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German Pages 334 Year 2015
Sacha Szabo (Hg.) Kultur des Vergnügens
2009-09-21 12-23-40 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ea221429374734|(S.
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Sacha Szabo (Hg.) Kultur des Vergnügens. Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nicht-alltäglicher Orte
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Postkarte, 1905, Archiv: Sacha Szabo Lektorat: Christiane Arsulic Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1070-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Geleitwort FLORIAN DERING 9 Einleitung - Kultur des Vergnügens SACHA SZABO 11 Die Menge als Attraktion ihrer selbst. Notizen zu ambulatorischen Vergnügungen KASPAR MAASE 13
AUF DEM FESTPLATZ – DIE WELT DES VERGNÜGENS Nüchterner Rausch und rauschhafte Märchen – Der Disney-Kontinent ALDO LEGNARO 31 Die Salzburger St. Ruperts Dult GERHARD EBERSTALLER 45 Die Luxemburger Schueberfouer STEVE KAYSER 55 Kino der Attraktionen INTERVIEW MIT ULRIKE OTTINGER 69
Eintauchen in die Masse. Ein kurzer Abriss der vier größten Volksfeste in Deutschland ANDREA HARTL 81 HH-Park – „Las Vegas des Nordens“ DARIJANA HAHN 93
HINTER DEN KULISSEN – DAS UMFELD DES VERGNÜGENS Glücksmaschinen oder Mechanismen des gestörten Gleichgewichts? Technik auf dem Jahrmarkt STEFAN POSER 101 Jahrmarktkino – Eine europäische Institution JOSEPH GARNCARZ 123 „So eine Fahrt, das ist etwas Herrliches“ INTERVIEW MIT WERNER STENGEL 145 Karussell-Künstler und Künstler-Karussells. Eine kleine Karussellgeschichte. Eine Frage des Blickwinkels ANDREA STADLER 159 Die frühen Jahrmärkte und ihre Orgeln HERBERT JÜTTEMANN 187 Themenfahrt-Philosophie RALPH LATOZKI 199 Schausteller MARGIT RAMUS 209
IN DEN KÖPFEN – DIE INNENWELT DES VERGNÜGENS Der Themenpark. Vergnügliche Illusionswelt jenseits des Alltags CLAUDIA SCHIRRMEISTER 227
Fresskultur und Trinkrituale BRIGITTE VEIZ 237 Drehschwindel und Ekstase auf dem Jahrmarkt Kay Hoffman 257 „Achterbahnen sind das Inbild der Symbiose von Vergnügen und Ästhetik der Baukunst“ INTERVIEW MIT FRANK LANFER 267 Chillrides SACHA SZABO 275 Vergnügungsparks im Film DENNIS JANZEN 289 Der Jahrmarkt in der Literatur oder Piazza Universale. Ein lesenswertes und amüsantes Sammelsurium, eben eine kleine Schaubude BRIGITTE AUST 313
Geleit wort FLORIAN DERING
Vor rund 40 Jahren war es eine kleine Gruppe von Wissenschaftsexoten, die für ihre Promotionen Themen aus der Geschichte des kommerziellen Vergnügens wählten. Michael Faber aus Bonn beschrieb in seinem Band „Schaustellerei“ (1981) das soziokulturelle Umfeld dieses reisenden Berufsstandes. Stephan Oettermann aus Marburg veröffentlichte 1980 „Das Panorama, Die Geschichte eines Massenmediums“ und begann damals, akribisch die Archive nach Ankündigungszetteln aus dem 18. und 19. Jahrhundert zu durchwühlen. Bei Recherchen auf dem Oktoberfest entstand der Kontakt zu Geoff Weedon aus London, dessen reichbebildeter Band „Fairground Art“ (1981) die europäische Karussellindustrie in Zusammenschau präsentierte. Dank meiner „Volksbelustigungen“, erschienen 1986, wurde im Münchner Stadtmuseum 1983 die Abteilung Schaustellerei initiiert, die fortan allen Interessierten eine Heimstätte für weitere Vorhaben auf dem Gebiet der stationären und mobilen Vergnügungen bot. Die vielfältigen Publikationen der letzten Jahrhunderte haben nicht nur die Fachwelt bereichert, sie haben vor allem das Bewusstsein gegenüber dieser Kultur verändert, die vormals eher arrogant und geringschätzig betrachtet wurde. Bei den Schaustellern und anderen Gewerbetreibenden auf dem Sektor der Vergnügungsindustrie entstand vor allem ein neues Selbstwertgefühl in Bezug auf die eigene Geschichte. Inzwischen ist es nicht mehr so einfach, aus erster Hand Objekte für die Museumssammlung zu bekommen, da diese Dinge nun mit Stolz auf die Familien- oder Firmentradition im eigenen Besitz bewahrt werden. Die seit 1995 erscheinende Fachzeitschrift „Kirmes & Park Revue“ wendet sich nicht nur als Fachorgan an die Branche, sondern wird von einem breiten Abonnentenkreis gelesen. Auf den Festplätzen fotografieren vorrangig junge Leute mit Begeisterung die ver-
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Kultur des Vergnügens
schiedenen Fahrgeschäftstypen und stellen hierzu akribisch Listen zusammen. Sacha Szabo ist es zu verdanken, dass er die jetzigen Kenner der Szene gewinnen konnte, unter verschiedenen Aspekten die „Kultur des Vergnügens“ neu zu beleuchten und damit ein aktuelles wissenschaftliches Profil zu erstellen. Dem vorliegenden Band wünsche ich eine große Resonanz, damit das Interesse an der Vergnügungskultur weiterhin lebendig bleibt. Florian Dering Münchner Stadtmuseum
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E inleitung – Kult ur des Vergnügens SACHA SZABO
Es ist bunt, es ist voll, es ist laut – das Vergnügen hat einen Ort gefunden, an dem es sich manifestiert: den Jahrmarkt und dessen modernen Verwandten, den Themenpark. Ursprünglich ein aus dem Althochdeutschen stammender Begriff für ‚zufrieden stellen‘ fokussierte der Begriff „Vergnügen“ ab dem 18. Jahrhundert stärker das Glücksmoment und bedeutete ‚sich ergötzen‘. Bleiben wir bei der ursprünglichen Bedeutung und fragen: Was ist es, das den Menschen zufrieden stellt? Friede bezeichnet einen Zustand von Ruhe und Versöhntsein. Mit was aber ist der Mensch in diesem Zustand versöhnt? Wenn wir über den Menschen sprechen, so zeichnet er sich gegenüber dem Tier durch eine „exzentrische Positionalität“ aus (Plessner). Denn der Mensch hat ein Bewusstsein seiner selbst. Mit diesem Zustand entsteht für den Menschen auch die Wahrnehmung von Zeitlichkeit, sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft. Er ist darin Spezialist, Pläne zu entwerfen. Aber zugleich inkludiert diese Antizipation von Zukunft eine Projektion der eigenen Identität. Die Grundstruktur, die diese Temporalität gestaltet, ist Sinn. Verbunden mit diesem Akt ist zugleich die Empfindung der Unsicherheit über den Verlauf der Zukunft, die Erfahrung der Endlichkeit des Lebens sowie die Reflexion auf das Erlebte. Als Sekundäreffekte treten moralische Qualitäten von Angst und Schuld an die menschliche Psyche heran. Der Zustand der „Geworfenheit“ in die „Endlichkeit“ stellt für das menschliche Erkenntnisvermögen eine paradoxe Kränkung dar, die rein über eine Verstandeslogik nicht aufgelöst werden kann. Dieser Zustand der Irritation der Wahrnehmung einer möglicherweise sinnlosen Existenz kann vom Menschen nicht durch Sinn vollends erfasst werden. Dieser Zustand der Irritation ist damit das „Reale“ (Lacan) der menschlichen Natur. Gleichwohl lässt sich dieser Zustand nur schwer aushalten. An diesem Punkt entsteht menschliche Kultur.
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Kultur des Vergnügens
Sinnordnungssysteme entlasten den Menschen vom Wissen über seine rein diesseitige Existenz. Diese Sublimationen der realen Existenz verschleiern dem Menschen das Reale. An die Stelle des Realen stellt sich die Realität als symbolische Ordnung. An diesem Punkt stehen die kulturphilosophischen Diskurse in Opposition. Einerseits wird das Vergnügen als Eskapismus angesehen, der dem Menschen einen scheinbaren Ausweg aus bedrückenden Verhältnissen offeriert, ihn aber tatsächlich umso tiefer in die entfremdenden Strukturen verstrickt. Andererseits zeugt allein das Bedürfnis des Menschen, seinem Alltag entfliehen zu wollen, von einem Bedürfnis nach Alterität. Zu diesen beiden Positionen lässt sich noch eine dritte hinzufügen: Wenn wir die Kultur als Sublimation des Realen verstehen, so erfüllt Kultur eine paradoxe Funktion. Indem sie den Menschen vom Realen entlastet, nimmt sie ihm auch die Kompetenz, dieses Reale unmittelbar auszuhalten. Bemerkenswerterweise gibt es innerhalb der Kultur „Wurmlöcher zum Realen“ (Uerz), die dem Menschen eine Möglichkeit bieten, sich temporär dem Realen zu exponieren, und damit auf das menschliche Bedürfnis nach Unmittelbarkeit reagieren. Und die Erfahrung dieser Unmittelbarkeit wird als geglückter Moment empfunden. Genau diese Möglichkeiten sind im Begriff der Kultur vereint. „Cultura“ meint im Lateinischen sowohl ‚Bearbeitung‘ als auch ‚Pflege‘. Damit entsteht der Begriff der Kultur als Prozess der Zivilisation, der Sublimation materieller und immaterieller Güter. Gleichermaßen umfasst der Begriff Kultur auch das Aufrechterhalten bestimmter Biotope, bestimmter Lebens- oder grundlegender Existenzräume. Kultur ist damit nicht nur die Tür, die dem Menschen den Zugang zum Realen verwehrt, sondern gleichermaßen das Tor, mittels dessen der Mensch das Reale erfahren kann. So facettenreich die Kultur der Vergnügungsorte ist, so vielfältig sind die Zugangsweisen. Davon zeugen die unterschiedlichen Ansätze der Autoren dieses Bandes und geben so einen Überblick, wie intensiv dieses Phänomen beforscht wird. Und so sei an dieser Stelle ein großer Dank von mir an die Autorinnen und Autoren der Beiträge für diesen Sammelband ausgeprochen. Es bleibt noch eines zu wünschen: Viel Vergnügen beim Lesen dieses Buches! Sacha Szabo
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Die Menge als Attraktion ihrer selbst . Not iz en zu am bulat orisch en Vergnügungen KASPAR MAASE
Familienähnlichkeiten Der treffende Begriff für den Gegenstand dieses Bandes wird, wenn ich es recht sehe, noch gesucht. Das erstaunt angesichts der langen Geschichte von Kirmes und Zirkus, Jahrmarkt und Rummelplatz. Doch ist es wiederum verständlich, dass bisherige Vorschläge wie Fest, Volksfest, Volksbelustigung und ähnliches sich nicht durchsetzen konnten; zu viel an Wertung und Sinn-Vorschrift war hier im Spiel, zu oft wurden willkürlich Phänomene ausgeschlossen, die nach unserem Empfinden zusammengehören. Der stationäre Volksgarten des späten 19. Jahrhunderts hat zwar in Angebot und Nutzung so viel mit der regelmäßig wiederkehrenden Dult oder Kirmes gemein, dass die Frage nach dem Obergriff im Raum steht – doch ein Freizeitpark ist ebenso wenig ein Volksfest wie die mit Kirchenjubiläum, Messe oder Schützentreffen verbundenen Vergnügungen schlicht und herablassend als Volksbelustigung zu fassen sind. Jedenfalls ist gerade bei einem proteischen Phänomen wie den populären Vergnügungsorten das Bemühen, Gemeinsames und Verbindendes begrifflich zu bestimmen, höchst sinnvoll und erkenntnisverheißend – wenn das Unternehmen mit Interesse an den gleichzeitigen, ebenso spezifischen Unterschieden betrieben wird. Übergreifende Strukturelemente kann man leicht benennen. So sind die in diesem Band beleuchteten Attraktionen mit den Fortschritten von Wissenschaft und Technik aufs Engste verbunden, von den elektrischen Experimenten auf den Jahrmärkten des 18. Jahrhunderts bis zu den computerentwickelten und -gesteuerten Extrem-Fahrgeschäften der Gegenwart; nicht zuletzt daraus beziehen Vergnügungsorte die Dynamik der Veränderung und das Potenzial zur Überraschung, das wesentlich zu ihrer Anziehungskraft bei13
Kultur des Vergnügens
trägt. Zugleich leben diese Plätze vom dichten Angebot scheinbar zeitloser Reize: Risikolust und Lachen; Kitzel des Glücksspiels und Gelegenheit, vor anderen Stärke und Geschicklichkeit zu beweisen; kräftige Farbigkeit und übertriebene Anpreisungen; Musik, die das Gefühl rührt und die Glieder mitreißt; die Faszination des Abnormen und die Leckereien, die es wie Zuckerwatte nur auf der Kirmes gibt. Beides, Beeindrucktwerden durch das Spiel mit den Kräften der technischen Moderne wie auch Regression zu den Erlebnissen der Kindheit, gehört zur unvergleichlichen Mischung der Attraktionen und zum Reiz der Orte, deren Sammelbezeichnung wir suchen – und doch unterscheiden sie sich außerordentlich in der Kombination der Elemente und haben ganz eigene Profile und Subtraditionen entwickelt. „Vergnügen“ jedenfalls taugt nicht als gemeinsamer Nenner. Zu unspezifisch, zu individuell und historisch wechselhaft ist, was so bezeichnet wird. In den Feldern von Freizeit und Unterhaltung gibt es jede Menge angenehmer, anregender Tätigkeiten, die uns wie das Lösen von Kreuzworträtseln oder ein gemütlicher Abend mit Freunden höchstes Vergnügen bereiten können und doch in ihrer Erlebnisqualität weitab liegen von dem, was Menschen in den Freizeitpark zieht. Es gibt also in diesem Fall gute Argumente gegen eine konventionelle Definitionsstrategie, die durch weit getriebene Abstraktion eine allgemeine Bestimmung des Vergnügens anstrebt, um dann die Qualitäten des hier fokussierten Typs von Orten als Besonderungen innerhalb dieser Kategorie zu fassen. Stattdessen schlage ich vor, mit Ludwig Wittgensteins Konzept der „Familienähnlichkeiten“ zu arbeiten und so die Potenzen der unscharfen, vieldeutigen Semantik im Wortfeld Vergnügen zu nutzen. Wittgenstein (2001: 786 [65]; Hervorh. im Orig.) entwickelt am Beispiel von Sprachen und Spielen folgende Definitionsstrategie: „Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind mit einander in vielen verschiedenen Weisen verwandt.“ An Stelle begrifflicher Reduktion empfiehlt er (ebd.: 787 [66]) Beobachtung: „Denn, wenn du sie [die empirische Vielfalt der Spiele; K.M.] anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!“ Wenn man in den Zitaten an die Stelle von „Sprache“ „Vergnügungen“ und „Vergnügungsorte“ setzt, ergibt sich eine höchst beden14
Die Menge als Attraktion ihrer selbst
kenswerte Vorgehensweise des Durchgangs durch die Vielfalt der Phänomene, bei der „Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden“. „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“ (ebd.). Wittgenstein (ebd.: 787 [67]) wählt hierfür die Metapher der „Familienähnlichkeiten“; „denn so übergreifen und überkreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Mitgliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.“ In diesem Sinne bilden die populären Vergnügungsorte eine Familie, zu der – so die Hypothese – „begrenzte Freuden“ und „geregeltes Feiern“ (nicht nur an den Hildesheimer Markttagen im 17. Jahrhundert; Fenske 2006: 94-137) ebenso gehören wie das „spöttische Gelächter“ über die bestehende Ordnung auf den Pariser Märkten des 18. Jahrhunderts (Isherwood 1986: 30), die durch Größe und Technizität maßstabsetzenden Unterhaltungsabteilungen der Weltausstellungen im 19. Jahrhundert (Wörner 2000), die transethnische Massenkultur von Coney Island um 1900 (Kasson 1981) und die Freizeitparks der Gegenwart (Goronzy 2006). Es handelt sich, das sollen die Verweise andeuten, um eine ausgesprochen mobile Familie, deren Beziehungen und Verbindungen sich schon lange über ganz Europa1 und Nordamerika erstrecken. Ein Sammelband, der Orte, Attraktionen und Publika betrachtet, scheint die an-gemessene Form zu sein für das produktive Herausarbeiten der verschiedenen Dimensionen, in denen Typen und Modelle populärer Vergnügungsorte ineinander übergehen und sich voneinander abgrenzen; er kann veranschaulichen, wie sie durch Räume und Zeiten Ähnlichkeiten und Eigenheiten ausbilden, wie sie also, mit Wittgenstein, „in vielen verschiedenen Weisen verwandt“ sind.
Die Menge als Attrakt ion ihrer selbst Welche Züge lassen sich also in dieser Familie beobachten, deren Häufigkeit und Ausprägung es sinnvoll macht, sie von anderen Familien wie den Orten für Künste und Sport (Museen, Konzertsäle, 1
Die „russische Schaukel“ als Vorläufer der Riesenräder und die „russischen Eisberge“, aus denen die Rutschbahnen und schließlich die Achterbahnen sich entwickelt haben (vgl. Dering 1986: 47-54), verweisen darauf, Osteuropa ernstlich einzubeziehen.
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Kultur des Vergnügens
Theater, Stadien, Tanzpaläste, Stadthallen) zu unterscheiden? Dazu ein paar Überlegungen, die Anregungen von Jamin und Kosok (1992) weiterführen. Grundlegend scheint die ausgeprägte Vielfalt und Offenheit der Vergnügungsmöglichkeiten, die dem Besucher – im Vergleich mit monofunktionalen Angeboten – einen deutlich höheren Freiheitsgrad gibt; seine Autonomie realisiert er über körperliche Bewegung im Raum. Multisensorischer, synästhetischer Genuss unter Beteiligung aller Sinne und des körperlichen Empfindens scheint ein weiteres Familienmerkmal zu sein. Zwar gehören diese Züge zu jedem ästhetischen Erleben (Maase 2008; Shusterman 2006); bequeme Polster und edles Ambiente, Sekt und Häppchen in der Pause sowie die physische Erscheinung der KünstlerInnen tragen auch in klassischen Künsten erheblich zum Vergnügen bei. Doch legt der Besucher sich hier wie in der Sportveranstaltung auf ein vorgegebenes Genre und Programm fest. Abwechslung in den Pausen und gastronomische wie unterhaltende Begleitangebote lockern zwar die Monothematik auf, sind aber doch von anderer Qualität als der Gang über die Kirmes oder der Tag im Freizeitpark. Gehend, schlendernd, sich mit der und durch die Menge schiebend erschließt sich das Publikum den Ort. Es gibt Wegepläne und Wegweiser und nicht wenige Besucher, die gezielt eine Attraktion ansteuern. Doch liegt der Genuss auch darin, sich treiben zu lassen: der Nase zu folgen, die den Geruch frisch gebrannter Mandeln oder die Abgase der Kartbahn eingefangen hat; dem Ohr zu vertrauen, das das Bewegungsgeräusch oder die Musikfarbe der Fahrgeschäfte bald unterscheidet; das Auge von Farb- und Lichteffekten führen zu lassen. Die Hauptrolle des bewegten Körpers und die spontane Kombinierbarkeit mit intensiven Erfahrungen der Nahsinne (Geruch, Geschmack, Tasten) kennzeichnen das Erleben in der Familie der populären Vergnügungsorte. Vielleicht sollte man den Begriff (Familiennamen) „Orte ambulatorischer Vergnügung“ erwägen. Ambulieren – spazieren (gehen) –, das verweist auf ein doppeltes Kennzeichen dieser Orte: Hier präsentieren sich wirklich mobile, „wandernde“ Unterhaltungskünstler und Schausteller; und hier organisiert das Publikum spazierend, flanierend, sich drängend – jedenfalls: sich auf eigenen Beinen bewegend seine Auswahl und seinen Genuss. Zumindest letzteres trifft ja bis
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Die Menge als Attraktion ihrer selbst
heute auch auf die stationären Freizeit- und Themenparks der Gegenwart zu.2 Für eine begrenzte Zeit werden sich Publika geordnet hinsetzen; doch die Vorstellungen sind vergleichsweise kurz, und nicht selten übernehmen Menschen aus dem Publikum selbst eine Rolle in der Show – ob sie nun (stellvertretend?) den starken August herausfordern oder auf Laufbändern, im Irrgarten oder auf dem Teufelsrad „ungewohnte Situationen ... riskieren“ (Blessing 2003: 499) und so selbst Teil der Inszenierung werden, an deren Komik die anderen ihre Freude haben. Geschicklichkeitsgeschäfte, Wurf- und Schießbuden sowie Kraftmesser (vgl. Dering 1986) ermöglichen nicht nur, sich vor anderen zu beweisen; wer dort als zahlender Kunde agiert, ist zugleich Attraktion für das nicht zahlende Publikum. Dieses Ausmaß körperlich akzentuierter Beteiligung ist gewiss (wenngleich vermutlich mit historisch sinkender Tendenz) ein Familienmerkmal. Dass das Publikum immer auch selbst auftritt, kennzeichnet ebenso die etablierten Kultureinrichtungen, in denen das Motto „Sehen und gesehen werden“ gilt. Doch hier sind die Kriterien andere, folgen deutlich bürgerlichen Habitusformen. Man präsentiert sich mit Garderobe und Schmuck, Accessoires, Haltung und Dekolletee, und stets auch mit der Air der Zugehörigkeit zur mehr oder minder exklusiven Gruppe des Ballettpublikums oder der Opernafficionados. An Orten ambulatorischen Vergnügens genießt man es eher, Teil der Menge zu sein – aus der man sich gegebenenfalls durch handelnd gezeigte Qualitäten wie Bereitschaft zu Extremerfahrungen, Geschicklichkeit, Stärke oder Witz heraushebt.
Herkunftslinien Nicht wenige so genannte Volksfeste stellen ihr Alter heraus; sie präsentieren sich als Traditionsveranstaltung oder Brauchtum mit langer Vergangenheit. Die Menge der Besucher ist damit – ganz anders als in Museen oder Architekturdenkmalen – kaum zu beeindrucken; sie will die Stunden, die sie dort verbringt, ganz gegenwärtig, im Jetzt genießen. Nostalgie (ein historisches Karussell mit Musikautomat) ist für die wenigsten eine ernsthafte Alternative zur intensiv verspürten Erregung im neuesten Fahrgeschäft.
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Szabo (2006: 31 f.) schlägt vor, auch Vergnügungsviertel einzubeziehen.
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Die Frage nach Herkunftslinien scheint mir in der Vergnügungsforschung vor allem zur Erhellung der Familienbeziehungen wichtig. Bedeutsam ist nicht in erster Linie: Wann taucht ein Element erstmals in den Quellen auf? Wir wissen inzwischen, wie heikel die Suche nach Anfängen und Ursprüngen ist, die so viele „Kulturgeschichten“ des Regenschirms oder der Liebeserklärung betreiben, wie leicht dabei kulturelle Transfers und transnationale Vernetzungen3 abgeschnitten, Brüche und Neuansätze nivelliert werden. Wissenswert ist: Wie wurde aus dem vermuteten Anfangselement das heutige Phänomen, das wir mit ihm in Verbindung bringen? Welche Akteure, welche sozialen Mechanismen waren an der Entwicklung durch Wandel, am Fortführen durch Aufheben beteiligt? Konkreter. Man kann mit der Vorgeschichte der populären Vergnügungsorte in die griechische und römische Antike (André 2002) zurückgehen. Feste, Spiele und Theater, so weit sie überliefert sind, gehören meist in die monofunktionalen Zusammenhänge von Kult und Kunst; aber auch von Gauklern und Artisten, Sängern und Erzählern auf den Märkten und bei Versammlungen, also an populäröffentlichen Orten, gibt es Zeugnisse. Doch von hier eine durchgehende Linie professioneller Tradition zu ziehen zu den fahrenden Spielleuten (Hartung 2003; Salmen 1983), die die Quellen des hohen Mittelalters nicht nur auf Burgen und an Höfen, sondern auch auf Märkten und am Rande von Festen und Herrschaftsinszenierungen wie Fürstenhochzeiten und Hinrichtungen auftreten lassen, wäre absolut spekulativ (Hartung 2003: 85-92). Zwar gelangten klassische Wissensbestände ins mittelalterliche Europa; die Stoffe, Plots und Schwänke sowie das antike Wissen über Rhetorik, Performanz, Effekte fanden spätestens mit der Renaissance einen recht breiten Weg zu den europäischen Gelehrten und Predigern und weiter zu den männlichen und weiblichen Spielleuten. Doch Selbstverständnis und Strategien dieser „Tausendkünstler“ (Salmen 1983: 78) – Musik, Gesang, Artistik, Dressur, Vortrag, Tanz, Puppenspiel und Zauberkunststück – im Spannungsfeld zwischen einer akzeptierten Rolle an den Höfen und sozial eher marginalisiertem öffentlichen Auftreten richteten sich nach den jeweiligen Bedingungen ihrer Zeit, und das heißt in vieler Hinsicht: der populären Vergnügungsorte. Den Schlüssel zum Verständnis liefert weniger die Herkunft als der zeitgenössische Kontext.
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Bereits für die mittelalterlichen Spielleute belegt das eindrucksvoll Salmen (1983: Kap. II).
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Im großen historischen Längsschnitt (Blessing 2003; Maase 2007) war es die Entwicklung von Handel und Verkehr, verbunden mit dem Wachstum von Städten, die im Mittelalter und der Frühen Neuzeit Vergnügungsorte entstehen ließ. Wo Mengen zusammenkamen, täglich oder in den Rhythmen der Märkte und Messen, der Kirchweihfeste und Brauchtermine, der großen weltlichen und religiösen Inszenierungen, von Fürstentreffen und Strafgericht bis zu Bischofsweihe und geistlichen Spielen, da konnten Fahrende und Unterhalter aller Art ihre Bänke und Buden aufstellen, ihre bunten Künste zeigen und auf Verdienst hoffen. Peter Burke (1985, 48) gelangt für die Städte der Frühen Neuzeit gar zu der Aussage, dort sei in einem gewissem Sinn „jeder Tag ein Fest [gewesen], weil nämlich immer professionelle Unterhalter zur Verfügung standen.“ Auch Gastwirtschaften waren Orte, wo Musik und Kunststücke vorgeführt und zum Tanz (Jung 2001; Salmen 1997) aufgespielt wurde. Das Wichtige: Spielleute und fahrende Schausteller sowie die Wirte, die zum Anziehen von Kundschaft Künstler einsetzten, bildeten die Kerngruppe, die das Wissen und die Strategien einer zu Verdienstzwecken um die Aufmerksamkeit eines öffentlich versammelten Publikums werbenden Profession entwickelte, weitergab und ständig perfektionierte. Sie trugen jene Entwicklung, die Ulrich Rosseaux (2005) treffend als die „von der korporativen Freizeitkultur zur kommerziellen Unterhaltung“ charakterisiert hat. Mit dem Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft in der „Sattelzeit“ zwischen 1750 und 1850 begann der Rückgang der von Bürgern und Handwerkern sowie in den Dörfern selbst organisierten Aktivitäten auf Festen und Feiern. Unterhaltungs- und Vergnügungsangebote emanzipierten sich zunehmend von religiösen und weltlichen Festanlässen und formierten sich in Gestalt von Vergnügungsparks (Weisser 1998: 21-75) und Unterhaltungslokalen auf rein kommerzieller Basis. Dazu trug nicht wenig die spätaufklärerisch-spätabsolutistische Politik bei, wie Gerhard Tanzer (1992) am Wiener Beispiel gezeigt hat: Die Sphären von Arbeit, Religion und Freizeit wurden systematisch getrennt; behördliche Reglementierung und Disziplinierung richtete sich gegen alle Elemente von Feiern, Vergnügung und Zerstreuung in der Arbeitswelt und den Kirchen. Es kam zu einer Konzentration „reiner“ Unterhaltung, die zunehmend mit dem kirchlichen Anspruch auf Sonntagsheiligung konkurrierte und einen eigenen Ort ganz wesentlich in den Nachtstunden fand – eine Entwicklung, die Rosseaux (2007) am Dresdner Beispiel bestätigt.
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Davon profitierten monofunktionale Unterhaltungsunternehmen wie Theater, die neuen Vergnügungsorte mit gemischten Programmen (Polkakneipe, Café chantant, Music Hall, Singspielhalle, Varieté u.a.), aber eben auch die Jahrmärkte, Kirmessen, Volksfeste und Ausflugslokale mit Unterhaltungsangebot. Vorangetrieben durch das mit der Industrialisierung verbundene schnelle Wachstum einer vergnügungssuchenden und zahlungsfähigen Arbeiterbevölkerung (Mühlberg 1986; Kosok 1989; Abrams 1992; Kift 1992) begann gegen Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts jener Aufschwung kommerzieller Vergnügungsangebote, dessen Grundlinien und Dynamik bis in die Gegenwart durchlaufen. So sinnvoll es ist, die Familie der Orte ambulatorischer Vergnügung in diesem Prozess klar zu profilieren und abzugrenzen, so eng waren doch die verschiedenen Typen von Unterhaltungsangeboten vernetzt – in der Praxis der Künstler, Unternehmer und Impresarios und gleichermaßen durch die Vergleiche eines zunehmend wählerischen, kompetenten und anspruchsvollen Publikums. Die Akteure aller Vergnügungsbranchen konkurrierten und lernten voneinander, erprobten neue Mischungen und variierten Formate.
Ü b e r s c h r e i t u n g d e s G e wö h n l i c h e n ? In der Bezeichnung „Volksfest“ steckt eine doppelte Anstrengung, das polymorphe Phänomen der ambulatorischen Vergnügungen ordnend zu fixieren. Mit dem ersten Teil des zusammengesetzten Begriffs weist man dem Bezeichneten einen sozialen Ort zu, das romantisierte Volk, und trennt dessen „wahren Himmel“ damit von den vermeintlich gehobenen, kultivierten Vergnügungen der Gebildeten. Diese Sicht schließt nicht aus, auch den distinguierten Angehörigen der oberen Schichten einen Anteil Naturhaft-Primitives in ihrem Seelenhaushalt zuzuschreiben, der in populären Vergnügungen ausgelebt werden kann. Doch bleibt das Volksfest eine letztlich grenzwertige Variante des legitimen Festes mit großem F, das Kulturphilosophen gerne im hohen Ton als Phänomen rauschhafter Transzendenzerfahrung feiern. Mit dem zweiten Teil des Begriffs wird ebenfalls an ordnender Fixierung gearbeitet. Lars Deile (2004: 6) benennt als Hauptlinie der deutschen Festtheorien die Bestimmung einer „Differenz zum Alltag“, die sich im „therapeutischen Exzess“ verwirkliche. Hier wird ein Anspruch distanzierender Überhöhung des gewöhnlichen Le-
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bens formuliert, der auf Transzendenz zielt – auf ein Anderes des bürgerlichen Erwerbs- und Routinedaseins. Und treffend arbeitet Deile heraus, dass aus dieser Perspektive das kulturkritische Urteil nahe liegt, die „Ästhetisierung der Lebenswelt“ (Bubner 1989) in der Massenkonsumgesellschaft nivelliere die Differenz von Alltag und Fest und nehme dem Fest damit seine kulturelle Funktion. Wo Erlebnis, Üppigkeit, Schönheit, Rausch und Überwältigtwerden zu Jedermann-Ansprüchen im Alltag geworden sind, da fehlen aus dieser Sicht das Bewusstsein und die Orte für festlich distanzierende Überhöhung des Gewöhnlichen. Deile (2004: 7; Hervorh. im Orig.) selbst formuliert eine normative Definition, die das Fest wiederum auf eine über dem Individuum stehende bedeutungsvolle Ordnung ausrichtet: „Im Fest vergegenwärtigt sich eine Gemeinschaft lebensbejahend Bedeutung in besonderen äußeren Formen.“ Auch Deile beharrt auf der „’Differenzqualität’ [...] zum Alltag. Im Fest geht es um die Ekstase, das Hinauswachsen über sich selbst“ (ebd.: 9). Zweifellos wird hier eine historisch bedeutsame und auch gegenwärtig relevante Dimension angesprochen: Die gesteigerte Intensität festlicher Vergnügungen unterscheidet sie vom Alltag. Der kritische Leser der Quellen wie der heutige Beobachter gewinnen jedoch ein deutlich vielschichtigeres Bild. An den Orten ambulatorischen Vergnügens haben wir es höchst selten mit einer „Anti-Struktur“ im Sinne Victor Turners (1989) zu tun, einer ludisch ernsten Gegenordnung zu den Normen, die vorher und nachher gelten. Das bekannteste Beispiel dafür ist die „verkehrte Welt“ des Karneval – die aber doch einen ganz anderen Vergnügungskontext darstellt als Festwiese, Prater oder Schützenfest. An solchen Orten sind wesentliche Regeln und Hierarchien der umgebenden Welt allenfalls gemildert und verschliffen präsent, keineswegs aber dispensiert oder gar ins Gegenteil verkehrt.4 Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen, Mächtigen und einfachen Leuten, Einheimischen und Fremden sind differente Räume und Verhaltensformen zugeordnet, die die gesellschaftlichen Strukturen verlängern und reproduzieren, statt sie zeitweilig außer Kraft zu setzen oder gar über sie hinauszuweisen. Das zeigt sich in der Rangordnung der Festzelte und Logen im 17. Jahrhundert (Fenske 2006) wie auf dem Cannstatter Wasen von heute (Stichwort VIP-Lounge); und wenngleich immer
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Vgl. aber die entgegengesetzte Argumentation bei Szabo (2006: 206-208, 219-221).
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noch gilt, dass man beim Besuch von Vergnügungsorten nicht jeden Cent vor dem Ausgeben umdreht, bleibt es im Funpark doch ein Dauerthema, was Eltern mit Kindern sich leisten können. So gewiss Geld hier gleich macht, so gewiss unterscheidet es auch wieder. Ambulatorische Vergnügungen haben ihren Sitz im Leben, wenn und insofern sie Attraktionen bieten, die zu Hause, mit den Unterhaltungsmedien, im Theater oder in der privaten Geselligkeit nicht zu erleben sind. In diesem Sinn ist die Differenz gegenüber dem Gewohnten und Gewöhnlichen grundlegend. Differenz kann aber ebenso gesteigerte Verlängerung gewöhnlicher Erfahrung bedeuten – Stuntshow statt Actionfilm, Gokartbahn statt Fahrt zur Arbeit – wie Alteritätserleben beim Dreifachlooping oder Grenzüberschreitung in der Kollektivekstase des Festzelts. Und stets sind dies nur Elemente in einem Vergnügungsumfeld, das keine Gegenwelt, sondern eher eine Dependance unserer konkurrenzgetriebenen, leistungsgläubigen, machtstrukturierten Gesellschaft darstellt. Man kann das als Kulturkritiker bedauern und als Verlust buchen; oder man kann als Kulturhistoriker fragen, ob die Gewinne von Aufklärung und massendemokratischer Individualisierung ernsthaft zur Disposition stehen und was genau den „therapeutischen Exzess“ der Frühen Neuzeit von heutigen Extrem-Vergnügungen unterscheidet. Auf jeden Fall scheint ein differenzierender Blick auf die Vielfalt der Beziehungen zwischen Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem in der Vielfalt der Vergnügungen und ihrer Räume die angemessene Forschungsstrategie darzustellen
Beschreibungen oder Hierarchien des Vergnügens? Kulturphilosophische Festtheorien haben nach meinem Eindruck eine anti-individualistische Tendenz. Sie geben überpersönliche Bindungen („Gemeinschaft“) und normative Sinngebungen („therapeutisch“, „Ekstase“, „Bedeutung“) vor und blenden damit die Dimension ichzentrierten („egoistischen“) Sichvergnügens aus – um nicht zu sagen: Sie delegitimieren die Suche des/r Einzelnen nach dem individuellen Wohl-, Glücks- oder Rauschgefühl. Eine vergleichbare Tendenz lässt sich bei sozial- und kulturwissenschaftlichen Bestimmungen des Vergnügens feststellen. Das ist gewiss der Logik von Definitionen geschuldet, die oft monopolistisch klingen, obwohl sie nur auf eine Qualität ihres Gegenstandes
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neben anderen zielen. Doch scheint es nicht überflüssig, auf die Problematik solcher Lesarten hinzuweisen. Das gilt etwa für die britischen Cultural Studies und ihre deutschsprachigen Vertreter, denen in der Tradition von John Fiskes (1989: 49-68) Konzept des pleasure Vergnügen als eine Grundkategorie der populären Aneignung von Kultur gilt (Göttlich/Winter 2000; Winter 2001: 211-218). Dabei werden „dem populärkulturellen Erleben von Vergnügen Züge des Widerstands gegen hegemoniale Diskurse zugesprochen“ (Hepp 1999: 73; Hervorh. im Orig.). Im „evasiven Vergnügen“ stehen aus dieser Sicht körperzentrierte Handlungen und Erfahrungen im Vordergrund, die in der Überschreitung von Maß, Ordnung, Vernunft, Schicklichkeit die herrschenden Normen zivilisierter (= disziplinierter) Körperlichkeit in Frage stellen oder gar herausfordern. Die Kirmes gilt geradezu als typischer Ort evasiven Vergnügens (ebd.: 74 f.). Im „bedeutungsstiftenden Vergnügen“ (ebd.: 75) wird auf der Ebene eigener Sinnproduktion der von dominanter Ideologie bestimmten Vorzugslesart kommerzieller Kulturtexte eine Lektüre entgegengesetzt, die sich auf soziale Erfahrungen und Interessenlagen von Menschen bezieht, die zu „the people“ (Winter 2003) zählen und sich an der eigenen (Fähigkeit zur) Abweichung und Opposition erfreuen. Das scheint weniger auf die Orte ambulatorischen Vergnügens zu passen, an denen das Bewegen von Attraktion zu Attraktion dem intensiven Sichauseinandersetzen mit angebotenen Bedeutungen eher entgegensteht. Die hier kurz vorgestellten Überlegungen in den Cultural Studies beziehen sich auf das von Roland Barthes (1982) am Beispiel des Lesens entwickelte Begriffspaar plaisir/jouissance (eher unglücklich übersetzt mit Lust/Wollust). Barthes’ Essay umkreist die Dimensionen des Vergnügens skizzenhaft-aphoristisch, und zwischen der Lust am Text und der Erfahrung des Rummels besteht doch ein erheblicher Abstand. Doch haben seine Gedanken bis heute eine hohe Anregungsqualität behalten. Sie gründet vor allem darin, dass Barthes die Spannweite zwischen einem „behaglichen“, befriedigend euphorisierenden, mit der Kultur grundlegend einverstandenen Pol des Vergnügens (plaisir) und einem unbehaglichen Pol aufmacht, an dem Werte und Erinnerungen des sich Vergnügenden erschüttert und die Einheit mit der umgebenden Kultur in Frage gestellt wird (jouissance) (ebd.: 22). Dabei betont Barthes, dass plaisir zu Unrecht als naiv oder affirmativ verachtet wird. Plaisir folgt nicht brav einer vom Text vorgegebenen Lesart, sondern ist gerade in seinem konsequenten und aktiven Egoismus „skandalös“ (ebd.: 35): Plaisir 23
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„ist ein Treiben, etwas was zugleich revolutionär und asozial ist und von keiner Kollektivität, keiner Mentalität, keinem Idiolekt mit Beschlag belegt werden kann. Etwas Neutrales?“ (ebd.: 34; Hervorh. im Orig.). Plaisir ist eine Praxis, die kulturelle Kompetenzen verlangt und im Streben nach Lust aktiv und mit „Unverschämtheit“ dominante Lesarten der Texte beiseite schieben kann (ebd.: 48 f.). Bei Barthes erscheint sie in dieser Form gewissermaßen als Standardvariante des Vergnügens. Jouissance ist daneben die Ausnahme, selten zu erreichendes Ergebnis einer „Gier nach dem Neuen, die bis zur Zerstörung des Diskurses gehen kann“ (ebd.: 62). Sie befreit sich von jeder Bedeutungsdimension, indem Körper, Materialität und Sinnlichkeit (ebd.: 98) die Praxis eines Vergnügens im Bruch mit aller vorstellbaren Ordnung leiten. Bemerkenswert ist, dass Barthes im Unterschied zu vielen deutschen Autoren geradezu idiosynkratisch Abstand hält zu der verführerischen Idee, diese extreme „Wollust“ durch Begriffe wie Transzendenz, Rausch oder Ekstase wieder in den Denkraum des Religiösen, Numinosen einzubinden. Kommen wir zurück zur Empirie. Diesseits kulturphilosophischer Interpretationen ist noch eine Menge an dichter Beschreibung von Vergnügungsorten, Attraktionen, Anbietern und konkreten Weisen des Sichvergnügens zu leisten. Dabei kann man auf einige Kataloge der Vergnügungsdimensionen zurückgreifen, die die sozialhistorisch oder sozialphänomenologisch vorgehende Forschung formuliert hat. Werner K. Blessing (2003: 500) versammelt unter der Überschrift „Vergnügen im Kollektiv: Distanz zum Alltag“ unter anderem folgende Aspekte: „Entspannung“, „etwas Natur“, „intensives Körpergefühl“, „Risiko“, „bunte Geselligkeit“, „Zirkusspannung“, „leicht fassliche Kunst und Belehrung“, „heitere Illusionen für alle Sinne“, „Ventil im mühsamen Alltag“, „gemeinsame Lust“, „Selbstbestätigung in ‚traumhaft’ schönen Erlebnissen.“ Sacha-Roger Szabo (2006) stellt mit dem Fokus auf „außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen“ anhand einer detaillierten Analyse der „Sensationen“ (im doppelten Wortsinn!) vier Angebotskategorien heraus: Wettkampf, Glück, Schau und Rausch; dem gesellt er fünf grundlegende Erfahrungsperspektiven hinzu: Verkehrung, Intimität, Rausch, Einheit, Körper. Im vorliegenden Aufsatz wurden ergänzend die Verbindungslinien zu den Strukturen des gewöhnlichen Lebens herausgestellt und die Bedeutung des Sich-Bewegens zwischen den Angeboten beleuchtet, die eine gewisse distanzierte Souveränität des Publikums gegenüber Attraktionen und Erfahrungen nahe legt. 24
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Aus der Sicht der volkskundlichen Kulturwissenschaft ist vor allem in der dichten Erfassung der konkreten Praktiken des Publikums (aber auch der anderen Akteure, vor allem der Künstler und Schausteller) zu prüfen, welche Beschreibungs-, Erklärungs- und Deutungskonzepte für welche Gruppen, welche historischen Perioden und welche Vergnügungssituationen „greifen“, d.h. plausible Angebote liefern zum Verständnis des individuellen Nutzens und der persönlichen Sinnhaftigkeit wie der sozialen Funktionen und Effekte des kollektiven Vergnügungshandelns. Dabei scheint mir die bisherige Forschung, so weit sie über die Erfassung der Sachverhalte hinaus Deutungsambitionen entwickelt, eine gewisse Neigung zu romantischen und überhöhenden Lesarten zu zeigen. Romantisch ist die Tendenz, Gegenimpulse oder gar Gegenwelten zur gewöhnlichen Realität eines als nüchtern-rational und konkurrenzindividualistisch entfremdet verstandenen Alltags zu entdecken; überhöhend wirkt die Neigung, Vergemeinschaftung und außergewöhnliche Erfahrungen mit transzendenter Qualität herauszustellen. Das wird in dem Moment problematisch, wo solche Lesarten über den Status immer wieder zu prüfender Hypothesen hinaus zu einer impliziten Hierarchie der Vergnügungen führen. Noch haben wir eindeutig zu wenige Studien, die „horizontal“, ohne wertende Akzentuierung, der Nutzung von Vergnügungsorten nachgehen, in der ganzen Spannweite zwischen dem souveränen Arrangieren kleiner Genüsse und inkommensurablen Alteritätserfahrungen.
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Auf dem Festplatz – die Welt des Vergnügens
Nü cht erner Rausch und rauschhaft e Märchen – der Disney-Kont inent ALDO LEGNARO
Alle Themenparks des Disney-Kontinents1 sind die Variation einer Idee, die Walt Disney selbst so beschrieb: „I just want it to look like nothing else in the world. And it should be surrounded by a train.“ (The Imagineers 1996: 17). Diese ebenso hochgemute wie naive Charakterisierung lässt bereits ahnen, dass die vielgestaltigen Ausformungen des Disney-Kontinents, wie sie heute vor Augen stehen, kaum auf einen einzigen Begriff zu bringen sind. Eine knappe Beschreibung ihrer Gestalt-Prinzipien ist aber die Voraussetzung, um nachvollziehen zu können, in welcher Hinsicht ein Aufenthalt in einem der Disney-Länder zu nüchternem Rausch führen und einen in die Atmosphäre rauschhafter Märchen versetzen kann. Das ist angesichts der überwältigenden sensorischen Überfülle, die die Disney-Länder bieten, kein einfaches Unterfangen; immerhin lassen sich einige Strukturmerkmale ausmachen, die das Erleben prägen, mehr oder weniger unbewusst allerdings, denn bewusst wird den Besuchenden vor allem ein disney-typisches Gefühl aus Amüsiertheit, Kindheitsnostalgie und Alltagsenthobenheit. Erst ein reflexives
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Als Kontinent lässt er sich inzwischen mit Fug und Recht bezeichnen, denn er besteht neben Disneyland (1955), dem ‚Original‘ und ersten Disney’schen Park, der zum Vorbild für alle anderen wurde, und Disney’s California Adventure (2001), beide in Anaheim, Kalifornien, auch aus Walt Disney World (1971), EPCOT (1982), den Disney-MGM Studios (1989) und Disney’s Animal Kingdom (1998), alle in Orlando, Florida. Dazu kommen Tokyo Disneyland (1983), Disneyland Paris (1992), Tokyo DisneySea (2001), die Disney Studios Paris (2002) und Hong Kong Disneyland (2005). Die folgenden Beschreibungen sind aus eigener Anschauung in Disneyland Paris gewonnen worden, treffen jedoch mit geringfügigen Abweichungen auch auf all jene Themenparks des Disney-Konzerns zu, die als Magic Kingdom unter der Regentschaft von Mickey Mouse firmieren.
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Kultur des Vergnügens
Innehalten – während eines Aufenthaltes kaum möglich – eröffnet einen Blick auf Strukturen. Dabei fällt wohl zuerst ins Auge die
Authentisierung des Simulativen in Disneyland: „A place. A place as real as any mountain range or metropolis. Except that it isn’t. Not quite.“ (Marling 1997: 29). Tatsächlich ein Ort sui generis, eine Welt gar, mit einer Landkarte ausgestattet, die ausschließlich diese Welt repräsentiert, mit – in den USA – eigenem Geld, überall mit eigener Grenzkontrolle, eigenem Verkehrswesen und eigenem Festkalender, eine Monarchie unter dem Szepter von Mickey Mouse. Eine Anderswelt, die sich ebenso als Gegenentwurf zur Moderne vor den Toren verstehen lässt wie auch als eine Verdichtung dieser Moderne, welche sie zu einer illusionistisch verspielten, märchenhaft verfremdeten Kenntlichkeit bringt. Das wird auf je eigene Weise in den fünf Ländern deutlich, die Disneyland bilden. Da ist Main Street, der Eingang aller Disneyländer und als rite de passage in die Gegenwelt dienend, die sich als eine Kleinstadtstraße aus den USA des frühen 20. Jahrhunderts präsentiert, frisch bemalt, aufgeräumt und renoviert, schnuckelig und anheimelnd, angeblich eine Erinnerung an Walt Disneys Kindheit, doch eindeutig eine retrospektive Idealisierung darstellend. Sie nimmt heutige Fußgängerzonen einerseits vorweg (denn man geht hier auf einer autofreien Straße tatsächlich zu Fuß, und die erste Main Street in Disneyland stammt von 1955), andererseits imitiert sie ein Stadtgefühl und stellt es zugleich simulierend her, wie es selbst in Kleinstädten nie existiert hat, aber als traumversponnene Gestalt durch unsere Phantasien spukt und übersichtliche Geborgenheit bar aller Widersprüche ausstrahlt. Dann Frontierland, der amerikanische Westen des frühen 19. Jahrhunderts, in dem die Abdrücke von Pferdehufen das Pflaster prägen und die Speisekarten Tex-Mex-Charakter tragen, der Schaufelraddampfer Mark Twain auf einem See am Big Thunder Mountain vorbei kurvt und die Gebäude einen unverkennbar westmännischen Einschlag haben. Ganz anders Adventureland, eine exotisierte bambusbestandene Fremde mit Piraten, deren Augenklappen hier selbstverständlich erhältlich sind, und gestrandeten Reisenden als Pioniere der Zivilisation, die in einem aus den Überresten ihres Schiffbruchs eingerichteten Baumhaus leben. Dann Fantasyland, wo sich das Karussell des Mad Hatter dreht, Pinocchio und Schneewittchen in Häusern bar aller rech-
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Der Disney-Kontinent
ten Winkel residieren, die die altertümliche Verträumtheit Grimm’scher Märchen atmen, und man seinen Hamburger in Toad Hall2 verzehren kann. Und schließlich Discoveryland, in dem die Rakete des Space Mountain unter johlendem Jubel der Insassen in die Höhe zischt und man das Unterseeboot des Käpt’n Nemo besichtigen kann. Landschaft und Architektur verschmelzen hier, in jedem Land anders, zu einem Ensemble ausgeprägter Eigenartigkeit, und die Besuchenden wandeln durch Filmkulissen. Walt Disney kam bekanntlich vom Film, und so sind alle Bauten ebenso wie die architektonisch konstruierten Landschaften errichtet nach den Prinzipien des long shot, also als Sichtachsen mit in der Ferne lockenden Attraktoren, bedenken den close up, das nahe Davorstehen und gehorchen der forcierten Perspektive, die durch absichtsvolle Verkleinerung des Maßstabs in den oberen Etagen die Tiefenperspektive verstärkt. Dies alles auf Dauer gebaut und mit einer beeindruckenden Liebe zum Detail ausgestattet, die vom Dekor der Papierkörbe und dem Design der Laternen bis zur Farbgebung der Häuser, vom Stil der Architektur bis zur Gestaltung der landschaftlichen Einbettung nichts unberücksichtigt lässt. Hergestellt werden hier Lebensgefühle unterschiedlicher Art, und jede Einzelheit ist in ihrer Wirkung auf die Geschichte, die sich dabei im Kopf der Besuchenden herstellen soll, akribisch geplant. Allen diesen Lebensgefühlen gemeinsam ist der Charakter einer Simulation antiquierend-historischer Aura, die spontan erkannt – und sogar genossen – werden kann. So befindet man sich letztlich hier in einem Disney-Film, doch nicht im Kino, sondern in begehbarer, dem Klima ausgesetzter kunstvoller und künstlicher Landschaft, die schlechthin alles simuliert: Alter und Stimmung, Aura und Welterlebnis. Die Bauten und Felslandschaften sind so real, wie Container mit vorgeklebten Fassaden, mit Zement ausgegossene und angemalte Stahlstrukturen es nur sein können, doch erzeugt wird in synkretistischen Montagen von Stimmungen, Märchenpartikeln und traumverlorenen Kollektiverinnerungen eine illusionistische Gestalt, die in ihrer Perfektheit als Authentisierung des Simulativen verstanden werden kann. Wenn im Gefolge von Baudrillard (1978, 1995) ‚Hyperrealität‘ und ‚Simulakrum‘ zu den meistgenannten Termini der Beschreibung dieser Art von Wirklichkeit geworden sind, so geht dabei doch die 2
Für alle, die die Lektüre ihrer Kindheit vergessen haben: Der Mad Hatter ist eine Figur aus Alice in Wonderland (Lewis Carroll, 1865), Mr. Toad aus The Wind in the Willows (Kenneth Grahame, 1908).
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höchst spezifische Authentizität dieser Gestalt ein wenig verloren. Die Simulation hier findet ja nicht medial gebrochen und vermittelt, sondern dreidimensional erfahr- und erlebbar statt, formt ein umfassendes sinnlich-kognitiv-mentales Welterlebnis als Gesamtkunstwerk und stellt tatsächlich eher eine Wirklichkeits-Landschaft3 dar. Eine konstruierte Landschaft allerdings – nicht nur hat sie als solche nie existiert, sondern sie lebt auch von ihren zahlreichen Aussparungen und stellt vor allem
Mythen der Reinheit aus: „Laundering is the prime activity of this fin de siècle – the laundering of a dirty history, of dirty money, of corrupt consciousness, of the polluted planet – the cleansing of memory being indissolubly linked to the – hygienic – cleansing of the environment or to the – racial and ethnic – cleansing of populations“, merkt Baudrillard an (1998: 1). Vor Jahren schon hat Mary Douglas (1988) in einem klassischen Text darauf hingewiesen, dass Reinigungen Handlungen der Grenzdefinition und Grenzbefestigung sind: Erst in den Ritualen der Reinigung, mit deren Hilfe das Schmutzige und das Unreine definiert und ausgestoßen werden kann, wird jene Einheit hergestellt, in der soziale Einheiten sich als sich selbst erkennen, und diese Rituale müssen regelhaft und regelmäßig wiederholt werden, um ihre Wirksamkeit nicht einzubüßen. Disneyland stellt solche Mythen der Reinheit exemplarisch aus, nicht als Prozess, sondern als Produkt, dessen Herstellung unsichtbar geschieht und dem Publikum immer fertig vor Augen steht. Deswegen findet sämtliche Ver- und Entsorgung, wie in Shopping Malls auch, unterirdisch in den so genannten utilidors statt, was eine immerwährende Perfektion aufbereitet und Prozessuales den Blicken entzieht, und Mickey und Co. kleiden sich selbstredend unsichtbar um und treten schon entindividualisiert als die, die sie darstellen, auf. Ginge es allerdings nur um Sauberkeit und Perfektheit der Präsentation in einem hauswirtschaftlichen Sinne, wäre von Mythen der Reinheit kaum zu sprechen. Diese Mythen entfalten sich vielmehr in einem geschichtspolitischen Sinne auf je eigene Weise in den Ländern, die Disneyland ausmachen. Dass in Frontierland, mit der kleinen Ausnahme von Pocahontas Indian Village, kei3
Die Implikationen des Terminus finden sich näher ausgeführt bei Legnaro und Birenheide (2005), ebenso wie eine ausführliche phänomenologische Darstellung des gesamten Settings.
