie (gegenüber SaudiArabien), die sich in der lokalen Sichtung des Mondes äußerte (al-Ghaythi, 2. September 2002). Die Frage der Sichtung des Mondes wurde so in Sansibar zu einem Thema, über das unterschiedliche religiöse und politische Positionen kontrovers präsentiert werden konnten. Der Zeitkonflikt, der sich an der Frage der lokalen oder universalen Sichtung des Mondes entzündete, verweist aber auch auf weiterreichende gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen in Sansibar und belegt, wie stark die „religiöse Zeit“ in einer Gesellschaft wie Sansibar mit anderen gesellschaftlichen Feldern verbunden ist (Farouk Topan, 23. Mai 2001; Ahmad Mgeni, 22. März 2003; Purpura 1997: 221; eigene Beobachtungen 2001-2009). Die Auseinandersetzung um die Sichtung des Mondes hatten in den frühen 1980er Jahren begonnen und erreichten im Jahre 2001 einen vorläufigen Höhepunkt, als Sicherheitskräfte zwanzig führende Mitglieder der aktivistischen Jumuiya ya Uamsho verhafteten, weil sie „zu früh“ gebetet hatten (van de Bruinhorst 2005): Sie hatten konkret den RamaÃān einen Tag vor der offiziellen Ankündigung des Fastenbeginns durch den MuftÐ begonnen. Eine weitere Eskalation folgte 2003, als die anÒār al-sunna den ÝÐd al-Îajj am 11. Februar feierten, während der MuftÐ erneut erst den darauf folgenden Tag als „public holiday“ festgelegt und die Bevölkerung gewarnt hatte, dass alle, die sich nicht an diese Regelung hielten, „einen großen Fehler machen würden“ (atakayekwenda kinyume cha agizo hilo atakuwa anatenda kosa kubwa; zitiert in: van de Bruinhorst 2005). Als die muslimischen Aktivisten daraufhin gegen diese Entscheidung des MuftÐ im Rahmen einer nicht genehmigten öffentlichen Kundgebung, einer mihadhara, protestierten, setzte die Regierung Spezialeinheiten der tansanischen Polizei (sogenannte „field force“-Einheiten) gegen die Demonstranten ein. Diese patrouillierten in militärischer Kampfuniform durch die historische Altstadt Sansibars, schüchterten die Bevölkerung ein und verprügelten unter anderem die baraza in „Jaws’ Corner“. Die islamische Opposition protestierte gegen diese Maßnahmen und hielt am folgenden Freitag eine weitere Kundgebung auf dem Malindi Sportplatz nahe des Darajani-Marktes ab, die jedoch erneut von der tansanischen „field force“ mit Tränengas auf-

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gelöst wurde.7 Das Ausmaß der Gewalt gegenüber den Demonstranten schockierte die Öffentlichkeit und führte zu einer entsprechend ausführlichen Berichterstattung in den Medien, sodass der MuftÐ schließlich gezwungen war, weitere Kundgebungen der islamischen Opposition zuzulassen.8 Die Freitags-Kundgebungen in Malindi wurden nun friedlicher und hatten bereits am folgenden Freitag Volksfestcharakter. Nur wenige Teilnehmer hörten den Reden der muslimischen Oppositionsführer wirklich zu, viele Sansibaris nutzen die Gelegenheit, auf der verkehrsfreien Creek Road zu flanieren. Im Oktober 2003 akzeptierte der MuftÐ vor Beginn des Fastenmonats schließlich, dass die Anhänger der islamischen Opposition an einem anderen Tag mit dem Fasten begannen, verfügte aber, dass sie ihr ÝÐdGebet nur innerhalb ihrer Moscheen abhalten durften (Issa Ziddy, 28. Oktober 2003). Außerdem wurden die öffentlichen Kundgebungen der muslimischen Aktivisten in Malindi untersagt und nach Saateni auf die Sportanlage der Lumumba Secondary School verlegt. Der eigentliche Streitpunkt, die Frage der Sichtung des Mondes und der Festlegung der Festtage, war jedoch nach wie vor nicht gelöst und beschäftigte auch in den Jahren 2004, 2005 und 2006 die sansibarische Öffentlichkeit.9 Nach Auseinandersetzungen zwischen der islamischen Opposition

7

In der Wochenzeitung Dira wurde diese Auseinandersetzung bereits am 14. Februar 2003 in einem Artikel mit dem Titel Mufti akandamiza waislamu („Der MuftÐ bringt die Muslime unter Kontrolle“) kommentiert.

8

Diese Entwicklungen wurden in der Wochenzeitung an-Nuur vom 28. Februar 2003 unter dem Titel Muhadhara leo uko pale pale („Die Kundgebung findet heute am gleichen Ort statt“) berichtet.

9

Zur Diskussion der Öffentlichkeit (public sphere) in afrikanischen muslimischen Kontexten s. Launay/Soares 1999 und Soares 2005. Ihre Überlegungen beziehen sich auf die von Jürgen Habermas entwickelte Definition der (bürgerlichen) Öffentlichkeit, die, so Habermas, die freie Zirkulation der Informationen und Ideen außerhalb der Kontrolle des Staates zulässt (Habermas 1990: 86ff). In Bezugnahme auf Habermas argumentieren Launay und Soares, dass es auch im französischen kolonialen Westafrika so etwas wie eine öffentliche Sphäre gegeben habe, die allerdings nicht „bürgerlich“, sondern „islamisch“ war. Sie definieren diese Öffentlichkeit als „space conceptually separate (though obviously not entirely autonomous) from particular (meine Hervorhebung, RL) affiliations...but also from the colonial (and later the post-colonial) state, a space that was conse-

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und Sicherheitskräften am 5. März 2004 aufgrund eines erneuten Disputs um den „rechten“ Termin für den ÝÐd al-ÎaÊÊ, wurde sogar eine Gruppierung der anÒār al-sunna, die Jumuiya ya Uamsho, verboten und ihre Führung verhaftet. Erst 2007 gab es vor Beginn des Fastenmonats Mitte September zum ersten Mal seit Jahren keinen Streit mehr über die Sichtung des Mondes und den Beginn des Fastens (eigene Beobachtungen, JuliSeptember 2007). Dies lag offensichtlich daran, dass die Bevölkerung der andauernden Diskussionen über dieses Thema müde war und die alljährlichen Streitigkeiten zu nichts geführt hatten (Mw. Idris, 10. September 2007). Gleichzeitig haben sich die muslimischen Aktivisten 2007 auf ein anderes Thema konzentriert, nämlich die ihrer Ansicht nach ausschweifenden dreitägigen Festlichkeiten anlässlich des ÝÐd al-fiÔr zu Beginn des Monats ŠawwÁl, die in Sansibar, wie auch in anderen Teilen der islamischen Welt ausgesprochenen Volksfestcharakter tragen. Die unterschiedlichen Gruppierungen der anÒÁr al-sunna in Ostafrika können über ihr Beharren auf der „Mecca time“ letztendlich als Vertreter des „global now“ in muslimischem Gewand gesehen werden und zwar, weil der universale Gültigkeitsanspruch der „Mecca time“, der von den anÒÁr al-sunna mit dem Verweis auf die Einheit der Umma begründet wird, auf einer computer- und satellitengestützten Zeitberechnung beruht, die sich nicht mehr auf eine religiöse, sondern eine technologische und wissenschaftsrationale Berechnungsgrundlage bezieht. Durch sein Beharren auf der lokalen Sichtung des Mondes als Grundlage für die Festlegung des Fastenmonats und andere islamische Festtage kann der MuftÐ von Sansibar in diesem spezifischen Konfliktfall als Vertreter einer „vormodernen“ islamischen Zeitkonzeption verstanden werden, die einen konkurrierenden legitimatorischen Bezug zu den maßgeblichen Quellen des Islam herstellt, der durch den Verweis auf die Bedeutung der Prophetenüberlieferungen für die Sichtung des Mondes gegenüber den Ansprüchen der islamischen Opposition sogar als gewichtiger erscheinen mag. Dieser legitimatorische Bezug

quently hotly contested, in particular, with respect to the definition of public ritual, the fixing of dates and religious holidays, the public modes of prayer, etc., or ‘Islam’ as such” (Launay/Soares 1999: 468ff; 483). Diese islamische öffentliche Sphäre, die von der kolonialen, staatlichen Öffentlichkeit getrennt war, bildete sich im Kontext eines anhaltenden Kampfes um Deutungshegemonie im öffentlichen Raum heraus.

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auf die grundlegenden Quellen des Glaubens wird gegenüber den Ansprüchen der muslimischen Aktivisten dadurch gestärkt, dass sowohl im ÎadÐ× wie im fiqh die lokale Sichtung des Mondes als oberster Maßstab für die Setzung der Zeiten gesehen wird. Von einer Deutungshegemonie des obersten saudischen Gelehrtenrates ist dort nichts zu lesen.

6.

Die „Uhrzeit“ in Sansibar

D IE M ODERNISIERUNG S ANSIBARS Prozesse der Modernisierung im Afrika des 19. und 20. Jahrhunderts werden in der Literatur meist mit der europäischen Kolonisation und kolonialen Entwicklungsvorhaben assoziiert. Afrikanische Modernisierungsschritte werden dabei vor allem als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus verstanden. Nur in wenigen historischen Fällen werden genuin afrikanische Modernisierungsinitiativen anerkannt, so etwa in Ägypten unter MuÎammad ÝAlÐ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (s. hierzu al-Sayyid Marsot 1984) oder in Äthiopien unter Kaiser Menilek II. seit den 1880er Jahren (s. hierzu Zwede 2001). Auch das Sultanat Sansibar gehörte im 19. Jahrhundert zu diesen Ausnahmen. Ein wesentliches Merkmal der Modernisierung Sansibars war die Einführung der Uhr und der „Uhrzeit“ seit den 1870er Jahren. Unter britischem Protektorat wurde die Uhrzeit ab 1896 im Rahmen einer entsprechenden Dekrete-Ordnung im Lebensalltag Sansibars etabliert. Die Einführung der Uhrzeit war vor allem für das Funktionieren kolonialer Verwaltungsabläufe, aber auch für das koloniale Schulwesen von grundlegender Bedeutung. Darüber hinaus war die Uhrzeit mit britisch-kolonialen Pünktlichkeitsvorstellungen verbunden, die sich in einzelnen Aspekten durchaus als eine Form britischer „mission civilisatrice“ darstellten. Die Einführung der Uhrzeit in Sansibar erfolgte zunächst aber vor dem Beginn kolonialer Herrschaft in den 1890er Jahren und wurde daher von vielen Sansibaris als Leistung der (muslimischen) Sultane gesehen. Weil die Sultane noch weitgehende politische Handlungsautonomie nach innen und außen hatten und die muslimischen religiösen Gelehrten ihre Politik der Modernisierung mittrugen, können die 1870er und 1880er Jahre als eine

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„islamische Moderne“ Sansibars bezeichnet werden. Die Modernisierungspolitik der sansibarischen Sultane, insbesondere BarÈaš (reg. 1870-1888), beinhaltete neben der Sanierung der Altstadt und einer Reihe militärischer und bürokratischer Reformen vor allem die Integration Sansibars in das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende globale Kommunikationsnetz und das System der Weltzeitzonen (s. unten). Bald wurde Sansibar auch von vier Post-, Fracht- und Passagierdampfer-Linien angelaufen, nämlich von der British India Steam Navigation Company, die Sansibar seit 1872 mit Bombay, ÝAden und Suez verband, von den französischen Messageries Maritimes (ab 1888), der portugiesischen Mala Real-Linie (ab 1889, seit 1893 Union-Linie) und der Deutschen Ostafrika-Linie (ab 1890). Gleichzeitig liefen die Schiffe des Sultans Häfen innerhalb und außerhalb des Indischen Ozeans an: Bereits 1840 und 1842 hatte Sultan SaÝÐd b. SulÔÁn den Frachtensegler „SulÔÁna“ unter Kapitän AÎmad b. NuÝmÁn nach London und New York, später Marseille, entsandt, um die Möglichkeit eigener Handelsverbindungen nach Europa und Nordamerika zu erkunden (Sheriff 1987: 101). Nach dem vernichtenden Zyklon des Jahres 1872 baute Sultan BarÈaš eine neue Flottille von sechs Dampfschiffen auf, die sowohl die Küstenorte Ostafrikas anfuhren, als auch die Verbindung nach ÝAden und Bombay herstellten und dem Sultanat mit dem Transport von MekkaPilgern zusätzliche Einkünfte verschafften (Sheriff 1995: 75). Im gleichen Jahr wurden die ersten Telegraphenkabel von der Eastern and South African Telegraph Company in Sansibar verlegt1 und 1879 folgte ein Telegraphenkabel nach ÝAden, womit Sansibar direkt an das globale Kommunikationsnetzwerk angeschlossen war und Nachrichten zeitnah übermittelt werden konnten (Beachey 1996: 63). Der Prozess der Integration Sansibars in ein neues, von europäischen Kolonialmächten definiertes Kommunikationsund Ordnungssystem wurde durch das rasch wachsende Telegraphen- und Telefonnetz noch verstärkt.2 Die Bedeutung der simultanen Kommunikati-

1

ZNA AB 42/3 (Telegraph Decree).

2

Das erste Telefon wurde 1905 installiert und seit 1923 wurde der Aufbau eines Telefonnetzes per Dekret geregelt (ZNA AB 42/6). Im Jahre 1931 gab es in Sansibar 226 Telefone (ZNA AB 42/10), sieben davon im Sultanspalast, elf am Sitz des britischen Residenten, sieben in dessen Sekretariat sechs in der Provinzverwaltung und 195 in weiteren Regierungseinrichtungen. Bis 1947 gab es aber kein Telefonbuch für Sansibar (ZNA AB 42/14).

6. D IE „UHRZEIT “ IN S ANSIBAR | 89

on über das weltweite Telegraphennetz und die damit verbundene Beschleunigung der Kommunikation zeigt sich deutlich im Rückblick auf die Berichterstattung über den Zyklon, der im April über die Insel Unguja hinweg gezogen war,3 aber erst am 1. Juni 1872 in den Illustrated News in London als Nachricht zur Kenntnis genommen wurde. Abb. 6: Eine von vielen Wanduhren im Sultanspalast (Foto Roman Loimeier)

3

Vermutlich um den 20. April; darauf deuten entsprechende Meldungen des britischen Generalkonsuls in Sansibar, Sir John Kirk, datiert auf den 22. April 1872, an britische Behörden in Bombay hin (PRO FO84/1357). D.h. der Zyklon fand in der Zeit „zwischen den Monsunen“ statt: der Nordost-Monsun (kaskasi), normalerweise von November-März, war bereits zu Ende, der Südwest-Monsun (kusi), normalerweise von Mai bis September, hatte noch nicht eingesetzt. S. hierzu Siravo 1996: 18 und Sheriff 1987: 234.

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D IE E INFÜHRUNG

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U HRZEIT

IN

S ANSIBAR

Die Etablierung der Uhrzeit (swa.: wakati wa saa) in Sansibar begann im Jahr 1875, als Sultan BarÈaš von einem Staatsbesuch bei Khedive IsmÁÝÐl in Ägypten zurückkehrte und von dieser Reise zahlreiche Wand- und Standuhren mitbrachte. Diese wurden in Sansibar in den Palästen und Häusern des Sultans aufgestellt und entwickelten sich rasch zu Prestigeobjekten, weil die reichen Araber und Inder nun auch „ägyptische“ Uhren haben wollten. Der Bau des Leucht- und Uhrturms (swa.: saa ya mnara) im Jahre 1879 symbolisierte die Einführung der Uhrzeit auch im öffentlichen Raum. Diese Entwicklung wurde mit der Integration Sansibars in globale Kommunikationsnetzwerke weiter beschleunigt. Die etablierten Zeitordnungen Sansibars und die mit ihnen verbundenen Praktiken, etwa die Sichtung des Mondes, wurden von nun an mit einer neuen physikalisch-abstrakten Zeitmessung konfrontiert, die von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Zeitlandschaft Sansibars wurde. Die Einführung der Uhrzeit in Sansibar kann dennoch als ein innermuslimischer Modernisierungsschritt bezeichnet werden, denn nicht der ursprüngliche Produktionsort der Uhren (England, Schweiz) war für die Sansibaris entscheidend, sondern die ägyptische Vorreiterrolle bei der Modernisierung der Gesellschaft (Pouwels 1987: 127 und Ruete 2000: 24; 48ff). Der Blick auf den Zeitbruch des Zyklons und das britische Bombardement 1896 (s. unten) sowie der damit offenbar werdende Verlust der politischen Handlungsautonomie des Sultanats sollte somit nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die eigentliche Modernisierung Sansibars nicht erst in der britischen Kolonialzeit, sondern unter den Sultanen Sansibars in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann. Die britische Protektoratsverwaltung führte letztendlich nur fort, was die Sultane begonnen hatten. Dabei hatten die Briten, wie zuvor auch schon die Sultane, die Unterstützung der religiösen Gelehrten, die durchaus am „Gehen mit den Zeiten“ (swa.: kwenda na wakati) interessiert waren, solange sie diesen Wandel mitbestimmen konnten. Die Tatsache, dass die Modernisierung der sansibarischen Gesellschaft von den Sultanen Sansibars begonnen und von den religiösen Gelehrten befürwortet wurde, erklärt möglicherweise auch, warum die von der späteren britischen Protektoratsverwaltung durchgeführten Modernisierungsmaßnahmen, etwa der Aufbau des Telefon-Netzwerkes, die vom Sultan gegengezeichnet und öffentlich verantwortet wurden, in Sansi-

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bar keine „Modernisierungs-Revolten“ auslösten und religiöse Gelehrte in Sansibar bis in die 1960er Jahre keine Kritik an der Modernisierung der Gesellschaft übten.4 Zudem erfolgten viele Modernisierungsschritte über einen langen Zeitraum: Die Etablierung der Uhrzeit begann zwar bereits in vorkolonialer Zeit, aber im Alltagsleben der Sansibaris erlangte das Uhrzeitregime nur langsam und vorläufig nur in einigen wenigen Lebensbereichen, etwa in der Verwaltung, eine alltägliche Wirkmächtigkeit. Abb. 7: Der Uhrturm Sansibars im Jahre 1879 (Ansichtskarte)

„Uhrzeit“ erlangte für die Bevölkerung Sansibars aber schon bald eine zusätzliche und schockierende Bedeutung, als die britische Marine am 27. August 1896 den auf Unabhängigkeit bedachten Sultan von Zanzibar, ËÁlid b. BarÈaš, mit Hilfe eines Ultimatums zum Rücktritt zwang. Hintergrund dieser Ereignisse war der Tod des pro-britischen Sultans ÍamÐd b. ÕwaynÐ am 25. August 1896. Ihm sollte nach britischen Überlegungen ÍamÙd b. MuÎammad folgen, dessen Unterstützung sich die Briten ebenfalls sicher sein konnten und der zudem als ältester männlicher Nachkomme in der

4

In Kenia oder in Nordnigeria führte die koloniale Modernisierungspolitik hingegen durchaus zu Protesten religiöser Gelehrter.

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Thronfolge Priorität hatte. Die Übergabe der Regierungsgeschäfte an ÍamÙd b. MuÎammad scheiterte jedoch, als sein jüngerer Bruder ËÁlid mit Unterstützung der Palastgarde und zahlreicher führender arabischer Familien und religiöser Gelehrter am Morgen des 26. August 1896 den Palast besetzte. Als sich der amtierende britische Konsul Cave weigerte, die Frage der Nachfolge mit ËÁlid zu diskutieren, proklamierte er sich selbst am 26. August 1896 zum neuen Sultan. Daraufhin bezogen drei vor Sansibar liegende britische Kriegsschiffe Position vor dem Sultanspalast, in und vor welchem 2.700 Soldaten und bewaffnete Gefolgsleute von Sultan ËÁlid Stellung bezogen hatten. Auch das einzige verbliebene Kriegsschiff Sansibars, die „Glasgow“, lag vor dem Sultanspalast vor Anker. Am 27. August 1896 stellte die britische Admiralität unter Konteradmiral Rawson Sultan ËÁlid um 7 Uhr morgens (7am) ein Ultimatum, die Flagge einzuziehen und sich zu ergeben, andernfalls würden die britischen Schiffe um 9 Uhr morgens (9am) das Feuer eröffnen. Der Weigerung des Sultans ËÁlid, sich diesem Ultimatum zu beugen, folgte ein vierzigminütiger Beschuss des Sultanspalastes, der, so das „Guiness Book of Records“, den bislang „shortest war on record“ darstellte (Martin 1978: 41), bis sich Sultan ËÁlid in den Schutz der deutschen Vertretung auf Sansibar begab und den Briten das Feld überließ (Schneppen 1999; 2003: 446). Bei der Beschießung der Palastgebäude fanden 300-500 Menschen den Tod, die Palastgebäude wurden erheblich, der Uhrturm vollständig zerstört (Pouwels 1987: 166).

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Abb. 8: Der Uhrturm von Sansibar nach seiner Zerstörung 1896 (Ansichtskarte)

D IE E TABLIERUNG DER U HRZEITORDNUNG

KOLONIALEN

Nach der vollständigen Machtübernahme der Briten 1896 etablierte sich die Uhrzeit als neues Zeitregime der Protektoratsverwaltung und ihrer Behörden und wurde über die Installation von öffentlichen Uhren etwa im Hafen sichtbar gemacht. Der Uhrturm wurde wieder aufgebaut, nun aber in das bait al-ÝaÊÁÞib integriert (Siravo 1996: 18). Auf Grund der wachsenden Zahl öffentlicher Uhren wurde 1910 schließlich ein Reglement bezüglich der Wartung, des Aufziehens und Reinigens der Uhren in Regierungsgebäuden nötig, eine Aufgabe, die dem Uhrmacher Abdulhusen (sic) b. IbrÁhÐm Pishori übertragen wurde, der seit 1888 in Regierungsdiensten stand und ins-

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besondere die Uhren des Sultans wartete (ZNA AB 39/333). Ab 1910 wurde er auch für die „britischen“ Uhren zuständig, eine Aufgabe, die sich im Jahre 1922 auf 30 kommunale Uhren sowie die große Uhr auf dem bait alÝaÊÁÞib (swa.: saa ya mnara), die Gerichts- und Marktuhren bezog. In Hinblick auf die Wartung dieser Uhren wurde in einer Verlautbarung des Jahres 1931 zur Auflage gemacht, „that they chime to strike hours, halves and quarters“. Anfang der 1930er Jahre oblag Pishori die Wartung aller Uhren im bait al-ÝaÊÁÞib; der Uhr des Uhrturms des bait al-ÝaÊÁÞib; der Uhr im Zollamtsgebäude in Forodhani; der Uhr beim Buchclub in Shangani, nahe beim obersten Gericht; der Uhr in den „Victoria Gardens“, der Uhr am Stallgebäude, der Uhr am obersten Gerichtshof und der vier Uhren in der Residenz. Im Jahre 1935 war die Zahl der Regierungsuhren auf 54 gestiegen: fünf in der Residenz, vier im Sekretariat, drei im Elektrizitäts- und Wasseramt, 19 im Büro des „Police Commissioner“, fünf im „Public Works Department“, zwei im Schatzamt, zwei im „Audit Chamber“, drei in der Hafenmeisterei, fünf im „Police Department“ und jeweils eine am Signalturm, im Council Chamber, am Turm des Gerichtsgebäudes, im Büro des Attorney General, am Uhrturm der Stallgebäude und am Uhrturm des Zollamtsgebäude.5 Ein zentraler Punkt im Schriftwechsel zwischen Pishori und der britischen Verwaltung war das konstante und turnusgemäße Aufziehen der Uhren, eine Aufgabe, für die Pishori ab 1. Januar 1937 sogar einen regulären Vertrag von der Protektoratsverwaltung bekam, obwohl er entgegen seiner Wünsche nicht als deren Angestellter anerkannt wurde.

5

ZNA AB 39/333 (government clocks).

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Abb. 9: Die Uhr am Gerichtsgebäude in Sansibar, c. 1950er Jahre (Capital Arts Studio)

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D IE AUFHEBUNG

DER

T AG /N ACHT -S CHEIDE

Die Umsetzung des kolonialen Zeitregimes wurde von einer Reihe grundlegender Maßnahmen flankiert, etwa der Einführung der nächtlichen Beleuchtung der Gassen Sansibars. Die nächtliche Beleuchtung betraf wiederum einen zentralen Aspekt der Eigenzeitlichkeit Sansibars, nämlich die Tag/Nacht-Scheide. Mit der schrittweisen Einführung des elektrischen Lichts (ab 1883 im Sultanspalast und im bait al-ÝaÊÁÞib) und der Beleuchtung der Gassen Sansibars mit Gaslampen begann ein Prozess der Aufweichung der Tag-/Nachtscheide, der zunächst insbesondere das soziale Leben in der Stadt Sansibar veränderte: Die Beleuchtung der Gassen ermöglichte beispielsweise die zeitliche Ausdehnung der öffentlichen und sozialen Interaktion, etwa in Gestalt der baraza, bis tief in die Nacht hinein. Trotzdem stellt die natürliche Tag/Nachtscheide bis heute die zentrale Grundlage für die Berechnung der „Swahili“-Zeit dar. Die Einführung der nächtlichen Beleuchtung der Gassen war mit einer Reihe von Verordnungen verbunden, die für die Durchführung der entsprechenden Maßnahmen und für Sanktionen im Falle von Verstößen sorgten. Bereits seit dem Jahre 1897 hatten alle Hausbesitzer für die Beleuchtung ihres Straßenabschnittes zu sorgen. Der vom britischen Residenten Arthur H. Hardinge unterzeichnete entsprechende Erlass lautete wie folgt: „Every British subject or British Protected person being the occupier of a house in the towns of Chaki-Chaki, Weti and Jamangone in the island of Pemba shall maintain a light over the front door of his house from sunset to sun6 rise“. In einem weiteren Erlass vom 15. Juni 1898 dekretierte A.E. Raikes, der First Minister der Protektoratsregierung Sansibars, wenn auch noch ohne Bezug auf feste Uhrzeiten:

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Zanzibar Order in Council 1897 Decree, Section 47, ZNA AW 62/176; Im Street Cleaning and Lighting Decree des Jahres 1924 (ZNA AB 5/32) wurde festgestellt, dass 3076 Häuser in Sansibar der Verpflichtung unterlagen, für die Beleuchtung ihres Straßenabschnittes zu sorgen. 1924 zählte die Altstadt etwa 1.300 Gebäude in Privatbesitz und ca. 400 öffentliche Gebäude: Moscheen, Schulen, Regierungsgebäude etc.; die unterschiedlichen Viertel von Ng’ambo hatten bereits 1892 rund 9.000 Gebäude (Siravo 1996: 21; 87).

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It is hereby given that all subjects of H.H. the Sultan, driving, riding, drawing or pushing any wheeled vehicle or riding a bicycle or tricycle through the streets of Town of Zanzibar or in or upon the public roads on the island of Zanzibar, between half an hours after sunset and half an hour before sunrise must carry proper and sufficiently lighted lamps. Any person infringing this regulation will be prosecuted before the proper authority and liable to a fine not exceeding Rs. 500 or imprisonment not exceeding 6 months (ZNA AW 62/176).

Neben der nächtlichen Beleuchtung der Gassen und Straßen und der Fahrzeuge, selbst der Fahrräder, bildeten zahlreiche weitere Dekrete den rechtlichen Rahmen für das neue Uhrzeitregime. Im Einzelnen war dies der Disposal of Malindi Power Station Decree (ZNA AB 6/6), der die öffentliche Stromversorgung Sansibars betraf; der Wireless Broadcasting Decree (ZNA AB 5/93), der die Einführung des Radios in Sansibar im Jahre 1924 regelte; der Street Cleaning and Lighting Decree des Jahres 1924 (ZNA AB 5/32); die Electricity Bills (ZNA AB 6/35,36) und der Street Lighting Decree des Jahres 1935 (ZNA AB 6/56); der Electric Regulations Decree (ZNA AB 6/33) und schließlich die Lighting Control Rules des Jahres 1938 (ZNA AB 6/34), welche die Verdunkelungen im Kriegsfall reglementierten. Der Electricity Decree des Jahres 1923 (ZNA AB 6/31) hielt dabei beispielsweise fest: Whoever maliciously causes energy to be wasted or diverted or with intent to cut off the supply of energy cuts or injures or attempts to cut or injure any electric supply line or works shall be punishable with imprisonment for a term which may extend to two years or with a fine which may extend to one thousand rupees. Whoever maliciously extinguishes any public lamp shall be punishable with imprisonment for a term which may extend to six months or with a fine which may extend to three hundred rupees or both.

Ein gutes Beispiel für die Bemühungen der britischen Protektoratsverwaltung, diese Dekrete durchzusetzen, selbst wenn Angehörige der eigenen Verwaltung betroffen waren, stellte der Fall von G.B. Johnson dar: George Benjamin Johnson wurde 1884 in Galway, Irland geboren, und an der Devonport High School erzogen. Von dort wechselte er an das St. Paul’s College in Cheltenham und schließlich an das University College London. Seit 1920 war er Leiter der Government Central School in Zanzibar, seit 1923

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Chief Inspector of Schools. Er diente in der sansibarischen Protektoratsverwaltung bis zum Jahre 1939. Am 16. Oktober 1922 wurde G.B. Johnson von einem Polizisten, SulaimÁn b. SaÝÐd, um halb zwei Uhr Nachts (1.30am) angehalten und beschuldigt, „to have been riding a bicycle without a light“ (ZNA AB 86/26), und dies auf der Main Street in der Nähe des Postamts. Ein anderer Polizeibeamter, S.I. SulÔÁn AÎmad nahm diesen Fall und die Schilderung des Falles durch SulaimÁn b. SaÝÐd wie folgt zu Protokoll: I asked him (dh. den Beschuldigten, G.B. Johnson, RL) to give his name and he said his name was Molloy. I told him that I knew Molloy and he was not him. He then again said his name was B. Molloy while in fact his name was not Molloy but Mr. Johnson as I know him. The accused did hereby commit an offence under section 188 of the Penal Decree by giving me false information with intent to induce me to do or to omit what I would otherwise have done and pray that summons be issued against him for 19th inst. (ZNA AB 86/26).