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ne Indianer vorkommen, ist insoweit Programm und folgt, zynisch gesehen, dem gleichen Inszenierungsprinzip wie die unsichtbaren Herstellungen des Perfekten: Die Reinigung hat bereits stattgefunden, die Indianer sind schon tot oder vertrieben, und übrig bleiben die Vergnüglichkeiten des Lebens der Westmänner und das für uns inszenierte Vergnügen des simulierten Nachvollzugs. Das gilt vergleichbar für Adventureland, in dem zwischen wuchernder Wildnis und pianolaspielender Zivilisation Eingeborene nie gelebt zu haben scheinen. Auch Main Street, diese harmlose Konsummeile, lebt vor allem von der Aussparung dessen, was reale Main Streets an Armseligkeit und Schmutz ausgemacht haben, und bietet eine kunstvoll arrangierte, von Nostalgie durchwehte Idealisierung. Und Discoveryland zeigt uns eine technifiziert-angenehme Zukunft des planvoll Machbaren, eine Weltgesellschaft der Pax Disneyana ohne jegliche Widersprüche. Nichts hier ist legiert mit den Konflikten und Ungleichzeitigkeiten tatsächlicher (damaliger oder heutiger) Urbanität, und die Freiheit von Müll korrespondiert mit der Freiheit von wesentlichen Kennzeichen moderner Gesellschaften zur Gestalt einer phantasierten Imago des Schönen und Guten. Reinheit und historische Bereinigung sind somit in Disneyland planvoll eingesetzte und als solche gar nicht verschwiegene Gestaltungsprinzipien: „‚What we create is a ‚Disney realism‘, sort of Utopian in nature, where we carefully program out all the negative, unwanted elements and program in the positive elements‘“, zitiert Zukin (1991: 222) einen Planer, um fortzufahren: „And Disneyland succeeded on the basis of this totalitarian image-making, projecting the collective desires of the powerless into a corporate landscape of power.“ Dass diese Landschaft in ihrer Gestik auf stilisierte Weise Macht verkörpert, ohne sie betont als solche auszustellen, und machtvolle Bilder ganz naiv in einem bunten Kleid präsentiert, beruht wesentlich auf den Mythen der Reinheit, die das konstruktive Prinzip dieser Weltdarbietung ausmachen. Walt Disney selbst hat das wohl gewusst; der von ihm überlieferte Satz „Mickey is a clean mouse“ (zitiert nach Sorkin 1992: 223) fasst das bündig zusammen. ‚Clean‘ heißt ja nicht nur ‚moralisch sauber‘, drogenfrei ohnehin, sondern auch politisch unanstößig, konfliktenthoben und harmonistisch, bereinigt um alle Widersprüche und Antagonismen. Mickey verkörpert somit seinen eigenen Mythos der Reinheit, in dem kindliche Unschuld und asexuelle Eindimensionalität konvergie-
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ren.4 Es ist diese Reinheit, völlig vorpolitisch und deswegen umso politischer, die Disneyland prägt. Das nimmt man nicht auf den ersten Blick wahr, denn man ist gefangen in einem sensorischen Wirbel, zu dem die allgegenwärtigen
Theatralisierungen des Alltäglichen auf bezeichnende Weise beitragen. Dass „the presentation of self in everyday life“ und das Theaterspiel vergleichbaren Prinzipien der Herstellung von Rollencharakteristika folgen, hat Erving Goffman (1959) schon vor langer Zeit gezeigt. Dass auch schlecht entlohnte, entfremdet-langweilige Arbeit theatralisiert werden kann, ließ sich zuerst in Disneyland studieren, und die Regeln des DisneyKonzerns hierfür stellen insoweit ein – zunehmend übernommenes – Modell für alle anderen Serviceberufe dar. Abgesehen davon, dass ein wesentlicher Teil der hier geleisteten Arbeit, wie bereits erwähnt, unsichtbar stattfindet – Herstellung hat der Beobachtung entzogen zu bleiben, es geht einzig um Darstellung – soll die sichtbare Arbeit hier keineswegs als Arbeit gelten und wird von vielen Besuchenden auch kaum so wahrgenommen. Diejenigen, die Figuren des DisneyUniversums darstellen, spielen eine Rolle, bleiben als Person anonym und sind individuiert nur als der-/die-/dasjenige, in deren/dessen Kostüm sie stecken. Allen anderen ist permanent lächelnde Freundlichkeit arbeitsvertraglich vorgeschrieben, ebenso wie penible Vorschriften der persönlichen Stilisierung eingehalten werden müssen.5 Solchen Mechanismen der Theatralisierung entspricht, dass die Angestellten im Disney-Jargon als ‚cast members’ bezeichnet werden, als Mitwirkende an einer Vorführung, die in permanenter Öffentlichkeit dargeboten wird. Im Unterschied zum ‚richtigen‘ Theater, an dem man eine inszenierte Rolle annimmt und aufführt, also nicht ‚wirkliches Leben‘ spielt, erstreckt sich hier für die Mehrheit der ‚cast members‘ diese Inszenierung eben darauf: Sie führen Tätigkeiten aus, die ‚draußen‘ als Arbeit gelten, in Disneyland jedoch theatralisch überhöht nicht nur ausgeführt, sondern dargeboten werden sollen. Zu diesem Zweck sind sie auch auf eine vage Weise kostümiert: Im Hotel Sequoia Lodge, das Nationalparks
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Das gilt sehr ähnlich für die Teenage-Stars, die der Konzern in den letzten
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Mit bitterer Ironie bezeichnen die Angestellten ihren Job im Disney-
Jahren in seinen Filmen herausstellt. Konzern denn auch als ‚working at the rat‘ (Project on Disney 1995: 110 ff.).
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der USA beschwört, tragen sie etwa eine an die dortigen Ranger angelehnte Western-Uniform, die Straßenreinigung in Frontierland trägt Cowboyhüte, die Angestellten in den Läden des arabischen Teils von Adventureland tragen Pluderhosen, und so wird jede Thematisierung in den einzelnen Ländern durch in Farbe und Muster einheitliche Bekleidung oder spezifische Details hergestellt. Dass alle cast members (mit der Ausnahme derjenigen natürlich, die Mickey oder sonstige Figuren des Disney-Universums verkörpern) einen runden Anstecker mit ihrem Vornamen tragen, führt dann Rolle und Person auf höchst alltägliche Weise wieder zusammen und unterstreicht zudem den familiären Charakter des Ganzen. Indem Arbeit in Disneyland entweder unsichtbar geleistet oder als Spaß an der Selbstdarstellung ausgegeben wird, jedenfalls nichts zu tun hat mit schlichten ökonomischen Notwendigkeiten, wird sie umdefiniert und veredelt, als ein projektives Spiel vorgeführt. Ähnlichkeiten mit den Gepflogenheiten in Betrieben der New Economy und des Dienstleistungssektors (vgl. zuletzt Rastetter 2008), aber inzwischen auch in der traditionellen Ökonomie (Legnaro 2008), sind keineswegs zufällig, sondern verweisen auf gleiche Strukturen: Arbeit wird in beiden Fällen verwandelt, in Disneyland ‚magisch‘ (eine Lieblingsvokabel des Konzerns) überformt, zu Lust und Annehmlichkeit überhöht, stilisiert zur wahren Freiheit, deren effiziente Ausübung einem in der Folge dann zur Freiheit der Waren verhilft. Denn Freiheit und ihre konsumtive Aneignung stehen hier in einer Wahlverwandtschaft und formen gemeinsam eine allgegenwärtige
Ko mmodifizierung von Sinnhaft igkeit Disneyland – Eintrittspreis für einen Erwachsenen € 496 – bildet eine umfassende Landschaft der Kommodifikation, so umfassend, dass es nahezu als ein ironischer Kommentar zur urbanen Konsumgesellschaft wirkt. Selbst die Graffiti sind hier kommodifiziert worden: Vor dem Eingang in den Park liegen an der Disney Promenade um einen Brunnen und den gärtnerisch in Buchs beschnittenen Mickey herum sechseckige Platten auf dem Boden, die man käuflich erwerben konnte, um Namen, Herkunft, Datum zu verewigen, Muster zwar nach Wahl, aber keineswegs beliebig, sondern in drei Varianten komplett vorstrukturiert erhältlich. Diese Platten als 6
Stand: Herbst 2008. Allerdings gibt es auch niedrigere Sonder- und Pauschalpreise.
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ein ‚I-was-here‘-Nachweis erfordern somit keine eigenen, unkontrollierten und unkontrollierbaren Aktivitäten, sondern nur die passive (bezahlte) Einordnung. Und wenn man danach Disneyland durch Main Street betritt, befindet man sich in einer Shopping Mall unter freiem Himmel, in der die Läden sich aneinander reihen und die immer gleichen Produkte des Konzerns in vielerlei Gestalt feilhalten. Das birgt eine Botschaft, die sich durch die gesamte Anlage zieht. Marin (1984: 253, Hervorhebung im Original) hat sie durch die Feststellung gekennzeichnet, dass, „[b]y the selling of up-to-date consumer goods in the setting of a nineteenth-century street, between the adult reality and the childlike fantasy, Walt Disney’s utopia converts the commodities into signification. Reciprocally, what is bought there are signs, but these signs are commodities“. Zeichen und Warenhaftigkeit erscheinen also als gegenseitig vertauschbar, und das verleiht einerseits den Waren eine symbolische und kulturelle Dimension, die weit über jeglichen Gebrauchswert hinausgeht, andererseits den Zeichen aber auch einen konkreten Gebrauchswert (wenn man darunter ebenfalls einen Erinnerungswert versteht). Disneyland exzelliert in solcher gegenseitigen Anverwandlung von Zeichen- und Warenhaftigkeit, bei der die Waren ihren Fetischcharakter auf das Offensichtlichste ausstellen, unterstützt nicht zuletzt durch die Vielfalt der Narrationen, die das Disney-Universum in seinen Filmen, Comics und Präsentationen mit Mickey & Co im Mittelpunkt bereitstellt: Shopping wird hier als die ultimative Welt- und Selbsterfahrung suggeriert, und Disneyland darf als Pionierstätte für die erfolgreiche Darbietung eines in sich geschlossenen Warenund-Zeichen-Kosmos mit kultureller Signifikanz gelten. Fetischisierung war hier schon Standard, lange bevor andere Konzerne Politiken des branding, der symbolischen Befrachtung und Überhöhung ihrer Produkte und ihrer kulturellen Kontextuierung entdeckten. Dass die Aneignung von Welt einzig über die Aneignung von Waren geschehen kann, Konsum seinen Sinn in sich selbst trägt und keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, dass die Welt ein kommodifiziertes Paradies bildet und Welterfahrung als kommerziell vorgeformtes Erlebnis in konzerngefertigten Bildern und Narrationen verfügbar gemacht wird – all dies führt Disneyland exemplarisch vor und bildet damit insgesamt eine
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Ko ntrollgesellschaft als Unterhaltung Gilles Deleuze (1992, 1993) hat den Begriff der Kontrollgesellschaft bereits zu einer Zeit geprägt, als sie erst schemenhaft erkennbar wurde. Er suchte damit terminologisch eine Entwicklung zu fassen, bei der sich die Mechanismen der industriell geprägten Disziplinargesellschaft mit ihren normativen Einbindungen, standardisierten Lebensläufen und ihren ‚Einschließungsmilieus‘ der Schule, Kaserne und Fabrik tendenziell auflösen zugunsten neuer Mechanismen situationsgesteuerter Kontrolle. Diese Mechanismen etablieren weniger ein Normenregime als vielmehr ein Zeichenregime, verzichten weitgehend auf moralisch und an das Ziel von Reintegration gebundene, sozialstaatlich verfasste Inklusionen und setzen an deren Stelle technologisierte Kontrollen vor allem des Raumes, die Freiheitsspielräume gleichermaßen öffnen und eingrenzen.7 In diesem Kontext kommt der Konstruktion und Herstellung von ‚Erlebnis‘ ein besonderer Stellenwert zu. ‚Erlebnis‘ an sich ist dabei selbstredend keine technologisierte Kontrolle – die wird durch Anlagen der Videoüberwachung, automatisierte Erkennungssysteme und die ubiquitäre Chipkarte wahrgenommen und in der Werbung als ‚Sicherheit‘ gerühmt –, sondern etabliert eine Kontrolle über Wahrnehmungen, Erfahrungsmodi und Sinnstrukturen. Eine solche Kontrolle steuert Individuen berechenbarer als jegliche Normierung, wird gar nicht als Kontrolle empfunden und steht im Einklang mit den Wünschen einer Mehrheit der Bevölkerung, die sich in ihrer Sehnsucht nach den Zeichen der Zugehörigkeit aus freien Stücken als „monadic consumer“ (Sorkin 1992: 217) selbst inszeniert. Auch in dieser Beziehung lassen sich Walt Disneys Konzeptionen als Pionierleistung verstehen. Seine Prinzipien von Steuerung sind ebenso effektiv wie unmerkbar: „Crowd flow and directional pull were crucial to Disney’s vision of a well-ordered and harmonious park. Convinced that a preponderance of choices (where to park, walk, eat, shop) and a lack of visual centrality made other theme parks (and indeed, most of the built environment) physically tiresome and psychologically alienating, Disney’s goal was to provide the illusion of total freedom in a carefully structured setting“ (Doss 1997: 182). Die Freiheit, die Disneyland (an)bietet, ist somit eine
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Dies lediglich als zum Verständnis notwendige Skizze; die dahinter liegenden Foucault’schen Analysen neoliberaler Regierungsstrategien können hier nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. etwa Foucault (2004); Lemke (1997); div. Beiträge in Bröckling/Krasmann/Lemke (2000; 2004).
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behütete, gelenkte, in ihren Möglichkeiten vorausberechnete Freiheit, die sich durch die konsensuelle Begeisterung des Publikums erfüllt. Denn dass der gesamte Park wie die dazugehörigen Hotels videoüberwacht sind und das Personal jederzeit ein Auge auf das Publikum hat, ist nicht der entscheidende Punkt; bedeutsam ist vielmehr die Atmosphäre einer Anlage, in der alle auf geradezu kindliche Weise ihren Vergnügungen nachgehen können, dem Publikum außer dieser Arbeit am Vergnügen Verantwortung weitgehend abgenommen wird und sich zwanglos eine Empfindung anstrengender, aber anregender und belustigender Freizeit einstellt. Nahezu alle tun hier das, was sie tun sollen: Dinge aus dem reichen Fundus der vielen Läden kaufen, herumschlendern, ruhig auf den Zutritt zu einer Attraktion warten, Kaffee trinken ... und vielleicht noch einmal etwas kaufen, denn die Vielfalt der hier erhältlichen Dinge ist so groß. Und wenngleich es sich um Vielfalt handelt, sind diese Dinge strukturell immer das gleiche, und die Vielfalt von Disneyland beinhaltet keineswegs Abwechslung. Das gilt nicht nur für die Waren, sondern auch für alle hier möglichen Tätigkeiten und alle hier feilgebotenen Erlebnisse; immer kalkulieren sie (was wörtlich zu verstehen ist: Durchlaufgeschwindigkeiten und Transportkapazitäten sind jeweils sorgsam berechnet) mit dem zwar passiv bleibenden, sich jedoch aktiv selbst unterhaltenden Besucher, der sich widerspruchslos einordnet, wartet, einsteigt, aussteigt, auswählt ... und vor allem bezahlt. Es ist eine Auswahl (an Waren, Attraktionen, Optionen, Erlebnissen), die aus einer nahezu endlosen Reihung kunstvoll hergestellter Unterhaltsamkeit getroffen werden muss – nur die Option, Waren des Disney-Konzerns zu kaufen oder nicht, sich auf seine Narrationen einzulassen oder nicht, hat man bereits verloren, wenn man den Park betritt. Freiheit entsteht hier im Rahmen eines Illusionismus, der seine Wirkungsweise durch narrative und thematische Stimmigkeit ebenso wie durch sensorische Überfrachtung gewinnt: „There is never a moment or space that is not visually, aurally, and olfactorily programmed by the Disney resort managers. [...] The effects of this sensory blanketing are at once exhilarating and exhausting. Amid signifiers of choice and plentitude, the Disney park reduces all possible experience to a single prescribed one.“ (Wilson 1994: 122). Es geht also – das dürften schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen – nicht um die Kontrolle von Gedanken und Erfahrungen nach normativen Mustern, und Gleichsetzungen mit tradierten Totalitarismen sind ganz unzutreffend. Ihre tatsächlich vorhandenen Uniformitäten verbirgt diese Gesellschaft in der Vielfalt und Vielzahl der angebotenen Optionen, die
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so unterschiedlich aussehen und doch letztlich darin konvergieren, dass sie standardisiertes Erlebnis und, neben dem allgegenwärtigen ‚fast food‘, auch ‚fast entertainment‘ bereithalten. Erlebnisse solcher Art und Fülle aber stellen umstandslos einen
Rausch des Als-Ob her. Denn hier herrscht das Spiel mit Archetypen, mit den Bedürfnissen nach einer Transgression der Wirklichkeit, der Sehnsucht nach der traumverlorenen Potentialität des Märchens, dem Sehnen nach Möglichkeitsräumen, daneben auch dem Wunsch nach überschaubaren Proportionen und (sozialer und geografischer) Übersichtlichkeit. Alle diese Wünsche werden hier, wie soll man sagen: erfüllt, eher wohl bedient, denn in Disneyland geschieht alles nur im Als-Ob-Modus, und man befindet sich in einer Simulation mit eigener Realitätsanmutung. Wie das kalte Feuer, auf das die Imagineers8 so stolz sind (zu Recht übrigens, es ist sehr beeindruckend) ein Als-Ob von Brand herstellt, so stellt hier alles ein Als-Ob von Welt und Wirklichkeit her und schafft damit eine weltenthobene Traumhaftigkeit, die den Wirklichkeitssinn verrückt und zugleich eine temporäre Entlastung von den Anforderungen der realen Welt draußen schafft. Disneyland, so Sorkin (1992: 223), zeichne sich aus „by converting the celebration of production into the production of celebration“. Dieses Produkt kann nicht gefertigt werden ohne die Zustimmung, aber auch nicht ohne die mentale Teilnahme der Besuchenden, die ihre Konzentration auf die versprochene auratische Festlichkeit zu richten haben. Es scheint nicht ausschließlich die Konzentration auf konsumtive Tätigkeiten des Suchens, Aussuchens, Abwägens zu sein, die hier wirksam wird; vielleicht sogar primär dürften – neben dem Ruf des Konzerns und der vorherigen Einstimmung auf den Besuch – die gegenwartsverschobene Gestaltung der Umgebung und die Phantasmagorie einer Wirklichkeit sein, deren nostalgisierender und traumdurchwirkter Charakter eine Art von Bann ausübt. Und wenn gilt, dass „commodities acquire meaningfulness most immediately and primarily, that is, by occupying our consciousness in their materiality or sensuousness as objects“. (Dunn 2008: 83; Hervorhebung im Original), dann steht man in den Disney-Ländern in einer Überfülle bedeutsamer Wirklichkeit, die ihre eigenen Unwirklichkeiten ganz realistisch präsen-
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So nennt sich die Technik-Abteilung des Konzerns in einer sprechenden Kombination von imagination und engineering.
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tiert und in Wirklichkeit eigener Art verwandelt, eine Ordnung, der Unordnung nicht inhärent ist, sondern die – insoweit utopisch – Ordnung auf eine Weise darstellt, die als Magie ausgegeben werden kann. Das färbt den Charakter der dargebotenen Wirklichkeit auf eine spezifische Weise. Die rauschhaften Märchen, durch die man sich hier bewegt, erzählen nicht nur von Märchen im Sinn des Begriffs, sondern auch von Sinn und Bedeutung des konsumierenden Erlebens, und das macht den Rausch nüchtern – und doch wird er sich spontan als eine Form der Sinnstruktur einstellen. Die Skepsis überkommt einen erst danach ... aber dennoch: „even the most blasé travelers manage a smile.“ (Birnbaum 1997: 85).
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Die S alz burger St . Ruperts Dult GERHARD EBERSTALLER
Alljährlich wird in Österreich eine große Anzahl von Jahrmärkten, Volksfesten, Kirtagen (Kirchtagen) abgehalten – Festivitäten, die ihre Entstehungsursache vor allem im Willen zur Bekundung des Gemeinsinnes zu haben scheinen. Genaue begriffliche Abgrenzungen zwischen den einzelnen Bezeichnungen, zu denen auch die im österreichischen Sprachraum vergleichsweise nur selten gebrauchten „Dult“ und „Kirmes“ zählen, werden nur vereinzelt vorgenommen, werden sie doch vielfach synonym verwendet. 1977 feierte in der Stadt Salzburg ein neuer alter Kirtag seine Premiere. Ein auf einer großen Tradition beruhender Neuanfang eines Jahrmarktes, der nunmehr alljährlich abgehalten wird, und dessen Konzept auf den Unternehmer Erwin Markl zurückgeht. Ein Jahrmarkt, der in seiner Struktur und stilistischen Gestaltung auf die Überlieferungen des Kirtages von anno dazumal zurückgreift. Die glückliche Hand der Veranstalter zeigt sich auch in der Wahl des Domplatzes als Zentrum, denn nirgendwo würde das bunte Treiben besser zur Geltung kommen als im Schlagschatten des barocken Prachtbaues, der damit auch zu einem Memento für die Vergänglichkeit der irdischen Ausgelassenheit wird. Eine auch kulturhistorisch sinnvolle Parallele, ist doch der Domplatz bekanntlich die Stätte, wo jedes Jahr bei den Salzburger Festspielen Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ – „das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ präsentiert wird. Und „Everyman“, die folgenreichste Moralität der Frühzeit des englischen Theaters, die Hofmannstahl zu seinem „Jedermann“ angeregt hat, gehörte durch Jahrzehnte zum Repertoire vazierender Komödianten. Neben dem Domplatz sind es weitere Plätze der Altstadt, wie der Alte Markt, der Residenzplatz, der Mozartplatz und der Kapitelplatz, auf denen den mannigfachen Lustbarkeiten Raum gegeben wird, und wo Zelte, Buden, Podien und Fahrgeschäfte aufgestellt sind. Der Ruperti-Kirtag wird in der
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Regel an drei bis fünf Tagen um den 24. September abgehalten. Es ist der Ehrentag des vermutlich am 27. März 718 gestorbenen Salzburger Landespatrons. Am 24. September 774 hatte Bischof Virgil den Dom geweiht und hierbei die Gebeine des hl. Rupert vom Kloster St. Peter in die neue Kirche überführen lassen. Rupert, von Worms als Bischof nach Bayern gerufen, hatte St. Peter in Salzburg gegründet. Ein 24. September im Jahr 1127 war auch der Tag der Neueinweihung nach dem Dombrand. Und wieder war es der 24. September, als nach Abriss des alten Domes zufolge eines neuerlichen Brandes, der nunmehrige unter Erzbischof Paris Graf Lodron 1628 errichtete eingeweiht worden war. Der Rupertitag wurde aber auch zum Tag der Regelung merkantiler Angelegenheiten, wie beispielsweise der Zinsverpflichtungen, was mit den Menschen auch Geld und Waren in die Stadt brachte. Chroniken berichten, dass der Rupertitag schon im 10. Jahrhundert die Menschen zum Feiern gebracht hat. Die St. Ruperts Dult ist eine der ältesten im deutschsprachigen Raum und gründet sich auf eine Verleihung von Kaiser Otto III. vom Mai 996. Der Ruperti-Kirtag wird 1331 in alten Schriften erwähnt und erhält 1482 durch Kaiser Friedrich III. das Marktrecht verliehen. Hans Sachs, der auch die Moralität „Everyman“ unter dem Titel „Comedi von dem reichen sterbenden Menschen“ bearbeitet hat, dichtete auch über Herbstruperti: „...Auch ist da grosse Meß und Marck Ruperti /mit kauffen und verkauffen Da ser vil Kaufleudt kumen zhauffn...“
Im Mittelalter beschränkte sich der als „Dult“ bezeichnete Jahrmarkt in örtlicher Hinsicht auf den unmittelbaren Dombezirk, breitete sich aber bereits in der frühen Neuzeit rund um den Dom weiter aus. Ab 1856 wurde der Jahrmarkt für 30 Jahre auf den Mirabellplatz verlegt. In der Folgezeit erlebte er – wiederholt durch Pausen unterbrochen – innerhalb von Salzburg einen mehrfachen Ortswechsel. Der Überlieferung nach sind die Jahrmärkte vor allem in der Spätzeit des 18. Jahrhunderts und sodann im 19. Jahrhundert zu jener besonderen Blüte gelangt, von der etliche Chronisten oft schwärmerisch zu berichten wissen. Jahrmärkte, deren Akteure der Fama nach von etlichen Richtungen angereist sind, um die Besucher in eine bunte Welt des Außergewöhnlichen und Absonderlichen zu entführen. Der Salzburger Heimatforscher Karl Adrian hat uns eine sehr farbige Schilderung des Treibens auf dem RupertiKirtag vom September 1873 hinterlassen und erzählt hierbei auch anschaulich von den einzelnen Schaustellungen, die typisch für diese Zeit der Hochblüte des Jahrmarktes sind. So schreibt er vom 46
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Wettstreit der Drehorgeln und dem der Moritatensänger, die mit heiserer Stimme von furchtbaren Unglücksfällen oder rührenden Liebesbeziehungen mit einem meist tragischen Ausgang berichten und mit dem Zeigestab auf die großen Bilder der aufgerollten Leinwand hinweisen. Und schreibt des Weiteren vom Panoptikum mit seinen schaurigen Darstellungen von Folterqualen und Königsmorden, vom Kasperltheater, bei dem Kasperl mit seiner Pritsche wild auf ein paar Teufel einschlägt, vom Anatomischen Museum mit seinen lebensechten Wachspräparaten diverser Krankheiten und von einem Hunde- und Affentheater, in dem die vierbeinigen Artisten kleine Szenen spielen. Adrian berichtet von Schnellphotographen und einem Ringelspiel mit echten Pferden, von den wilden Kriegstänzen des Häuptlings Ngami Hopupo, von einer Riesendame und einem Riesenschwein, und der verführerischen Fatme, „der letzten Favoritin des unglücklichen Sultans“, die im Inneren eines Zeltes die „Geheimnisse des Orients“ enthüllt, wie der Rekommandeur lautstark verspricht. Und berichtet u. a. auch von Schichtls Zaubertheater und damit von einer Schaustellerdynastie, die im 19. und 20. Jahrhundert wie nur wenige den volkstümlichen Unterhaltungssektor in Deutschland geprägt hat und bis heute einen Fixpunkt des Münchener Oktoberfestes bildet. Als 1977 der Ruperti-Kirtag von der Genossenschaft der Innenstadtgeschäftsleute wieder zum Leben erweckt wurde, zeichnete sich von Anfang an ab, dass er auf dem besten Weg war, wieder zu einer Salzburger Institution zu werden. Um die Buden und Podien herum herrschte oft ein geradezu beängstigendes Gedränge. Man wurde gestoßen und geschoben und lauschte der nur unzulänglich zu beschreibenden Mixtur von miteinander in Wettstreit stehenden Musiken. Und sog das Aroma des reichlich kulinarischen Angebotes ein, wie der in Fett bruzzelnden Würste oder der über glühenden Holzkohlen gerösteten Steckerlfische. Einem kulinarischen Angebot, zu dem selbstverständlich auch die weiße und rosa Zuckerwatte, Lebzeltherzen, Pfefferkuchen, gebrannte Mandeln und vielerlei andere Leckereien gehörten. Malerische Maringotten und alte Zigeunerwagen standen herum. Um den (zwischen 1656 - 61) errichteten Residenzbrunnen, wo die aus den Höhlungen eines Felsberges hervorbrechenden Rosse mit ihren überdimensionalen Pranken – skurrilen Fabelwesen gleichend – aus Maul und Nüstern Wasser speien, zog eine Ponybahn ihre Kreise. Felix Adanos, einst weltbekannter Jongleur auf großen Varietébühnen und in internationalen Manegen und nebst bei Experte auf dem Gebiet der Show-Freaks, lud in ein Zelt ein, in dem Teile seiner großen Kuriositätensammlung aus47
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gestellt waren: Schrumpfköpfe, aus Büffelleder geschnitzte javanische Schattenfiguren, Schuhe von Riesen und Zwergen und andere Sehenswürdigkeiten. Von den Wänden blickten einen farbige Plakate entgegen, von den wie Puppen wirkenden Prinzessinnen aus Liliput, von überdimensionalen Riesinnen oder von Lionel, dem bekümmert dreinblickenden Löwenmenschen. Das Pawlatschentheater, schon einige Jahre vorher als Nebenveranstaltung bei den Salzburger Festspielen beheimatet, feierte nun auch beim Ruperti-Kirtag fröhliche Urständ. Beim Handpuppenspiel agierte Kasperl – in alter Tradition – sehr ungezähmt gegen seine Widersacher, den Teufel, den Tod, die böse Hexe oder das Krokodil. Und hoch über den Köpfen wanderten Mitglieder der renommierten Traber-Familie über das Seil. Eine Attraktion sui generis auf dem Ruperti-Kirtag 1977 war schließlich der Circus Alfred, ein ClownCircus von großer mimischer Agilität und geradezu surrealistischer Sensibilität. Erinnern wir uns, dass sich Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts die „Freie Theaterszene“, deren Geburtswehen freilich schon einige Jahre früher eingesetzt hatten, mit großer Vehemenz auszubreiten begann. Eine Szene, die bei aller Verschiedenartigkeit und Verschiedengestaltigkeit als formales Kriterium ein Abgehen vom Primat des gesprochenen Wortes und eine starke Aufwertung der Körpertheatralik verband. Clown-, Pantomimenund Straßentheaterfestivals standen hoch im Kurs. Inhaltlich lag der unmittelbare Ausgangspunkt vor allem in der antibürgerlichen Bewegung, wie sie dann 1968 kulminierte, einer Bewegung, die in ihrem Bedürfnis nach Freiheit und Spontaneität die Aufweichung bzw. auch Eliminierung von mehr oder minder festgefahrenen Verhaltensweisen zu einer Leitmaxime erhoben hatte. Das Programm des Circus Alfred wurde von dem tschechischen Pantomimen Ctibor Turba und zwei weiteren aus Prag stammenden pantomimischen Clowns bestritten. Die Inschrift auf dem blauen Zelt – Circus Alfred – verstand sich als Hommage an Alfred Jarry, den exzentrischen und extravaganten poète maudit des französischen Theaters. Turba und seine beiden Partner bieten eine Kette blitzender, vorzüglich aus dem Repertoire der Circusclownerie stammender Szenen, die sie wiederum verfremden, die Grenze zwischen Realität und Surrealität überschreitend. Jahrmärkte sind bei allen Gemeinsamkeiten immer auch von den nationalen und lokalen Traditionen geformt, von den Menschen des Umlandes, deren Gebräuchen und Interessen. So kehren die einzelnen Feste auch ihre jeweils eigentümlichen Züge hervor, die das 48
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Spezifische des örtlichen Gepräges zur Geltung bringen, wenngleich eingeräumt werden muss, dass viele Volksfeste von einem weitgehenden Egalisierungs- und Uniformierungsprozess erfasst worden sind. Der Salzburger Ruperti-Kirtag hat in punkto Ausformung und Gestaltung im Großen und Ganzen seinen singulären Charakter beibehalten und vereinigt in sich Elemente des Kirchweihfestes, des klassischen Jahrmarktes und des Stadtfestes, das sich im wesentlichen seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Institution etabliert hat. Eine Symbiose dieser Elemente zeigte sich bereits deutlich beim auch so genannten „Domkirchweihfest zu Ruperti“ im Jahr 1978, das mit einer Kirchweihmesse im Dom begonnen hatte. So gehörten auch folgerichtig Brauchtumsvorführungen verbunden mit Publikumstanz auf dem Tanzboden zum Programm. Gewiss, die zwingende Kraft des Brauchtums ist vielfach verloren gegangen, Brauchtum wird zum Teil als folkloristische Darstellung präsentiert, als symbolisches Zurückholen der Vergangenheit, hervorgerufen durch ein legitimes Traditionsbedürfnis. Im Bierzelt, wo es zur Eröffnung einen Bieranstich und einen Ochsenanschnitt gab, wie auch im Festzelt, konzertierten Blaskapellen, die ansonsten bei den verschiedenen kirchlichen und weltlichen Festen wie Gottesdiensten und Begräbnissen, Bällen und Faschingsumzügen aufspielen, und deren MitgliederTracht oder Uniform tragen. Die Salinenarbeiter, deren Vorfahren der heilige Rupertus in der Salzgewinnung unterwiesen hatte, und die ihn als ihren Schutzheiligen verehren, haben dem in diversen Vorführungen Rechnung getragen. So in einer historischen Wallfahrt, die in prächtigen Kostümen nachgespielt wurde und bei der Schifferschützen Salzfuder flussabwärts auf der Salzach beförderten und sodann diese wieder an Land verluden und mit Saumpferden und Salzträgern, von Blaskapellen, Bergknappen und Bergzwergen begleitet, durch die Innenstadt transportierten. Im Übrigen war es wieder ein Kirtag nach der alten Art, aus dem jede Elektronik verbannt war. Ein Kirtag, der das aus den österreichischen Volksfesten weitgehend verschwundene Schauerlebnis revitalisierte und der Lust am „Urigen“ entgegenkam. So wurden im Varietézelt am Kapitelplatz und auf der Pawlatschenbühne am Residenzplatz artistische Darbietungen mannigfacher Art geboten. Da fanden sich der Gentleman-Jongleur Felix Adanos, der von Fred Astaire inspiriert, eine tänzerische Leichtigkeit in seine Nummer einbrachte, das Wiener Unikum Charles de Kiswarth, der mit Glatze, grimmigem Blick und nacktem korpulenten Oberkörper als Feuerfresser u. a. Feuerkügelchen und schließlich einen ganzen Feuerball in die Luft blies – Fellini wäre von seiner 49
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Erscheinung wahrscheinlich entzückt gewesen –, Illusionisten der Gesellschaft für magische Kunst und anderes mehr. Und wie im Vorjahr wurde auch diesmal wieder auf dem Hochseil gearbeitet. Walter Horland, rund 20 Jahre lang Inhaber des Weltrekords im Dauerseiltanzen, präsentierte sich auf einem über dem Residenzplatz gespannten Seil. Der Hanswurst trat auf, der in seiner Ubiquität aus dem Getriebe des Ruperti-Kirtages nicht mehr wegzudenken ist. Wem er mit seiner Pritsche einen leichten Schlag versetzt, der darf – einem Volksglauben entsprechend – damit rechnen, ein ganzes Jahr hindurch gesund zu bleiben. Er wird auch stets als echter Salzburger angekündigt, trat doch der berühmteste historische Hanswurst, nämlich Joseph Anton Stranitzky (1676-1726) als Salzburger Sau- und Krautschneider auf, stammte aber persönlich aus Graz. Zum Personenregister des Salzburger Benediktinertheaters zählten auch Narrengestalten, die mitunter Stehgreiffreiheit genossen. Und wenn als Narr eine Bauerngestalt eingesetzt wurde, trat sie in Salzburger Tracht auf, mit einem kleinen grünen Spitzhut, Haarschopf, Halskrause, rotem Brustfleck, knapper Joppe, gelber, mit blauen Bändern seitlich verschnürter Hose und einer Holzpritsche. Auf den Hosenträgern sind die Buchstaben H. W. vermerkt. Diese bäuerliche Hanswurstgestalt hat Stranitzky, der als Begründer der Alt Wiener Volkskomödie gilt, möglicherweise inspiriert. Vermutungen, die behaupten, Stranitzky habe sich 1706 und sodann 1707 in Salzburg aufgehalten, worauf sich in ihm durch die Begegnung mit dem alten Salzburger Hanswurst das entscheidende Schlüssel-Erlebnis vollzogen habe, sind aber nicht zu belegen. Der nunmehrige Salzburger Hanswurst ist Johannes Rupert (!) Franz, der seit dem Jahr 1997 quirlig auf „allen Ecken und Enden“ des Kirtages auftaucht, sich seine Sprüche zusammenreimt und schlagfertig improvisiert. Die Pawlatschenbühne kann seit der Wiedererweckung des RupertiKirtages im Jahr 1977 auf eine beachtliche Aufführungsgeschichte verweisen. Hier wurden Szenen aus Goldonis Komödie „Der Diener zweier Herren“ gespielt, die der Dramatiker einst für Antonio Sacchi, den berühmtesten Arlechino-Darsteller seiner Zeit geschrieben hatte, und die eine Herausforderung (auch in artistischer Beziehung) für jeden Verkörperer des Harlekin bildet. Auf der Pawlatschen wurden von den verschiedensten Theatertruppen Märchen wie „Der Froschkönig“, „Kalif Storch“ oder „Der gestiefelte Kater“ aufgeführt und traten auch Märchenerzähler wiederholt in Aktion. Überhaupt ist das Auftreten diverser Theatertruppen, die ja im We50
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sentlichen aus Laiendarstellern bestehen, ein besonderes Markenzeichen des Ruperti-Festes. Theatertruppen aus Salzburger Landen, aber nicht nur aus diesen, die zur bunten Vielfalt dieser Szenerie wesentlich beitragen. Einer Szenerie, die auch das in Österreich schon stark ins Abseits gedrängte Bauerntheater umfasst. Das vermutlich renommierteste Ensemble dieses Genres, das „Altinnsbrucker Bauerntheater“ hat hier mit „Der schröckliche Kuno von Drachenfels“ gastiert, seinem bekanntesten Stück, einer schaurigen Rittertragödie, an deren Ende fleißig geköpft wird – Zuschauer dürfen diese Prozedur auch an sich selbst vollziehen lassen. Greifen wir aus der beachtlichen Anzahl von diesbezüglichen Theatergastspielen nur einige wenige heraus, wie „Was ist denn bloß im Pfarrhof los“, ein Volksstück von Luise Sampl, geboten von der Theatergruppe St. Andrä, „Der Frühpensionist“ ein Lustspiel von Roman Alexander, gespielt vom Bauerntheater Lofer, „Drei Sünder in Verlegenheit“, eine Komödie von Mathias Schwab, dargestellt von der Reichenhaller Volksbühne, die auch die Bauernposse „Der talkerte Bua“ von H. Schuster zur Aufführung brachte. Stück- und Autorennamen, die außer ein paar Insidern, wohl nur der ortsansässigen Bevölkerung bekannt sind. Aber auch außerhalb der rustikalen Hemisphäre wurden Komödien, Schwänke, Possen immer wieder auf der Salzburger Pawlatschenbühne gespielt, und 2008 wurde als besondere Reverenz gegenüber der Stadt „Jedermann“ nach dem Original von Hugo von Hofmannsthal – dargestellt von der Theatergruppe Mosaik – gegeben. Auf der Pawlatschenbühne haben aber auch immer wieder Puppentheater gastiert, darunter 2008 erstmals das berühmte Salzburger Marionettentheater mit „Peter und der Wolf“. Zauberkünstler und Clowns sind hier aufgetreten, ansonsten aber ist im Unterschied zur ersten Zeit des revitalisierten RupertiKirtages das Artistentum fast zur Gänze von der Bildfläche verschwunden. Ein Faktum, das der Ruperti-Kirtag mit anderen österreichischen Jahrmärkten teilt. Die Wiederbelebung alter Gauklerkünste als Folge der Alternativszene der 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts zeigt sich im Wesentlichen bei einigen Stadtfesten und Straßentheaterfestivals wie dem „Linzer Pflasterspektakel“ oder „La strada“ in Graz. Mit dem fast vollständigen Verlust der Schaubude und ihren marktschreierisch agierenden Rekommandeuren ist die skurrilste Komponente der alten Jahrmarktskultur verloren gegangen. Eine aufgeklärte Zeit ist an „Wundern“ wenig interessiert. Der Rückgriff auf den Kirtag von einst zeigt sich allerdings bei den Fahrgeschäften, wie bei einem aus dem Jahr 1860 stammenden Kettenkarussell, 51
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das nur am Ruperti-Kirtag aufgestellt wird, und das seit dem Jahr 1977. Ein nostalgisches Refugium bietet auch ein altes Pferdekarussell, und auch dieses wird nur für den Ruperti-Kirtag „hervorgeholt“. Belustigungen, die angesichts der ständigen Modernisierung der Jahrmärkte Raritätswert genießen und mit Begeisterung von den Besuchern angenommen werden. Elektronik, Plastikgebilde und Neonbeleuchtungen sind verbannt. Nackte Amoretten laden zur Fahrt mit der Russischen Schaukel, einem kleinen Riesenrad ein, und in der Geisterbahn – der Teufelsmühle – wandeln auch lebende Geister herum – Schausteller, die sich in diverse Schreckgestalten verwandelt haben. Der Wunsch, selbst am Steuer zu sitzen, wird durch ein altes Autodrom (mit alten Original-Ersatzteilen) erfüllt, dessen Aufstellung stets mit beachtlicher Mühe verbunden ist. Und wer eine Mutprobe bestehen will, tastet sich im Irrgarten eines Spiegelkabinetts herum. Eine Besonderheit des Ruperti-Kirtages ist das „Lebendige Handwerk“. So hatten sich beispielsweise im Jahr 2007 28, im Jahr 2008 26 Handwerksbetriebe angemeldet, um am Alten Markt im Rahmen einer Sonderschau ihr Können zu präsentieren. U. a. waren Bäcker, Buchdrucker, Drechsler, Fleischer, Glasgraveure, Holzbildhauer, Hutmacher, Instrumentenbauer, Keramiker, Kunsttischler, Kürschner, Puppendoktoren, Schlosser, Töpfer, Trachtenschneider, Wachszieher, Waffenschmied, Weber und Zinngießer vertreten. Seit dem Jahr 1988 findet auch fast jedes Jahr die traditionelle Freisprechung der Buchdruckerlehrlinge statt. Nach dem historischen Aufmarsch auf dem Domplatz werden die Gäutschlinge beiderlei Geschlechts „von ihren Sünden der Lehrzeit rein gewaschen“, d. h., sie werden mit ihren Kleidern in einen mit Wasser gefüllten Bottich eher unsanft hineingekippt und gehörig untergetaucht. Brauchtum wird alljährlich in reichem Ausmaß geboten – so trafen sich beispielsweise im Jahr 2008 am Tanzboden Brauchtumsgruppen aus allen 5 Salzburger Gauen sowie aus der Stadt Salzburg. Auch haben etliche der Besucher aus dem Salzburgischen oder aus Bayern Tracht angelegt. Im großen Festzelt, das 1.100 Sitzplätze aufweist, spielen Trachtenmusikkapellen, wie überhaupt Blasmusik Trumpf ist – 2008 waren es 18 verschiedene Formationen. Zum musikalischen Angebot zählen aber auch Jagdhornbläsergruppen, Tanzmusikanten u. a. m. Dass die klassischen Jahrmarksinstrumente wie Drehorgeln und das Orchestrion in Aktion treten, ist wohl selbstverständlich. Ein unabdingbarer Bestandteil des Ruperti-Kirtages ist auch das große, 52
Die Salzburger St. Ruperts Dult
von der Festung Hohensalzburg abgeschossene Feuerwerk, das die Silhouette der Festung im nachtschwarzen Himmel in prächtige Farben taucht. Feuerwerke, die ehedem hauptsächlich von den Herrscherhäusern, gelegentlich auch von Stadtverwaltungen veranstaltet wurden, begannen im Wesentlichen erst im Laufe des 18. Jahrhunderts in öffentliche Vergnügungsstätten abzuwandern. Heute Programmbestandteil vieler Stadtfeste, werden Feuerwerke stets als einer ihrer Kulminationspunkte erlebt. Das ist auch bei Ruperti so, wo 2008 der zum Europameister gekürte Salzburger Christian Czech und sein Team von Pyrotechnikern ihre erlesenen Feuerkünste präsentierten und es u. a. rote Herzen – Symbol des Hanswurstes – regnen ließen. Der Salzburger Ruperti-Kirtag versteht sich vor allem als ein Fest für die Bewohner Salzburgs und seiner Umgebung, und wird im Durchschnitt von rund 100.000 - 120.000 Personen besucht. Wie bei etlichen anderen Volksfesten hat sich ein Eröffnungszeremoniell herausgebildet mit dem Aufzug der Wache der Salzburger Bürgergarde in historischen Uniformen, der Eröffnung durch den Bürgermeister, dem Aufziehen der Marktfahne durch den Hanswurst, dem Bieranstich und launigen Hanswurstiaden der Salzburger Schauspielgruppe „Karawane“. Kirchweihfest mit einer starken Betonung des Brauchtums, nostalgischer Jahrmarkt mit der Besonderheit historischer Fahrgeschäfte und Stadtfest mit zahlreichen Theatergruppen und einem prächtigen Feuerwerk haben eine glückliche Symbiose gebildet. Das Moment einer gewissen „Urigkeit“ durch die Präsentation von Gauklerkünsten in der ersten Zeit seit der Revitalisierung ist allerdings einigermaßen verloren gegangen. Tradition und stilistische Geschlossenheit werden großgeschrieben, was sich u. a. auch in der Wiederbelegung der Figur des Hanswurst zeigt. Im Rahmen der österreichischen Jahrmarkt- und Volksfestszenerie kommt dem Ruperti-irtag ohne Zweifel eine Sonderstellung zu.
Quellen Böhmer Günther (1975): „Hereinspaziert. Hereinspaziert. Jahrmarkts-Graphik aus drei Jahrhunderten. Ausstellungskatalog München. Eberstaller Gerhard (2004): Schön ist so ein Ringelspiel. Schausteller, Jahrmärkte und Volksfeste in Österreich. Geschichte und Gegenwart. Wien: Brandstätter.
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Kultur des Vergnügens
Derselbe (1977): Ruperti-Kirtag in Salzburg. In: Circusparade, Preetz, Ausgabe November. Derselbe (1978): Ruperti-Kirtag. In: Circusparade, Preetz, Ausgabe November. Kaufmann Paul (1983): Brauchtum in Österreich. Feste, Sitten, Glaube. Wien – Hamburg: Zsolay & Deuticke. Kindermann Heinz (1967): Theatergeschichte Europas. Band III Barockzeit. Salzburg: O. Müller. Kutschera Volker (1997): „Der unsterbliche Hans Wurst. In: Der Verein der Freunde und Förderer des Salzburger Landestheaters, Salzburg. Lehmann Alfred (1952): Zwischen Schaubuden und Karussells. Frankfurt/Main: Schöps. Ruperti-Kirtag. Sonderbeilage der Salzburger Nachrichten. 20.9.1978. Wehrli Peter K.: Wenn sich drei Auguste gegen die Wirklichkeit verschwören. In Tagesanzeiger Zürich, 12. Juli 1974.
Sonstiges Diverse Programme des Ruperti-Kirtages. Video Salzburger Ruperti-Kirtag 1997. Privatarchiv Gerhard Eberstaller.
Für persönliche Auskünfte danke ich Herrn Florian Trenkler, Salzburg. Veranstalter des Ruperti-Kirtages ist die Altstadt Salzburg Marketing GmbH in Kooperation mit der Salzburg Innenstadtgenossenschaft.
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Die Luxemburger S chueberfouer STEVE KAYSER
Im Mittelalter als Jahrmarkt der Stadt Luxemburg gegründet, wird die Schueberfouer Ende August bis Anfang September auf dem früheren Glacisfeld am Stadtteil Limpertsberg ausgetragen. Es ist die größte Veranstaltung des Landes und der Großregion. Während ihrer 20 Spieltage wird die Fouer von etwa 2 Millionen Menschen aus dem In- und Ausland besucht. Die Beschicker kommen aus ganz Europa. 2008 stammen von den 171 Schaustellergeschäften und 80 Kramläden, 40 % aus Luxemburg, 27 % aus Frankreich, 18 % aus Belgien, 13 % aus Deutschland, 1 % aus den Niederlanden sowie 1 % aus Österreich. Mehr als 3.000 Arbeitnehmer sind hier beschäftigt. Das Angebot richtet sich in erster Linie an das Familienpublikum. Die Ansprüche im Bereich der Sicherheit und der Hygiene sind hoch. Die Organisation obliegt dem Office des Fêtes, Foires et Marchés der Stadtverwaltung Luxemburg. Zur Eröffnung und am Fouersonndeg (zugleich Kirmessonntag der Stadt Luxemburg) erklingt auf dem Glacis die Melodie des Hämmelsmarsches, gespielt von Musikanten in blauer Schäferjacke mit rotem Schal in Mitten einer kleinen Schafsherde. Diesem Brauch begegnen wir auch in den übrigen Dörfern Luxemburgs am jeweiligen Kirmessonntag. Seine Ursprünge scheinen auf die Schueberfouer zurück zu gehen. Sie stehen im direkten Zusammenhang mit dem hauptstädtischen Schützenverein. Einst veranstaltete die Sankt SebastianusBruderschaft (im Volksmund: „D’Schéis“) jedes Jahr ein Preisschießen auf dem Jahrmarkt, bei welchem es Kirmeshammel zu gewinnen gab. Der Hämmelsmarsch hat aber wahrscheinlich bereits vor der Gründung der Bruderschaft am 20. April 1402 auf der alljährlichen Messe Wurzeln geschlagen.
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Kultur des Vergnügens
Die mitt ela lt erlic he Ja hrmarktsgründung im europäischen Kontext Im 9. und 10. Jahrhundert kommt es in Europa zu zahlreichen Marktgründungen, hinter welchen manchmal kirchliche Institutionen stehen. Meistens werden diese ein- bis dreitägigen Veranstaltungen in Verbindung mit dem örtlichen Heiligenfest abgehalten. Nach 1150 bilden sich regionale Messesysteme wie die Märkte in der Champagne oder in Flandern. Die Champagne wird nun bis ins 14. Jahrhundert internationales Handelszentrum bleiben. 963 gründet Graf Siegfried die Stadt Luxemburg, die so genannte Lucilinburhuc. In den kommenden Jahrhunderten entwickelt diese sich zu einer stattlichen Grafschaft. Im 13. Jahrhundert wollen die Landesherren einen größeren Markt auf dem Stadtgebiet abhalten. 1298 organisiert Heinrich VII. einen sechswöchigen Jahrmarkt im Frühsommer. Sein Projekt scheitert schnell. Luxemburg liegt noch abseits der überregionalen Handelssphäre. Zudem lenken neue politische Verpflichtungen den 1308 zum Kaiser gekürten Heinrich VII. von seiner Stammgrafschaft ab. Als sich im Laufe des 14. Jahrhunderts die regionalen Messesysteme wieder zu regionalen Jahrmärkten abschwächen, profilieren sich vereinzelte Städte, wie z. B. Brügge oder Genf zu Fernhandelszentren. Nun rückt die von Italien über Straßburg herkommende und durch Luxemburg bis nach Flandern führende Handelsstraße, die Lampartische Straße, in den Vordergrund. Der Sohn Heinrichs VII., Johann, König von Böhmen und Graf von Luxemburg (im Volksmund: Jang de Blannen, Johann der Blinde), knüpft konsequent an die Pläne seines Vaters an. 1311 ruft er in Marche drei Messen ins Leben. Auch in Aye schafft er einen Markt. Schließlich gründet er am 20. Oktober 1340 einen achttägigen Jahrmarkt in der Stadt Luxemburg. Der Messebeginn wird laut Urkunde auf den Vorabend des Sankt Bartholomäus-Festes gelegt. Sie dauert vom 23. August, 12 Uhr mittags bis zum 31. August, 12 Uhr mittags. Der gewählte Zeitpunkt gegen Ende der Ernte und vor der Weinlese fügt sich ohne Zweifel in den ländlichen Agrarzyklus ein. Handelstechnisch passt sie in den regionalen Messekreislauf: nach Notre-Dame und Saint-Arnoul in Metz (15. bzw. 16. August) und vor Sankt-Paulin in Trier (31. August). Daneben gibt es im luxemburgisch-lothringischen Raum 58 Kurzmessen. Der Standort Luxemburg ist günstig. Im Stadtkern gibt es bereits zwei Marktplätze, den Alt- und den Neumarkt, mit zum Teil festen Infrastrukturen. Der Jahrmarkt findet in der Nähe der Handwerkerund der Händler-Viertel, außerhalb der Stadtmauern, unweit des 56
Die Luxemburger Schueberfouer
Neumarktes, beim Kloster auf dem Heilig-Geist-Plateau, der so genannten Scadeburch statt. Im Laufe der Jahrhunderte wird im Sprachgebrauch aus der foire de Scadeburch oder Schadebergmesse, dann die Schadbermesse und später die Schobermesse, auf Luxemburgisch d’Schueberfouer oder auch noch d’Schuebermëss. Hier kreuzen sich die Wege der Händler, welche aus dem Süden kommend auf dem Weg zu den Herbstmessen in Antwerpen sind, sowie jener welche von Norden her nach der Heiligkreuzmesse in St.-Nicolas-de-Port bei Nancy ziehen. Die Kaufleute können dabei auf die wichtigen Zufahrtsrouten nach Süden (Thionville, Metz), Westen (Arlon) und Osten (Trier) zurückgreifen. Die Schueberfouer integriert sich folglich in das westliche Wirtschaftssystem, das durch den sich im 13. und 14. Jahrhundert ausdehnenden bargeldlosen Zahlungsverkehr zu einem regelrechten „europäischen Wechselmarkt“ wird. (Pauly 2007). Die Marktordnung und -organisation werden zum Teil in der Gründungsurkunde definiert. Sie lehnen sich an die international geltenden Handelspraktiken an. Die Kaufleute genießen während acht Tagen vor (Vormessezeit) und acht Tagen nach (Nachmessezeit) der eigentlichen Veranstaltung eine Reihe von Privilegien. Gegen Leistung einer Geleitabgabe sind die fahrenden Händler von der Zahlung von Zöllen und Steuern befreit. Darüber hinaus gewährt ihnen Johann Schutz und Sicherheit, nicht zuletzt durch eine Reihe von Landfrieden und Geleitschutzabkommen mit den jeweiligen Landesherren von den Vogesen bis zur Maas. Somit gewinnt er das Vertrauen der Handelsleute aus dem Umland und der Großregion. Die einheimischen Handwerkerzünfte werden von Anfang an eng in den Jahrmarkt mit eingebunden. Besonders das Luxemburger Tuch genießt als Qualitätsprodukt einen hohen wirtschaftlichen Stellenwert. Der Landesherr versucht die lokale Produktion zu schützen und zu fördern. Die Wollweberzunft ist befugt, das Eichmaß für Tuchprodukte, das Ellmaß (droit d’aune), festzulegen. Sie stellt bis ins späte 18. Jahrhundert auch den Fohrmeister (maistre de la foire). Nach dem jetzigem Wissensstand gibt es allerdings keinerlei Belege für die Anwesenheit von Fernhandelskaufleuten auf der Schueberfouer vor 1600. Die Kundschaft besteht nicht aus einer breiten Masse, sondern eher aus Leuten adliger, geistlicher oder großbürgerlicher Kreise. Genaue Angaben über die Zusammensetzung des Jahrmarktes in seiner Frühzeit haben wir nicht. Es gibt aber sicherlich Gaukler, Spaßmacher, Bärenhalter und Spielemacher, welche die populäre Kultur von Platz zu Platz tragen.
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Der Erfolg, der Umzug und der Rückgang der Handelsmesse Zwischen Ende des 14. und Anfang des 16. Jahrhunderts variiert die Zahl der Verkaufsstände konjunkturell und geschichtlich bedingt. 1448 werden ein Maximum von 372 und 1452 ein Minimum von 72 Plätzen in den herzoglichen Büchern verbucht. Nach 1480 sind es im Durchschnitt zwischen 150 und 200. Seit dem 16. Jahrhundert müssen die anreisenden Händler ihre Geschäfte an vorgeschriebenen Stellen aufbauen oder einen Laden in der Stadt mieten. Ende des 16. Jahrhunderts und im Laufe des 17. Jahrhunderts entsteht der Bartelméismaart (Bartholomäusmarkt), ein Viehmarkt mit Rindern und Ferkeln und später auch Schafen und Ziegen sowie Pferden. Einen interessanten Hinweis auf den überregionalen Charakter des Jahrmarktes liefert uns eine Ende des 16. Jahrhunderts erstellte anonyme Aufzählung sämtlicher Jahrmärkte des Herzogtums Luxemburg. Die Schueberfouer sticht unter den 26 Veranstaltungen hervor. Ihr Einzugsgebiet reicht von den umliegenden Städten und Gegenden bis hin zu den benachbarten Provinzen. Drei Jahrhunderte lang hält die Schueberfouer an ihrem ursprünglichen Austragungsort fest. Gemäß der demographischen Entwicklung Europas wächst die Einwohnerzahl und mit ihr die Bevölkerungsdichte. Indes wird Luxemburg zu einer strategisch wichtigen Festungsstadt, dem späteren „Gibraltar des Nordens“. Aus Platzmangel erweitert man die Festungsmauern und damit verbunden die Stadtgrenzen. Das Heilig-Geist-Plateau ist nun zu eng. 1610 zieht die Fouer deshalb auf den Limpertsberg um, vor die Verteidigungsanlagen und das davor liegende strategische Glacis. Die Aufbaufläche wird allerdings landwirtschaftlich genutzt. Da der Markttermin auf den 23. August festgelegt ist, findet der Jahrmarkt auf den – im Prinzip – abgeernteten Feldern statt. Bis auf die zwischen 1625 und 1628 erbaute Marienkapelle (Chapelle Notre-Dame) stehen hier noch keine Gebäude. Neben Nähzeug, Woll- und Tuchwaren werden entlang der heutigen Allée Scheffer auch Töpfereiprodukte, Werkzeuge, Öfen bis hin zu Schmuck und Glas angeboten. Der Viehhandel während des Bartelméismaart gewinnt an Volumen und Bedeutung. Spiele und Festlichkeiten sorgen für Unterhaltung und Frohsinn. Durch ein Reglement vom 7. Oktober 1625 ist die Sankt Sebastianus-Bruderschaft übrigens dazu berechtigt, einen Teil der Gelder aus den Spielen einzutreiben. Im 17. und 18. Jahrhundert verliert der Jahrmarkt an Bedeutung. Luxemburg besitzt seit 1443 keine Eigenständigkeit mehr und die Stadt ist zur begehrten Festung geworden. Die Konjunktur ist nach den andauernden Kriegen sehr 58
Die Luxemburger Schueberfouer
schwach. Der Fernhandel verlagert sich zugunsten neuer wirtschaftlicher Standorte. Das als Provinz abseits liegende Luxemburg kann der Konkurrenz der Messen im heutigen Wallonien nicht mehr standhalten. Noch dazu bietet der städtische Einzelhandel künftig Produkte an, welche einst nur auf den Jahrmärkten zu finden gewesen sind. So tritt das Zur-Schau-Stellen, d.h. Artistik- und Theaterdarbietungen sowie Kuriositätenausstellungen, langsam in den Vordergrund. Im Zuge der Französischen Revolution wird Luxemburg in das Département des Forêts einverleibt. Die neuen Machthaber scheinen zwar beflissen, die lokalen Bräuche zu respektieren und zu wahren, doch der Zugriff auf die herrschaftlichen Privilegien und die Handwerkerzünfte des Ancien Régime lässt das Schlimmste befürchten. Die französische Verwaltung wirft ihren prüfenden Blick auch auf die „chaubremesse“. 1795 ist sie an die französischen Militär- und Polizeibestimmungen gebunden. Ihr Überleben verdankt sie den einheimischen Geschäftsleuten innerhalb der neuen Stadtverwaltung (municipalité). 1797 wehren sie sich erfolgreich gegen die französischen Absichten, die Zuständigkeit für den Jahrmarkt an die Kantonalverwaltung Hesperange abzugeben. Doch während die Unkosten um die Schueberfouer steigen, schrumpfen die Einnahmen. Hier schlägt besonders die Bewachung des Platzes ins Geld. Die Wachsoldaten sollen Trinkgelage, Schlägereien, Diebstähle, Betrug und illegales Glückspiel ins Visier nehmen. Des Weiteren werden auch die Bauern entschädigt, welche ihre Felder noch nicht abgeerntet haben. Zwischen 1801 und 1803 steigen die Ausgaben um 25 %! Der wirtschaftliche Niedergang der Handelsmesse ist unverkennbar.
Ein patriotisches E reignis im Wandel zur Vergnügungsmesse Die Bindung der Veranstaltung an die Stadt- und Landesgeschichte ist sehr ausgeprägt. 1815 wird das Großherzogtum Luxemburg im Zuge des Wiener Kongresses gegründet. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird die Festung geschleift und die Personalunion mit den Niederlanden beendet. Während dieser Zeit entwickelt sich ein eigenes Staatswesen und damit verbunden ein nationales Bewusstsein samt einer eigenständigen Kultur. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlebt die Schueberfouer eine der schwierigsten Phasen ihrer Geschichte. Nach 1823 fällt die Zahl der Beschicker und mit ihr sinken die Einnahmen. Schlechte Wetterbedingungen, politische Turbulenzen, eine schwache Wirtschaftslage und neue
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Steuern erklären die Krise. In einem Bericht vom 22. August 1823 heißt es, das Risiko sei groß, dass „der Jahrmarkt während der gesamten Dauer menschenleer bleibe“. (Emmel 1989). Nun stellt sich auch die Frage nach einem neuen Austragungsort. Die Veranstalter sind immer häufiger mit spät eingeholten Ernten konfrontiert. Vor 1839 existiert übrigens keine genaue Abgrenzung des zu bebauenden Areals. In den Dreißiger Jahren werden Stimmen laut, um den Jahrmarkt in die Innenstadt, auf den Place Guillaume (Knuedler) zu verlegen. Erst 1849 ist die Krise überwunden. Die Stadtverwaltung verzeichnet einen ungewöhnlichen Zuwachs. Ab 1850 wird Stadtarchitekt Eydt damit beauftragt, den Platz neu aufzuteilen. Die Standortfrage ist damit längst nicht vom Tisch. Mit der Schleifung der Festung Ende des 19. Jahrhunderts und der fortschreitenden Bebauung des Limpertsberges verschärft sich das Platzproblem. Hinzu kommt auch noch die schlechte Beschaffenheit des Ortes – Schlamm oder Staub, je nach Wetterlage. Die Stadträte wollen das Glacisfeld. Dazu brauchen sie das Einverständnis der Regierung, da ein Teil des Platzes dem Staat gehört. 1892 zieht die Schueberfouer allen Gegnerstimmen zum Trotz auf das Glacis um. Wie bei den anderen bautechnischen Urbanisierungsmaßnahmen von nationaler Bedeutung, entscheidet die großherzogliche Regierung. Diese will an der Veranstaltung festhalten, sie aber aus sicherheits- und hygienetechnischen Gründen aus der sich öffnenden Stadt fernhalten. Jetzt findet der Jahrmarkt erstmals innerhalb des Stadtgebietes, wenn auch an der Peripherie, nahe einem sich bildenden Viertel statt. Seit 1895 bestimmt ein Gemeindereglement der Stadt Luxemburg den Ablauf des Festes. Die entstehende einheimische Literatur beschäftigt sich mit den alltäglichen Dingen und den Traditionen. So auch mit der Schueberfouer. Die Nationaldichter Dicks (Edmond de la Fontaine 1883), Michel Lentz oder Willy Goergen widmen ihr so manchen Vers oder Zeile. Eines der Leitmotive ist die Sorge um die passende Sonntagskleidung. Dabei kommen auch die landestypische Esskultur und das rege Treiben und Feilschen in der Schefferallee nicht zu kurz. Was einmal ein Ort des Handels war, ist zu einer volksfestähnlichen Begegnungsstätte sämtlicher gesellschaftlicher Schichten geworden. Alles in allem zeichnet sich hier ein recht ritualisierendes Bild dessen ab, was weitaus mehr als eine bloße Kirmes ist und im gleichen Atemzug wie die Muttergottesoktave genannt wird. Das Glacis ist nicht zuletzt durch die 1885 neu gebaute Kapelle eng an den Marienkult gebunden. Die Schueberfouer wird auch mit ihrer Geräuschkulisse, vor allem dem Hämmelsmarsch, beschrieben, wel60
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cher zu einem der frühen Nationallieder wird. 1840 verfasst JeanFrançois Gangler den ersten Wortlaut. 1861 schreibt Michel Lentz einen neuen Text. 1883 geht Dicks in seinen „Luxemburger Sitten und Bräuche“ ebenfalls auf die Schuebermëss ein. Er unterstreicht den nationalen Charakter des Festes, das mit der Hauptstadtkirmes zusammenfällt. Die Anlehnung der Veranstaltung an die neuen patriotischen Gefühle und Emblem einer jungen Nation macht die Schueberfouer zu einem wesentlichen Bestandteil der Luxemburger Identität. Um 1840 gibt es bei der Eröffnung Volksbelustigungen, wie zum Beispiel das Erklettern eines glatt eingeseiften Baumes, an dessen Krone Preise auf die Wagemutigen warten. Mit der Industrialisierung wandelt sich das Erscheinungsbild des Jahrmarktes. Durch den Rückgang des Ackerbaus gerät der Viehhandel ins Hintertreffen. 1847 werden landwirtschaftliche Maschinen aus der Gusseisenfabrik Colmar-Berg auf der Fouer vorgeführt. Einige der modernen Großkaufhäuser, wie der Bazar Champagne öffnen hier sogar eine vorläufige Zweigstelle. Sonderzüge fahren, um die Besucher zum Platz zu bringen. Doch mit der Demokratisierung der Gesellschaft greifen die Menschen auf das Warenangebot des Einzelhandels und der Großkaufhäuser zurück. Die Fouer ist keine Handelsmesse mehr. Das Feld öffnet sich nun für das Das Feld öffnet sich nun für die „Fest-, Freizeit- und Amüsierelemente“. (Irsigler, S.22) Panoramen, Moritatensänger wie die „Seckbach“ samt Leierkasten, Schaubuden mit Gauklern, Akrobaten, Muskelmännern, Zauberern oder Abnormitäten und Kuriositäten sind wichtige Bestandteile des Volksvergnügens auf dem Limpertsberg. 1897 zieht der Kinematograph auf den Luxemburger Kirmesplatz ein. Bis zum Aufkommen der Kinosäle nach 1908 bleibt dies ein Kassenschlager. Jahrelang stehen hier zwei Kinos. Zwischen 1886 und 1889 bietet auch der feste Zirkusbau Cirque Renquin in unmittelbarer Nähe des Festplatzes etwa 2.000 Zuschauern ein abwechslungsreiches VarietéProgramm am Rande der Fouer. Neben dem Gastspiel von Wanderzirkussen und Konzerten zieht besonders der Luxemburger Muskelmann John Grün, genannt „Hercule Grün“, die Menschen scharenweise an. 1904 wird das offenbar unästhetische Gebäude schließlich abgerissen. Nach der Jahrhundertwende multiplizieren sich die Restaurationsund Ausschankbetriebe auf dem Platz. Einige bekannte Restaurateure lassen sich mit einer Filiale auf der Schueberfouer nieder. Von Kalbskopf über Ochsenzunge, Frankfurter Würstchen bis hin zu 61
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gebackenem Moselfisch, für jeden Geschmack ist etwas dabei. Der Fouerfësch wird übrigens 1904 zum ersten Mal schriftlich erwähnt. Um den Glacis herum gibt es eine Fülle an Wirtshäusern und Gartenwirtschaften, wie der Westeschgaart, der Biweschgaart oder die Flesch, in welchen ebenfalls Filmvorführungen stattfinden. Nun gastieren auch während einer Spielwoche Wanderzirkusse am Rande der Fouer; 1906 sogar William Cody mit seiner spektakulären Buffalo Bill Wild West Show. Boxbuden, wie der Boxing-Palast von Roose, sind weiterhin sehr beliebt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges treten jedoch die Fahrgeschäfte in den Vordergrund. 1910 bringt der deutsche Ingenieur Hugo Haase mit seiner Figur-8Bahn das erste große Schienengeschäft nach Luxemburg.
Ein moderner Rummelplatz mit Jahrmarkt stradition Während des Ersten Weltkrieges wird das Großherzogtum vom Deutschen Reich völkerrechtswidrig besetzt. Die Schueberfouer fällt fünf Jahre aus. Der Hämmelsmarsch samt Umzug und der verkümmerte Viehmarkt am Kirmesmontag sind die einzigen Überbleibsel aus Friedenszeiten. Dem Kriegstagebuch eines Luxemburgers entnehmen wir: „Der Schobermessplatz, wo sonst laute ungebundene Freude herrschte, steht trostlos leer.“ Nach dem Krieg stehen in Luxemburg viele bekannte Fahrgeschäfte. Wanderkinos sind nur noch selten anzutreffen. Nach 1920 blühen die Gartenwirtschaften richtig auf. Der 85 cm große Georges Weyer aus Grevenmacher (im Volksmund: „De klenge Georgely“) gehört mit seiner Drehorgel zum Fouer-Folklore. In den Dreißigern stechen neben den zahlreichen Schaubuden, dem Tobboggan, den neuartigen Schiffsschaukeln und der Achterbahn, auch Rundfahrgeschäfte, wie die „Raketenfahrt“ oder die Raupe hervor. Als wichtigste Neuerung gilt der aus den USA importierte Autoskooter. Die Standplätze werden öffentlich versteigert und von einer Kommission verteilt. Neben den vorwiegend aus Luxemburg stammenden Beschickern kommen auch Schausteller aus Deutschland, Belgien und Frankreich. Insgesamt aber leiden sie unter einer schwierigen Konjunktur. Der Zweite Weltkrieg beginnt am 1. September 1939. Die Schueberfouer wird abgebrochen. Am 10. Mai 1940 wird Luxemburg von Hitler-Deutschland besetzt. Im August tritt eine Zivilverwaltung in
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Kraft. In diesem Jahr gibt es keinen Jahrmarkt. Während der Okkupationszeit versuchen die Nazis, den Jahrmarkt einzudeutschen. Der Jahrmarktgründer Johann der Blinde wird zum urdeutschen Stammvater der Luxemburger verklärt. Doch der Unabhängigkeitswillen der Luxemburger ist stärker. Vom 22. bis zum 27. August 1941 kündigt sich der Circus Busch aus Berlin an. Mit einer Flugblätteraktion stachelt der einheimische Widerstand jeden „treue[n] Luxemburger“ dazu an, sich von der „Schobermesse“ und insbesondere von den Zirkusvorstellungen fernzuhalten. Die BuschDirektion erhält am 21. August einen Drohbrief, in welchem sie zum Abbruch aufgefordert wird. Am 24. August ist das Zelt abgebaut. Der Zirkus zieht sich ins Reichsgebiet zurück. Die Veranstaltung bleibt vom Krieg gezeichnet. Am 30. August 1942, dem Fouersonndeg, verkündet der Chef der Zivilverwaltung, Gauleiter Gustav Simon, die Zwangsrekrutierung großer Teile der einheimischen Jugend in die deutschen Streitkräfte und löst am darauf folgendem Tag eine Welle von Streikunruhen quer durch das Großherzogtum aus. 1944 ist es im Zuge des alliierten Vormarsches und der bevorstehenden Befreiung unmöglich, den Jahrmarkt abzuhalten. Die Schueberfouer der Nachkriegszeit ist entsprechend der wirtschaftlichen Lage bescheiden. Es dauert bis Mitte der Fünfziger Jahre ehe wieder verstärkt ausländische Betriebe den Weg nach Luxemburg finden. Das Centre d’Accueil des Forains, eine Kindertagesstätte für Schaustellerkinder wird ins Leben gerufen. Sie wird spürbar zur europäischen Integration innerhalb der Schaustellerei beigetragen. Die Sechziger Jahre bringen der Schueberfouer einen bemerkenswerten Aufschwung. Ein wichtiges Leitmotiv in der Presseberichterstattung jener Jahre ist der traditionelle Charakter der Veranstaltung. Die Schueberfouer wird als „der stärkste Magnet im Kreislauf der weltlichen Feste des Jahres“ bezeichnet. Mitte der Sechziger Jahre werden zwischen 120 und 130 Standplätze vergeben. In der Presse geht von einem „Miniatur-Oktoberfest“ die Rede. Vor allem die Zahl der Gastronomiebetriebe, die im Volksmund so genannten „Frittebuden“, steigt beachtlich. Seit 1966 werden übrigens Luxemburger Künstler mit der Gestaltung der Eingangsportale beauftragt. Zur Eröffnung gibt es Ende der 60er Jahre einen Eröffnungsball. Bis 1965 liegt die Organisation in den Händen des hauptstädtischen Service de l’Electricité (Elektrizitätsdienst). Danach kommt es innerhalb der Stadtverwaltung zu einer Umstruktierung der Ämter.
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Die Entwicklung und die Vermarktung neuer Fahrgeschäfte, wie z. B. Skilift, Hully Gully, Calypso oder Bayern Kurve sorgen auch in Luxemburg für einen attraktiveren Festplatz. Die Einweihung der Familienachterbahn Super Railway 1965 bleibt ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der Schueberfouer. Die unter der Leitung von Schwarzkopf in Italien gebaute Monorail-Achterbahn von Emile Lapp ist in den 60er Jahren mit 56 x 17 Metern Grundfläche, 14 Metern Gesamthöhe, 720 Metern Schienenlänge, 90 km/h Höchstgeschwindigkeit, 120 Tonnen Gesamtgewicht die größte Europas. Bis 2007 gastiert sie – seit 1975 unter der Regie von Familie Bouvier-Paillet – fast ununterbrochen auf dem Glacis. Eine Steilwand treffen wir hier übrigens bereits Ende der 60er Jahre nicht mehr an. Schaubuden sind nach wie vor gefragt. Die Madame ohne Unterleib oder die Parade zur Frau ohne Kopf ziehen einen regelrechten „Kometenschweif zahlender Kunden“ an. Der Autor und Journalist Pol Aschman bringt den Reiz dieser Art des Zur-Schau-Stellens auf den Punkt: „Je es war der Teil des Volksfestes, zu dem das Publikum vorher wusste, dass es kräftig eingeseift wurde, nur gespannt darauf, auf welche Weise es diesmal geschähe.“ In den Siebziger Jahren steigert die Fouer erneut ihre Popularität. Ein Festkomitee, das Comité des festivités de la Schueberfouer, wird gegründet. Europäische Schaustellerkollegen sowie Vertreter der Stadtverwaltung befassen sich nun bereits Monate vor Beginn der Veranstaltung gemeinsam mit dem Rahmenprogramm. Ein am letzten Fouerfreitag abgehaltener Schaustellergottesdienst in der Glaciskappelle samt Empfang von Heimkindern, ein Familientag, eine Journée populaire samt Feuerwerk am Abschlusstag werden ins Leben gerufen. Der Festplatz wird völlig umgestaltet. 1973 zieht das 45-Meter Jupiter Riesenrad von Louis Kallenkoot auf den jetzigen Stammplatz am unteren Teil des Hauptplatzes. Damit erhält die Fouer neben dem Super Railway einen neuen optischen Angelpunkt. Das Glacisfeld bekommt eine moderne Infrastruktur. Künftig werden sowohl der obere, als auch der untere Platz bebaut. Wanderzirkusse gastieren nicht mehr zur Messezeit in Luxemburg. Mitte der Achtziger bis Mitte der Neunziger Jahre ändert der Platz erneut sein Antlitz. Umbauarbeiten am Boulevard de la Foire und am Rond-Point Schuman verkleinern die Fläche des Jahrmarktes. Dann werden die Sicherheitsbestimmungen auf den Stand der zeitgenössischen Anforderungen gebracht. Schließlich verschwinden die Wohnwagen und die Zugmaschinen der Schausteller größtenteils vom Glacis. Trotz aller Änderungen ist die Ästhetik und das Angebot ausländischen Kirmesveranstaltungen angepasst. Immer 64
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größere, schnellere und höhere Fahrgeschäfte gastieren in Luxemburg dank innovativer Schausteller wie William Bouvier oder der Familie Ludewigt.
Die Schueberfouer, Luxemburger Tradition mit europäischem Charakter Im Laufe der Jahrhunderte wächst die Schueberfouer mit dem Luxemburger Brauchtum zusammen. Ihr Ablauf orientiert sich mindestens seit 1895 an zwei Eckdaten. Der Beginn bleibt historisch an den 24. August, das Fest des Heiligen Bartholomäus, gebunden. Bis 2005 dauert der Jahrmarkt bis einschließlich zu dem auf das Kirchweihfest der Stadt Luxemburg folgenden Montag. Das Kirchweihfest seinerseits, die so genannte Stader Kirmes, ist auf den Sonntag nach Johannis Enthauptung am 29. August festgelegt. Wenn der 29. August allerdings auf einen Sonntag fällt, ist dies automatisch auch der Kirmessonntag. Diese Umstände erklären, weshalb in der Luxemburger Sprache der Kirmessonntag der Stadt Luxemburg auch noch Schuebersonndeg oder Fouersonndeg und der Montag, Schueberméindeg, Fouerméindeg oder allgemeiner Kludderméindeg genannt wird. Das Maskottchen Lämmy zeugt von der Tradition des Hämmelsmarsches. Neue Bräuche entfalten sich. So gibt es bereits seit dem 19. Jahrhundert einen Bürgertag (Biergerdag) und einen Bauernsonntag (Baurendag). Seit 1929 hält die hauptstädtische Geschäftswelt am Fouerméindeg einen Straßenverkauf, die „Stader Braderie“, ab. 1965 treffen sich am Vorabend der offiziellen Eröffnung zum ersten Mal Mitwirkende aus verschiedenen Verwaltungen, Verbänden, Dienststellen sowie Mitglieder der Polizei (und Gendarmerie) und Feuerwehr zum ersten Fischessen im Traditionsrestaurant „Friture Joslet“ auf dem Platz. So bildet sich ein Freundeskreis, der sich 2001 zu einer Bruderschaft, der „Confrérie du Poisson d’Or“ zusammenschließt. Seit 1995 prägt ein offizielles Logo die Identität der Veranstaltung. Der Name Schueberfouer ist künftig urheberrechtlich geschützt. Gemäß der zweiten Strophe des Hämmelsmarsch-Textes von Lentz, fühlt sich der Luxemburger ob nah oder fern der Heimat zur Schuebermëss hingezogen. Dies trifft auch auf die Gemeinschaft der in die USA emigrierten Luxemburger zu. Von 1904 bis 1967 und seit 2001 feiert die Luxembourg Brotherhood in America in Rogers Park bei Chicago die Schueberfouer. Andere Bräuche sind im Laufe der Zeit verschwunden. Bis ins 18. Jahrhundert findet am Bartholomäustag eine Gedenkzeremonie
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für die 1346 in der Schlacht bei Crécy gefallenen Luxemburger Ritter statt. Der traditionelle Verzehr von Flusskrebsen auf der Fouer verschwindet mit dem Aussterben der Tiere. Seit dem 24. August 1976 gibt es keinen Bartelméismaart mehr. Heute erinnern die Namen Paerdsmart (Pferdemarkt, oberes Glacisfeld) und der Schofsmart (Schafsmarkt, unteres Glacisfeld) an den Viehhandel. 2005 schafft man die „lange Schobermesse“ ab. Die Spielzeit wurde bis dato um eine Woche verlängert, wenn der 29. August, der Tag der Enthauptung des heiligen Johannes, auf einen Montag fiel. Die Veranstaltung ist künftig auf 20 Spieltage beschränkt. Auch im 20. Jahrhundert gehen Schriftsteller auf die ausgelassenen Glacisfesttage ein. Der von einer Luxemburger Mutter abstammende französische Autor und Filmregisseur Pierre Viallet bringt in seinem 1973 verfassten autobiographischen Roman „La foire“ seine Kindheit und Jugend in den direkten Zusammenhang mit der Schueberfouer. 1977 realisiert er einen gleichnamigen Fernsehdreiteiler. In seinem 2008 veröffentlichten Fouerliddchen wirft der Schriftsteller Lex Roth ein nostalgisches Auge auf die Veranstaltung, welche den Menschen im Spätsommer Schwung in den Herbst mit gibt. Die Schueberfouer ist zu einem Volksfest mit europäischem Charakter geworden und gehört zu den sechs besten Veranstaltungen Europas. Multikulturalität steht dabei im Mittelpunkt. Veranstaltungen dieser Art gehören längst zum europäischen Kulturgut. Sie spiegeln das Bild und die Geisteshaltung einer demokratischen und freien Gesellschaft wider. Im Laufe ihrer langen Geschichte hat sich die Fouer stets dem jeweiligen sozio-ökonomischen Kontext angepasst. Die Schefferallee erinnert an ihre historischen Ursprünge. Ihren eigentlichen Erfolg zieht die Schueberfouer allerdings aus ihrem Standort auf dem Glacis. Durch den hautnahen Auf- und Abbau mit seinen positiven und negativen Erscheinungen, durch das Hineinwachsen der Kulissenstadt samt ihrer Menschen in das anrainende Limpertsberger Stadtviertel entsteht eine eigentümliche Symbiose. Seit 1340 ist die Schueberfouer dreimal umgezogen. Die Namen der heutigen Rue Jean l’Aveugle und der Rue Henri VII erinnern nicht nur an die Jahrmarktsgründung, sondern auch an den ersten Austragungsort auf dem Limpertsberg. Indem man sich hier niedergelassen hat, ist es zu einer festen Bindung zwischen der Schueberfouer und dem kollektiven Gedächtnis gekommen.
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Die Luxemburger Schueberfouer
Quellen Aschman, Pol (1968): Kluntschen Géschter Fritten a Kamellen, LW, 31 August 1968. Claudem (Hg.) (1990): Schueberfouer 1340-1990 - Untersuchungen zu Markt, Gewerbe und Stadt in Mittelalter und Neuzeit, Publications de la Banque et Caisse d’Epargne de l’Etat. Luxembourg: Editions de l’Imprimerie Saint-Paul. Emmel, Fernand G. (1989): La Schobermesse sous le régime républicain d’après les archives municipaux. In: Hémecht, 41e année, 4/1989, 527-539. Etringer, Norbert (1992): Die Schobermesse - So war sie früher. Luxembourg: Editions Emile Borschette. Fontaine, Edmond de la (1883): Luxemburger Sitten und Bräuche, Luxemburg: Verlag von Peter Brüd. Hämmelsmarsch im Wandel der Zeit. In: LW, 1965. Irsigler Franz: (2007): Messen, Jahrmärkte und Stadtentwicklung in Europa Mittelalter und frühe Neuzeit, in: Irsigler Franz; Pauly Michel (Hrsg.): Messen, Jahrmärkte und Stadtentwicklung in Europa - Foires, marchés annuels et développement urbain en Europe, Publications du CLUDEM, Trier : Porta Alba Verlag, S.1-24. Kayser, Steve (2007): Schueberfouer - déi Lëtzebuerger Traditioun zënter 1340. Luxembourg: Editions Schortgen. Nos cahiers – Lëtzebuerger Zäitschrëft fir Kultur – numéro spécial Schueberfouer 2/3, coordination Steve Kayser. Luxemburg: Éditions saint-paul, 2008. Pauly, Michel (2007): Der Beitrag der Messen und Märkte zur mittelalterlichen Integration Europas, in: Irsigler, Franz/Pauly, Michel: Messen, Jahrmärkte und Stadtentwicklung in Europa – Foires, marchés annuels et développement urbain en Europe, Trier: Porta Alba Verlag, 285-314. Roth, Lex (2008): d’Milly-Maus an aner Dichtereien. Luxembourg: Éditions saint-paul. Schobermessen im 1 Weltkrieg. In: Tageblatt n° 192, 23.08.1969. Wagner-Mergen, Viviane (1995): Les rues anciennes du Limpertsberg, in: Weekend Culturel Lamperbierg’95: Regard culturel sur le Limpertsberg. Luxembourg, 13-49.
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Kino der Attrakt ionen INTERVIEW MIT ULRIKE OTTINGER
Frage: Mit Prater machst du einen Sprung vom Kino der Stationen zum Kino der Attraktion: Während in deinen bisherigen Filmen der Wechsel zwischen Stillstand und Bewegung Struktur gebendes Element war, führen deine Reisen den Zuschauer jetzt nicht mehr nach China, Russland oder in die verschlungene Unterwelt Berlins. Stattdessen spielt sich alles an einem einzigen Ort ab - dem Prater in Wien. Was hat dich an diesem Ort so fasziniert? Ulrike Ottinger: Was du einen Sprung nennst, ist für mich ein verbindender Spagat. Und, um in der Prater-Terminologie zu bleiben: Diese Kunststücke, Beziehungen zwischen Dingen herzustellen, die auf den ersten oberflächlichen Blick nichts miteinander zu tun haben, sind ja meine Spezialität. Auch die Praterbesucher folgen einer Stationendramaturgie, denn man wandert wie in einer Springprozession von Attraktion zu Attraktion. Der Prater ist über die Praterstraße in direkter Linie mit der Innenstadt verbunden. Vom Riesenrad kann man zum Stephansdom blicken und umgekehrt - ein Bild für die Verbindung von Sünde und Buße. Deshalb geht es traditionell nach der Firmung im Stephansdom zum Vergnügen in den Prater. Viele Generationen von Österreichern folgten und folgen noch heute dem Ritual dieser doppelten Initiation. Obwohl der Prater in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt liegt, ist er ein exterritorialer Ort. Hier ist - fast - alles möglich. Die Armen begegnen den Reichen; das Land der Stadt; die Ausländer den Urwienern. Für die wohlhabenden Vergnügungs-reisenden, vor allem aus Indien oder den Emiraten, ist der Praterbesuch fester Bestandteil ihrer Europareise. Vielleicht haben ihre neuen Reiseführer aus alten Baedekern abgeschrieben, oder sie haben eine spezielle Vorliebe für diese Art von Vergnügungen.
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Oskar Pastior erzählte mir wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod eine Pratergeschichte, die er eigentlich selbst im Film erzählen wollte. Zusammen mit seiner Mutter reiste er, aus Rumänien kommend, nach Wien. Wenn man die Donau aufwärts fuhr, dann wurde damals stolz gesagt: „Wir reisen nach Europa.“ Oskar Pastior war damals ein Junge von etwa dreizehn Jahren; seine Mutter war eine begeisterte Charleston-Tänzerin. Mit ihrer lebensfrohen Unkonventionalität wurde ihr das behäbige Hermannstadt manchmal etwas zu eng. Deshalb genoss sie die seltenen Ausflüge in die Metropole ganz besonders. Schon am ersten Tag gingen sie in den Prater. Ihr Ziel war das Hotel ‚Mysteriös‘. Es hatte bewegliche Treppenstufen, Teppiche, in denen man plötzlich versank, Dielenbretter, die sich verschoben, sobald man seinen Fuß darauf setzte, und Gebläse, die den berühmten Marilyn-Effekt produzierten. Der kleine Oskar betrat also bangen Herzens mit seiner Mutter das Hotel ‚Mysteriös‘, diesen Ort der Sinnestäuschungen. Alle Herausforderungen an Geschicklichkeit wurden von seiner Mutter nicht nur bravourös gemeistert, sondern sie gab zum Vergnügen der Menge Charlestoneinlagen, während Oskar als kleiner Tollpatsch hinterherstolperte. Dies alles konnte von der unten stehenden Menge beobachtet werden, die sich aus diesem Grunde auch immer sehr zahlreich dort aufhielt. Die kleine Show muss so erfolgreich gewesen sein, dass der Schaubudenbesitzer den beiden freien Eintritt anbot, wann immer sie wollten.
Abbildung 1: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger
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Der Prater als ältester Vergnügungspark der Welt war im alten Europa ein feststehender Teil eines Vergnügungs- und im weitesten Sinne auch Kulturprogramms. Der Prater war Modell für Budapest, für Coney Island in New York und auch den alten Treptower Park in Berlin, von dem noch die Emigranten schwärmten, die ich für EXIL SHANGHAI interviewt hatte. Das Faszinierende an diesem Ort ist, wie Geschichte, eigentlich die Kulturgeschichte der Vergnügungen, quer zu Ständen, sozialen Schichten, Zeitgeist, Moden, technischen Entwicklungen und Erfindungen, in frappierender Weise sichtbar wird. Eine zweihundertfünfzigjährige Geschichte, zu deren Beginn der einst kaiserliche Garten und das Jagdgebiet der Aristokratie für jedermann geöffnet wurde: als Erholungspark im ‚Grünen Prater‘ und als Vergnügungspark im sogenannten ‚Wurstelprater‘ (von Hanswurst).
Abbildung 2: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Frage: Mit deinem Film stellst du eine alte Verbindung wieder her: Jahrmarkt und Kino. Ein Nachkomme einer der Praterdynastien berichtet davon, wie seine Vorfahren das Kino als Attraktion für den Prater entdeckten und daraus eine Kinokette wurde. Die nächste Etappe für die Familie nach der Zerstörung des Praters im Jahre 1945 bestand darin, dass der erste Autoscooter angeboten wurde, also ein Fahrgeschäft. Du nimmst den Zuschauer in diese Erlebniswelt mit, wenn du zum Beispiel die Kamera auf die Wagen montierst und mit in die Luft fliegen lässt, wenn du visuell den körperlichen Reiz von Jahrmarktattraktionen auslöst. Welche Rolle spielen für dich als Regisseurin und Fotografin Verführung und Attraktion?
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U.O.: Die Schaubuden werden hier Illusionsgeschäfte genannt, und das trifft ja auch für das Kino zu. Es arbeitet mit der Strategie der Verführung, zu der auch die eigene Imagination kommen muss, damit die Sache aufgeht. Speziell bei diesem Film habe ich nochmals über das Thema Illusion und Imagination, Imitation und Simulation, beziehungsweise Simulationstechniken, neu nachgedacht. Das frühe Kino ist ja ein Kino der Attraktionen, und sein Geburtsort ist der Rummel. Es hat viel mehr mit dem siamesischen Zwilling Illusion und Imagination zu tun als das heutige, kommerzielle Kino. Es ist ja vor allem ein Simulationskino geworden, analog zu den Spielhallen, deren Produkte auch Derivate aus der Weltraumforschung und Pilotenausbildung sind. Der Bauchredner, der scheinbar seine Puppe sprechen ließ, ist eher ein Imitator im alten Sinne, ähnlich den Tierstimmenimitatoren in nomadischen oder Jäger-Gesellschaften. Was ist Illusion? Ist sie ein Schaukelpferd, mit dem ein Kind im wilden Galopp dahersprengt, ist sie ein Schneeparadies in einer eisgekühlten Mall der Emirate, in dem Gipfelsturm und Pistenfreuden in High-Tech-Ausrüstung und -Outfit erlebt werden können? Ist sie eine Weltraumfahrt, ein Flug in einem Kampfjet, Rennboot oder Motorrad mit Hilfe neuer Simulationstechniken?
Abbildung 3: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Entspringt dies dem Wunsch, sich etwas zu verschaffen, was man gerne hätte, aber aus Kosten- oder anderen Gründen nicht hat? So haben die alten Vergnügungsstätten die Wünsche der Menschen in einem fantasievollen Illusions- oder Imitationstheater erfüllen können. Der Wunsch nach einer Reise um die Welt wurde in aufwendigen Panoramen, durch die man in fantastisch illuminierten Szene-
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rien fuhr, befriedigt. In der Weltausstellung konnte man an einem Nachmittag von Konstantinopel über Kairo nach Kyoto spazieren und auf dem Rückweg einen Abstecher nach New York oder Sydney machen, im Wachsfigurenkabinett den Großen der Welt Auge in Auge gegenüberstehen, seine Sensationslust mit wohligem Schauer im direkten Vis-à-vis mit einem berüchtigten Mörder befriedigen und das Anrüchige guten Gewissens unter dem Deckmantel des Belehrenden betrachten.
Abbildung 4: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Interessant für meine Bildgestaltung war die Möglichkeit, Attraktionen wie Starflyer, ein Riesenkarussell, die Super-8-Bahn, das Blumenrad, die Geisterbahn oder das Riesenrad für Kranfahrten zu nutzen. Das wirkt dann wie sehr aufwendige Kranfahrten. Aufwendig waren sie natürlich hinsichtlich der Kamerabefestigung, denn man hatte es mit enormen Fliehkräften zu tun. Als Kamerabewegung habe ich ausschließlich diese Fahrten genutzt, das war das ästhetische Prinzip; sonst das Stativ, vor allem für die Praterarchitektur und einige wenige Handkameraszenen mit Menschen, denen spontan zu folgen war. Im Ejection Seat, einer extremen Schleuderattraktion, bei der Mutige in den Himmel hinauf geschossen werden, war eine Kamera eingebaut, die mit einem Monitor für die Zuschauer verbunden war. Davor stand immer eine
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Menschentraube, die fasziniert die Angst- oder Lustschreie verfolgte. Später konnte ein Videomitschnitt vom Himmelsflug gekauft werden. Ich habe diese Möglichkeit genutzt und unsere kleinere HDV angeschlossen - so waren wir ‚live‘ dabei.
Abbildung 5: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Frage: Ein anderes Moment der Verführung findet statt, wenn Veruschka von Lehndorff, die in einem deiner früheren Filme den Dorian Gray spielte, ins Spiel mit den Zerrspiegeln vertieft die Welt vergisst. Der Zuschauer versinkt gemeinsam mit ihr in diesen visuellen Experimenten. Nicht nur Veruschka taucht wieder auf, wir sehen auch Ausschnitte aus Freak Orlando, der die Weltgeschichte der Freaks in fünf Akten erzählt. Inwiefern haben die filmischen Möglichkeiten, das Spiel mit der Illusion, das dir dein Thema erlaubt, mit deinen früheren Filmen zu tun? U.O.: Der Spiegel, noch mehr aber der Zerrspiegel, hat eine wichtige Bedeutung für mich. Er kommt in den meisten meiner Filme vor, ganz besonders in der Berlin-Trilogie. Tausende von Fotostudien mit Tabea Blumenschein, Magdalena Montezuma und auch einige mit Veruschka sind seit Anfang der siebziger Jahre bis heute entstanden. Es ist ein beunruhigendes oder groteskes, manchmal auch komisches und sehr aussagekräftiges Bild für Verzerrung, Verschiebung, Metamorphose, Überblendung oder Verschmelzung. DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE mit Veruschka als Dorian Gray operiert sehr stark mit diesen Möglichkeiten. In Bildnis einer Trinkerin mit Tabea Blumenschein lösen sich Spiegelbilder auf, indem sie mit Flüssigkeiten begossen werden. Bei FREAK ORLANDO ist das Verfremdungsmittel die Metamorphose. In diesem Zusammenhang fällt mir mein Erschrecken ein, als ich bei meiner ers-
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ten Indienreise am Fuße von Tempeltreppen oder Innenhöfen auf Bettler, Lepröse oder durch Elefantiasis verunstaltete Menschen traf, wie ich sie ähnlich in der Mittelalterepisode von FREAK ORLANDO ein Jahr zuvor inszeniert hatte. Es war das Erschrecken, wenn die eigene Bildwelt der Realität begegnet. Als FREAK ORLANDO entstand, 1980/81, gehörten Bettler in den Straßen noch nicht zum Alltagsbild so wie heute, wo vor allem die Armen aus Südosteuropa mit gefalteten Händen an jeder Ecke knien, so wie Stifterfiguren auf alten Bildern bescheiden am unteren Bildrand Teil der Szenerie sind.
Abbildung 6: Aus dem Drehbuch zum Film, Kontext: Prater, 2007, Abbildung: Ulrike Ottinger Frage: Deine Filme waren immer Welttheater: Sowohl die dokumentarischen Filme wie China, Die Künste – Der Alltag, in denen der Bildrahmen der Realität einen Bühnenraum verleiht, als auch deine Spielfilme, die voller Kunstfiguren sind, umgeben von einer opulenten, oft bühnenhaften Ausstattung. Auch in Prater stehen den fiktiven, teils sehr artifiziellen Momenten mehrere dokumentarische Szenen gegenüber: Du beobachtest eine Gruppe Jugendlicher, die am ‚Watschenmann‘ ihre Stärke messen, eine einsame Frau, die abends allein auf der Tanzfläche wie in Trance versinkt. Eine indische Familie verkleidet sich vor der Kamera für ein Foto. Fiktion und Dokumentation sind eng ineinander verschlungen.
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U.O.: Ja, wie in allen meinen Filmen. Die Fiktion kommt der Realität erschreckend nah, und die Realität ist eine Konstruktion, manchmal eine Illusion. Frage: Veruschka taucht als Barbarella, also als Kunstfigur auf, die den Prater besucht und uns dabei kurzzeitig an die Hand nimmt. Elfriede Jelinek, Vertreterin der Literatur als Ort der Fiktion, führt in einer anderen Episode über den Prater. Das Voice-Over ist eine Mischung aus Berichterstattung und Märchenerzählung, gesprochen vom Schauspieler Peter Fitz. Welche Rolle spielen für dich diese Figuren im Dokumentarfilm?
Abbildung 7: Aus dem Drehbuch zum Film, Kontext: Prater, 2007, Abbildung: Ulrike Ottinger U.O.: Der Prater ist eine Zeitmaschine. Deshalb habe ich zusätzlich zu meinen neuen Filmbildern mit allen Arten von Zitaten gearbeitet. Auch Veruschka als Barbarella oder böse Barbiepuppe ist ein Zitat. Elfriede Jelinek hat einen persönlichen und zugleich analytischen Text für den Film geschrieben. Dieser wortgenaue Text in seiner vielfältigen Bedeutung wird von ihr gelesen. Sie zitiert sich also selbst. Das Kino ist selbstreferentiell mit dokumentarischen und Spielfilmausschnitten von der Jahrhundertwende bis in die sechziger Jahre zitiert. Aus einer unglaublichen Fülle großer Literatur habe ich Elias Canetti, Felix Salten und aus einem unveröffentlichten Typoskript von Erich Kästner zitiert. Unter den vielen fotografischen Dokumenten ist Emil Mayer besonders bemerkenswert. Er hat den Prater von der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre foto-
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grafisch festgehalten, mit einer Vorliebe für die Beobachtung der Zuschauer. Musik von mechanischen Musikautomaten, KirmesOrgeln, Orchestrions, Walzen, Lochkarten, mechanischen Puppen, Musicboxen und auch die Ohrwürmer der verschiedenen Zeiten werden zitiert. Diese Zitate, in Verbindung mit den neuen Bildern, zeigen nicht nur Geschichte, sondern bilden ein Amalgam, in dem eine erstaunlich konstante Struktur der Vergnügungen über die Zeiten hinweg deutlich sichtbar wird. Frage: Der Prater ist ein Freizeitvergnügen für die Masse, gleichzeitig ein Abbild sozialer Gefüge: Tagsüber ist er offen für Familien mit Kindern, abends für Erwachsene, für Paare, für Gruppen, zu allen Zeiten für Jugendliche. Dennoch spricht aus deinem Film auch das Thema der Einsamkeit: Veruschka im Spiegelkabinett, die authentische Angst einer Frau im Schleudersitz kurz vor dem Abflug, die allein tanzende Frau, und sogar die einsame Kamera, die die Jugendgruppe beobachtet. Welche Funktion hat der Prater als sozialer Ort?
Abbildung 8: Aus dem Drehbuch zum Film, Kontext: Prater, 2007, Abbildung: Ulrike Ottinger U.O.: Wie schon Exil Shanghai berichtet auch Prater über einen Ort, der exterritorial ist. Diese Orte sind Modelle der Welt im Kleinen. So wie das Shanghai der dreißiger und vierziger Jahre die weltpolitische Situation wie in einem Brennglas fokussiert, denn alle am Zweiten Weltkrieg beteiligten Parteien auf beiden Seiten waren ja in Shanghai anwesend. Der Kolonialismus ging zögerlich zu Ende, die verschiedensten chinesischen Reformbewegungen waren
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virulent, und die Nationalisten unter Chiang Kai-shek kämpften gegen die Maoisten. Alle prekären sozialen und politischen Fettnäpfchen waren an einem Ort präsent, und es wurde kräftig in sie hineingetreten. Auch der Prater ist ein Modell im Wandel der Zeit, Moden und Technik. Die Entwicklungen zu einer städtischen Gesellschaft und dann zum globalen Dorf mit seinen veränderten Lebensbedingungen sind am Prater besonders deutlich abzulesen. Das, was dem Zeitgeist entsprechend attraktiv ist, wird geboten. Die Weltraumbegeisterung brachte den Ejection Seat, das Mozartjahr den Mozart-Flip, die Entwicklung ging vom handbetriebenen Karussell zur High-Tech-Schleuderattraktion. Testversuche mit Astronauten, deren Belastbarkeit und Grenzen bei Beschleunigung oder extremer Abbremsung ermittelt werden sollte, brachten dem Prater neueste Extremattraktionen. Frage: Du reist mit diesem Film nicht in fremde Welten. Aber die Ferne wurde im Prater nachinszeniert, sozusagen herangeholt. Der Praterbesucher konnte Postkarten aus Klein-Venedig an die Daheimgebliebenen schreiben. 1896 wurde ein Aschantidorf nachgebaut. Seine Bewohner, die aus Afrika eingeschifft wurden, lebten darin wie im Zoo: Der Besucher konnte an diesem Big Brother-Szenario teilhaben. Im Laufe der Zeit kamen die vorgeführten Menschen mit den Österreichern in engen Kontakt. Wie bewertest du diese - mal einer touristischen, mal einer kolonialistischen Imagination entsprungenen - ‚Weltoffenheit‘, die der Prater zur Schau stellte? U.O.: Neben dem Aschantidorf gab es auch Kabylen, FidschiInsulaner, Hottentotten, Indianer, Lilliput-Städte, die vom Publikum besichtigt werden konnten. Ich glaube, es hat mit einem enzyklopädischen Weltbild zu tun. Damals hatten fast alle europäischen Länder ihre Kolonien, und ein Vorherrschaftsdenken der sich selbst als ‚zivilisiert‘ betrachtenden Gesellschaften war allgemeiner Konsens. Gleichzeitig gab es Reformbewegungen nach dem Motto ‚Zurück zur Natur‘, die in diesen ‚Wilden‘ ihr Ideal eines ‚natürlichen Lebens‘ verkörpert sahen. Es gab Künstler, die in exotische Länder reisten, Schriftsteller oder Dichter-Ethnologen, deren Arbeit und Fantasie stark von diesen Kulturen beeinflusst wurde. Der Blick auf die Völkerschauen war ein äußerst widersprüchlicher und oft von Ignoranz und Gefühlskälte gegenüber dem und den Fremden geprägt. Frage: Aus deinem Film Taiga stammt folgendes Lied der Schamanen, das durchaus auch im Vorspann von Prater stehen könnte:
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Oben der Himmel, unten die Erde. Seht meine Herde, vom Norden. Seht meine Pferde, vom Süden. Schaut, seht, kommt. U.O.: P.S.: Der Film ist gerade fertig geworden. Ich sitze in einem Wiener Kaffeehaus bei der dritten Melange und beantworte deine Fragen. Wo in Deutschland gibt es den öffentlichen Raum, in dem man so komfortabel und ungestört und ohne einen Anflug von Konsumzwang sitzen, denken, schreiben, träumen kann? Die Fragen stellte Stefanie Schulte-Strathaus, Januar 2007 Erstveröffentlichung dieses Textes in: Internationales Forum des Jungen Films (Hg.) (2007): Katalog des 37. Internationalen Forums des Jungen Films“. Berlin. o.V., 132-137
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Abbildung 2: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Abbildung 3: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Abbildung 4: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Abbildung 5: Während der Dreharbeiten (2006), Kontext: Prater, 2007, Foto: Ulrike Ottinger Abbildung 6: Aus dem Drehbuch zum Film , Kontext: Prater, 2007, Abbildung: Ulrike Ottinger Abbildung 7: Aus dem Drehbuch zum Film, Kontext: Prater, 2007, Abbildung: Ulrike Ottinger Abbildung 8: Aus dem Drehbuch zum Film, Kontext: Prater, 2007, Abbildung: Ulrike Ottinger
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E intauchen in die Masse. E in kurz er Abriss der vier größten Volk sfe st e in Deut schland ANDREA HARTL
Jährlich werden in Deutschland mehr als 12.000 Volksfeste gefeiert und damit ist die Bundesrepublik „das Volksfestland Nummer eins in der Welt“ (Deutscher Schaustellerbund 2007). In jeder Stadt und oft auch in kleineren Ortschaften gibt es Volksfeste, die hauptsächlich für das Vergnügen der Einwohner alle Jahre wieder zu einem bestimmten Zeitpunkt zelebriert werden. Volksfeste eignen sich aber nicht nur als Treffpunkt für die Einwohner des jeweiligen Ortes, sondern auch – vor allem für die größeren – zur touristischen Vermarktung. Eng damit verbunden ist der Städtetourismus, der über Tages- oder Kurzreisen viele Besucher in die Region lockt. Auch international haben Volksfeste als deutschlandspezifisches Angebot eine immense Anziehungskraft und tragen zur Imagebildung Deutschlands bei. Auf den deutschen Volksfesten werden jährlich über zwei Milliarden Euro von etwa 180 Millionen Besuchern umgesetzt. Volksfeste ziehen demnach in Deutschland mehr Besucher an als die Bäder, Kinos oder Theater. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass die überwiegende Anzahl der Volksfeste kleine Feste mit weniger als 100.000 Besuchern mit lokalem Bezug sind. Danach folgen etwa 180 mittlere Feste und als kleinste Gruppe die großen Volksfeste mit über 750.000 Besuchern, von denen es etwa 30 in Deutschland gibt. An erster Stelle der Spitzengruppe steht das Münchner Oktoberfest mit etwa sechs Millionen Besuchern. Danach folgen der Bremer Freimarkt, die Cranger Kirmes in Herne und das Cannstatter Volksfest in Stuttgart mit jeweils vier Millionen Besuchern im Jahr.
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Das Oktoberfest Das Münchner Oktoberfest ist unumstritten das größte Volksfest der Welt und zieht jährlich Besucher von nah und fern in seinen Bann. Damit ist das Oktoberfest nicht nur ein wichtiger Eckpfeiler im Münchner Jahreslauf, sondern auch „ein Leuchtturm“ (Nagy 2007: 11) in der touristischen Landschaft geworden. Nach Florian Nagy geht diese Entwicklung besonders auf die 1970er Jahre zurück, „als München mit den Olympischen Spielen 1972 vom etwas verschlafenen, süddeutschen Provinznest zur Weltstadt avancierte“ (Nagy 2007: 77) und die Welt auch das Oktoberfest entdeckte. Wichtig dabei war der hohe Emotionsfaktor des Festes, der nach wie vor „Begriffe wie Gemütlichkeit, Lebensfreude, bayerische Lebensart und Genuss, nicht zuletzt den des Münchner Bieres, in alle Welt“ (Nagy 2007: 11) transportiert. Aber wo finden sich die Wurzeln des größten Volksfestes der Welt? Der Ursprung des Oktoberfestes geht auf das Jahr 1810 zurück, als es in Form eines Pferderennens an die offiziellen Hochzeitsfeierlichkeiten des bayerischen Kronprinzenpaares Ludwig (1786–1868) und Prinzessin Therese Charlotte Louise von Sachsen-Hildburghausen (1792–1854) angeschlossen wurde. Das Fest fungierte als „Nationalfest“ und half, die junge Dynastie der Wittelsbacher zu festigen. Bereits 1810 wurde vor und nach dem Pferderennen für Speis und Trank aller Art gesorgt, denn die Abgabe von Speisen und Getränken war den „Traiteurs“ schon damals erlaubt. Damit „ist die Oktoberfesttradition des Münchner Gastgewerbes eindeutig bereits für das Jahr 1810 gesichert.“ (Bauer und Fenzl 1985: 12) Und auch die ersten Zelte konnten bald auf der Anhöhe über der Rennbahn gefunden werden. Das Münchner Oktoberfest sollte von Anfang an ein Freudenfest sein. Für das Vergnügen der Zuschauer des Oktoberfestes sorgten ab 1811 die ersten Karussells und Schaukeln (vgl. Destouches 1835: 10). Die ersten Bierbuden auf dem Festareal tauchten 1818 mit der Fischbraterei auf. 1818 geht außerdem die erste Phase der Oktoberfeste zu Ende. Von 1811 bis 1818 wurden die Feste vom Landwirtschaftlichen Verein veranstaltet, der die Geschicke ab 1819 an den städtischen Magistrat übergab (vgl. Hoferichter/Strobl 1960: 11). Seither ist das Oktoberfest fest in städtischer Hand. Die Bavaria konnte 1850 enthüllt werden und ist sogleich das Wahrzeichen für die Festwiese geworden. Durch den Boom der Eisenbahn wurden 1853 (vgl. Destouches 1910: 29 ff) die ersten OktoberfestSonderzüge zu besonders günstigen Preisen durchgesetzt und brachten noch mehr Besucher als bisher auf die Wiesn. 82
Ein kurzer Abriss der vier größten Volksfeste in Deutschland
Zu großem Ruhm brachte es Michael August Schichtl (1851–1911), der 1872 sein erstes Theater auf dem Oktoberfest eröffnete. Aber auch andere Namen wie Carl Gabriel (1857–1931) und der „Karussellkönig“ (Dering 1986: 163) Hugo Haase (1857–1933) klangen in den Ohren der Wiesnbesucher. Daneben gab es zahlreiche Völkerschauen, bei denen fremd aussehende Menschen zur Schau gestellt wurden und die erstmals 1879 mit Hagenbecks Nubierkarawane auf das Oktoberfest einzogen. 1895 kam die erste Hexenschaukel, 1908 die erste Achterbahn Deutschlands – 1910 wurde durch Hugo Haase die erste transportable Achterbahn aufgestellt – oder 1910 das Teufelsrad nach München. 1881 ist die erste Ochsenbraterei auf dem Oktoberfest vertreten, die vom Metzgermeister Johann Rössler betrieben wurde (vgl. Möhler 1981: 108). Ende des 19. Jahrhunderts war das Oktoberfest nun von den großräumigen Bierzelten und den immer zahlreicher werdenden Schaustellungen und Fahrgeschäften geprägt. Daran schloss sich um 1900 die Blütezeit von Zoos, Menagerien, Panoptika und Völkerschauen in der hölzernen Feststadt an. Während der beiden Weltkriege musste das Oktoberfest wie so viele andere Volksfeste in Deutschland zwangsweise pausieren. Nach den Kriegsjahren behalf man sich mit Ersatzfesten, den sogenannten „Herbstfesten“. Diese Phase wurde 1949 beendet und ein Jahr später durch Oberbürgermeister Thomas Wimmer und den Schottenhamel-Wirt der traditionelle Bieranstich zum Wiesnbeginn eingeführt. In den darauf folgenden Jahren wuchs das Oktoberfest schließlich zu einem regelrechten Massenvergnügen an. Im Jahr 1985 wurde ein großes Jubiläumsoktoberfest gefeiert und neben den sechs Münchner Großbrauereien waren auch die Traditionsgeschäfte wie der Schichtl, der Flohzirkus, die Krinoline, der Toboggan, das Riesen- und das Teufelsrad sowie die Schlangenschau vertreten. Bis heute sind diese Attraktionen übrigens auf dem Oktoberfest zu finden. Zusätzlich lässt sich die Stadt München stets etwas Neues einfallen, wenn es um das Wohl und das Vergnügen der Besucher geht. Neben dem Familien-Platzl gibt es heute Gastro-Inseln, ein ausgefeiltes Umwelt- und Sicherheitskonzept sowie einen ausgeprägten Schutz für Nichtraucher. Das Oktoberfest konnte sich im Laufe der Jahre als echtes Volksfest etablieren, musste sich jedoch gesellschaftlichen Veränderungen stellen. „Der Wandel vollzog sich vom monarchisch geprägten Fest des 19. Jahrhunderts zum überdimensionalen Volksfest des 20. Jahrhunderts mit seiner charakteristischen Ausrichtung zum „Munich Beer Festival“.“ (Dering 1985: 9) Das heutige Oktoberfest wartet mit einem 31 Hektar großen 83
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Festareal auf, um dessen 700 Plätze sich jährlich 1.500 Bewerber bemühen.