In der Folge entwickelte sich diese zunächst unscheinbare Affäre zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen der britischen Protektoratsverwaltung und G.B. Johnson. Zunächst erkundigte sich sein direkter Vorgesetzter, der Director of Education (DoE), Hendry, nach dem Fall und kam zum Ergebnis, dass die Anschuldigungen im Wesentlichen zutrafen: „Mr. Johnson deeply regrets the unfortunate occurance and has, I think, realized that this sort of thing must not be repeated“. In der Folge verfasste G.B. Johnson am 20. Oktober 1922 einen Entschuldigungsbrief an den DoE, in welchem er seine Sicht des Falles noch einmal darstellte: [...] I was attempting to mount my bicycle without a light. My lamp had gone dry and I could not get it to burn. I also gave the police a fictitious name. I am not able to put forward any explanation in extenuation of this conduct. I very sincerely apologize for the incident and undertake that there will be no recurrence of such conduct on my part. In these circumstances I can only hope that the British Resident will take as lenient a course as may be possible (ZNA AB 86/26).

Dieser Brief wurde als vertrauliche Angelegenheit an den Chief Secretary der Protektoratsverwaltung weitergeleitet, der wiederum G.B. Johnson in einer weiteren Stellungnahme beschied:

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Sir, [...] the gravity of your offence lies in your having endeavored to deceive the Police as to your identity, an act which should be beneath the dignity of any Government official, and is particularly reprehensible in your case, engaged as you are in the training of the youth of this Protectorate whose respect it is so essential that you should foster and maintain. The British Resident has consequently had seriously to consider the question as to whether you are a fit person to be allowed to occupy the post of Acting Head of the Education Department during the absence of Mr. Hendry, but, in view of your evident realization of the seriousness of your behaviour and the undertaking you have given that your future conduct shall be such as to give no cause for complaint he has decided that it will be sufficient in the present case to stop your next increment for a period of three months. I am to warn you, however, that should your future behavior fail to be exemplary in all respects you will render yourself liable to immediate suspension (ZNA AB 86/26).

Angesichts dieser deutlichen Verwarnung bat G.B. Johnson einige Tage später um ein Treffen mit dem Residenten, um zu verhindern, dass diese Angelegenheit in seine Personalakte aufgenommen wurde. Der Resident lehnte dies aber ab und teilte seine Entscheidung in einem weiteren Schreiben auch DoE Hendry mit. Die Unzahl der oben genannten Dekrete und das Disziplinarverfahren gegen G.B. Johnson zeigen exemplarisch, dass die Umsetzung des kolonialen Zeitregimes mit der Umsetzung einer neuen Rechtsordnung verbunden war, an die sich nicht nur die Sansibaris, sondern auch die Briten selbst bei der Strafe von Sanktionen zu halten hatten.

U HRZEIT

UND

D ISZIPLIN

Die Durchsetzung des neuen Uhrzeit-Regimes im öffentlichen Leben war also mit zahlreichen Disziplinierungsmaßnahmen verbunden, die früh zu Konflikten um die „rechte“ Zeit führten, die wiederum Fragen der Machtverhältnisse zwischen den britischen Kolonialherren und einer neuen, westlich gebildeten, sansibarischen Bildungselite abbildeten. Wie stark der Nexus zwischen Zeit und Disziplin, bzw. Disziplinierungsstrategien war, kann erneut am Beispiel eines von G.B. Johnson ausgelösten Autoritäts- und Zeitkonfliktes gezeigt werden. Dieser Konflikt begann am 15. September 1923, als die Lehrer der Government Central School (GCS), die aufgefordert worden waren, pünktlich um 9.00 Uhr morgens zur Morgengymnastik

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zu erscheinen, in ihre Klassen zurückkehrten, weil G.B. Johnson, der dieses morgendliche Exerzieren angeordnet hatte und der für seine außergewöhnliche Pünktlichkeit bekannt war, „failed to show up for the appointment at 9.00 struck“. Anstatt auf ihn zu warten, kehrten die Lehrer in ihre Klassen zurück und erregten dadurch einen Wutausbruch G.B. Johnsons, den er seinem Vorgesetzten wie folgt schilderte: I arrived in the office at 9.03 this morning having stayed at home to prepare a P.E. (physical exercise, RL) lesson which I had announced yesterday. When I arrived I found all teachers had gone away – immediately nine struck. Apart from the impertinence this shows, it is also a revelation of the interest they have in their work (ZNA AB 86/26).

Zusätzlich zu seiner Beschwerde forderte G.B. Johnson eine Bestrafung der „Disziplinlosigkeit“ der betroffenen Lehrer in Form eines Bußgeldes in Höhe einer Rupie und eines Entschuldigungsbriefs der Lehrer. Als diese sich weigerten, dem nachzukommen, reagierte Johnson mit der Androhung der Suspendierung besagter Lehrer und löste damit die Eskalation des Konfliktes aus, der mit der Versetzung G.B. Johnsons aus dem Lehrbetrieb endete. Die betroffenen Lehrer weigerten sich nämlich, ihre Bestrafung zu akzeptieren und stellten ihrerseits in einem Brief an den DoE fest: 1. they were all present for P.E. at 5 minutes before 9 am. 2. Johnson who usually comes at 8.59 was not there and judging his ways of taking strict action against lateness (as he did against Mr. Hamid Mansab some time ago) we would not imagine that he would come after nine, since he had previously passed a notice to the effect that he expected us all to be in the yard by 8.59 (ZNA AB 86/26).

Der DoE lehnte es jedoch ab, diese Position anzuerkennen und stellte in einer Note vom 17. September 1923 fest, dass das Verhalten der Lehrer ihrer Verweigerungshaltung nun auch noch eine Note der „Impertinenz“ verleihe. Der Konflikt zwischen G.B. Johnson und den Lehrern der GCS erhielt eine besondere Brisanz durch die Tatsache, dass die betroffenen Lehrer zu der von den Briten selbst herangezogenen ersten Generation sansibarischer „kolonialer“ Intellektueller gehörten, die gleichzeitig Teil der etablierten

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Gelehrtenschaft Sansibars waren.7 ÍÁmid b. AÎmad ManÒab (1901-1965), der offensichtlich bereits zu einem früheren Zeitpunkt von G.B. Johnson wegen „Zuspätkommens“ gerügt worden war, gehörte beispielsweise zu der in Sansibar hoch angesehen ManÒab Familie (s. Themenkasten 14). In der Folge wurden die betroffenen Lehrer (Dharsi, Vellani, M. Abubakar, S. Bwana, A.R. Muhammad, A. Farhan, M. Nassor und M. Borafia) vom Dienst suspendiert, was aber eine Reihe weiterer Lehrer (A.E.L. Hajj, H. Mansab, B. Muhammed, A. Muhammad und H. Shangama) dazu brachte, sich mit ihnen zu solidarisieren: We feel sure that the question of drill has only been used as a means to give vent to the grievances the teaching staff have against treatment accorded to them, since nine of the teachers have been suspended for such an insignificant reason we do not feel assured that like treatment will not be accorded us in case of a slight slip on our part in order to preserve our interests we are reluctantly obliged to share our fellow masters fate, pending agreement between you and the members of the drill class (ZNA AB 86/26).

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Mit Antonio Gramsci können diese „kolonialen“ Intellektuellen und religiösen Gelehrten als eine Klasse „organischer Intellektueller“ (Gramsci 1980: 223) bezeichnet werden, also lokale Gelehrte oder „lokale Wissende“, die sich mit ihrer jeweiligen Gemeinde oder Gemeinschaft identifizieren, sie nach außen repräsentieren und sich für ihre Rechte einsetzen, die also fest mit den existierenden kommunalen Strukturen verwurzelt sind. Nach Gramsci bringt jede soziale Klasse ihre eigenen Intellektuellen hervor, die organisch mit ihr verbunden sind.

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Themenkasten 14: Gelehrte und Kolonialverwaltung Die ManÒab-Familie führte sich auf AÎmad b. ÝAlÐ ManÒab (1863-1927) zurück. Ein Sohn von ÍÁmid b. AÎmad (1901-1965), der in den 1920er und 1930er Jahren wiederum Lehrer des bekannten Gelehrten ÝAbdallāh ÑāliÎ al-Farsy wurde, war AÎmad b. ÍÁmid ManÒab (1928-1977), der die von AÎmad b. SumayÔ und al-Farsy errechnete Tabelle der Gebetszeiten in Sansibar (s. Anhang) ein drittes Mal bearbeitete. ÍÁmid (b. AÎmad) ManÒab selbst war ein Student des angesehenen Begründers der Madrasa BÁ Ka×Ðr, ÝAbdallāh Bā Ka×Ðr (s. Bang 2003). Seit 1919 unterrichtete er die RamaÃÁn-Klasse an der Barza-Moschee und fungierte als ImÁm der Forodhani-Freitagsmoschee. Seit 1921 war er Lehrer an der GCS und Sprecher der Government School Teachers’ Association (al-Farsy 1972: 39).

In einer weiteren Eskalation wurden alle Lehrer vom DoE, Hendry, am 22. September 1923 zu einem Gespräch vorgeladen. An diesem Gespräch nahm auch SulaimÁn b. NÁÒir al-LamkÐ als Vertreter der einflussreichen Arab Association teil. Die Lehrer blieben dabei, G.B. Johnson eine formelle Entschuldigung zu verweigern und waren auch nicht bereit, eine schriftliche Beschwerde an den Chief Secretary des Protektorats vom 18. September 1923 zurückzuziehen. Diese schriftliche Beschwerde wurde von Hendry mit den Worten kommentiert, dass „the underlying reason for the insubordination seems to be some grievance but the teachers have taken the wrong way of airing their grievance“ (Hendry an den Chief Secretary). In der Folge wurde die GCS für zwei Tage geschlossen und ein Gespräch der Lehrer mit dem Chief Secretary anberaumt, in welchem ihnen gestattet wurde, ihre Position auf einer höheren administrativen Ebene vorzustellen. In der Folge unterzeichneten fast alle Lehrer den verlangten Entschuldigungsbrief, während der Chief Secretary einwilligte, eine amtliche Untersuchungskommission einzuberufen. Die Arbeit an der Schule wurde wieder aufgenommen und die Lehrer entschuldigten sich bei G.B. Johnson für ihr Verhalten: „After having talked with the Chief Secretary and heard all he had to say we wish to express regret for leaving the drill class in the way we did...“. G.B. Johnson wurde jedoch im Oktober 1923 aufgefordert, sein Amt als Direktor der GCS niederzulegen. Seine weitere Karriere in der britischen Protektoratsverwaltung Sansibars blieb bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1939 blockiert (s. Loimeier 2009).

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Die Reglementierungen der britischen Protektoratsverwaltung zur Zeitordnung wurden aber nicht immer stringent eingehalten, und so kam es immer wieder zu Konflikten um Fragen der Zeitordnung, insbesondere in Bezug auf Fragen der Pünktlichkeit. Die Akte Punctual Attendance of Government Officials (ZNA AB 82/690) berichtet zum Beispiel von einem Zwischenfall am Ende der Kolonialzeit, der vom Financial Secretary, Hawkins, in einem Briefwechsel ab dem 8. September 1956 dargestellt wurde: At 7.35 yesterday morning I came upstairs to get some papers and found only three clercs present in the secretariat registry. I wanted to ask the office superintendant to let me know who had not arrived but that was not possible as he himself was not yet there [...] I might say that in my opinion your circular note of the 31st July on the subject of office hours has been completely ignored. There seems to be little point in all the senior officers in the secretariat going into great details of organization and methods and working out ways of how we can save half an hour here and there if indeed we are to start off every morning with the loss of anything up to two hours work in the secretariat registry and other offices through people not arriving at the time they should. It seems to me that if these concerned deliberately and regularily take no notice of these instructions the only thing to do is to start some disciplinary action [...]“.

Dieser Brief wurde in einem anderen Schreiben von A. E. ForsythThompson, dem Administrative Secretary wie folgt beantwortet: It has become apparent that my previous circular drawing attention to the fact that officers should be in attendance in the building at 7.30 has been ignored. Prompt attendance at the office is essential and I should be grateful if in future officers would attend at the prescribed hours...it must be made plain to the clerks that unless attendance is more prompt I shall be forced to take disciplinary action.

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S ANSIBARS I NTEGRATION DER W ELTZEITZONEN

IN DAS

S YSTEM

Die Etablierung der neuen Zeitordnung war aber auch mit der Einführung bestimmter Signale und Symbole verbunden, die die Etablierung der Uhrzeit in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens begleiteten. Dieses „Ordnen“ der Zeit lässt sich in einer Reihe von Diskussionen nachvollziehen, etwa der Frage, zu welcher Zeitzone Sansibar denn nun eigentlich gehört, der Frage nach der Regelung der Bürozeiten, der Festlegung der Fest- und Feiertage oder an den Auseinandersetzungen um die Signalordnung des Hafens. Für die Umsetzung der kolonialen Zeitordnung war die Einbindung Sansibars in das britische imperiale Kommunikationsnetzwerk von besonders großer Bedeutung, weil Sansibar damit in das weltweite Zeitzonensystem der GMT (Greenwich Mean Time) integriert wurde, welches die Erde seit 1884 in 24 Zeitzonen gliederte, die jeweils einem Zeitunterschied von einer Stunde entsprechen.8 Dabei wurde Sansibar Teil der „Zone C Time“ (GMT, plus drei Stunden). Die Einbindung Sansibars in das globale Gültigkeit beanspruchende Zeitzonensystem war deshalb von so großer Bedeutung, weil die religiös begründete Zeitordnung Sansibars nun mit einem neuen Zeitregime konfrontiert wurde, das physikalischen Konventionen folgte, sich an einer weltweit koordinierten Uhrzeit orientierte und auf der Grundlage einer entsprechenden Dekrete-Ordnung allgemeine Verbindlichkeit im Lebensalltag Sansibars beanspruchte. Für Sansibar hatte die Integration in das neue GMT-Zeitzonensystem unmittelbare Bedeutung, weil die Fahrpläne der Postschiffe im Indischen Ozean der neuen Weltzeit folgten und damit eine entsprechende Anpassung des Zeitregimes des Hafens von

8

Die genaue Synchronisierung aller Zonen-Zeiten erfolgte allerdings erst im Jahre 1913, als mittels eines Funksignals vom Eiffelturm in Paris aus weltweit alle Uhren gleich gestellt wurden. Bis dahin war die Abstimmung der Zeittakte über das weltweite Telegraphennetzwerk erfolgt, das auf Grund der höheren Übertragungsgeschwindigkeit der „Kabel“ und „Drähte“ minimale Zeitunterschiede bedingt hatte. Damit war 1913 der Prozess der Synchronisierung regional „kontextualisierter (Uhr-)Zeiten“ (und „Daten“), der 1884 begonnen hatte, abgeschlossen (Adam 1998: 107).

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Sansibar an die neue internationale Zeitregelung erzwangen (s. Themenkasten 15). Themenkasten 15: Hafen, Bahn und Busse Der Hafen ist ein zentraler Zeitort Sansibars. Analog gilt dies, seit den 1950er Jahren, für den Flughafen Sansibars und, zumindest kurzzeitig, die Haltestellen der Bububu-Eisenbahn. Seit der Revolution von 1964 sind die Endhaltestellen der Überlandbusse und der innerstädtischen Kleinbusse (Dala-dala), die das Rückgrat des öffentlichen Personentransports in Sansibar darstellen, solche Zeitorte geworden. Allerdings fahren die Dala Dala-Busse nicht nach einem festgelegten Zeitplan, sondern nach dem Prinzip der optimalen Auslastung der Fahrzeuge, die wiederum mit den Marktzeiten Sansibars, aber auch mit den Gebetszeiten und Bürozeiten, den Ankunfts- und Abfahrzeiten der Fähren zum Festland und nach Pemba, sowie mit den Ankunftszeiten der Flugzeuge auf dem Flughafen verbunden sind. Weniger Einfluss auf die Durchsetzung der Uhrzeit im Alltagsleben der Menschen als das Ein- und Auslaufen der Schiffe im Hafen hatte die Eisenbahn mit ihren Fahrplänen. In Sansibar gab es zwei Bahnlinien: von 1875-1888 die zehn Kilometer lange Chukwani-Linie nach Süden und von 1905-1929 die zwölf Kilometer lange Bububu-Linie nach Norden. Diese beiden Schmalspur-Linien blieben gegenüber dem Transport auf der Straße unrentabel und durch Funkenflug an der Strecke wurden immer wieder Brände ausgelöst. Schließlich war die Bububu-Linie für die Unzuverlässigkeit des Personals bekannt, die ein Reisender der Zeit als „eccentric to say the least“ beschrieb (Patience 1998: 40).

Die Integration Sansibars in ein internationales Zeit- und Zeitzonen-Regime hatte aber auch Auswirkungen auf das Alltagsleben der Sansibaris, die sich in entsprechenden Debatten um die Definition, Annahme und Modifikation der „East African Mid-Coast Standard Time“ (EAMCST, im Folgenden kurz EAST) äußerten (s. hierzu ZNA AB 49/155 und folgende): In Kenia war 1908 der „Greenwich Zone Standard“ eingeführt worden, der auf der Länge von Nairobi eine Zeitverschiebung von 2 ½ Stunden östlich (swa.: mashariki) des Greenwich-Meridians (Meridian ya Greenwich) bedeutete. In Deutsch-Ostafrika (und später Britisch-Tanganyika), ebenso wie in Sansibar galt hingegen seit 1884 die der Länge von Dar es Salaam (und Sansibar) entsprechende „Zone C Time“, die gegenüber der GMT eine Zeitver-

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IN DER

GLOBALISIERUNG

schiebung von drei Stunden (östlich von GMT) vorgab.9 Daraus ergaben sich erste Probleme bei der Koordination der Schifffahrtszeiten. Abb. 10: Die Standuhr an der Einfahrt zum Hafen Sansibars, c. 1970er Jahre (Capital Arts Studio)

Am 31. Januar 1926 schloss sich Sansibar der in Kenia geltenden „East African Standard Time“ (EAST) an. Diese Zeitregelung bedeutete, dass die um eine halbe Stunde vorgestellten Uhren den Sonnenaufgang nun um 5.46 Uhr anzeigten (statt, wie zuvor, um 6.16 Uhr), den Sonnenuntergang um 18.06 Uhr (statt, wie zuvor, um 18.36 Uhr); am 16. August wurde der Sonnenaufgang nun um 6.04 Uhr (statt um 6.34 Uhr), der Sonnenuntergang um 17.42 Uhr (statt um 18.12 Uhr) angezeigt. Aufgrund der Einführung der

9

Das heißt: Wenn die Uhren in Sansibar 6 Uhr morgens anzeigten, dann war es in Nairobi erst 5.30 Uhr, in London 3 Uhr morgens und umgekehrt.

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EAST und der damit verbundenen Umstellungsprobleme kam es ab 1932 zu Diskussionen über diese Standardzeit für ganz Ostafrika, weil die in Kenia (Nairobi) geltenden 2 ½ Stunden „East of Greenwich“ ebenso wenig wie die zuvor geltende „Zone C Time“ mit den lokal beobachteten Zeiten für Sonnenuntergang und Sonnenaufgang in Sansibar übereinstimmten. Dort war etwa die Uhr auf dem bait al-ÝaÊāÞib, nach der sich die Moscheen mit ihren Gebetszeiten richteten, auf die realen Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangszeiten („Sun Time“, s. unten) gestellt. Gegen die neue Uhrzeitregelung und vor allem gegen die geplante Umstellung der Uhr auf dem bait al-ÝaÊāÞib gab es in der Folge Proteste der Arab Association (arab.: alÊamÝiyya al-Ýarabiyya bi-ZinÊibÁr), so in einem Brief vom 24. März 1934: In reply I am directed by my Association to say that Zanzibar is an Islamic country whose time for daily prayers is regulated by sun set. Further, that the majority of the population of this country is natives who derive their prayer’s times from the clock of Beit al-Ajaib and therefore any meddling with the time of that clock will cause a considerable inconvenience not only in the performance of their daily prayers but also their breaking the fast during the month of Ramadhan. Therefore my Association wishes to say that while they have no objection to the government making any changes in keeping the official time they strongly desire to see the time of the Beit al-Ajaib clock remains as it is at present (ZNA AB 49/155).

Es wurde daraufhin beschlossen, dass zumindest die Uhrzeitregelung des bait al-ÝaÊÁÞib beibehalten werden sollte, „in accordance with the Arab system of time keeping and as an indication of the hours of prayer. HH’s („His Highness“, der Sultan, RL) flag should be lowered and a signal given (e.g. siren) at six o’clock sun time“. Trotz der Beibehaltung der „sun time“ auf dem bait al-ÝaÊÁÞib, die zudem die gegenüber der Zeitzonen-Zeit um sechs Stunden verschobene „Swahilizeit“ anzeigte, ging die Diskussion um die „rechte Uhrzeit“ weiter (s. hierzu auch den Themenkasten 16).

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IN DER

GLOBALISIERUNG

Themenkasten 16: Die Weltzeit in der Schule Die Kenntnis der „Weltzeitzonen“ stellt bis heute einen Bestandteil des Kurrikulums an tansanischen Schulen dar. S. hierzu das Lehrbuch Usiku na Mchana („Nacht und Tag“) von E.A. Moshi, Dar es Salaam, 1995. Darin heißt es: „Wenn es beispielsweise in Indien schon sechs Uhr mittags ist, dann ist es in Tansania erst drei Uhr vormittags“ (Kwa mfano, wakati huko India ni saa sita za mchana, hapa Tanzania ni saa tatu za asubuhi). Auch im Lehrbuch hält man sich also an die „Swahili-Zeitregelung“: saa sita mchana (sechs Uhr mittags) entspricht 12pm nach der britischen Zeitregelung. Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass es auch innerhalb Tansanias Zeitunterschiede gibt, die zwischen Sansibar im Osten und Kigoma im Westen immerhin 45 Minuten betragen (Moshi 1995: 18).

In Folge eines weiteren Beschlusses vom 19. Oktober 1936 wurde zum 1. Januar 1937 ein für ganz Ostafrika geltender Zeitkompromiss eingeführt, nach dem für die EAST nunmehr eine Zeitverschiebung von 2 ¾ Stunden östlich von Greenwich galt. Zur Erleichterung der Umrechnung der „Zone Time“ in die lokale „Sonnenzeit“ wurde ein Kalender erstellt („times of sunrise and sunset at Zanzibar, expressed in EAST“), der für jeden einzelnen Tag des Jahres die genauen Daten für Sonnenaufgang (SA) und Sonnenuntergang (SU) in Sansibar angab. Die folgende Tabelle zeigt einen Ausschnitt dieses Kalenders und gibt die Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangszeiten für den 1., 15. und 30. Januar, April, Juli und Oktober wieder (ZNA AB 49/155): Ja-

Ja-

nuar

nuar

Tag

SA

SU

SA

SU

SA

1.

6.01

6.21

6.14

6.10

am

pm

am

15.

30.

April

April

Juli

Juli

Okto-

Okto-

ber

ber

SU

SA

SU

6.21

6.01

5.59

5.59

pm

am

pm

am

pm

6.06

6.26

6.12

6.04

6.24

6.04

5.51

5.59

am

pm

am

pm

am

pm

am

pm

6.13

6.29

6.11

5.59

6.23

6.06

5.46

5.58

am

pm

am

pm

am

pm

am

pm

6. D IE „UHRZEIT “ IN S ANSIBAR | 109

Gleichzeitig mit der Umstellung auf die neue EAST-Regelung wurde am 1. Januar 1937 auch die bait al-ÝaÊÁÞib-Uhr um 2 Uhr nachts um 21 Minuten vorgestellt, so dass die Uhr nun minutengenau die EAST und nicht mehr die lokale „sun time“ anzeigte. Sie gab aber weiterhin die Uhrzeit „six hours ahead of standard time“ an und folgte damit den Zeitberechnungskonventionen der „Swahili-Zeit“. Zudem wurde verfügt, dass der Sonnenuntergang jeden Abend durch ein Sirenensignal angezeigt werden und um 20 Uhr (EAST) ein Kanonensalut erfolgen sollte. Auch die öffentliche Beleuchtung sollte um diese Uhrzeit reduziert werden. Zudem wurde festgestellt, dass eine Tabelle (s. den Ausschnitt oben) für Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangszeiten erstellt worden war. Schließlich wurde überlegt, diese Tabelle für den Gebrauch in den Moscheen ins Arabische zu übersetzen (ZNA AB 49/155). In einer entsprechenden Presseverlautbarung hieß es: With reference to (the) sunrise and sunset table which has been compiled by the port officer, HH has expressed the opinion that this table should be translated into Arabic. A table on similar lines was, some years ago compiled by the late Seyyid Ahmad bin Smait (Kathi of Zanzibar) and I am informed that a copy of this is to be found in the majority of mosques in the town…The times given are those of ‘Alfajiri’ and ‘Athuhuri’ prayers. I discussed the question of the table with the Director of Education yesterday and we recommended a) that reference should be made to Mohammadan authority as to whether, in addition to the sunrise and sunset times, those above described should also be included, b) that Arabic numerals should be used, c) that time should be expressed in the Swahili manner (5 December 1936, Provincial Commissioner, as discussed with Shaykh Tahir al-Amawi) (ZNA AB 49/155).

Im Kontext des zweiten Weltkriegs verlangte die britische Admiralität 1942 jedoch für ganz Ostafrika die erneute Umstellung der EAST auf die „Zone C Time“, also drei Stunden östlich von Greenwich, was zum 31. Juli 1942 umgesetzt wurde. Nach dem Ende des Krieges erfolgte zum 31. Januar 1946 die Rückkehr zur EAST (2 ¾ Stunden), ausgenommen Tanganyika, sodass es wiederum Probleme und Proteste wegen zunehmender „dyssynchronization“ (sic) gab. Daraufhin wurde in einem Dekret des britischen Chief Secretary vom 4. Oktober 1947 wurde schließlich beschlossen, die „Zone C Time“ zum 1. Januar 1948 in ganz Ostafrika als einheitliche Zeitzone einzuführen (ZNA AB 49/155).

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IN DER

D ISKUSSIONEN UM

DIE

GLOBALISIERUNG

B ÜROZEITEN

Die wechselnden Zuordnungen Sansibars im internationalen Zeitzonensystem waren besonders spürbar für diejenigen, die mit der Verwaltung und ihren administrativen Zeittakten zu tun hatten. Es gab folglich eine anhaltende Diskussion um die Festlegung der Bürozeiten (s. hierzu ZNA AB 82/689 und folgende). Ab Januar 1931 galten für die Regierungseinrichtungen folgende „office hours“: 8 bis 12 Uhr und 14 bis 16.30 Uhr. Für den RamaÃÁn waren 7.30 bis 13 Uhr als Bürozeiten festgelegt worden, sodass sich mit der Einführung der neuen EAST-Regelung im Jahre 1937, die, wie oben erwähnt, nun auch auf der bait al-ÝaÊÁÞib-Uhr angezeigt wurde, die auf dem bait al-ÝaÊÁÞib angegebene Uhrzeit für das Mittagsgebet um fast eine halbe Stunde gegenüber dem tatsächlichen Sonnenhöchststand verschob.10 Vor 1931 war der Zeitraum von 7.30 bis 13 Uhr zwar schon als allgemeine Richtlinie diskutiert, aber abgelehnt worden. Mit der Einführung der „Zone C Time“ zum 31. Juli 1942 verschob sich der auf der Uhr des bait al-ÝaÊÁÞib angezeigte chronometrische Mittag aber noch einmal um fünfzehn Minuten gegenüber der in Sansibar real beobachteten „sun-time“. In einem Brief vom 25. August 1942 an den Chief Secretary äußerte sich daraufhin ein muslimischer Angestellter des Customs, Port and Marine Department wie folgt: It is an established fact that the former Standard Time was recorded to have reached the maximum of 35 minutes ahead of sun time. The introduction of the Zone Time has, moreover, increased the difference to 50 minutes fast of the sun time. In view of the fact that the performance of our prayers and certain religious functions and ceremonies is regulated by Sun Time, it is observed that the present office hours (Zone Time) will enormously interfere with our religious services…As there are occasional festivals usually held after the noon prayers by some of us in our respective mosques, the Zone Time at its height, will not permit of our taking part in such festivals.

Der Angestellte schlug daher vor, die Bürostunden vormittags bis 12.30 Uhr auszudehnen und nachmittags erst wieder um 14.30 Uhr zu beginnen:

10 D.h., die Uhren gingen gegenüber dem realen Sonnenstand um eine halbe Stunde vor („ahead/fast of sun time“).

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„It will be observed that 2pm Zone Time is just a little over 1pm Sun Time which is the hottest part of the day“. Diese Argumentation wurde von der britischen Verwaltung am 25. September 1942 akzeptiert und per Dekret ab 1. Oktober 1942 umgesetzt. Die Regelung 8-12 Uhr und 14 bis 16.30 Uhr galt aber nur für das Customs, Port and Marine Department und den Administrator General. Das Postamt und das Department of Education hielten sich zunächst an die 8 bis 12 Uhr und 14 bis 16 Uhr-Regelung, wechselten am 22. April 1943 aber ebenfalls zur neuen Zeitregelung, die jedoch wiederum nicht die etablierte RamaÃÁn-Regelung betraf (7.30 bis 13 Uhr). Nach dem Krieg wurden die Bürozeiten erneut verändert und ab 5. November 1945 auf 7.30 bis 13.15 Uhr festgelegt. Eine Ausnahme bildete erneut das Customs, Port and- Marine Department, das Postamt und die Government Press, die der alten 8 bis 12.30 Uhr und 14.30 bis 16 Uhr-Regelung folgen. Die Debatte um die Bürozeiten Sansibars zeigt, dass die bis 1926 in Sansibar formal geltende „Zone C Time“ in Hinblick auf das religiöse Alltagsleben noch keine Beachtung gefunden hatte und die Moscheen tatsächlich die auf dem bait al-ÝaÊÁÞib angegebenen „Swahili-Uhrzeiten“ befolgten, die dem in Sansibar real beobachteten Sonnenstand entsprachen. Erst mit der zunehmenden Bedeutung der kolonialen Verwaltung in den 1920er und 1930er Jahren und der Umstellung der Uhr auf dem bait al-ÝaÊÁÞib im Jahre 1937 auf die East African Standard Time scheinen die Diskrepanzen zwischen den unterschiedlichen Zeitordnungen zu einem Problem geworden zu sein.