Das Cannstatter Volksfest Neben dem Oktoberfest in München ist das Cannstatter Volksfest in Stuttgart das größte Volksfest Süddeutschlands. Jährlich zieht das seit 2007 auf 17 Tage ausgedehnte Spektakel über vier Millionen Besucher an. Ebenso wie das Oktoberfest, hat das längst zur Institution gewordene Cannstatter Volksfest im Volksmund einen Kosenamen erhalten: Wasen. Der Wasen geht auf einen königlichen Erlass zurück, der am 31. März 1818 im „Königlich-Württembergischen Staats- und Regierungsblatt“ bekannt gemacht wurde. Hier wurde die Stiftung und Abhaltung eines Landwirtschaftlichen Hauptfestes offiziell verkündet. Das Fest sollte laut Bekanntmachung der Unterstützung der Landwirtschaft dienen – d.h., der Hungersnot der vergangenen Jahre Abhilfe schaffen –, die besten Zuchttiere krönen, einen Viehmarkt beinhalten und zur Unterhaltung der Bevölkerung ein Pferderennen und ein Schifferstechen mit jeweiliger Siegerauszeichnung in sich vereinen. „Zur Unterstützung des wohlthätigen Zwecks“ (Memminger 1819: 113) wurde von der Stadt Cannstatt ein eigener Vieh- und Krämermarkt organisiert und eine Ausstellung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen gezeigt. Im Jahr 1837 folgte neben den immer zahlreicher gewordenen Belustigungen das vermutlich erste Festzelt auf dem Cannstatter Volksfest. Der Cannstatter Ochsenwirt Kübler stellte in diesem Jahr sein Festzelt auf und schenkte neben Wein auch Ulmer Lagerbier aus. Zwei Jahre später wurden erstmals „gleichmäßige Buden“ (Stroheker 1995: 44) gefordert und zum Großteil auch verwirklicht. Mit dieser Verschönerungsmaßnahme auf dem Wasen ging eine zunehmende Zeitungswerbung für die Veranstaltung einher, die noch mehr Besucher auf den Festplatz locken sollte. Auf dem Cannstatter Volksfest sorgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich Spiele für die ortsansässige Jugend zur Unterhaltung. Es gab Sackhüpfen, Mastklettern und dergleichen Späße, über die sich nicht nur die jugendlichen Teilnehmer, sondern die Zuschauer aller Altersklassen freuten. In den darauf folgenden Jahren kamen immer mehr Attraktionen – vor allem Karussells – auf das Volksfest, die ab 1858 nicht mehr nur von Kindern gefahren wurden, denn auch viele Erwachsene wollten sich diese Freude gönnen. Vierzig Jahre nach der Stiftung des Festes war nun auch
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endlich „das Volksfest, ein Fest des Vergnügens“ (Stroheker/Willmann 1978: 125), geboren. Neben den zahlreichen Karussells fanden sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts jedes Jahr aufs Neue Zirkusse und Menagerien ein. Diese Schaustellungen sollten einerseits der Belustigung und dem Vergnügen dienen, hatten jedoch auch einen belehrenden Aspekt. Schließlich gab es in dieser Zeit noch keine Zoos, und fremde Tiere waren nur in den Menagerien zu bestaunen. Allerdings konnte am Ende des 19. Jahrhunderts König Karl (1823– 1891) dem Fest nicht mehr viel abgewinnen und beschloss 1882 das Volksfest nur noch alle zwei Jahre abzuhalten. Diese Regelung wurde erst wieder 1889 von seinem Nachfolger Kronprinz Wilhelm (1848–1921) aufgehoben. 1901 kamen schließlich die erste Wasserbahn und ein modernisiertes Pferdekarussell auf das Cannstatter Volksfest. Der große Hugo Haase konnte mit seiner Achterbahn erstmals 1910 auf das Cannstatter Volksfest gelockt werden, und es fanden sich immer mehr namhafte Schausteller auf dem Wasen ein. Während des 19. Jahrhunderts hat sich das Königreich Württemberg von einem rückständigen Agrarstaat hin zu einem der Industrialisierung aufgeschlossenen Land entwickelt. Davor machten die politischen Entwicklungen jedoch keinen Halt und das Cannstatter Volksfest fiel zwischen den beiden Weltkriegen mehrmals aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, wie in München, erst wieder mit kleineren und bescheideneren Herbstfesten begonnen. Ein erstes richtiges Cannstatter Volksfest konnte im Herbst 1950 gefeiert werden. Ab dieser Zeit eröffnete Dr. Arnulf Klett – zuerst als Oberbürgermeister, später als Stuttgarter Original – bis zu seinem Tod alle Volksfeste per Bieranstich. Ab 1974 ging diese Tradition in das Aufgabengebiet des Oberbürgermeisters über. Hier – wie bei vielem anderen – wurde stets ein wenig von München abgekupfert. Ein eigenständiges Stuttgarter Highlight sind jedoch die „Kulinarischen Dörfer“ auf dem Cannstatter Volksfest, die von 1996 bis 2006 mit dem Französischen Dorf und seit 2007 mit dem Almhüttendorf zahlreiche Besucher anziehen. Ein Coup war sicherlich auch die Eröffnungsfeier des Volksfestes seit 2007 vom Samstagmittag auf den Freitagabend vorzuverlegen und daraus eine große Fernsehshow zu machen. Zudem wurde ein Maskottchen, der Wasen-Hasi, erfunden und seit 2008 läuft sogar eine Trachtenoffensive samt eigens kreierter Volksfesttracht, um den in den letzten Jahren begonnenen Imagewechsel weiter voranzutreiben. Heute ist das Landwirtschaftliche Hauptfest über das Cannstatter Volksfest hin zu einem Vergnügungsfest geworden, das eine Fläche von 15,6 Hektar für sich 85
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beansprucht, auf der über 400 Betriebe um die Gunst der Besucher werben. Damit ergibt sich zusammen „eine eigenartige Mischung von Gestern und Heute“ (Stroheker/Willmann 1978: 14) auf dem Cannstatter Volksfest.
Die Cranger Kirmes Es gibt nun aber nicht nur in Süddeutschland große Volksfeste, sondern auch in nördlicher gelegenen Gebieten der Republik. Eines davon ist die Cranger Kirmes in Herne, die Anfang August insgesamt zehn Tage gefeiert wird und über vier Millionen Besucher anzieht. „Als eines der wenigen bodenständigen Feste entwickelte sich die Cranger Kirmes zu einer überregionalen Veranstaltung, die heute keine auf den ursprünglichen Anlaß bezogenen Elemente mehr aufweist.“ (Petzoldt 1983: 385) Das heißt, die Cranger Kirmes, deren Ursprünge bis heute unklar sind, durchlebte eine wechselvolle Geschichte. Nach archivalischen Belegen reicht die Historie bis in das 17. Jahrhundert, vielleicht sogar bis in das 16. Jahrhundert zurück (Vgl. Krus-Bonazza 1992: 26). Sicher ist in jedem Fall, dass es sich bei der Cranger Kirmes lange Zeit um einen Jahrmarkt gehandelt hat, dem im 19. Jahrhundert ein Viehmarkt angeschlossen wurde. Schaulustige durften am Viehmarkt allerdings nicht teilnehmen und so entwickelten sich zahlreiche Volksbelustigungen am Rande des Marktes (vgl. Krus-Bonazza 1992: 36). Mit der Industrialisierung begann sich auch im Ruhrgebiet das Vergnügungsangebot auf den Volksfesten zu vergrößern und auswärtige bzw. ausländische Arbeiter brachten der Cranger Kirmes mehr Bekanntheit ein. 1913 wurden schließlich 50.000 auswärtige Besucher geschätzt. Zwar ist diese Besucherzahl keinesfalls mit den damals mehreren Hunderttausenden der beiden süddeutschen Volksfeste zu vergleichen, doch dauerte die Cranger Kirmes wohl bis 1911 stets nur einen einzigen Tag. Mit der Verlängerung auf zwei Festtage kamen auch mehr Besucher. 1926 wurden 100.000 Besucher und 1932 bereits 200.000 gezählt. Mit dem größeren Besucherstrom wagten sich auch immer mehr Schausteller auf die Kirmes und brachten die spektakulären Fahrgeschäfte der bereits früh renommierten Feste, z. B. dem Oktoberfest, mit. In den 1950er Jahren verschwand der Viehmarkt und es folgte eine generelle Orientierung an den großen Volksfesten Deutschlands. So wurde 1957 erstmals eine Eröffnung wie auf dem Oktoberfest zelebriert. „Auch beim Angebot der Fahr-, Schau-, Verkaufs-, Spiel- und Geschicklichkeitsgeschäfte wollte sich die Ruhrgebietsstadt sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hin-
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sicht mit ihren berühmten Vorbildern München, Hamburg, Bremen oder Stuttgart messen.“ (Krus-Bonazza 1992: 250) Heute bietet die Cranger Kirmes auf einer Fläche von 11 Hektar über 500 Schaustellern Platz und seinen Besuchern eine große Freude. Die Eröffnung findet freitags im Bayernzelt statt, in dem der Oberbürgermeister das erste Warsteiner-Bierfass ansticht und ausruft „Piel op no Crange“ (Cranger Kirmes: 2008). Mit der Lage direkt am RheinHerne-Kanal ist die Cranger Kirmes in etwa mit der Lage des Cannstatter Volksfestes direkt am Neckarlauf vergleichbar.
Der Bremer Freimarkt Der Bremer Freimarkt ist eines der ältesten Volksfeste Deutschlands sowie mit über vier Millionen das größte Norddeutschlands und zieht seit mehreren hundert Jahren Händler und Spielleute an. Insgesamt 17 Tage im Oktober hängt über Bremen das Motto „Ischa Freimaak!“ und das bunte Treiben herrscht auf dem Marktplatz sowie auf der Bürgerweide. Der Bremer Freimarkt ist wohl das einzige Volksfest, das gleich zwei Eröffnungsfeiern hat. Aus traditionellen Gründen wird der Freimarkt auf dem Marktplatz mit einem bunten Programm eröffnet und schließlich ein zweites Mal nach dem Festzug auf der Bürgerweide im Bayernzelt (vgl. Petzoldt 1983: 433). Der Bremer Freimarkt geht auf das Jahr 1035 zurück, als Kaiser Konrad II. dem neu eingesetzten Erzbischof Bezelin erlaubte, zwei Mal im Jahr in Bremen einen Markt einzurichten. Die Termine lagen jeweils sieben Tage vor Pfingsten bzw. vor dem St. Wilhardi-Fest (8.11.). Die Erlaubnis zu den Märkten gilt heute als die „Geburtsurkunde“ (Burmann/Wenske 2007: 27) des Freimarktes, der bis in das 19. Jahrhundert hinein vorwiegend ein Warenmarkt geblieben ist. 1382 war erstmals von einem echten „freien Markt (vrye markede)“ (Grape-Albers 1985: 33) in den bremischen Urkunden die Rede. Denn es herrschte in der städtischen Wirtschaft eine strenge Ordnung, die lediglich in der Zeit der Freimärkte aufgehoben wurde. Das heißt, in dieser kurzen Zeit konnte jeder mit dem handeln, was er wollte und war nicht an Zünfte oder Berufe gebunden. Heute wird der Bremer Freimarkt jedoch nur noch ein Mal im Jahr – im Herbst – abgehalten. Vom 11. bis zum 18. Jahrhundert wurde der Bremer Freimarkt mehrmals umgestaltet, bis sich das Festareal weit über die Stadt ausgedehnt hatte und sich eine Veränderung des Jahrmarktes ankündigte. „Charakteristisch für das ganze 19. Jahrhundert ist die Kombination von Verkaufs- und Vergnügungsmarkt, wobei der Anteil des Vergnügungsmarktes sich ständig er-
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weiterte. Diese Kombination unterscheidet den Bremer Freimarkt wie auch den Hamburger Dom von einer Reihe neuer Feste, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden und bei denen von Beginn an der Vergnügungsmarkt im Mittelpunkt stand (z. B. das Münchner Oktoberfest und das Cannstatter Volksfest bei Stuttgart).“ (Grape-Albers 1985: 46). Belege für die Veränderung hin zum Vergnügungsmarkt bzw. zum Volksfest sind nicht nur die bereits sehr früh zur Schau gestellten Tiere und fremden Menschen, sondern auch die ersten Fahrgeschäfte. 1809 gab es das erste Karussell und 1818 die erste Schaukel; 1830 waren bereits fünf Bodenkarussells zu bestaunen, 1840 das erste Dampfkarussell, 1870 ein Etagenkarussell, 1879 die Russische Schaukel, 1881 das Schiffskarussell, 1890 die Berg- und Talbahn, 1896 Haases Grottenbahn und 1910 die erste Achtbahn von Hugo Haase. Daneben durfte selbstverständlich das leibliche Wohl nicht nachstehen und so wurden bereits ab 1812 immer mehr „Sudelzelte“ (Grape-Albers 1985: 47) für den Alkoholkonsum aufgestellt. Auch die Buden mit Honigkuchen und Zuckerwatte wurden immer beliebter, ab 1847 kam der berühmte Schmalzkuchen, 1886 die erste Bockwurst als „eine neue Form der Massenverpflegung“ (Grape-Albers 1985: 49), Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Fischbuden mit den beliebten Speckaalen und 1906 die erste Rostbratwurst vom offenen Feuer des Bremer Schlachtermeisters Wilhelm Keunecke. Eine andere Veränderung brachte ab 1847 der erste Bahnanschluss, der die Massen nach Bremen strömen ließ. Bereits 1889 musste ein neuer und größerer Hauptbahnhof her, der das Freimarktgelände stark verkleinerte. Aus dieser Platznot heraus ist 1890 der neue Jahrmarktsplatz in der Neustadt entstanden, der sich bereits 1909 nochmals erweiterte. „So zog sich der Freimarkt also nach der Jahrhundertwende durch die ganze Alt- und Neustadt, vom Bahnhof bis zum Herdentor.“ (Grape-Albers 1985: 49). Während der beiden Weltkriege erlebte der Bremer Freimarkt lediglich zwischen 1924 und 1929 eine „stabile Phase“. Die restliche Zeit musste er ausfallen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch erst sehr spät, nämlich 1957, ein provisorischer „Friedens-Freimarkt“ (Bremer Freimarkt 2008) eingerichtet. Trotz dieses späten Neustarts hat sich der Bremer Freimarkt wieder in den hanseatischen Jahreslauf eingefügt und wird jedes Jahr voller Freude erwartet. Heute wird an zwei Standorten, dem Bremer Marktplatz und der Bremer Bürgerweide, auf insgesamt 11,1 Hektar und mit etwa 350 Schaustellern gefeiert. Mit dieser Größenordnung ist der Bremer Frei-
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markt ein reiner Vergnügungsmarkt geworden, der die verschiedensten Besuchergruppen aus nah und fern anzieht.
Schluss Nach dieser kurzen Betrachtung der vier großen deutschen Volksfeste kann festgestellt werden, dass sich die untersuchten Feste in zwei Gruppen einteilen lassen. Die beiden süddeutschen Volksfeste wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Nationalfeste gegründet und widmeten sich bereits von Anfang an auch dem Vergnügen. Die beiden anderen Volksfeste dagegen haben seit mehreren Jahrhunderten als Jahrmärkte Bestand. Sie veränderten sich erst mit dem beginnenden 19. Jahrhundert, als sich durch den Wandel der Gesellschaft und der Industrialisierung der Schwerpunkt des Warenhandels hin zu dem des Vergnügens verschob. Interessant ist auch, dass sich am Ende des 19. Jahrhunderts einige wenige Persönlichkeiten unter den Schaustellern einen großen Namen machen konnten. Darunter zählt vor allem Hugo Haase, der 1910 nicht nur in Bremen, sondern auch in München und Stuttgart mit seiner Achterbahn gastierte. Die damals eintägige Cranger Kirmes lohnte für ihn anscheinend noch nicht. Aber nicht nur die Schaustellungen, Fahrgeschäfte und Bierzelte ziehen noch heute die Besucher aus nah und fern an, sondern auch das vielfältige gastronomische Angebot. Daneben sind die gebrannten Mandeln als traditionelle Süßigkeit der Volksfeste heiß begehrt. Aber auch die Lebkuchen, die bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Volksfesten verkauft werden und seit den 1920er Jahren als Lebkuchenherzen zum Charakteristikum der Volksfeste geworden sind, finden reißenden Absatz. Allerdings wird dieses Schmankerl heute wohl weniger gegessen, sondern vielmehr als Souvenir dem oder der Liebsten mit nach Hause gebracht. Zum Schluss gilt festzuhalten, dass das Oktoberfest nicht nur flächenmäßig an der Spitze aller Volksfeste steht und für viele andere als Vorbild – zum Beispiel bei der Eröffnungszeremonie – fungiert. Bei den anderen drei Volksfesten ist festzustellen, dass diese jeweils um den zweiten Platz ringen und jedes von sich behauptet, das größte Schaustellerfest zu sein (vgl. die jeweiligen Websites der Volksfeste). Nun bedeutet aber eine besser „Platzierung“ unter diesen oder jenen Gesichtspunkten für die einzelnen Volksfeste nichts.
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Denn jedes Volksfest hat seine eigene Attraktivität, seinen eigenen Charme, seine eigene Geschichte und seine eigenen Besucher.
Quellen Bauer, Richard und Fenzl, Fritz (1985): 175 Jahre Oktoberfest 1810–1985. München: Bruckmann. Burmann, Christoph und Wenske, Verena (2007): Identitätsbasiertes Markenmanagement bei Volksfesten – dargestellt am Beispiel des Bremer Freimarktes. Hamburg und Münster: Lit. Bremer Freimarkt: http://www.freimarkt.de (12.10.2008). Cranger Kirmes: http://www.cranger-kirmes.de (12.10.2008). Dering, Florian (1985): Das Oktoberfest. Einhundertfünfundsiebzig Jahre bayerischer National-Rausch. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Münchner Stadtmuseums, des Stadtarchivs München und des Vereins Münchner Oktoberfestmuseum vom 25. Juli bis 3. November 1985. München: Bruckmann. Dering, Florian (1986): Volksbelustigungen. Eine bildreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nördlingen: Greno (zugl. Diss. 1981). Destouches, Ernst von (1910): Das Münchener Oktoberfest (ZentralLandwirtschafts-Fest) 1810–1910. Gedenkbuch zur Hundertjahrfeier unter Mitwirkung bayerischer Schriftsteller. München: Lindauer. Destouches, Ulrich von (1835): Gedenkbuch der Oktober-Feste in München vom Jahre 1810 bis 1835. München: o.V. Deutscher Schaustellerbund e.V. (2007): Jahresbericht 2007. Wir machen Freizeit zum Vergnügen! http://www.dsbev.de/ fileadmin/pdfs/75003_DSB__Jahresbericht__Screen.pdf (24.01.2008). Grape-Albers, Heide (1985): 950 Jahre Bremer Freimarkt. Hrsg. vom Senator für Bildung, Wissenschaft und Kunst. Bremen: Eigenverlag. Hoferichter, Ernst und Strobl, Heinz (1960): 150 Jahre Oktoberfest 1810–1960. Bilder und G’schichten. Herausgegeben vom Wirtschaftreferat der Landeshauptstadt München. München: Münchner Zeitungsverlag. Krus-Bonazza, Annette (1992): „Auf Cranger Kirmes“. Vom Pferdemarkt zum Oktoberfest des Westens. Münster: Coppenrath.
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Memminger, Johann Daniel Georg von (1819): Erstes landwirthschaftliches Volksfest in Württemberg. In: Württembergisches Jahrbuch. Stuttgart: Metzler, 111-138. Möhler, Gerda (1981): Das Münchner Oktoberfest. Vom bayerischen Landwirtschaftsfest zum größten Volksfest der Welt. München, Wien, Zürich: BLV. Nagy, Florian S./ Stoffel, Alexandra/ Lill, Tobias/ Bentele, Johann C. und Märkl, Linda (2007): Oktoberfest. Zwischen Tradition und Moderne. München: München-Verlag. Petzoldt, Leander (1983): Volkstümliche Feste. Ein Führer zu Volksfesten, Märkten und Messen in Deutschland. München: Beck. Stroheker, Hans Otto und Willmann, Günther (1978): Cannstatter Volksfest. Das schwäbische Landesfest im Wandel der Zeiten. Stuttgart und Aalen: Theiss. Stroheker, Hans Otto (1995): Festschrift zum 150. Cannstatter Volksfest. Stuttgart: Eigenverlag.
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Abbildung 1: Firmensignet Hugo Haase Park, Archiv: Sacha Szabo Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Als das „Hamburger Fremdenblatt“ (HF 1914) über die Eröffnung des HH-Parkes in Hamburg am 21. Juni 1914 auf zwei ganzen Zeitungsseiten schrieb, überschlug es sich mit Lobeshymnen. Es pries den HH-Park als „Volksparadies“, das „mit seinen abenteuerlichen Verkehrseinrichtungen auch dem verwöhntesten Besucher gegen ein mäßiges Eintrittsgeld eine Fülle von Darbietungen“ verschafft, „die er kaum erwartet“. Zu diesen Darbietungen gehörten eine Wasserrutschbahn, bei der die Kähne von einem 33 Meter hohen Turm „in ein Wasserbassin stürzten“, eine 1500 Meter lange Gebirgsszeneriebahn, ein lebendiger Irrgarten, eine Grottenbahn und ausreichend Gastronomie, die der künstlichen Gebirgslandschaft angepasst und entsprechend im bayrischen und tirolerischen Stil gehalten war.
Abbildung 2: Hugo Haase Park, 1914, Archiv: Sacha Szabo Errichtet wurde der erste stationäre Vergnügungspark in Hamburg von keinem Geringeren als dem Karussellkönig Hugo Haase (1857 – 93
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1933), dessen Initialen dem Park seinen Namen gaben. Wenn auch Haase vielfach der Erste war, der Neuerungen im Fahrgeschäftssektor einführte, so war die Eröffnung eines stationären Vergnügungsparks nichts Außergewöhnliches. Allein das unmittelbar nahe gelegene Altona (heute ein Stadtbezirk von Hamburg) hatte einen LunaPark, wie die Vergnügungsparks gerne hießen. Ganz zu schweigen von den legendären Vergnügungsparks wie dem „Wiener Prater“ oder dem „Tivoli“ in Kopenhagen. Im Gegensatz zu den Kirmessen war hier nicht nur das ganze Jahr über Jahrmarkt, die gesamte Organisation oblag auch einem einzigen Veranstalter. Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst von Gastwirten ins Leben gerufen, die durch die aufgebauten Gerätschaften die Attraktivität ihres Lokals erhöhen wollten, wurden die Vergnügungsparks spätestens Ende des 19. Jahrhunderts zum ‚Versuchsstand der Moderne‘, auf denen sich Funktionsfähigkeit und Marktchancen einer neuen Technik testen ließen, ehe man sie „in gewöhnliche Anwendungsfelder überführte“ (König 2000: 337). So boten beispielsweise die 1904 eröffneten „Terrassen am Halensee“ in Berlin eine Schwimmhalle mit Wellenbad. Zum Standard der Vergnügungsparks gehörten vor allen Dingen Liliputanerstädte und Gebirgsbahnen. In beiden Gebieten hatte sich Hugo Haase mit seinen temporären Vergnügungsparks, die er auf zahlreichen Weltausstellungen ausrichtete, einen Namen erworben. Die Premiere feierte Haase 1912, als er in Frankfurt zum Bundesschießen „Alt-Frankfurt“ nachgebaut hatte. Mit einem so großen Erfolg, dass ihm im Jahre 1913 der gesamte Vergnügungspark der großen internationalen Schifffahrts-Ausstellung in Amsterdam übertragen wurde, wo er „Alt-Amsterdam“ mit einem Kostenaufwand von über 400.000 Gulden errichtete.
Abbildung 3: Hugo Haase Park, 1917, Archiv: Sacha Szabo Es folgten Vergnügungsparks auf Ausstellungen in allen Herren Ländern: Internationale Luftschiff-Ausstellung in Amsterdam 1919, Industrie-Ausstellung in Rio de Janeiro 1920 und die GeSoLei 1926 94
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in Düsseldorf, um nur ein paar wenige zu nennen. Es scheint nur folgerichtig, dass Hugo Haase auf dem Höhepunkt seines Erfolges – 1914 hatte er 25 Fahrgeschäfte auf Reisen – einen Vergnügungspark sein Eigen nennen wollte, der auf Dauer die Pracht entfaltete und nicht wieder abgebaut werden musste. Hugo Haase war so erfolgreich, dass er zahlreiche Beinamen führte: Karussellkönig, DomVater oder Dom-König (für den „Hamburger Dom“), größter deutscher Schausteller, größter Schausteller aller Zeiten. Der 1857 bei Hamburg geborene Haase hat nicht nur den elektrischen Strom für den Karussellsektor nutzbar gemacht (zuerst 1892 auf dem Münchner Oktoberfest), er hat immer wieder neue Geschäftstypen eingeführt – Berg- und Talbahn, die erste transportable Achterbahn, Autoskooter oder Zeppelin – und er hat ein Marketing für seine Geschäfte betrieben, das seinesgleichen suchte. Voller Selbstbewusstsein sagte er 1927 in einer Werbebroschüre von sich selbst: „Es ist gleichgültig, ob man an das Cannstatter Volksfest, das Münchner Oktoberfest, die Dresdner Vogelwiese, den Hamburger Dom oder sonst ein großes Volksfest denkt, sobald von Vergnügungsunternehmungen die Rede ist, dann taucht sofort der Name Hugo Haase auf. Hugo Haase, der Besitzer, Konstrukteur und Erbauer zahlreicher Schaustellungen, der Nestor unter den Unternehmern des Vergnügungsgewerbes. Groß und Klein, Alt und Jung fühlen beim Klang dieses Namens frohe Erinnerungen aufsteigen.“ (Hugo-HaaseWerbeprospekt vom Hamburger Dom 1927).
Abbildung 4: Hugo Haase Park, 1918, Archiv: Sacha Szabo So bürgte allein der Name „HH-Park“ für Qualität vom Feinsten. Für 1.635.000 Mark hat Haase den Vergnügungspark einrichten lassen. Die Ortswahl war der Beweis für Haases strategisches Denken, war der HH-Park doch direkt neben Hagenbecks Tierpark in HamburgStellingen angesiedelt. Eine breite Promenade verband die beiden Parks, die man ohne weiteres Eintrittsgeld besuchen konnte.
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Nachdem der Besucher den „monumentalen Eingang“ des HHParkes passiert hatte – eine „architektonisch wirkungsvolle, mit Ornamenten und Hochreliefs reich geschmückte Pergola“ (HF 1914) – war es, als ob er sich in der Bergwelt befände. Sein Blick fiel auf eine der bis dahin höchsten Wasserrutschbahnen, bei der die Kähne von einem 33 Meter hohen Turm „mit reißender Geschwindigkeit in ein geräumiges Wasserbassin stürzen“ (HF 1914). Im Hintergrund die „schneebedeckten Berge der Szeneriebahn“ (HF 1914).
Abbildung 5: Hugo Haase Park, ca. 1914, Archiv: Sacha Szabo Diese Gebirgsszeneriebahn dürfte in nichts dem Glacier-Express in der Schweiz nachgestanden haben. Denn auf einer Strecke von 1.500 Metern führte die Bahn über künstlich angelegte Berge und Täler, da und dort sprudelte aus dem „mächtigen Gestein“ (HF 1914) ein Wasserfall, „feingeschwungene Viadukte“ wechselten ab mit „zierlichen Brücken“. Das Gebirge ließ sich auch „bekraxeln“ oder aber per Seilbahn erreichen. Auf dem hohen Gipfel, auf 25 Metern, bot ein Gipfelcafé eine „entzückend schöne Aussicht auf die ganze Hochgebirgsszenerie, über Hagenbecks Tierpark bis nach Blankenese“ (HF 1914). Nach der Fahrt über die Berge konnte man die Fahrt IN die Berge antreten. Und zwar in einem Kahn der Grottenbahn, der auf einer 20-minütigen Fahrt in zahlreichen Windungen durch elektrisch beleuchtete Tropfsteinhöhlen und groteske Eismeerpanoramen führte, vorwärtsbewegt durch das fließende Wasser in dem Betonkanal.
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Abbildung 6: Hugo Haase Park, 1918, Archiv: Sacha Szabo Die Hauptattraktionen des Parks scheinen in der Tat aus diesen Bahnen bestanden zu haben, die weniger den ultimativen „Thrill“ boten als vielmehr eine Art des kontemplativen Landschaftsgenusses, eine „Auszeit vom Alltag“ (Puttkammer/Szabo 2007:9) für Paare und Familien. Sozusagen eine Form des Verreisens innerhalb der eigenen Stadt. Was in der 15.000 Personen fassenden Ausstellungshalle mit Säulenhallen gezeigt wurde und stattfand, ist nirgends festgehalten. Wie sich überhaupt die Spuren des bis 1922 bestehenden HH-Parkes vollständig verwischt haben. Erhalten blieben lediglich einige Postkartenansichten. Und ein Plakat von 1914, auf dem Haase das erste Mal mit seinem Namen spielt, indem er einen Hasen hat abbilden lassen. Geblieben ist darüber hinaus die faszinierende Erinnerung an einen Ort, den Heimatforscher in Hamburg-Stellingen als das „verhinderte Las Vegas des Nordens“ bezeichnen.
Quellen Hahn, Darijana (2007): Hugo Haase – Karussellkönig aus Winsen. Ehestorf (= Schriften des Freilichtmuseum am Kiekeberg; Bd. 57). Hamburger Fremdenblatt, 21. Juni 1914. König, Wolfgang (2000): Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Puttkammer, Claudia/Szabo, Sacha (2007): Gruß aus dem LunaPark. Eine Archäologie des Vergnügens. Freizeit- und Vergnügungsparks Anfang des 20. Jahrhunderts. Berlin: wvb Wissenschaftlicher Verlag Berlin. Werbeprospekt der Firma Haase auf dem Hamburger Dom 1927 (Stadtmuseum München). 97
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Abbildungsverzeichnis Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung
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Firmensignet Hugo Haase Park, Archiv: Sacha Szabo Hugo Haase Park, 1914, Archiv: Sacha Szabo Hugo Haase Park, 1917, Archiv: Sacha Szabo Hugo Haase Park, 1918, Archiv: Sacha Szabo Hugo Haase Park, ca. 1914, Archiv: Sacha Szabo Hugo Haase Park, 1918, Archiv: Sacha Szabo
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Hint er den Kulissen – da s Um feld de s Vergnügens
Glück sm asch inen oder Mechanism en de s ge st örten Gleichgewicht s? Technik auf dem Jahrm arkt STEFAN POSER
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte die französische Artistin Mauricia de Tiers in der Pariser Konzerthalle eine spektakuläre Automobil-Attraktion vor: Sie unternahm mit ihrem Wagen nicht nur eine achterbahnähnlich angelegte „Schleifenfahrt“, sondern überbrückte „dabei auch eine Lücke in der Bahnwindung durch einen grausenerregenden Sprung von fünfzehn Meter Länge“ (E. Weber 1906: 198, Hervorhebung Poser).1 „Während der Vorführung ... herrscht unter dem Publikum eine lautlose Stille. Klopfenden Herzens schaut ein jeder zu der wagemutigen Künstlerin hinauf, und auch wenn sie schon ihre Fahrt beendet hat, verharrt das Publikum noch immer für den ersten Augenblick in Schweigen. So sehr werden alle Gemüter von der atemlosen Spannung gefangen genommen. Aber wenn sie sich dann anmutig verneigt, dann ist der Bann gebrochen und ein tosender Beifallssturm schallt ihr aus dem ganzen Hause entgegen“, heißt es in einem zeitgenössischen Artikel (E. Weber 1906: 207, Hervorhebung Poser). Wagemutige Künstlerin, grausenerregende Vorführung, atemlose Spannung ... das ist ein klassisches Rezept für erfolgreiche Schaustellungen – vielleicht bis heute. Welche Bedeutung kommt dabei der Technik zu? Inwieweit galt der tosende Beifall für de Tiers ihrem souveränen Spiel mit Technik? Und was für Rückwirkungen ergeben sich daraus für die Nutzer, die technische Entwicklung und die Gesellschaft?
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Für spannende Anregungen, interessantes Quellenmaterial und die hier veröffentlichten Photos möchte ich Erich Knocke und Brigitte Aust, Marktund Schaustellermuseum Essen, herzlich danken.
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Techniknutzung und Darstellung Schon in der Anfangszeit der Industrialisierung wurde Technik für Schaustellungen genutzt.2 Sei es, dass sie zur Verstärkung von Effekten eingesetzt oder selbst zum Gegenstand der Darbietung wurde. So unterstützte das Elektrisieren des Publikums bei Geistervorführungen – die im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert auf große Resonanz stießen – angestellte oder auch technisch generierte Geister in ihrem überirdischen Tun (Poser 2005: 156 f.). Darbietungen der „unterhaltenden Physik“ ließen das Publikum über die physikalischen, chemischen und technischen Hintergründe rätseln.3 Technik als solche wurde beispielsweise durch Bergwerksmodelle thematisiert. Sie zeigten Grubeneinrichtungen und Hüttenwerke, deren Arbeitsprozesse häufig mit beweglichen Figuren erläutert bzw. illustriert waren.4 Modelle von Fabriken, des Themse Tunnels und der Brennerbahn wurden zum Gegenstand von Schaustellungen – letzteres um 1870 zur Modernisierung eines alten Automatentheaters (Poser 1992: 230). Auch zeitgenössische originale Technik eignete sich als Attraktion: So diente eine der ersten Lokomotiven, die „Catch-me-who-can“ von Richard Trevithick, 1808 in London als Vergnügungsgefährt: Durch einen Zaun vor nichtzahlenden Zuschauern verborgen zog sie auf einem kleinen Schienenkreis einen kutschenähnlichen Wagen und ermöglichte Wagemutigen so für wenige Minuten eine Eisenbahnfahrt – fast zwanzig Jahre bevor 2
Dieser Beitrag ist Schaustellungen und Fahrgeschäften unabhängig von ihren Aufstellungsorten wie Kirmes, Schützenfest, Jahrmarkt oder Vergnügungspark gewidmet, da sich die Geschäfte dieser Plätze nicht prinzipiell unterscheiden; „Jahrmarkt“ wird dabei als übergreifender Terminus verwendet; zu Vergnügungsorten siehe Szabo 2006, 25 ff.
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Siehe z. B. die Rezension einer Aufführung von Professor Louis, Professor der „unterhaltenden Physik“, in der Dresdner Abendzeitung, Nr. 168 vom 15.7.1830 oder das Plakat des Mechanikus Weiß, undatiert, Wiener Stadtund Landesbibliothek, Sammel-Signatur D 64.522. Zu Schaustellungen zwischen Wissenschaft und Zauberei siehe Stafford 1994, During 2002, Hochadel 2003, Felderer/Strouhal 2006.
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Beispielsweise wurde in Wien schon 1748 eine ungarische oder russische Mine mit 150 beweglichen Figuren gezeigt; Wiener Diarium, Nr. 43 von 1748. Zwischen 1779 und 1780 gastierten Schausteller mit einem Modell einer englischen Textilfabrik; angeblich hatte es 3222 Räder, 33 bewegliche Figuren und zeigte alle Schritte der Produktionskette; Wiener Diarium, Nr. 101 von 1779 und Wiener Diarium, Nr. 4 von 1780. Weitere Beispiele der Schaustellung von Technik siehe Poser 2003: 124 f. und Poser 2005: 157 ff.
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Technik auf dem Jahrmarkt
die erste Bahnlinie für Dampfbetrieb gebaut wurde (Hamilton 1968: 14). Als in den 1870-1880er Jahren Jahrmarktsangebote zur Selbstbetätigung wie Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäfte (Markt und Schaustellermuseum Essen 2003: B, F, G; Dering 1986: 80 ff.) gegenüber Schaustellungen zu dominieren begannen und sich die Formen des Jahrmarkts ausprägten, die uns heute noch vertraut sind (Poser 1998: 109 f.), wurde Technik nicht nur weiterhin genutzt, sondern erlangte geradezu konstitutive Bedeutung. Insbesondere die Fahrzeugentwicklung und später auch die Luftfahrt boten ein wachsendes Spektrum an Vorbildern: Während der ersten großen Fahrradmode 1869 entstanden die ersten Velocipeten-Karussells, Autos als Karussellbesatz folgten kurz nach 1900, die ersten Zeppelinkarussells 1907 zum Auftakt der großen Zeppelineuphorie und Kettenflieger mit Flugzeugbesatz finden sich 1911, als auch in Deutschland die Flugzeugentwicklung an Bedeutung gewann. Der Designentwicklung der gezeigten Technik folgend wurde die Ausstattung der Fahrgeschäfte immer wieder aktualisiert.5 Seit 1865 verwendeten Schausteller in England Dampfmaschinen als Karussellantrieb, in Deutschland seit den 1880er Jahren. Stolz präsentierten sie die Aggregate auf der Schauseite ihrer Geschäfte. Schon 1886 lässt sich elektrische Karussellbeleuchtung nachweisen – nur drei Jahre nachdem im Berliner Zentrum die ersten Gebäude beleuchtet waren.6 Die mit leistungsstarken Bogenlampen und einer wachsenden Zahl von Glühbirnen erreichte Helligkeit sollte bis in die 1960er Jahre ein Charakteristikum des Jahrmarkts bleiben (Niese 1965: 37). 1892 errichtete der ‚Karussellkönig‘ Hugo Haase auf dem Münchner Oktoberfest eine Generatorstation, die Energie zum Antrieb zweier Karussells nebst Orgeln und Beleuchtung lieferte. Damit war er vermutlich der erste Schausteller in Deutschland,
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Jahresangaben für Deutschland. Eine analoge Entwicklung lässt sich auch bei Spielzeug nachweisen; siehe Zachmann 2003: 203-226, Curtius 2006: 84-89, Gottwaldt 2006: 78-83, Poser 2006b: 49-64, Wachelder 2007: 135169. Zur Bedeutung des spielerischen Umgangs mit Technik für die Flugzeugentwicklung siehe Kehrt 2006: 208 ff.
6
Dering 1986: 166. Zur frühen Gewinnung und Nutzung von Lichtstrom siehe beispielsweise den Bericht über die Tätigkeit der Bezirksvereine im Jahre 1883/84. Berliner Bezirksverein. In: Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 28 (1884), 657. Sowie: Sitzungsberichte der Bezirksvereine. Berliner Bezirksverein [Glühlichtanlagen]. In: Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 28 (1884), 624 ff.
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Kultur des Vergnügens
der Elektroenergie nicht nur zur Beleuchtung, sondern auch zum Antrieb von Fahrgeschäften nutzte. Ein Jahr nach der „Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung“ in Frankfurt am Main war die Nutzung von „Kraftstrom“ noch so neu, dass die Anlage von einer Delegation des Münchner Magistrats besichtigt wurde.7 Haases Fahrgeschäfte, eine Berg- und Talbahn und ein Schiffskarussell, waren mit modernen Elektroeinzelantrieben versehen, was beträchtliche Konstruktionsänderungen gegenüber dem klassischen zentralen Karussellantrieb bedeutete. Das neue Konzept hatte sich zu Beginn der 1890er Jahre noch nicht durchgesetzt: Zwar waren die Produktionsmaschinen von Musterabteilungen großer Elektrokonzerne wie der AEG bereits mit Einzelantrieben ausgestattet, aber der Ingenieurdiskurs über Einzel- oder Gruppenantrieb war noch nicht abgeschlossen und zahlreiche Argumente schienen für den von der Dampfmaschinennutzung abgeleiteten elektrischen Gruppenantrieb mit Transmission zu sprechen (Poser 2006c: 219 ff.). Das jahrmarkttypische Schneller-Greller-Höher wäre seit den 1880er Jahren ohne die Nutzung von moderner Technik für Antrieb und Beleuchtung nicht denkbar, die gigantischen Konstruktionen von Fahrgeschäften wie Achterbahnen und Riesenrädern ohne das moderne Baumaterial Stahl ebenfalls nicht. So war das Ferris Wheel der Chicagoer Weltausstellung 1893 sowohl eine neuartige technikbasierte Vergnügungsleistung als auch eine konstruktionstechnische: Die an einer Fahrradfelge orientierte, 1200 t schwere Baukonstruktion erhielt eine Welle aus dem größten jemals hergestellten Schmiedestück; als Erlebnisort und Technikmonument war das Ferris Wheel derartig erfolgreich, dass es zu einer regelrechten Riesenradmode kam (Mertens 1899: 11; Dering 1986: 109 ff.; König 2000: 336 f.). Neukonstruktionen wie das zum Millennium errichtete London Eye zeugen davon, dass nicht nur das langsame In-dieHöhe-Gleiten nach wie vor faszinierend wirkt, sondern auch die Technik, die im Duktus der vorhergehenden Jahrhundertwende beworben wird: Das London Eye sei ein „extraordinary piece of engineering design and architecture“ which became „an iconic landmark and a symbol of modern Britain“ (‚Explore‘ 2009).
7
„Eine neue Zeit“ 1991; zur Generatorstation auf dem Münchner Oktoberfest siehe die Berichte im Münchner Tageblatt, Nr. 290 vom 6.10.1892 und im General Anzeiger Nr. 14 vom 9.10.1892, zitiert nach der „Übersicht über den Werdegang der Firma Hugo Haase Hannover“, maschinenschriftliches Manuskript um 1960, in: Nachlass Haase/Geschäftsführer Abendroth, Archiv des Markt- und Schaustellermuseums, Essen.
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Technik auf dem Jahrmarkt
Karussellfabriken, die den Schaustellern die Produktion von Geschäften und Zubehör abnahmen, waren schon in den 1870er Jahren entstanden, aber bis zum Übergang auf Stahlkonstruktionen dominierte der Selbstbau (Stadler 2006: 201 ff.). Während beispielsweise das große Unternehmen Haase seine Fahrgeschäfte in den 1930er Jahren mit Handwerkern wie Schlossern, Tischlern und Zimmerleuten gebaut hatte (Hahn 2007: 70), entwickelte sich die Konstruktion von ‚Fliegenden Bauten‘ seit den 1960er Jahren nicht nur zur Ingenieuraufgabe, sondern mit riesigen Hebelarmen, Pneumatiken, Hydrauliken und um mehrere Achsen rotierenden Bauteilen zu einer Sonderform des Großmaschinenbaus.8 Welche Bedeutung die Technik für das Jahrmarktsgeschehen erlangt hat, wird vielleicht am besten daran sichtbar, dass inzwischen selbst Schausteller mit einem klassischen Vergnügungsangebot Technik in ihre Präsentationen integrieren – so beispielsweise die Artistenfamilie Traber, die Autos und Motorräder auf dem Hochseil nutzt (Kohlenberg 2007: 65; Traber 2009).
Technische Innovationen Der Jahrmarkt ‚lebt‘ geradezu von ständigen Veränderungen und Neuerungen. Sie erhalten den Ort attraktiv, beeinflussen die Besucher in ihrer Entscheidung zugunsten einzelner Geschäfte und erhöhen die Rentabilität der Betriebe. Die für das Publikum relevanten Neuerungen und Modeentwicklungen beziehen sich auch auf die Färbelung und äußere Gestaltung der Geschäfte sowie die Musik (Dering 1986: 67, 211 ff.; Braun 2006: 53). Im Mittelpunkt stehen allerdings die einzelnen, seit Beginn der Industrialisierung zunehmend mit Technik verquickten Vergnügungsangebote. Entsprechend hohen Stellenwert haben Inventionen und Innovationen.9 Vier Ebenen lassen sich unterscheiden:
8
Entsprechend sind Fahrgeschäfte auch ein Thema für den Verein Deutscher
9
Zum Innovationsbegriff siehe Bauer 2006: 11 ff., Reith 2006: 11 ff.
Ingenieure: Burazerovic 2004: 22 ff.
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Kultur des Vergnügens
I) INNOVATIONEN IN DER PRODUKTION VON JAHRMARKSGESCHÄFTEN. Hier sind zum einen reine Prozessinnovationen zu nennen – wie die von moderner Messtechnik ermöglichte passgenaue IndoorProduktion von großen Schienensegmenten auf der so genannten Nullebene (statt unter dreidimensionaler Vormontage im Freien).10 Zum anderen sind kombinierte Prozess- und Produktinnovationen zu beobachten, die das Spielangebot der betreffenden Geschäfte verändern – wie der Übergang von Holz zu Stahl-Fahrgeschäften oder von Hand- beziehungsweise Göpelantrieb zu Dampfkraft und Elektrizität: Diese technischen Neuerungen erweiterten die Konstruktionsmöglichkeiten und damit das Vergnügungsangebot beträchtlich; sie sind deshalb eng mit der Herausbildung des modernen Jahrmarkts verbunden.
II) INVENTIONEN UND INNOVATIONEN ZUR ARBEITSERSPARNIS UND BETRIEBSKOSTENREDUKTION. Hier sind Maßnahmen zur Erhöhung der Transportkapazität einzelner Fahrgeschäfte zu nennen, der Einbau elektronischer Steuerungen sowie verschleißarmer Lager und Bremsen, insbesondere jedoch Konstruktionen, die den Auf- und Abbau vereinfachen sowie das Transportvolumen der Geschäfte reduzieren: Seit den 1970er Jahren wird der Antrieb von Fahrgeschäften auf einem sogenannten Mittelbauwagen montiert, der beim Betrieb das Zentrum des Geschäfts bildet; möglichst viele Bauteile werden lediglich ausgeklappt. Zugunsten einer leichteren Montage und Demontage wurde beispielsweise die Zahl der tragenden Säulen bei Skooter-Anlagen seit Ende des Zweiten Weltkriegs von 36 (bei großen Geschäften) auf zwei bzw. sechs reduziert: zwei tragende Mittelsäulen (deshalb die Bezeichnung Zweisäulenskooter) und vier Ecksäulen, die das Dach zusätzlich stützen. Von den Mittelsäulen aus, die sich an den beiden Enden eines Wagens befinden, lassen sich der gesamte Dachstuhl und ein Teil der Fassade aufklappen; das Dach wird anschließend durch Hydrauliken in den Säulen auf seine Position gehoben (Dering 1986: 108, 130). Die gesamte Anlage lässt sich in drei Wagen verstauen. Während der Aufbau einer Eisen- und Autobahn des 10
Das Verfahren wird von der Heinrich Mack GmbH seit 2004 angewandt; es reduziert die Durchlaufzeiten und ermöglicht höhere Fertigungspräzision; siehe die Pressemitteilung „Führender Fahrgeschäfte-Hersteller vertraut FARO’s Laser Tracker“ der FARO Europe GmbH, Stuttgart vom 30.3.2005 (Besitz des Verfassers).
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Technik auf dem Jahrmarkt
Essener Schaustellers (und heutigen Leiters des Markt- und Schaustellermuseums) Erich Knocke von 1975 bis zu zwei Tagen in Anspruch nimmt, lässt sich ein ähnliches, modernes Geschäft von ihm in einem halben Tag aufbauen. Zudem ist das Transportvolumen geringer.11 Hinter solchen Transport- und Aufbauwundern, die für die Schausteller zur Kostenreduktion eminent bedeutsam sind, stehen beachtliche jahrmarktspezifische Konstruktionsleistungen. Sie beeinflussen die Gestaltung der Geschäfte, wirken sich jedoch auf die Spielmöglichkeiten nur begrenzt aus.
Abbildung 1: Versuchsaufbau zum ‚Automobilflug’, Foto: E. Weber 1906, Archiv: Markt- und Schaustellermuseum Essen
III) GESTALTUNGSRELEVANTE INVENTIONEN UND PRODUKTINNOVATIONEN DER ORIGINALE, DIE VORBILDER FÜR DEN BESATZ VON FAHRGESCHÄFTEN SIND UND SICH ENTSPRECHEND AUF DIE FORMALE GESTALTUNG DER ‚KLEINEN‘ AUSWIRKEN. Dies gilt beispielsweise für Autos oder Flugzeuge, deren (jeweils neues) Design aufgegriffen wird. Die Bedeutung solcher Originale scheint langsam zugunsten eines jahrmarktspezifischen Designs zurückzugehen; exemplarisch hierfür seien Achterbahnen und Autoskooter betrachtet: Um von der Modernität des Autos zu profitieren, stattete der Hersteller Anton Schwarzkopf die erste deutsche 11
Freundliche Auskunft von Erich Knocke, Februar 2009.
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Kultur des Vergnügens
Stahlachterbahn 1964 mit Wagen aus Karosserieblechen von Audi aus (Schützmansky 2001: 25). Andere Achterbahnfahrzeuge nahmen das Design des Opel Rekord auf (Photo: Niese 1965: 35). Auch die Gestaltung von Skootern wurde seit den 1930er Jahren an Autos angelehnt und entsprechend der jeweiligen Mode modifiziert: Hatten Wagen der Vorkriegszeit schmale, vorgezogene Kühlerhauben, so dominierten in den 1950er Jahren amerikanische Vorbilder mit einem breiten, verchromten Kühlergrill und zwanzig Jahre später kleine Mercedes-Autoskooter. Inzwischen scheint jedoch eine vorbildfreie, bunte Gestaltung zu dominieren. Auch für Achterbahnwagen entstand ein eigenes Design, das nicht mehr an Autos erinnert. Dies mag ein Hinweis sein, dass die Darstellung von Technik langsam an Bedeutung verliert.
IV) SPIELINVENTIONEN UND INNOVATIONEN DES VERGNÜGUNGSANGEBOTS DER JAHRMARKTSGESCHÄFTE. Diese Inventionen und Produktinnovationen beziehen sich direkt auf das Spiel- und Vergnügungsangebot der Geschäfte; sie bilden die Kernaufgabe der Konstrukteure. Gänzlich neue Geschäftstypen zählen hierzu ebenso wie neuartige Effekte bei bekannten Typen. Betrachtet man exemplarisch das Chicagoer Riesenrad, so lässt sich seine Konstruktion nach dem Prinzip einer Fahrradfelge als technische Invention sehen, die große Schmiedewelle als Innovation und die Erweiterung des Vergnügungsangebots durch ein langsames Durch-die-Luft-Gleiten je nach Gewichtung der neuartigen Größe des Rades als „vergnügungstechnische“ Invention oder als Innovation, weil kleine senkrecht stehende Räder, sogenannte Russische Schaukeln, seit dem 18. Jahrhundert weit verbreitet und in Amerika als pleasure wheels bekannt waren (Dering 1986: 47, 109).
Technisches Generieren von Emot ionen Anhaltende Rotation sowie die Kombination von Vertikal- und Horizontalbeschleunigung durch Kurvenfahrten, Auf- und Abbewegungen und positive wie negative Beschleunigung sind die kinetische Grundlage der Fahrgeschäfte auf dem Jahrmarkt. Erhebliche Bedeutung für das technische Generieren von Emotionen hat die kinetische Energie, die auf die Fahrenden wirkt. Je höher sie ist, desto besser – freilich im Rahmen der Belastbarkeitsgrenzen. Häufige Richtungsänderungen von Impuls und Drehimpuls regen die Aus-
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Technik auf dem Jahrmarkt
schüttung von Endorphinen an und können den Besuchern ein mit Furcht gemischtes Glücksgefühl vermitteln, das für Jahrmarktserlebnisse charakteristisch ist. Dominierend ist der Rausch ilinx (Caillois 1960; Poser 2006a: 27 ff.; Szabo 2006: 65). Das Jahrmarktserlebnis kann als ekstatische Transzendenzerfahrung gedeutet werden und dem flow-Erlebnis im Sport ähneln (Csikszentmihalyi 1985; Szabo 2006: 51). Durch den Einsatz neuer, leistungsstarker Antriebstechnologien konnte seit Ende 19. Jahrhunderts die übliche Kreisbewegung variiert und ergänzt werden: Die Dampfmaschine ermöglichte eine zusätzliche Schaukelbewegung von Karussellschiffen sowie die Aufund Abbewegung der Berg- und Talbahnen. Elektromotoren in den einzelnen Wagen vereinfachten den Antrieb und ermöglichten rascheres Beschleunigen. Zudem erleichterte der Einsatz mehrerer Motoren zusätzliche Rotationsbewegungen auf dem Karussell wie im Fall des Hully Gully der Firma Mack von 1968. Der Einsatz großer Pneumatikzylinder ermöglichte eine freie, von den Passagieren gesteuerte Flughöhe bei Auslegerflugkarussells – so beim Hurricane des Herstellers Klaus von 1951 (Dering 1986: 99 ff.). Alle diese Erweiterungen der Bewegungsmöglichkeiten boten den Besuchern neuartige, jahrmarktsspezifische Bewegungserlebnisse, die ihre Endorphinausschüttung in unterschiedlichem Maße anregten.
Abbildung 2: Versuchsanordnung mit Gliederpuppe, Foto: E. Weber 1906, Archiv: Markt- und Schaustellermuseum Essen
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Kultur des Vergnügens
Am größten ist die Bewegungsvielfalt wohl bei Achterbahnen. Die kurz vor 1900 in den USA aufgekommenen Bahnen bestanden aus Holzkonstruktionen mit Stahlschienen, bis der italienische Hersteller Pinfari 1953 zu einer reinen Stahlkonstruktion überging.12 Die Geschwindigkeit stieg von etwa 50 km/h in den 1960er Jahren auf 150 km/h in der Gegenwart. Anstelle der klassischen Schrägaufzüge mittels Laufkette sind große moderne Anlagen dazu seit Mitte der 1990er Jahre mit Linearmotoren ausgestattet, deren Konzept für Magnetbahnen entwickelt wurde. In den 1970er Jahren gelang es erstmals, Loopings mit Hilfe von Klothoiden – Kurven mit zunehmendem bzw. abnehmendem Radius, die aus dem Autobahnbau bekannt waren – so zu konstruieren, dass sie nicht mehr die Gefahr von Rückenschäden infolge von Überlastung bargen (Schützmannsky 2001: 46 ff.; Zeller 2002: 238 ff.). Tatsächlich sind die Grenzen des Machbaren beim Bau von Achterbahnen inzwischen durch die Belastbarkeit des Menschen gegeben, die kurzzeitig bei etwa 9 g Vertikalbeschleunigung (dies entspricht dem neunfachen Körpergewicht) liegt.13 An die physischen (bzw. rechtlich zugelassenen) Belastbarkeitsgrenzen wird herankonstruiert, um den Besuchern durch neue Bewegungserlebnisse und Körperempfindungen ein rauschhaftes Fahrgefühl zu ermöglichen und den Eindruck eines Spiels mit dem Risiko zu erwecken, das tatsächlich jedoch nicht gegeben sein darf (Poser 2006a: 27 ff.). Um Zusammenstöße zu vermeiden, wurden die Geschäfte schon frühzeitig mit einem Blockstreckensystem ausgestattet, das ebenso aus der Eisenbahntechnik übernommen ist, wie das Mitfahren von Bremsern auf frühen Bahnen14 oder verschleißarme Wirbelstrombremsen. Sicherheitsrelevante Ergebnisse aus der Kraftfahrzeugforschung und der Konstruktion von Sportgeräten flossen ebenfalls ein – beispielsweise in die Formgebung von Sitzen und Haltegriffen (Meier 1971: 79 ff). Ende der 1980er Jahre untersuchte eine interdisziplinäre Forschungsgruppe die Belastungen bei der Nutzung Fliegender Bauten unter besonde-
12
Die erste in Serie gebaute Pinfari-Bahn folgte 1957, die erste deutsche Stahlachterbahn (Hersteller: Schwarzkopf, Berechnung: Stengel) entstand 1964. Siehe Schützmannsky 2001: 18 ff.
13
Dies ist ein durch Training erreichbarer Grenzwert; Astronauten sind beim Start lediglich 3 g ausgesetzt. In DIN 4112 ist die maximal zulässige Belastung mit 6 g Vertikalbeschleunigung und 3 g Horizontalbeschleunigung festgelegt; Schützmannsky 2001: 87. Eine Übersicht über die Konstruktionsdaten verschiedener Anlagen siehe Ebenda: 140-154.
14
Eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaute Achterbahn, die noch mit Bremsern betrieben wird, ist auf dem Tivoli in Kopenhagen erhalten.
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Technik auf dem Jahrmarkt
rer Berücksichtigung von Achterbahnen (Schützmannsky 2001: 82 ff.). Auch wenn dabei deutlich wurde, wie schwer sich Erfahrungen und Messverfahren aus anderen Sparten übertragen lassen, gelang es doch, die Wirkung von Vertikal- und Horizontalbeschleunigung genauer zu fassen und damit letztlich ein präziseres Konstruieren, eine genauere technische Vorlage für Sinneseindrücke der Besucher zu ermöglichen. Die Geschichte des Jahrmarkts und insbesondere die von modernen, schnellen Fahrgeschäften lässt sich folglich als die Geschichte einer immer präziseren Steuerung von Emotionen deuten – wenn auch wegen individueller Reaktionen der Fahrenden eine gewisse Bandbreite bleibt.15 Dabei wandelt sich der Spielcharakter immer mehr von einem Spiel der Besucher zu einem Vorspiegeln des Spiels durch die Unternehmen.
Distribution von Technik Die Darstellung und Nutzung von innovativer Technik auf dem Jahrmarkt trägt zu ihrer Distribution bei. Im Fall der Photographie und des Films ist die Bedeutung des Jahrmarkts evident: Die Gründung von Photoateliers war zunächst nur in größeren Städten rentabel. So zogen Photographen seit den 1860er Jahren über die Jahrmärkte und machten die neue Technik in ländlichen Regionen bekannt. Während Photographen um 1900 noch selbstverständlich waren, ging dieses Jahrmarktsangebot mit zunehmender Verbreitung von Photoapparaten zurück; so gab es auf dem Wiener Prater 1941 noch vier eingetragene Photogeschäfte, auf dem Hamburger Dom 1956 nur noch zwei und 1961 nur noch eines.16 Noch bedeu-
15
Siehe Poser 2003: 130 ff., der Leiter der Entwicklungsabteilung der Fa. Mack Rides unterstreicht die Bandbreite der individuellen Reaktionen bei Achterbahnbesuchern: Vortrag „Wie konstruiert man den ‚Kick’ in eine Achterbahn hinein? Zum Bau von Fahrgeschäften für moderne Vergnügungsparks“ von Thorsten Köbele im Arbeitskreis Technikgeschichte des VDI Berlin-Brandenburg am 22. März 2007.
16
Zur Photographie auf dem Jahrmarkt siehe Szabo 2006: 119 ff., zur selbstverständlichen Verbreitung der Photogeschäfte auf dem Jahrmarkt siehe die Postkartenabdrucke in Szabo 2007: 1, 11 (Bildmitte hinten), 12. Siehe außerdem die Übersichtskarte über den Wiener Prater 1941 in La Speranza 1997: 78 f., sowie Amt für Marktwesen: Hamburger Dom 1956, S. 2 [Entwurf einer Pressemitteilung oder einer Broschüre]. In: Hamburger Staatsarchiv, 371-16 II Behörde für Wirtschaft und Verkehr (BWV) 3202 und Namentliches Verzeichnis der Teilnehmer am Dommakt 1961. In: Hamburger
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Kultur des Vergnügens
tender war der Einfluss auf die Verbreitung des Kinos: Bis zur Etablierung des Filmverleihs durch die französische Firma Pathé Frères verfügten Unternehmen nur über eine begrenzte Zahl von (selbst erworbenen) Filmen, waren auf ständige Ortswechsel angewiesen und wurden deshalb als Wanderkinos geführt. Häufig integrierten Schausteller nach dem Vorbild großstädtischer Varietés eine kurze Filmvorführung als Programmnummer in ihre Darbietungen. Ein Vorteil der Wanderkinos war neben der großen Popularität des neuen Mediums das relativ geringe Gewicht der Geschäftsausstattung. Deshalb reisten zahlreiche Schausteller mit Kinematographen (Hofmann 1992: 224, Eberstaller 2004: 88) und förderten so die Verbreitung dieser neuen technikbasierten Freizeitbeschäftigung: „Kein Festplatz, kein Varieté, keine Volksbelustigung ist heute ohne den Kinematographen denkbar“, heißt es 1905 in der Schaustellerzeitschrift Komet (Komet, 1905, Nr. 1067, zit. nach Endres 1983: 234). Dass Karussellbesatz und Skooter ein Interesse am Autofahren weckten und so die Distribution von Autos beeinflussten, lässt sich eher annehmen als abschätzen: Autoskooter und kleine Benzinwagen scheinen in der Vorkriegszeit auch für Erwachsene attraktiv zu sein, während heute meist Kinder und Jugendliche dominieren.17 In eine ähnliche Richtung weist die Geschichte einer Motorrollerbahn, die Erich Knocke nach dem Zweiten Weltkrieg in Essen betrieb: Sie bot die Möglichkeit, selbständig auf einer straßenähnlichen Kreisbahn zu fahren und war zunächst ein ausgesprochen lukratives, modernes Geschäft, verlor jedoch mit zunehmender Verbreitung von Mopeds an Attraktivität und musste aufgeben werden (Zimmermann 2000: 14 f., 18). Besonders deutlich wird der werbende Charakter von Automobil-Fahrgeschäften im Falle der Opel-Bahn, auf der Jahrmarktsbesucher in den 1920er und 30er Jahren ohne Führerschein Kleinwagen fahren konnten. Diese sehr aufwändigen und teuren Geschäfte (in jedem Wagen fuhr ein Chauffeur mit) finden sich auf mehreren großen Plätzen wie dem Luna Park in Berlin, dem Hamburger Dom, dem Münchner Oktoberfest und dem Wiener Pra-
Staatsarchiv, 371-16 II BWV 3204. Auf La Speranzas Übersichtsplan für 1996 ist kein Photogeschäft mehr verzeichnet; siehe Ebenda, 122 f. 17
Benzinbahnen verschwanden zu Beginn der 1960er Jahre zugunsten von Gokart-Bahnen. Exemplarisch sei auf eine Abbildung verwiesen in Eberstaller 2004: 64.
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Technik auf dem Jahrmarkt
ter.18 Opel hatte als erster Automobilbauer in Deutschland 1924 auf Fließ- und Fließbandproduktion umgestellt (Braun/Kaiser 1992: 111 ff.) und war wegen dieser Prozessinnovation auf Werbung bzw. Absatzsteigerungen angewiesen. Sowohl ihre Verbreitung als auch ein Patentschutz weisen darauf hin, dass die Opel-Bahn recht erfolgreich war oder vom Unternehmen zumindest so eingeschätzt wurde.19
DER AUTOMOBILFLUG
Abbildung 3: Mauricia de Tiers mit ihrem ‚Automobil‘, Foto: E. Weber 1906, Archiv: Markt- und Schaustellermuseum Essen Mauricia de Tiers bot mit ihrem Automobil eine nicht ganz ungefährliche Attraktion, für die sie Technik- und Vergnügungsinnovationen vereinte, Technik nutzte und darstellte sowie mutmaßlich einen Bei18
Ein Photo der Opel-Bahn auf dem Münchner Oktoberfest (1927) ist im Archiv des Münchner Stadtmuseums, Sammlung Puppentheatermuseum erhalten; abgedruckt in Poser/Hoppe/Lüke, 169; siehe außerdem den Komet, Nr. 2223 (1927), 12 (Hamburger Dom), H. Weber, 2000: 90 (Luna Park, Berlin 1929), La Speranza 1997: 113, Photos: 160 (Prater, Wien bis 1934).
19
Postkarte „Eberhard’s Original Opel Automobilbahn, D.R.P. 461971“, Hamburger Dom, undatiert abgedruckt in: Arbeitsgemeinschaft 650 Jahre Hamburger Dom (1979), Kap. Einsteigen bitte! (unpaginiert). Das xerokopierte Heft mit Artikeln und Werbung ist Bibliotheksbestand des Hamburger Staatsarchivs.
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Kultur des Vergnügens
trag zur Distribution von Technik – des Autos – leistete. Die Idee zur Schleifenfahrt mit Sprung kam aus dem Jahrmarkts- und Zirkusmilieu: Ähnliche Sprünge waren zuvor von Radfahrern gezeigt worden. Anders als für Steilwandfahrten auf kegelförmigen oder zylindrischen Bahnen, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert mit Fahrrädern und später auch mit Motorrädern und Kleinwagen gezeigt wurden,20 war für den ‚Automobilflug‘ eine genaue Bemessung notwendig. In Testreihen mit einem Probegerüst und einer Puppe im Wagen wurden die Gerüstkonstruktion, die Bahnlänge und -krümmung, die Flugstrecke, die Konstruktion und das Gewicht des Wagens sowie die Spurführung untersucht. Getragen von einer Stahlgitterkonstruktion entstand eine etwas ineinandergeschobene, annähernd S-förmige Strecke. Die Startposition lag in 15 m Höhe. Im ersten Teilstück folgte auf eine steile Beschleunigungsstrecke eine enge Kurve nach innen, an deren Ende die ca. 15 m lange Flugbahn begann. Der Flug führte im leichten Bogen kopfüber zu einer etwas breiter ausgelegten Rampe, deren oberes Ende so weit vorgewölbt war, dass die Bahn dem Neigungswinkel des fliegenden Wagens entsprach. Im ersten Teil der Strecke war das Fahrzeug durch zwei Schienen spurgeführt und muss zusätzlich über eine gleitende Verankerung mit der Rampe verfügt haben, im zweiten wurde es von einer Mittelschiene auf Kurs gebracht. Die Konstruktion der Spurführung war experimentell ermittelt worden. De Tiers stromlinienförmiger Wagen wurde mit kräftigen Luftreifen ausgestattet, um den Schlag beim Aufkommen abzufedern. Es handelte sich allerdings nicht um ein Auto, sondern um ein lenkungsloses Fahrzeug, ähnelnd den Wagen für Rutschbahnen in Vergnügungsparks (H. Weber 2006: 38 f.). Eine Ausstattung mit Motor und Lenkung wäre nicht nur überflüssig, sondern auch riskant gewesen, weil motorisches Beschleunigen zu höheren Geschwindigkeitsdifferenzen beim Sprung geführt und eine Lenkung ein Verreißen des Fahrzeugs bei ungleichmäßiger Landung begünstigt hätte. Die Bezeichnung „Automobil“ diente vermutlich Webezwecken: So wurde die Modernität und Außergewöhnlichkeit der Vorführung hervorgehoben. Dabei profitierte die Schaustellerin mutmaßlich in ähnlicher Weise vom Prestige des Automobils und förderte gleichzeitig dessen Attraktivität wie zeitgenössische Autorennen oder später Autoskooter und Opelbahnen.
20
Bei der Steilwandfahrt muss lediglich die Geschwindigkeit hoch genug sein, um die nötige Zentripetalkraft zu gewährleisten: Opschondek/Dering/ Schreiber 1995: 24.
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Technik auf dem Jahrmarkt
Abbildung 4: Rigi-Turmbahn des Bremer Schaustellers F. W. Sieboldt, um 1925, Foto: Markt- und Schaustellermuseum Essen Webers Bericht unterstreicht die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens. Ob die Anlage rein empirisch entstand oder die Konstruktion vorab berechnet wurde, geht allerdings nicht klar hervor: Geschildert wird nur die empirische Seite, auf vorhergehende Berechnungen könnte eine sehr allgemein gehaltene Formulierung hinweisen: „Man ersieht hieraus [aus der Beschreibung der Aufführung], welch genaue Berechnung und Verwertung der physikalischen Gesetze auch den artistischen Produktionen zu Grunde gelegt werden müssen“ (E. Weber 1906: 204). Genauer eingegangen wird auf die Figur: „Da die Größe und Schwere des Fahrers [für die Schaustellung] ebenfalls in Rechnung gezogen werden muß, so ... [wurde die Akrobatin zunächst] durch eine Gliederpuppe ersetzt, deren allgemeine Körperform und deren Gewicht mit dem der Künstlerin übereinstimmen“ (Ebenda: 202). Der Einsatz der Puppe dürfte etwas Neues gewesen sein.21 Für die Tests hätte ein entsprechendes Gewicht fast dieselben Dienste leisten können; ob die Puppe zur exakteren Gewichtsverteilung diente, aus Mangel an Abstraktionsvermögen genutzt wurde oder zur Inszenierung der durch mehrere Photos aufwändig dokumentierten Versuche beitragen sollte, muss dahingestellt bleiben. 21
Versuche mit Puppen sind in der Luftfahrt derzeit erst aus den 1930er Jahren bekannt; freundliche Information von Hans-Joachim Braun, Hamburg und Christian Kehrt, München.
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Kultur des Vergnügens
Abbildung 5: Auto- und Eisenbahn-Anlage des Essener Schaustellers und heutigen Leiter des Markt- und Schaustellermuseums Erich Knocke im Ruhrgebiet um 1977, Foto: Markt- und Schaustellermuseum Essen Die Schaustellung vereint eine mehr oder weniger wissenschaftliche Vorplanung, eine innovative Versuchsanordnung, eine technische Konstruktion und die werbetechnische Überhöhung des Gezeigten als Automobil-Technik an einem Ort – der Pariser Konzerthalle -, an dem nach zeitgenössischem Verständnis Beiträge zur Hochkultur geleistet und nicht die technik-basierte Zivilisation präsentiert wurde. Dieser hochrangige Veranstaltungsort unterstrich die Bedeutung der Schaustellung. Dadurch förderte de Tiers mit ihrem Automobilflug nicht nur die Attraktivität von Autos, sondern trug zur Herausbildung eines modernen Technikverständnisses im Sinne von Technik als Teil der Kultur bei. Die ursprünglich anthropologische Vorstellung von Technik als Teil der materiellen Kultur wurde um 1900 mit Formulierungen wie „Die Maschine als Kulturwert“ (Wallichs 1911: 380) insbesondere von Ingenieuren postuliert. Sie begründeten ihre Vorstellung mit der Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten durch Technik und der sozialen Relevanz der Technik als Mittel der Problemlösung, während de Tiers mit einer vergnügungstechnischen Glücksmaschine an einem Ort der Hochkultur Anstoß zu Gedankenflügen gab.
Quellen Arbeitsgemeinschaft 650 Jahre Hamburger Dom (1979): 650 Jahre Hamburger Dom. Das große Volksfest des Nordens. November 1979. Norderstedt: Jaguar.
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Technik auf dem Jahrmarkt
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Abbildung 1: Versuchsaufbau zum ‚Automobilflug’, Foto: E. Weber 1906, Archiv: Markt- und Schaustellermuseum Essen Abbildung 2: Versuchsanordnung mit Gliederpuppe, Foto: E. Weber 1906, Archiv: Markt- und Schaustellermuseum Essen Abbildung 3: Mauricia de Tiers mit ihrem ‚Automobil‘, Foto: E. Weber 1906, Archiv: Markt- und Schaustellermuseum Essen Abbildung 4: Rigi-Turmbahn des Bremer Schaustellers F. W. Sieboldt, um 1925, Foto: Markt- und Schaustellermuseum Essen Abbildung 5: Auto- und Eisenbahn-Anlage des Essener Schaustellers und heutigen Leiter des Markt- und Schaustellermuseums Erich Knocke im Ruhrgebiet um 1977, Foto: Marktund Schaustellermuseum Essen
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Jahrm arktkino – E ine europäische In st itut ion JOSEPH GARNCARZ
In Europa wurden Filme ab 1895 in Mehrzwecksälen, Varietés, Jahrmarktkinos und ab 1905 auch in ortsfesten Kinos vorgeführt. Als Kino bezeichnen wir die Projektion von Filmen vor einem Publikum, wenn nichts als oder zumindest ganz überwiegend Filme gezeigt werden. Da zum Beispiel Varietés neben einem Filmprogramm eine Vielzahl von Bühnennummern präsentierten, können sie nicht als Kinos gelten. Kinos sind durch eine große historische Vielfalt gekennzeichnet: Ob mobil oder ortsfest, ob die Filme unter freiem Himmel oder in einem geschlossenen Raum vorgeführt werden, ob es sich um eine private oder öffentliche Vorführung handelt, ob sie kommerziellen oder nicht-kommerziellen Zwecken dient, ob fiktionale oder nicht-fiktionale Filme gezeigt werden, ob Kurzfilme oder abendfüllende Filme im Programm sind – alle diese Aspekte können variieren und damit zur Unterscheidung von Kinotypen dienen. Wenn man Kino so definiert, dann entstand das Phänomen Kino in Europa ab 1895 – und zwar nicht in der Form des ortsfesten Kinobaus, sondern als mobiles Unternehmen in zwei Varianten (Rossell 2000). Die erste Form war das Saalkino. Filme wurden in Sälen gezeigt, die unabhängig von der Filmvorführung existierten und primär anderen Zwecken dienten. In Breslau etwa haben 1896 Franz Jelitte und E. Wenzel, die beide dort ansässig waren, im Saal des Restaurants Behra Filme gezeigt (Oberschlesischer Wanderer 1897); 1905 präsentierte, um ein weiteres Beispiel zu geben, der Ingenieur Kade aus Dresden kinematographische Vorführungen im Großen Konzerthaussaal (Schlesische Zeitung 1905). Solche Saalvorstellungen waren das heterogenste Phänomen des frühen Kinos in Deutschland. Filmprogramme wurden aus kommerziellen oder nicht-kommerziellen Gründen in Sälen gezeigt, um Menschen zu unterhalten, zu belehren oder religiös zu bilden. Die Betreiber solcher Saalgeschäfte kamen aus verschiedenen Berufsgruppen, zu 123
Kultur des Vergnügens
denen Schausteller ebenso gehörten wie Artisten. Die zweite Form des frühen Kinos war das Jahrmarktkino, das ein klares kulturelles Profil aufwies. Jahrmarktkinos waren feste Bauten, die zerlegt und zum nächsten Ort transportiert wurden und vorzugsweise auf Jahrmärkten gastierten. Sie wurden von Schaustellern betrieben. In Jahrmarktkinos liefen Unterhaltungsprogramme, die gegen Entrichtung eines Eintrittsgeldes von jedermann besucht werden konnten. In diesem Beitrag entwickele ich die These, dass das Jahrmarktkino eine spezifisch europäische Institution war, die aus der Kultur der Jahrmärkte entstand und im Wesentlichen an diese gebunden blieb. Zunächst zeige ich exemplarisch auf der Basis bisher kaum genutzter Primärquellen, wie das Jahrmarktkino deutschsprachiger Schausteller funktionierte, erkläre seinen enormen Erfolg als auch seinen Niedergang nach zwei Jahrzehnten. Anschließend vergleiche ich die Ergebnisse mit den grundlegenden Charakteristika des Jahrmarktkinos verschiedener europäischer Länder, wobei ich mich auf primäre und sekundäre Quellen stütze. Abschließend konfrontiere ich die Erkenntnisse zum Jahrmarktkino in Europa mit unserem Wissen über die Situation in außereuropäischen Ländern, soweit sie in der mir zugänglichen Forschungsliteratur dargestellt werden. Dieser Vergleich erlaubt es, die hier vertretene These zu begründen, dass das Jahrmarktkino eine spezifische europäische Institution war. Als Primärquellen habe ich sowohl die deutschsprachige Presse der Zeit als auch Akten aus Stadt- und Staatsarchiven verwendet. Die wichtigste Quelle ist die Branchenzeitschrift „Der Komet“ (18831943), die als Kommunikationsorgan der Schausteller diente. In dieser Zeitschrift gibt es eine regelmäßige Rubrik, die „Fest-, Messund Marktberichte“, die Informationen über die Aktivitäten der Jahrmarktkinobesitzer enthält, insofern sie von den Schaustellern selbst der Redaktion mitgeteilt wurden. Auf dieser Basis wurde im Forschungsprojekt „Industrialisierung der Wahrnehmung“ an der Universität Siegen eine Datenbank erstellt, die mehr als 7.000 Gastspiele von Jahrmarktkinos aus den Jahren 1896 bis 1926 erfasst (Garncarz, Ross 2006).1 Die Datenbank enthält ausschließlich Angaben von Schaustellern, die deutsch sprachen. Da die Datenbank auch die Aktivitäten von deutschsprachigen Jahrmarktkinounternehmern in den Nachbarländern enthält, lassen sich auf die-
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Die Datenbanken können online benutzt werden: http://www.fk615.unisiegen.de/de/teilprojekt.php?projekt=A5
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Jahrmarktkino
ser Basis auch Aussagen über die Verbreitung und Entwicklung des Phänomens in Mitteleuropa machen.
Jahrmarktkino in Deut schland In den ersten Jahren waren Jahrmarktkinos in der Regel kleine Holzbuden mit einfachen Sitzbänken. Ab 1902 etablierte sich ein neuer Typ des Jahrmarktkinos, der so genannte „rollende Palast“ (Komet 1906) mit 600 bis 700 Sitzplätzen. Die Fassaden der größeren Kinobauten waren kunstvoll gestaltet und aufwändig beleuchtet.
Abbildung 1: Philipp Leilichs ‚Cinematograf‘ um 1907, Foto: Filmmuseum Berlin – Stiftung Deutsche Kinemathek Eine Orgel sorgte für die musikalische Begleitung des Filmprogramms [Abb. 1]. Eine zeitgenössische Beschreibung gibt eine Anschauung von einem solchen „rollenden Palast“: „Die Sensation von Pirmasens bildete der hier in diesem Winter [1904/05] neuerbaute und zum ersten Male eröffnete Kinematographenpalast von Herrn Ludwig Ohr. Palast kann man das Geschäft mit Recht nennen, denn etwas Prunk- und Glanzvolleres kann man sich kaum denken. Die Fassade [...] wirkt wie ein Monumentalbau und erhebt sich in der Mitte bis zu einer Höhe von 13 Metern. Reiche Vergoldungen, Spiegeleinlagen und Bildhauerarbeiten im Verein mit mehreren überlebensgroßen Figuren bilden einen Schmuck, an dem auch nicht eine Linie störend wirkt. Das Ganze wird abends von einer blendenden Lichthelle überflutet. 16 Flammenbogenlampen und ca. 800 Glühlampen in geschmackvollster Anordnung erzeugen ein immenses Lichtmeer. [...] Große Bewunderung erregte auch die Riesen-Konzertorgel [...] und wusste man nicht, ob man mehr die herrliche Musik oder die prächtige Fassade bewundern sollte. [...]. Das Innere reiht sich dem Äußeren ebenbürtig an, und ist
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Kultur des Vergnügens man auf das Angenehmste überrascht über die elegante Ausstattung und die bequeme Anordnung der Sitzplätze und der Ein- und Ausgänge; der erste Platz erhebt sich in aufsteigender Höhe und sieht mit seinen mit rotem Seidenplüsch überzogenen Sitzen und Lehnen aus, als sei man im Parkett eines modernen Stadttheaters.“ (Komet 1905)
Moderne Stadttheater waren oft frei stehende, prächtige, tausend Zuschauer und mehr fassende Bauten (Hennrich 1992). Die Gestaltung des Zuschauerraums – eine Einteilung in Parterre, Ränge und Logen – kam dem Bedürfnis des Publikums nach sozialer Distinktion entgegen. Entsprechend der Sitzplatzkategorie wurden die Preise gestaffelt. Jahrmarktkinos orientierten sich an diesem Modell. Sie waren oft die größten Attraktionen auf den Jahrmärkten. Im Dunkeln signalisierte ein Lichtermeer an der Fassade der Kinos den Stellenwert dieser Schaupaläste für das Fest. Heinrich Hirdt warb auf seinem Briefbogen mit 16 Bogenlampen und 1.500 elektrischen Glühlampen, die sein Kino schmückten. Der Magistrat der Stadt München etwa wusste um die Signalwirkung der Jahrmarktkinos, akzeptierte daher nur die prächtigsten Kinos und wies ihnen während des Oktoberfestes die attraktivsten Standorte auf der Theresienwiese zu (Garncarz 2004). Blieb der Film im Varieté im Wesentlichen auf größere Städte beschränkt, so gastierten die Jahrmarktkinos vor allem in Klein- und Mittelstädten (rund 59 % aller Gastspiele der Jahrmarktkinos).2 In Schlesien zum Beispiel zeigten die internationalen Varietés in Breslau und Görlitz Filme (Zeltgarten, Liebich’s Etablissement, ViktoriaTheater in Breslau sowie Reichshallen- und Wilhelm-Theater in Görlitz). Außer der einzigen Großstadt Schlesiens, Breslau, besuchten Jahrmarktkinos vor allem die schlesischen Mittelstädte Görlitz, Grünberg, Glogau, Schweidnitz, Gleiwitz und Beuthen sowie die vielen Kleinstädte wie Glatz, Weißwasser in der Oberlausitz, Schoppinitz und Jauer. Aber auch viele Landstädte wie Liebau, GroßWartenberg und Godullahütte wurden angefahren – und selbst in Gemeinden mit weniger als 1.000 Einwohnern gastierten Jahrmarktkinos wie in Wahlstatt (Garncarz 2008). Jahrmarktkinos operierten in aller Regel nicht allein, sondern nutzten die Infrastruktur der Feste, Märkte und Messen, die eine große 2
Die Orte werden zeitgenössisch folgendermaßen klassifiziert (vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1908: 6-7): Landstädte 2.000 bis unter 5.000, Kleinstädte 5.000 bis unter 20.000, Mittelstädte 20.000 bis unter 100.000 und Großstädte 100.000 und mehr Einwohner.
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Bandbreite an Unterhaltungsmöglichkeiten boten (Petzoldt 1983). In Deutschland und den Nachbarländern gab es eine reichhaltige Kultur der Feste, Märkte und Messen, die regelmäßig stattfanden [Abb. 2]. Feste, Märkte und Messen wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend zu Vergnügungsstätten der Bevölkerung. Sie dauerten zwei bis drei Tage; nur wenige Veranstaltungen brachten es auf zwei bis drei Wochen. Während Feste in der Regel in religiösen Traditionen verankert waren wie das Kirchweihfest (regional auch Kirmes, Kirbe, Kilbe oder Dult genannt), waren Messen bzw. Märkte ursprünglich Warenumschlagplätze für Zwischenhändler bzw. den Endverbraucher. Aufgrund ihrer großen Zahl waren Feste für das Schaustellergewerbe von größter wirtschaftlicher Bedeutung.
Abbildung 2: Jahrmarkt in Berlin 1918, Foto: Landesarchiv Berlin Das Jahrmarktkino entwickelte sich in Deutschland ab 1896 vor allem aus dem auf Jahrmärkten verbreiteten mobilen Varieté der reisenden Schausteller [Abb. 3]. Der Begriff Varieté – deutsch ›Spezialitätentheater‹ – bezeichnete seit den 1880er Jahren in Abgrenzung zum Sprechtheater eine Theaterform, die ein Nummernprogramm mit hoch spezialisierten Künstlern unterschiedlichster Sparten wie Artisten, Sängern, Komikern und Tänzern anbot. Varietés boten eine kommerzielle Unterhaltung: Ein begeistertes, staunendes und lachendes Publikum garantierte einen gelungenen Varieténachmittag oder -abend. Mobile Varietés ließen sich leicht umrüsten, indem in die Theaterbauten eine Leinwand und ein Projektor installiert wurden. Viele Schausteller wie Robert Melich, August Schichtl oder Carl Wallenda stellten bereits ab 1896 ihren Varietéauf Kinobetrieb um.
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Abbildung 3: Robert Melichs ‚Original-Specialitäten-Theater‘ 1889 in Essen, Foto: Stadtbildstelle Essen Da Jahrmarktkinos vor einem von Jahrmarkt zu Jahrmarkt wechselnden Publikum spielten, war ihr Filmbedarf begrenzt. Der Kauf war daher die wirtschaftlich rentabelste Bezugsform der Filme; sie konnten so über mehrere Jahre bis zu ihrem physischen Verschleiß ausgewertet werden. Darüber hinaus entsprach der Kauf von Attraktionen einer langen Tradition des Schaustellergewerbes. Für länger dauernde Feste, auf denen es in aller Regel eine Konkurrenz durch andere Kinobetreiber gab, brauchten Schausteller einige Hundert Kurzfilme, um ihr Programm immer wieder neu zusammenstellen zu können. Im Unterschied zu Varietés, die nur ein Filmprogramm im Rahmen einer umfangreichen Bühnenschau präsentierten, zeigten Jahrmarktkinos hauptsächlich Filme. Das Publikum der Jahrmarktkinos sah ein 15-20-minütiges Programm aus Kurzfilmen, die stärker auf Spektakel als auf Narration setzten. Tom Gunning (1986) hat diesen Filmtyp als „Kino der Attraktionen“ bezeichnet – Filme, die den Sensationshunger von Schaulustigen befriedigen. Das dramaturgische Prinzip der Filmprogrammierung bestand in einer möglichst großen Vielfalt; gezeigt wurden fiktionale wie nicht-fiktionale Filme, Zauber- und Märchenfilme, Situationskomödien, Reisebilder und sensationelle Akrobatennummern. Dramen wurden kaum vorgeführt, da die illusionäre Teilhabe an erzählten Geschichten nicht zum kulturellen Kontext der Jahrmärkte passte. Das Jahrmarktkino in Deutschland war außerordentlich erfolgreich. Die Zahl der Gastspiele vervielfachte sich innerhalb weniger Jahre. Die ersten Jahrmarktkinos entstanden 1896, also wenige Monate,
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nachdem Filme erstmals öffentlich in Europa projiziert worden waren. 1900 wurden bereits mehr als 200 Gastspiele gegeben, 1902 waren es bereits 300, 1903 mehr als 400, 1905 mehr als 500, und von 1906 bis 1910 gab es pro Jahr etwa 700 Gastspiele. Um 1907 teilten sich etwa 500 Jahrmarktkinobesitzer den deutschen Markt. Das Geschäft ging so gut, dass sie sich oft für die kommende Saison ein neues mobiles Kino kauften, das über mehr Sitzplätze und ein vollständig neues Design verfügte. So ersetzte Heinrich Hirdt 1904 ein Kino im Stil eines orientalischen Palastes durch ein Gebäude im modisch-dekorativen Jugendstil. Wenn das Publikum nicht in Scharen Eintrittskarten gekauft hätte, wäre dies ökonomisch nicht möglich gewesen. Die Einnahmen, die mit dem Betrieb der Jahrmarktkinos erzielt wurden, waren immens: Der Jahrmarktkinobesitzer Mandt aus Bochum zum Beispiel verfügte 1909 über ein Brutto-Jahreseinkommen von 30.000 Mark (Der Globus 1909). Zieht man die Ausgaben für den Kauf der Filme, den Transport mit der Eisenbahn, die Hilfskräfte für den Aufbau des Kinos etc. von den Einnahmen ab, so ergibt sich ein Netto-Jahresverdienst von etwa 25.000 Mark, was das Einkommen höherer Regierungsbeamter im Jahr 1910 übersteigt (Hohorst, Kocka, Ritter 1975: 109). Wenn man bedenkt, dass Mandt nicht einer der Großen der Branche war, erhält man eine Vorstellung, wie lukrativ Unternehmungen waren, die über mehr als ein Jahrmarktkino verfügten und in mehreren Ländern gastierten.
Abbildung 4: Les Kiriki, acrobates japonais (Pathé, 1907), Foto : Lobster Films/Cinémathèque Française Was waren die wesentlichen Gründe für den enormen Erfolg der Jahrmarktkinos? Die Filmprogramme der mobilen Kinos waren für
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die Zuschauer ungleich attraktiver als die Programme der mobilen Varietés. Sie boten eine größere Vielfalt an Nummern, indem sie zum Beispiel nicht-fiktionale Bilder von fremden Ländern oder Naturkatastrophen präsentierten. Zudem waren die einzelnen Filme oft sensationeller als jede Bühnennummer der Varietés sein konnte und lösten damit eine stärkere Erregung und Begeisterung bei den Zuschauern aus. So waren Stars wie der Komiker Little Tich oder die Serpentintänzerin Annabelle zu sehen, die von Angesicht zu Angesicht nur die Hautevolee in den internationalen Varietés der Großstädte zu sehen bekam. Darüber hinaus erlaubte die Filmtechnik wie Stopptrick oder Doppelbelichtung Effekte, die auf der Bühne nicht zu realisieren waren. In dem Film Kiriki, acrobates japonais (FR 1906) überwindet ein Akrobat scheinbar die Schwerkraft, indem er vier seiner Kollegen auf einem Brett trägt, das nicht mittig über seiner Schulter liegt [Abb. 4]. Eine solche Sensation konnte nur auf Film produziert werden. Ist die im Vergleich zu den mobilen Varietés größere Vielfalt und Attraktivität der Filmprogramme ein entscheidender Grund für den Erfolg der Jahrmarktkinos, so kommt noch ein weiterer, nicht minder wichtiger Faktor hinzu: Jahrmarktkinos waren für die Zuschauer im Vergleich zu den Jahrmarktvarietés um bis zu zwei Drittel preiswerter. Darüber hinaus senkte eine Abstufung der Eintrittspreise – der teuerste Platz lag am weitesten von der Leinwand entfernt – die finanzielle Schwelle so weit, dass auch Menschen, die über sehr wenig Geld verfügten, sich den Eintritt ins Jahrmarktkino leisten konnten (Oktoberfest-Repetitorium 1901). Das Jahrmarktkino war also sehr erfolgreich, da es im Vergleich zum mobilen Varieté vielfältigere und sensationellere Programmangebote zu einem günstigeren Preis machte. Das Jahrmarktkino in Deutschland kam jedoch 1911 in eine wirtschaftliche Krise; die Zahl der Gastspiele war zum ersten Mal deutlich rückläufig. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war es wirtschaftlich so gut wie unbedeutend geworden. Der Grund dafür ist eine Innovation der Aufführungsform, die Etablierung ortsfester Kinos. Gab es 1905 nur 40 ortsfeste Kinos in Deutschland, so wuchs die Zahl im Jahr 1906 auf 200; 1908 gab es bereits mehr als 1.000 Kinos, 1910 beinahe 2.000 und 1912 bereits mehr als 3.000. Wurden die ersten Kinos in Großstädten gegründet, so breiteten sie sich schnell in den Mittel- und Kleinstädten aus. In Schlesien zum Beispiel eröffneten die ersten ortsfesten Kinos 1906 in der Großstadt Breslau und in der Mittelstadt Beuthen (in Breslau das Fata-Morgana, in Beuthen 130
Jahrmarktkino
der Grand-Kinematograph). In den Mittelstädten Liegnitz (Metropol), Görlitz (Empire-Theater), Kattowitz, Gleiwitz, Hindenburg (GrandKinematograph) gab es erstmals 1907 ein ortsfestes Kino, in Ratibor 1909 (Metropol). Breslau hatte bei etwa 470.000 Einwohnern 1907 fünf ortsfeste Kinos (das Fata-Morgana-Kino in der Nikolaistraße nebst Filiale in der Rosenthalerstraße, die Lachmuskel in der Klosterstraße und in der Friederich Wilhelmstraße, den Cito-Biograph an der Schmiedebrücke) (Friebe 1908). Der Gründungsboom ortsfester Spielstätten wurde von der großen Menge an Filmen getragen, die für den europäischen Markt der Jahrmarktkinos produziert worden war. Jahrmarktkinos verloren ihr Publikum, weil die ortsfesten Kinos in den ersten Jahren ein sehr ähnliches Filmprogramm zu einem noch günstigeren Preis zeigten – und dies zudem noch ganzjährig. Die Jahrmarktkinobesitzer hatten keine Wahl; sie mussten auf den Erfolgstrend der ortsfesten Kinos reagieren. Am 18. März 1914 hielt der Bezirksinspektor des VI. Münchner Stadtbezirkes in einer Aktennotiz fest: „V[on] k[urzer] H[and] wiedervorgelegt mit dem Berichte, dass diesseits schon die Wahrnehmung gemacht wurde, dass die [Jahrmarkt-]Kinos nicht mehr so gut gehen, wie vor einigen Jahren. Es dürfte dies darauf zurückzuführen sein, dass die städtische Bevölkerung mit [ortsfesten] Kinos geradezu übersättigt ist und daher die Kinovorführungen auf der Festwiese [des Oktoberfestes] fast ausschließlich von Fremden besucht werden. Den Städtern ist der Kino keine reizvolle Neuheit mehr. An den Tagen, an denen die Festbesucher von auswärts fehlen, machen daher die [Jahrmarkt-]Kinos schlechte Geschäfte.“ (Oktoberfest-Repititorium 1914)
Da Jahrmarktkinos beweglich waren, konnten sie in kleinere Städte ausweichen, in denen es noch keine ortsfesten Kinos gab. So gastierten Jahrmarktkinos zum Beispiel in Schlesien zuletzt im Juni 1911 in Breslau; anschließend finden sich nur noch Nachweise von Gastspielen für eine kleinere Mittelstadt (Bismarckhütte) sowie für Kleinstädte (Schoppinitz), Landstädte (Godullahütte) und Dörfer (Bernstadt). Erst als ortsfeste Kinos um 1910 in größerer Zahl auch in Kleinstädten gegründet wurden, begann ab 1911 also der Niedergang des Jahrmarktkinos. In Schlesien sind die letzten Gastspiele im Jahr 1913 nachweisbar. Der Erste Weltkrieg beschleunigte diesen Trend, wenn das Jahrmarktkino überhaupt noch eine Rolle spielte, zunehmend – nicht nur durch Einberufungen von Schaustellern, sondern vor allem, weil viele Feste abgesagt wurden.
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Kultur des Vergnügens
Die meisten Schausteller blieben ihrem Beruf treu und wechselten, als das Schaustellergewerbe nach dem Ersten Weltkrieg wieder gefragt war, nur ihr Schauobjekt und traten fortan mit Tierdressurnummern, Russenrädern oder dergleichen auf. Nur sehr wenige Schausteller gründeten ortsfeste Kinos, da es zum Selbstverständnis des Berufsstands gehörte, nicht sesshaft zu sein.
Jahrmarktkino in Europa In Großbritannien (Scrivens, Smith; Tulmin 2008), Frankreich (Deslandes, Richard 1968; Aurora 1996), Italien (Bernardini 2001), Österreich-Ungarn (Kieninger 1992; Kubo 1993) und Belgien (Convents 1994) gab es Jahrmarktkinos wie in Deutschland (Swartz 1987): Kinobauten, die für den Transport zerlegt werden konnten, wurden von Jahrmarkt zu Jahrmarkt bewegt und zeigten den Zuschauern für ein Eintrittsgeld ein unterhaltsames Programm mit kurzen Filmen. 1910 betrug die europäische Bevölkerung (einschließlich der europäischen Russen und Türken) 410 Millionen; die oben erwähnten Länder (Deutschland eingeschlossen) machten rund 60 % der europäischen Bevölkerung aus, so dass mit den genannten Ländern ein signifikanter Teil Europas erfasst wird. Das Jahrmarktkino entstand in vielen europäischen Ländern zeitgleich, in denen der Jahrmarkt ein integraler Bestandteil der kulturellen Tradition war. In Europa gab es eine reichhaltige Kultur der Feste, Märkte und Messen, die regelmäßig stattfanden. Diese Kultur war aus zwei Traditionslinien entstanden: Die erste ist das eng geknüpfte Netzwerk des Handels, das sich über Jahrhunderte herausgebildet hatte. Mit dem Autarkiegewinn der Städte entstand im Mittelalter, getragen von Organisationsformen der Kaufleute wie den Gilden, ein sich geographisch immer stärker ausbreitender Handel mit Waren aller Art, von Gütern des täglichen Bedarfs bis hin zu Luxuswaren, die auf Märkten angeboten wurden. Die in der Regel jährlich stattfindenden Märkte – daher der Name: Jahrmarkt – wurden auch von Schaustellern besucht, die Vergnügungen boten. Die zweite Traditionslinie ist die der katholischen Kirche, die eine eigene Kultur der Theatralität und prunkvoll-figürlichen Repräsentation hervorgebracht hat. Die zunehmende Herausbildung von Festen, die neben den Märkten für Schaustellungen aller Art immer wichtiger wurden, geht auf den Einfluss der katholischen Kirche zurück. Die protestantische Kirche, für die das Bilderverbot sowie eine kapitalistische Arbeitsethik eine große Bedeutung hatte, hat die Feste seit
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ihrem Siegeszug ab dem 16. Jahrhundert ein Stück weit zurückgedrängt, jedoch nie unterbinden können. Obwohl die meisten Protestanten Unterhaltung ebenso geschätzt haben dürften wie Katholiken, gab es aufgrund der Überzeugung und Machtstärke der Amtskirchen um 1900 mehr Feste in katholischen als in protestantischen Regionen. Daher gastierten in katholischen Regionen in aller Regel mehr Jahrmarktkinos. Großbritannien, das um 1900 eine große Dichte an Festen aufwies, ist keine Ausnahme von der formulierten Regel: Obwohl die Church of England von der protestantischen Theologie beeinflusst war, folgte sie hinsichtlich ihrer Liturgie und Bräuche stärker der katholischen Tradition als die meisten anderen religiösen Gemeinschaften, die von der Reformation geprägt wurden. Die reiche europäische Festkultur bildete im ausgehenden 19. Jahrhundert die Basis für die Entwicklung des Schaustellergewerbes zu einem professionellen und hocheffizienten Gewerbe. Es entstanden eigene Berufsverbände, Branchenzeitschriften und Betriebe, die Produkte für Jahrmärkte herstellten und vertrieben. Schausteller bedienten mit Karussells, Berg- und Talbahnen, mobilen Varietés und Kinos das Bedürfnis der Jahrmarktsbesucher, die eigenen physischen und psychischen Grenzen auszutesten. Spektakuläre Attraktionen zu zeigen, war typisch für die Unterhaltungskultur der Jahrmärkte, die vor allem Sensation Seeker ansprachen.3 Jahrmärkte boten damit eine Art der Unterhaltung, die – im Unterschied zu narrativen Unterhaltungsformen – nicht an soziale bzw. nationale Schranken gebunden war. So konnten junge Leute aus Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich, aus allen sozialen Schichten gleichermaßen, die neuesten sensationellen Fahrgeschäfte bzw. Schaunummern genießen. Da die Kultur der Sensationen nicht nationalspezifisch ist, zeigen die erhaltenen Programmzettel der Jahrmarktkinos kaum eine nationale Varianz. So wie deutsche, britische, italienische oder französische Besucher die gleiche Freude am Achterbahnfahren haben konnten, vergnügten sie sich mit den gleichen Filmen. Obwohl das Jahrmarktkino transnational war, gab es eine Strategie, es für das jeweilige lokale Publikum noch attraktiver zu machen. Die Lokalaufnahme, die oft von den Schaustellern selbst vor Ort aufgenommen wurde, zeigte die Stadt, die das Jahrmarktkino gerade besuchte, und ermöglichte
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Annemone Ligensa (2009) wendet in ihrer Dissertation Marvin Zuckermans Konzept des ‘sensation seeking’ auf das frühe Kino an (work in progress).
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dem lokalen Publikum oft sogar, sich selbst auf der Leinwand zu sehen (Jung 2002; Toulmin, Loiperdinger 2008). Da die Jahrmärkte das Bedürfnis nach Sensationen, das keine nationalen Grenzen kennt, bedienten und anfachten, zirkulierten die Filme grenzüberschreitend. 79,1 % aller zum Beispiel in Deutschland vor 1908 angebotenen Filme kamen aus dem Ausland; die französische Firma Pathé war mit einem Anteil von 37,1 % der größte Anbieter auf dem deutschen Markt.4 Im Unterschied zu bisherigen Annahmen ging der Erfolg der Firma Pathé jedoch nicht nur auf effektive Marktstrategien zurück, zu denen neben der Preispolitik auch die Etablierung von Niederlassungen in anderen Ländern gehörte. Die Firma Pathé konnte nur deshalb eine so große Menge an Filmen vor dem Gründungsboom ortsfester Spielstätten herstellen und verkaufen, weil es mit dem Jahrmarktkino in Europa einen großen Absatzmarkt gab und weil Pathé einen Typ von Filmen produzierte, der für diesen Markt bestens geeignet war. Die Unterschiede der Kinobauten waren zwischen den verschiedenen europäischen Ländern gering; sie bezogen sich im Wesentlichen auf den Namen und die künstlerische Gestaltung der Fassade. Daher konnten Schausteller die Jahrmarktkinobauten genauso gut von inländischen wie von ausländischen Anbietern kaufen. Da sich das Jahrmarktkino zwischen den verschiedenen europäischen Ländern nicht wesentlich unterschied, konnten Schausteller mit ihren Kinobauten problemlos nationale Grenzen überschreiten. Deutsche Jahrmarktkinos gastierten in Österreich-Ungarn, der Schweiz, in Luxemburg, Italien, Belgien und den Niederlanden, während ausländische Unternehmen in Deutschland ihre Jahrmarktkinos präsentierten. Die aus Worms stammende Familie Bläser zum Beispiel gastierte mit ihren Jahrmarktkinos außer in Deutschland in den Jahren 1897 bis 1908 auch in Luxemburg, Österreich-Ungarn und Italien. Die Genfer Familie Praiss war in den Jahren 1899 bis 1909 in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich-Ungarn unterwegs. Jahrmarktkinobauten waren feste Bauten aus Holz, Transport von einem Fest zum anderen zerlegt werden die Kinobauten im Verlauf der Jahre aufgrund der Konkurrenz und des großen Publikumszuspruchs an
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die für den konnten. Da wachsenden Größe deut-
Die Daten wurden auf der Basis der Angebotsdatenbank des Siegener Forschungsprojekts „Industrialisierung der Wahrnehmung“ erhoben.
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lich zunahmen, wurde ihr Transport zunehmend zu einem logistischen Problem. Grundsätzlich konnte man mobile Kinobauten mit Pferd und Wagen bzw. mit einer Lokomobile – das ist eine mit Dampf angetriebene Zugmaschine – über Straßen transportieren, was die britischen Schausteller wahrscheinlich bevorzugt taten (Fay 1966; Scrivens, Smith 1999: 16 ff.; Tulmin 2008: 19 ff.). Je schwerer die „rollenden Paläste“ und je größer die Entfernungen jedoch waren, desto eher war die Eisenbahn das geeignete Transportmittel. Auf dem Kontinent bedienten sich die Schausteller für den Transport der Jahrmarktkinos in der Regel der Eisenbahn, deren Schienennetz in Europa um 1900 so ausgebaut war, dass in vielen Ländern beinahe jeder kleine Ort erreicht werden konnte. Für den Transport eines großen Jahrmarktkinos wurde mitunter ein ganzer Zug benötigt. Daher hing die Verbreitung des Jahrmarktkinos in den einzelnen europäischen Ländern nicht nur von der kulturellen Infrastruktur der Märkte und Feste ab, sondern ebenso von der Dichte des Eisenbahnnetzes [Abb. 5]. Als Netzdichte bezeichnet man das Verhältnis der Länge aller Verkehrsverbindungen innerhalb eines Gebietes zu dessen Fläche.5 Die größte Netzdichte der Eisenbahnen in Europa (mit Werten größer als 100) wiesen Ende des 19. Jahrhunderts Belgien (182,0) und Großbritannien (102,9) auf, gefolgt (mit Werten größer als 50 und kleiner als 100) von den Niederlanden und Luxemburg (zusammen 83,2), Deutschland (79,2), der Schweiz (77,1) und Frankreich (68,7). Eine geringere Netzdichte (mit Werten größer als 15 und kleiner als 50) hatten Italien (45,0), Österreich-Ungarn (40,1), Portugal (23,3), Spanien (19,5), Schweden (19,5) und Rumänien (19,3). Über die geringste Netzdichte (kleiner als 15) verfügten Griechenland (12,1), Serbien (11,1), Bulgarien und die Türkei (zusammen 6,6), Russland (6,2) und Norwegen (5,0) (bei Russland und der Türkei wurde nur der europäische Teil berücksichtigt). Wenn man von den Ländern ausgeht, von denen wir wissen, dass das Jahrmarktkino eine dominante Filmaufführungspraxis war, so hatten sie alle 1890 einen Wert der Dichte des Schienennetzes, der 40,0 oder größer war.
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Die Netzdichte wird wie folgt berechnet: Netzlänge in Metern : Fläche in Quadratkilometern. Eigene Berechnung auf der Basis der Zahlen aus: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1913, S. 3* und S. 42*-43*. Die ermittelten Werte beziehen sich auf das Jahr 1890.
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Abbildung 5: Dichte des europäischen Eisenbahnnetzes 1896, Quelle: Geographisches Handbuch 1902 Die Besitzer der Jahrmarktkinos bewegten sich überwiegend, jedoch nicht ausschließlich, innerhalb der eigenen Sprachgrenzen. So bereisten deutsche Schausteller überwiegend deutschsprachige Länder wie Deutschland, Österreich-Ungarn und die Schweiz oder zumindest Länder, in denen Deutsch verstanden wurde wie die Niederlande. Die Sprachkompetenz spielte für das Verständnis der Filme kaum eine Rolle, wohl aber für die Korrespondenz mit Behörden, für die Werbung und die Kommentierung der Filme durch einen Filmerklärer. Da in Schlesien, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum größten Teil zu Preußen gehörte, Deutsch und Polnisch gesprochen wurde, zeigte sich hier das Sprachenproblem auch innerhalb staatlicher Grenzen. Geht man von den Namen der dort tätigen Jahrmarktkinobetreiber aus, so waren drei Viertel Deutsche und ein Viertel Polen (fünf von zwanzig). Die folgenden Unternehmer waren sehr wahrscheinlich Polen, wobei die jeweilige Schreibweise auf Eindeutschungen seitens der Komet-Redaktion zurückgehen dürfte: Edmund Sokolski, Josef Paluszyk (polnische Schreibweise: Palusik), Hermann Staroszik (polnische Schreibweise: Starosik oder Starościk), Narosky (polnische Schreibweise: Narowski) und Antoni Brylla. Deutsche und polnische Jahrmarktkinos spielten aus den angegebenen Gründen überwiegend in Regionen, in denen die eigene Sprache gesprochen wurde (Preußische Statistik). Das Jahrmarktkino in Europa war also insgesamt betrachtet eine homogene kulturelle Institution. Oft bleibt unklar, ob es sich bei
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Beobachtungen von Unterschieden tatsächlich um kulturelle Differenzen handelt oder ob diese allein aufgrund der disparaten Quellenlage der verschiedenen europäischen Länder als solche wahrgenommen werden. Das Problem ist, dass wir für ein Land über eine breite Materialbasis verfügen, für ein anderes Land aber oft auf Einzelbeispiele angewiesen sind. Mit der Rubrik der „Fest-, Meß- und Marktberichte“ des Komet haben wir für Deutschland eine sehr umfangreiche und verlässliche Quelle für Umwandlungen von Jahrmarktvarietés zu Jahrmarktkinos. Für die Niederlande und Großbritannien kenne ich hier nur Fallbeispiele. Der Niederländer Christiaan Slieker zum Beispiel betrieb ein Kuriositätenkabinett, eine Spielbude und schließlich eine spektakuläre elektrische Angleranlage, bevor er zum Jahrmarktkino kam, während der Brite Randall Williams 1896 eine Geisterbahn zu einem Jahrmarktkino umfunktioniert hat (Rossel 2000). In Großbritannien gibt es im „National Fairground Archive“ der University of Sheffield, um ein zweites Beispiel zu nennen, eine außerordentlich umfangreiche Fotosammlung, die unter anderem Aufschluss über die Aktionen von Schaustellern vor den Jahrmarktkinos gibt, die so genannte „parade“, die der Werbung diente. Wir wissen, dass es eine solche Performance in Deutschland grundsätzlich auch gegeben hat. Ob die „parade“ in Deutschland kulturell jedoch eine geringere Rolle spielte oder ob wir sie aufgrund der disparaten Quellenlage in ihrer Bedeutung nicht angemessen wahrnehmen, ist eine Frage, die bei der zurzeit bekannten Quellenlage nicht entschieden werden kann.
Eine europäische Inst itution Dass das Jahrmarktkino eine europäische Institution war, wird deutlich, vergleicht man die europäische Situation mit der außereuropäischen. Ich kann über die Filmaufführung vor dem Gründungsboom ortsfester Kinos in außereuropäischen Ländern Aussagen machen, insofern die Forschungsliteratur in deutscher, englischer, französischer oder italienischer Sprache vorliegt. Aufgrund meiner Kenntnis dieser Forschungsliteratur komme ich zu folgender These: Wie in Europa wurden auch in außereuropäischen Ländern kinematographische Vorstellungen in Gebäuden gezeigt, die primär anderen Zwecken dienten, wie Festspielhäusern, Hotels, Krankenhäusern oder Rathäusern. Bekannte Beispiele für Saalspieler sind Lyman H. Howe und Edwin J. Hadley in den USA (Musser, Nelson 1991: 131 ff; Lowry 1983), Wilfrid Picard, J.-B. Paradis und William Shaw in Kanada (Véronneau 1994, 1995), Leonard Corrick und sei-
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ne Familie in Australien und verschiedenen asiatischen Ländern (Lewis 2007), die polnischen Brüder Wladylaw und Antoni Krzeminiski in der Ukraine, Turkmenistan, Aserbaidschan und Russland (Hendrykowska 1994), Willy Leuzinger in der Schweiz (Lewinsky 2000) und Wendel Marzen in Deutschland. (Braun 2005: 197 ff.) Solche Saalvorstellungen konnten aus kommerziellen oder nichtkommerziellen Gründen stattfinden, um Menschen zu unterhalten, zu bilden oder religiös zu erbauen. Darüber hinaus war es offenbar weltweit üblich, in Varietés Filmprogramme im Rahmen eines umfangreichen Bühnenprogramms zu zeigen (Allen 1980). Neben Saalund Varietévorstellungen gab es auch andere Formen der Filmaufführung: In Russland wurde zum Beispiel ein Kino auf einem Binnenschiff betrieben, da das Schienennetz wenig entwickelt, die Straßen schlecht und die Entfernungen zwischen den Städten erheblich waren (Tsivian 1991: 15). Wenn das Wetter mitspielte, konnten kinematographische Vorstellungen auch unter freiem Himmel stattfinden, worauf sich etwa William F. Dalke in den USA spezialisiert hatte (Pryluck 1983). Nicht zuletzt wurden Filmprogramme auch in Zelten gezeigt, die unabhängig von Festveranstaltungen aufgestellt wurden; so ist zum Beispiel Abdulally Esoofally mit einem Zelt, das 1.000 Zuschauer fasste, durch ganz Indien gereist, ohne dass es einer dem Jahrmarkt vergleichbaren kulturellen Infrastruktur bedurft hätte (Rajadhyaksha 1994). Während also viele Filmaufführungsformen wie die Saal- und Varietévorstellung nicht nur in Europa, sondern in vielen außereuropäischen Ländern nachweisbar sind, gab es nur vergleichsweise wenige Länder, in denen das Jahrmarktkino eine marktbestimmende Rolle spielte. All diese Länder waren europäisch; in keinem außereuropäischen Land scheint es eine vergleichbar starke Tradition des Jahrmarktkinos gegeben zu haben. Die Entstehung eines sehr engen Netzes an jährlich stattfindenden Märkten, das von einem noch dichteren Netz an kirchlichen Festen überlagert wurde, ist offenbar ein spezifisch europäisches Phänomen. Da sich eine solche dichte kulturelle Infrastruktur offenbar nur in Europa fand, konnte auch nur hier ein Jahrmarktkino auf breiter Basis entstehen. Ich gehe davon aus, dass der Jahrmarkt in außereuropäischen Ländern kein dominantes kulturelles Phänomen war und dass das Jahrmarktkino damit auch nicht zu einer marktbestimmenden Filmauswertungsform werden konnte. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es außerhalb von Europa keine Märkte, Feste und Jahrmarktkinos in der für Europa beschriebenen Form gegeben hat. 138
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Das Jahrmarktkino konnte sich zudem nur in der beschriebenen Form großer zerlegbarer Holzbauten entwickeln, wenn eine Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stand, die den Transport solcher Bauten auch über weite Strecken ermöglichte. Europa wies zwischen 1890 und 1911 die größte Dichte des weltweiten Eisenbahnnetzes auf und verfügte damit wie kein anderer Kontinent über eine für Jahrmarktkinos geeignete Verkehrsinfrastruktur. Die Netzdichte stieg im angegebenen Zeitraum in Europa von 21,3 auf 32,2, in Amerika von 7,7 auf 12,6, in Australien von 2,2 auf 3,8, in Asien von 0,7 auf 2,3 und in Afrika von 0,3 auf 1,3. Die USA verfügte 1890 mit einem Wert von 27,3 über eine bezogen auf den amerikanischen Kontinent hohe Netzdichte, diese war jedoch geringer als die der europäischen Länder, in denen sich nachweislich ein Jahrmarktkino auf breiter Basis entwickelt hat (Italien hatte 1890 eine Netzdichte von 45,0, Österreich-Ungarn von 40,1). Zudem fehlte in den USA die für die Entwicklung eines Jahrmarktkinos unverzichtbare dichte kulturelle Infrastruktur der Jahrmärkte. Da es mit der Jahrmarktkultur in Europa einen großen einheitlichen Markt für Filme gab, entwickelte sich die Filmwirtschaft vor dem Gründungsboom ortsfester Kinos von Europa aus. Bevor sich ortsfeste Kinos in nennenswerter Zahl etablierten, wurden Hunderte von Filmen für den europäischen Markt der Jahrmarktkinos hergestellt. Der größte Teil der primär für diesen Markt hergestellten Filme war auch für die USA, Kanada und Australien geeignet, da diese Länder viele kulturelle Traditionen mit Europa teilten. Dazu gehörten kulturelle Formen wie zum Beispiel Märchen, Motive der christlichen Kunst wie die Passion, vor allem aber auch eine Kultur der Attraktionen und Sensationen. Der große Boom ortsfester Kinos in Europa und außerhalb Europas wurde durch den enormen Ausstoß an Filmen ermöglicht, der zu einem erheblichen Teil für den europäischen Markt der Jahrmarktkinos produziert wurde. Abschließend ergeben sich aus dem Gesagten neue Forschungsperspektiven: Von untergeordneter Bedeutung scheint mir zu sein, die aufgeworfenen Fragen nach den nationalen Unterschieden in der Institution des europäischen Jahrmarktkinos weiter aufzuklären. Viel versprechender ist es, sich mit den europäischen Ländern zu beschäftigen, über deren Filmaufführungsformen wir nicht viel wissen. Folgt man den hier vorgetragenen Argumenten, so müsste das Phänomen des Jahrmarktkinos in den europäischen Ländern eine bedeutende Rolle gespielt haben, in denen die Dichte der Jahrmarktsveranstaltungen (die in einem Zusammenhang mit der kon139
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fessionellen Orientierung steht) und des Eisenbahnnetzes am höchsten war. Wahrscheinlich spielte das Jahrmarktkino also in Spanien eine größere Rolle als in Norwegen. Die Frage ist, ob sich das Jahrmarktkino überhaupt in Ländern als dominante Filmaufführungspraxis hat entwickeln können, in denen der Wert für die Dichte des Schienennetzes deutlich geringer als 40,0 war. Untersuchungen zum Jahrmarktkino wären demnach vor allem interessant für Portugal, Spanien, Schweden, Rumänien, Griechenland, Serbien, Bulgarien, die Türkei, Russland (jeweils bezogen auf den europäischen Teil) sowie Norwegen. Darüber hinaus besteht ein Forschungsbedarf für die außereuropäischen Länder, über deren Filmaufführungspraktiken bisher wenig bekannt ist. Aber abgesehen von der Frage nach der nationalen Differenzierung der Filmaufführungsformen vor dem Gründungsboom ortsfester Kinos, ist sicherlich eine eingehendere, international vergleichende Beschäftigung mit der Kultur der Jahrmärkte von herausragender Bedeutung für die Überprüfung der in diesem Beitrag formulierten These.