D AS O RDNEN

DER

F EIERTAGE

Neben den Diskussionen um die Umsetzung einer verbindlichen Standardzeit gab es Debatten um die Regelung der öffentlichen und religiösen Feiertage. Historisch waren als Festtage in Sansibar insbesondere der 1. MuÎarram (das islamische Neujahr), der 10. MuÎarram (der KarbalÁÞ-Tag oder ÝāšÙrā), der 16. MuÎarram (auch ImÁm-Tag, der aber nur von den Khōjas gefeiert wurde); der 12. RabÐÝ al-awwal (maulid al-nabÐ, der Geburtstag des Propheten); der 23. ÉumÁdÁ al-ÙlÁ (der Geburtstag des Aga Khan); der 27. RaÊab (die lailat al-miÝrÁÊ, die Nacht der Himmelsfahrt des

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GLOBALISIERUNG

Propheten); der 15. ŠaÝbÁn,11 der 1. RamaÃÁn; der 27. RamaÃÁn (die lailat al-qadr, die „Nacht des Schicksals“, in welcher die erste Offenbarung des QurÞÁn stattfand); der 1. ŠawwÁl (ÝÐd al-fiÔr); und der 10. ÅÙ l-ÎiÊÊa (ÝÐd alÎaÊÊ) etabliert. Mit dem Beginn der Protektoratsverwaltung wurden die nach dem islamischen Kalender wechselnden Festtage im Rahmen entsprechender Erlasse alljährlich immer wieder neu als „public holiday“ deklariert und zudem britische Feiertage eingeführt. Gleichzeitig verloren einige der religiösen Festtage ihren offiziellen Charakter, wurden später aber zum Teil wieder zugelassen (ZNA AB 82/682 und ZNA AB 82/684). Im Jahre 1912 gab es in Sansibar insgesamt zwölf öffentliche Fest- und Feiertage, sechs islamische, drei christliche und drei zivile: Maulid, Karfreitag, Ostermontag, 3. Juni (King’s Birthday), 27. RamaÃÁn, ÝÐd al-fiÔr (zwei Tage), ÝÐd al-ÎaÊÊ, 9. Dezember (Sultan’s Accession Day), 25. Dezember (Weihnachten) und 26. Dezember (Boxing Day). Im Jahre 1918 wurde der 10. MuÎarram erneut als Feiertag akzeptiert, woraufhin die Hindus mit Erfolg für die Anerkennung von Diwali kämpften. Inklusive weiterer religiöser Fest- und ziviler Feiertage summierte sich ihre Zahl in diesem Jahr auf 21: Für die Hindus Diwali, Maha Shivatri und Gokul Ashatam; für die Parsen Jamshed Nauroz, das Neujahr (drei Tage) und Khordal Sal; für die Christen vier Tage an Ostern, Pfingstmontag, Empire Day und King’s Birthday sowie sechs Festtage für die Muslime. Ihre Zahl wurde zwar 1935 auf 15 reduziert, später kamen aber wieder neue hinzu dazu (ZNA AB 82/681). 1962 kannte Sansibar schließlich zusätzlich zu sechs zivilen Feiertagen 50 staatlich anerkannte religiöse Festtage (s. Themenkasten 17). Themenkasten 17: Die religiösen Festtage im Jahre 1962 Nach religiösen Gruppierungen aufgeschlüsselt ergaben sich im Jahre 1962 die folgenden religiösen Feiertage (s. ZNA AB 82/686): a) Ārya Samāj (von den Briten nicht als „Hindus“ klassifiziert): Rishi Bodh Utsava (5.3.), Holi (20.3.), Ārya Samāj Foundation Day (5.4.), Shravani (15.8.), Shri Krishna Jangimashtami (23.8.), Vijya Dashmi (8.10.), Rishi Dayanand Nir-

11 Die Nacht des Vollmonds am 15. ŠaÝbÁn gilt als die „Nacht der Freisprechung“ (lailat al-barÁÞa) von den Sünden (außer den Todsünden). Im Glauben der 12er ŠÐÝiten ist der 15. ŠaÝbÁn zudem der Geburtstag des 12. ImÁms. In vielen islamischen Gesellschaften wird der 15. ŠaÝbÁn festlich begangen (s. Schimmel 2001: 92f).

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van Divas (Diwali, 7.10.). b) BahÁÞÐ: New Roz (21.3.), 1. Ridvan (21.4.), 9. Ridvan (29.4.), 12. Didvan (2.5.), Declaration of the Bāb (23.5.), Ascension of BahÁÞullÁh (29.5.), Martyrdom of the Bāb (9.7.), Birth of Bāb (20.10.), Birth of BahÁÞullÁh (12.11.). c) Buddhist: New Year (13.4.), Wesak (Buddha, 18./19. 5.), Poson (Mahinda, 17.6.). d) Christians: Ascension (31.5.), Assumption (15.8.), All Saints (1.11.). e) Hindu: Maha Shivatri (5.3.), Holi (20.3.), Krishna Jayanti (23.8.), Dashera (8.10.), Diwali (28.10.), New Year (29.10.). f) Khoja Ismailia: Imamat Day (11.7.), Birthday of Aga Khan (13.12.). g) Muslims: miÝrÁÊ (6.1.), 15. ŠaÝbÁn (22.1.), 1. RamaÃÁn (7.2.), 27. RamaÃÁn (27.2.), 1. MuÎarram (5.6.), 10. MuÎarram (14.6.) und maulid (14.8.). h) Parsee: Jamshidi Navroz (21.3.), Adar Jashan (6.5.), Zoroaster’s Death (7.6.), Pateti (30.8.), Navros (31.8.), Khordad Sal (5.9.), Farvardian Jashan (18.9.). i) Sikh: Birthday of Guru Gobind Singh (12.1.), Baisakhi (13.4.), Martyrdom of Guru Aejan Devi (6.6.), Birthday of Guru Nanak Devji (22.11.)

D AS

AKUSTISCHE

Z EITREGIME

IN

S ANSIBAR

Neben der Beleuchtung der Straßen Sansibars und zahlreichen anderen Dekreten, die der Etablierung der kolonialen Uhrzeit-Ordnung dienten, veränderten die Briten die akustische Signalkulisse, vor allem den Kanonensalut, der weithin hörbar die wichtigsten Orientierungszeiten der alten und neuen Zeitordnung verkündeten und vor allem die Zeitordnung des Hafens bestimmte.12 Die Regelung der akustischen Signale sah vor, dass um 4 Uhr morgens (4am; swa.: saa kumi, d.h. zehn Uhr nachts „Swahili“-Zeit) ein Kanonenschuss, „the morning gun“, abgefeuert wurde, um auf das baldige Morgengebet hinzuweisen und den Beginn des Tages anzukündigen.13 Zudem gab es eine „evening gun“ um 20 Uhr (swa.: saa teni, d.h. „zwei Uhr“ nachts nach Swahili-Zeit oder 8pm), sowie Kanonensalute zu Anlässen wie

12 Vergl. ZNA AB 10/58; ZNA AB 10/74; ZNA AB 10/74; ZNA AB 10/81; ZNA AB 81/22. 13 Zur Bedeutung der Kanonensalute für die zeitliche Ordnung des Alltagsleben s. Ruete 2000: 160ff (dort auch zur Sichtung des Mondes).

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GLOBALISIERUNG

dem ÝÐd al-fiÔr, zur Feier des Prophetengeburtstags und für einlaufende Schiffe, da Sansibar als britisches Protektorat eine „saluting station“ war. Die Zeiten für das Abfeuern der Salutkanonen orientierten sich dabei seit 1879 an der Uhr des Uhrturms, nach 1896 an der Uhr des bait alÝaÊÁÞib. Im Jahre 1919 wurde in Malindi, nahe dem geplanten neuen Hafen, eine weitere Plattform für die Salutkanonen gebaut, welche die bestehenden Kanonenstandorte am bait al-ÝaÊÁÞib, vor dem Palast und vor dem Gefängnis ergänzte. Am 27. März 1913 wurde das Abfeuern der Signalschüsse per Dekret neu festgelegt. Zukünftig sollten die Salutschüsse zu folgenden Anlässen erfolgen: Maulid am 12. RabÐÝ al-awwal (zwei Kanonenschüsse, morgens und abends); ÝÐd al-fiÔr (zwei Schüsse); ÝÐd al-ÎaÊÊ (zwei Schüsse); ein Schuss bei jedem Neumond; der morgendliche und abendliche Salut; jeweils ein Kanonenschuss zu Ehren des Consul General und des First Minister bei Ankunft und Abreise; 21 Schüsse beim neuen Mond zu Beginn des Fastenmonats und währenddessen täglich um zwei Uhr morgens einmal; je 21 Kanonenschüsse für den neuen Mond zum Beginn des Monats ŠawwÁl, am Morgen nach ÝÐd al-fiÔr, am Geburtstag des Königs und schließlich die Salutschüsse zu Ehren des Sultans, des Hochkommissars sowie des britischen Residenten. Allerdings veränderten sich einzelne Zeiten immer wieder, weil das Protektorat zwischen 1913 und 1925 der britischen Kronkolonie Kenia (und damit dem Colonial Office in London) unterstellt war und seine Position als „saluting station“ verlor. Zudem befürchtete man seit September 1914, dass das Abfeuern der Salutschüsse die Aufmerksamkeit der deutschen Kriegsmarine erregen würde. Ab 1919 wurden die RamaÃÁn-Kanonenschüsse in Gegensatz zum alltäglichen Morgensalut nicht mehr um vier Uhr sondern um zwei Uhr morgens abgefeuert. Im Jahre 1925, als Sansibar erneut eigenständiges britisches Protektorat wurde und dem Foreign Office zugewiesen wurde, galt es auch wieder als eine „saluting station“. Damit wurde die Ankunft eines Schiffes erneut mit einem Kanonenschuss signalisiert und von der Hafenverwaltung registriert (ZNA AB 10/74). In der Folge 14 wurde 1925 eine neue Signalregelung für den Salut festgelegt. Im Jahr

14 Nach dieser Regelung wurden die 21 maulid-Kanonenschüsse am 11. RabÐÝ alawwal um 20 Uhr abends abgefeuert; die 21 Kanonenschüsse anlässlich des ÝÐd al-fiÔr am Ende des RamaÃÁn wurden beim Besuch des Sultans in der Freitagsmoschee um 12 Uhr Mittag desselben Tages abgefeuert; die 21 ÝÐd al-ÎaÊÊ Ka-

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1930 trat neben die Kanonenschüsse dann der Signalton einer Sirene (Kiswahili: honi, king’ora) als neues Zeitsignal. Diese Sirene war zunächst auf 15 dem bait al-ÝaÊÁÞib positioniert. Im RamaÃÁn des Jahres 1933 wurde diese Sirene zum ersten Mal um 18 Uhr betätigt und nicht mehr wie zuvor, um 12 Uhr mittags. Bis 1944 wurde die Sirene vom Police Commissioner auch als Feueralarmsignal genutzt, dann aber auf das Dach der Polizeistation in Malindi in der Nähe der Feuerwache verlegt (ZNA AB 10/188). Am 1. Dezember 1939 wurde das Abfeuern der Salutschüsse bei einlaufenden Schiffen erneut kriegsbedingt ausgesetzt. Auch der RamaÃÁn-Salut wurde im Krieg nicht mehr abgefeuert. Lediglich anlässlich der Sichtung des neuen Mondes zu Beginn und am Ende des Fastenmonats blieben Salutschüsse erhalten, wurden aber 1941 ebenfalls eingestellt und erst 1945 wieder aufgenommen. Ab dem 1. Juni 1946 galt wieder das Friedensregiment, das bis 1956 beibehalten wurde. Von 1956 an wurden die Abendsalutschüsse von 20 Uhr auf 18.30 Uhr vorverlegt. Nach 1961 wurden Salutschüsse aus Kanonen dann nur noch zu folgenden Anlässen abgefeuert: bei der Sichtung der Mondsichel zu Beginn des Monats RamaÃÁn (21 Schüsse); bei der Sichtung des Šawwāl-Mondes (21); beim Verlassen der Freitagsmoschee durch den Sultan am ersten Tag des Monats Šawwāl anlässlich des ÝÐd al-fiÔr (21) und schließlich ein Kanonenschuss pro Tag um 2 Uhr morgens im Fastenmonat. Nach der Revolution 1964 wurde der Kanonensalut ganz eingestellt, an seine Stelle trat selbst im RamaÃān der durchdringende Ton der Sirene (Abdul Sheriff, Bergen, 22. Juli 2004). Damit wurde das prägende akustische Symbol des Sultanats und der britischen Protektoratszeit, seine Kanonen und Kanonensalute, durch eine moderne Signaltechnologie ersetzt, die auch für eine neue politische Zeitordnung stand.

nonenschüsse wurden jeweils am 9. dieses Monats um 20 Uhr, am 10. dieses Monats um 7.45 morgens, sowie am selben Tag um 12 Uhr mittags abgefeuert; bei jedem Neumond wurde ein Kanonenschuss abgefeuert und zwar sowohl morgens und abends. Zudem wurde der Brauch eingeführt, anlässlich des „Armistice Day“ einen Kanonensalut abzufeuern. 15 Dieses Sirenensignal war 1930 installiert worden, wie aus einem Briefwechsel des Public Works Department hervorgeht. Darin wurde am 25. August 1945 zur Begründung von Wartungs- und Reparaturarbeiten festgehalten, dass die Sirene nun schon fünfzehn Jahre bestehe (ZNA AB 10/188).

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Die Einführung und Etablierung der Uhrzeit erfolgte zwar in vorkolonialer Zeit, wurde aber erst während der Kolonialzeit mit entsprechenden disziplinierenden Maßnahmen verbunden, etwa mit der Entwicklung einer umfassenden Dekreteordnung oder im Rahmen der Verdichtung chronometrischer Signale. Dabei stand die Einführung der Uhrzeit nicht nur oder nicht ausschließlich für die Durchsetzung eines rigiden Zeitregimes. Das Ordnen der Zeit war im 20. Jahrhundert auch mit der Entwicklung neuer Medien, insbesondere Zeitungen, Radio und Film verbunden, die wachsenden Einfluss auf die zeitliche Gestaltung des Alltagslebens ausübten und für die Integration Sansibars in die Weltkommunikationsgesellschaft sorgten. Damit entwickelte sich in Sansibar ein neues Zeitgefühl, das sich in neuen Formen des Zeitvertreibs abbildete, die im folgenden Kapitel vorgestellt werden.

7.

Ein neues Zeitgefühl: Sport, Zeitungen und Bollywood

F ORMEN DES Z EITVERTREIBS UND DER F REIZEITGESTALTUNG IM 19. J AHRHUNDERT Der Wandel der Zeiten manifestierte sich in Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur mit der Einführung der Uhrzeit und der Etablierung einer kolonialen Dekreteordnung, sondern, im Kontext umfassender Modernisierungsprozesse auch in der Herausbildung eines neuen Zeitgefühls, das sich wiederum in neuen Formen des Zeitvertreibs und der Freizeit (swa.: wasaa) äußerte.1 Dabei sollte zunächst festgestellt werden, dass sich in Konzepten von „Freizeit“ und der Art und Weise, wie Freizeit gelebt wird, soziale Strukturen und Prozesse des sozialen Wandels wie auch des Zeitenwandels abbilden.2 Zeitvertreib und das Konzept der Freizeit waren zudem keine koloniale Erfindung. Vielmehr waren den Sansibaris bereits vor der Kolonialzeit unterschiedliche Formen des Zeitvertreibs bekannt, die in der Literatur bereits ausführlich beschrieben wurden (s. Ranger 1975 zur Entwicklung von ngoma- und beni-Tanzgesellschaften; Fair 2001).

1

Im Begriff wasaa steckt die arabische Grundform sÁÝa, Stunde, Moment, Uhr. Dies deutet daraufhin, dass der Swahili-Begriff für „Freizeit“ (engl.: leisure) analog zu anderen Übernahmen aus dem Arabischen (etwa Utamaduni, „Kultur“) keine moderne Übernahme aus dem Englischen darstellt, sondern noch in einer Zeit ins Swahili übernommen wurde, in der der Lebensstil der (omanischen) Araber sprachprägend war.

2

Ich danke Elisio Macamo für diesen Hinweis.

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Einen Einblick in den vorkolonialen Lebensalltags Sansibars gewähren die Memoiren von Salme bint SaÝÐd alias Emily Ruete. Ihre Beobachtungen beziehen sich jedoch auf die aristokratische Elite Sansibars in den 1850er und 1860er Jahren und lassen daher keine Rückschlüsse über das Freizeitverhalten und die Freizeitgestaltung nicht-aristokratischer Sansibaris in vorkolonialer Zeit zu. Wir können daher nur vermuten, dass ebenso wie heute, Gender, Alter, Generationenzugehörigkeit und sozialer Status Freizeitverhalten im vorkolonialen Sansibar maßgeblich definiert haben Erst mit dem Beginn der Kolonialzeit bessert sich die Informationslage, die vorhandenen Quellen bilden nun aber den Blickwinkel der britischen Protektoratsmacht ab. Als Formen des vorkolonialen Zeitvertreibs beider Geschlechter der sansibarischen arabischen Aristokratie nennt Salme bint SaÝÐd ausdrücklich Reiten (auf Reiteseln und Pferden) und Schwimmen (im Meer), aber auch das Entspannen auf den Landsitzen und Plantagen, den Hahnenkampf, Karten- und Brettspiele wie mbao, ein Brettspiel, das dem Backgammon ähnlich ist, sowie Fechten und Schießen (Ruete 2000: 9, 26, 52, 67, 83ff), oder einfach nur schauen, sich unterhalten und Besuche von Freunden und Verwandten, meist nach dem Frühstück: Von dieser Stunde an beginnt das eigentliche Leben, und die Zeit wird selbstverständlich verschieden ausgenutzt. Die Herren rüsten sich, um nach dem Audienzzimmer zu gehen; die Frauen, welche nicht nötig haben, zu arbeiten, setzen sich an die Fenster, um das Gewoge auf der Straße, besonders die zur Versammlung kommenden Notabeln zu beobachten, wohl auch einen nur für Empfängerin verständlichen Gruß aufzufangen. Diese Unterhaltungen sind höchst amüsant und wechselreich; nicht selten wird man dabei gestört, von seinem Platze verdrängt oder wohl gar von der sorgsamen Mutter oder Tante vom Beobachtungsposten ganz schlau entfernt. Zwei bis drei Stunden schwinden so, ohne dass man es merkt, im Flug dahin. In dieser Zeit machen und empfangen die Herren ihre Besuche und senden Damen ihre mündlichen Anmeldungen für den Abend. Gesetzte und vernünftige Wesen, welche an jenem Treiben keinen Geschmack finden können, setzen sich allein oder gruppenweise in ihren luftigen Räumen hin und beschäftigen sich mit Handarbeit, sticken ihre Masken („omanische“ Gesichtsmasken, barakoa, RL), Hemden oder Beinkleider mit Gold, oder auch die Battisthemden des Ehemannes oder Bruders oder Sohnes mit roter oder weißer Seide, wozu besondere Geschicklichkeit gehört.

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Andere lesen Romane, besuchen Gesunde und Kranke in ihren Wohnzimmern und besorgen ihre sonstigen privaten Angelegenheiten (Ruete 2000: 52).

In der Kolonialzeit kam es dann zur Einführung zahlreicher neuer Formen des Zeitvertreibs und auch neuer Sportarten wie z.B. Fußball (s. hierzu Fair 2001 und unten)3 sowie anderer Formen organisierter Freizeit wie die „boy scouts“, die ihrerseits als Verweis auf den Wandel der Zeitlandschaft Sansibar gelesen werden können. Ebenso wie Zeitungen und das Kino trugen die neuen Sportarten, die zum Teil auch in den kolonialen Schulen betrieben wurden, und die bei den Pfadfindern organisierte Freizeit dazu bei, die neue Zeit, insbesondere die Uhrzeit, zu üben und zu verinnerlichen. Der sansibarische Politiker Juma Aley (ZNP) fasste später die Bedeutung des Sports und insbesondere des Fußballs und des Crickets wie folgt zusammen (er selbst war vor der Unabhängigkeit Sansibars im Jahre 1963 der Kapitän der sansibarischen nationalen Cricketmannschaft): Sports did a great deal of good not only from a physical angle but in inculcating discipline which had many great and lasting impacts on character training. The referee’s word is final and the umpire’s decision is final went into the head of every student … There were no appeals of the referee’s decision and you could not play unless you were prepared to follow the rules! Back then, young men learned to obey authority (zitiert in: Fair 2001: 230-1).

Disziplin, moralische Erziehung und Sport, aber auch landwirtschaftliche Fertigkeiten, etwa Gartenarbeit und „Hygiene“, waren in der Tat zentrale Inhalte der britischen „civilizing mission“ in Sansibar (und nicht nur dort)

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Der Fußball wurde in Sansibar im Jahre 1879 von den 28 Beschäftigten der britischen Eastern Telegraph Company (EAC) eingeführt, die das Telegraphenkabel von Zanzibar nach ÝAden verlegten (s. Kapitel 6) und die in ihrer Freizeit Fußball spielten. Der Sport etablierte sich rasch an den Missionsschulen, vor allem St. Andrew’s. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts breitete sich der Sport aber in ganz Sansibar aus, gespielt wurde meist, wie auch noch heute, auf den Plätzen der Altstadt und auf den Sandstrandstreifen am Meer, sowie auf den Grünflächen von Malindi und Mnazi Mmoja. In den 1920er Jahren wurde ein erstes Stadium im alten Steinbruch in Kikwajuni (heute: Mao Tse-tung Stadium) angelegt (s. Fair 2001: 229f).

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(Hendry 1928: 346-8). Das koloniale Erziehungsmodell sah daher nicht nur die Vermittlung von „marketable skills“ in den Regierungsschulen vor, sondern versuchte auch britische Idealvorstellungen von „fairness“ und „sportsmanship“ zu vermitteln. Hierfür wurden Sport und Körperertüchtigung als zentral angesehen und als Teil der kolonialen Schulbildung vermittelt. Der erste britische DoE, Rivers-Smith, bemerkte so in Bezug auf den Fußball: „The obvious attraction which football has for the African, the facility with which he picks up the game and keenness he exhibits in playing when opportunity occurs, compels one to believe that provision for games would be a very powerful influence in inducing students to come to school“ (ZNA AC 18/1). Und im Bericht des Department of Education des Jahres 1928 notierte Lawrence W. Hollingsworth (s. Themenkasten 18), der wohl berühmteste Lehrer des Protektorats: Cricket and football were carried on as usual in practices and matches. In the field competitions, open to all Zanzibari schools, there were some excellent contests, the winners in cricket being the Bohora school team and in football the Industrial apprentices...These activities help greatly in the rather difficult task of raising the tone and corporate spirit of this town institution; in 1929 it is intended to organize the sports on the ‚house‘ system in order to foster competition and increase the pride of the students in their schools (ZNA BA 5/4). Themenkasten 18: Lawrence William Hollingsworth Lawrence William Hollingsworth (1896-1981) kam 1922 nach Sansibar, wurde zunächst Direktor der Government Central School, 1923 Direktor der ersten Teacher Training School und 1935 Direktor der ersten Sekundarschule Sansibars, vertrat zwischenzeitlich immer wieder den Director of Education und gründete 1927 erste Lehrer- und Schülerzeitung Sansibars, mazungumzo ya walimu, die bald das wichtigste Diskussionsforum der „kolonialen“ sansibarischen Intelligenzia wurde. Die Mehrheit der sansibarischen Intellektuellen, Politiker und höheren Verwaltungsangestellten, die vor der Revolution des Jahres 1964 das öffentliche Leben Sansibars dominierten, war von ihm ausgebildet worden (s. Loimeier 2009).

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F USSBALL Insbesondere im Hinblick auf den Sport waren sich Sansibaris und britische Kolonialbeamte in ihrer Begeisterung einig. Die Bedeutung des Sports für die Kolonialverwaltung zeigte sich darin, dass die Briten in ihren Jahresberichten ausführlich über die unterschiedlichen Sportaktivitäten im Jahresverlauf berichteten und zwar als Teil der Dokumentation der Aktivitäten des Department of Education. In den 1920er und 1930er Jahren stammten die meisten dieser Berichte von L. W. Hollingsworth. Die Briten unterstützten dabei in erster Linie öffentliche Freiluftsportarten, vor allem Fußball, Cricket und „scouting“, wobei sich in der Organisation des Sports auch die kolonialen Hierarchien abbildeten.4 So wurden junge Araber und Inder ermutigt, „to develop a taste for the refinements of cricket; those deemed to be more suited for junior-level clerks were directed towards field hockey; while football was originally considered to be an appropriate sport for the African population“ (Fair 2001: 231). Gerade der „plebejische“ Fußball wurde jedoch in kurzer Zeit so beliebt, dass er zum Nationalsport Sansibars avancierte: „By the 1920s, everyone was playing football“ (Fair 2001: 234). Die Beliebtheit des Fußballs spiegelte sich in den sansibarischen Wochenzeitungen wie al-Falaq wieder, die üblicherweise ihre letzte Seite dem Sport (swa.: michezo) widmeten. Berichte in al-Falaq zeigen die zunehmende Beliebtheit des Fußballsports bei der arabischen Elite, selbst unter den religiösen Gelehrten. Nahezu alle prominenten Familien Sansibars waren mit einem oder mehreren Familienmitgliedern in Fußballvereinen vertreten, insbesondere im Malindi Sports Club (s. Themenkasten 19). So war Scheich QÁsim MuÎammad im Jahre 1953 Präsident des Vereins, Scheich AÎmad RašÐd ÝAlÐ al-ÝAbbÁsÐ der Sekretär, während die Position des Schatzmeisters von ÝAbd al-RaÎmÁn ÉÁbir al-Farsy eingenommen wurde. Scheich SaÝÐd MuÎammad DaÎmÁn, Sohn eines anderen berühmten Gelehrten, SaÝÐd b. DaÎmÁn, war wiederum Kapitän des Fußballteams der Mannschaft. DaÎmÁn and al-Farsy waren zur gleichen Zeit Mitglieder des Arab Sports Club (al-Falaq, 15. April 1953). Auch viele sansibarische Lehrer wie MuÎammad SÁlim al-BarwÁnÐ, der nach einem bekannten britischen Fußballspieler der Zeit den Spitznamen „Ginger“ erhalten hatte, oder religiöse

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Zum Thema Sport im britischen Empire und in Afrika s. Mangan 1987 sowie Baker/Mangan 1987.

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Gelehrte wie Sayyid ÝUmar ÝAbdallÁh (s. Loimeier 2009) spielten in ihrer Freizeit Fußball. Dabei bürgerte sich die Regel ein, die Fußballspiele und Fußballturniere in der Zeit zwischen dem ÝaÒr- und dem maÈrib-Gebet auszutragen (Fair 2001: 234), ein Brauch, der sich bis heute erhalten hat. Interessanterweise wurde der Fußball, aber auch Cricket und andere Sportarten in Sansibar während der gesamten Kolonialzeit keineswegs als „unislamische“ Neuerung kritisiert, ein Verweis darauf, dass sich auch dieser Modernisierungsschritt in den Augen der Bevölkerung und der fußballspielenden religiösen Gelehrten als eine Form der „islamischen Modernisierung“ San5 sibars darstellte. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass Sport und Fußball im Besonderen immer auch Gelegenheit waren, bei denen die kolonialen Untertanen die britischen Kolonialherren herausfordern und besiegen konnten. In den späten 1920er Jahren war der Fußball in Sansibar bereits so populär, dass Spiele zwischen den bekannten städtischen Fußballmannschaften, insbesondere zwischen dem Malindi Sports Club und dem African Sports Club, aber auch mit britischen Vereins- und Freizeitmannschaften über 10.000 Zuschauer anzogen. Für dieses Freizeitvergnügen musste außerdem kein Eintrittsgeld bezahlt werden. Die Fußballspiele waren zudem Gelegenheiten, bei denen sich die ngoma-Tanzvereine der Frauen und die beniMusikbands der Männer öffentlich präsentierten (Fair 2001: 234).

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Die Akzeptanz des Fußballs durch die Muslime zeigt sich auch darin, dass alle Schulen Sansibars und auch alle größeren islamischen Lehreinrichtungen wie die Muslim Academy und die Madrasat al-NÙr (s. Kapitel 8), heute der Stone Town Football Club, bis heute eigene Fußballmannschaften unterhalten. Diese positive Haltung zum Fußball kann sich allerdings ändern. Im Jahre 2004 kritisierten Anhänger der islamischen Oppositionsbewegung der anÒÁr al-sunna den Fußball als „un-islamischen“ Zeitvertreib und zwar als sich in der Ortschaft Mkwajuni eine Frauenfußballmannschaft bildete. Frauen hatten bis dahin (in Röcken) „netball“ gespielt, waren im Rahmen des Wechsels zum Fußball aber zu Hosen übergegangen, in den Augen der anÒÁr al-sunna ein Beleg für den Niedergang der Sitten (an-Nuur, 5. August 2004). Ihre Kritik hat bislang jedoch keine öffentliche Resonanz gefunden, die Beliebtheit auch des (Frauen-) Fußballs könnte also islamistische Kritik zum Verstummen bringen. Zum Frauenfußball in Sansibar s. den Dokumentarfilm „Zanzibar Soccer Queens“.