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Philipp Leilichs ‚Cinematograf‘ um 1907, Foto: Filmmuseum Berlin – Stiftung Deutsche Kinemathek Abbildung 2: Jahrmarkt in Berlin 1918, Foto: Landesarchiv Berlin Abbildung 3: Robert Melichs ‚Original-Specialitäten-Theater‘ 1889 in Essen, Foto: Stadtbildstelle Essen 143
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Abbildung 4: Les Kiriki, acrobates japonais (Pathé, 1907), Foto : Lobster Films/Cinémathèque Française Abbildung 5: Dichte des europäischen Eisenbahnnetzes 1896, Quelle: Geographisches Handbuch 1902
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„S o eine Fahrt , das ist et wa s Herrliche s“ INTERVIEW MIT WERNER STENGEL
Frage: Herr Stengel, was macht für Sie die Faszination des Jahrmarkts aus? W.S.: Es gibt viele Gründe für mich, sehr viele. Die Faszination geht ja erstens eigentlich schon zurück auf Brot und Spiele, wie schon im Circus Maximus in Rom. Der zweite Grund: Der Jahrmarkt hat im Ganzen eine Kulturfunktion. Die Wurzeln, die dort verankert sind, gehen zurück auf die Kirchweih. Deshalb heißen heute noch viele Volksfeste so: Kerwa, Kirmes usw.. Das ist alles zurück zu führen auf die Kirchweih. Wenn eine Kirche eingeweiht wurde, hat man jedes Jahr wieder ein Fest gefeiert. Im Mittelalter zum Beispiel waren die Zeiten hart, da waren die Leute froh, wenn Sie mal feiern konnten. Das war auch mit Tanz verbunden und Geselligkeit. Die Fahrattraktionen kamen erst sehr viel später hinzu. Ein dritter Grund ist Nostalgie. Denn wenn Eltern und Großeltern mit Ihren Kindern bzw. Enkelkindern auf eine Kirmes gehen, dann leuchten deren Augen ja oft genauso wie die der Kinder. Speziell abends. Ich habe selbst zwei Kinder und vier Enkel, das ist unglaublich, die Faszination der Lichterspiele, Lebkuchenherzen, selbst die kleinsten Kinderfahrgeschäfte wecken Erinnerungen. Die Stadt München macht das meines Erachtens sehr gut, indem sie nicht nur Hightech auf dem Oktoberfest zulässt, sondern auch alte Geschäfte wie die Krinoline, das Teufelsrad und das kleine, russische Riesenrad, zu dem man „Russenrad“ sagt. Und wenn der Opa zu dem Enkel sagt: „Da bin ich auch schon als Bub mitgefahren“, dann schwingt da etwas mit. Nostalgie spielt in meinen Augen eine große Rolle. Die Mischung muss stimmen: Nicht nur Hightech und die neuesten Geräten, sondern auch die Beziehung zur Vergan-
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genheit. Denn wenn man die Wurzeln nicht mehr kennt, dann hat man auch keine Ahnung von der Zukunft. Jetzt komme ich mehr ins Detail. Das ist dann der vierte Punkt zur Faszination der Jahrmärkte. Unser tägliches Leben ist heute langweilig geworden. Das gilt nicht für alle Menschen, aber das normale Leben eines Arbeiters am Fließband bei BMW, auf dem Bau oder wo auch immer, ist berechenbar geworden. Dieser heutige Mensch weiß Monate im voraus: Montag um 6 Uhr stehe ich auf, um 8 Uhr stehe ich am Band. Um 17 Uhr komme ich wieder heim. Samstags gehe ich zum Fußball, dann gehe ich mal mit meiner Frau ins Kino oder mit den Kindern in den Tierpark. Das heißt, das Leben bietet keine Überraschungen mehr. Wenn man jetzt zurückblickt bis zu den Neandertalern, dann musste der Mensch jagen, er musste Feinde abwehren, für das Essen sorgen, er hatte jeden Tag neuen Stress und Adrenalinausstoß. Das ist heute eben nicht mehr so. Unser Leben ist berechenbar und langweilig geworden. Und jetzt kommen die Kirmes und die Achterbahn. Da tritt immer das Unvorhergesehene auf. Wenn man Achterbahn fährt, dann weiß man nicht, geht es links oder rechts rum. Geht es über Kopf oder geht es nicht über Kopf. Man weiß aber, dass man am Schluss sicher ankommt. Und wenn ich als Fahrgast noch so viel Angst habe: Ich weiß, dass ich irgendwann in der Station ankomme und dann wieder sicheren Boden unter den Füßen habe. Ich glaube, dass gerade die Achterbahnen eine große Rolle spielen, um den Menschen Abwechslung zu bringen, das Unvorhergesehene eben. Ein weiterer Punkt speziell bei Achterbahnen, aber auch bei manchen Karussellen ist, dass die Fahrt eine Mutprobe bedeutet. Ich meine, wo toben sich die Leute heute aus? Es gibt diese Hooligans beim Fußball. Das ist eine Funktion in unserer Gesellschaft. Die Leute wissen nicht mehr wohin. Wir haben zum Glück ja keine Kriege mehr und müssen uns nicht mehr durch Stärke beweisen – da rasten eben viele aus. Zum Beispiel, indem sie sich als Hooligans beim Fußball halb tot schreien und gegnerische Fans angreifen. Mir ist es viel lieber, dass man für das Achterbahnfahren Fanclubs gründet. Es gibt ja diese Rollercoaster-Enthusiasten. Die gibt es in Deutschland, in Europa und in Amerika. Das sind ganz friedliche Leute. Die toben sich auf der Achterbahn aus. Das heißt auch, dort befriedigen sie sich irgendwie, indem sie Abwechslung schaffen und Mutproben bestehen. Und diese Mutproben, das muss ich persönlich sagen, finde ich hochinteressant und schön.
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Wenn man jung ist, so 16, 20, dann hat man seine erste, zweite, dritte Freundin und die hat natürlich auch Angst, Achterbahn zu fahren. Dann fühlt der junge Mann sich als Beschützer, obwohl er in Wirklichkeit genauso die Hose voll hat, wenn er das erste Mal fährt. Und es gibt nichts Schöneres, als den Arm um die Freundin zu legen und so zu tun, als ob man der Größte wäre. Interessant dabei ist ja auch, rein psychologisch, dass junge Mädchen und junge Frauen alle schreien, wenn es auf einer Achterbahn runter geht. Ganz egal wie steil es ist. Ich habe immer gesagt, dass sind keine Angstschreie, höchstens partiell, das sind Lustschreie – wegen der Tonhöhe und so weiter. Interessant ist dabei, warum Männer weniger oder fast nie schreien. Warum schreien die nicht? Weil die so erzogen wurden. Ein Junge weint nicht, ein Junge schreit nicht, ein Junge zeigt das nicht. Wahrscheinlich möchte der auch schreien. Aber er spielt den großen Beschützer. Das macht die Sache so spannend und deswegen geht man auf die Kirmes. Es ist ja nicht nur die Achterbahnfahrt. Es ist schon das Anstehen in der Gruppe. Ich habe Achterbahnfahren auch als „MassenBungee-Springen“ bezeichnet. Wir fahren ja senkrecht runter. Als Einzelner am Seil runter zu springen, wenn man da oben steht, ist eine furchtbare Mutprobe. Als ich das erste Mal am Zehnmeterbrett ins Wasser springen wollte, da habe ich gedacht, es sei 20 Meter hoch. Eine Katastrophe. Aber zurück runter kann man auch nicht, weil man dann ein Hasenfuß ist. Und das ist beim Bungee-Springen genauso, wenn Sie in 40 Meter Höhe alleine stehen. Dagegen sitzt man in einer Achterbahn zu viert in einem Fahrzeug, das ist Massenpsychologie. Da fühlt man sich sicherer. Ortega y Gasset war der erste Philosoph, der über die Philosophie der Massen geschrieben hat. Die alten Griechen kannten ja nur das Individuum, die haben nur über den einzelnen Menschen philosophiert. Mit der Masse Mensch im Fahrzeug zu viert fühlt man sich sicherer und macht dann ein kollektives Bungee-Springen, man fällt senkrecht runter. Diese Mutprobe rechne ich auch dazu, die ist ganz wichtig. Es gibt auch eine Adrenalinausschüttung. Das macht sogar süchtig. Ich selbst bin circa 200 Achterbahnen gefahren. Wir haben viel mehr Karusselle bearbeitet als Achterbahnen, aber der Trend geht mehr zur Achterbahn hin, zu Riesenrädern. Diese Achterbahnen, das ist schon was. Wenn man den Lift hochfährt, dann gibt es eine Adrenalinausschüttung. Man hat bei Achterbahnfahrten auch schon den Blutdruck und Puls gemessen. Und wenn man runter
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schaut und es geht fast senkrecht runter, dann passiert irgendetwas im Gehirn. Die Angst ist ja eine natürlich Abwehrreaktion, um den Menschen zu schützen. Wenn man Angst hat, dann heißt es ja, man sei hellwach, damit man der Gefahr ausweichen kann. Und wenn man fährt, hat man immer im Hinterkopf, dass man irgendwo sicher wieder ankommt. Denn die Achterbahnen sind ja sehr sicher. Es gibt sogar nachweislich Endorphinausschüttungen, also Glücksgefühle. So eine Fahrt, das ist etwas Herrliches. Ich weiß, wovon ich rede, da ich auch gerne alle großen Bahnen fahre. Es gibt Leute, und ich kenne solche Freaks, die sagen einfach, das mache süchtig. Wir richten unseren Urlaub danach ein. Wir fahren fünf, sechs Parks hintereinander ab und so viele Achterbahnen wie möglich. Wenn man ein Kleinkind hat, ein Baby, dann schmeißt man es als Vater hoch und fängt es wieder auf. Das ist wie eine Achterbahnfahrt für das Baby. Das Kind empfindet beim Hochschmeißen Gefahr. Ich falle oder es passiert irgendwas und es ist dann auch ängstlich. Man sieht es am Gesichtsausdruck. Und dann fängt es doch an zu quietschen, weil es genau weiß, dass es wieder aufgefangen wird und dass ihm nichts passiert. Das Kleinkind liebt diese Gefahr, weil es zum Schluss eben doch wieder sicher aufgefangen wird. Das heißt, dass die Menschen den Kick, den Reiz der Gefahr wohl mögen, denn sonst würden sie keine Formel 1 fahren. Sonst würden sie keine Abfahrtsrennen machen. Es gibt ja Extremsportarten, die werden meines Erachtens alle aus einem Grund gemacht: Die Menschen wollen ihre Grenzen kennen lernen und die Angst überwinden. Ob das nun Bergsteiger sind oder wer auch immer. Das waren für mich die wichtigsten Gründe, warum man auf Volksplätze geht und warum man extreme Fahrgeschäfte nutzt. Ich werde häufig gefragt, wie die Achterbahn der Zukunft aussieht. Dann sage ich, dass ich Lotto spielen würde, wenn ich Wahrsager wäre und die Zukunft kennen würde. Ich bin nur ziemlich sicher, dass es Achterbahnen geben wird, weiß aber nicht, wie sie aussehen werden. Wir sind jetzt bei 200 km/h und 140 Metern Höhe. Wir schießen den Zug ab in 4 Sekunden auf 200 km/h, das schafft kein Michael Schuhmacher. Wir haben jede neue Technik genutzt. Ich habe immer geschaut, welche Technik ich umsetzen kann. Das wird
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auch so bleiben. Wir beobachten weiter die Entwicklung und ob man Sachen für die Kirmes adaptieren kann. Die Sitzpositionen sind meines Erachtens ausgereizt. Da gibt es viele Variationen. Beim Achterbahnfahren sitzt man klassisch oberhalb der Schiene. Beim „Stand Up Coaster“ steht man mittlerweile, man hat nur einen Fahrradsattel zwischen den Beinen, aber das Gewicht ist wirklich auf den Beinen. Der „Inverted Coaster“ fährt unter der Schiene. Beim „Spinning Coaster“ dreht sich die Gondel oben. Der „Suspended Coaster“ hängt auch unter den Schienen, schwingt aber noch gleichzeitig hin und her. Dann hat man die liegende Position und fliegt wie bei einem Drachenflieger unter der Schiene hängend. Ich kenne keine Sitzposition mehr, die man noch anders machen könnte. Und trotzdem wird es neue Dinge geben. Wir sind da ein bisschen mit Betriebsblindheit geschlagen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, stehend durch eine Achterbahn zu fahren. Wir haben schon Hunderte gemacht und plötzlich hat in Japan einer die Idee gehabt und mittlerweile haben wir selbst circa 30 Stück bearbeitet, die „Stand Up Coaster“. Und so wird es vielleicht von außen wieder einen Einfluss geben. Ideen kann man nicht so einfach produzieren. Ich meine, von zehn neuen Ideen können Sie neun vergessen. Wir bekommen oft Sachen per Internet oder jemand hat einen Vorschlag oder meldet ein Patent an. Dann schauen wir darauf und lehnen es ab, weil entweder die Belastung für den Menschen zu groß ist oder es zu teuer wird, weil es technisch nicht machbar ist oder zu unsicher wird. Da gibt es viele Traumtänzer. Wir haben zum Beispiel Patente aus Kaisers Zeit gesammelt. Es ist erstaunlich, was für Ideen es schon früher gab. Die wurden zum Teil nicht gebaut, weil sie weder das Material hatten noch die Technik. Aber die Idee war da. Manchmal kommen heute Menschen mit einer Idee und dann hole ich das Patent von 1912 und das war es dann. Man hat mir prophezeit als die Simulatoren kamen, dass es in fünf Jahren keine Achterbahnen mehr gibt, weil die Simulatoren billiger sind und man Achterbahnfahrten simulieren kann. Es gibt mittlerweile diese großen Unterhaltungsfirmen wie Disney, Universal, Warner Brothers und Paramount, die haben ja alle Filmmöglichkeiten. Die haben eine Crew dahinter und die tollsten Filmgags. Heute kann man Animationen machen, das ist unglaublich. Von der Technik können sie mit dem Simulator über Hydraulikbeine Bewegungen in drei Richtungen und Beschleunigungen erzeugen, dass
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man glaubte, man fährt Achterbahn, aber man guckt nur auf den Bildschirm und dann fährt man nie mehr Achterbahn. Aber ich habe damals schon gesagt, dass das nicht eintritt. In einer Achterbahn haben sie so ein bisschen das Rütteln und Schütteln und kurzfristig auch Stöße. Das ist sehr schwer zu simulieren. Außerdem gibt es den Fahrwind. Den brauchen Sie. Wenn die Gondel bei der Achterbahn geschlossen wäre, dann wäre die Achterbahn sofort tot. Die Leute wollen die Freiheit greifen, die Luft und alles, was dazu gehört. Außerdem kommt das Geräusch der Räder hinzu. Wenn die Bahn runter fährt und schneller wird, dann hören sie das auch. Bei den Simulatoren sitzt man ja auf Bänken zu mehreren. Und daher ist es auch nicht dazu gekommen, dass die Achterbahnen einen Einbruch hatten. Man kann bei Simulatoren auch nicht über mehrere Sekunden hohe Beschleunigungen halten. Die Simulatoren haben sich dann mehr auf die Raumfahrtszenarien verlegt. Und obwohl man schon gesagt hat, die Achterbahnen seien tot, ist das Gegenteil der Fall. Wir haben so eine Renaissance der Achterbahnen, das ist unglaublich. In Amerika war die Achterbahn immer so eine Landmarke in jedem Park, ein Wahrzeichen. Es gibt Parks wie Magic Mountain oder Cedar Point, die haben 16, 17 Achterbahnen in einem Park. Für uns ist das schön, die machen einen Wettbewerb und werden immer größer und bekommen immer mehr Achterbahnen. Und die sind voll. Wir haben „King da Ka“ ingenieurmäßig bearbeitet, im Frühjahr eröffnet, ein Weltrekord mit 140 Metern Höhe und über 200 km/h. Die Leute stehen bis zu fünf Stunden an, um 20 Sekunden zu fahren. Das ist für mich verrückt. Wenn ich gefragt werde, sage ich immer, ich würde für die 25 Millionen Dollar oder Euro, so etwa in der Größenordnung, drei ganz andere Achterbahnen bauen. Da hätte ich erstmal eine höhere Kapazität und viel mehr Erlebnisreiz. Die Amerikaner setzen in den Parks aus zwei Gründen auf diese großen Anlagen. Sie sagen zum einen, die Menschen lieben diesen einmaligen Event. Das muss sein und ist ein Highlight wie BungeeSpringen. Und sie wollen zum anderen unbedingt ins GuinnessBuch der Rekorde oder sie müssen aus Wettbewerbsgründen sagen, dass sie jetzt die größte Bahn haben. Ich halte das geschäftlich für unklug und es ist auch auf Europa nicht zu übertragen. Für Deutschland schon gar nicht, die Leute sind hier nicht so geduldig, fünf Stunden anzustehen. Das gäbe eine Katastrophe. Wenn Sie in
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Deutschland in einem Park bei einem Fahrgeschäft fünf Stunden anstehen müssten, dann würden die Leute zur Kasse gehen, reklamieren und ihr Geld zurück verlangen. Alles, was bei uns länger als 20 Minuten dauert, da werden die Leute ungemütlich. Die Amerikaner sind geduldig. Im Park können die Leute praktisch für den Besuchstag nur einmal das Geschäft fahren. Die sind im Park und haben den teuren Tageseintrittspreis gezahlt, aber träumen jahrelang davon und sagen: „I did it!“ Und dass sie wirklich diese 140 Meter rauf und runter gemacht haben. So wird es auch in der Zukunft immer noch Dinge geben, warum man Achterbahnen fährt und diese Gründe bleiben erhalten. Dass das Leben weiterhin berechenbar ist und langweiliger wird, das wird ja noch extremer im Laufe der Zeit. Und insofern werden die Menschen das lieben. Nur wie gesagt, die Form wird sich ändern. Nehmen wir zum Beispiel Italien. Das ist kein typisches Land für Achterbahnen. Italien hinkt mindestens eine Dekade hinterher. Diese extremen Achterbahnen hat man dort nicht, wie wir sie jetzt in Deutschland schon teilweise haben. In den USA haben die das ja schon seit ewigen Zeiten. Da ist auch ein bisschen Pioniergeist dabei, denn die hatten ja diese Holzachterbahnen. Und man muss wissen, in den 20er Jahren gab es so 1.500 bis 1.800 Holzachterbahnen nur in den USA. Seit 10 Jahren haben wir eine Nostalgie mit Holzachterbahnen. Aus folgendem Grund: Die Parks haben bis zu 16 Achterbahnen und dann die im Stehen gefahrenen Stahlachterbahnen, sitzend, liegend, unter der Schiene hängend und so weiter, dann noch ein Looping und ein zweiter Looping. Irgendwann macht das keinen Sinn mehr, weil das Publikum sich sagt, dass doch alles gleich ist. Und dann haben sich die Älteren erinnert, dass es Holzachterbahnen gab. Dann hat man wieder angefangen, welche zu bauen, um sich zu unterscheiden von den Stahlachterbahnen. Die Holzachterbahn ist nämlich nicht billiger, im Gegenteil. In der Wartung ist die viel aufwändiger und teurer als eine Stahlachterbahn. Und mit den Holzachterbahnen gab es eine regelrechte Nostalgiewelle. Wir haben ja mittlerweile auch einige bearbeitet und machen gerade für die USA die zweitgrößte Holzachterbahn der Welt, das wird eine Superbahn. Da habe ich auch ein Patent für die Holzschienenfertigung. In den USA nageln Zimmerleute seit 100 Jahren Bretter aufeinander, das machen die immer noch, die Amerikaner. Jedes Mal, wenn ich drüben war, habe ich denen gesagt, dass sie verrückt und noch im Mittelalter sind. Das kann man doch im Holzleimbau anfertigen. Also größere Blöcke verleimen und dann mit NC 151
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Maschinen raus fräsen. Die haben gesagt, es ginge nicht, aber wir haben es in Europa schon ein paar Mal gemacht. Jetzt bauen wir die Holzachterbahn in Amerika und nun zeige ich denen, dass es geht. Frage: Was glauben Sie, was eine gute Attraktion auszeichnet? W.S.: Das ist sehr schwer zu beurteilen. Ich geh jetzt mal wieder zur Achterbahn zurück, das ist aber teilweise übertragbar auf ein Karussell oder auf andere Fahrgeschäfte. Selbst der Zirkus und ähnliche Attraktionen zählen ja auch dazu. Bei Spitzendarbietungen in einem Zirkus, da müssen sie heute schon einen vierfachen Salto bieten. Also mit einem zweifachen, dreifachen locken sie schon keinen mehr richtig hinterm Ofen hervor. Oder Sie müssen wie Roncalli so ganz auf Romantik und Nostalgie machen, träumerisch. Das ist wieder so, dass man die Zeichen der Zeit erkennen muss. Wenn alles hochtechnisiert wird, geht auf einmal wieder Roncalli, wenn der denen Konfetti ins Haar streut und die Kinder gut anspricht und so weiter, dann hat er damit Erfolg. Aber der Zirkus ist ja auch fast eingebrochen, weil die Menschen übersättigt sind: Im Fernsehen sehen Sie ja immer nur die Starartisten. Sie sehen ja, dass der russische Staatszirkus gebracht wird oder eine Nummer aus Monte Carlo, wo nur die Besten ausgezeichnet werden. Selbst Zirkus Krone oder auch die kleinen Zirkusse, die können nicht nur Stars bringen, das ist finanziell gar nicht möglich. Damit hat es der Zirkus sehr schwer. Was Attraktionen ausmacht: Bei Achterbahnen ist es so, dass der Mensch kein Gespür für Geschwindigkeit hat, der hat keinen Sensor dafür. Ich bring das beste Beispiel: Wenn Sie im Zug sitzen, der steht auf dem Bahnhof und gegenüber am Bahnsteig steht noch ein Zug. Und plötzlich denken Sie, Sie fahren, aber Sie fahren gar nicht! Der andere Zug fährt. Für die Geschwindigkeit hat der Mensch keinen Sensor. Die Astronauten fliegen doch 30.000 Stundenkilometer. Das müssen Sie sich mal vorstellen, die merken gar nichts da oben. Geschwindigkeit merken Sie nur sekundär, wenn Sie an Gegenständen vorbeifahren, dann können Sie einschätzen, wie schnell Sie vorbeifahren. Aber wenn Sie die Augen zumachen, können Sie das nicht einschätzen! Beschleunigung und Änderung der Beschleunigung, das merkt der Mensch. Und damit spielen wir, auf Achterbahnen und auch in Karussellen.
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Das heißt, wir gehen bis 6 G. Aber die Einwirkdauer muss weniger als eine Sekunde betragen. Bei 6 G haben Sie das sechsfache Gewicht vom Kopf zum Sitz. Die Astronauten haben nur dreieinhalb G, aber die müssen das sechs, sechseinhalb Minuten aushalten. Die übergeben sich fast alle, deshalb wird nie von innen übertragen während des Starts. Erst wenn die Ihre konstante Geschwindigkeit haben. Der Achterbahnfahrer hat also auf bestimmten Bahnen höhere Beschleunigungen zu ertragen als ein Astronaut beim Start, nur für eine viel kürzere Zeit. Und was wir machen, das ist, unser Know-how bei Achterbahnen einzubringen. Wir spielen also mit den Beschleunigungen bis zu 6 G, aber in weniger als einer Sekunde und dann wird es negativ. „Airtime“, das ist ganz beliebt im Moment. Vor zwanzig Jahren war es ja fast verboten. Ich bin in den entsprechenden Normenausschüssen vertreten. Wir haben damals festgelegt, es muss immer 20 % des Gewichtes auf die Schiene drücken. Das kam daher, dass die ersten Achterbahnen ja Räder hatten wie die Eisenbahn. Und wenn da negative Kräfte wirken, wären die Fahrzeuge aus der Schiene geflogen. Aus Sicherheitsgründen haben wir immer Nein gesagt, keine negativen Kräfte. Disney hat uns noch vor acht Jahren oder zehn Jahren gesagt, dass nicht ein einzelnes Rad eine negative Kraft haben darf. Heute bauen wir bei denen auch „Airtime“ ein. Also „Airtime“ ist, wenn Sie nicht nur leichter werden – das klassische Achterbahngefühl war ja früher runter schwer, dann den Berg hoch und Sie haben das Gefühl, dass der Magen fast hoch geht. Sie haben immer noch 40 % oder 50% Ihres Gewichtes drauf gehabt! Trotzdem hat man das Gefühl, wenn man so leicht wird, der Magen käme hoch. Wenn wir sagen, wir haben 1 G Airtime, dann haben Sie wirklich eine Beschleunigung von einem G nach oben. In Wirklichkeit sind 2 G da, ein G geht durch die Erdanziehung ja weg, aber 1 G bleibt. Wenn Sie einen Apfel in der offenen Hand hätten, der würde wie eine Rakete weggeschossen. So hoch beschleunigen wir, aber negativ. Das können wir uns erlauben, weil die Sicherheit heute so groß ist. Wir haben Gegenräder, wir haben Seitenräder, wir haben Sitzsicherheitssysteme für die Fahrgäste. Das ist alles mindestens redundant. Wenn da ein Zahn bricht oder ähnliches passiert, dann ist immer ein zweites System da. Da kann ein Rad wegfliegen, da können Schrauben brechen, die Sicherheit bei Achterbahnen und Karussellen ist unglaublich hoch. Ich bin weltweit auch in Normenausschüssen tätig und mein Prinzip war immer, wenn etwas kons153
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truiert wird: Was ist, wenn? Was ist, wenn da die Schweißnaht reißt, was ist wenn, da und so weiter? Da muss immer ein weiteres Bauteil in Reserve da sein. Und bevor Ihnen auf der Achterbahn ernsthaft etwas passiert, dass Sie in ein Krankenhaus müssten, haben sie dreimal Sechs im Lotto. Und ernsthaft verletzt ist nicht tot, ich meine damit vielleicht einen gebrochenen Fuß. Wir spielen jetzt, weil wir das können, mit Plus- und Minus-GZahlen und jetzt kommt’s drauf an. Was macht eine Attraktion aus? Die Sequenz. In welcher Reihenfolge? Wie ordnen Sie die Beschleunigung an? Und da ist eben unser Know-how über so viele Bahnen. Wir haben über 500 Bahnen ingenieurmäßig bearbeitet. Das haben viele andere eben nicht und deshalb sind die Achterbahnen schon sehr unterschiedlich. Es ist einmal das, was eine Achterbahn ausmacht, die Sequenz der Änderungen der Beschleunigung. Der Mensch muss die Belastung fühlen und dann die Entlastung und so weiter. Er muss zwischendurch auch mal kurz Luft holen können, aber nicht zu lange, sonst wird es langweilig, dann muss er sofort wieder ins nächste excitement getrieben werden. Es gibt natürlich noch eine andere Sache, die Menschen beeindruckt und als Attraktion dann auch zum Tragen kommt. Wenn Sie einen Menschen verwirren. Kennen Sie diese Hexenschaukel? Da dreht das Gehäuse außen in einer anderen Richtung als die Schaukel. Die Schaukel schwingt wie eine Hollywoodschaukel nur 30 Grad rauf und runter. Und trotzdem wird es 40 % der Leute schlecht da drin. Weil das menschliche Auge betrogen wird. Sie denken, Sie gehen über Kopf. In Wirklichkeit ist das nur ein Betrug für das Auge und der Gleichgewichtssinn beim Menschen wird gestört. Das machen wir teilweise auch bei Achterbahnen, indem wir im Dunkeln fahren oder Tunnel oder drehbare Trommeln einbauen. Was wir auch machen, wir machen Fahrfiguren, dass der Mensch gar nicht mehr richtig weiß: Fahr ich jetzt vorwärts oder rückwärts oder bin ich oben oder bin ich unten. Das ist auch eine Sache, mit der man eine Attraktion schaffen kann. So etwas mögen Menschen. Klingt zwar kurios, aber Menschen mögen es wirklich. Bei Kindern ist es etwas anderes. Da macht es eine Attraktion aus, wenn alles schön bunt bemalt ist und viele Lichter hat. Dann müssen sie selbst die Feuerwehrglocke läuten können an dem Auto und exotische Tiere haben, wo sie drauf sitzen und so etwas. Also dieses Ganze, das eine Attraktion ausmacht, ist auch abhängig davon, wen ich ansprechen will, welche Altersgruppe. Aber wie gesagt, bei Ach-
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terbahnen ist es das, was ich Ihnen geschildert habe, das macht eine Attraktion aus. Oder dieses einmalige Erlebnis, wie in Amerika, sonst würde man sich ja nicht fünf Stunden anstellen. Frage: Eine ganz andere Gruppe von Attraktionen: Autoskooter. Was glauben Sie, ist der Reiz des Autoskooters? W.S.: Ganz einfach. Da fahren Leute mit, die noch keinen Führerschein haben, weil sie aus Altersgründen noch keinen machen dürfen. Und Autoskooter dürfen sie auf einmal fahren, was sie zum Autofahrer macht. Das ist ein Grund. Der zweite Grund ist wieder der mit den Mädchen. Er macht den „Macker“ und fährt. Sehr häufig wird auch in Gruppen gleichzeitig gefahren, dabei kann man fliehen, sich verfolgen und Zusammenstöße provozieren. Und es gibt auch den Vater, der das seinem Sohn oder seiner Tochter zeigt. Es gibt auch für Kinder Autoskooter, die müssen aber langsamer fahren und die haben dann auch Schlaufen zum Sichern der Kinder. Das Interessante ist ja, dass beim Autoskooter die Beschleunigungen viel größer sind als bei einer Achterbahn. Die Beschleunigungen sind bis zu 8 G, wenn die Skooterfahrzeuge aufeinanderprallen. Und da hat es auch Verletzungen gegeben bei Kindern, wenn die nach vorne aufprallen, weil sie ja gar nicht wissen, woher der Anstoß kommt. Beim Autoskooter fahren sie und wollen ein anderes Fahrzeug rammen, dann werden sie von hinten gerammt oder von der Seite, aber das hat man weitgehend entschärft, z. B. durch einen um das Fahrzeug herumlaufenden luftgefüllten Gummiwulst. Autoskooter waren früher auch sehr gefährlich, es hat oft Augenverletzungen gegeben. Die haben Stromnetze oben, diese Stromnetze sind verzinkt und wenn der Kontakt mal zwischen Fahrzeug und Stromnetz unterbrochen wird, dann gibt es Funken und dabei sind ganz kleine Tropfen Zink runtergefallen. Die Augenärzte im Bereich der Festplätze hatten alle zu tun. Das hat man heute aber auch im Griff. Die Drähte müssen vorher verzinkt werden und nicht nach dem geflochtenen Zustand. Dann ist das Zink nicht als Tropfen am Knoten, und man sorgt heute mit Kontakt und doppeltem Kontakt dafür, dass keine Funken entstehen. Nur wollte ich es erwähnen, weil man immer denkt, Achterbahnen seien das Gefährlichste. Der Autoskooter war zigfach gefährlicher. Wie gesagt, das sind meines Erachtens die Gründe. Und ich muss sagen, ich fahr auch gerne, wenn man das raus hat. Man kann sich
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auf der Stelle drehen, man kann rückwärts fahren. Wenn man ein bisschen geschickt ist, kann man alles Mögliche damit machen. Oder man wird verfolgt und kann ausweichen. Aber der erste Grund ist, so glaube ich, dass viele 12-, 14-Jährige, 16-Jährige reingehen und sagen: Ich darf den Führerschein nicht machen und da kann ich Auto fahren. Ich glaube schon, dass das ein Hauptgrund ist. Frage: Und die sehr klassischen Geschäfte? Wie etwa die Geisterbahn? W.S.: Das hat mehrere Gründe. Zum einen auch wieder Liebespaare im Dunkeln. Ich hab oft geknutscht in der Geisterbahn mit den ersten Freundinnen. Das ist sicher ein Grund, der zweite Grund ist so ein bisschen die Angst bei Kindern. Die stehen dann draußen davor und haben Angst. Auf der anderen Seite steht ein Gleichaltriger aus der Klasse, der ist schon mal gefahren, der sagt: „Du Angsthase“, und der fährt. Dann kämpft dieser Junge oder das Mädchen mit seiner Angst, wenn die da alles Mögliche draußen sehen. Aber dann wollen sie keine Hasenpfote sein und gehen dann doch rein. Im Dunkeln kommt nämlich noch eins hinzu: Sie wissen nicht, geht es rechts rum oder links rum und so weiter. Das spielt auch eine gewisse Rolle, dieses Nicht-Berechenbare, was ich allgemein angeführt habe. Außerdem weiß man ja auch nie, welche Geister es gibt und was da drinnen im Dunkeln auf einen zukommt. Und ich meine bei Jugendlichen oder bei Kindern ist das doch so typisch, dass man hundert Mal sagen kann, sie sollen den Ofen nicht anfassen, der sei heiß. Und erst wenn sie einmal dran gelangt haben, dann wissen sie es und dann tun sie es nicht mehr, also „learning by doing“. Hier handelt es sich eigentlich auch um so einen Effekt. Man kann doch Kindern sagen, wenn man an einer Klippe steht, geh nicht so dicht heran. Oder am Bahnsteig. Aber nein, es reizt sie dann, doch möglichst hinzugehen. Und das ist auch bei einer Geisterbahn so ein bisschen der Fall. Dann kommt hinzu, dass Großeltern oder Eltern auch mit den kleinen Kindern gemeinsam fahren, weil sie denen bei der Bewältigung der Angst beistehen wollen. Aber ich würde sagen, das sind so die Hauptgründe Geisterbahn. Wobei für mich rückblickend immer wichtig war: Jetzt bist Du ganz alleine mit deinem Mädchen, weil ja diese Wagen meistens Zweisitzer sind. Das ist der Grund. Man könnte ja auch eine Geisterbahn mit vier oder sechs Plätzen bauen. Aber dann ist man schon wieder nicht mehr so allein.
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Frage: Und was sagen Sie zu einem anderen klassischen Kirmesgeschäft, der Losbude? W.S.: Ja, das fällt unter die Klasse der Glücksspiele, wo man eben immer wieder das Glück herausfordern will. Das ist wie Lotto oder Toto spielen. Weil man doch immer wieder hofft, man zöge den Hauptpreis. Aber in Wirklichkeit sind ja immer mehr Nieten im Topf als Gewinne. Es ist natürlich auch schön in einer Gruppe, wenn dann einer das Glück hat und die anderen nicht, dann hebt das den wieder aus dieser Gruppe raus. Deswegen wird es auch diese Losbuden immer geben, die ja auch als Gewinne die neueren Sachen haben. Also man hat ja nicht nur diesen klassischen kleinen Teddybär oder sonst was, da gibt es ja heute alles Mögliche: den neuesten Fußball zur Weltmeisterschaft und so weiter. Das fällt eben alles darunter, dass man das Glück herausfordern und dann auch das Glücksgefühl genießen will, wenn man mal was gewonnen hat. Obwohl man eigentlich weiß, wenn man zwanzig Lose kauft, kann man sich das Teil selbst kaufen, wenn es nicht der Hauptpreis ist. Aber man macht es trotzdem. Da fallen auch noch andere Spiele drunter, es gibt ja auch das Ringschmeißen, das auch mehr mit Glück als mit Geschicklichkeit zu tun hat. Das Schießen will ich da nicht einordnen, denn das Schießen benötigt ja Geschicklichkeit, also da muss man ja schon auch zielen und entsprechend schießen können. Aber auch da ist es so: Was gewinnen Sie denn? Ich meine, diese Federn und Papierblumen. In Wirklichkeit könnten Sie sich mit dem Geld viermal so viele Federn kaufen. Nur ist es ja selten, dass einer alleine schießt. Da muss er was getrunken haben und die Freundin sitzt in der Zelthalle und erwartet ein paar Papierblumen. Man schießt ja immer zu mehreren oder in der Gruppe oder der Vater für die Kinder. Dann ist der Vater der Held, wenn er für die Kinder etwas geschossen hat. Und auch in einer Gruppe ist es wieder so, dass einige, weil auch die Gewehre nicht unbedingt so zielgenau sind, nur Nieten schießen und einen Trostpreis kriegen, weil er doch 20 Schüsse gemacht hat. Und der andere hat in der Zwischenzeit acht Mal etwas abgeräumt. Der ist dann der Größte für diese kurze Zeit. Die Fragen stellte Sacha Szabo, November 2005
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Karusse ll-Kü nst ler und Künst ler-Karusse lls. E ine kleine Karussellge schicht e. E ine Frage des Blickwinkels ANDREA STADLER
„Volksbelustigungen“ nennt Florian Dering sein Buch, die erste und wichtigste deutschsprachige wissenschaftliche Veröffentlichung über die Geschichte und die Gestaltung der Karussells und anderer Fahrgeschäfte. Wie anders klingen die Titel von englischen und französischen Büchern, die sich mit dem Karussell beschäftigen! In Großbritannien schreibt man über „Fairground Art“ und „Fairground Architecture“ und in Frankreich über „L’Art Forain“. In Paris gibt es sogar das „Musée des Arts Forains“. Diese kleine Auswahl an Titeln zeigt bereits, dass der Blickwinkel, unter dem das Karussell mal mehr, mal weniger wissenschaftlich untersucht wird, stark variieren kann. Das liegt einerseits an der Ausrichtung des jeweiligen Verfassers bzw. am Adressatenkreis, der erreicht werden soll, andererseits aber auch an der „gesellschaftlichen Anerkennung“ des Themas und schließlich sicher auch an seiner Komplexität. Handelt es sich beim Karussell um die Frucht einer langen Tradition von „Volkskunst“? Was ist das überhaupt „Volkskunst“, Kunst vom Volk oder Kunst fürs Volk? Letzteres könnte man vermuten, wenn man weiß, dass z. B. der französische Staat Relikte dieser „Kunstwerke“ im Musée des Arts et Traditions Populaires (Museum für Volkskunst und -traditionen) aufbewahrt. Ist das Karussell ein industriell gefertigtes Objekt, das die Freizeitindustrie zum Vergnügen der Massen entwickelt hat? Benutzen seine Hersteller Vorlagen aus der Kunst, um ein Pseudo-Ambiente zu schaffen, das es den Massen erlaubt, für einen begrenzten Moment die Illusion des Besonderen zu erleben? Oder ist das Karussell ein typisches Produkt von künstlerischen Gestaltern des späten 19. und frühen 20. Jahr-
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hunderts, das einem praktischen Zweck genügen soll, in dem sich aber auch aktuelle Stilformen widerspiegeln und Äußerungen des „Zeitgeistes“ niederschlagen wie in Designobjekten und Skulpturen, die in Museen gesammelt werden, oder in Bauwerken, die unter Denkmalschutz gestellt werden. Einen Vorstoß in dieser Richtung unternehmen der französische Historiker und Kurator Zeev Gourarier und die deutsche Kunsthistorikerin Margit Ramus. Zeev Gourarier hat bereits so manches Objekt für den Bestand des „kollektiven Gedächtnisses“ gerettet, indem es einen Platz in einem öffentlichen Museum fand, statt an einen Privatsammler am anderen Ende der Welt verkauft zu werden. In seinem Bemühen um Anerkennung des historischen und künstlerischen Wertes der Karussellfiguren geht er so weit, Kategorien der Kunstgeschichte zu verwenden, um der Sammlung eine Systematik zu geben und Zukäufe zur Vervollständigung zu rechtfertigen. So lässt sich seiner Meinung nach europäische Karussellbaukunst verschiedenen „Schulen“ zuordnen: im Wesentlichen einer „deutschen“, einer „französischen“ und einer „englischen Schule“. Er stellt die These auf, dass jede Nation um die Jahrhundertwende ihre eigene künstlerische Sprache in der Gestaltung der Figuren entwickelt hat. Auch Margit Ramus geht an das Objekt „Karussell“ mit kunsthistorischen Methoden heran, indem sie in ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen kommentierten Katalog zusammenstellt, der Karussells des 19. und 20. Jahrhunderts präsentiert, die in Deutschland noch existieren. Florian Derings Erkenntnisse zur Karussellgeschichte werden hier zusammengefasst und vor allem unter kunsthistorischen Aspekten erweitert und aktualisiert, so dass an dieser Stelle die Kunstgeschichte der „Alltagsgeschichte“, die in anderen Disziplinen längst ein ernsthaftes Thema ist, die Tür öffnet. Hier soll nun der Versuch unternommen werden, auf den Spuren der Hersteller, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, verschiedene Etappen der Karussellgeschichte nachzuzeichnen, die aufgrund der Komplexität ihrer Objekte Kunstgeschichte und Technikgeschichte zusammenführt. Anschließend soll am Beispiel eines Karussellpalastes gezeigt werden, dass die Gestaltung eines Karussells auf einem vielschichtigen Programm beruhen kann und in seinen Intentionen anderen künstlerischen Produkten der Zeit nicht nachsteht, auch wenn es sich um ein zweckgebundenes Objekt, nämlich ein kommerzielles Unternehmen handelt. Es sichert den Lebensunterhalt des Betreibers nur dann, wenn eine ausreichende Anzahl an 160
Eine kleine Karussellgeschichte
Kunden das Produkt „Vergnügen“ kauft. Je mehr Anlässe für Vergnügen, also Sinnschichten, vorliegen, umso größer ist der Kreis der Menschen, der angesprochen wird. Je größer das „Paket von Vergnügen“ gepackt wird, umso größer der potentielle Erfolg. Den Abschluss bildet ein Ausflug ins späte 20. Jahrhundert, das eine Renaissance der alten Karussells ermöglicht, aber auch die Kreation neuer Karussells durch Künstler mit unterschiedlichsten Intentionen.
Ein Objekt mit vielen Facetten Das Karussell der Belle Epoque ist ein komplexes Gebilde. Es verbindet Architektur, Skulptur, Malerei und Technik, vermittelt ungewöhnliche Erfahrungen und ist jedermann zugänglich. Gleichzeitig ist es ein Unternehmen, das Arbeitsplätze bietet und den Lebensunterhalt des Investors und Betreibers sichert.
Abbildung 1: Manège magique, Namur, 2005, Foto: Andrea Stadler Von außen gesehen wirkt das Karussell wie ein Gebäude („Fliegende Bauten“), wie der Nachfahre eines antiken Rundtempels („Tholos“); es ähnelt einem Musikpavillon des 19. Jahrhunderts, aber auch einer Reithalle („Manege“). Skulpturen aus bemaltem oder mit Blattgold belegtem Holz und kunstvoll gerahmte Gemälde auf Leinwand oder auf anderen Bildträgern entführen den Besucher in Welten fern des Alltags. Glitzernde Lichter, Perlenvorhänge und Spiegel, die wie die Bilder und die Skulpturen um die Jahrhundertwende 161
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zum Repertoire der Festsäle und Salons wohlhabender Bürger gehören, unterstreichen das Besondere dieser Traumsphären. Und die Musik einer Orgel, die in der gleichen Fabrik gefertigt wurde wie die automatischen Instrumente, die vornehme Wohnräume schmückten und mit ihrem Klang erfüllten wie unsere heutigen elektronischen Musikanlagen, vervollständigt das Gesamtkunstwerk. Die schöne Fassade, die die Innenraumgestaltung nach außen kehrt, verbirgt eine weitere Sensation: den technischen Kern, der es ermöglicht, dass die Reise losgeht. Der zentrale Mast trägt in etwa zwei Drittel Höhe ein drehbares Rosettenlager, in das Ausleger eingefügt werden, die über Zugstangen mit einem weiteren drehbaren Element an der Spitze des Mastes, der Krone, verbunden sind. An dieser Dachkonstruktion hängen Stangen, an denen der hölzerne Boden befestigt ist, der die Karussellbesatzung trägt. Schaukelmechanismen und Transmissionssysteme ergänzen die horizontale Drehbewegung um weitere horizontale und vertikale Bewegungselemente einzelner Karussellfiguren. Der Antrieb dieser Fahrgeschäfte, von denen viele etwa 100 Personen, manche sogar bis zu 200 Personen aufnehmen können, ist nicht selten eine Dampfmaschine, die als modernes glänzendes, dampfendes und lärmendes Kunst- und Wunderwerk der Technik bestaunt werden möchte. Zur Zeit seiner Hochblüte in den Jahrzehnten vor und nach 1900 erfüllt das Karussell für die Dauer einer ganz besonderen „Reise“ die Träume der bunt zusammengewürfelten „Reisegesellschaft“. Es entführt Arm und Reich, Jung und Alt, Männer und Frauen mit wirbelndem Schwung in Träume von vergangenen besseren Zeiten, von Märchenwelten, von fernen Ländern, von verschiedensten Möglichkeiten der Fortbewegung und den damit verbundenen modernen Aktivitäten wie Sport, Tourismus und exotischen Abenteuern. Politische Ideale werden ebenso eingearbeitet wie literarische, künstlerische oder musikalische „Renner“. Kurzum, das Karussell transportiert als „Wunsch- oder Traummobil“, als „Imaginationsmobil“ nicht nur seine Mitreisenden, sondern einen umfangreichen gesellschaftsrelevanten Themenkanon. Um einen größtmöglichen Kreis von potentiellen Reisenden ansprechen zu können, muss das Karussell einerseits individuelle oder kollektive Wünsche erfüllen und z. B. die Besucher eines bestimmten Ortes ansprechen, an dem der Betreiber es aufbaut, nachdem er von den Organisatoren – zumeist Vertreter einer Gemeinschaft, wie z. B. der Stadtverwaltung – eine Genehmigung erhalten hat. Andererseits muss es aber auch an vielen Orten einsetzbar sein, damit 162
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sich die finanzielle Investition des Schaustellers lohnt. Für ihn ist das Karussell ein mobiler Arbeitsplatz, mit dem er seine Kunden aufsucht. Auch wenn nur wenige Großunternehmer mit ihren Geschäften nationale Grenzen überschreiten, sind die Fahrgeschäfte internationale Produkte. Zum einen sind die Hersteller bemüht, aktuelle Neuentwicklungen der Konkurrenten im Auge zu behalten, um den Kunden immer das Neueste anbieten zu können. Zum anderen stellen die Schausteller selbst ihre Karussells aus Teilen unterschiedlichster Provenienz zusammen, wobei Qualität und Attraktivität sicher ihre Rolle spielen. So kommt z. B. der mechanische Antrieb des Karussells häufig aus England, die Karusselltiere aus Deutschland, die Gondeln und Schlitten aus Belgien und die Orgel aus Frankreich. Das Karussell ist somit ein vielschichtiger Zeitzeuge. Es ist einerseits mobiles Kunstmuseum in seiner Kombination aus Architektur, Skulptur und Malerei, wobei sowohl historische als auch aktuelle Kunstrichtungen gezeigt werden, untermalt von Musikstücken verschiedenster Provenienz, vom Volkslied über Opern- und Operettenmelodien bis hin zu Märschen und Tänzen. Es ist aber auch mobiles Technik- und Designmuseum für die neuesten Errungenschaften der modernen Welt (Poser 2003: 28), die jeweils kurz nach ihrer öffentlichen Wahrnehmung auf Karussells zugänglich gemacht werden, sei es die Eisenbahn, das Fahrrad, das Auto, der Zeppelin oder das Flugzeug. Der Besucher kann es begehen und benutzen, so dass in der Konfrontation mit dem Objekt eine Auseinandersetzung auf intellektueller, emotionaler und physischer Ebene stattfindet. Das Karussell ist Schauobjekt und Bühne, auf der die Zuschauer auch die Akteure sein können. Zum anderen ist es ein Geschäft, das den Lebensunterhalt seines Betreibers sichern muss, der einer äußerst heterogenen Kundschaft Freizeitvergnügen zu verkaufen sucht. Dem Schausteller-Unternehmer kommt als Bindeglied zwischen der Öffentlichkeit, in der das Karussell zum Einsatz kommt, und den Herstellern eine wichtige Rolle zu. So steht er in ständigem Dialog mit den Fabrikanten, wenn er nicht sogar beide Funktionen in einer Person vereint.
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Aristokrat ische Wurzeln: Demokratisierung einer absolutistischen Erfindung Das Karussell hat eine lange Tradition, scheint aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Attraktivität weitgehend verloren zu haben, will man einem zeitgenössischen Fachmann für Vergnügungsparks glauben (Ruggieri 1830: 186). Verwunderlich ist diese Feststellung nicht, wenn man berücksichtigt, dass das Spielgerät „Karussell“ zuvor in zwei unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz kommt, die sich berühren und überschneiden, in denen aber die Hersteller einen jeweils anderen Hintergrund haben. Zum einen sind es Handwerker oder Schausteller, die es für Volksfeste, wie z. B. Jahrmärkte, und später für Ausflugsziele anfertigen, zum anderen beauftragen Fürsten ihre Hofkünstler mit der Gestaltung von Spielgeräten für ihre Gärten und Feste. Anfang des 19. Jahrhunderts verlieren beide Anwendungsbereiche ihre Bedeutung. Jahrmärkte werden überflüssig durch die gewaltigen Veränderungen im Bereich von Transportwesen und Handel. Die Spielplätze der Adeligen verschwinden sowohl durch den Rückgang der Bedeutung dieser Gesellschaftsschicht als auch durch eine Umdeutung von deren Freizeitgestaltung, die im Rahmen der allgemeinen Dominanz bürgerlicher Werte produktorientierter wird. Wo aber liegen eigentlich die Anfänge der Karussellbaukunst? Seit wann und wo lässt sich die technische Erfindung, d.h. die Mechanisierung der Drehbewegung nachweisen? Und wie kommt es zur „inhaltlichen“ Füllung des Gerätes mit Pferden, Kutschen und immer wiederkehrenden Motiven der Schnitzereien und Malereien? Die Drehbewegung und der daraus resultierende Schwindel gehört zu einer Urfahrung des Menschen, die er sicher schon sehr früh an verschiedenen Orten der Welt nicht nur in Kultriten einsetzt, z. B. um in Trance zu geraten, sondern auch als Vergnügen nutzt, wie jeder, der sich allein oder zu zweit im Kreis gedreht hat oder einen Hügel hinuntergekullert ist, seit Kindertagen weiß. Auf der Suche nach dem „Urkarussell“, einem mechanischen Gerät in Form eines Rades, an das man sich hängt oder auf das man sich setzt, werden in der einschlägigen Literatur immer wieder zwei Weltreisende des frühen 17. Jahrhunderts aus England und Frankreich zitiert, die im heutigen Bulgarien und in der heutigen Türkei auf öffentlichen Festen Vergnügungsgeräte gesehen haben wollen, die man als Frühformen von Schaukeln, Riesenrädern und Karussells bezeichnen könnte (Murphy 1951:792; Fried 1964; Dering 1986: 31; Gourarier
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1991: 28). Daher wird der Ursprung des Karussells von den Fachautoren im Orient verortet. Die Ausgestaltung des Karussells mit Pferden oder anderen Reitund Zugtieren und Kutschen, Schlitten und Godeln sowie die Bezeichnung „Karussell“ scheint auf eine höfische Tradition zurückzugehen, ein Umstand, der das Karussell zu einem typischen Beispiel für moderne Freizeitaktivitäten macht, die in den meisten Fällen auf der Popularisierung bzw. Demokratisierung eines aristokratischen Vergnügens (Corbin 1995: 20) beruhen. Das erste „Carrousel“ ist 1605 am Hofe des französischen Königs Heinrich IV. nachweisbar. In Paris in der Nähe des Louvre wurden im Anschluss an einen festlichen Umzug mit üppig geschmückten Pferden und Wagen verschiedene Wettspiele organisiert, die inzwischen die gefährlichen mittelalterlichen Ritterturniere ersetzt hatten. Eine dieser Geschicklichkeitsübungen war das „Jeu de bague“, das „Ringspiel“ oder „Ringstechen“, das der junge Schweizer Felix Platter bereits um 1550 als Teil eines Sommerfestes der Aristokratie von Montpellier beschrieb (Aries o.J.: 133). Ende des 16. Jahrhunderts wurde es z. B. am hessischen Fürstenhof neben anderen Übungen zum Erlernen der „Militärkunst“ praktiziert (Becker 1985: 85). Das 1623 in Paris erschienene Buch „Le Manège royal“, in dem Antoine de Pluvinel die Reiterausbildung des Königs beschreibt und in Grafiken illustriert, erwähnt ebenfalls die Übung des „Ringspiels“. In Sachsen gehörte es bereits vor 1620 zum Programm höfischer Feste, deren Konzeption in den Händen eines italienischen Künstlers lag (Arnold/Schmidt 1986: 203). Spätestens nach dem berühmten „Carrousel“ von 1662, das der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. in Paris inszenieren ließ und an das noch heute der Name des Platzes erinnert, „Carrousel du Louvre“, verbreitete sich diese Art des Festes an den Höfen Europas; denn Frankreich war Vorbild für die europäische Aristokratie. Dorthin schickte man die jungen Adeligen, damit sie eine kultivierte Erziehung erhielten, und von dort und aus Italien holte man Künstler, um mit Versailles Glanz im eigenen Reich zu konkurrieren. Das „Carrousel“ wurde Bestandteil einer transnationalen höfischen Kultur im 17. und 18. Jahrhundert. Jedes Fest dieser Art war einzigartig durch die Durchdringung des universellen Modells mit individuellen Erfindungen, die auf den lokalen Bedingungen und den Intentionen des jeweiligen Herrschers basierten. Das Volk nahm als Zuschauer teil. Der Sinn eines derartigen Festes ging weit über den einer Unterhaltung des Hofes hinaus. Man demonstrierte Macht und hierarchische Ordnung von 165
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Hof und Gesellschaft. Die Botschaft sollte Adressaten am eigenen Hof, im eigenen Land und jenseits der Grenzen erreichen (Keller 1999). Hofmaler dokumentierten diese Ereignisse mit Hilfe von Gouache, Aquarell und verschiedenen grafischen Verfahren. Eines der letzten „grossen Carrousels“ fand anlässlich des Wiener Kongresses 1814 statt (Luckhardt 1992: 8). Die bürgerlichen Veranstalter von Wohltätigkeits- und Volksfesten in Frankreich greifen auf diese Form von Spektakel bis heute zurück (Gourarier 1991: 28). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte das „Carrousel“ zum Programm der Hippodrome, die ihre Zelte auf Jahrmärkten errichteten (Rosolen 1985: 66). Spätestens um 1680 entstanden kunstvoll gestaltete mechanische Geräte, mit denen man sich am Hof auf Geschicklichkeitswettkämpfe wie das „Jeu de bague“ vorbereitete. Die edlen Damen und Herren entdeckten bald seine Qualität als Zeitvertreib in den höfischen Gärten. In Schloss Nymphenburg in München wird ein solches Karussell aufbewahrt, das ein Bildhauer zu Beginn des 19. Jahrhunderts gestaltet hat. Pferde und Sessel laden ein, während der Fahrt mit Lanzen Ringe zu stechen, von Köpfen Nasen abzuschlagen, Bälle in Löcher zu befördern oder mit Pfeilen Ziele zu treffen. Auch der historische Spielplatz, der vor wenigen Jahren im Garten von Schloss Ludwigsburg bei Stuttgart rekonstruiert wurde, enthält Spielgeräte, die man in Bildern aus dem 17. und 18. Jahrhundert findet. Sie sind bei höfischen Festen und in Schlossgärten in ganz Europa in Mode, wie Beispiele aus Paris, Versailles und Dresden zeigen (Gourarier 1991: 36; Dering 1986: 30). Aufgeklärte Fürsten wie der österreichische Kaiser öffnen ihre Gärten bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Untertanen. Spätestens aber nach der Französischen Revolution werden die meisten Schlossparks, und damit ihre Unterhaltungseinrichtungen, im Laufe des 19. Jahrhunderts dem „Volke“ zugänglich gemacht. Im Park des ehemaligen Thermalbades Wilhelmsbad bei Hanau steht auch heute noch ein runder Pavillon an der Stelle, an der der Hofarchitekt im Auftrag des Fürsten Ende des 18. Jahrhunderts ein Bauwerk errichten ließ, in dem sich Pferde und Kutschen in Lebensgröße auf einer Plattform drehten. Der Mechanismus war unsichtbar, da das Karussell im Untergeschoss gedreht wurde. Die von einem Bildhauer geschaffenen Unikate, die dem Andrang des neuen Publikums, der Hanauer Bevölkerung, die im Kurpark am Wochenende Erholung von der Arbeit suchte, nicht lange standhielten, wurden zwischen 1892 und 1898 durch Pferde und
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Kutschen aus der Fabrik von Fritz Bothmann, einem bekannten Karussellfabrikanten, ersetzt. Aber nicht nur in höfischen Gärten, sondern auch auf Jahrmärkten ist das Spielgerät bereits seit Beginn des 18. Jahrhunderts zu finden, wie sich aus Eintragungen im Archiv der Leipziger Messe und aus englischen und französischen Grafiken entnehmen lässt. Hier sind es einfache, robuste Holzpferdekarussells, oft mit rudimentären Formen, die sich je nach Begabung des Herstellers mehr oder weniger an der Realität orientieren. Sie werden meist von örtlichen Handwerkern, z. B. Schreinern, oder den Schaustellern selbst gefertigt. Hinzu kommen Karussells, die in der Nähe von Ausflugszielen, wie Gaststätten oder Tivolis, frühen Vergnügungsparks, besonders seit Beginn des 19. Jahrhunderts neben anderen ehemals aristokratischen Spielen ihren festen Platz finden, um die Mitte des Jahrhunderts aber ihren Reiz – zumindest in Paris - verloren zu haben scheinen. Erst das Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren einer veränderten Gesellschaft schafft die Basis für eine „KarussellRenaissance“ ab 1880.
Das industriell gefertigte Karussell: Kunst oder Massenware? Die neue Klientel ist vornehmlich die Bevölkerung von Großstädten und Ballungsräumen (Maase 1997: 20), die zwischen Tradition und Fortschritt hin- und hergerissen ist. Der traditionelle Jahrmarkt und die Kirmes werden umgedeutet zu Orten des Vergnügens, zu Entwicklungs- und Testterrains einer sich rasant entwickelnden Freizeitindustrie, die geschickt die traditionellen Funktionen, Handel und Religion, in Programm und Dekor anklingen lässt, um die lokale Anbindung und die Akzeptanz des Ereignisses zu erleichtern, das von moralisierenden Ideologen immer wieder bekämpft wird. Hinzu kommen die Einführung von internationalen, nationalen und regionalen Industrieausstellungen mit Freizeitparks und die Einrichtung von Freizeitparks in Großstädten, so dass die Freizeitattraktionen ganzjährig zugänglich sind. Der Nachfrage kann nur entsprochen werden, indem sich eine neue Generation von Karussellproduzenten entwickelt. Es sind in der Regel Handwerker unterschiedlicher Berufszweige, die eine Fabrik eröffnen und das Karussell als viel versprechenden modernen Artikel ihrer Produktpalette hinzufügen. Moderne Technik, zunächst
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Wasser- und dann Dampfkraft, und moderne arbeitsteilige Produktion erlauben eine Neukonzeption des inzwischen altmodischen Spielgerätes. Nicht nur der Rausch der Geschwindigkeit, den die Dampfmaschine und andere neue Antriebstechniken ermöglichen, sondern auch die komplexe Gestaltung des Objektes durch die Zusammenarbeit von Handwerkern und Künstlern übertrifft alles bisher Dagewesene und macht aus dem Karussell ein begehrtes und rentables Fahrgeschäft, das nun Produkt und Angebot der jungen Freizeitindustrie ist. Moderne Kommunikationsmedien wie Werbezettel, Plakate, Fachzeitschriften, Kataloge und Telefone erleichtern den Kontakt zwischen Produzent, Schausteller und Publikum. Eisenbahn und Schiff transportieren Waren, Spezialisten, Aus- und Einwanderer und Touristen. Das Produkt „Karussell“ nimmt ein internationales Gesicht an. Gleichzeitig muss man sich als Hersteller von der Konkurrenz absetzen, um dem Kunden den Kauf schmackhaft zu machen trotz eventueller Preisdifferenzen. Qualität und Eleganz werden Schlagworte, die überzeugen sollen. In Großbritannien, Deutschland und Frankreich entstehen Karussells, die vieles gemeinsam haben, die aber auch Unterschiede aufweisen, die zum einen auf Erwartungen und Gewohnheiten der nationalen Kundschaft zurückzuführen sind, zum anderen aber wohl eher im Innovationsversuch als im Fortführen einer nationalen künstlerischen Tradition ihre Begründung finden. Einer der ersten Fabrikanten, der erkennt, dass Entwicklung und Vertrieb von Karussells ein erfolgversprechendes Geschäft sein könnte, ist der Engländer Frederick Savage, der in King’s Lynn landwirtschaftliche Maschinen herstellt. 1866 soll sich eines seiner ersten mit Dampf betriebenen Karussells, ein Fahrrad-Karussell, auf einem nahe gelegenen Jahrmarkt gedreht haben. Savage wird auf dem Kontinent besonders bekannt durch sein Schiffskarussell, das er sich 1880 patentieren lässt. Seine Karusselltechnik ist in ganz Europa gefragt. Die Besatzung wird nicht immer in seiner Fabrik gefertigt, wo er besonders im Winter Schreiner und Bildhauer einstellt, die auf Wanderschaft sind, sondern Pferde und andere Objekte werden von anderen Herstellern gekauft, wenn die betriebseigenen Handwerker und Künstler die Nachfrage nicht erfüllen können. In der Regel sind in einer Karussellfabrik neben den künstlerischen Berufen wie Maler und Bildhauer viele handwerkliche Berufe vertre-
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ten, die in verschiedenen Werkstätten zusammenarbeiten, die die Objekte bis zu ihrer Fertigstellung durchlaufen. Zimmerleute, Tischler, Holzbildhauer, Schmiede, Schlosser, Dreher, Sattler, Lackierer, Tapezierer, Dekorateure, Maler, Männer und Frauen finden hier Arbeit. Große Fabriken wie die von Savage beschäftigen bis zu 400 Personen. So wie Savage seine Technik exportiert, importiert er bei Bedarf Karusselltiere aus deutschen und französischen Fabriken (Braithwaite 1975: 69 f.). Die Firma Heyn aus Neustadt an der Orla produziert „englische Rennpferde“, Pferde in einer unrealistischen Galopphaltung, die z. B. Géricaults berühmtes Bild vom „Derby in Epsom“ von 1821 zeigt. Nach Bekanntwerden der Fotografien des Amerikaners Muybridge im Jahre 1878 orientieren sich moderne Maler wie Degas an der neuen Realität, während Karussell-Künstler an der gewohnten Sicht festhalten, vielleicht aus ästhetischen Gründen, da der Tierkörper in gestreckter Haltung dynamischer wirkt. Heyn stellt die „Rennpferde“ nicht nur für kontinentale Karussells her, sondern auch für den englischen Markt, wo sie sich im Uhrzeigersinn drehen. Wie im wahren Leben steigt der englische Reiter von der linken Seite aus auf sein Pferd, um anschließend an einer imaginären Jagd oder einem Rennen teilzunehmen.
Abbildung 2: Englisches Karussellpferd, 1999, Foto: Andrea Stadler Die englischen Produzenten von Karusselltieren und Fassaden von Kirmesattraktionen bezeichnen sich wie Spooner in Burton-onTrent und Anderson in Bristol als „Designer and Carver“. Charles John Spooner, ein ausgebildeter Bildhauer, der die Tochter eines Wagenbauers heiratete und so die idealen Voraussetzungen für die Gründung einer Karussellbaufirma schafft, ist seit 1892 selbständig. Die Firma Anderson stellt bereits seit mehreren Generationen
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Skulpturen und Dekorationen für den Schiffsbau her, als sie Ende der 80er Jahre beginnt, für Schausteller tätig zu werden. Die Auftragslage im Schiffsbau hat sich rapide verschlechtert, da die traditionellen Segler von modernen Dampfschiffen aus Metall abgelöst werden (Fried 1970: 7). In den Fabriken dieser Hersteller, wie überall in Europa und Amerika, werden die Grundformen von Schreinern mit Hilfe von Maschinen hergestellt und danach von Bildhauern bearbeitet, so dass Produkte entstehen, die in Größe und Gewicht standardisiert sind, was nicht nur für die optische Gestaltung eines Karussells wichtig ist, sondern auch z. B. für die Transport- oder Exportkosten. Andererseits ist aber jedes Besatzungsteil ein Unikat, weil die Bildhauer zwar nach einem vom Werkstattchef festgelegten Modell arbeiten, je nach Auftrag aber gewisse Freiheiten haben. Ähneln die Pferde, die in den Fabriken entstehen, in Ausdruck und Dekor in den frühen Jahren denen, die auf dem Kontinent produziert werden, so wird im Laufe der Zeit eine Art „englischer Stil“ entwickelt. Neben der Tatsache, dass wegen der Drehrichtung des Karussells die linke Objektseite die Schauseite ist, zeichnet das englische Karussellpferd sich vor allem durch eine überreiche, barock anmutende, fantasievolle Dekoration aus, die das langgestreckte, feurige Tier mit seiner fliegenden Mähne von den Hufen bis zu den Ohrenspitzen überziehen kann. Viele Tiere tragen zwei Sättel, so dass das aufregende Schwindelgefühl während der Jagd auf dem Karussell auch noch durch die körperliche Nähe einer zweiten Person bereichert wird. Geoff Weedon bezeichnet 1936, das Todesjahr von Arthur Anderson, als das Ende der englischen Karussellpferd-Ära (Weedon 1981: 43). Diese Eckdaten lassen sich im Wesentlichen auch auf die Karussellfabriken in England und Frankreich übertragen. In Deutschland gründet der Schreiner Friedrich Heyn 1870 in Molbitz in Thüringen ein Unternehmen, das er nach Neustadt verlegt, einem Verkehrsknotenpunkt, dessen Lage den Export seiner Produkte begünstigt. In der neuen Fabrik, die sich der modernen Dampfkraft bedient, arbeitet er zusammen mit seinem Sohn, der eine Ausbildung zum Bildhauer gemacht hat. Für die künstlerische Qualität der Objekte ist bis zur Schließung des Betriebes im Jahre 1959 u.a. ein Bildhauer zuständig, der Mitglied des deutschen Bildhauerverbandes ist. Die Fabrik in Molbitz übernimmt Heyns Mitarbeiter Karl Müller, der seit 1884 für seine Skulpturen wirbt. Sein engster Mitarbeiter wird ein Bildhauer, Schreiner und Schlosser, der in Hamburg im Schiffsbau seine handwerklichen und künstleri170
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schen Fähigkeiten perfektioniert hat (Koepp 1997: 18). Bis 1914 beliefert Müller Schausteller, Kirchen und private Auftraggeber mit Karussellfiguren und religiösen Motiven. Ganz Neustadt scheint während mehrerer Jahrzehnte vom Karussellbau gelebt zu haben. Immer wieder machen sich Mitarbeiter der bereits existierenden Fabriken selbständig und werben im Schaustellerfachblatt „Komet“ für ihre Ware. Kein Wunder, dass die Neustädter Karussellfiguren Ähnlichkeiten aufweisen. Neustädter Produkte findet man noch heute auf vielen existierenden Karussells in der ganzen Welt. So wie Waldkirch als eines der großen Zentren des deutschen Orgelbaus berühmt ist, scheint Neustadt die über die Grenzen hinweg bekannteste Produktionsstätte für Karussellfiguren gewesen zu sein. So stattet schließlich auch Fritz Bothmann aus Gotha seine Karussells mit Heyns Karussellfiguren, Pferden, heimischen und exotischen Nutz- und Wildtieren, Kutschen, Gondeln, Schlitten und anderen Fahrzeugen aus. Von Beruf ist Bothmann Schlosser. In seiner 1883 gegründeten Maschinenbaufirma baut er zunächst ein „SchiffsKarroussell“ wie Savage. Später scheint es in der Fabrik eine Abteilung für Karussellfiguren zu geben, die z. B. die Pferde des Hanauer Karussells hergestellt haben muss, bevor sie in der Zeit bis 1913 geschlossen wird. Bis 1931 produziert der inzwischen zum „Kommerzienrat“ avancierte Bothmann Karussells, Wohn- und Packwagen, Eisen- und Straßenbahnwaggons.
Abbildung 3: Deutsche Pferde (Karussell Knopp) , Luxemburg, 2007, Foto: Andrea Stadler Wie Hugo Haase, der nach einer Schlosserlehre Leiter einer Maschinenbaufabrik wird und schließlich in seiner eigenen Fabrik Fahrgeschäfte entwickelt, versucht auch Bothmann, Geschäfte auf inter-
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nationaler Ebene zu machen. Seit 1887 erscheinen im Voyageur Forain, dem „Organ“ der 1883 gegründeten französischen Schaustellergewerkschaft, Bothmanns Anzeigen. 1888 entdecken weitere deutsche Karussellfabrikanten dieses Werbemittel. Darunter ist auch Friedrich Heyn, dessen Produkte seit 1887 über einen Agenten, der im Bottin, dem Pariser Firmenverzeichnis, aufgeführt ist, erworben werden können. Fritz Bothman erscheint 1889 mit beweglichen Karussellpferden zur Weltausstellung in Paris und meldet bei der zuständigen französischen Behörde ein Patent für den Schaukelmechanismus der Pferde an, um sein Exportgeschäft abzusichern, das mit Kunden in Europa, Nord- und Südamerika, Afrika und Australien einen wichtigen Teil des Firmenumsatzes ausmacht. In Paris können Schausteller also bereits seit den 80er Jahren deutsche Karusselltiere und Karussells aus industrieller Produktion kaufen. Wie auch die französischen Karussells drehen sich deutsche Karussells im Gegenuhrzeigersinn. Für Ritterspiele wie das „Jeu de Bague“ muss der Reiter in der rechten Hand eine Lanze tragen, mit der er die Ringe aus der Verankerung löst. Wenn er geschickt ist, gewinnt er so eine Freifahrt. Deutsche Kataloge, wie der von Heyn, werben für Ritterpferde, die sich als gehorsame Diener ihres Herrn in eleganter Reitschulhaltung leicht aufbäumen. Die Mähne ist kunstvoll in lockenähnliche Formen gelegt und der Schmuck orientiert sich an mittelalterlichen Vorbildern. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts fließen mittelalterliche Motive in die Werke vieler anerkannter Künstler ein. Interpretiert wird die Hinwendung zu dieser längst vergangenen Epoche einerseits als Ausdruck des Nationalbewusstseins, das Deutschland politisch geeint sehen möchte, was 1871 gelingt. Andererseits glaubt man in ganz Europa, ausgehend von Großbritannien, im Mittelalter Modelle zu finden für eine Verbindung von Kunst und Handwerk, die die Qualität von Produkt und Arbeit im Gegensatz zu moderner Fabrikarbeit sichern soll. Prunkvolle barocke Formen zeigen Heyns „Dresdner Gala-Spiegelpferde“, deren Schmuck die Pracht der Fürstenhöfe lebendig werden lässt, die zum Vorbild zeitgenössischer Wohn- und Festkultur des Großbürgertums geworden ist. Insgesamt muss man feststellen, dass der Schmuck der Pferde wie auch anderer gestalteter Holzelemente des Karussells das historisierende Stilgemisch widerspiegelt, das dem Bildhauer und Dekorateur des späten 19. Jahrhunderts vertraut war und das die Standardnachschlagewerke für Möbelschreiner und Kunstschlosser im Bild verewigt haben. Ritterpferde zieren auch französische Karussells heute 172
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namenloser Hersteller, aber auch die, die von der Firma Limonaire Frères in Paris hergestellt werden. 1840 vom Klavierbauer Antoine Limonaire gegründet und 1886 von den Söhnen Eugène und Camille übernommen und modernisiert, hat sich der Betrieb auf die Produktion von mechanischen Musikinstrumenten wie Orgeln und Orchestrien für private Auftraggeber, für Betreiber von Tanzsälen und von Gaststätten und für Schausteller spezialisiert. Da in der Fabrik alle Fachkräfte vorhanden sind, ist es ein Leichtes, um 1894 in die Produktion und den Vertrieb von Fahrgeschäften und anderen Attraktionen einzusteigen. Zudem kauft Limonaire Frères Spezialbetriebe auf, die sich aus eigener Kraft nicht mehr auf dem Markt halten können.
Abbildung 4: Pferd Limonaire (Karussell Loisel), Paris, 2004, Foto: Andrea Stadler Die Karusselltiere der Firma, die bis etwa 1935 existiert, erkennt man an der besonderen Art der Zusammensetzung der Einzelteile einer Figur. Dabei handelt es sich nicht um eine nationale Eigenart, wie man annehmen könnte, wenn man deutsche Figuren näher betrachtet, die größtenteils einem bestimmten „Bauschema“ folgen, sondern um eine firmespezifische. Die Pferdeköpfe der ersten Jahre sind aus Lindenholz, typisches „Künstlerholz“, während die Körper aus billigerem Material wie Pappelholz gefertigt werden. Anders als bei den deutschen Skulpturen wird der von der Maschine vorgefertigte Körper nicht sorgfältig Schicht für Schicht abgetragen, bis Sattel, Pferdegeschirr und Dekoration auf dem Körper zu liegen scheinen, sondern es werden Vertiefungen ins Holz getrieben, die Pferdeleib und Beiwerk trennen, ein Verfahren, das wesentlich schneller geht und vermuten lässt, dass die Arbeit der anwesenden Bildhauer sich auf Kopf und Hals konzentriert. Irgendwann fühlen sich die Firmeninhaber genötigt, das gängige Karussellpferdmuster zu erset173
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zen und sich in vielen Details an den Tieren eines anderen französischen Herstellers zu orientieren, den Zeev Gourarier als den Vater der „französischen Schule“ bezeichnet. Gustave Bayols Pferde zeichnen sich durch ein sparsames Dekor aus, das ganz aus Holz gearbeitet ist und auf Metallrosetten mit Glassteinen und Spiegeln verzichtet. Die Sättel sind in ihrer Form und der Aufhängung der Lederriemen für die Steigbügel echten französischen Ledersätteln nachempfunden. Aufmerksam wenden Bayols Pferde die Ohren in verschiedene Richtungen und die Mähne fällt locker über den Hals. Der Schwanz ist, anders als bei deutschen Pferden und bei Limonaire, ebenfalls aus Holz geschnitzt. Bayol stilisiert wie Heyn das in der Natur beobachtete Pferd, scheint aber dichter an der Realität zu bleiben. Die Einzelheiten wie Hufe, Nüstern, Muskeln und Sehnen werden in den Werkstätten beider Fabriken sorgfältig herausgearbeitet. Modell für Bayols unverwechselbaren Pferdetyp stehen laut Fabienne und François Marchal die Wildpferde der Camargue. Gewisse Ähnlichkeiten entdeckt man allerdings auch, wenn man sich die Arbeiten von Antoine Louis Barye (1795 – 1875) anschaut, einem begehrten Pariser Bildhauer, der sich auf Tierdarstellungen in Bronze spezialisiert hatte. Wie Heyn produziert Bayol weitere Karusselltiere. Der Schwerpunkt liegt bei Nutztieren, die man auf dem Land antrifft. Lässt sich diese Vorliebe mit der Sehnsucht des französischen Großstädters nach dem intakten Landleben erklären? Oder ist es der Reiz des Neuen, der Schausteller dazu bringt, Karussells mit einem bestimmten Thema zu bestellen, auf denen Erwachsene z. B. auf Stieren, Kühen oder Schweinen dahinjagen? Oder hat die Wahl des Tieres etwas mit lokalen Traditionen zu tun, wie z. B. dem Stierrennen in Nîmes, einer touristischen Attraktion sicher schon um 1900? Basiert die Idee, 60 riesige Kaninchen auf ein Karussell zu setzen, auf der Beliebtheit von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, das erstmals 1865 erschien? Beruht der Verzicht von überreichem Dekor auf dem „französischen Geschmack“, der schlichte Eleganz den deutschen Übertreibungen vorzieht, wie man in Werbetexten und journalistischen Äußerungen lesen kann? Oder hat diese nachträgliche nationale Zuschreibung eher mit den Intentionen der Verfasser zu tun als mit Hersteller und Publikum, denen es um Innovation geht? Neues verkauft sich besser, weil es attraktiver ist und neugierig macht auf unbekannte Erfahrungen und seien es nur imaginäre Reisen oder Lacherfolge.
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Abbildung 5: Pferd Bayol (Karussellpalast Demeyer), 2005, Foto: Andrea Stadler Bayol ist bekannt für seine humorvolle Kreativität und die Qualität seiner Produkte. Vergleicht man die Bearbeitung von dekorativen Holzelementen wie z. B. den Seiten eines Wagens oder einer Kutsche aus den Werkstätten von Heyn und Bayol, stellt man fest, dass es sich bei Heyns Produkten deutlich um eine Kombination von Tischlerhandwerk und dekorativer Bildhauerkunst handelt: Auf eine mit Hilfe von Maschinen vorgeformte Kutsche oder Fassade wird in zweiter Schicht ein von Hand bearbeitetes dekoratives Element aufgebracht. Bayol dagegen bereitet das Objekt in einer Dicke vor, die es erlaubt, anschließend das Dekor herauszuarbeiten. Seine Objekte sind daher Arbeiten von Bildhauern, entstehen in längeren Arbeitsphasen und sind teurer. Als Sohn eines Möbelschreiners nimmt er bereits mit 14 Jahren an Kursen der École des Beaux-Arts in Avignon teil. Der Militärdienst führt ihn nach Angers, wo er 1884 heiratet und eine kleine Bildhauerwerkstatt aufmacht. Ein Paradewagen, den er anlässlich eines Festumzuges 1887 vorstellt, verschafft ihm Aufträge von Schaustellern, die bis zu diesem Zeitpunkt auf deutsche Importe oder Produkte von örtlichen Handwerkern angewiesen waren. Sein Erfolg führt dazu, dass sein Betrieb fabrikmäßig organisiert und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird. Ein Zeitungsartikel von 1898 belegt, dass das Unternehmen innerhalb von 6 Jahren von 20 auf 100 Angestellte angewachsen ist. Parallel zu seinen unternehmerischen Anstrengungen arbeitet
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Bayol weiterhin an seiner Anerkennung als Künstler, indem er immer wieder an Kunstausstellungen mit Skulpturen und wertvollen Möbeln teilnimmt. Diese Ambitionen überträgt er auch auf die Arbeit in der Fabrik. Im Bildhaueratelier der Firma finden täglich Kurse statt, die dazu dienen, die künstlerische Kreativität zu steigern. Wie an einer Kunstakademie üben sich die jungen Bildhauer im Anfertigen von Tonplastiken, die anschließend in ihrer endgültigen Größe in Holz gearbeitet werden. In der Bildhauerabteilung arbeiten preisgekrönte Künstler, ebenso wie in der Malerabteilung. Ein Beispiel ist der Künstler Fernand Lutscher, der als Lehrer eine Malerklasse in der Kunsthochschule von Angers betreibt, als Theatermaler arbeitet und für Bayol-Produkte Bildtafeln gestaltet. Über Maler, die wie Lutscher die vielen Bildwerke an deutschen und französischen Karussells geschaffen haben, weiß man bisher insgesamt nur wenig. Da sie ihre Werke nicht signiert haben und viele davon im Laufe der Zeit von Schaustellern oder anderen Malern übermalt wurden, kann man nur eine ganz geringe Zahl zuordnen. Die Nachforschungen von Florian Dering (Dering 1986: 189) und Anne-Claire Larond (Laronde 2001: 28) haben ergeben, dass es in beiden Ländern neben Gelegenheitsaufträgen Maler gab, die zusätzlich zu Aktivitäten im dekorativen oder künstlerischen Bereich (Theater, Zirkus, Geschäfte oder Kunsthandel) schwerpunktmäßig für Hersteller von Jahrmarktgeschäften und für Schausteller arbeiteten. Florian Dering zählt für den deutschen Bereich etwa zehn Namen auf, die sich in der Nähe von Karussellbauzentren niedergelassen hatten und für bekannte Firmen wie Haase oder Bothmann arbeiteten. Nach Aussagen französischer Schausteller wandte man sich im Norden des Landes vor allem an zwei Maler, einer davon war PierreMarius Coppier, im zweiten Beruf Schausteller. Wie seine sesshaften Kollegen, die vor allem in Angers und Paris arbeiteten, hatte er eine Kunstschule besucht und seine Ausbildung zum Dekorationsmaler gemacht bei einem Lehrherrn oder in einer Fachschule. Während es in Frankreich geschäftsfördernd war, ein Diplom und Auszeichnungen vorweisen zu können, reichte in Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg die praktische Erfahrung, die man bei einem anderen Maler sammelte, der aber nicht als Lehrherr fungierte. Heute haben auch deutsche Künstler, die für Schausteller arbeiten, eine Grundausbildung in handwerklicher Malerei erfahren und eine Kunstschule besucht. Kunst und Dekoration erleben unterschiedliche gesellschaftliche Anerkennung. Daher arbeiten manche Künstler für Schausteller unter falschem Namen, um ihre Reputation als Künstler nicht zu gefährden, anders als Henri de Toulouse-Lautrec, 176
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der 1895 für das Geschäft seiner Freundin Louise Weber, bekannt als La Goulue, zwei große Bildtafeln malte, die heute im Musée d’Orsay in Paris ausgestellt sind. Zahlreiche Maler scheinen sich in Angers in dieser Zeit niederzulassen, da die Stadt sich, ähnlich wie in Neustadt, zu einem Karussellbauzentrum entwickelt. Bayols Mitarbeiter machen sich nach dessen Ausscheiden selbständig. 1910 übernehmen einige von ihnen den Betrieb des erkrankten Künstlers und Karussellfabrikanten, halten aber an seinen Mustern im Wesentlichen fest, so dass Fabienne und François Marchal von der „Schule von Angers“ sprechen. Als die Nachfolgefirma Coquereau & Maréchal 1927 in finanzielle Schwierigkeiten gerät, wendet man sich zwecks einer Übernahme an Fritz Bothmann in Gotha, der aber ablehnt. Von 1933 bis 1939 wird die Karussellfabrik unter dem Namen Barassé weitergeführt. Inzwischen hat ein zweiter Betrieb in Angers internationale Bedeutung erlangt. Er gehört Henri Devos, der zunächst bei Coquereau & Maréchal arbeitet, um sich 1925 selbständig zu machen. Er ist der jüngste Sohn von Alexandre Devos, der in Gent seit den 1880er Jahren nicht mehr nur Skulpturen religiösen Inhalts herstellt, sondern auch Skulpturen und Dekorationen für den Schaustellerbedarf: Prachtfassaden für Laufgeschäfte und Theater, Orgelfassaden, Gondeln für Karussells, Großfiguren als Beleuchtungsträger und vieles mehr. Als der älteste Sohn Maurice den Betrieb des Vaters übernimmt, zieht Henri nach Frankreich. Von Beruf Maler und Bildhauer, Zimmermann und Schreiner modernisiert er mit seinen 30 Mitarbeitern in seiner Fabrik in Angers das Angebot und entwickelt u.a. Autoselbstfahrer, die er auch im „Komet“ anbietet. Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt er sich in der Nähe von Paris nieder, muss aber ab 1960 seinen eigenen Betrieb schließen. Als Spezialist für Fahrgeschäfte findet er bis zu seinem 85. Lebensjahr Anstellungen, z. B. arbeitet er acht Jahre lang bei Zierer in Deutschland.
Der Karussellpalast Demeyer, Karussell-Kunst im Dienste der Nation Pferde und Schweine von Gustave Bayol und Prachtwagen von Henri Devos bilden die heutige Besatzung des Prachtkarussells, das im Ecomusée d’Alsace in Ungersheim die Besucher verzaubert. Marc Grodwohl hat versucht, seine Geschichte zu rekonstruieren und das Bildprogramm zu interpretieren (Grodwohl 1991).
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Abbildung 6: Vercingetorix (Karussellpalast Demeyer), 2005, Foto: Andrea Stadler Vermutlich wurde es um 1910 von einem unbekannten Schausteller bei Bayol bestellt. Es besitzt eine Fassade, die 23,30 m lang und 9,50 m hoch ist. Im Innenraum dreht sich das Karussell, das 1927, als es in den Besitz der Familie Demeyer kam, überarbeitet wurde. Die Bewegung der Tiere (auf und ab mit Hilfe von Messingstangen) wurde komplexer gestaltet (auf und ab und vor und zurück durch einen Mechanismus unter dem Boden). Wagen von Devos ersetzten einige Tiere, die Malereien des beweglichen Plafond wurden an den Stellen, an denen die Öffnungen für die Stangen gewesen waren, ergänzt, und der Schmuckfries, der die Dachkante ziert, wurde vom Maler Paul Leleu aus Lens neu bemalt. 1935 wird die Jugendstilfassade mit ihren dreizehn Bildfeldern im Sinne des Art déco modernisiert. Vier große Rosettenfenster lassen nun das Tageslicht einfallen und verbinden Außen- und Innenraum, vielleicht um seine Akzeptanz bei den bürgerlichen Schichten der Städte im Norden Frankreichs zu erhöhen. Tagsüber boten Karussellpaläste ein Programm an, das auch Kinder ansprechen sollte, während zu später Stunde hinter der Fassade eher Nachtclubatmosphäre herrschte, teilweise mit Varieté und Champagner-Bar, ein Vergnügen, das sich allerdings nicht jeder Festplatzbesucher leisten konnte. Bei der Konzeption der Fassade hat der Künstler sich von der Architektur des Pavillon de l’Électricité der Weltausstellung von 1900 in
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Paris anregen lassen. Dieses Sinnbild des Fortschritts meint man ebenso in der Gestaltung der Orgel von Limonaire Frères wiederzuerkennen. Überragt wurde die Fassade ursprünglich wie die vieler Karussellpaläste von einer weiblichen Statue mit französischer Flagge, Sinnbild des Sieges der Freiheit, der nationalen Stärke. Vielleicht hat sie nach 1918 eine neutralere Athena ersetzt. Vor dem Eingang bändigen Caesar und Vercingetorix, zwei Ikonen der französischen Nation, Symbole für Zivilisation und Freiheit, ihre kraftvollen Pferde. Die Skulpturen sind den berühmten Reitergruppen nachempfunden, die Guillaume Coustou für Ludwig den XV. von 1739 bis 1745 für den Park von Marly anfertigte und die seit 1795 auf dem Place de la Concorde zu bewundern sind. Die Originale stehen heute allerdings im Louvre. Von oben nach unten steigt das Bildprogramm vom Himmel zur Hölle hinab. Marc Grodwohl nennt es „Zwischen Himmel und Hölle – die dramatische und spöttische Inszenierung des menschlichen Abenteuers“. Es erzählt von Liebe und Ehebruch, von hohen Zielen und deren Scheitern, von Glaube an den Fortschritt und Zweifel, von Vergangenheit und Zukunft, von fiktiven und realen Ereignissen, von Weinen und Lachen, kurzum von Sinnschichten, in die jeder auf seine Art einsteigen kann. Ein Adler breitet schützend seine Flügel aus. Er könnte im Zusammenhang mit den anderen mythologischen Figuren auf den Göttervater Zeus verweisen, dessen Blitze aus dem Himmel wiederum auf Elektrizität und Modernität anspielen, ganz wie auf dem Vorbild von der Weltausstellung. Gleichzeitig ist er aber auch ein politisches Machtsymbol, das Hugo Haase ebenfalls über seinen deutschen Prachtkarussells thronen lässt. Zerberus mit drei Pferdeköpfen, darunter ein gekrönter Frauenkopf, der an Medusa erinnert, und weiter unten zwei gefährliche Löwen bewachen den Eingang zur Hölle. Diese Holzskulpturen betonen den mittleren Teil der Fassade, die aus geschwungenen Holzrahmen mit Lichtern und bemalten Blechen besteht. Über dem Haupt der Medusa, die für ihr Verhältnis mit Neptun von Athena mit Hässlichkeit bestraft wurde, entsteigt der Herrscher der Meere mit Wagen und zwei Pferden dem Wasser, begleitet von Amphitrite, seiner Gattin. Vor ihnen tummeln sich Amoretten. Blumenranken und Darstellungen von Venus und Amor schließen diese Bilderzone rechts und links ab. Zu beiden Seiten des Eingangs zeigen die Bildfelder, die heute nur noch auf Fotografien erhalten sind, links eine antik gekleidete auf-
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gerichtete Frauengestalt mit Lorbeerkranz und Palmenzweig in einem von vier Pferden gezogenen Wagen, Symbol des Sieges. Im rechten Bild wird eine aufgeregte arabische Reitertruppe von einem Flugzeug überflogen. Zwei Interpretationen hält Marc Grodwohl für möglich. Zum einen zeigt der Künstler die Macht des Fortschritts, das Flugzeug ist dem Pferd überlegen – Blériot hatte übrigens 1909 den Ärmelkanal überflogen. Zum anderen könnte es sich hier um eine Anspielung auf politische Ereignisse handeln, den deutschfranzösischen Konflikt in Afrika, der 1911 dazu führte, dass Deutschland Marokko als französisches Protektorat anerkennen musste. Ganz außen links sieht man einen englischen Reiter unter Bäumen und rechts einen berittenen Gendarme oder Soldat, zeitgenössische Helden der Reiterei aus Sport, Alltag und Krieg. Das Kassenhäuschen zeigt in seinem Bildfeld Bellerophon auf seinem fliegenden Pferd Pegasus. Dieser griechische Held musste schwierige Aufgaben erfüllen, um sich von einer Schuld zu reinigen. Der Legende nach gab er sich danach nicht mit seinem gewonnenen Glück zufrieden, sondern versuchte mit Pegasus den Himmel zu erreichen. Zur Strafe musste er teilweise gelähmt und erblindet umherirren. Auch hier ein Hinweis auf die Gefahren, die mit menschlicher Eitelkeit verbunden sind. Im Innern scheint den Besucher das Paradies zu erwarten. Zunächst hat man die Wahl zwischen Fahrzeugen, feurigen Schimmeln und rosa Schweinen. Sind dies die Kameraden des Odysseus, die die Zauberin Circe in Schweine verwandelte? Sind es Glücksschweine, wie die, die man auf französischen Jahrmärkten statt der Lebkuchenherzen kauft und der Liebsten schenkt? Oder ist das Schwein hier ein Symbol für Fruchtbarkeit wie der Hahn, der Bock oder das Kaninchen und spielt somit auf Sexualität an? Wie dem auch sei, steigt man auf die fröhlichen Reittiere und blickt nach oben, ist der Himmel mit Amoretten und Blumengirlanden bevölkert. Aber auch hier versteckt der Künstler Vergänglichkeitssymbole: z. B. den vergehenden Klang der Flöte oder die Unmöglichkeit, das Glück in Form einer zarten Libelle festzuhalten. Die Bilder des Schmuckfrieses der Dachkante entstanden erst 1927. Sie greifen das Motiv der Reiterei, das die Außenfassade ankündigt, wieder auf. Die Hälfte der vierzehn Bilder zeigt zeitgenössische Szenen aus Militärleben und Krieg. Ein Viertel befasst sich mit dem Leben von Adeligen und Bürgern, wobei konfliktreiche Situationen vorherrschen. Die übrigen Bilder haben historische Inhalte.
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In ihrer kritischen, teilweise bissigen Darstellung wirkt die Bildfolge geradezu belehrend und scheint den Betrachter aufzurufen, aktiv an den anstehenden sozialen und politischen Veränderungen teilzunehmen. Die ältere Malerei des „Karussellhimmels“ hingegen scheint zumindest für eine begrenzte Zeit den Genuss des vergänglichen Glück zu erlauben. Die akademische, d.h. realitätsnahe Darstellung wird von den Malern bewusst einer modernen, abstrakteren Kunst vorgezogen, zum einen ist die politische Botschaft des Dachkantenfrieses eindeutig lesbar und zum anderen kann das Karussell nur zum Publikumsmagneten werden, wenn es der Mehrheit der zeitgenössischen Besucher ermöglicht, sich mit Hilfe der Illusion von Wirklichkeit fortzuträumen, z. B. ins Reich von Erotik und Freude (Laronde 2001: 107). Zusammenfassend stellt Marc Grodwohl fest, dass Fassade und Dekor des Palastkarussells im Ecomusée die Spannungen einer Epoche ausdrücken zwischen Nostalgie und Modernität, zwischen der Trauer um den vergangenen Prunk der Fürstenhöfe und dem Glauben an soziale und materielle Werte des Fortschritts. Damit wird es zu einem Kunstobjekt, das sich im Einklang mit seiner Zeit befindet. In seinem Dornröschenschlaf in einer Remise hat es sowohl die populäre Verurteilung allen Unnützens überlebt wie auch die elitäre Verdammung des Kitsches (Grodwohl 1996: 32), ein Etikett, das lange der eklektischen Kunst des 19. Jahrhunderts übergestülpt worden ist, das inzwischen aber längst hinterfragt wird.
Das Künst ler-Karussell als Gesamtkunst werk außerhalb festgelegter Normen Der Modeschöpfer Paul Poiret schuf 1925 anlässlich der Pariser Weltausstellung ein „modernes“ Karussell im Stil des Art déco, das „Karussell des Pariser Lebens“ mit großen humoristischen Figuren, das sich eine Zeit lang drehte, ohne aber Nachfolger zu finden. 1992 bekommt der Regisseur der bekannten französischen Straßentheatertruppe „Royal de Luxe“ den Auftrag, für das Jubiläum einer Kinderkleidungsmarke ein Karussell zu bauen. Es entsteht ein surreal anmutendes Karussell mit nostalgischen und fantastischen Elementen, „Le Manège Magique“, das zu einer Abenteuerreise ins Land der Fantasie einlädt. Kunstwerk? Theater? Dekorativer Kitsch? Auf jeden Fall hat es seine Fans und ist 16 Jahre später immer noch auf Fahrt. Im Frühjahr 2008 verwandelt Karl Lagerfeld den Laufsteg von Chanel in ein Karussell. Design?
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Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erleben das historische Karussell und der Jahrmarkt eine Art Renaissance. Ist es der Versuch, die Zeit ein wenig anzuhalten, wie damals um 1900? Besinnen wir uns auf unsere Wurzeln, weil die Globalisierung unsere Verortung in Raum und Zeit ins Schwanken bringt, wie damals, als die Industrialisierung mit ihren technischen Mitteln schon einmal die Welt zusammenschrumpfen ließ? Ist es die Konzentration der Historiker auf das 19. Jahrhundert, das zur Geburtsstunde und Ursache aller derzeitigen Entwicklungen ernannt wird? Wie nehmen anerkannte Künstler das Karussell wahr, ein Objekt, das die Kunstgeschichte nur zögerlich und als Randerscheinung zulässt? Im Werk bekannter Künstler taucht es als Motiv auf, wie z. B. in Max Beckmanns Grafikserie „Der Jahrmarkt“ von 1921, in der es Teil einer persönlichen Symbolsprache ist. Als kinetisches Gesamtkunstwerk, das Architektur, Plastik, Malerei und Musik vereint, Fläche, Raum und Zeit gestaltet, erfährt das Karussell aber keine Anerkennung, obwohl es in seiner Blütezeit dem Vergnügen sämtlicher Gesellschaftsschichten dient. Viele Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts haben die Vielseitigkeit dieses Zwitterwesens aus Kunst und Technik erkannt. Sie zeigen, dass für sie das Karussell mehr sein kann als ein Ausdruck von Nostalgie oder ein Symbol für das Elend der Welt, sondern ein facettenreiches Thema mit gesellschaftlicher Relevanz, das selbst ein Kunstwerk ist. Als scharfer Beobachter zeigt z. B. der Künstler Richard Gessner (1894 Augsburg - 1989 Düsseldorf) sowohl die glanzvolle Hülle des Karussells als auch sein technisches Skelett. Seine Zeichnungen und Gemälde, die zwischen 1920 und 1955 entstanden sind, vermitteln einen Eindruck von den Mühen der Schausteller beim Aufbau, vom Vergnügen der Besucher und von der Melancholie des Ortes nach dem Fest. Kontraste inhaltlicher und formaler Art sind das zentrale Thema. Schlichte Formen von Wohnwagen kontrastieren mit kunstvollen Arabesken von Achterbahn und Karusselldekoration. Silhouetten dunkler Industrieanlagen hinter monotonen Wohnbauten schließen den Bildraum ab, in den der Betrachter von den Farben und vom Licht der Kirmes gezogen wird. Die vermeintliche Leichtigkeit des Seins wird in ihrer zeitlichen Begrenztheit erfahrbar.
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Steht bei Gessner der Gedanke der Vergänglichkeit eines Ortes und seines Angebotes einer Gegenwelt im Vordergrund, wenn er das Karussell und die Kirmes als Motiv benutzt, so faszinierte den Schweizer Künstler Jean Tinguely (1925 Fribourg - 1991 Bern) vor allem die Idee des Gesamtkunstwerks, das der „Benutzer-Besucher“ mit allen Sinnen erfährt. 1968 entwarf Tinguely mit Bernhard Luginbühl das „Gigantoleum“ für Bern, eine begehbares Objekt, das Grundelemente der modernen Kirmes vereinen sollte: Gastronomie, Eiscremefabrik, Verkaufsstände, Schauobjekte, Kunstausstellungen, Schießbude, Labyrinth, Rutschbahn und Riesenrad. Diese „Kultur-Station“, ein Ort der Entspannung und des Vergnügens für jegliche Art von Besucher, wurde wegen fehlender Unterstützung der zuständigen Behörden niemals verwirklicht (Hahnloser 1996: 108). Einige Grundzüge des „Gigantoleums“ fließen in das folgende Großprojekt ein, das die beiden Schweizer zusammen mit anderen namhaften Künstlern illegal im Wald von Fontainebleau ab 1969 errichteten: „Le Cyclop“ soll als zeitgenössisches Manifest Technik, Poesie, Humor und Menschlichkeit vereinen. Der Weg durch das ungewöhnliche Gebäude soll verwirren, überraschen, Fragen aufwerfen und berühren. Heute wird dieser multifunktionale Ort sowohl von Schulklassen und Touristen als auch von Kunstkennern aus der ganzen Welt besucht. Wie Tinguely entwickeln Nancy (*1943 Los Angeles) und Edward Kienholz (1927 Fairfield -1994 Hope/USA) ihr Objekt, das sie der Kirmeswelt entlehnt haben, selbst und tragen die Bauteile über einen langen Zeitraum zusammen. Eine Reise um die Welt, gesellschaftskritische Gedanken, aber auch das Spiel mit dem Zufall, erwarten den Besucher des 1992 fertig gestellten Karussells. Die begehbare „Environment-Skulptur“ trägt den langen Titel „MERRYGO-WORLD OR BEGAT BY CHANCE AND THE WONDER HORSE TRIGGER“. Acht Räume entführen den Besucher an verschiedene Orte der Welt. Tierskulpturen an den Außenwänden sorgen für die eindeutige geographische Zuordnung der Segmente des „Karussells“. Ein Glücksrad bestimmt, welcher Teil des Inneren beim Betreten beleuchtet wird, d.h. in welchem Teil der Welt die „Geburt des Besuchers“ zufällig stattfindet. Gefüllt mit Alltagsgegenständen machen die Räume die Lebensweise der Bewohner erfahrbar, die jeweils unterschiedliche Teile der Gesellschaft repräsentieren, von extrem arm bis reich. Die Globalisierung der Welt wird hier zum Anlass für die Auswahl der Besatzungsteile des Karussells. Nancy und Edward Kienholz führen hier konsequent zu Ende, was Skulptur und Malerei der Karussellkunst des 19. Jahrhunderts anboten, 183
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wenn sie mit der Darstellung exotischer Szenen aus den Kolonien zur Weltreise einluden. Natürlich geschah dies in einer eindeutigen Weise, die den Reisenden in die Rolle des Kolonialherren schlüpfen ließ, der auf der Leiter der Evolution dank des Fortschritts höher angekommen war als die Bewohner der Kolonien. Bereits hier verbirgt sich aber eine politische Botschaft hinter dem vermeintlich unverbindlichen Vergnügen. Neben dem Kienholz-Karussell erscheint das Karussell von Andreas Siekmann (*1961 Hamm) in seinen Erlebnisdimensionen wesentlich reduzierter. Ebenfalls mit eindeutig politischer Aussage stellte der Künstler es dem Publikum auf der Dokumenta 2007 vor: „Die Exklusive. Zur Politik des ausgeschlossenen Vierten“. Asylsuchende, Repräsentanten von Politik, Staatsgewalt, Wirtschaft, öffentlicher Meinung und Philosophie drehen sich im Kreis um Orte und Symbole, an und mit denen sie agieren. Sind sie Teile der Karussellbesatzung oder „Reisende“? Das Karussell wird hier zur Metapher eines nicht zu durchbrechenden Kreislaufs. Der Besucher wird auf die Funktion des Betrachters reduziert, der das kinetische Objekt zwar umschreiten kann im Versuch, es zu enträtseln, der aber nicht aktiv eingreifen kann. Der Künstler nimmt dem Objekt Karussell die Dimension des „Erfahrens am eigenen Leib“ und bewirkt durch die Distanz beim Betrachter eine Intellektualisierung des Problems. Ähnlich belehrend wirkte der Dachkantenfries von Paul Leleu, der aber nur Teil eines komplexeren Angebotes war. Als Gesamtkunstwerk für alle Sinne leistete das Karussell des späten 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts auf wesentlich unmittelbarere und umfassendere Weise seinen Beitrag zur „Kultivierung des Menschen“ und zur „Politisierung des Alltags“ (Kaschuba 1995: 292). Deshalb ist es unabdinglich für eine möglichst vollständige Kulturgeschichte mit all ihren Facetten, wie Kunst oder Technik, dass sie die Schätze, die viele private Sammler auf der ganzen Welt, aber auch Universitäten, öffentliche und private Museen hüten, kennt und auswertet.
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Die frühen Jahrm ärkte und ihre Orgeln HERBERT JÜTTEMANN
Ent wicklung der Jahrmärkte In Bezug auf ihre Bestimmung und ihre Häufigkeit unterschieden sich die Wochenmärkte von den Jahrmärkten. Beide entstanden bereits im Mittelalter. In Deutschland ging der Jahrmarkt gewöhnlich aus dem Fest am Namenstag des Kirchenpatrons hervor. Aber auch die Wallfahrten zu wundertätigen Heiligenbildern, die die Gläubigen am Namenstag des verehrten Heiligen auf sich nahmen, ließen Jahrmärkte entstehen. In manchen Gegenden gab es für den Jahrmarkt auch die Bezeichnung Kirmes, Kirchweihfest oder Messe. Selbst in kleineren Orten strömten dabei oft auf mehrere Tage große Menschenmassen zusammen. Da sie mit Speise und Trank versorgt werden mussten, fanden sich Lebensmittel- und Getränkehändler ein, und ihre Waren hatten hier einen sicheren und erträglichen Absatz. Ihnen schlossen sich bald Händler mit Handelsartikeln vielfältiger Art an. Es waren Gegenstände zum Benutzen im Haus und Hof, Tücher und allerlei Kurzwaren. Nicht selten handelte man auch mit Vieh. Auf diese Weise entstand nach den kirchlichen Feierlichkeiten ein vielseitiger und oft ausgedehnter Markt. Langsam zunehmend zeichnete sich auf den Jahrmärkten aber noch ein dritter Bereich ab. Nach den kirchlichen Ritualen und den Belastungen durch den Handel suchten die Besucher Frohsinn und Erheiterung. Es entstand ein Verlangen nach Vergnügungen und Belustigung. Allerlei Artisten, die sonst von Dorf zu Dorf zogen und bei kleinem Publikum nur wenige Groschen erhielten, fanden auf den Jahrmärkten zum Füllen ihrer Geldbörsen genügend Zuschauer. Eine alte Zugnummer war dabei das Seiltanzen. Weiterhin reichten kräftig aussehende Artisten den umstehenden Männern Hufeisen und Eisenstangen mit der Aufforderung, diese zu verbiegen. Natürlich schaffte das niemand von ihnen; nur der Artist war schließlich zur großen Verwunderung der Menge dazu in der Lage. Nicht selten führten abgerichtete Tiere allerlei Kunststücke vor. 187
Kultur des Vergnügens
Tanzbären fanden dabei besondere Beachtung. Wilde und nur aus Erzählungen bekannte Tiere aus fremden Ländern erweckten das Erstaunen der Zuschauer. Besonders gern stellte man Menschen mit besonders großem oder kleinem Wuchs sowie mit beachtlichem Leibesumfang und anderen körperlichen Abnormitäten vor. Darüber hinaus traten Jongleure, Zauberer, Guckkasten-Betreiber und weitere Volksbelustiger auf.
Die einfache Drehorgel Während wir heute ein Überangebot an Musik verspüren, war dies noch vor hundert Jahren nicht so. Instrumentalmusik war eine Art „Mangelware“ und wurde recht selten geboten, umso empfänglicher waren daher die Menschen dafür. Besonders groß war ihre Begeisterung bei Ertönen ihrer Lieblingsmelodien. Handgespielte Musik war besonders selten und kostbar, da sie den Zeitaufwand eines mit besonderer Fähigkeit begabten Musikers erforderte. Unter diesen Bedingungen sah man es bereits als Vorteil an, wenn bei einem mechanischen Musikwerk vorprogrammierte Musik wiedergegeben wurde. Einschränkungen in der Wiedergabe von Nuancierungen und eine oft begrenzte Tonskala waren in Kauf zu nehmen und störten schließlich nicht sonderlich. Demgegenüber war es nahezu allen Drehorgeln möglich, die Klangfarbe und in groben Stufen auch die Lautstärke durch Ein- und Ausschalten von Registern zu verändern. Die Spielgeschwindigkeit hing von der Drehgeschwindigkeit der Kurbel ab. Im Jahre 1750 gehörte die Drehorgel bereits zum gewohnten Pariser Straßenbild. Sie breitete sich aber auch in Deutschland aus. In vielen Bezirken wurde schließlich ihre Anzahl durch polizeiliche Reglementierungen eingeschränkt. In einem Regulativ aus dem Jahre 1824 erklärte zum Beispiel ein Bezirk den von einer anderen Regierung ausgestellten Gewerbeschein für ungültig, da „sonst mehr als eine mäßige Anzahl von Drehorgelspielern in ihrem Bezirk umherziehen würde“. Im Allgemeinen war es aber den Drehorgelspielern ohne Einschränkung erlaubt, auf Jahrmärkten zu spielen. In der Regel waren die Drehorgelspieler Invaliden, die zu keiner körperlichen Arbeit mehr fähig waren. Sie erhielten für Ihr Gewerbe lediglich ein Almosen. Beim einfachen Volk waren Volkslieder und sogenannte Gassenhauer beliebt. Einige Gassenhauer entstanden im Volke selbst. Weitere Melodien entnahm man Opern und schon
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bekannten Musikstücken und unterlegte ihnen andere volkstümliche und humorvolle Texte. Drehorgeln sollten nicht immer anspruchslose Musik wiedergeben und demnach kunstlos und einfach gebaut sein. Man bemühte sich stets sehr um klangliche Verbesserungen. Eine so gestaltete, vorbildliche Drehorgel beschreibt z. B. Dom Bedos um das Jahr 1770 in seinem Buch L´art du facteur d´orgues. Auch finden wir Musikstücke mit hohem Anspruch. Das Lied Wir winden Dir den Jungfernkranz aus der Oper Der Freischütz kommt gerade bei Schwarzwälder Flötenuhren und Drehorgeln recht oft vor. Carl Maria von Weber komponierte die Oper im Jahre 1821. Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), der zweite Sohn von Johann Sebastian Bach, verfasste zwei Kompositionen „für die Drehorgel“.
Die Bänkelsänger Zum umherziehenden Volk zählten auch die Bänkelsänger (Bild 1). Die Jahrmärkte waren für sie besonders attraktiv, denn es fehlte nicht an Zuhörern. Da es vor dem Jahre 1810 kaum Zeitungen gab, waren sie zunächst eine wichtige Informationsquelle für das einfache Volk. Der Bänkelsänger berichtete in Wort und Bild über die wichtigsten politischen Ereignisse und Katastrophen. Die französische Revolution und der Aufstieg Napoleons waren beliebte Themen. Stoffe aus dem Bereich des Verbrechens schienen jedoch der Sensationslust des Volkes weit näher zu kommen. Diebstähle, Gräueltaten und Morde waren daher die dankbarsten Inhalte. Man nannte die Lieder der Bänkelsänger Moritaten, was wohl aus dem Wort Mordtaten hervorgeht. Der Bänkelsänger wollte aber nicht nur das Böse darstellen, auch die Moral von der Geschichte sollte erkennbar sein. Die Bänkelsänger standen – ähnlich wie die Bettler – auf der untersten Stufe der sozialen Rangordnung. Mit ihrem Auftreten in Frack und Zylinder wollten sie Seriosität vortäuschen. Zum Begleiten des Gesanges diente oftmals eine einfache und schmucklose Drehorgel. Einerseits sollte sie leise klingen, damit die Worte des Bänkelsängers noch verständlich blieben. Andererseits wollte man mit ihrem Klang entfernt stehende Leute anlocken. Beides war jedoch kaum miteinander vereinbar. Der Verdienst des Bänkelsängers bestand allein im Verkauf eines dünnen Heftchens, in welchem sein Lied abgedruckt war. Oft enthielt es einen Prosabe-
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richt, und das Titelbild bestand aus einem Holzschnitt mit einer Szene der Tat.