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TK 19: Fußballvereine in Sansibar Die ersten Fußballvereine Sansibars waren New Generation, der Verein der Araber und Inder der Altstadt, und New Kings, der Verein der afrikanischen Hafenund Gelegenheitsarbeiter Ng’ambos, später kamen die Caddies, die Comorians, Vuga, der Malindi Sports Club,

der Arab Sports Club, die African Sports

Association und die Betriebsmannschaften des Public Works Department, des Medical Department, der Eastern Telegraph Company, des Police Departments und die Mannschaft der „Europäer“, Mnazi Moja, hinzu. Im Jahre 1924 wurde der erste Pokal ausgetragen, der von einem indischen Geschäftsmann, IbrÁhÐmji Darugar, gestiftet worden war, später kamen der Samachar Cup, der Jinnah Cup, der Rankine Cup und der Zanzibar Cup dazu. Seit dem Jahre 1926 gab es eine erste Liga mit neun Vereinen. Gleichzeitig wurde ein Sports Control Board gegründet, dem die administrative Kontrolle des Fußballs und anderer Sportarten übertragen wurde. Während der SCB von den Briten und Vertetern der arabischen und indischen Eliten dominiert wurde, waren die Fußballmannschaften Sansibars gemischt. Insbesondere der Wettbewerb um die besten Spieler führte dazu, dass sich in den 1920er Jahren die britischen, komorischen, indischen, afrikanischen und arabischen Mannschaften wie die New Kings und New Generation auflösten und von gemischten Teams abgelöst wurden (s. Fair 2001).

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Abb. 11: Das schwarze Brett der baraza der Fans des FC Liverpool (Liverpool score board). (Foto Roman Loimeier)

P FADFINDER Neben dem Fußball war es vor allem die Pfadfinder-Bewegung, die in Sansibar zu großer Beliebtheit gelangte und sich seit den 1920er Jahren geradezu zu einer „Schule der Nation“ entwickelte, da praktisch jede prominente Familie zumindest einen Sohn oder eine Tochter in einer Pfadfindergruppe hatten. Die Aktivitäten der „scouts“ wurden jährlich in den Berichten des Department of Education aufgezeichnet und als Teil der britischen „civilizing mission“ präsentiert. Auch diese Berichte wurden in den 1920er und 1930er Jahren meist von L.W. Hollingsworth verfasst. Die Pfadfinderbewegung entstand in Sansibar im Jahre 1912, also nur vier Jahre nach der

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Gründung der „scouts” durch Lord Baden-Powell, der 1929 als „Baron Baden-Powell of Gilwell“ geadelt wurde. Der Gründer der ersten PfadfinderGruppe in Sansibar war Pater Robert Keable von der anglikanischen Universities’ Mission to Central Africa (UMCA) während das erste „Pfadfinder-Wolfsrudel“ (wolf pack) im Jahre 1918/1919 von Pater C.F. Simpson gegründet wurde. Einer der ersten Sansibaris, der sich den Pfadfindern anschloss, war Ibuni ÑÁliÎ, einer der wenigen muslimischen Studenten an der UMCA-Schule in Mkunazini und späterer einer der Führer der ZNP und Minister in der ersten Regierung Sansibars nach der Unabhängigkeit im Dezember 1963. Aufgrund der Tatsache, dass die ersten Pfadfindergruppen so deutlich mit christlichen Missionsorganisationen verbunden waren, scheiterte die Pfadfinderbewegung zunächst aber am Widerstand der muslimischen Eltern. Im Jahre 1925 kam es zur Neugründung der Pfadfinderbewegung durch L.W. Hollingsworth, der selbst im Zentrum der Pfadfinderbewegung in Gilwell bei London ein „scout master“-Training absolviert hatte, obwohl auch diese Gruppe 1927 eingestellt werden musste und erst 1929 neu begründet werden konnte. Diese Initiative wurde erneut von Hollingsworth unterstützt, stand nun aber unter der Leitung eines ersten sansibarischen „scout master“, MuÎammad SÁlim al-BarwÁnÐ. MuÎammad SÁlim alBarwÁnÐ hatte 1928 ein zweites „Wolfsrudel“ aufgebaut, und als er 1929 die Leitung der ersten „Truppe“ übernahm, folgte ihm kurzzeitig SaÝÐd Bingurnah MaÎfÙÛ, Sansibars erster Student am Makerere College in Kampala und später Sansibars erster Radiologe als nächster Leiter des „Wolfsrudels“. Er wurde aber noch 1929 von HilÁl MuÎammad al-BarwÁnÐ, Sansibars erstem Botschafter bei den Vereinten Nationen im Jahre 1963, abgelöst. Die dritte Pfadfindertruppe wurde 1929 von YaÎyÁ ÝAlawÐ aufgebaut und im selben Jahr folgte ein drittes „Wolfsrudel“, geführt von KhalÐfa ÝUmar und ShaÝbÁn ÑÁliÎ al-Farsy, ein Bruder des bekannten religiösen Gelehrten ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy. Die erste indische Pfadfindergruppe wurde 1930 von ÝAbd al-KarÐm Íasan ÝAlÐ begründet, einem anderen Studenten von L.W. Hollingsworth an der Teacher Training School (ZNA BA 5/3, Annual Report, DoE, 1930). Die Übernahme der Pfadfinderbewegung durch Vertreter der arabischen und indischen Eliten Sansibars sorgte dafür, dass die Pfadfinder von der Bevölkerung akzeptiert wurden und sich in der Folge zu einer wichtigen gesellschaftlichen Kraft entwickeln konnten.

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Die Pfadfinderbewegung erhielt in den 1930er Jahren weiteren Auftrieb, als Lord Baden-Powell im Dezember 1935 Sansibar persönlich besuchte und einer Vorführung der sansibarischen Pfadfindergruppen beiwohnte, „that concluded with an elaborate representation of an Indian wedding procession staged by the Indian scouts and cubs, and with a most realistic performance of a slave raid by the Arabs, African and Comorian scouts and cubs” 6 (ZNA BA 5/3, Annual Report, DoE, 1935). Die unterschiedlichen Pfadfindergruppen waren aber nicht nur mit den üblichen „scouting and cubbing“ Aktivitäten beschäftigt, sondern nahmen auch an offiziellen Zeremonien teil, so etwa an Staatsbesuchen, an den offiziellen maulid-Feierlichkeiten im Mnazi Moja Park am 12. RabÐÝ al-awwal, und an staatlichen Feiertagen wie dem Geburtstag des Königs von England oder den Feierlichkeiten zum silbernen Thronjubiläum des Sultans im Jahre 1936. Das öffentliche „Paradieren“ wurde eine der zentralen Aufgaben der Pfadfinder, obwohl die britischen Verwaltungsbeamten immer wieder Schwierigkeiten hatten, die „boy scouts“ an denjenigen Tagen zum Paradieren zu motivieren, die in der sozialen Zeitordnung Sansibars der Familie vorbehalten waren. Im Jahresbericht der (indischen) Sir Euan Smith Madrasa wurde vermerkt: Unfortunately, scouting and cubbing did not make a very good progress...The boys prefer to go to shambas, with their parents or friends on Sundays and they therefore do not attend their scout parade which is an essential part of scouting … The scouts have not failed to carry out their individual and collective ‚good-turns‘, whenever opportunity occurred and have followed the maxim ‚once a scout is always a scout‘, although they have become lethargic in attending parades (ZNA AB 1/78)

Die Pfadfinder wurden schließlich aber so wichtig für das öffentliche Leben Sansibars, dass es L.W. Hollingsworth schließlich sogar gelang, die indischen Pfadfindergruppen im Jahre 1937 zum Verbleib im britischen Ver-

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Im zweiten Weltkrieg wurde an der Aga Khan Girl’s School von Mrs. Morley und Mrs. Marchasini die erste „girl scout“ Gruppe gegründet und 1947 folgte eine zweite Mädchengruppe, die von Mrs. J.D. Young und Miss Kelly geführt wurde. Im Jahre 1954 gab es bereits zehn Pfadfindergruppen, fünf „packs“, elf „troops“, 231 „junior boy scouts“, 110 „senior boy scouts“, 22 „sea scouts“ und 28 „scouters“.

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bund zu bewegen. In diesem Jahr waren die Pfadfindergruppen in Indien unter Protest aus der Pfadfinderbewegung ausgetreten, nachdem der „Supreme Scout Master“, Lord Baden-Powell bei einem Besuch Indiens vermerkt hatte, „that the Hindustani language had no word that carried the full weight of the scout conception of honour” und sich danach geweigert hatte, sich für diese rassistische Bemerkung zu entschuldigen (Rosenthal 1986: 266).7

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S ANSIBAR

In der Kolonialzeit etablierten sich in Sansibar auch eine Reihe neuer Medien, insbesondere Zeitungen, das Radio und das Kino. Diese Medien waren eng mit dem Uhrzeitregime verbunden: die Erscheinungstage der Zeitung (und die mit ihnen verbundene Kalenderordnung), das Programm von Radio und Fernsehen mit ihren Zeitrastern sowie die Spielzeiten der Kinos stellten neue chronometrische Ordnungsmomente im Alltagsleben dar. Auch heute noch warten viele Menschen in Sansibar auf die tägliche Ankunft der Zeitungen vom Festland, die mit der Fähre von Dar es Salaam nach Sansibar gebracht werden und dort sowohl von Straßenhändlern als auch in einer Reihe von Buch- und Papierläden wie dem „Masomo“Buchladen vertrieben werden. In und vor diesen Läden werden die Tageszeitungen öffentlich ausgehängt, von den Passanten gelesen und diskutiert. Die neuen Medien brachten den Menschen in Sansibar die neuen Zeiten nicht nur näher und verstärkten die Erfahrung des Uhrzeit-Regimes, sie wurden als Unterhaltungs- und Nachrichtenquelle auch Bestandteil der neuen Zeit, die wiederum in den baraza kommentiert wurde. Ein wichtiger Aspekt bei der Etablierung der neuen Medien, insbesondere der Zeitungen, war die Integration breiterer Bevölkerungsschichten in das globale Geschehen des 20. Jahrhunderts. Zwar kamen die Zeitungen in Sansibar lange Zeit kaum über eine wöchentliche Auflage von 1000 Exemplaren hinaus, zirkulierten aber weiträumig und wurden noch breiter rezipiert (s. Hamdan 1981). Nach der Revolution wurden die Zeitungen

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Eine Geschichte der sansibarischen Pfadfinderbewegung s. in einem Bericht der Monatszeitung Dira vom 25. Juli 2003 mit dem Titel Vyama vya boy scout, Wolf Cub na Girl Guide.

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verboten oder stellten ihr Erscheinen ein, doch seit den 1990er Jahren hat sich auch in Sansibar wieder ein Zeitungsmarkt entwickelt, auf dem sich kurzzeitig sogar regimekritische Zeitungen behaupten konnten, insbesondere Maarifa (2001/2002) und Dira (2003/2004; s. Loimeier 2009). Die erste Zeitung war die 1893 gegründete Gazette for Zanzibar and East Africa, die 1894 zur Official Gazette wurde. Im Jahre 1910 gab eine muslimische Reformgruppe, die Íizb al-IÒlāÎ („die Partei der Reform“) die Zeitung alNajāÎ („Der Fortschritt“) heraus (Hoffman 2007: 23). Im ersten Weltkrieg entstand dann Qism al-ÝArab („Die arabische Abteilung“), während die indische Gemeinde seit 1907 Akhbār („Nachrichten“) herausgab, die später zum Sonntagsblatt The Samachar wurde, der wohl einflussreichsten Zeitung in Gujarati in Sansibar in den 1920er und 1930er Jahren. Im Jahre 1922 gründete Biharlal N. Anantani die Sonntagszeitung Zanzibar Voice und 1929 folgte die arabische Wochenzeitung al-Falaq („Die Morgendämmerung“). In den späten 1940er Jahren erfolgte mit der zunehmenden Politisierung des Lebens in Sansibar die Gründung weiterer Zeitungen, die in den 1950er Jahren zunehmend parteipolitisch orientiert waren und langsam größere Auflagen erreichten. Zu ihnen gehörten die Wochenzeitungen Mwongozi („Führer“, gegr. 1941), Afrika Kwetu („Unser Afrika“, gegr. 1948), welche die Politik der ASP vertrat, und al-NahÃa („die Wiedergeburt“, gegr. 1951). Zur einflussreichsten indischen Zeitung entwickelte sich in den 1950er Jahren die von Rati Balsara im Jahre 1948 gegründete Wochenzeitung The ÝAdal InÒāf („Die Gerechten“), während al-Falaq die einflussreichste arabische Wochenzeitung blieb und ebenso wie al-NahÃa und Mwongozi die politische Linie der ZNP vertrat. Dies galt ähnlich für die 1954 begründete arabische Wochenzeitung Mwangaza („Lichtstrahl“), welche die politische Linie der ZPPP vertrat (s. Hamdan 1981). Die Zeitungen Sansibars dienten so nicht nur der Unterhaltung und Information, sie waren seit den 1930er Jahren auch eine wichtige Bühne öffentlicher Debatten in Sansibar. In den 1930er Jahren drehte sich die Debatte in den Zeitungen beispielsweise um die Rolle des Arabischen im öffentlichen Leben und in den Regierungsschulen, 1956 war es die Suezkrise und 1958 die Unabhängigkeit Ghanas. Während der zama za siasa der 1950er und frühen 1960er Jahre waren die Debatten in den Zeitungen ein wichtiges Stimmungsbarometer für die politische Entwicklung Sansibars (s. Bromber 2002 und Glassman 2000).

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Die Etablierung neuer Medien beschränkte sich jedoch nicht auf die Zeitungen. 1951 kam es zur Gründung eines eigenen Radioprogramms für Sansibar, Sauti ya Unguja, das sich nach seinem Programmstart am 15. März 1951 rasch zu einem beliebten Medium entwickelte, das auch von den religiösen Gelehrten geschätzt wurde und das bald den Tagesablauf mit seinem Programm mitbestimmte und strukturierte. Das anfangs noch kurze Vormittagsprogramm von Sauti ya Unguja sah 1956 folgendermaßen aus: 10.30-10.45: Kuran Takatifu („QurÞÁnrezitation“) 10.45-11.00: Habari za Ulimwengu („Weltnachrichten“) 11.00-11.15: Sahani za Santuri („Grammophon-Musikaufnahmen“) 11.15-11.30: Mawaidha („Ratschläge“) 11.30-11.45: Sehema ya mwisho ya utenzi („Poesie zum Programmende“) 11.45-12.00: Sahani za Santuri („Grammophon-Musikaufnahmen“) Seit dem Jahre 1956 moderierte der QurÞÁnschulinspektor und Gelehrte ÝAbdallāh ÑāliÎ al-Farsy jeden Donnerstag von 11.15 bis 11.30 Uhr das Programm mawaidha und auch sonst kamen im Radio immer wieder religiöse Gelehrte zu Wort, häufig mit Kommentaren zum religiösen und sozialen Leben Sansibars. Das Radio wurde in Sansibar also ebenso wie die Zeitungen und die Einführung der Uhrzeit als ein „islamisch-sansibarischer“ Modernisierungsschritt akzeptiert.8 Bereits für das Jahr 1916 wurde für Sansibar auch eine erste Filmvorführung dokumentiert (Reinwald 2004: 42ff) und bald entstanden die ersten Kinos, das „Empire“ in Mkunazini (nach 1916), das spätere „Sultana“ in Malindi (c. 1917, seit 1964 das „CinéAfrique“), sowie das „Royal“ (ab 1937 „Majestic“) in Vuga (c. 1921), die von indischen Geschäftsleuten betrieben wurden. Obwohl sich die Protektoratsverwaltung bei der Zensur der Zeitungen und des Kinoprogramms recht großzügig zeigte, kam es immer wieder zu Zensurmaßnahmen, die seit dem Erlass eines Stage Plays and Cinematograph Exhibitions Decree im Oktober 1920 von einem „board of

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Die Akzeptanz moderner Massenmedien ist durchaus nicht selbstverständlich. Ahmed verweist in diesem Zusammenhang auf einen Vorfall in den pakistanischen „tribal areas“ vor einigen Jahren: „as a symbol of modernity, (a radio) was ritually shot to pieces“ (Ahmed 2004: 258).

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censors“ diskutiert und entschieden wurden (Reinwald 2004: 49).9 Dieses Gremium von Zensoren hatte in den 1950er Jahren eine beträchtliche Anzahl von Filmen zu sichten, alleine im Jahre 1954 154 Filme, die Mehrzahl aus den USA (92) und Indien (33), sowie Ägypten (15) und Großbritannien (11), was auf die wachsende Bedeutung dieses Zeitvertreibs verweist. Die meisten dieser Filme passierten die Zensur. Lediglich Girls of the year und Last Meeting wurden verboten, sechs weitere US-amerikanische Filme wurden in Teilen zensiert, darunter die Western Shane und Battle of Apache Pass. Ein ähnliches Bild ergab sich für die Jahre 1955-1963, wobei sowohl die Gesamtzahl der Filme wie auch die Zahl der Filme aus Indien zunahm, die Zahl der zensierten Filme aber niedrig blieb. Interessanterweise waren es häufig die sansibarischen Zensoren, die zu Verbot oder Zensur schritten, etwa im Dezember 1960, als ein Film von Fritz Lang, Der Tiger von Eschnapur, an mehreren Stellen zensiert wurde, unter anderem wegen „words of contempt used by the Prince’s brother-in-law to Zita when she is held captive, and the scenes where Zita rehearses her dance for the temple while very scantily clad“ (ZNA AD 5/75). Im Jahre 1962 protestierte die Muslim Cultural Association gegen den US-amerikanischen Film America by night, und zwar mit der Begründung, „(that) as we do not want the importation of Atheism and irreligiousness from the Communist East, we do not most emphatically want the importation of immorality and decadance from the West“ (ZNA AD 5/75).

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Auch im „board of censors“ spiegelte sich die Kosmopolitanität Sansibars wieder. Ihm gehörten seit dem Jahre 1926 nämlich Vertreter der indischen und arabischen Bevölkerungsgruppen an, seit 1948 zudem ein „Shirazi“ (Ameir Tajo). In den späten 1950er Jahren umfasste der „board of censors“ neben dem Director of Education (Hann) und dem District Commissioner der Insel Pemba, vier britische Lehrer und Verwaltungsbeamte (Davies, Madon, Moultrie und Callan), sowie fünf Vertreter der sansibarischen Intelligenzia, nämlich J.A. Rahim, Ameir Tajo, YaÎyÁ ÝAlawÐ, M.G. Nasser und M.D. Mehta (ZNA AD 5/75).

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Abb. 12: …and now, clear the decks for Kismet (ZNA AD1/122)

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Die neuen Medien, Zeitungen, Radio und Kino, vermittelten aber nicht nur ein neues Zeitgefühl, das sich zwischen dem „atheistischen Osten“ und dem „amoralischen Westen“ positionierte, sondern sie stellten auch neue Bühnen für öffentliche Diskussion und Proteste dar, wobei nicht alle Debatten einen politischen Charakter annahmen. 1945 war es etwa zu einer Protestkundgebung gekommen, weil der Besitzer des „Majestic“-Kinos in Vuga die Eintrittspreise für den populären indischen Film Kismet erhöht hatte. Ein Lehrer der nahe gelegenen Aga Khan Boys‘ School, NuÝmÁn Shaykh IbrÁhÐmji protestierte und verteilte ein Flugblatt, in welchem er auf den Stellenwert des Kinos als neues Freizeitvergnügen Sansibars verwies: For all: Almost everyone will agree that cinema films are one of the main sources of entertainment and pass time (meine Hervorhebung, RL) in the present days...the managers of theatres therefore have a very thriving business to which alone a fair fraction of the public are regular customers... It may be realised that the people, if they wish, can easily do without going to picture houses but can the managers afford such an attitude of resignation on the part of the public? No! But, good or bad or hopeless the people are always willing to pay full rates for any film that they intend to see and it needs little mention that a majority of the pictures they see are worthless and fail to entertain any class of people. In such cases the spectators may criticize things among themselves, but they rarely have a grudge against the managers...However, is it sincere, gentlemanly and businessmanlike to corrupt the joyous feelings of the public of the opportunity of seeing really good and entertaining pictures by increasing of rates? How very selfish!...Protest against such a state of affairs! (ZNA AD 1/122)

Dieses Pamphlet erregte das Interesse des britischen Commissioner of Police und zwar deshalb, weil sich tatsächlich ca. 500 Menschen vor dem Kino versammelten und gegen die erhöhten Eintrittspreise protestierten. Ihre Kundgebung wurde zwar rasch und friedlich aufgelöst, dass aber, so der Commissioner of Police, überhaupt Polizei hatte ausrücken müssen und dass, „a teacher of a famous school should resort to measures likely to lead to unpleasant incidents and possibly serious disturbances of the peace is to say the least of it, surprising“. In der Folge wurde der besagte Lehrer am 16. August 1945 aus dem Schuldienst entlassen, eine traurige Konsequenz seines Engagements für gute Filme aus „Bollywood“.

8.

Die Schule: eine Institution zwischen den Zeitordnungen

B ILDUNG

ALS

E RWERB

VON

„ SOCIAL

SKILLS “

Während in den vorangegangenen Kapiteln Zeitordnungen, Zeitregime und der Zeitvertreib im Mittelpunkt der Untersuchung standen, wird nun der Fokus auf eine Institution gerichtet, die für die Umsetzung der Uhrzeit in Sansibar von zentraler Bedeutung war, die Schule. Dabei stellt sich vor allem die Frage, wie sich die Konkurrenz von „kolonialer (Uhr)zeit“ mit der etablierten „religiösen Zeit“ in der kolonialen und post-kolonialen Lebenswirklichkeit Sansibars, insbesondere im Bereich des Bildungswesens darstellte und welche Folgen diese Konkurrenz für das islamische Bildungswesen hatte.1 Zwei unterschiedliche Bildungs- und Schulbereiche mit ihren jeweiligen Konzepten von Zeit-Disziplin und Zeit-Ordnung werden dabei vergleichend betrachtet: die „islamischen“ Schulen (QurÞÁnschulen und madÁris) und die (britisch-kolonialen, später postkolonial-revolutionären) Regierungsschulen.2 Der Unterschied zwischen den beiden Schultypen

1

Die Entwicklung des Bildungs- und Erziehungswesens in Sansibar ist bisher nur in zwei bislang unveröffentlichten Dissertationen bearbeitet worden (Turki 1987 und Ziddy 2001). Dazu kommt meine eigene Arbeit, Between social skills and marketable skills: The politics of Islamic education in 20th century Zanzibar (Leiden 2009), auf der das vorliegende Kapitel hauptsächlich beruht.

2

In Sansibar spielten die Missionsschulen, die in anderen Teilen Afrikas und auch in Tanganyika von enormer Bedeutung für die Entwicklung des modernen Bildungswesens waren, historisch keine nennenswerte Rolle und kamen selbst

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wurde bereits von Salme bint SaÝÐd beschrieben, die zur Zeitstruktur und sozialen Orientierung des etablierten Schulwesens in Sansibar folgendes bemerkte: „Die Dauer der Schulzeit war unbestimmt. Was es zu lernen gab, das musste auf alle Fälle gelernt werden, mochte das Kind nun dieses Pensum in einem, in zwei oder drei Jahren sich aneignen. Das hing ja allein von seiner natürlichen Begabung ab“. Gleichzeitig übte sie Kritik am deutschen Schulwesen des späten 19. Jahrhunderts, in welchem die Kinder „täglich fünf und mehr Stunden in einem käfigartigen Raum, genannt Schulstube, zusammengepfercht werden, wo eine Hitze und Stickluft herrscht, die gar nicht zu beschreiben ist...Es gibt wohl wenig mehr, was hier nicht den Kindern gelehrt wird, und das in solcher Fülle, dass der kindliche Verstand unmöglich alles behalten kann“ (Ruete 2000: 74/75). Islamische Schulen und Regierungsschulen repräsentieren aber nicht nur konkurrierende Zeitordnungen und Zeithaushalte, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stark verändert haben, sondern beziehen sich auch auf unterschiedliche geographische wie religiös-ideologische Referenzordnungen: im Falle der Regierungsschulen auf ein westlich-säkulares Bildungsmodell, das dem englischen Bildungskanon verpflichtet war; im Falle der QurÞÁnschulen auf ein islamisches Bildungsmodell (s. Themenkasten 20), das mit den islamischen Lehrtraditionen des ÍaÃramaut, des HiÊÁz und Ägyptens translokal verflochten war und das vor allem an der Vermittlung von „soci3 al skills“ orientiert war.

in ihrer Blütezeit über wenige Hundert Schüler nicht hinaus. Zu den Missionsschulen in Sansibar s. vor allem Turki 1987. Die „indischen“ Schulen, die eine wesentlich wichtigere Rolle im Bildungswesen Sansibars in der Kolonialzeit spielten, waren „ethnische“ Schulen und werden hier nicht berücksichtigt (zur Entwicklung der „indischen“ Schulen s. Loimeier 2009). 3

Ich verwende hier den englischen Ausdruck „social skills“, der nicht nur die Bedeutungsdimension der „sozialen Kompetenz“ hat, sondern auf eine tiefere Dimension islamischer Ausbildung verweist, nämlich die Art und Weise wie das Gelernte, insbesondere der QurÞān, in alltägliche Lebenskontexte, politische Diskurse oder religiöse Debatten eingebracht wird. Erst mit dieser gesellschaftlich bedeutungsvollen und respektierten Umsetzung des Gelernten erlangt die islamische Ausbildung soziale Wirkmächtigkeit, erweisen sich die gelernten Lehrinhalte als „social skills“.

8. D IE S CHULE:

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Themenkasten 20: Konzepte islamischer Bildung Das vormoderne islamische Bildungsmodell, das vor allem „social skills“ (s. unten) zu vermitteln suchte, beschrieb „Bildung“ mit den Begriffen taÝlÐm und tarbiya. Der Begriff der tarbiya, der heute für „Erziehung“ steht, hatte aber noch Ende des 19. Jahrhunderts eine andere Bedeutung und bezog sich auf unterschiedliche Formen der „Aufzucht“ und „Brut“ von Tieren oder das „Heranziehen“ von Pflanzen. Der Bericht des ägyptischen Bildungsreformers RifÁÝa alÓahÔÁwÐ über seine Reise nach Frankreich und seinen Aufenthalt in Paris im Jahre 1834 mit dem Titel taÌlÐÒ al-ibrÐz fÐ talÌÐÒ BÁrÐz enthielt so noch keinen Verweis auf den Begriff tarbiya. Vielmehr betonte er die „Disziplin“ (tartÐb) der Armee und der Verwaltung in Frankreich (Mitchell 1988: 88). Selbst in seinen späteren Werken zur Erziehung, insbesondere seinem 1872 veröffentlichen Text al-muršÐd al-amÐn li-l-banÁt wa-l-banÐn, verwandte al-ÓahÔÁwÐ den Terminus tarbiya lediglich in Verbindung mit dem älteren Begriff taÝlÐm, der als „Erziehung“ und „Bildung“ im Sinne von Geistes- und Herzensbildung übersetzt werden kann.

Den beiden klassischen Schlüsseltexten zum Thema Bildung (arab.: taÝlÐm) von al-ZarnÙÊÐ und Ibn ÉamÁÝa4 zufolge umfasste die „rechte“ islamische Erziehung nach den „Regeln von der (guten) Bildung“ (arab.: adab altaÝlÐm) vor allem die richtigen Methoden des Lernens, nämlich das korrekte Lesen (arab.: qaraÞa) und Rezitieren (arab.: tilÁwa) der sechzig Rezitationsabschnitte (arab.: aÎzÁb, sg. Îizb) des QurÞÁns nach den Gesetzen des Rezitierens (arab.: taÊwÐd); das Studium (arab: dirÁsa) und das Memorieren (arab.: Æakara) der Texte und die Wiederholung (arab.: takrÐr) des Gelernten sowie die Beziehung des Schülers zu seinem Lehrmeister. Nach dem Memorieren des QurÞÁns stand das Studium der Schlüsseltexte des islamischen Rechts und der Prophetenüberlieferungen im Mittelpunkt des Lernens. Diese Texte wurden den Studenten durch Diktat (arab.: imlÁÞ) vermittelt, sie wurden vom Studenten „gehört“ (arab.: samiÝa min) und dem Studenten „vorgelesen“ (arab.: qaraÞ ÝalÁ), ein Lehrsystem, das auf der persönlichen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler beruhte (Berkey 1992: 24).

4

TaÝlÐm al-mutaÝallim ÔarÐq al-taÝallum von Burhān al-IslÁm al-ZarnÙÊÐ (auch BurhÁn al-DÐn, st. 1223; GAL I: 606; S I: 837; und taÆkirat al-sÁmiÝa wa-lmutakallim fÐ adab al-ÝÁlim wa-l-mutaÝallim von Badr al-DÐn MuÎammad b. ÉamÁÝa (fl. frühes 14. Jahrhundert).

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Das Bildungsmodell des adab al-taÝlÐm unterstützte die Nähe (arab.: ÒuÎba) von Lehrmeister und Student, denn nur in der direkten Kommunikation konnten Probleme des Verstehens von Texten geklärt werden, eine Wissensleistung, die weder im eigenständigen Studium noch in einer Schule gewährleistet war: Das Wissen kam vom Lehrmeister, nicht aus einem Buch (Berkey 1992: 27). Folglich war es nötig, die Lektionen im Gedächtnis zu verankern (arab.: taÎfÐÛ) und zu notieren. Lautes Lesen unterstützte den Prozess des Memorierens und half, Lesefehler zu korrigieren. Ein weiteres Anliegen des adab al-taÝlÐm waren die „besten Zeiten“ für das Studium: Der Morgen nach dem Sonnenaufgang (arab.: ÒubÎ, faÊr) galt als die beste Zeit für die Lehre, die Mitte des Tages als die beste Zeit für das Schreiben und der Abend als die beste Zeit für das Lesen, Studieren und Memorieren von Texten (arab.: al-muÔÁlaÝa wa-l-muÆÁkara) in einer Gruppe von Schülern (Berkey 1992: 79). Die Lehre des adab al-taÝlÐm betonte die Stille als wichtige Voraussetzung für das Studium und stellte fest, dass die obersten Tugenden der Studenten das „gute Zuhören“, das „gute Fragen“, das „gute Aufnehmen der Antworten“, schließlich das „gute Memorieren“ und das „gute Weitergeben“ des Gelernten seien (Makdisi 1981: 102). Abb. 13: Eine QurÞÁnschule auf dem Lande: Die Kinder schreiben noch auf Holztafeln (ubao). (Ansichtskarte)

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Die Entwicklung des islamischen Bildungswesens an der ostafrikanischen Küste kannte zu Beginn der Kolonialzeit bereits eine längere Geschichte interner Reformbemühungen, die im Wesentlichen mit religiösen Gelehrten der QÁdiriyya und der ÝAlawiyya verbunden waren (s. Bang 2003 und Pouwels 1987). Diese Reformbemühungen führten im späten 19. Jahrhundert zur Gründung einer ersten madrasa, einer „höheren“ und weiterführenden islamischen Schule, nämlich der Madrasat BÁ KathÐr von ÝAbdallÁh BÁ KathÐr al-KindÐ (gest. 1925) sowie zur Ausdehnung des Kanons islamischer Wissenschaften und waren an ähnlichen Reformbemühungen im ÍaÃramaut orientiert (s. hierzu Bang 2003: 62ff, 71-75): Zum Memorieren des QurÞÁns und einiger Prophetenpreisgedichte, sowie der Vermittlung der Grundregeln der islamischen religiösen und rituellen Vorschriften (arab.: ÝibÁdÁt) kamen nun grundlegende Texte des (šÁfiÝÐtischen) Rechts (arab.: fiqh), die Prophetenüberlieferungen (arab.: ÎadÐ×), arabische Grammatik (arab.: naÎw), QurÞÁnexegese (arab.: tafsÐr) und Sufismus (arab.: taÒawwuf) (Loimeier 2009: 95). Die Studenten saßen nun nicht mehr im Kreis um ihren Lehrmeister herum, sondern auf Bänken in Reihen in Klassenzimmern. Das neue Kurrikulum war zudem auf vier Jahre begrenzt. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden auch erste Übersetzungen arabischer Texte ins Kiswahili durchgeführt, insbesondere eine Sammlung von ÎadÐ×en, die als hadithi zilizochaguliwa (auch aya zilizochaguliwa, „die Verse, die ausgewählt wurden“)5 Eingang in den Syllabus der Regierungsschulen fanden. Dazu wurde eine Reihe didaktisch neu gestalteter Texte aus Ägypten und Indien, später Saudi-Arabien in das islamische Bildungswesen integriert. Im späten 19. Jahrhundert beruhte das islamische Bildungswesen an der ostafrikanischen Küste aber immer noch hauptsächlich auf den QurÞÁnschulen (swa.: chuo, pl. vyuo), die häufig auch darsa/darāsa genannt wurden. Das Hauptziel der Ausbildung in der QurÞÁnschule war neben dem Memorieren des QurÞÁns vor allem die Vermittlung von „guten Manieren“ (arab.: adab). In der darsa saßen die Kinder mit ihren Schreibtafeln aus Holz (swa.: ubao, arab.: lauÎ) auf dem Boden im Kreis um ihren Lehrer herum, dessen Text auf einem Lesepult (arab.: kursÐ, eigentlich der „Thron“ für den QurÞÁn) ruhte. Vor der Etablierung von Regierungsschulen in Sansibar (s.

5

Von al-AmÐn b. ÝAlÐ al-MazrÙÝÐ (arabischer Text; die Übersetzung ins Kiswahili wurde von ÓÁhir b. AbÐ Bakr al-AmawÐ durchgeführt, der Text wurde 1925 veröffentlicht).

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unten) fand das Lernen in den QurÞÁnschulen in zwei täglichen Zeitabschnitten statt: Eine erste „Lektion“ am Morgen nach dem Sonnenaufgang bis zum Mittagsgebet (Ûuhr), eine zweite am Nachmittag bis zum ÝaÒrGebet. Der Nachmittags-Unterricht wurde in größeren QurÞÁnschulen häufig nicht vom Lehrmeister (swa.: mwalimu, pl. walimu) selbst durchgeführt, sondern von älteren Studenten, die als „Hilfslehrer“ (swa.: wanafunzi wakubwa) fungierten. Der Donnerstagnachmittag und der Freitag waren frei (Turki 1987: 60). Dazu kamen unter Umständen Abendlektionen für die Kinder zwischen dem maÈrib und dem ÝišāÞ-Gebet. In der Regel war der Abend aber für das Studium von schwereren Texten durch fortgeschrittene Studenten bestimmt. Vor allem nach dem ÝišāÞ-Gebet trafen sich erwachsene Studenten in den Moscheen mit den großen Lehrmeistern und studierten klassische Texte des islamischen Bildungskanons oder rezitierten die Litanei (wird) eines Sufi-Ordens. Im RamaÃÁn rezitierten und studierten Erwachsene aber auch schon nach dem Ûuhr oder nach dem ÝaÒr-Gebet in den Moscheen. Zudem fanden im Fastenmonat in vielen Moscheen feierliche Rezitationen des QurÞÁn statt und einige Gelehrte führten tägliche tafsÐrSitzungen durch. Das Studium als solches war in zwei Stufen gegliedert: In einer ersten Phase, die zwischen fünf und sieben Jahre dauerte und somit zeitlich offen war, studierten die Kinder bei einem Lehrmeister, einem mwinyi chuoni (wörtlich: „Schulmeister“), der als Beleg für seine Gelehrsamkeit eine iÊÁza, ein „Autorisationsschreiben“ seines eigenen Lehrers für die Lehre eines oder mehrerer Texte vorweisen konnte. Die erste Lernphase beschränkte sich fast vollständig auf das Memorieren des QurÞÁns, die Grundregeln der arabischen Grammatik, die islamische Glaubenslehre und die Regeln des religiösen Rituals, die in grundlegenden ÝaqÐda-Texten („Katechismen“) studiert und memoriert wurden. Nach dem Abschluss dieser ersten Phase verließen die meisten Kinder die QurÞÁnschule, nur wenige setzten ihr Studium fort und studierten in einer zweiten Studienphase die klassischen Texte des islamischen Bildungskanons bei den Lehrmeistern, die durch entsprechende iÊāzāt als „Meister“ ihrer Texte ausgewiesen waren.

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D AS KOLONIALE B ILDUNGSWESEN DIE Q UR ÞÀ NSCHULEN

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UND

Dies war die Lage des islamischen Bildungswesens in Sansibar zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1905 wurde jedoch eine erste staatliche Grundschule eröffnet, die spätere Government Central School, die den Kindern neben „islamischer Bildung“ auch moderne „marketable skills“6 vermitteln sollte. Die Bemühungen der britischen Protektoratsverwaltung wurden vom Sultan unterstützt und führten 1908 zur Gründung eines Department of Education und zum Aufbau weiterer staatlicher Grundschulen, die auch islamischen Religionsunterricht („Islamic Religious Instruction“, arab.: diÁna) erteilten. Bei ihren Bemühungen, ein modernes Regierungsschulwesen aufzubauen, ignorierten die Briten die bestehenden QurÞÁnschulen zunächst vollkommen. Der Jahresbericht des Department of Education des Jahres 1925 hielt so in Hinblick auf das islamische Bildungswesen in Sansibar fest, dass bislang noch nicht einmal die genaue Zahl der QurÞÁnschulen bekannt war: […] but seeing that there is one in practically every village, and a number in the town, the total must run into hundreds. In the villages these schools are usually conducted on the baraza (meine Hervorhebung, RL) of the teacher’s house and the children squat on the floor and repeat passages from the Kuran in the Arabic language until they know them by heart. They also learn the Arabic alphabet in order to be able to write, in Arabic characters, passages from the Koran. Beyond this no further instruction is given. Boys remain at these schools for periods varying from one to three years depending on the facility with which they cover the course. The fact that

6

„Marketable skills“ werden hier als diejenigen Fähigkeiten definiert, die von der britischen Protektoratsverwaltung (und später der Revolutionsregierung Sansibars) als zentral für eine moderne Ausbildung gesehen wurden, weil sie Fähigkeiten vermittelten, die von der Verwaltung (in Form von „clerical jobs“) nachgesucht wurden und die zudem Beschäftigungsmöglichkeiten in Handwerk und Gewerbe eröffneten. Dazu gehörte vor allem das Studium der englischen Sprache, aber auch Buchhaltung und Arithmetik. „Marketable skills“ begründeten also in Gegensatz zu den „social skills“, die in der islamischen Ausbildung vermittelt wurden, nicht notwendigerweise gesellschaftliche Respektabilität, sondern technische Fertigkeiten.

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a large number of Arab and African parents are still unwilling that their children should forego attendance at these schools as a preliminary to their secular education is one of the real obstacles which education has still to overcome in Zanzibar. The small religious instruction books referred to in the last year’s report are still in the hands of the printer but will be taken into use in district schools as soon as they are published. It may be said, however, that religious instruction as at present given in government schools is superior to anything offered in Kuran schools and it is to be hoped that this fact will become more and more generally appreciated when the new religious textbooks are eventually in use. It cannot be seriously said that Koran schools make any real contribution to meet the educational needs of the Protectorate. They are in fact a hindrance to progress (Hervorhebung RL; ZNA BA 5/3).

Trotz der britischen Kritik an den QurÞÁnschulen wurde das Scheitern der Regierungsschulen in den 1930er Jahren immer deutlicher und im Jahre 1939 entschied sich die Protektoratsverwaltung schließlich, die QurÞÁnschulen7 formal in das Bildungssystem Sansibars zu integrieren, indem ausgewählte QurÞÁnschullehrer mit ihren Klassen an Regierungsschulen angeschlossen wurden. Die Entwicklung des Systems der Regierungsschulen in Sansibar und ihr Verhältnis zum islamischen Bildungswesen lässt sich somit in drei Phasen gliedern: a) 1905-1921, eine Phase, in der zwei britische Verwaltungsbeamte, RiversSmith und Pearce, erste Grundlagen einer britischen kolonialen Bildungspolitik entwickelten und eine Reihe von Regierungsschulen gründeten, die jedoch mangels Zuspruch aus der Bevölkerung meist wieder geschlossen werden mussten. Aufgrund der Tatsache, dass in den ersten Regierungsschulen im Jahre 1908 die lateinische Schrift eingeführt worden war und religiöse (islamische) Inhalte nur einen Bruchteil des Kurrikulums bildeten, wurden die Regierungsschulen in dieser Phase von der Bevölkerung Sansibars vor allem als ein Versuch der Briten gesehen, die Muslime zu konvertieren.

7

Eine erste Zählung der QurÞÁnschulen Sansibars im Jahre 1940 ergab eine Gesamtzahl von etwa 900 Schulen, im Jahre 2000 war ihre Zahl auf c. 1.900 gestiegen (s. Loimeier 2009).

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b) 1921-1939, eine Phase, in der der Direktor des Department of Education, Hendry, vor allem versuchte, die Akzeptanz der Regierungsschulen für die muslimische Bevölkerung zu erhöhen, indem zum einen der religiöse Unterricht erweitert, zum anderen eine Reihe angesehener religiöser Gelehrter an der Entwicklung des religiösen Kurrikulums beteiligt wurde. Dennoch wurden auch die neuen Regierungsschulen von der Bevölkerung und der Mehrzahl der etablierten religiösen Gelehrten als eine unmittelbare Bedrohung des QurÞÁnschulwesens (und der Lebensgrundlage der QurÞÁnschullehrer) angesehen und boykottiert. In der Folge mussten in den 1930er Jahren erneut Regierungsschulen schließen.8 c) 1939-64, eine Phase, in der sich die britische Protektoratsverwaltung darum bemühte, das etablierte QurÞÁnschulwesen in die Regierungsschulen zu integrieren, indem eine beträchtliche Anzahl von QurÞÁnschullehrern in den kolonialen Dienst übernommen und mit ihren Klassen in Regierungsschulen integriert wurden. Die Anerkennung der QurÞÁnschulen und die Aufnahme des QurÞÁnunterrichts an den Regierungsschulen führten zu einem raschen Anstieg der Schülerzahlen an den Regierungsschulen. Die Akzeptanz der Regierungsschulen in der Bevölkerung Sansibars wurde zudem dadurch gesteigert, dass 1945 ein neuer Lehrplan Geltung erlangte, der, aufbauend auf den Lehrplänen der Jahre 1924 und 1931 (s. Loimeier 2009), von einer Gruppe religiöser Gelehrter ausgearbeitet worden war, die ihrerseits in Regierungsdiensten standen. In diesem Lehrplan konnten die religiösen Gelehrten ihre Vorstellungen eines modernen islamischen Unterrichts weitgehend umsetzen. Mit einem starken Anteil der religiösen Fächer am Unterricht wurden auch die Befürchtungen der Muslime widerlegt, dass die Regierungsschulen vor allem Zwecken der Missionierung dienten. Damit wurden die britischen Schulen seit den 1940er Jahren diejenige Institution,

8

Zwischen 1905 und 1964 stieg die Zahl der Grundschulen in Sansibar von einer (1905) auf acht (1923), 24 (1935), 41 (1947) auf 62 (1963), die Zahl der Sekundarschulen von einer (1935) auf zwei (1963), wobei einige Zweige der Government Secondary School (GSS) in Unguja in andere Schulen integriert waren. Die Zahl der Schüler in den britischen Regierungsschulen stieg von wenigen Dutzend vor dem 1. Weltkrieg auf 416 (1923), c. 5.000 (1935; dazu 24 an der GSS), 4.700 (1947; dazu 380 an der GSS) und c. 19.000 (1963, dazu c. 1400 an den beiden GSS) (s. Loimeier 2009).

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durch welche die „Uhrzeit“ einer breiteren sozialen Basis nahe gebracht wurde. Es wuchs eine erste Generation von Kindern heran, die mit der Uhrzeit vertraut waren und ihre ordnende Kraft verinnerlichten. Abb. 14: Eine QurÞÁnklasse in der Regierungsschule, c. 1950er Jahre: Die Kinder sitzen bereits auf Bänken an Tischen. (Capital Arts Studio)

Mit dem Aufbau des Regierungsschulsystems in Sansibar seit den 1920er Jahren, insbesondere aber seit der Mitte der 1940er Jahre, wurden die QurÞÁnschulen gezwungen, ihr Zeitregime umzustellen, weil immer mehr Kinder am Vormittag eine staatliche Grundschule besuchten. Der Unterricht in den QurÞÁnschulen wurde daher in die Nachmittags- oder Abendstunden verlegt. Der Morgenunterricht konnte nur noch am Samstag und Sonntag stattfinden, wenn die Regierungsschulen geschlossen waren. Bereits seit Mitte der 1940er Jahre erhielten meist nur noch Kinder im Vorschulalter während des Morgens und Vormittags Unterricht in der darsa, während die Kinder, die eine Regierungsschule besuchten, erst nachmittags oder abends in die darsa gingen. Nach der Revolution von 1964 übernahmen die Regierungsschulen auch die Zeitfenster des Nachmittagsunterrichts, so dass für die QurÞÁnschulen nur die Abendstunden blieben. Während die QurÞÁnschulen am Ende der Kolonialzeit in Bedrängnis gerieten, weil nunmehr auch die Regierungsschulen einen akzeptablen „Is-

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lam“-Unterricht anboten, konnten sich islamische Lehrinhalte andererseits im Herzen des kolonialen Schulwesens etablieren. Die Integration islamischer Lehrinhalte in das Kurrikulum der kolonialen Regierungsschulen war letztendlich aber nur über die Anerkennung des kolonialen (westlichen) Bildungssystems möglich, das sich vor allem durch die bürokratische Organisation der Schule und ein anderes Verständnis des Lernens auszeichnete. Die koloniale Schule und ihr Bildungskonzept wurde trotz der Aufnahme religiöser Lehrinhalte nicht mehr von islamischen religiösen Gelehrten definiert und bestimmt, sondern von der kolonialen Kultusbürokratie, die letztendlich den bildungspolitischen Vorgaben Großbritanniens folgte. Gleichzeitig haben die religiösen Gelehrten, trotz ihrer zunächst erfolgreichen Bemühungen, islamische Lehrinhalte zu ihren Bedingungen in das Regierungsschulwesen zu integrieren, die Deutungshoheit über diese Schulen und den Unterricht verloren. An die Stelle des Erwerbs von „social skills“ in den QurÞÁnschulen trat der Erwerb von „marketable skills“ in der Regierungsschulen, und an die Stelle der iÊÁza, der Lehrerlaubnis zum Unterrichten bestimmter Texte, trat die Cambridge Overseas School Certificate Examination, die den Zugang zu den britischen „public schools“ öffnete. Obwohl sich die religiösen Gelehrten Sansibars im Bereich der Bildungspolitik mit ihren Vorstellungen gegen britische Bildungskonzepte behaupten und islamische Bildungsinhalte im staatlichen Schulsystem etablieren konnten, führte der gesellschaftliche Wandel dazu, dass die von den islamischen religiösen Gelehrten im kolonialen Kurrikulum etablierten Bildungsinhalte nunmehr im Zeittakt der Regierungsschulen vermittelt wurden: Der Dynamik der Modernisierung fiel auf diese Art und Weise der Rhythmus des islamischen Bildungswesens zum Opfer.

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Abb. 15: Die Lehrer und Beschäftigten der Government Secondary School, c. 1935/1936, darunter L.W. Hollingsworth, erste Reihe sitzend, vierter von links (Foto Mw. Idris)

D IE R EVOLUTION

VON 1964 UND DAS ISLAMISCHE B ILDUNGSWESEN Die Revolution stellte für die Entwicklung des sansibarischen Bildungssystems einen weiteren gravierenden Einschnitt dar. Im Rahmen der Afrikanisierungspolitik Karumes wurden zunächst die Zugangsexamen zu den beiden Government Secondary Schools (GSS) Sansibars des Schuljahres 1963/1964 für ungültig erklärt und alle Schüler, die sich (vergeblich) um eine Aufnahme an einer GSS beworben hatten, automatisch für den Jahrgang 1964/1965 zugelassen. Ebenso wurden alle nicht-staatlichen Schulen geschlossen und dem staatlichen Bildungssystem einverleibt. Diese Maßnahme traf vor allem Schulen, die noch von christlichen Missionsorganisationen getragen wurden, aber auch die privaten Schulen der indischen und komorischen Gemeinden. Im März 1965 wurde zudem ein ethnischer Zulassungsproporz eingeführt, der besagte, dass nun 90 % der Zulassungen an den Sekundarschulen „afrikanische“ Kinder sein mussten, während die Quote für „arabische“ Kinder auf 5 %, für „asiatische“ Kinder auf 4 % und für Komorer auf 1 % beschränkt wurde. Im Jahre 1965 wurde der Religi-

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onsunterricht abgeschafft und das Fach „Religion“ durch eine Reihe anderer Fächer wie „Politik“ (swa.: siasa) abgelöst. Proteste der Eltern und der Religionslehrer gegen die Säkularisierung des Unterrichts an den staatlichen Schulen wurden von Präsident Karume mit dem Argument abgelehnt, die Eltern könnten ihre Kinder ja immer noch abends in die darsa schicken. Dieses Argument Karumes war mit der religionsfeindlichen Einstellung vieler Revolutionäre verbunden, die ihrerseits, von wenigen Ausnahmen wie dem späteren Präsidenten Sansibars, Aboud Jumbe, abgesehen, keine (Sekundar-)schulausbildung erfahren hatten. Insbesondere Karume betrachtete Intellektuelle mit großen Misstrauen. So bemerkte Karume einmal in Hinblick auf den gesellschaftlichen Einfluss der bekannten ÝAlawÐ-Gelehrtenfamilien: „When I hold a speech and they address the public as well, whom do you think will people follow?“ (AÎmad Maulid, 17. August 2002). In den international gut vernetzten religiösen Gelehrten der QÁdiriyya und der ÝAlawiyya sah Karume eine direkte Bedrohung seines Anspruchs auf die alleinige Macht in Sansibar. In der Ausschaltung des islamischen Bildungswesens in Sansibar zeichnete sich ein führender UmmaPolitiker und Vertrauter von ÝAbd al-RaÎmÁn MuÎammad „Babu“ besonders aus, nämlich ÝAlÐ Sultan Issa, der von Dezember 1964 bis 1968 Erziehungsminister war. Unter seiner Ägide wurde 1965 die Muslim Academy (s. unten) geschlossen und der Unterricht in den religiösen Fächern eingestellt, im April 1967 wurden auch alle QurÞÁnschullehrer aus dem Schuldienst entlassen. Nach 1964 erfolgte so die gezielte Marginalisierung der islamischen Lehrtraditionen. Im Jahre 1967 verließ mit ÝAbdallÁh ÑÁliÎ al-Farsy der letzte bekannte und weithin respektierte Gelehrte Sansibar und ging zunächst ins saudische, später kenianische Exil (s. Loimeier 2009). Die Abschaffung des religiösen Bildungswesens sollte durch den verstärkten Aufbau der säkularen staatlichen Schulen kompensiert werden. So wurde unmittelbar nach der Revolution das Prinzip der kostenlosen Bildung (swa.: elimu bure) eingeführt, mit der Folge, dass in den folgenden Jahren die Einschulungsquote in Sansibar enorm anstieg und Sansibar in den späten 1990er Jahren die fast vollständige Einschulung der Kinder in die Grundschulen erreichte. Auch die Zahl der Sekundarschüler stieg in den Jahren nach 1964 stark an.9 Die existierenden Schulen wurden bald zu klein

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Nach der Revolution stieg die Zahl der Grundschulen auf 115 (1983) und 181 (2006), die der Sekundarschulen auf 13 (1983), bzw. 37 (2006). Die Zahl der

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und in den 1970er Jahren musste der Unterricht in eine Vormittags- und eine Nachmittagsschicht geteilt werden. Um der wachsenden Zahl von Schülern und Klassen gerecht zu werden, wurde die Länge der „Unterrichtsstunde“ auf 35 Minuten gekürzt. Die Einführung des Unterrichts in „Schichten“ hat seit den 1970er Jahren aber wieder Freiräume für die QurÞÁnschulen geschaffen: Die Kinder, die die Schule am Vormittag besuchten, konnten nun nachmittags in die QurÞÁnschule gehen und umgekehrt. Mit dem Unterricht am frühen Morgen, am Abend und am Samstag/Sonntag öffneten sich so erneut Zeitfenster für die QurÞÁnschulen. Mit der Kapitulation des staatlichen Regierungsschulsystems in den frühen 1990er Jahren vor anhaltend wachsenden Schülerzahlen kam es zur staatlichen Anerkennung der (privaten) QurÞÁnschulen und anderer privater Schulträger und damit zu einer Auffächerung der Schultypen und des Lehrangebots. Diese strukturellen Veränderungen des Schulsystems Sansibars blieben nicht ohne Auswirkungen auf das islamische Bildungswesen. Bereits im Jahre 1952 hatte die Muslim Academy (s. Themenkasten 21) als erste moderne islamische höhere Schule Sansibars „Stunden“-Regime und Kurrikulum der staatlichen Schulen übernommen. Andere madÁris, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts schrittweise modernisierten und sich dabei am Modell der Regierungsschulen orientierten, waren die Madrasat al-NÙr in der historischen Altstadt Sansibars und die Madrasat ÝAmÐriyya in Kwa Ali Nathoo, Ng’ambo. Die Madrasat ÝAmÐriyya entstand in den 1930er Jahren aus einer von Scheich Íasan b. Ameir (st. 1979) begründeten QurÞÁnschule, die von seinen Schülern, insbesondere Scheich Ameir Tajo „Mkubwa“ („der Ältere“) weitergeführt wurde, der bis zu seinem Tode im Jahre 1992 auch Chief QāÃÐ Sansibars war. Im Jahre 1999 wurde die Schule von Grund auf renoviert und neu eröffnet, wobei die madrasa bis 1992 dem von Íasan b. Ameir und Ameir Tajo entwickelten Lehrkonzept folgte. Ameir Tajo selbst unterrichtete an allen Wochentagen außer donnerstags eine Reihe von Studentengruppen: eine Klasse von Schülern, die von Montag bis Mittwoch nach dem maÈrib-Gebet einen Rechtstext studierte, von Freitag bis Sonntag den QurÞÁn; eine Klasse, die er täglich außer Donnerstags nachmittags nach dem ÝaÒr-Gebet in Texten verschiedener Disziplinen unterrichte-

Schüler wuchs von 95.000 (1983) auf 354.000 (2006) in den Grundschulen und 34.000 (1983) sowie 51.000 (2006) an. Im Jahre 1996 wurde zudem eine Zahl von 1700 QurÞÁnschulen registriert.

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te; dazu unterrichtete er Studenten, die nur im RamaÃÁn bestimmte Texte lasen und fortgeschrittene Studenten, die am Sonntagvormittag mit ihren Texten zu ihm nach Hause kamen.

Themenkasten 21: Die Muslim Academy Die Muslim Academy wurde 1952 nach dem Vorbild der „School of Arabic Studies“ in Kano, Nordnigeria gegründet und sollte muslimische Funktionäre, Lehrer und Richter für den kolonialen Staatsdienst ausbilden. Nach der Revolution wurde die Muslim Academy im Jahre 1965 geschlossen. 1972 wurde sie als Chuo Cha Kiislamu (CCK, „islamische Schule“) neu eröffnet, und fungierte nun als Sekundarschule mit einem Angebot religiöser Fächer. Zudem wurden an der CCK die islamischen Religionslehrer Sansibars ausgebildet. Im Jahre 2007 wurde die CCK geschlossen und das Gebäude dem Nkrumah Teacher Training College übergeben, das seinerseits seinen Gebäudebestand der neuen State University of Zanzibar (SUZA) abtreten musste. Seit 2007 verfügt Sansibar über keine weiterführende islamische Sekundarschule mehr.

Nach dem Tode von Ameir Tajo übernahmen sechs jüngere Lehrer unterschiedlicher religiöser Orientierungen den Unterricht und passten den Schulbetrieb an das Kurrikulum der staatlichen Schulen an. Nach der Renovierung der Schule im Jahre 1999 wurden vier Klassenräume mit Bänken und Tischen für 200 Schüler eingerichtet. Im Jahre 2002 umfasste das Kurrikulum der Madrasat ÝAmÐriyya die Fächer taºwÐd, ÎadÐ×, fiqh, tauÎÐd, Arabisch, islamische Geschichte, maulid, sÐra and qaÒÐda. Die Textbücher waren in der Regel die in Sansibar gängigen Einstiegstexte in die Religionslehre und ins šÁfiÝÐtische Recht. Im Konkurrenzkampf mit anderen QurÞÁnschulen spezialisierte sich die Madrasat ÝAmÐriyya auf die Ausbildung von QurÞÁnrezitatoren (muqriÞ) und führte zudem maulid-Feierlichkeiten durch. Der Unterricht dauerte von 7.30 Uhr bis 11 Uhr vormittags für diejenigen Mädchen und Jungen, die nachmittags an einer staatlichen Schule waren und von 13.30 bis 16.30 Uhr nachmittags für den umgekehrten Fall. Im Jahre 2007 geriet die Madrasat ÝAmÐriyya aber in eine schwere Krise, weil die Lehrer nicht mehr regelmäßig bezahlt wurden und während der Unterrichtszeiten anderen Beschäftigungen nachgingen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In der Folge nahm die Qualität des Unterrichts an der Madrasat ÝAmÐriyya ab und viele Eltern nahmen ihre Kinder von der Schule.

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Abb. 16: Ein Klassenzimmer in der Madrasat ÝAmÐriyya, Sansibar 2002: Nun sitzen auch die Kinder in der QurÞÁnschule in Reih’ und Glied. (Foto Roman Loimeier)

Seit den 1990er Jahren hat insbesondere die 1972 in der Nachfolge der Muslim Academy gegründete Chuo Cha Kiislamu (CCK, „islamische Schule“) eine zunehmende Zahl von Absolventen hervorgebracht, die wegen der marginalen Bedeutung des Religionsunterrichts im staatlichen Schulwesen nicht mehr im staatlichen Bildungssektor beschäftigt werden konnten. Viele Absolventen der CCK haben eigene QurÞÁnschulen eröffnet, die häufig nicht mehr mit einer Moschee verbunden waren. Die steigende Zahl der QurÞÁnschulen hat zu einer wachsenden Konkurrenz der neuen QurÞÁnschulen und ihrer Lehrer untereinander und mit den etablierten madāris wie der Madrasat al-NÙr oder der Madrasat ÝAmÐriyya um die Gunst der Eltern geführt. Um im Konkurrenzkampf zu bestehen, haben die neuen QurÞÁnschulen innovative Lehrmethoden und neue Lehrtexte eingeführt. Viele der neuen Lehrbücher sind saudi-arabischer oder ägyptischer Herkunft und zeichnen sich durch einen leichten didaktischen Zugang der jeweiligen Lernin-

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halte aus. Die neuen Textbücher vermitteln aber eine standardisierte Version „islamischen Wissens“, die interpretative Variationen des Wissens ausschließt und die Lehre „des Islams“ objektiviert. Die Standardisierung der Bildung fand also nicht nur in Hinblick auf das Zeitregime der neuen QurÞÁnschulen und ihre räumliche Gestaltung statt, sondern auch in Bezug auf die Inhalte der Lehre und ihre Vermittlung. Letztendlich unterschieden sich die modernen QurÞÁnschulen von den Regierungsschulen nur in wenigen Aspekten des Kurrikulums. Die Umsetzung des neuen, an Uhrzeiten und bürokratischer Organisation orientierten Bildungsmodells spiegelte sich in den Schulprojekten des von der Aga Khan Stiftung geförderten Madrasa Ressource Centre (MRC) wider, in dessen Rahmen in Sansibar seit 1990 zahlreiche moderne Kindergärten und Vorschuleinrichtungen aufgebaut wurden,10 die neben einem der Montessoripädagogik ähnlichen Bildungskonzept auch das Zeitregime der staatlichen Kindergärten übernahmen (s. MRC Syllabus 2000: 40): greeting circle time: religion small group time: outdoor: small group time (subject): snack time: planning: work time and tidy up: recall time: small group time (subject): large group time/farewell: total time:

15 minutes 20 minutes 20 minutes 30 minutes 20 minutes 15 minutes 45 minutes 15 minutes 30 minutes 15 minutes 3 hours, 45 minutes.

Die Etablierung der Regierungsschulen im 20. Jahrhundert und der von ihnen ausgehende Modernisierungsdruck führten so für die QurÞÁnschulen und das islamische Bildungswesen zu einer schrittweisen Umstellung des etablierten Lehrsystems. Immer mehr QurÞÁnschulen etablierten sich außerhalb der Moscheen in eigenen Räumen und immer mehr QurÞÁnschulen unterrichteten neben dem klassischen Textekanon auch Fächer, die in der ko10 2003 umfasste das MRC-Projekt 75 direkt betreute QurÞÁnschulen in Unguja und Pemba, 64 weitere waren „assoziiert“.

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lonialen und postkolonialen Gesellschaft „marketable skills“ vermittelten, insbesondere Englisch. Heute haben viele der großen QurÞÁnschulen und madÁris, wie die Madrasa al-NÙr in der Altstadt Sansibars, das Aussehen und die Struktur einer Regierungsschule erlangt und zwar nicht nur in Hinblick auf ihr Kurrikulum, sondern auch in Bezug auf ihre Architektur und die Gestaltung der Klassenräume sowie in ihrem Zeit-Regime: Während das Lernen in der „alten“ darsa auf individuellen Lernschritten beruhte, ist der Unterricht an den neuen QurÞÁnschulen und madāris synchronisiert: alle Schüler beginnen am Anfang einer neuen „Schulstunde“ mit einem neuen Lehrstoff. Der zeitliche Rhythmus der darsa, der durch den Gebetsruf strukturiert wurde, ist in den modernen QurÞÁnschulen und madāris durch den 35-Minuten Takt der staatlichen Schulen und das Ticken der Uhr ersetzt worden; das individuelle Lernen durch ein staatlich verordnetes Kurrikulum, das alle Lernschritte zeitlich und inhaltlich so definiert, dass sie von allen Schülern gleichzeitig durchlaufen werden. Gleichzeitig wurde der Kreis (arab.: Îalqa) der Studenten um ihren Lehrmeister durch Bankreihen (arab.: Òaff), die Schreibtafel und der Lesepult des Lehrers durch das Übungsheft und die Tafel ersetzt. An die Stelle des Lehrmeisters der darsa, der ein personalisiertes Bildungsmodell symbolisierte, trat die Schule, in der Wissen durch einen „Lehrkörper“ vermittelt wird. An die Stelle der iÊÁza, der Autorisierung zur Lehre eines Textes, die gleichzeitig die Anbindung an eine Lehrtradition herstellt, ist das Abschlusszeugnis als Qualifizierungsdokument in curricularen Fächern getreten und die vorrangige Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung wurde durch die Identifikation der Schüler mit einer Institution, der Schule, ersetzt. Der Erfolg der Regierungsschulen bedeutete auch, dass sich die QurÞÁnschulen immer mehr an den temporären Vorgaben des staatlichen Kurrikulums orientieren mussten. Der Unterricht der QurÞÁnklassen und der religiösen Fächer in den Regierungsschulen war wiederum an die Textvorgaben des sansibarischen Bildungsministeriums gebunden, während die Ausbildung der QurÞÁnschullehrer zunehmend an der staatlichen Lehrerbildungsakademie (von 1952-1965 die Muslim Academy, von 1972-2007 die Chuo Cha Kiislamu) durchgeführt wurde und einem Kontrollreglement unterlag, das nicht mehr von den religiösen Gelehrten definiert wurde. Der Erfolg der Regierungsschulen bedeutete zudem, dass ab den 1940er Jahren immer weniger Schüler die etablierten QurÞÁnschulen besuchten, deren Unterricht auf die Zeitfenster begrenzt war, in denen an den Regierungsschulen kein Un-

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terricht stattfand. Zudem folgte die Schulzeit einer westlich-christlichen Arbeitszeitordnung, in der der Sonntag als Ruhetag galt. Die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten und Zeitregime der darsa und der Regierungsschule entsprechen unterschiedlichen Zeitkonzepten: das zeitoffene Lernen in der darsa begreift sich aus und durch die „religiöse Zeit“ und definiert sich über entsprechende religiöse Konnotationen des Lernens: Zeit wird vor allem als Zeit für Interaktion und Kommunikation gesehen. Das zeitlich getaktete Lernen in der Regierungsschule hingegen begreift sich aus einem säkularen, auf ökonomische Umsetzung ausgerichteten Konzept des Lernens: Zeit wird vor allem in Bezug auf die Arbeitsorganisation gesehen, eine Auffassung, die in dem Swahili-Sprichwort zum Ausdruck kommt, wakati ni mali, „Zeit ist Geld“. Diese beiden Systeme stehen im Konflikt was Fragen der Organisation des Stundenplans wie auch der Organisation der Schule angeht: individuelle Zeit steht gegen Klassenzeit, Rhythmus gegen Takt, „social“ gegen „marketable skills“, religiöse Zeit gegen Uhrzeit. Übertragen auf „Stundenpläne“ ergeben die folgenden Tabellen einen Überblick über die Entwicklung der Zeitstruktur des Unterrichts in der darsa (I) sowie, nachfolgend, in der kolonialen Regierungsschule (II) und der revolutionären Schule (III). Die Zeitfenster der Regierungsschulen sind mit einem R gekennzeichnet, die Zeitfenster der QurÞÁnschule mit einem Q. Ein kleines q zeigt an, dass in diesen Zeitfenstern der Unterricht nicht von den QurÞÁnschullehrern, sondern von ihren „Assistenten“ erteilt wurde. Falls der QurÞÁnschulunterricht in einer Moschee stattfand, waren diese Räume am Abend häufig für die fortgeschrittene Lehre und Diskussion von Texten bestimmt. Man beachte den Übergang in den Stundenplänen von der islamischen Woche, die am Samstag beginnt, zur christlich geprägten Woche der kolonialen und revolutionären Regierungsschulen, in denen der Unterricht am Montag beginnt:

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I) Der „Stundenplan“ der QurÞÁnschule (bis c. 1940er Jahre) Gebets

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II) Der Stundenplan der (kolonialen) Regierungsschulen und der QurÞÁnschulen (c. 1940er-1970er Jahre) Stun-

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III) Der Stundenplan der revolutionären Schulen und der QurÞÁnschulen (seit den 1970er Jahren) Stun-

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Die baraza: Zur Verortung der Zeit in Sansibar

E INE S OZIOLOGIE

DER BARAZA

In der bisherigen Darstellung der Zeitlandschaft Sansibar ging es immer wieder um Fragen der Entwicklung von spezifischen Zeitordnungen und ihrer Wirkmächtigkeit für den Lebensalltag der Sansibaris. Während die Schule nun als ein Zeitort gelten kann, in der im 20. Jahrhundert insbesondere das Konzept der Uhrzeit lokalisiert werden kann, soll im Folgenden ein anderer Zeitort untersucht werden, an dem sich insbesondere das Konzept der „sozialen Zeit“ und seiner Bedeutung für den Lebensalltag Sansibars darstellen lässt. Auf die Frage nach dem wichtigsten Ort für das Leben und Erleben des sansibarischen Alltags würden viele Sansibaris ohne zu zögern die baraza nennen. Fatma Alloo hat Sansibars baraza tatsächlich als „the very foundation of Zanzibar’s communal life“ bezeichnet (Fatma Alloo, 11. März 2003), als denjenigen Platz, an dem sich das kommunale Leben Sansibars und seine unterschiedlichen Zeitordnungen und Zeitregimes „verortet“. Im Folgenden wird die baraza als beispielhafter „Zeitort“ Sansibars vorgestellt, an dem sich gut zeigen lässt, wie stark die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten Sansibars miteinander verflochten sind: Die baraza ist nicht nur ein paradigmatischer Zeitort, sondern auch ein zentraler „lieu de sociabilité“, ein Zentrum politischer Debatten und der Verhandlung zahlloser Fragen des Alltagslebens. Zum Verständnis der umfassenden gesellschaftlichen Bedeutung der baraza als einem „Platz, an dem Zeit stattfindet“, ist es nötig, eine Soziologie der baraza zu entwickeln.

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Der Begriff baraza (pl. mabaraza)1 hat viele unterschiedliche Bedeutungen, die in der akademischen Literatur meines Wissens bisher jedoch kaum zur Kenntnis genommen wurden. Lediglich Kai Kresse (2005), Mohamed Saleh (2002 und 2004) und Marc J. Swartz (1991) haben erste Definitionsvorschläge gemacht und die baraza beschrieben als a place of public audience or reception, a veranda, a stone seat in the entrance hall, a bench against the wall outside a house or a raised platform with stone seats and sometimes roofed over in front of the house, for receiving visitors, holding an audience, transacting business, for gossiping, where men gather on a fairly regular basis, usually between magharibi and isha prayers. It is a male place of socialization par excellence with contrast to ua, the courtyard, where female members of the society get together (uani) for their talks and their domestic activities (Swartz 1991: 317).

Auch in den ländlichen Gebieten Sansibars gibt es baraza, entweder an einer Straße, an einem Pfad oder in den Dörfern selbst, in der Regel aus Holz, manchmal auch aus Lehm und Holz und/oder Palmenzweigen konstruierte Unterstände (swa.: kibanda, makuti), die mit Bänken (swa.: magogo) oder Matten (swa.: mkeka, gamvi, busati) ausgestattet sind (Mw. Ramadhani, 2. August 2004). Das älteste Lexikon des Swahili (Krapf 1882) definiert die baraza als „a stone seat or bench table, either outside of the house or in the hall, where the master sits in public and receives his friends; hence the public audience held by the Sultan and the council then held; meeting of a council“ (zitiert in Haugerud/Njogu 1991: 8). Die arabische Wurzel des Wortes baraza ‫( برز‬b-r-z, hervorstehen, herausragen) definiert sie als Vorbau eines Gebäudes, eine Art Sockel, der häufig die Funktion hat, das eigentliche Fundament eines Gebäude vor

1

Mohamed Ahmed Saleh hat darauf verwiesen, dass der grammatische Plural des Begriffes baraza, mabaraza, nur dann Anwendung findet, wenn über das Treffen einer Organisation, „meetings of a council“ oder andere Verabredungen gesprochen wird, die nicht notwendigerweise mit einem bestimmten Platz verbunden sind. Wenn der Begriff baraza in seiner räumlichen Dimension benutzt wird, würde nicht zwischen Singular und Plural unterschieden werden. Der Satz, „er sitzt in drei baraza“ würde etwa als anakaa katika baraza tatu übersetzt werden. Ich folge hier dieser grammatischen Gepflogenheit des Kiswahili (Mohamed Saleh, 2. April 2005).

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starkem Regen zu schützen.2 Der arabische Begriff maÊlis (pl. maÊÁlis; Ratstreffen, Versammlung) wäre daher eine bessere Übersetzung, weil er die soziale Dimension in den Vordergrund rückt. Außerdem verweist der Begriff maÊlis auf eine korrespondierende Institution gemeinschaftlichen Sitzens (und Redens) in arabischen Kontexten.3 Institutionen gemeinschaftlichen Sitzens können in vielen Gesellschaften identifiziert werden, so die bereits erwähnte maÊlis in arabischen Ländern, der Schattenbaum in den Dörfern der westafrikanischen Savanne, öffentliche Wasserstellen und Bäder (arab.: ÎamÁm) in vielen mediterranen Gesellschaften, das Teehaus in der Türkei, die Piazza in Italien, das café de commerce in Frankreich, das Kaffeehaus in Wien, Budapest oder Prag, der Stammtisch in Deutschland, der Biergarten in Bayern. Dipesh Chakrabarti hat eine ähnliche Einrichtung des gemeinschaftlichen Sitzens (und Zeitvertreibs) in Kalkutta vorgestellt, nämlich die adda, einen Ort, den er als „a place for careless talk with boon companions“ beschrieben hat (Chakrabarti 2000: 180). Der Begriff baraza hat im Wesentlichen drei Bedeutungsdimensionen, die jeweils auf ein unterschiedliches organisatorisches, räumliches und zeitliches Interpretationsfeld des Begriffes verweisen: a) In organisatorischer Hinsicht steht der Begriff der baraza für unterschiedliche Formen von Formalität und Informalität, Institutionalisierung und Abstraktion. Eine baraza kann so ein einfaches (informelles) und zwangloses Treffen von Menschen darstellen, aber eben auch eine Ratsversammlung, oder, in historischer Zeit, die Audienz beim Sultan von Sansibar, die ebenfalls als eine barza beschrieben wurde (Ruete 2000: 156ff). Der Begriff kann zudem Institutionen beschreiben, etwa Clubs, Gewerk-

2

Dies gilt insbesondere für die baraza in Ng’ambo und in den shamba-Gebieten

3

In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass baraza nicht

(Erich Meffert, 7. August 2004). die einzige Form gemeinschaftlichen Sitzens in Sansibar darstellen: neben den baraza gibt es zahlreiche Clubs und Vereine, insbesondere die Sportvereine der Jugendlichen. Die Fußballfans treffen sich an ihren eigenen „Ecken“ (swa.: kijiwe; wörtlich „Pickel“), die in Sansibar häufig durch kleine Fähnchen gekennzeichnet werden. Schließlich gibt es die unterschiedlichen kikao („Sitzplätze“), die der Diskussion spezifischer Themen dienen und eher formelle Treffpunkte darstellen (Mw. Idris, 27. Juli 2004).

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schaften oder (eingetragene) Vereinigungen wie die Baraza Kuu la Waislamu wa Tanzania (Oberster Rat der Muslime Tansanias) oder die Baraza Kuu la Jumuiya na Taasisi za Kiislamu (Oberster Rat der islamischen Organisationen und Institutionen). Die Mitgliedschaft in diesen Organisationen ist in der Regel formal definiert. b) In räumlicher Hinsicht steht der Begriff baraza für ein Spektrum von Plätzen (places, endroits), wo sich Menschen treffen, etwa die Veranda oder Türschwelle vor einem Haus, bei einer Moschee, auf dem Markt oder am Busbahnhof. In einem Haus wäre eine baraza ein Salon oder Zimmer, in welchem Gäste empfangen werden, etwa das Audienzzimmer des Sultans von Sansibar. Eine solche baraza käme wiederum dem arabischen Begriff der maÊlis sehr nahe. In Sansibar hatte der Sultan sogar mehrere baraza, wie zum Beispiel die baraza al-ÝÐd, die sich um 10 Uhr morgens des ÝÐd al-fiÔr traf und dann als Staatsempfang bis zum „dinner“ am Abend fortdauerte (ZNA AB 10/83). Über diese Bedeutungsebenen hinaus kann jeder Ort, an dem sich Menschen aus unterschiedlichen Gründen zu bestimmten Zeiten treffen, den Status einer baraza annehmen (s. unten). In Sansibar spielen die baraza eine wichtige Rolle als „soziale Kontrollinstanz“, da die Mitglieder einer baraza in der Regel genau registrieren, was sich in ihrem Gesichtsfeld ereignet. Der Raum um eine baraza ist eine Bühne, auf der sich die Menschen positionieren und auf der sich die Dramen des Alltags abspielen. Im Prozess der Globalisierung (swa.: utandawazi) hat der Begriff der baraza eine weitere Bedeutungserweiterung erfahren, nämlich die „cyber-baraza“, die, so Farouk Topan, im „global now“ das elektronische Forum der sansibarischen Diaspora und aller „kosmopolitischen“ Sansibaris geworden ist, die über das Internet zu einer virtuellen baraza, dem Zanzinet, zusammenkommen und kommunizieren (Topan 2006: 55ff). c) In zeitlicher Hinsicht ist eine baraza schließlich mit den (Tages-)Zeiten verbunden, an denen sich ihre Mitglieder treffen, wie etwa die baraza la wazee, die „baraza der Honoratioren“ in „Jaws’ Corner“ (s. unten) im Baghani Viertel Sansibars, die sich täglich zwischen dem ÝaÒr (Nachmittags-) und dem maÈrib (Abend-)Gebet trifft. Der Platz einer baraza kann so im Laufe eines Tages von unterschiedlichen Gruppen frequentiert werden und mit jedem Nutzerwechsel wird eine baraza auch anders benannt, selbst

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wenn die Örtlichkeit die gleiche bleibt: Nicht der Ort, sondern das Handeln der Menschen und die zeitliche Struktur dieses Handelns sind ausschlaggebend für die Benennung einer baraza. In diesem Sinne ist jede baraza mit der Geschichte eines konkreten Platzes und seiner Menschen verbunden und verleiht so einem zunächst neutralen Raum Bedeutung. In abstrakten Worten kann man die baraza als einen „inscribed place“ bezeichnen, als einen zunächst undefinierten „Raum“ (engl.: space, fr.: espace), der durch das Handeln der Menschen mit Leben erfüllt, zu einem definierten Platz (engl./fr.: place) wird,4 dem wiederum eine bestimmte und sinn-erfüllte Bedeutung zukommt (Augé 1992/2000: 79ff; Low/LawrenceZuniga 2003: 13). Eine baraza ist also nicht mehr Raum oder „Zwischenraum“, sondern ein distinkter Ort, mit dem sich Handeln verbindet, auf den sich Geschichte und Geschichten beziehen, der von den Menschen mehr oder weniger regelmäßig frequentiert wird. Aufbauend auf diese Vorstellungen von Lokalität5 hat Jonathan Smith das Platz-Raum-Kontinuum folgendermaßen definiert: Space is more abstract than place. What begins as undifferentiated space becomes place as we get to know it better and endow it with value... If we think of space as that which allows movement, then place is pause; each pause in movement makes it possible for location to be transformed into place... When space feels thoroughly familiar to us, it has become place. Thus, abstract space, lacking significance other than strangeness, becomes concrete place when it is filled with meaning (Smith 1987: 28).

4

Die deutschen Begriffe „Raum/Platz“ und die englischen Begriffe „room/place“ haben aber jeweils eine doppelte Bedeutung: Raum/room kann sowohl abstrakte Räume bezeichnen (etwa: geographische Räume, geographical spaces), wie konkrete „Zimmer“ (rooms). Ebenso kann „Platz/place“ für große, öffentliche Flächen („Plätze“, etwa: „Potsdamer Platz“) stehen, daneben aber auch einen spezischen Ort meinen, zum Beispiel den Platz, auf dem jemand gerade sitzt. Ich verwende die Begriffe „Raum/room“ hier ausschließlich in ihrer abstrakten Bedeutung, die Begriffe „Platz/place“ ausschließlich in ihrer spezifischen Bedeutung, analog also zum deutschen Begriff „Ort“ oder zu den französischen Begriffen „lieu/endroit“.

5

S. hierzu ausführlich den Sammelband von Low/Lawrence-Zuñiga (2003), sowie die Arbeiten von Augé, (1992), Smith (1987) und Harvey (2004).

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David Harvey hat diese stark raumbezogenen Überlegungen erweitert und angemerkt, dass „Platz“ in welcher Gestalt auch immer, wie „Raum“ und „Zeit“ ein soziales Konstrukt sei, ersterer aber weitaus stärker als „Raum“ mit „Permanenzen“ (permanences) verbunden sei: „Such permanences (i.e. all kinds of human agency) come to occupy, a piece of space in an exclusive way (for a specific period of time) and thereby define a place – their place – (for this period of time)“ (Harvey 1996: 293). Harvey erkennt also an, dass die Konzepte von Raum und Platz untrennbar mit dem Konzept von „Zeit“ derjenigen verbunden sind, die mit ihren „Permanenzen“ Raum in Platz verwandeln. Während „Raum“ aber losgelöst von sozialen Beziehungen existieren kann, ist ein „Platz“ immer in das Zeit-Kontinuum derjenigen integriert, die einen solchen Platz frequentieren. Regelmäßigkeit ist somit ein wichtiges Merkmal einer baraza: Wenn Menschen aufhören, sich an einem Platz zu bestimmten Anlässen und zu bestimmten Zeiten zu treffen, dann verwandelt sich ein solcher Platz schnell wieder in einen unbestimmten, anonymen Raum. Regelmäßigkeit muss aber hergestellt werden, zum Beispiel von den Mitgliedern einer baraza, und sie muss anerkannt werden von den Bewohnern einer Lokalität, die wissen, dass dieser Platz am Samstagnachmittag zwischen dem ÝaÒr und dem maÈrib Gebet die baraza der „Fans des FC Liverpool“ ist, am Samstagvormittag, vor dem Ûuhr-(Mittags-)Gebet aber zur baraza der Straßenbuchhändler des Marktviertel wird. Wenn eine solche Regelmäßigkeit gegeben ist, dann existiert eine baraza zeitlich über die physische Anwesenheit ihrer jeweiligen Mitglieder hinaus und bleibt zu eben auch denjenigen Zeiten bestehen, zu denen ihre Mitglieder nicht physisch anwesend sind: Es ist dann „bekannt“, dass dies der Platz einer bestimmten baraza ist. Plätze sind folglich Räume, in denen Zeit durch die Permanenzen bestimmter sozialer Gruppen oder Personen „kondensiert“ wurde. An solchen Plätzen wird Zeit „sichtbar“ (Harvey 1996: 294).

D IE BARAZA IN DER ALTSTADT NACH DER R EVOLUTION

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Baraza umfassen so ein breites Spektrum unterschiedlicher Organisationsformen, entsprechen aber auch unterschiedlichen Vorgaben von Platz und Raum, die wiederum unterschiedlichen zeitlichen Organisationsmustern

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entsprechen. Baraza scheinen damit eine recht inkohärente Form der Organisation von Öffentlichkeit in Sansibar darzustellen. Dennoch sind die baraza Sansibars nicht völlig amorph. Vielmehr folgt die Organisation der baraza einigen Regeln. Die Mitgliedschaft in einer baraza ist so an einen bestimmten Verhaltenskodex gebunden, der sich für die baraza der Altstadt Sansibars gut belegen lässt: Beim Spazierengehen durch die Altstadt zeigen sich baraza in der Tat zu den unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten im Gassengewirr der Stadt.

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Abb. 17: Die wichtigsten kommunalen baraza in der historischen Altstadt Sansibars (Copyright: Roman Loimeier)

Größere Ansammlungen von baraza sind vor allem im Marktviertel (Darajani) anzutreffen, aber auch in Mkunazini: Von der Vuga Street im Süden bis zur Jibrin Moschee in der Nähe des Marktes sind im Laufe eines Tages mindestens neun oder zehn unterschiedliche baraza „in Sitzung“ begriffen. Andere bedeutende Konzentrationen von baraza finden sich in unterschiedlichen Teilen von Baghani, insbesondere in „Jaws‘Corner“, Vuga, Kokoni,

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Malindi, Kiponda und Hurumzi. Die Viertel Hamamni, Kajificheni und Shangani kennen hingegen fast keine baraza und Forodhani war bis 2009 eher ein Treffpunkt für Familien-Picknicks und Touristen, obwohl sich auch auf einigen Parkbänken Forodhanis zwischen dem ÝaÒr und dem maÈrib Gebet einige baraza trafen (s. auch unten). Obwohl baraza in den ländlichen Gebieten Sansibars bereits seit langer Zeit existieren, waren sie vor der Revolution nur in einigen Teilen der Altstadt etabliert. In anderen Teilen der Altstadt sind sie erst nach der Revolution aufgetaucht. Diese erstaunliche Erkenntnis erklärt sich aus der Tatsache, dass zahlreiche Viertel der Altstadt Sansibars bis 1964 die Wohngebiete der wohlhabenden und aristokratischen arabischen und indischen Bevölkerungsgruppen waren, die nicht „auf der Straße“ saßen, sondern in ihren Salons (maÊÁlis). Das Sitzen in baraza in den Gassen war bis zu diesem Zeitpunkt ein Charakteristikum der „Armen“ der Altstadt, sowie der Afrikaner in Ng‘ambo und in den shamba-Gebieten. Bis 1964 waren baraza innerhalb der Altstadt Sansibars auf die Marktviertel (Darajani, auch Mkunazini und Kokoni), auf die Umgebung der Moscheen (etwa Mskiti Ruta in Mkunazini) und auf einige öffentliche Plätze, bzw. die ärmeren Viertel der Altstadt wie das nördliche Malindi beschränkt. Als zentrale Orte des sozialen Lebens Sansibars waren die baraza Sansibars aber auch zentrale Orte sozialer Organisation, die sich tendenziell der Kontrolle der revolutionären Institutionen entzogen, weil sie eben keine formalen Organisationstrukturen darstellten, sondern ihre Gestalt jederzeit verändern konnten. Gleichzeitig stellten baraza-Unterhaltungen ein Forum zur Äußerung von Kritik an der Revolutionsregierung dar. Weil sich die baraza der Kontrolle der Revolution entzogen, wurden Versammlungen von mehr als fünf Personen 1967 schließlich in der Öffentlichkeit verboten (Crozon 1998: 42; Burgess 2002: 293), was später auf Gruppen von mehr als drei Personen ausgeweitet wurde. Nach diesem Verbot waren die Freiwilligen-Verbände der ASP, die „Grünhemden“ der Yusi Ligi (Youth League),6 befugt, solche Versammlungen und damit auch die baraza aufzulö-

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Dazu kamen „freiwillige“ Schlägergruppen und Informanten, die auf der Basis von sabuni („Seife“, d.h. in Gestalt einer niedrigen Entlohnung) für die ASP Youth League, die Sicherheitskräfte, die Armee und die Polizei arbeiteten und Informationen beschafften, Warteschlangen überwachten und dafür sorgten, dass die Einwohner Sansibars an offiziellen Veranstaltungen teilnahmen.

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sen (Burgess 2002: 306). Trotz dieses offiziellen Verbots etablierte das revolutionäre Regime selbst eine Reihe formal strukturierter und offizieller baraza, wie etwa den „Revolutionsrat“, Baraza la Mapinduzi, in welchem bis 1977 die Politik Sansibars beraten wurde, oder aber formal verfasste Vereinigungen wie der „oberste Rat des (sansibarischen) Fußballverbandes“ (swa.: baraza kuu idara ya futboli), dem führende Revolutionäre wie Seif Bakari, Said Natepe und Ali Makame angehörten (ZNA AD 12/35). Diese „revolutionären baraza“ trafen sich jedoch nicht in den Gassen Sansibars, sondern hielten ihre Sitzungen in Gebäuden wie der Parteizentrale der ASP in Michenzani ab.

Themenkasten 22: Jaws’ Corner „Jaws’ Corner“ ist die Heimat von mehreren baraza und im Laufe eines Tages ist es möglich, zumindest fünf oder sechs von ihnen „in Sitzung“ anzutreffen. Die fest etablierten baraza sind die der wazee, in der sich frühere Lehrer und ehemalige Beamte und auch einige alte Händler des nördlichen Baghani-Viertels täglich vor dem maÈrib-Gebet treffen; die baraza der Geschäftsleute, Händler und Ladenbesitzer des östlichen Teils der oberen Soko Mohogo Gasse, häufig indischer Abstammung; eine ähnlich besetzte baraza arabisch-stämmiger Geschäftsleute des westlichen Teils der oberen Soko Mohogo Gasse; eine baraza der „dropouts“ des Viertels, die sich zum Teil als papaasi („Zecken“, Touristenführer) durchs Leben schlagen; eine baraza der „Religiösen“ um den ImÁm der benachbarten Barwani-Moschee; sowie eine baraza der Anwohner der angrenzenden Häuser des nördlichen Teils der Gasse, die nach Darajani und Mkunazini weiterführt. Außerdem gibt es zahlreiche temporäre baraza der Passanten, die sich hier auf einen Kaffee niederlassen und mit den anderen Anwesenden plaudern, sowie die baraza der mbao-Spieler und der Kartenspieler und abends die baraza der Fernseh-und Video-Schauer und letztendlich all diejenigen Passanten, die auf dem Weg über „Jaws’ Corner“ verweilen, um Anwesende zu grüßen und zum Bleiben aufgefordert werden.

Seit der politischen Öffnung Sansibars in den 1980er Jahren haben die kommunalen baraza erneut eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben Sansibars erlangt und sind ein wichtiges Barometer für die politische Entwicklung Sansibars geworden. Insbesondere die Politik hat die Bedeutung der baraza erkannt und viele Politiker bemühen sich um die Unterstützung der baraza, weil diese eine wichtige Ebene der Vermittlung von Politik darstel-

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len. Auch aus diesem Grunde gibt es zwischen Regierung und Opposition einen erbitterten Konkurrenzkampf um die Sympathien der baraza.7 Einige baraza, insbesondere die in „Jaws’ Corner“ (s. Themenkasten 22) wurden seit den frühen 1990er Jahren für ihre Sympathien für die Oppositionspartei CUF weithin bekannt, so dass „Jaws’ Corner“ in den 1990er Jahren sogar in „CUF-Corner“ umbenannt wurde.8 Dieser kleine aber zentrale Platz im Baghani-Viertel war in den späten 1970er Jahren im Zuge der Restaurationsarbeiten der Altstadt Sansibars neu gestaltet worden und entwickelte sich seither (und nach der Auflösung der dort befindlichen Polizeistation) zu einem populären Treffpunkt in der Altstadt. Der Name des Platzes wurde von der baraza der „Film-Fans“ geprägt, die dort seit den späten 1970er Jahren an einem gemeinschaftlichen Fernsehgerät abends regelmäßig Filme schauten und dabei von Steven Spielbergs Film „Jaws“ („Der weiße Hai“) so beeindruckt waren, dass sie ihre baraza danach benannten (Erich Meffert, 7. August 2004). Wegen ihrer Sympathien für die politische Opposition wurden die baraza in „Jaws’ Corner“ aber wiederholt von Schlägertrupps der CCM oder der Polizei heimgesucht.9 Trotz dieser wiederholten Repressionen konnten Versammlungen der baraza in „Jaws’ Corner“ enorme Ausmaße annehmen, insbesondere, wenn auf dem Fernsehgerät der baraza des Platzes die Abendnachrichten übertragen und gemeinschaftlich kommentiert wurden.

7

Auch aus diesem Grunde begann die CCM in den frühen 1990er Jahren mit dem Aufbau eines Netzwerkes eigener baraza, die maskani, welche die Politik der CCM vor Ort vertreten sollten (Crozon 1998: 41ff). Die CCM stattete einige dieser maskani sogar mit Fernsehgeräten aus, um ihre Attraktivität zu erhöhen (Mohamed Saleh, 2. April 2005). Zur Entwicklung der maskani s. Bakari 2001: 189ff.

8

S. hierzu die Arbeit von Georg Deutsch zur Soko Mohogo Gasse (Deutsch

9

So im Frühjahr 2001, als Sicherheitskräfte die baraza von „Jaws’ Corner“ we-

2002). gen ihrer Proteste gegen den Wahlbetrug bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen des Jahres 2000 zusammenschlugen (F.S. Soraga, 22. April 2004). Am 13. Mai 2005 berichtete Africa Confidential (Nr. 46, 10), dass zwanzig Polizisten die Menschen in „Jaws‘ Corner“ verprügelt und acht von ihnen verhaftet hatten.

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Abb. 18: Eine baraza in „Jaws’ Corner“ (Foto Roman Loimeier)

F ORMEN DER BARAZA Die baraza sind ein „räumlicher Ausdruck“ des sozialen Kontextes, in welchem sie sich befinden (Erich Meffert, 7. August 2004). Analog sollte die Entwicklung der baraza Sansibars als ein Aspekt des sozialen und kulturellen Wandels Sansibars gesehen werden. Dieser historische Wandel bedeutete für einige Teile der Altstadt Sansibars wie etwa Shangani, wo es vor 1964 kaum baraza gab, eine Entwicklung vom „Sitzen in maÊÁlis“ (also Sitzen in repräsentativen Salons in Häusern) hin zu einem „Sitzen in baraza“ (also Sitzen in den Gassen). Die Änderungen im sozialen Kontext

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Sansibars spiegeln sich damit im Charakter der baraza jedes einzelnen Viertels in Sansibar wieder. Wenn man heute durch die Altstadt Sansibars schlendert, ist es nicht schwer, auf baraza zu treffen, da fast jedes Haus in Sansibar hat eine eigene baraza hat. Die meisten dieser baraza sind jedoch für nur für die Bewohner eines bestimmten Hauses bestimmt und daher nicht wirklich öffentlich. Nur wenige baraza haben sich im Lauf der Zeit zu öffentlichen oder kommunalen baraza entwickelt, obwohl ihre Anzahl in der Altstadt bei 3-400 liegt, wobei die Zahl der berühmten und über ein Viertel hinaus bekannten baraza nochmals erheblich geringer ist und 2007 50 oder 60 baraza umfasste. Es ist daher nötig, unterschiedliche Kategorien von baraza zu definieren und zwar zunächst in Bezug auf den Grad ihrer Öffentlichkeit: Zum einen gibt es die privaten Haus-baraza, dann die kommunalen baraza eines Viertels und schließlich diejenigen super-kommunalen baraza, deren Ausstrahlung über ein Viertel hinausreicht. Dennoch sind diese Grenzen offen und fließend: eine Haus-baraza kann sich jederzeit zu einer kommunalen baraza entwickeln, eine bekannte kommunale baraza kann aber auch, etwa nach dem Tod ihrer Mitglieder, zu einer einfachen Haus-baraza werden. Die meisten Haus-baraza werden in der Regel von den Bewohnern eines Hauses frequentiert, und zwar Männer wie Frauen, wobei in der Altstadt Männer und Frauen bislang nicht gemischt sitzen (s. Themenkasten 23). In einer Haus-baraza können aber auch Passanten Platz nehmen, welche die Bewohner des Hauses kennen oder von den Mitgliedern der Haus-baraza zum kurzzeitigen Sitzen eingeladen werden. Kommunale baraza werden hingegen nicht mehr mit den Bewohnern eines Hauses, sondern mit einem Viertel identifiziert oder definieren sich über berufliche, politische, religiöse, regionale, soziale oder intellektuelle Orientierung ihrer Mitglieder. Kommunale baraza sind häufig an strategisch günstigen Orten gelegen, etwa an Kreuzungen von Gassen, in platzartigen Erweiterungen einer Gasse, in der Nähe einer Moschee, im Marktviertel oder an der Haltestelle der Überlandbusse. Kommunale baraza ziehen in der Regel auch eine größere Zahl von Sitzern an, obwohl nicht alle Mitglieder einer kommunalen baraza permanente Mitglieder sind. Ihre Mehrzahl identifiziert sich aber immer noch mit einem bestimmten Viertel und trifft sich zu verabredeten Zeiten des Tages, des Abends oder der Woche.

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Themenkasten 23: Die baraza der Frauen Das Sitzen in den baraza der Altstadt Sansibars ist „gendered“. Dabei habe ich in der Altstadt bislang nur wenige Frauen-baraza gesehen. Ihre Zahl ist in den Vierteln von Ng’ambo erheblich größer. Die bevorzugte baraza-Zeit der Frauen ist die Zeit nach dem maÈrib-Gebet und nach dem Abendessen. Häufig ist das Sitzen in Frauen-baraza damit verbunden, dass die kleinen Kinder mit einer GuteNacht-Geschichte zu Bett gebracht werden (Mw. Idris, 19. Juli 2004). Einige wenige Frauen-baraza in der Altstadt treffen sich auch nachmittags vor dem ÝaÒrGebet. Im Jahre 2004 waren dies insgesamt drei Frauen-baraza in Shangani, Soko Mohogo und Vuga, zwei in Malindi und drei in Hurumzi. Diese Feststellung gilt auch für jüngere Geschichte Sansibars: Im Hurumzi-Viertel sind in den letzten Jahren aber auch erste baraza aufgetaucht, die überwiegend von Zuwanderern vom tansanischen Festland frequentiert werden, während sich in einigen Teilen Ng’ambos, wo sich besonders viele Zuwanderer von der nördlichen Insel Pemba niedergelassen haben, ebenfalls Frauen-baraza gebildet haben (Mw. Idris, 20. Mai 2004). In der Altstadt finden sich hingegen bisher nur wenige Frauenbaraza. Hier treffen sich die Frauen nach wie vor eher innerhalb der Häuser im Hof (ua).

Bekannte super-kommunale baraza ziehen schließlich auch Mitglieder aus anderen Vierteln oder gar aus anderen Teilen der Stadt Sansibar an, treffen sich weniger häufig, vielleicht nur einmal in der Woche und definieren sich vor allem über den sozialen Hintergrund ihrer Mitglieder. Auch solche super-kommunalen baraza treffen sich an markanten und zentralen Orten, die häufig viele Funktionen haben und meist im Marktbereich (Darajani und Mkunazini) oder in stark frequentierten Gassen mit vielen Läden (Mkunazini, Kokoni, Gizenga) liegen.10 Viele super-kommunale baraza befinden sich auch an oder in der Nähe einer Moschee (etwa Ruta, IstiqÁma oder Malindi) oder an zentralen Knotenpunkten des Gassengewirrs Sansibars wie „Jaws’ Corner“ in Soko Mohogo, der wohl am stärksten frequentierten Kreuzung in der Altstadt Sansibars. Zentralität, eine gute strategische und logistische Lage, die Möglichkeit des Überblicks und die soziale Integration in ein bestimmtes Milieu sind also wichtige Kriterien bei der Positionierung einer baraza. Manche baraza treffen sich aber auch an Or-

10 Diese baraza werden folglich auch nur während der Geschäftszeiten frequentiert.

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ten, die durch ihre schiere Poesie verzaubern, die Schönheit der Architektur der umgebenden Gebäude, einen besonders guten Aus- oder Überblick, oder die Tatsache, dass ein solcher Ort besondere Ruhe ausstrahlt. Diese Kriterien gelten für einige baraza im Park von Forodhani, wo sich zwischen etwa 17.30 und dem maÈrib-Gebet eine Reihe von älteren Herren zum abendlichen Plausch der „gentlemen“ treffen. Hinzu kommen schließlich eine kleinere Anzahl von baraza, die in Häusern, Geschäften oder Hotels zusammenkommen, etwa im Masomo-Buchladen, in dem sich lokale Oppositionspolitiker treffen, oder im Tembo-Hotel, wo sich die Angehörigen und Freunde der Muzammil-(Händler-)Familie treffen (ÝAbdalazÐz Lodhi, 2. April 2005). Diese „in-door“ baraza zeichnen sich dadurch aus, dass sie, wie die historischen maÊÁlis, eine spezifische und beschränkte Mitgliedschaft haben, vor allem deshalb, weil sich die Unterhaltungen in diesen baraza häufig um politische Themen oder „die Geschäfte“ drehen.11 Themenkasten 24: Kaffeetrinken in Sansibar In der Altstadt Sansibars gibt es mehrere Kaffeemacher, die bekanntesten waren 2004 in „Jawsʼ Corner“; in der Gizenga, Ecke Cathedral-Gasse, dieser aber nur abends nach dem ÝišÁÞ-Gebet; in der Nähe des cash&carry Supermarktes in Darajani; in der Narrow Street in Malindi beim Narrow Street Hotel; beim Passing Show Hotel in Malindi an der Hollis Road; in der Nähe der Ruta Moschee; jeweils einer beim früheren Empire und einer beim früheren Majestic Kino; in der Nähe des Muzammil-Ladens in Darajani und zumindest einer auf dem Mlandege-Markt, der eine Verlängerung des Darajani-Marktes auf der nördlichen Seite der Creek Road in Mchangani darstellt. Früher waren viele dieser Kaffeemacher mobil und gingen von baraza zu baraza, um den Kaffee zu verkaufen, in jüngerer Zeit sind sie aber ortsfester geworden und ziehen die Kundschaft an ihren Standplätzen an (Adam Shafi Adam, 2. April 2005).

In Hinblick auf die Zahl ihrer Mitglieder bestehen sowohl Haus- als auch kommunale baraza aus mindestens zwei, meist aber nicht mehr als zehn Mitgliedern zur gleichen Zeit. Die bekannten baraza in „Jaws’ Corner“ ha-

11 Baraza können in solchen Fällen auch als regelrechte Klubs organisiert sein, in denen nur bestimmte Personen zugelassen sind. Ich fokussiere hier aber auf die größere Gruppe der kommunalen baraza in der Altstadt Sansibars, die eine breitere Mitgliederschaft erlauben.

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ben in der Regel zwischen fünf und sieben Mitglieder. Wichtige Plätze wie „Jaws’ Corner“, die zum Zentrum mehrerer baraza geworden sind, verfügen meist über zusätzliche Attraktionen, wie den Kaffeemacher, die mbao und Domino-Spieler, ein Fernsehgerät, einen Zuckerrohrsaftpresser und natürlich ein „schwarzes Brett“, das „notice board“, auf dem lokale Nachrichten und Ereignisse öffentlich bekannt gegeben werden. Diese Plätze haben konsequenterweise auch spezifische baraza wie die der Kaffeetrinker angezogen, die zum Teil einen weiten Weg zu ihrer baraza zurücklegen, um ihren morgendlichen (oder abendlichen, wie im Falle einer baraza in der Gizenga-Gasse) Kaffee zu genießen (s. Themenkasten 24). Wie bereits erwähnt, haben einige Orte und ihre baraza auch Filmfans oder Karten-, Domino- und mbao-Spieler angezogen, die sich in der Regel nachmittags treffen. In jüngerer Zeit haben sich aber auch hier Veränderungen ergeben, weil eine wachsende Anzahl von Familien in den Besitz eigener Fernsehgeräte gekommen und über eine Satellitenschüssel mit dem Internet und dem global now verbunden ist. In der Folge haben viele VideoLäden geschlossen und nur diejenigen, die sich kein eigenes Fernsehgerät leisten können, gehen abends noch zu den Fernseh-baraza, um Nachrichten oder einen Videofilm anzuschauen. Die Wohlhabenderen haben sich von den Fernseh-baraza zurückgezogen. Die Videos des gemeinschaftlichen Fernsehens in der baraza werden aber weiterhin von den Mitgliedern der Fernseh-baraza gemeinschaftlich finanziert (MuÎammad ÝAlÐ, 31. Juli 2004). Die Veränderungen in der zeitlichen Organisation sozialer Beziehungen wie auch wirtschaftliche Einflüsse wirken sich somit direkt auf die Zusammensetzung der baraza aus. Neue Formen der Soziabilität wie auch neue Formen der Organisation von Zeit bedingen daher auch neue Formen räumlicher Organisation, was zum Verlust des Status als „lieux de sociabilité“ führen kann. Bei einem Besuch in Sansibar im Sommer 2007 konnte ich feststellen, dass einige der baraza, die ich noch aus dem Jahre 2004 kannte, verschwunden waren. Ich vermutete, dass dies auf den Tod ihrer Mitglieder zurückzuführen war und dass an ihre Stelle neue baraza getreten waren, die vor allem von Jugendlichen besetzt wurden. Auch die Zahl von baraza, die von Zuwanderern vom Festland frequentiert wurden und denen die Grundlagen der sansibarischen Höflichkeitsetikette offensichtlich unbekannt waren, hatte stark zugenommen, insbesondere in den Vierteln Hurumzi und Shangani, in denen sich Souvenirläden weiter ausgebreitet hatten. Ich stell-

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te aber rasch fest, dass sich die mir bekannten älteren baraza lediglich in ruhigere Ecken umgesetzt hatten, was wiederum den flexiblen Charakter der baraza in Sansibar bestätigt. Dieser Eindruck bestätigte sich bei meinem nächsten Besuch in Sansibar im Sommer 2009 und zeigt, dass sich die baraza Sansibars flexibel auf den Wandel der Zeiten einstellen und ihn mitgestalten. Besonders auffällig war dies bei der von der Aga Khan-Stiftung finanzierten Umgestaltung der verwahrlosten Grünflächen in Forodhani, die am 1. August 2009 der Öffentlichkeit übergeben wurden. Die Grünflächen in Forodhani, die von einer Reihe repräsentativer Bauten aus der Sultanatszeit umgeben sind, allen voran das bait al-ÝaÊÁÞib, das alte Fort und das Gebäude der ehemaligen Muslim Academy, waren bis 2009 tagsüber kaum von Sansibaris frequentiert worden, von einigen Fußball spielenden Jugendlichen einmal abgesehen. Abends verwandelte sich Forodhani jedoch in eine große Bühne für Touristen und Einheimische, die sich dort zum Picknick trafen und die sich an den zahlreichen Garküchen mit Essen und Getränken versorgten. Dazu gab es ein Gartencafé, ein paar Bänke und eine bunte Mischung von einheimischen „Papaasi“ („Zecken“, selbsternannte Touristenführer)12 und „Maasai“, die den Touristen ihr Sortiment an „afrikanischer Kunst“ anboten. Nach der Sanierung verwandelte sich Forodhani radikal: die neu erstandenen Grünflächen wurden gesperrt, eine eigene Parkaufsicht wachte über die Sauberkeit der Anlagen, ein Kinderspielplatz wurde eingerichtet, die Garküchen strengen hygienischen Standards unterworfen, die Freiflächen zwischen den Grünflächen gepflastert, ein Springbrunnen installiert, die „Papaasi“ und „Maasai“ des Platzes verwiesen. Dazu kam die durchgehende nächtliche Beleuchtung der Anlage und die Aufstellung einer großen Anzahl bequemer Steinbänke, die sich rasch zum beliebten täglichen und nächtlichen Sitzplatz zahlreicher baraza entwickelten. Unter diesen baraza waren nun auch erste Frauen-baraza, die sich abends in der Öffentlichkeit zum Plausch trafen: Die Sanierung der Anlagen und die abendliche Beleuchtung hatte innerst kürzester Zeit also dazu geführt, dass ein Raum, der bis dahin von baraza kaum genutzt worden war, zu einem Platz werden konnte, der von einer Vielzahl von baraza dauerhaft besetzt wurde.

12 Die Papaasi ihrerseits hatten zumindest eine eigene baraza in „Jaws’ Corner“ (Soko Mohogo), in der sie sich abseits des Tagesgeschäftes unterhielten und Erfahrungen austauschten.

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In ihrer sozialen Struktur wiederspiegeln die baraza die soziale Zusammensetzung eines bestimmten Viertels. Das Mitsitzen scheint in den meisten Gassen-baraza aber dennoch recht unproblematisch zu sein: es gibt keine formale Mitgliedschaft, keine Mitgliedsbeiträge oder Mitgliedsausweise wie es beispielsweise in formalen Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften der Fall ist. Dennoch wird die Mitgliedschaft in einer baraza durch bestimmte, ungeschriebene Regeln definiert. Zunächst einmal kann jede Person Mitglied einer baraza werden, wenn sie dazu aufgefordert wird. Diese Einladung zum Mitsitzen kann aber bereits durch ein einfaches „Willkommen“ (swa.: karibu) erfolgen. Da aber jede baraza einen spezifischen Charakter hat, sind einige baraza offener als andere. Einige baraza schließen sich fast hermetisch nach außen ab und die Mitglieder einer solchen baraza beenden möglicherweise ihre Gespräche, die sich auf delikate Themen wie Politik beziehen, wenn sich eine unbekannte Person nähert. Für den Zutritt zu einer solchen baraza bedarf es einer formellen Einladung, um dauerhaftes Mitglied zu werden.13 Die Aufnahme in eine baraza ist also ein bewusst inklusiver Prozess, der von ihren Mitgliedern ausgehen muss. Residenz in einem Viertel, regelmäßiges Passieren einer bestimmten baraza und respektvolles Grüßen sowie die Beachtung der sansibarischen Höflichkeitsetikette, vor allem das Bezeugen von Respekt (swa.: heshima) und guten Manieren (swa.: adabu),14 können dabei helfen, zum Mitsitzen in einer baraza eingeladen zu werden. Auch persönliche Beziehungen oder ähnliche berufliche, religiöse oder politische Orientierungen können die Aufnahme erleichtern oder beschleunigen. Obwohl diese Faktoren nicht selbstverständlich zu einer Mitgliedschaft führen, sind die meisten baraza offen und laden jeden, der die genannte baraza-Etikette erfüllt, ein, Mitglied zu werden, selbst wenn dies nur vorübergehend sein sollte. Die variierende Offenheit bzw. Geschlos-

13 Hassan Mwakimako, 20. April 2004 und Mw. Idris, 20. Mai 2004. Ich selbst wurde im Laufe der Zeit Mitglied in drei baraza: die baraza der Fans von „Manchester United“ in „Lebanon Brothers Corner“ in Baghani, in der baraza der wazee in „Jaws‘ Corner“ und in einer baraza der Straßen-Buchhändler in Darajani. 14 S. Saleh 2004: 145ff zu diesen Begriffen.

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senheit der baraza zeigt, dass es schwierig ist, das Konzept der baraza in einen Idealtypus zu übersetzen: Das bisher Gesagte trifft zwar auf die meisten baraza zu, aber nicht notwendigerweise auf alle. Der semi-öffentliche, semi-formale und semi-offene Charakter der baraza entzieht sich definitiven Kategorisierungsversuchen.

Themenkasten 25: Baraza als kosmopolitische Orte Viele baraza schöpfen in ihren Diskussionen aus dem Wissen von barazaMitgliedern, die im Ausland gelebt und gearbeitet haben oder als Matrosen auf internationalen Schifffahrtslinien beschäftigt waren. Ein Mitglied der baraza der Straßenbuchhändler in Darajani, Bw. Saleh Saloum hatte fünf Jahre bei der Firma Quelle in Fürth gearbeitet und konnte sich recht gut im fränkischen Dialekt ausdrücken. Die Informations-Netzwerke der baraza erstrecken sich so über die Medien und persönliche Bekanntenkreise in den Golf (Dubai), nach Ägypten, Saudi-Arabien, Indien, Europa, Nordamerika, Australien, Hongkong, Singapur und selbst Franken. Diese Netzwerke können aktiviert werden, um Rat, finanzielle Hilfe oder politische Unterstützung zu mobilisieren. Damit sind die baraza Sansibars nicht nur eine wichtige „Zelle“ für die soziale Selbstorganisation der Gesellschaft, sondern repräsentieren auch den kosmopolitischen Cocktail Sansibars.

Der halboffene Charakter der baraza spiegelt sich in den Unterhaltungen der baraza wieder, die mazungumzo ya baraza (oder auch kupiga soga, „das Plaudern“), die weder formal und öffentlich, aber auch nicht wirklich privat sind. Baraza-Unterhaltungen unterscheiden sich damit klar von anderen Formen der öffentlichen Rede, etwa der Freitagspredigt (swa.: hotuba) oder der mihadhara, der öffentlichen Kundgebung. Mazungumzo ya baraza sind aber auch nicht notwendigerweise nur Klatsch. Gewöhnlich haben sie einen Gesprächsfokus, der im Verlauf weiter spezifiziert werden kann. Die Unterhaltung speist sich aber aus einem breiten Themenfeld, das von der Politik über die wirtschaftliche Lage, den Preisen auf dem Markt, die neueste Eheschließung im Viertel bis hin zur Frauenmode reicht, aber auch Sportereignisse, Naturkatastrophen oder die mögliche Wirkung von Aphrodisiaka einschließen kann (Abdul Sheriff, 19. Juni 2004; s. Themenkasten 25). Ein wichtiges Merkmal der baraza-Unterhaltung ist jedoch, dass sie der baraza-Etikette folgt, d.h. dass beispielsweise den älteren Mitgliedern der Vorrang des Sprechens zukommt.

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Baraza können also unterschiedliche Formen (swa.: aina) annehmen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie Personen zusammenführen, die der spezifischen Etikette ihrer baraza folgen und die sich zum Zwecke des Gesprächs in regelmäßigen Abständen treffen. Baraza können somit als räumlicher Ausdruck der Netzwerke und Verflechtungen von Personen bezeichnet werden, die sich kennen und einander vertrauen. In der Folge haben viele baraza eine weiterreichende Bedeutung für ihre Mitglieder: Sie geben Sicherheit, bürgen füreinander oder gewähren einander Kredit. Der reiche Händler und Plantagenbesitzer MasÝÙd b. ÝAlÐ al-RiyÁmÐ war zum Beispiel dafür bekannt, dass er sich für jeden einsetzte, der in „seiner“ baraza saß (Aley 1994, np.). Baraza können auch, entweder für einen Tag oder ein Wochenende, gemeinschaftliche Ausflüge und Picknicks in die shamba-Gebiete organisieren, insbesondere im Fastenmonat RamaÃÁn und dafür Geld von den Mitgliedern einsammeln. Geld kann aber auch für andere Zwecke gesammelt werden, etwa für Begräbnisse, für eine maulidiFeier,15 für Hochzeiten (swa.: arusi) oder einfach, um Bedürftige zu unterstützen (Mw. Idris, 19. Juli 2004). Baraza können so als „lieux de sociabilité“ ersten Ranges gesehen werden, als eine wichtige wenn nicht sogar die zentrale soziale Institution für die räumliche und zeitliche Gestaltung des Alltagslebens in Sansibar, in der die Regeln des alltäglichen Lebens gelebt werden, Streitfälle diskutiert und vielleicht sogar gelöst werden, gegenseitige (Nachbarschafts-)Hilfe geleistet wird, Informationen ausgetauscht werden, in denen die soziale Verflechtung Sansibars stattfindet (Valcke 1999: 338). Da baraza nun aber meist Grüppchen von Männern darstellen, die scheinbar untätig in der Öffentlichkeit sitzen und sich die Zeit mit Plaudereien vertreiben, könnten baraza als zeit-verschwendendes Handicap für die wirtschaftliche Entwicklung Sansibars betrachtet werden. Die vielfältigen, wenn auch nicht immer sichtbaren oder einsichtigen Funktionen der baraza für das soziale Leben Sansibars erklären aber möglicherweise, warum es bislang keine Kritik an der baraza gibt, weder von Seiten fortschrittsorientierter Bürokraten noch von Seiten der aktivistischen und häufig recht puritanisch eingestellten anÒÁr

15 Der Begriff maulidi (arab.: maulid) kann in Sansibar für vieles stehen: im engeren Sinne die Feier des Geburtstages des Propheten (maulid al-nabÐ), im weiteren Sinne kann ein maulidi aber auch ein Gedenktag oder ein profaner Geburtstag sein.

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al-sunna-Gruppen. Vielmehr sitzen sowohl Bürokraten als auch aktivistische Muslime selber gerne in baraza und schätzen sie als Informationsquelle oder nutzen sie als Podium für die Verbreitung ihrer eigenen Agenda. Die Vielzahl der baraza stellt so einen riesigen und in sich verflochtenen Gesprächskreis dar, in dem sich die Meinungsbildung Sansibars vollzieht.16

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UND SOZIALE

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Die baraza Sansibars sind schließlich von großer Bedeutung für die Organisation der Zeit. Zunächst einmal sind sie nur während bestimmter Zeitfenster besetzt. Nur wenige baraza treffen sich am Morgen oder am Vormittag, vor dem Ûuhr-Gebet. Die baraza von ÝAlÐ (b.) MasÝÙd al-RiyÁmÐ, Sohn von MasÝÙd (b. ÝAlÐ) al-RiyÁmÐ, einer der reichsten Sansibaris omanischer Abstammung, war vor der Revolution neben der baraza des Sultans sogar die einzig bekannte baraza, die sich vormittags traf (s. Aley 1994, np.). Aber auch in den oft heißen Stunden zwischen dem Ûuhr und dem ÝaÒr-Gebet treffen sich nur wenige baraza. Die weitaus meisten baraza treffen sich im Zeitraum zwischen dem ÝaÒr- und dem maÈrib-Gebet, also zwischen etwa 16.30 Uhr und 18.30 Uhr am späten Nachmittag. Einige baraza, wie die der „Intellektuellen“ beim Gebäude der Stadtverwaltung in Malindi, treffen sich schließlich nach dem maÈrib-Gebet am Abend oder nachts nach dem ÝišÁÞ-Gebet (Fatma Alloo, 11. März 2003). Dieses Zeitregime wird lediglich am Samstag und am Sonntag durchbrochen, wenn sich diejenigen baraza treffen, die nur an diesen Tagen zusammenkommen: Sie treffen sich auch am späten Vormittag, insbesondere wenn sie in der Marktgegend sitzen. Allerdings kann der Platz einer baraza im Laufe eines Tages (oder einer Woche) von unterschiedlichen baraza genutzt werden. So sitzen in der baraza za wazee in „Jaws’ Corner“ im Laufe eines Tages wenigstens drei unterschiedliche baraza: die wazee selbst zwischen ÝaÒr und maÈrib-Gebet, außer samstags und sonntags, wenn sie sich vor dem Ûuhr-Gebet treffen; sodann eine kleine Gruppe alter Freunde, meist

16 Kai Kresse hat die baraza daher auch als zentrale Einrichtung für die „Verhandlung von Wissen“ bezeichnet (Kresse 2005: 623f) und Scheich YaÎyÁ ÝAlÐÝUmar zitiert, der die baraza auf Grund ihrer Bedeutung für intellektuelle Debatten als „a Swahili university“ charakterisiert hat (Kresse 2005: 619, Fußnote 10).

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Beamte und Angestellte in Ruhestand, die heute in unterschiedlichen Teilen der urbanen Agglomeration Sansibars wohnen, sich aber immer noch am späten Vormittag (nicht aber samstags und sonntags) zu einem Plausch treffen; und schließlich eine baraza von Anwohnern des Viertels, die an einigen Nachmittagen vor dem ÝaÒr-Gebet in ihrer baraza sitzen. Da sich jede baraza zu festgelegten Zeiten trifft, ist es recht einfach, den jeweiligen Mitgliedern zu begegnen: man muss nur wissen, in welcher baraza jemand für gewöhnlich sitzt und wo diese sich trifft. Die Alten verbringen dabei sehr viel mehr Zeit in der baraza als diejenigen, die ihrer Arbeit und ihren Geschäften nachgehen müssen, obwohl auch diese Personen am späten Nachmittag, abends oder am Wochenende in ihrer baraza anzutreffen sind. Das Sitzen in der baraza kann so als eine sansibarische Form der Freizeitgestaltung gesehen werden, ein Zeitfenster in dem das soziale Leben, die Freundschaften und das Bedürfnis nach Kommunikation und Gedankenaustausch gepflegt werden. Die Tatsache, dass sich die meisten baraza zwischen dem ÝaÒr und dem maÈrib-Gebet treffen, ist aber nicht nur damit verbunden, dass diese Zeit mit dem Ende der Bürozeiten zusammenfällt. Dieser Zeitraum von etwa zwei Stunden zwischen den Gebeten wird von vielen Sansibaris vielmehr als zu kurz betrachtet, um etwas „substantielles“ zu tun. Andererseits wird dieses Zeitfenster als lange genug angesehen, um eine gute Unterhaltung („a good chat“; Abdul Sheriff, 19. Juni 2004) zu führen. Auch ziehen es viele Sansibaris vor, in dieser Zwischenzeit nicht gleich nach Hause zu gehen und dann zum maÈrib-Gebet das Haus wieder zu verlassen, sondern diese Zwischenzeit im Kreise ihrer Freunde und Bekannten in ihrer baraza zu verbringen. Die Gebetszeiten stellen damit den primären Zeitrahmen für das Treffen vieler baraza dar. Andere Zeitmarker und Signale wie die Sirene, die täglich um 7.30 Uhr, 15.30 Uhr und 18.30 Uhr den Beginn und das Ende des Arbeitstages sowie den Beginn der Nacht weithin hörbar verkündet, stellen einen sekundären Zeitrahmen her, der vor allem mit der durch die Revolution hergestellten Signalkulisse assoziiert wird.17 Beim Flanieren durch die Gassen Sansibars kann festgestellt werden, dass die baraza der Altstadt Sansibars geradezu als Zeitinseln betrachtet werden können, die es gestatten, die Bewegung der Menschen in unter-

17 Muhammad Haron (21. April 2004) hat die Sirene in Sansibar auf Grund ihrer Funktion, einen Zeitrahmen zu setzen, als einen „modernen aÆÁn“ bezeichnet.

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schiedlichen Zeitregimen und entsprechenden Geschwindigkeiten zu beobachten. Dabei waren sich alle Mitglieder „meiner“ unterschiedlichen baraza dahingehend einig, dass man sitzend mehr sehen würde, als beim Gehen oder gar Laufen, weil man Muße und Zeit habe, das vorbeiziehende Leben gründlich zu studieren: „haraka haraka haina baraka“ (in der Eile liegt kein Segen). In Hinblick auf die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die aus der Perspektive der baraza beobachtet werden können, gibt es daher zunächst diejenigen, die selbst in einer baraza sitzen und die „Zeit haben“, zu beobachten, Passanten zu grüßen und mit denjenigen, die sich die Zeit nehmen, zu plaudern. Eine ausführliche Begrüßung kann in diesem Zusammenhang als Strategie gesehen werden, Zeit für das Gespräch zu gewinnen, sich zu erinnern oder aber auch ein weiterführendes Gespräch elegant zu vermeiden. Zum zweiten gibt es die Geschwindigkeit derjenigen, die auf dem Weg zur Arbeit, Beschäftigung oder anderen Aktivitäten sind und die in der Regel die Mitglieder einer ihnen bekannten baraza nur kurz grüßen, um damit der sansibarischen Höflichkeitsetikette zu genügen, dann aber, ohne in ein Gespräch einzusteigen, weitergehen. Menschen, die es sehr eilig haben und die Höflichkeitsetikette nicht verletzen wollen, vermeiden wiederum die Gassen, in denen zu bestimmten Zeiten baraza sitzen, die sie mangels Zeit nicht entsprechend grüßen können und gehen andere Wege, die zwar länger sind, dabei aber zu bestimmten, den Passanten bekannten Zeiten keine baraza beherbergen. Diese Gassen sind daher letztlich schneller zu durchqueren als zentrale Gassen, in denen viele baraza sitzen. Schließlich gibt es die Geschwindigkeit derjenigen, die in der Altstadt selbst vielfältige Versorgungsarbeiten durchzuführen haben, etwa Lastkarren-Arbeiter, Milch-, Brot- und Obstlieferanten oder Boten und „office boys“, die sich darum bemühen, ihre Arbeit so rasch wie möglich zu erledigen und daher für etwaige baraza unsichtbar sind: wenn sie nicht grüßen, wird dies nicht als Verstoß gegen die Höflichkeitsetikette gesehen. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Fortbewegung in der Altstadt Sansibars und die zentrale Rolle der baraza als Zeitort verweisen auf einen weiteren, bereits angesprochenen Aspekt des sansibarischen Alltagslebens, der untrennbar mit der Organisation der Zeit und dem Sitzen in einer baraza verbunden ist und der zudem auf den Nexus zwischen dem Räumlichen und der „sozialen Zeitordnung“ Sansibars verweist, nämlich die Bedeutung sozialer Normen und Konventionen in Bezug auf Höflich-

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keit und Respekt (heshima), bzw. gutes Benehmen und gute Manieren (adabu). In Sansibar sind diese Normen auch heute noch sehr wichtig. Dementsprechend ist es ein „Muss“, höflich zu grüßen und sich dafür die Zeit zu nehmen. Das höfliche Grüßen bezieht sich dabei aber nicht nur auf Nachbarn, Freunde und Bekannte, sondern auf alle Personen, denen man auf bestimmten Wegen, etwa zum Markt, zu „Jaws’ Corner“, zu einem Geschäft oder in einer baraza immer wieder begegnet. Obwohl es theoretisch möglich ist, die Altstadt Sansibars von Osten nach Westen, von Darajani nach Forodhani in fünf Minuten zu durchqueren,18 dauern die Wege durch die Altstadt in der Regel erheblich länger, weil man immer jemanden trifft, den man der Etikette entsprechend grüßen sollte und für den man sich Zeit nimmt. Das Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke ist also weniger von der tatsächlichen geographischen Länge des Weges abhängig, sondern vielmehr von der Dichte des sozialen Netzes, in welchem sich eine Person bewegt. Distanzen werden in Sansibar folglich auch weniger räumlichgeographisch berechnet, sondern vielmehr auf der Grundlage eines sozialen Zeitmaßes, das von Fall zu Fall geschätzt wird: Die 500 Meter von Darajani nach Forodhani können von ortskundigen Fremden in fünf Minuten zurückgelegt werden, sie können aber auch zwei Stunden dauern, wenn man seinen sozialen Verpflichtungen nachkommt und die Mitglieder der baraza nach allen Regeln der Höflichkeit grüßt. Im Laufe eines Tages kann sich damit eine Serie von Verspätungen aufbauen, die dazu führen, dass getroffene Termine (Zeitabsprachen) nicht eingehalten werden können. Eine Verspätung ist aber nicht wirklich ein Problem: zum einen kommen viele Sansibaris „zu spät“ und treffen sich dann dennoch trotz anders lautender Zeitabsprache im Laufe des Tages, wenn auch nicht immer am vereinbarten Ort; zum anderen ist es möglich, die gewünschte Person jederzeit in ihrer baraza zu treffen, vorausgesetzt man weiß, wann und wo sich diese baraza trifft. Konflikte gibt es somit eigentlich nur, wenn sansibarische Terminabsprachen, die sozial bedingte Verspätungen meist entschuldigen und zum Teil sogar einkalkulieren („wir treffen uns nach dem ÝaÒr-Gebet in „Jaws’ Corner“), mit westlichen Zeitregimen und Terminabsprachen („wir treffen uns um 16 Uhr in meinem Bü-

18 Für den Weg von Norden nach Süden, von Fungoni nach Shangani, würde man etwa eine halbe Stunde benötigen, vorausgesetzt, man kennt die kürzeste Verbindung durch die Gassen Sansibars.

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ro“) kollidieren. Weil in westlichen Zeitregimen nun Pünktlichkeit eine maßgebliche soziale Norm darstellt, während in Sansibar die Einhaltung sozialer Verpflichtungen als zentraler Maßstab von Höflichkeit gilt, kommt es immer wieder zu gegenseitigen Irritationen und Vorwürfen von Unpünktlichkeit bzw. Unhöflichkeit. Es soll hier nun aber kein absoluter Gegensatz zwischen „westlicher Zeit“ und „Swahili-Zeit“ aufgebaut werden, weil es auch für Sansibaris in bestimmten Kontexten wichtig ist, pünktlich (swa.: kwa wakati) zu sein. Die Anlässe für Pünktlichkeit, etwa Hochzeiten, sind jedoch vor allem sozialer Natur. Auch Sansibaris sind daher mit dem Gefühl vertraut, „zu spät“ zu kommen: Sie sind „in Eile“ und „unter Zeitdruck“ wenn es um bedeutende soziale Anlässe geht. Diese werden auch als wichtiger Entschuldigungsgrund akzeptiert, wenn man zu einer geschäftlichen Vereinbarung „zu spät“ kommt. Sansibarische Zeitregime unterscheiden sich daher von „westlichen“ Zeitregimen“ vor allem dadurch, dass sie stärker von sozialen Normen und weniger von ökonomischen Zwängen bestimmt werden. Bei offiziellen Empfängen heißt es aber auch in Sansibar auf den Einladungskarten am Ende immer: KOMMEN SIE BITTE PÜNKTLICH – TAFADHALI, FUATA WAKATI

10. Schluss: Die Zeitlandschaft Sansibar im „global now“

Die vorliegende Studie zeigte, wie sich die Zeitlandschaft Sansibars historisch entwickelt hat und wie unterschiedliche Konzepte von Zeit im Alltagsleben einer Gesellschaft verhandelt wurden. Bei meiner Forschung zum Thema lag mir aber nicht nur daran, unterschiedliche Konzepte von Zeit in Sansibar vorzustellen oder Zeit als Aspekt von Machtbeziehungen darzustellen, selbst wenn dies eine wichtige Dimension bei der Darstellung einer Zeitlandschaft ist. Ich wollte vielmehr auch gesellschaftliche Veränderungen, Zeitbrüche, den Wandel der Zeiten und der Zeitordnungen vor dem Hintergrund der Frage diskutieren, was Zeit zu unterschiedlichen Zeiten für die Menschen in Sansibar bedeutet, wie lange sie einer Zeitordnung folgen und in welchen Lebensbereichen welche Zeitregime für sie besonders wirkmächtig werden. In historischer Rückschau auf das 19. und 20. Jahrhundert war die Etablierung der „globalen“ Uhrzeit sicherlich die auffälligste Veränderung der Zeitlandschaft Sansibars. Der Vorrang der Uhrzeit stellte sich aber nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen so deutlich dar wie im Bereich der modernen Verwaltung oder im Bildungswesen. In einigen gesellschaftlichen Bereichen konnten sich andere Zeitordnungen behaupten: Die baraza Sansibars beispielsweise folgen weiterhin nicht dem Takt der Uhr, sondern dem Rhythmus des Alltagslebens, der wiederum von den Gebetszeiten strukturiert wird. Auch über das Jahr gesehen sind es bis heute eher die islamischen Festtage, die das Leben der Sansibaris bestimmen und nicht die Feiertage des Revolutionsregimes. Und schließlich steckt hinter der Frage, ob man sich zu einer bestimmten Uhrzeit oder zur „Swahilizeit“ trifft, wei-

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terhin ein Aushandlungsprozess, in welchem häufig genug die Höflichkeit gegenüber der Pünktlichkeit siegt. Die religiöse Zeit und, in den baraza Sansibars, die soziale Zeit, haben sich somit erstaunlich gut im Wandel der Zeiten gegenüber dem Vordringen der Uhrzeit behauptet, obwohl doch heute fast alle erwachsenen Sansibaris eine eigene Armbanduhr und/oder ein mobiles Telefon besitzen. Die Sansibaris sind heute nicht mehr auf den Blick auf die Uhr am bait al-ÝaÊÁÞib angewiesen, um zu erfahren, wie spät es ist. Die Uhrzeit ist vielmehr über den individuellen Uhrenbesitz und das mobile Telefon in alle Haushaltungen und persönlichen Lebensbeziehungen vorgedrungen. Und dennoch ist es bis heute nicht das Uhrzeitregime, das den Tagesablauf lenkt, sondern das Zeitregime der Moscheen, das täglich durch den Gebetsruf der Muezzine in alle Gassen Sansibars getragen wird. Die Koexistenz mehrerer Zeitordnungen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Etablierung der „globalen Uhrzeit“ in Sansibar andeutete, setzte sich in der britischen Kolonialzeit fort. Mit der Revolution des Jahres 1964 hat sich die Zeitlandschaft Sansibars aber noch einmal radikal verändert: Während es vor 1964 ein fast gleichrangiges Bestehen unterschiedlicher Zeitordnungen gab und selbst die Briten in vielen Lebensbereichen fallweise den Vorrang der religiösen Zeit und der natürlichen Eigenzeiten Sansibars („sun time“) anerkannten, erlangte nach 1964 die Zeitordnung der Revolution im Alltagsleben der Sansibaris Bedeutung, selbst wenn sich viele Sansibaris dem Primat der revolutionären Zeit nur unwillig unterwarfen. Dennoch respektierten sie die Feiertage des revolutionären Kalenders, akzeptierten das akustische Signal der Sirene in Hinblick auf ihren Arbeitstag und verharrten am Straßenrand, wenn der Autokonvoi des Präsidenten passierte. Die Revolution überschattete aber nicht nur das Alltagsleben der Sansibaris, sie stellte auch ein Trauma dar, über das viele Sansibaris nicht gerne öffentlich sprachen. Sie waren sich der Tatsache bewusst, dass ihre Erinnerungen an die Revolution und an die Geschichte Sansibars seit 1964 häufig nicht der offiziellen Fassung der Ereignisse entsprachen, die in den kanonischen Verlautbarungen der Afro-Shirazi Party (1965 und 1974) oder in den Arbeiten von Mrina/Matoke (1980) und Mapuri (1996) nachzulesen war. Die revolutionäre Version der Ereignisse wurde zudem von einem allgegenwärtigen Überwachungsapparat gestützt und auch fünzig Jahre nach der Revolution fanden sich noch genügend alte Revolutionäre, die die Errungenschaften der Revolution glorifizieren.

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Der langsame demokratische Wandel des politischen Systems in Tansania seit der Mitte der 1980er Jahre hat Sansibar aber erneut verändert, selbst wenn die Revolutionspartei CCM die Wahlen der Jahre 1995, 2000, 2005 und selbst noch 2010 zu ihren Gunsten manipulierte. Der anhaltende Widerstand der Oppositionspartei CUF und die zunehmende Verflechtung Sansibars mit dem tansanischen Festland hat jedoch dazu geführt, dass das Regime der CCM gezwungen war, einer langsamen Öffnung und Demokratisierung der politischen Verhältnisse zuzustimmen und seit 2010 die Macht mit der Opposition zu teilen. Dieser Prozess zeigt, dass sich selbst autoritäre Regime langfristig nicht von globalen Transformationsprozessen abschotten können. Insbesondere die Einführung und Ausbreitung des Internets und der satellitengestützten Kommunikation hat in Sansibar seit dem Ende der 1990er Jahre zur Entstehung eines offenen Informations- und Kommunikationsmarktes geführt, der mit den begrenzten Mitteln eines korrupten Regimes nicht mehr kontrolliert werden konnte. Die zunehmend dichte Vernetzung Sansibars mit der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts führte dazu, dass sich auch die Zeitlandschaft Sansibar in den letzten Jahren weiter verändert hat. Dieser Wandel zeigt sich beispielsweise darin, dass immer mehr Menschen in Sansibar die Veränderungen in anderen Teilen der Welt fast zeitgleich wahrnehmen und in ihrer alltäglichen Lebenswelt, etwa in ihren baraza, diskutieren. In diesen Diskussionen geht es durchaus nicht immer nur um Fragen der Politik oder der ökonomischen Entwicklung, sondern auch um die Einsicht in andere kulturelle, soziale und religiöse Lebenswelten, die vielen Sansibaris bislang weitgehend unbekannt waren oder geradezu märchenhaft erschienen. In zahlreichen Gesprächen mit religiösen Gelehrten, Freunden und vielen Mitgliedern von baraza wurde mir in den letzten Jahren aber auch deutlich, dass viele Sansibaris bereit sind, diese neuen und vielfältigen Welten als Teil eines erstaunlichen und letztlich unergründlichen göttlichen Schöpfungsplans anzunehmen. Die Möglichkeit des Vergleichs der Lebensverhältnisse in Sansibar mit denen in anderen Teilen der Welt hat auf jeden Fall dazu geführt, dass hegemoniale (religiöse und politische) Diskurse in Sansibar in den letzten Jahren zunehmend an Glaubwürdigkeit verloren haben. Damit ist nicht nur der Versuch der ASP-CCM gescheitert, in Sansibar eine revolutionäre Zeitordung zu verwirklichen, auch die Bemühungen der islamischen Opposition, eine neue islamische Zeitordnung zum Maßstab des gesellschaftlichen und religiösen Lebens in Sansibar zu erheben, wur-

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den in der kritischen Debatte der sansibarischen Öffentlichkeit als Teil einer Strategie entzaubert, die nicht religiös, sondern politisch-ideologisch motiviert war. Der Prozess der Globalisierung hat so in Sansibar seit der Mitte des 19. Jahrhunderts letztendlich nicht zu einer Homogenisierung bestehender Zeitordnungen geführt, sondern zu einer weiteren Ausdifferenzierung der „Zeiten“. Globalisierung bedeutete zunächst die Etablierung der „globalen Uhrzeit“ seit dem späten 19. Jahrhundert, dann aber auch die Diskussion um eine neue islamische Zeitkonzeption, die „Mekka-Zeit“, die sich in der Auseinandersetzung um die Sichtung des Mondes bemerkbar machte. Die unterschiedlichen Zeitordnungen unterliegen zwar weiterhin Aushandlungsprozessen in Hinsicht auf ihre gesellschaftliche, religiöse und politische Wirkmächtigkeit, aber die „globale Uhrzeit“ hat sich bislang nicht zu einer hegemonialen Zeitordnung entwickelt, die alle anderen Zeitordnungen verdrängt. Die Vitalität der baraza verweist auf die anhaltende Bedeutung „sozialer“ Zeiten und auch Landwirtschaft und Fischerei werden nach wie vor von den natürlichen Eigenzeiten Sansibars gesteuert. Sansibar kann damit heute als eine Gesellschaft gesehen werden, die „reich an Zeit“ ist und mit diesem Reichtum selbstbewusst umgeht.

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Anmerkung: Der aus dem Irak stammende Mathematiker ÝAbdallÁh b. ËalÐl al-MÁridÐnÐ, d. 1406/07 verfasste die wichtigsten Texte zu den mÐqÁt, die Berechnung von Zeiten und Kalendern nämlich al-Durr al-man×Ùr fÐ-lÝamal fÐ rubÝ al-dastÙr, risÁla fÐ-l-Ýamal bi-l-rubÝ al-muÊayyab, sowie alŠabaka und Qayat al-intifÁÞ (s. Nakosteen 1964). Ein marokkanischer Autor, AbÙ ÝAlÐ al-Íasan b. ÝAlÐ b. ÝUmar al-MarrÁkusÐ (starb c. 1260/80) schrieb ein weiteres zentrales Werk zu diesem Thema, ÉÁmiÝ al-mabÁdÐÞ wa-l-ÈÁyÁt fÐ Ýilm al-mÐqÁt.

Akten des Zanzibar National Archive (ZNA) und des Public Record Office (PRO)

AB 1/78: Control and Management of the SESM AB 5/32: Street cleaning and lighting decree 1924 AB 5/93: Wireless broadcasting decree AB 6/6: Disposal of Malindi power station decree AB 6/31: Electricity decree AB 6/33: Electric regulations decree AB 6/34: Lighting control rules AB 6/35: Electricity bill decree AB 6/36: Electricity bill AB 6/56: Street lighting decree AB 10/58: Saluting battery AB 10/74: Gun salutes on Mohammedan festivals (2 Akten) AB 10/81: Saluting battery AB 10/83: Id al-Fitr Baraza AB 10/188: Bait al-ajaib sireen AB 39/333: Government clocks AB 42/3: Telegraph Decree AB 42/6: Telephone Decree AB 42/10: Organization of Telephone Service AB 42/11: Establishment of telephone lines with the mainland AB 42/14: Telephone register AB 42/31: Telegraph cables AB 49/155ff: East African time AB 81/22: Gun salutes on Islamic festivities

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AB 82/681: Public holidays AB 82/682: The public and bank holiday decrees AB 82/683: Public holidays AB 82/684: Zanzibar fete days and celebrations AB 82/685: Public holidays AB 82/686: Public/religious holidays AB 82/689: Government office hours AB 82/690: Punctual attendance of government officials AB 86/26: George Benjamin Johnson, personal file AC 18/1: Report Rivers-Smith on education AD 1/122: Agakhan Boys‘ School Staff AD 1/123: Aga Khan Boys School, Inspection Report AD 5/52: Baraza za uchumi AD 5/63: Baraza la taifa la lugha ya Kiswahili AD 5/75: Film censorship (1954-63) AD 12/35: Minutes za baraza-conference: Mkutano wa baraza kuu idara ya futboli AW 62/176: Zanzibar order in council 1897 decree, section 47 BA 5/3: Annual reports for the years 1924-1933 BA 6/5: Zanzibar Government Guide to Swahili Examinations Im „Public Record Office“ wurden insbesondere die Akten der Codenummer PRO DO 185 eingesehen, die bis 2001 „top secret“ oder „confidential“ Status hatten und erst seit 2001 öffentlich zugänglich sind: PRO DO 185/51: Military Intervention Sansibar PRO DO 185/60: Revolution/Casualties PRO DO 185/68: Political Situation Sansibar, British Land Forces Kenya Conference, Sansibar and Pemba sowie PRO FO 84/1357: Korrespondenz Sir John Kirk.

Zeitungen

Africa Confidential (englisch) Dira (Kiswahili) Zanzibar Leo (Kiswahili) Maarifa (Kiswahili) Mtanzania (Kiswahili) an-Nuur (Kiswahili) al-Falaq (Arabisch)

Gesprächspartner in Sansibar

Adam Shafi Adam, Bi Fatma Alloo, Bi Marloes van der Bijl, Dr. Duchi, Ali Sultan Issa, José Kagabo, Mw. Ramadhani Kututwa, Prof. ÝAbdalaziz Lodhi, Dr. Erich and Bi Vaada Meffert, Mw. MuÎammad Idris MuÎammad, Dr. Íassan Mwakimako, Mw. MuÎammad ÝAli, Bw. Ahmad Mgeni, Bw. MoÎammed ÑaleÎ, Bw. ÑaleÎ Saloum, Prof. Abdul MuÎammad Íussein Sharif, Mw. Sulaima Fadhil Soraga, Dr. Issa Ziddy.

Anhang

Die hier abgebildete und zuletzt von AÎmad b. ÍÁmid ManÒab bearbeitete Gebetszeiten-Tabelle (Nyakati za sala kwa saa za msikiti kwa mwaka mzima: „Die Uhrzeiten für das Gebet in den Moscheen für das ganze Jahr“) gibt für jeden Tag des Jahres die exakten Gebetszeiten für alle fünf Gebete gemäß der in Sansibar geltenden Zeitzonen-Zeit in „Swahili-Zeit“ (SZ) an: Am 1. Januar findet das alfajiri-Gebet so um 10.20 Uhr „nachts“ statt. Dem 10.20 Uhr „nachts“ der SZ entsprechen 4.20am („morgens“) nach britischer („am/pm“) Zeitrechnung; für das adhuhuri-Gebet am Mittag gilt analog 5.50 Uhr (SZ), also 11.50am; das alasiri-Gebet am Nachmittag findet um 9.10 Uhr (SZ) statt, also um 3.10pm; das magharibi-Gebet am Abend ist um 12 Uhr (SZ), also 6pm und das isha-Gebet in der frühen Nacht um 1.20 Uhr (SZ), also 7.20am; Für den imÁm und den muÞaÆÆin wurde als Faustregel rechts unten auf der Tabelle hinzugefügt, dass es besser wäre, für jedes Gebet etwa fünf Minuten früher in die Moschee zu kommen; eine zusätzliche Tabelle am rechten Rand gibt zudem für jeden Tag des Jahres den Zeitunterschied zwischen der in der Tabelle angegebenen lokalen Zeit, zu der das Gebet stattfindet, und der offiziellen Zeitzonenzeit Sansibars an (tofauti za saa za zone na saa za msikiti). Für den 1. Januar beträgt dieser Unterschied 39 Minuten) (Mw. Idris, Bergen, 24. Juli 2004).

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Personen-, Orts- und Sachregister

ÝAbd al-MuÎyÐ (Java) 60 adab al-taÝlÐm 136 adabu 51 Afro-Shirazi-Party (ASP) 31-38, 41, 128, 163, 182 ÝAlawiyya 137, 145 Amani (Stadium) 52, 56 al-AmawÐ, ÝAbd al-ÝAzÐz b. ÝAbd al-ÇanÐ 65-68 anÒÁr al-sunna 76, 77, 79, 82, 94, 122 ÝÁšÙrÁ 112 “Babu”, ÝAbd al-RaÎmÁn MuÎammad 31, 37, 145 Bachu, NaÒÒor 79 Baden Powell, Lord 125-127 bait al-ÝaÊÁÞib 26, 35, 93, 95, 96, 106-108, 110, 111, 114, 171, 182, 184 baraza 51, 56, 82, 96, 127, 155179, 183 BarÈaš (Sultan) 24, 26, 40, 88 al-BarwÁnÐ, ÝAlÐ MuÎsin 31, 37 bikÁÞ (bukÁÞ) 79 Bohora(s) 27, 112 Bombardement 90-92 Brawa 66 Bürozeiten 104, 109, 110

Chama Cha Mapinduzi (CCM) 31, 35, 36, 39, 41, 52, 165, 183 Cholera 30, 31 Chuo cha Kiislamu 147, 148, 150 Civic United Front (CUF) 38, 193 Cricket 119, 121, 122 Dahr 74 Dampfschifffahrt 69, 88, 105 Dar es Salaam 18, 19 DDR 32, 36 Dekrete 96-115 Dhau 44 diÁna 36, 139 Diaspora 42, 53 Æikr (zikri ya kukohoa, ya dufu) 66, 67 Disziplin(ierung) 47, 99, 133 Eisenbahn 105 Emily Ruete (s. Salme b. Said) Erinnerung/Gedächtnis 16, 40, 52, 59, 60, 62, 63, 70 al-Farsy, ÝAbdallÁh ÑÁliÎ 48, 67, 68, 70, 76, 79, 102, 129, 145

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Fest(Feier)tage 73, 76, 83, 104, 111-113 Flugzeug(e) 69 Freizeit 117-132 Fußball 119, 121-124, 171

ÝÐd al-ÎaÊÊ (ÝÐd al-aÃÎa, ÝÐd alkabÐr) 47, 73, 77, 80-82, 84, 111-114 Internet 53, 54, 56 ittiÎÁd al-maÔÁliÝ 77

Gebetsruf (aÆÁn) 46, 71, 72, 160 Gewürznelken 24, 30 al-ÉÐlÁnÐ, ÝAbd al-QÁdir 59 „global now“ 17, 42, 52, 54, 84, 158, 170, 181 Government Central School 97, 99, 100, 102, 120, 139 Government Secondary School 141, 144 Greenwich Mean Time (GMT) 47-49, 56, 104-106, 109 Gudscharat 27 ÊumÝa (Gebet) 49

Jaws’ Corner 82, 158, 162, 164172, 175, 178 Johnson, G.B. 97-100, 102

ÍaÃramaut 27, 28, 134 Hafen 33, 34, 56, 104-106 Hendry (Director of Education) 98, 99, 102, 141 Heshima 51, 172, 178 hiÊra 74 hilÁl (Mondsichtung) 75-78 Hindu(s) 27, 112 Hollingsworth, William Lawrence 120, 124-126, 144 IbÁÃiyya 78 Ibn BaÔÔÙÔa 62, 69 ÝÐd al-fiÔr 47, 73, 77, 80, 84, 111115, 158

Kaffee (macher, Kaffee trinken) 169, 179 Kalender(ordnung) 47, 48, 7375, 80, 111, 127 Karume, Abeid Amani 33, 34, 38, 40-42, 145 Karume, Amani Abeid 38 Kaskasi (NO-Monsun) 44, 89 Khedive Ismail 24, 90 Khoja(s) 27, 112 Kino(s) 129-132 Kombo, MaÎmÙd b. 67, 68 Komorer 27, 32, 38 Kosmopolitanität, kosmopolitisch 28, 173 kusi (SW-Monsun) 44, 89 lailat al-qadr 73 madrasa, madÁris 133-153 Madrasat ÝAmÐriyya 146-148 Madrasa Resource Centre 149 maÊlis 157, 169 „Mainlander“ 32 Makunduchi 79, 80 ManÒab. AÎmad b. ÍÁmid 48, 102

P ERSONEN -, ORTS -

marketable skills 120, 139, 143, 151 masika (Regenzeit) 44, 45, 55 maulid (al-nabÐ) 61, 73, 77, 112114, 126, 174 mbao 118, 164 „Mecca times“ 20, 53, 8-84, 184 miÝrÁÊ 63 Modernisierung (Moderne) 24, 87, 88, 122 Mombasa 18, 19 Mond(sichtung) 47, 55, 75-84, 113, 114 Monsun 44, 46 Moschee(n) 47, 55 MuftÐ 20, 81-84 MuÎammad (Prophet) 58-65, 74 muÎarram (Monat) 47, 73, 11113 Muslim Academy 145-147, 150 mwaka kogwa 79-81 Nairobi 18, 19 Nane Nane 52 Nauruziyya 79,80 Netball 122 Ng’ambo 23, 26, 96 Okello, John 32, 37, 38 Pemba 23, 27, 30, 31 Pfadfinder 124-127 Pilgerreise (ÎaÊÊ) 53, 60-62, 71, 73, 74 Pishori, Abdulhusen b. IbrÁhÐm 93, 94 Pünktlichkeit 87

UND

S ACHREGISTER | 213

QÁdiriyya 60, 64-67, 70, 137 QurÞÁn 134-138, 146, 147 QurÞÁnschule 133-153 Radio (Sauti ya Unguja) 129 RamaÃÁn (Fastenmonat) 46, 53, 71-84, 109, 110, 114, 115, 138 Revolution 21, 29, 32-44, 52, 115, 144, 163, 182, 183 ruÞya 58, 75, 77 Saba Saba 52 SaÝÐd b. SulÔÁn (Sultan) 24, 88 Salme bint SaÝÐd 71, 72, 118, 134 Salut (Kanonen) 113-115 Saudi-Arabien 53, 78, 84, 137 ŠauwÁl (Monat) 47, 73, 76, 111115 Schule (Regierungsschule) 133155 Signalordnung 103, 113, 114 siku (usiku) 48, 49 siku ya shaka 76 Sirene(nsignal) 52, 114, 115 Sklaven 30, 31 social skills 133, 134, 139, 143, 151 soziale Zeit 51, 155, 175-177, 179, 184 Sport 118-124 SumayÔ, AÎmad b. 48 sun time 107, 182 Swahili-Zeit 48, 49, 96, 107, 179, 181

214 | E INE Z EITLANDSCHAFT

IN DER

Tag/Nachtscheide 96 Ôalab al-Ýilm 60, 61, 69 taÝlÐm 135 tarÁwÐÎ (Gebet) 78, 81 tarbiya 135 Telefon 48, 52, 88, 90 Telegraph 48, 52, 88, 89, 104 Traum, Träume 58, 59 Translokal(ität) 43, 57, 58, 60, 64-68 Tranzeitlich(keit) 57-68 Uhr(zeit)en 47, 48, 50, 87-115 Ultimatum 91, 92 Umma (Partei) 31, 33, 37, 38 Unguja 23, 27, 30, 31, 79, 89 Utopie(n) 14, 62, 63 Uways, MuÎammad al-BÁrawÐ 67-69 Vision(en) 58, 59 vuli (Regenzeit) 44, 45, 55 wakati 90, 179 waqt 74 watu wa bidaa (s. anÒÁr alsunna) zama za siasa 21, 32, 33 zamÁn 74 Zanzibar National Party (ZNP) 31, 32, 128 Zanzibar and Pemba People’s Party (ZPPP) 31, 32, 128 Zeitung(en) 120, 121, 127-129 Zeitzonen (majira ya zoni) 104111

GLOBALISIERUNG

Zensur 129, 130 Zyklon 21, 28-30, 39, 88-90

Global Studies Jörg Gertel, Sandra Calkins (Hg.) Nomaden in unserer Welt Die Vorreiter der Globalisierung: Von Mobilität und Handel, Herrschaft und Widerstand 2011, 304 Seiten, Hardcover, durchgehend vierfarbig bebildert, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1697-2

Georg Glasze Politische Räume Die diskursive Konstitution eines »geokulturellen Raums« – die Frankophonie April 2012, ca. 256 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1232-5

Barbara Grimpe Ökonomie sichtbar machen Die Welt nationaler Schulden in Bildschirmgröße. Eine Ethnographie 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1608-8

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Global Studies Elisabeth Heidenreich Sakrale Geographie Essay über den modernen Dschihad und seine Räume 2010, 328 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1604-0

Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, Andre Gingrich (Hg.) Lexikon der Globalisierung 2011, 536 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1822-8

Philip Thelen Vergleich in der Weltgesellschaft Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik 2011, 378 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1913-3

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