Abbildung 1: Jahrmarkt mit Bänkelsänger in der Mitte. Archiv: Herbert Jüttemann
Figuren-Drehorgeln Beim Bänkellied kam zur musikalischen Darbietung noch die Illustration. Der gezeigte Tathergang wurde auf diese Weise anschaulich und lebendig. Es gab aber noch eine weitere Methode der Verbindung einer bildlichen Darstellung und dem Spiel einer Drehorgel. Dazu fügte der Drehorgelbauer oberhalb der Stiftwalze eine kleine Bühne mit geschnitzten Figuren ein, die sich zu Drehorgelmusik bewegten. Meist hatten die Figuren nur eine Höhe von etwa 12 cm. Besonders bekannt für diese Bauweise waren die Drehorgeln von Ignaz Bruder I und seinen Söhnen (Bild 2).
Abbildung 2: Figuren-Drehorgel mit Tanzkreisel. Musikautomatenmuseum CH-Seewen. Stiftung: Weiss-Stauffacher, Foto: Bruno Ringwald
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Dabei waren die Figuren nicht beliebig ausgewählt, sondern standen in der Regel in Beziehung zum Zeitgeschehen. So erlangte mit dem Wiener Kongress (1814/15) der Walzer weltweite Verbreitung. Entsprechend fand sich auf vielen Drehorgelbühnen ein Tanzkreisel mit Tanzpaaren, die sich im weiten Kreis und gleichzeitig um sich selbst drehten. Im Walzertakt vollführten sie das Heben und Schweben. Die wohl bedeutendste dargestellte Person war um das Jahr 1800 Napoleon, den man wegen seiner Landeroberungen keineswegs überall hasste. Den Inhalt der französischen Revolution dehnte er auf ganz Europa aus und schaffte die kleinstaatliche Zersplitterung sowie insbesondere die feudalen Sonderrechte ab. Viele der dargestellten Figuren wiederholten sich von Orgel zu Orgel. Sie hatten damals meist einen geschichtlichen Hintergrund, der heute leider nur zum Teil bekannt ist und noch viel Nachforschen verlangt.
Abbildung 3: Karussell-Drehorgel mit Reitpferden. Quelle: o.A. (1843): „Der Jahrmarkt“. Berlin. (Nachdruck o.A. (1978) „Der Jahrmarkt“. Frankfurt a.M.: Insel, o.S.)
Karussell-Orgel Auf den Jahrmärkten trat der Drehorgelspieler nicht allein als selbstständiger Unterhalter auf. Oft begleitete er bei den Schaugeschäften die Darbietungen, insbesondere bei den Zauberern, Akrobaten und den Tierdressuren, wie z. B. beim Tanzbären. In dieser Hinsicht blieb der Drehorgelspieler eng mit dem Jahrmarktgeschehen verbunden und war hiervon kaum wegzudenken.
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In den Jahren 1830 bis 1880 traten der kirchliche und auch der merkantile Charakter des Jahrmarktes mehr und mehr in den Hintergrund, während die Volksbelustigung erheblich an Bedeutung gewann und die technischen Attraktionen zunahmen.
Abbildung 4: Karussell und Karussell-Drehorgel im Hintergrund aus dem Wurstelprater. Quelle: Illustrirte Zeitung aus dem Jahre 1873. Das erste transportable Karussell stellte man etwa im Jahre 1835 auf. Hernach gab es von seiner Bauart zahlreiche Varianten. Eine stumme Karussellfahrt hätte ähnlich einem Tanz ohne Musik nur wenig Zugkraft gehabt. Mit Orgelmusik war die Fahrt aber unterhaltsam und beschwingt. Wie ein Bild aus dem Jahre 1843 zeigt, begleitete eine kleine, gegen Witterungseinflüsse mit einem Tuch abgedeckte Drehorgel den Ritt auf dem Pferdekarussell (Bild 3). Wie das Bild wiedergibt, war der Ritt mit einer Geschicklichkeitsübung verbunden. So sollte der Reiter im Vorbeireiten mit einem Degen Ringe von einer lotrechten Latte holen.
Abbildung 5: Schrankförmige Karussell-Orgel etwa aus dem Jahre 1890 der Firma Gebrüder Bruder Waldkirch mit 45 Tonstufen. Foto: Archiv Herbert Jüttemann
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Im Laufe der Zeit wurden die Karussells immer größer. Auch wuchs der Lärmpegel durch das Rufen, Johlen und Kreischen der Menschen sowie durch weitere Drehorgeln an benachbarten Schaugeschäften. Sollte die Drehorgel an allen Stellen des zugehörigen Karussells noch gehört werden, so war sie zu vergrößern und die Lautstärke beträchtlich heraufzusetzen. Eine große Karussell-Orgel ist auf Bild 4 wiedergegeben, das aus dem Jahr 1873 stammt. Allerdings ist die Orgel mit ihren radial angeordneten Schallbechern wohl nicht formgetreu gezeichnet. Zu jener Zeit bevorzugte man nämlich Orgelkästen in Form der damaligen Kleiderschränke mit ihren Zieraufsätzen, Säulen und Spitzknäufen. Bild 5 gibt eine solche Orgel aus dem Jahre 1870 wieder. Das Gehäuse hatte in der Regel einen schwarzen Anstrich und rote, mit bildlichen Darstellungen versehene Tücher vor den Schallaustrittsöffnungen. Als Informationsträger diente hier eine Stiftwalze. Das Drehen besorgte man auch bei diesen Orgeln von Hand, natürlich mit größerem Kraftaufwand im Vergleich zur Drehorgel. An die Stelle des einfachen Drehschwengels trat eine Art Schwungrad, das die Drehbewegung vergleichmäßigte. Die zum Übertönen des hohen Umwelt-Lärmpegels benötigte große Lautstärke erreichte man im Wesentlichen durch Steigern des Winddrucks z. B. von 90 mm WS auf 250 mm WS. Dies verschlechtert aber den Klang, der nun obertöniger und damit schärfer wird. Ferner muss die Orgel ständig eine hohe Lautstärke haben. Eine Solostimme, die ein Musikstück stark bereichern würde, ist wegen der Lautstärkeverringerung nicht möglich. Kräftige Märsche lassen sich aber gut wiedergeben, insbesondere bei Vorhandensein einer zuschaltbaren Mixtur.
Abbildung 6: Karussell-Orgel mit Fassade im Brock-Stil der Firma Gebrüder Bruder etwa aus dem Jahre 1920 mit 42 Tonstufen. Foto: Archiv Herbert Jüttemann 193
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Etwa nach dem Jahre 1900 lösten Fassaden mit abgerundeten Formen, reichem Schnitzwerk und weißem Grundanstrich die meisten schwarzen Schrankfassaden ab (Bild 6). Ferner ersetzte man um jene Zeit die Stiftwalze durch einen Faltkarton. Mit dem Karussell tauchten noch andere transportable Bauten auf. So gab es das Russische Rad mit einer horizontalen Hauptachse (Bild 7). Am Ende jedes der vier Arme eines Doppelkreuzes hing eine Bank, auf der zwei Personen Platz hatten. Später entstand hieraus das Riesenrad. Weitere Verbreitung fand ferner die Schiffschaukel (Bild 8) und die Rutschbahn mit Wagen, die auf Schienen herabrollten.
Abbildung 7: Schema eines russischen Rades mit Antrieb von Hand. Die gezeigten Säcke werden zum Massenausgleich auf leere Plätze gelegt. Zeichnung des Verfassers.
Ko nzertorgel Auf den Jahrmärkten gab es manche große Schausteller, denen gleich mehrere Belustigungsbetriebe angehörten. Um ihr persönliches Ansehen zu heben und auch den gesamten Jahrmarkt eine verfeinerte und Beifall gebührende Note zu verleihen, stellten sie besonders prachtvolle große Orgeln auf, die auch Musikstücke mit hohem Anspruch wiedergeben konnten (Bild 9). Man ordnete sie
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meist abseits von den lärmbeladenen Bezirken an. Auf diese Weise konnten die Zuhörer die leisen Solopartien genießen und auch die bei den Orchestern vorkommenden Wechsel, z. B. zwischen den Streichern und Holzbläsern, verfolgen.
Abbildung 8: Frühe Schiffschaukel aus dem Wurstelprater. Quelle: Illustrirte Zeitung aus dem Jahre 1873 Auch die Lautstärke ließ sich durch eine Terrassen-Dynamik und durch Schwellwerke verändern. Die Tonskala war in weitem Bereich chromatisch. Man sprach hier von Konzertorgeln, obgleich manche Kataloge Konzertorgeln auswiesen, denen diese Bezeichnung nicht gebührte. Die Übergänge von der Karussell- zur Konzertorgel waren jedoch oft fließend. Konzertorgeln standen meist auch an den Bioskopen (Wanderkinos) und besonders ausgedehnten Schau- und Fahrgeschäften, wie z. B. Riesenachterbahnen, Wanderbühnen, Wachsfiguren-Kabinetten, Riesenrädern und Tanzdielen. Außerhalb des Jahrmarkts fanden sie sich auf Eisbahnen und Großräumen vielfältiger Art. Mit den Konzertorgeln wurde anspruchsvolle Musik wiedergegeben und keine Gassenhauer. Besonders wohltuend empfand man dabei die verschiedenen Klangfarben, die sich von denen des Orchesters unterschieden. Auch war man bei der Konzertorgel nicht mehr an die im Orchester nötige gleichschwebende Temperatur (temperierte Stimmung) gebunden. Schöne Akkorde und ein reizvollerer Klangcharakter waren mit anderen Stimmungen möglich, so z. B. mit den von Ignaz Bruder I. so sehr gelobten mitteltönigen Stimmungen.
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Ähnliche, aber zweckmäßigere Stimmungen für die Konzertorgel waren die von Werckmeister, Praetorius und Neidhardt. Das Streben nach niveauvoller Musik kommt bei einer von den Waldkircher Orgelbaufirmen gemeinschaftlich für die Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 gebauten Konzertorgel mit 72 Tonstufen zum Ausdruck. Sie trug dort die Ouvertüre zu Wilhelm Tell von Rossini mit großer Vollkommenheit vor. Fast hätte sie hierfür die Goldmedaille erhalten; es störte aber, dass es eine Walzenorgel und keine Faltkartenorgel war. Damit erreichte sie lediglich die Silbermedaille. Bei Durchsicht der Noten-Kataloge für Konzertorgeln fallen viele recht kunstreiche Musikstücke auf, so z. B. zahlreiche Opern-Ouvertüren und bekannte Weisen von Opern.
Abbildung 9: Gebrüder Bruder, Modell „Selection“, Claves: 94, Baujahr um 1912. Museum mechanischer Musikinstrumente, Bruchsal. Quelle: Herbert Jüttemann (1993): Waldkircher Dreh- und Jahrmarktorgeln. Waldkirch: Waldkircher Verlagsgesellschaft, S. 145
Orgelantriebe Drehorgeln und auch kleinere Karussellorgeln bediente man von Hand. Für einige Orgeln war schon viel Kraftaufwand nötig, so dass ein Einzelner nur wenige Musikstücke ohne Pause spielen konnte. Zum zeitweisen Drehen des Rades suchte sich der KarussellBesitzer einen kräftigen Besucher zu gewinnen, indem er ihm eine freie Fahrt auf dem Karussell versprach. Nach dem Jahre 1880 kamen in zunehmendem Maße Dampfmaschinen zum Antrieb der Karussells auf. In Deutschland standen sie meist außerhalb des Karussells und waren über eine Bodenwelle mit dem Antriebsstern des Karussells verbunden. Über zusätzliche 196
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Riemenscheiben konnte die Dampfmaschine auch die Orgel und den elektrischen Generator für die Beleuchtung antreiben. Manchmal speiste der Generator im Sinne einer elektrischen Kraftübertragung mittelbar einen Elektromotor für den Betrieb der Orgel. Nach dem Jahre 1925 trat bei kleineren Karussells an die Stelle der Dampfmaschine ein Lanz-Bulldog-Straßenschlepper, der auch als stationäre Maschine einsetzbar war. Aus mehrfachen Gründen war es nun sinnvoll, für die Orgel eine gesonderte Antriebsmaschine vorzusehen. Nach Eric V. Cockayne waren dies in England ebenfalls kleine Dampfmaschinen. In Deutschland bevorzugte man den Petroleum-Motor. Er arbeitete nicht wie der Dieselmotor mit Selbstzündung, sondern bedurfte bei niedriger Verdichtung noch einer Zündhilfe in Form einer Glühnase (Glühkopf) oder Zündkerze. An windstillen Tagen zogen die lästigen Abgase der Dampfmaschinen und Verbrennungsmotoren nicht schnell genug ab. Zu diesen Abgasen kamen noch weitere Gerüche. Bei den Imbissbuden roch es nach schlechtem Fett, mit dem man die Würstchen garte. Auch wurden Brötchen mit belegten Heringen und auch Heringssalat angeboten, was der Nase nicht entging. Auf diese Weise wurde der Gang über den Jahrmarkt zu einem eindrucksvollen, aber unerquicklichen Erlebnis für die Nase. Die Antriebsbedingungen für die Karussells und die Orgeln verbesserten sich ganz wesentlich, als man vorwiegend in den Jahren 1925 bis 1939 die Jahrmärkte an die öffentlichen Stromversorgungsnetze anschloss.
Quellen Jüttemann, Herbert (1993): Waldkircher Dreh- und JahrmarktOrgeln. Waldkirch: Waldkircher Verlagsgesellschaft. o.A.: (1843): „Der Jahrmarkt“. Berlin. (Nachdruck o.A. (1978) „Der Jahrmarkt“. Frankfurt a.M.: Insel) Rambach, Hermann/Wernet, Otto (1984): Waldkircher Orgelbauer. Waldkirch: Waldkircher Verlagsgesellschaft.
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 1: Jahrmarkt mit Bänkelsänger in der Mitte. Archiv Herbert Jüttemann Abbildung 2: Figuren-Drehorgel mit Tanzkreisel. Musikautomatenmuseum CH-Seewen. Stiftung: Weiss-Stauffacher, Foto: Ringwald, Waldkirch Abbildung 3: Karussell- Drehorgel mit Reitpferden. Quelle: o.A. (1843): „Der Jahrmarkt“. Berlin. (Nachdruck o.A. (1978) „Der Jahrmarkt“. Frankfurt a.M.: Insel, o.S.) Abbildung 4: Karussell und Karussell-Drehorgel im Hintergrund aus dem Wurstelprater. Quelle: Illustrirte Zeitung aus dem Jahre 1873. Abbildung 5: Schrankförmige Karussell-Orgel etwa aus dem Jahre 1890 der Firma Gebrüder Bruder Waldkirch mit 45 Tonstufen. Foto: Archiv Herbert Jüttemann Abbildung 6: Karussell-Orgel mit Fassade im Brock-Stil der Firma Gebrüder Bruder etwa aus dem Jahre 1920 mit 42 Tonstufen. Foto: Archiv Herbert Jüttemann Abbildung 7: Schema eines russischen Rades mit Antrieb von Hand. Die gezeigten Säcke werden zum Massenausgleich auf leere Plätze gelegt. Zeichnung des Verfassers. Abbildung 8: Frühe Schiffschaukel aus dem Wurstelprater. Quelle Illustrirte Zeitung aus dem Jahre 1873 Abbildung 9: Gebrüder Bruder, Modell „Selection“, Claves: 94, Baujahr um 1912. Museum mechanischer Musikinstrumente, Bruchsal. Quelle: Herbert Jüttemann (1993): Waldkircher Dreh- und Jahrmarktorgeln. Waldkirch: Waldkircher Verlagsgesellschaft.
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Als Könige der Festplätze und der Freizeitparks gelten gemeinhin Achterbahnen. Diese versprechen in ihrer wildesten Form schon durch bloßes Hinsehen ein starkes emotionales Erlebnis. Große Wasserbahnen ziehen dank ihrer größeren Zielgruppe fast noch mehr Fahrgäste an, haben aber in der Regel dank enormer Kapazität eine nicht ganz so lange Wartezeit, die man als Kriterium für Beliebtheit durchaus anführen kann; schließlich gibt diese den zugegebenermaßen für den potentiellen Fahrgast nicht immer von Anfang an ersichtlichen Aufwand an, die Attraktion nutzen zu können. Eine Attraktionsgattung wird häufig in der Liste der beliebtesten Attraktionen vergessen, vermutlich weil ihre Qualität und damit auch der Besucherzuspruch, extrem schwankend ist. Dabei ist die Anziehungskraft von Themenfahrten nicht zuletzt durch die Disneyparks, welche die besucherstärksten überhaupt sind und ihren Reiz vorwiegend durch die Entführung der Gäste in Phantasiewelten beziehen, restlos bewiesen. Es sind jedoch nicht nur die zur einfacheren Vermarktung häufig mit Filmthemen versehenen Blockbusterattraktionen, welche Besucher in ihren Bann ziehen. Nahezu jede noch so kleine und einfache Geisterbahn findet ihre Fahrgäste. Es braucht nur eine phantasievolle Kulisse und die Neugier der Passanten. „Was mag sich im Innern befinden?“ und „Wie soll ich den anderen erklären, dass ich mich nicht herein getraut habe?“ sind die wohl meistgestellten Fragen vor der Fahrt. Was sich tatsächlich im Innern befindet, wird nach der Fahrt nur selten wahrheitsgemäß dargestellt. Schließlich hat man überlebt und mag sich als Held feiern lassen. Ein paar bemalte Sperrholzwände taugen zu dem Zweck in der Darstellung nicht. Alternativ hat man während der Fahrt die Augen zugemacht und muss eh seine Phantasie spielen lassen.
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Diese Darstellung ist natürlich ein wenig überzogen und nicht allgemein gültig, für gewöhnlich muss eine Themenfahrt schon das gewisse Etwas haben, um zu überzeugen. Aber worum handelt es sich dabei? Dieser Frage sind bislang nur wenige Buchautoren nachgegangen. In meiner eigenen Sammlung befinden sich die beiden Werke von Jason Surrell, der die gleichnamigen DisneyAttraktionen Haunted Mansion und Pirates of the Carribean vorstellt und aufzeigt, wie jene die zugehörigen Kinofilme inspiriert haben. Dazu kommen die beiden eher fachlich gehaltenen Bücher „De Emotiebaan“ von der Stichting Kermis-Cultuur und „In Ludere“ von Christina Imbrò und Stefano Staro sowie eine Ode an kleine Geisterbahnen namens „Scary Dark Rides“ von Doug Highley. Allein schon die Vielfalt der Herangehensweisen der Bücher an das Thema Darkrides zeigt auf, dass diese sich nicht einfach beschreiben lassen. Aber zumindest die Erklärung für diesen Umstand ist einfach: Themenfahrten sind Kunstwerke. Und wie für alle Kunstwerke gilt: Ihre Wirkung liegt im Auge des Betrachters. Grundvoraussetzung für eine gute Bahn ist jedoch, dass die Macher ihr Handwerk verstehen. Und auf dieses möchte ich im Folgenden eingehen und exemplarisch beantworten, was eine gute Themenfahrt ausmacht.
Streckenführung Ein interessanter Aspekt ist die Streckenführung. Mir wurde dies insbesondere bei Fahrten mit dem Fliegenden Koffer (Mack 1993) im altehrwürdigen Tivoli zu Kopenhagen, meines Erachtens die freizeitparkhistorisch wichtigste existierende Anlage überhaupt, und mit der niederländischen Geisterbahn Sea Monsters (1997 von van der Veen neu aufgebaut) bewusst, die seit schon über 60 Jahren tourt, anfangs unter den Namen Betoverd Slot und Fata Morgana. Entgegen der sonst häufig genutzten Herangehensweise, die Strecke einem rechteckigen Grundraster folgen zu lassen, hat der Designer den Wagen hier einen äußerst freien Weg mit weit geschwungenen Kurven vorgegeben, die quer durch die recht tiefe Halle führen. In meinem Fall führte dies im Unterbewusstsein zu Verwirrung, für eine Geisterbahn immer ein gutes Zeichen, die sich letztendlich dadurch bemerkbar machte, dass ich mich am Ende der Fahrt an der Rückseite der Anlage wähnte. Der Fliegende Koffer verfolgt als Märchenbahn mit einem Endlostransportsystem konzeptionell einen komplett anderen Ansatz. Die Gondeln in Kofferform fahren wie an einer Perlenschnur aufgereiht durch ein halb eingegrabenes, kleines Gebäude, das bereits augenscheinlich viel zu klein für eine derartige
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Attraktion ist. Schon während der Fahrt fällt auf, wie verzwickt die ständig auf und ab führende Streckenführung ist, die sich mit Steilkurven wohl auch gut für einen Powered Coaster eignen würde, welche der Hersteller ebenfalls im Programm hat. Spätestens bei einem Blick im leider inzwischen wieder geschlossenen TivoliMuseum im Hans-Christian-Andersen-Schloss, dessen Namensgeber die Bahn inspirierte, auf das Modell der Bahn wurde mir aber klar, warum es absolut unvermeidbar war, die Illusion der perfekten Thematisierung aus Platzgründen aufzugeben und den Blick auf kreuzende Streckenteile zu erlauben. Es ist sogar so wenig Platz, dass ein Servicekran anstatt einer Gondel fest im Transportsystem installiert werden musste, mit dem Wartungsarbeiten in der Szenerie vorgenommen werden können. Die perfekte Illusion ist wie gesagt kaputt, aber allein der für viele Fahrgäste fragwürdige Anblick der Gesamtstruktur macht das wieder weg. Spätestens, wenn diese dann wieder vor dem Gebäude stehen, das die Bahn beheimatet, und sich fragen, wie die Bahn da reinpassen mag, ist die Faszination geweckt. Die gewöhnliche klassische Geisterbahn hat eine offene Station, führt links in das Gebäude rein und rechts wieder raus. Ausnahmen wie die bereits angesprochene Bahn Sea Monsters sind eher selten. Und im Stationsbereich stehen meist viel mehr Wagen, als gleichzeitig auf der Strecke unterwegs sein können oder müssen. Auf beide Mysterien mag ich an dieser Stelle nicht eingehen, sondern lieber auf die Tatsache hinweisen, dass bei einer einstöckigen Bahn die durchaus verschlungene Strecke topologisch gesehen eigentlich immer äquivalent zu einem Kreis ist. Zum Glück ist diese Erkenntnis nicht so ernüchternd, wie sie auf den ersten Blick klingt, kann man doch mit einigen Tricks trotz allem viele interessante Akzente setzen. Sie gibt aber eine Erklärung, warum Erschrecker in Geisterbahnen meistens von rechts kommen. Häufig befindet sich nur eine Person innerhalb der Bahn, deren Aufgabe nicht nur im Erschrecken der Fahrgäste besteht, sondern die zudem als Wachmann fungiert. Unter Beobachtung machen Fahrgäste einfach weniger kaputt. Und dies ist im Innenraum nun mal einfacher als am Rand der Bahn. Völlig über Bord geworfen werden kann diese Theorie natürlich, wenn leidenschaftliche Erschrecker, womöglich auch noch mit mehreren Personen, für Unwohlsein bei den Fahrgästen sorgen. Bestes Beispiel dafür ist die in Hamburger Kreisen entstandene Boo-Crew, die unter anderem im Geistertempel, bei den Halloweenpartys im Heide-Park und in der Villa Fernsicht aktiv ist. Will man Erschrecken zur Kunstform erheben, so muss man 201
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schließlich mit allen Tricks wie Überraschung und Ablenkung arbeiten und dazu die baulichen Besonderheiten einer Bahn komplett ausnutzen. Doch zurück zur Streckenführung und der Frage, wie sich mit dieser Akzente setzen lassen. Auf- und Abfahrten sind häufig unumgänglich. Sei es aus Platzmangel oder, besonders bei Volksfestattraktionen beliebt, um Größe durch mehrere Etagen an der Front vorzutäuschen. Besonders gut in dieser Beziehung ist die britische Geisterbahn Phantom Chaser (Chadwick 1991), die trotz drei Etagen problemlos auf einen Transport passt. Sämtliche Auf- und Abfahrten sind vor der Front, im Erdgeschoss ist ausschließlich der Stationsbereich untergebracht und gerade mal 25 % der Strecke befinden sich hinter der Kulisse. Aber wenn die Bahn schon so viel Strecke vor der Front hat, dann muss sie einfach groß sein. Das sollen die potentiellen Fahrgäste zumindest denken. Und in Großbritannien funktioniert das schon allein deswegen, weil die transportablen Geisterbahnen dort alle nicht mit sonderlich viel, wenn auch teilweise wirklich gutem Innenleben aufwarten und so die Enttäuschung nicht all zu groß ausfallen kann. Eine besonders starke Akzentuierung erfährt der Ebenenwechsel durch passende Eingliederung in die Thematisierung. Passende Beispiele sind die Drachenfahrt im Legoland Discovery Center in Berlin (Mack 2007), wo die Wagen durch einen Falltür, ausgeführt als etwas zu langsamer Vertikallift, in den Folterkeller hinab gleiten, und Transdemonium im Parc Asterix (WGH 2003). Dort wird das Potential der in der Geschwindigkeit frei steuerbaren Fahrzeuge von WGH komplett ausgenutzt: Ein Animatronic mit einer Kurbel zieht die Wagen unregelmäßig unter scheinbar großer Kraftanstrengung den Berg hinauf. Dabei ist die Bewegung der Kurbel mit der Geschwindigkeitsänderung der Fahrzeuge synchronisiert. Derlei auf den ersten Blick eher subtile Dinge machen die Attraktion neben ihrer künstlerischen Note aus. Der Fahrgast wird auf seinem wilden Trip durch mittelalterliche Kulissen nicht nur effektiv durch die Figuren überrascht, sondern auch mittels durchdachter Inszenierung. Vor dem endgültigen Themenwechsel in Richtung Transportsysteme möchte ich kurz noch auf den Fahrspaßaspekt mancher Themenfahrten eingehen. Es gibt tatsächlich spaßige Geisterbahnen, die fast ausschließlich von schnellen Kurvenfahrten oder gar Abfahrten leben. Die alte, nicht gerade mit ausufernder Innenausstattung daherkommende Geisterbahn im Vidampark zu Budapest war so ein Fall oder auch jene im Antibesland an der französischen Mittel202
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meerküste (Freunde von klassischen Geisterbahnen sei übrigens eine Tour durch die französischen Lunaparks empfohlen, dort finden sich in der Regel allerlei interessante Anlagen, manche sogar mit alter deutscher Kirmesvergangenheit.). Abgesehen von Station und Balkon hat diese Bahn nicht einen Meter ebene Strecke und ist teilweise entsprechend schnell unterwegs. Indoor-Coaster, die das Konzept ins Extreme führen, bleiben an dieser Stelle einmal unerwähnt.
Transport systeme Die richtige Wahl des Transportsystems kann ebenfalls über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Und wie bei so vielen Dingen ist es quasi unmöglich, alle Vorteile der einzelnen Systeme zusammen zu führen. Nehmen wir beispielsweise einmal das Omnimover-System von Disney, welches Mitte der 60er Jahre von Bob Gurr erdacht wurde (inspiriert durch einen an seinem Stiel gedrehten Apfel) und später aus einer endlosen Reihe von dreh- und teilweise auch kippbaren Wagen besteht. Da der Blick der Fahrgäste durch seitliche Wände der Gondeln eingeschränkt ist und durch die Rotation der Gondeln geführt wird, liegt die Analogie zur Kameraführung in einem Film nicht fern – ein Medium, mit dem sich die Imagineers sehr gut auskennen und das sie seit jeher als Inspiration für ihre Attraktionen nehmen. Zum Einsatz kommen die Omnimover (im Fall der Geisterbahnen auch Doom Buggies genannt) unter anderem in den mit hoher Kapazität ausgestatteten Geisterbahnen Phantom Manor in Paris (Vekoma 1992), Haunted Mansion in den anderen Disneyparks genannt. Diese Themenfahrten sind atmosphärisch äußerst gelungen und ziehen wahre Menschenmassen an, doch eigentlich sind derartige Endlostransportsysteme für Geisterbahnen eher suboptimal. Durch den Wagenverbund bleibt die Geschwindigkeit der Wagen immer konstant und somit unakzentuiert. Zudem befinden sich die Fahrgäste immer in größerer Gesellschaft. Unwohlsein tritt jedoch verstärkt auf, wenn man sich allein im Dunkeln befindet. Und die Abschottung der Fahrgäste durch Einschränkung des Blickfeldes lässt gar nicht erst deren Befürchtung zu, dass hinter ihnen etwas passiert. Dabei ist die reine Vorstellung meist schlimmer als das, was einem wirklich passiert. Außerdem ist der Wohlbefindlichkeitsabstand hinter dem Rücken größer als jener im Sichtfeld einzuhaltende. Mit anderen Worten: Spürt man etwas hinter seinem Rücken, ist es bei gleichem Abstand schlimmer, als wenn es im Sichtfeld passiert.
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Die Entwicklung der Transportsysteme ging zuletzt in zwei Richtungen. Die eine wird durch den Verzicht von Schienen markiert, die andere durch gesteigerte dynamische Möglichkeiten. Darunter fällt zum einen die bereits angesprochene Geschwindigkeitsregelung, zum anderen aber auch die Adaption von Motion Bases für Transportsysteme. Dazu werden die Fahrgastträger auf fahrende Simulatorplattformen gebaut, die je nach Bedarf mit bis zu sechs Freiheitsgraden ausgestattet sind. Sie simulieren zum Beispiel den Aufprall eines angreifenden Hais (Jaws in den Universal Studios Florida), wilde Autofahrten (Disneylands Indiana Jones Adventure) oder gar die Auswirkungen der Handlungen von Superhelden (Spiderman in Islands of Adventure). Letzteres wirkt durch nicht zuletzt durch die Synchronisation der Bewegung zu 3-D-Projektionen besonders realistisch, hat dafür aber auch nur schwer zu rechtfertigende Produktionskosten verschlungen. Dass dieser Aufwand gar nicht unbedingt nötig ist, um eine eindrucksvolle Atmosphäre zu schaffen, zeigen gleich mehrere in Deutschland reisende Geisterbahnen, allen voran Eckls Shocker und die Fahrt zur Hölle (Arcadia 2001) von Dom-Jollberg. Deren einfacher Trick besteht aus Käfiggondeln, die etwas Klaustrophobisches an sich haben und gleichzeitig die Sicht ein wenig behindern. Den Fahrgästen ist dadurch ein wenig unwohl, ein durchaus gewollter Effekt. Konzeptionell noch wichtiger ist jedoch, dass die Fahrgäste unter Kontrolle sind und die Figuren und Effekte dadurch viel näher am Fahrzeug platziert werden können und so in der Dunkelheit ihre volle Wirkung entfalten können. Thematisch äußerst ansprechend wurde dieses Grundkonzept beim Ocean of Darkness im Attractiepark Slagharen umgesetzt. Dort fahren die Besucher – inspiriert vom früheren Standort der Bahn auf der Pier in Scheveningen – in Taucherglocken durch ein Tiefseeambiente. Sowieso ist die Wahl des Transportsystems häufiger bereits durch die Wahl der Grundthematik der Themenfahrt an sich vorgegeben. Für ein orientalisches Ambiente eignet sich ein fliegender Teppich am besten, idealerweise als Suspended-System umgesetzt, das die Schienen außerhalb des Blickfelds der Fahrgäste an der Decke hat und durch seitliches Schwingen ein Dahingleiten simulieren kann. Bei einer Piratenfahrt hingegen kommt man fast nicht um Boote herum, die mehr oder weniger gemütlich durch einen künstlichen Fluss gleiten und dem Fahrgast das Erlebnis einer Seefahrt bieten. Die Vermittlung des richtigen Fahrgefühls ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei der Bewertung der Attraktivität einer Attraktion.
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Kommen wir zur zweiten aktuellen Entwicklung, die vor allem durch die Sally-Darkrides wie El Laberinto del Minotauro im spanischen Terra Mitica bekannt geworden sind. ETF stattete diese durch ein Höhlensystem führende Themenfahrt im Jahr 2000 mit Fahrzeugen aus, die ohne Schiene auskommen und durch Induktionsstreifen ihren Weg finden. Mit jenen sind vollkommen neue Streckenführungen möglich. Wagen können in eine Sackgasse fahren und sich aus dieser wieder heraus winden. Ohne großen mechanischen Aufwand sind auch Kreuzungen und Abzweigungen möglich. Im Laberinto werden letztere genutzt, um Wagen vorzeitig aus der Attraktion zu entfernen, deren Fahrgäste nicht genügend Punkte im integrierten Ballerspiel geschossen haben. Somit erinnert die Bahn an ein Computerspiel mit insgesamt drei Leveln, die absolviert werden müssen. Die Fahrgäste in das Geschehen eingreifen zu lassen, sorgt natürlich für eine erhöhte Anzahl von Wiederholungsfahrten und führt somit zu größerer Beliebtheit, sei es durch ein Punktesystem, das Wettkämpfe zulässt, oder einfach nur wegen des allgemeinen Spieltriebs der Besucher, die ausprobieren wollen, was in der Szenerie passiert, wenn sie verschiedene Ziele getroffen haben. Je nach Thema der Bahn erscheint es jedoch stimmungstechnisch kontraproduktiv, den Fahrgästen eine Art Macht zu verleihen. Das Haunted House in Alton Towers (Mack 1992) – eigentlich eine tolle Geisterbahn mit überzeugenden Effekten im klassischen Stil und dank geschwindigkeitssteuerbarer Fahrzeuge (durch diese war es trotz der Vorgabe hoher Kapazität möglich, auf ein Endlostransportsystem zu verzichten) auch dem psychologischen Effekt, dass man sich im Dunkeln quasi allein fühlt – wurde nachträglich zur interaktiven Bahn namens Duel umgebaut, in der sich die Besucher virtuell der angreifenden Geister erwehren können, anstatt sich in der Dunkelheit hilflos vorzukommen. Prinzipiell ist die Möglichkeit des Eingreifens der Fahrgäste in die Geschehnisse jedoch vielversprechend. Die zu klärenden Fragen sind nur, wie man vom gesellschaftlich als moralisch fragwürdigen Schießen als Form der Interaktivität wegkommt (Zauberstäbe passen nun mal nicht in jedes Thema) und wie viel Erklärung den Fahrgästen zuzumuten ist, damit sie auch wissen, was sie zu tun haben. Theoretisch wäre es durchaus denkbar, wie beim Interactive Mystic Mover Project vorgeschlagen, komplette Detektivgeschichten erlebbar zu machen, in denen die Fahrgäste die Fahrzeuge durch die Szenerien steuern und dabei Indizien suchen. Aber ohne ein umfangreiches Briefing dürfte so etwas nicht funktionieren. Wie sehr das Konzept der Interaktivität in der Regel in die Konzeption einer Themenfahrt eingreift, zei-
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gen wunderbar Disneys Buzz-Lightyear-Attraktionen (WED Enterprises, zuerst 1998). Disney-Themenfahrten geizen in der Regel nicht mit Aufwand in der Gestaltung, doch bei diesen Drive-InShootern haben die Imagineers zu Recht darauf vertraut, dass die Fahrgäste sich auf das Abschießen der zahlreichen Ziele konzentrieren und gar nicht erst auf die Feinheiten der Kulisse achten. Diese ist entsprechend auch einfach größtenteils zweidimensional und passend zu den Toy-Story-Filmen extrem bunt ausgefallen.
Gestaltung Bei transportablen Bahnen ist der Gestaltungsaufwand mit Respekt bezüglich des Transportaufwands traditionell eher niedrig. Darin ist auch der Grund zu suchen, warum auf der Reise fast keine anderen Themen als Geister, Dämonen und Gespenster zu finden sind. Diese lassen sich nun mal am besten in der Dunkelheit präsentieren und bedürfen keiner großen Kulissen. Durch sehr kurze Beleuchtungsintervalle oder hohe Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Wagen lässt sich sogar noch an der Qualität der Figuren sparen, die Fahrgäste haben dann fast keine Zeit mehr, diese bewusst wahrzunehmen. Eine hohe Geschwindigkeit, die wie bereits weiter oben angesprochen dem Fahrspaß zugute käme, steht nur leider wiederum im Widerspruch zur Transportabilität, schließlich müsste dann bei gleicher Fahrtzeit die Bahn entsprechend größer sein. Kulissen wiederum dürfen gar nicht groß genug sein. Doug Highley formulierte es in seinem Buch sehr prägnant: „Flash is cash“, zumindest bei Geisterbahnen, die einzeln zu bezahlen sind. Der Fahrgast muss angezogen werden, sei es durch Größe, Gestaltung, Ideenreichtum oder einfach nur Bewegung. Diese zieht in jeder Form Aufmerksamkeit an und suggeriert, dass eine Attraktion geöffnet ist. Manch eine Bahn wie die alte Geisterrikscha von Burghard setzt auf Figuren, andere wie Lehmanns Geisterschlange (Mack 1979) auf pure Größe und Fahrzeuge auf mehreren Etagen. Die größte Show bieten aber noch immer Erschrecker, welche eine Geisterbahn als Bühne für ihre Show nutzen. Wie wichtig die passende Außengestaltung sein kann, zeigt Valhalla Borgen (Vekoma 1998) im Kopenhagener Tivoli, ihres Zeichens eine überzeugende Reinkarnation der Hexenschaukel mit interessanter Storyline. Die Attraktion wurde einfach nicht angenommen, weil die Besucher keine Vorstellung hatten, was sie im Innern erwartet. Daran änderte auch eine Verschönerung des Gebäudes und die Verle-
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gung des Eingangs an einen von der potentiellen Zielgruppe stärker frequentierten Weg nichts. In Freizeitparks mit Pauschaleintrittssystem machen sich die Designer eher Gedanken darüber, wie sie die Fahrgäste vor der Fahrt in die richtige Stimmung bringen können. Häufig werden die Attraktionen dazu in passende Themenbereiche eingegliedert, mitunter dient sogar der ganze Park als Einleitung, wie zum Beispiel beim Droomvlugt in Efteling, der sich durch sein Märchenthema wunderbar in das Grundkonzept des Parks einfügt. Am interessantesten sind jedoch die eigenständig präsentierten Bahnen. Im Nigloland wurde das Manoir Hante (Mack 1994) – der Name steht in Reminiszenz zu den inspirierenden, jedoch weit aufwändiger ausgeführten Disney-Geisterbahnen – leicht zurückversetzt als kleines verlassenes Haus in einem leicht verwilderten Garten initiiert. Die große Halle, in der sich die Bahn verbirgt, wurde ähnlich wie bei Duel in Alton Towers durch Bäume kaschiert, so dass der ein oder andere Fahrgast über die Größe der Anlage verwundert sein dürfte. Täuschung ist in Bezug auf Themenfahrten allerdings bei weitem nicht immer angesagt, auch wenn viele Techniken des Kulissenbaus darauf zurückgreifen und die Mechanik und Lichtinstallationen besser im Verborgenen aufgehoben sind. Der Besucher bemerkt thematische Stilbrüche, wenn auch teilweise nur unterbewusst, und wird somit in der Wahrnehmung der künstlich geschaffenen Realität gestört. Glaubwürdigkeit herzustellen ist demnach eine der wesentlichsten Aufgaben bei der Gestaltung einer Themenfahrt. Bei Geisterbahnen ist dies einfach, schließlich weiß niemand, wie Geister, Dämonen und sonstige Fabelwesen auszusehen haben und wie sie sich bewegen. Bei der Umsetzung von Menschen als Animatronic bot sich lange Zeit ein gewisser Abstraktionslevel an, da deren Bewegungen nur schwer glaubhaft imitiert werden konnten. Disneys nicht zuletzt wegen des die Fahrt begleitenden Ohrwurms allseits bekannte Bahn It’s a small World (Arrow, Erstversion 1964) zeigt dies im Extremen. Auch bei der Kulissengestaltung stellt sich je nach Thema die Frage nach der Authentizität, wenn auch in anderer Weise. Soll die Gestaltung dem realen Vorbild oder doch lieber der meist gegenüber der Realität leicht verfremdeten Vorstellungshaltung entsprechen? Abschließend bleibt festzustellen, dass viele Kunstwerke nicht dadurch bekannt oder beliebt werden, dass sie in allen Belangen besser sind als andere. Wie will man Kunst auch werten? Es reicht in
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der Regel eine auffällige Besonderheit. Sei es eine provozierende Darstellung, eine eigenständige Aussage, ein neuer Stil oder was auch immer. Mitreißend sollte diese jedoch sein, denn sonst wird dem Werk nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und genau das gilt auch für Themenfahrten und ganz speziell reisende Geisterbahnen. Denen ist nämlich in der Regel aus Kostengründen und mit dem Hintergrund der Transportergonomie gar nicht erst die Möglichkeit gegeben, alle Register zu ziehen. Doch auch ein minimalistischer Stil kann überzeugen, wenn der Künstler sein Handwerk versteht. Die Wege Fahrgäste mitzureißen sind schließlich vielfältig, wie die obigen Beispiele zeigen. Dabei ist die Aufzählung alles andere als komplett und neben der Gestaltung, der Wahl des Transportsystems und der Streckenführung gibt es noch viele andere Möglichkeiten – allerdings auch, das Kunstwerk zu versauen. Und doch gibt es nicht wenige Bahnen, die durch verschiedenste Features überzeugen können. Und dann gibt es noch die richtigen Meisterwerke, bei denen sich fast alle einig sind, wenn es um die Beurteilung ihrer Klasse geht. Themenfahrten, bei denen fast alles passt – wo die komplette Inszenierung stimmig ist. Das ist dann die ganz große Kunst.
Quellen Highley, Doug (1999): Scary Dark Rides. Encinitas: Lion Point. Imbrò, Cristina und Staro, Stefano (1989): In-ludere. Tradizione e design in treni fantasma e castelli incantati. Padova: Facto Edizioni. Loeff, Karel und van Oers, Hennie (2005): De Emotiebaan. Historisch overzicht kermisattracties deel 7. Oosterhout: Stichting Kermis-Cultuur. Surrell, Jason (2003): The Haunted Mansion. From the Magic Kingdom to the Movies. New York: Disney Editions. Surrell, Jason (2006): Pirates of the Caribbean. From the Magic Kingdom to the Movies. New York: Disney Editions.
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S chaust eller MARGIT RAMUS
Fahrendes Volk von einst Zur Kulturgeschichte vieler Orte – meist solcher, wo Märkte abgehalten wurden – gehörte seit dem frühen Mittelalter das Fahrende Volk. Zu ihm zählten: Gaukler, Spielleute, Moritatenmaler, Bänkelsänger, Kunstreiter, Seiltänzer, Tierbändiger, Händler, Scherenschleifer sowie Quacksalber oder Barbiere. Die Fahrenden standen nicht unter dem Schutz des bürgerlichen Gesetzes, durften nicht die Tracht des freien Mannes tragen und auch nicht die Heiligen Sakramente empfangen. Dennoch waren ihre Darbietungen, Schaustellungen und Dienstleistungen auf den jährlich stattfindenden Märkten bei Arm und Reich, Jung und Alt sehr beliebt. In der Literatur gibt es einige wissenschaftlich fundierte Publikationen über das Fahrende Volk, aber nur wenige Veröffentlichungen stellen dar, dass beim Fahrenden Volk der Ursprung vieler Berufe liegt und technische Errungenschaften meist auf Jahrmärkten dem Volk vorgestellt worden sind. Der Jahrmarkt galt als allgemeiner Schauplatz, Zusammenkunft vieler Professionen, Künsten, Handel und Handwerk. Als Beispiel sind hier zu nennen: Bänkelsänger wanderten von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und verkündeten die neuesten Nachrichten zum Zeitgeschehen. Sie stillten die Neugier und Sensationslust der Bevölkerung mit Schauergeschichten über Verbrechen, Familientragödien und sonstige Katastrophen. Dazu zeichneten Moritatenmaler Karikaturen und Werbetafeln und verkauften Druckschriften oder Bilderbögen zum Nach- und Vorlesen. Auch die ersten Bücher wurden auf den großen Jahrmärkten vertrieben.
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Barbiere oder Quacksalber zogen mit Pferd und Wagen von Ort zu Ort. Sie behandelten große und kleine Wehwehchen der Menschen. Außerdem verkauften sie Wunderheilmittel in Form von Pulvern und Salben und stellten manchmal auch Abnormitäten zur Schau. Die faszinierende Welt der Jahrmärkte zog auch Wanderbühnen an. Neben Lyrik, Poesie wurden auch politische und soziale Kritik geboten. Sie gelten als die Vorgänger der stationären Hoftheater und Nationaltheater und aus den Wanderschauspielern wuchsen die Berufsschauspieler heran. Seit dem 16. Jahrhundert erfreute auch der Guckkasten die Bevölkerung. Durch eine lupenartige Linse im Loch eines Holzkastens sah das Auge naturgetreue Ansichten und Abbilder. In dieser Miniaturwelt vermochten schaurige Szenen, ausländische Städte, Schlachten und Schönheiten, sternklare Nächte und sonnige Tage bewundert werden. Es folgte die Laterna Magica. Eine Zauberlaterne, die aus einem Gehäuse bestand, in dessen Inneren eine Lichtquelle durch einen Hohlspiegel an der Rückwand verstärkt, die Strahlen parallel nach vorne warf. An der Vorderseite wurde ein Rohr angebracht, in dem zwei konvexe Linsen senkrecht befestigt wurden. Hinter dem gemeinsamen Brennpunkt dieser beiden Linsen schob man das transparente Bild spiegelverkehrt und auf dem Kopf stehend ein. Spezielle Szenerien auf Glasplatten gemalt und ganze Geschichten konnten so illustriert werden. Dieser Darstellungsform schloss sich der Kinematograph an, dessen Durchbruch mit der Vorführung der ersten beweglichen Bilder auf Jahrmärkten die Ära der Filmgeschichte einläutete. Schon diese kleine Auswahl zeigt, dass viele unserer kulturellen Güter ihren Ursprung oder Verbreitung beim Fahrenden Volk haben.
Schausteller der Gegenwart Über die Entwicklung des Fahrenden Volkes des Mittelalters hin zum heutigen Schausteller ist nur wenig schriftlich festgehalten worden. Obwohl es eine Anzahl von Literatur über das Fahrende Volk von einst, über Schausteller und Volksfeste gibt, haben fast alle gemeinsam, dass sie von Außenstehenden der Berufsgruppe Schausteller geschrieben und unter diesem Blickwinkel die Realität der sozialen Lebensweise oft nicht erfassen.
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Die Verfasserin und ihre Familie üben seit vielen Generationen den Schaustellerberuf aus, deshalb möchte sie versuchen, auf den Spuren ihrer eigenen Vergangenheit sowie als Kunsthistorikerin die Lebensart der Schausteller, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ergänzend aufzuzeichnen. Zunächst zum Begriff Schausteller. Der Zeitpunkt seiner Entstehung und Definition lässt sich nicht exakt bestimmen. Er soll 1822 erstmals bei Theodor Heinsius aufgetaucht sein. Heinsius erklärt, dass ein Schausteller etwas zur Schau stellt oder etwas anbietet, das belustigt oder unterhält. (Heinsius 1822: 122) Wahrscheinlich war der Begriff Schausteller bereits früher gebräuchlich, da das Fahrende Volk typischerweise auch etwas zur Schau stellte. Sicher ist, dass es auf den Jahrmärkten ein buntes Treiben von Schaustellungen, Gesang und Tanz gab. Daneben wurden Essen, Trinken und der Verkauf von Waren aller Art angeboten. Dies entspricht auch der Definition von Theodor Hampe, der im Jahre 1902 über Schausteller schreibt: „In der Hauptsache begreift man darunter diejenigen Fahrenden, die sich die Erheiterung und Unterhaltung ihrer Mitmenschen zum Beruf und zu ihrem Geschäft gemacht haben.“ (Hampe 1902: 7)
Der Historiker Hermann Arnold glaubt, dass „die heutige Sozialgruppe der Schausteller erst mit der modernen Schaustellerei entstanden ist.“ (Arnold 1980: 265) Mit modern meint er sicherlich, das Betreiben von Fahrgeschäften, welches erst mit Ende des 19. Jahrhunderts in der heute üblichen Weise begonnen wurde. Ohne Zweifel ist das Schaustellergewerbe durch die Industrialisierung, die Dampfmaschine und Eisenbahn mit sich brachte, zu der heute bekannten Form gewachsen. Dem widerspricht jedoch nicht die Annahme, dass sich der Schausteller aus den fahrenden Marktleuten des Mittelalters entwickelt hat, zu denen sich in den vergangenen Jahrhunderten Menschen verschiedener Herkunft und Ausbildung, seien es Zuckerbäcker, Schlächter, Wirtsleute, Händler, Handwerker wie Schmiede, Schlosser, Tischler und Kaufleute gesellten. Daneben gab es musisch und artistisch begabte Menschen, die mit Tanz, Gesang, Menagerien und sonstigen artistischen Darstellungen den mittelalterlichen Markt bereicherten. Viele dieser Komödianten haben noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg als Artisten in Kleinzirkusunternehmen oder in Menagerien gearbeitet und danach haben sie ihren Erwerbszweig gewechselt und sind ins Schaustellergewerbe umgestiegen. Heute haben sich die Komödianten in die Gemein-
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schaft der Schausteller integriert, obwohl sie sich eine eigene Lebensphilosophie, die Neigung zu Musik und Tanz oder auch zum Teil sprachliche Eigentümlichkeiten über Generationen hinweg bewahrt haben.
Gewerbeordnung Noch bis ins 19. Jahrhundert zählten nahezu alle, die keinem so genannten ehrbaren Beruf nachgingen, keinen festen Wohnsitz besaßen und daher in keine Gesellschaftsform hineinpassten, zu den Fahrenden. Das Leben war hart und gefahrenreich, denn die fahrenden Leute galten als vogelfrei. Mit dem Preußisch Allgemeinen Landrecht von 1794 ergaben sich grundlegende Veränderungen der rechtlichen Situation für das Fahrende Volk. Die Gewerbefreiheit wurde eingeführt und die zuständigen Behörden vergaben zum ersten Mal begrenzte Konzessionen für Schausteller, eine bestimmte Zeit in einem gewissen Territorium zu reisen. Die Form der Gewerbeausübung wurde in der Wandergewerbeordnung festgelegt. So wurde am 9.11.1864 von der Königlichen Bezirksregierung Arnsberg der Witwe Heinrich Heitmann aus Kamen für das „Aufstellen einen Karussells mit Musikbegleitung auf einer Drehorgel im Regierungsbezirk Münster 1865“ ein Gewerbeschein ausgestellt. (Stadtarchiv von Münster. Stadtmuseum Münster 1986: 129) Noch bis in die Gegenwart unterscheidet man: Fliegende Bauten, Spiel, Imbiss oder Süßwaren und Verkauf. Die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 sowie die Verdichtung des Eisenbahnnetzes ermöglichte eine enorme Ausbreitung des Reisegebietes.
Informationsvernetzung und Berufsorganisationen Im Jahre 1883 wurde die erste Fachzeitschrift der Schausteller der „Komet - Fachblatt für das Reisegewerbe und den Markthandel in Pirmasens gegründet“. Im Komet inserierten Hersteller- und Zulieferfirmen, Städte und Gemeinden warben für Veranstaltungen, neue Gewerbeordnungen und Auflagen wurden veröffentlicht, Arbeitsgesuche und -angebote sowie An- und Verkäufe von Schaustellerbedarf wurden kundgegeben, außerdem verbanden Familienanzeigen die wachsende Gemeinschaft der Schausteller. Bis in die Gegenwart ist der Komet noch immer das wichtigste Forum der 212
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deutschen Schausteller. Durch ihn wird regionale und überregionale Verbundenheit gepflegt, dadurch bleiben lokale Traditionen lebendig. Inzwischen hat sich auch die 1997 gegründete Zeitschrift „Kirmes- und Park Revue“ etabliert. Neben ähnlichen Themen der Zeitschrift Komet, werden seriell Schaustellerchroniken veröffentlicht, neue Fahrgeschäfte vorgestellt und dem Verbleib von alten Geschäften nachgegangen. Etwa zeitgleich mit der Gründung des Fachorgans Komet institutionalisierten sich die Schausteller in allen größeren Städten in eigenen Interessenverbänden. Im Vorfeld war bereits 1858 der erste Verband „Freundschaft“ in Pirmasens gegründet worden. Nun folgten viele andere lokale Verbände. Am 1. April 1936 konstituierte sich die Organisation: Hauptvereinigung des Ambulanten Gewerbes und der Schausteller in Deutschland e.V. (HAGD) Sie war in drei Fachgruppen unterteilt: I)
Gewerbe nach Schaustellerart, (was bedeutete: mit Wohn- und Packwagen und einem Schaustellergeschäft von Kirmes zu Kirmes zu reisen) II) Ambulanter Warenhandel und III) Ambulanter Lebensmittelhandel. (Komet 1983, 49) Es gab in Ländern und Städten der Organisation angeschlossene Vereinigungen. In den 1990er Jahren wurde der Verein in „Bundesverband Deutscher Schausteller und Marktkaufleute e.V.“ kurz ‚BSM’ umbenannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1949 der „Deutsche Schaustellerbund, Sitz Berlin“, kurz DSB genannt, gegründet. (Schwäke 1983: 8) Die auf kommunaler oder Landesebene tätigen Schaustellervereine oder -verbände waren später in einem der beiden Dachorganisationen DSB oder HAGD/BSM organisiert. Zu den Aufgaben der beiden Schaustellerverbände gehört die Wahrnehmung der rechtlichen und wirtschaftlichen Belange des Schaustellergewerbes, die Erhaltung der traditionellen Volksfeste sowie die kulturelle Anerkennung zu verbessern. Im Jahre 1954 schlossen sich 12 nationale Mitgliedsverbände reisender Schausteller zur „Europäischen Schausteller Union“ (ESU) zusammen. Dieser Organisation sind auch der „Europäische Frauenbund“ und die „Europäische Schausteller Jugend Union“ angeschlossen. 1980 erwarb die ESU Sitz und Stimme im Kulturaus213
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schuss des Europarates in Straßburg. Seit 2006 unter der Präsidentschaft von Albert Ritter. Trotz der Anerkennung der Schausteller im Kulturausschuss des Europarates haben sich gewisse Vorurteile und Intoleranzen erhalten. Obschon das Schaustellergewerbe wirtschaftlich längst einem mittelständischen Dienstleistungs- oder Einzelhandelsbetrieb gleichzusetzen ist, muss es bedauerlicherweise auch heute noch um Gleichberechtigung zu anderen Gewerbezweigen und die Anerkennung als Lehrberuf kämpfen. Die Saison der Schausteller beginnt gewöhnlich im März oder April eines Jahres. Nach den durchschnittlich 100 Spieltagen, an denen die Geschäfte geöffnet sind, schließen viele Schausteller ihre Saison mit den zahlreich gewordenen Weihnachtsmärkten ab. Eine Studie vom DSB ergab, dass 178.000 Millionen Menschen im Jahre 2007 die ca. 12.000 Volksfeste in Deutschland besuchten. Manche deutsche Stadt hat ihren Bekanntheitsgrad im Ausland einem Volksfest zu verdanken. Noch immer strömen Menschen verschiedenen Alters und Herkunft zum bunten Treiben. Sie suchen den Nervenkitzel und den Genuss vieler Köstlichkeiten auf unseren Volksfestplätzen.
Soziale Lebensweise Die Lebensweise der Schausteller wird nicht selten von der Bevölkerung abenteuerlich und vielleicht sogar urtümlich gesehen. Dabei geht es in der eher männerbetonten Schaustellerwelt noch recht konservativ zu. Das Leben im Schaustellerbetrieb lässt sich mit landwirtschaftlichen Familienbetrieben vergleichen, weil hier und dort das Zusammenleben und -arbeiten den Alltag bestimmen. Erfolge können durch Fleiß und Zuverlässigkeit, ein wenig Raffinesse und Glück, einem guten Leumund bei Behörden und Lieferanten, mit einem gepflegten Geschäft, sei es groß oder klein und gutem Service erreicht werden. Ehen werden oft innerhalb der Berufsgruppe geschlossen. Im Umfeld der Autorin ergaben sich in den 70er Jahren einige Partnerschaften zwischen Schaustellermänner und weiblichen Personen, die in die Schaustellergemeinschaft aufgenommen wurden. Umgekehrt ist es eher selten. In den letzten Jahrzehnten liegt der Trend jedoch wieder darin, innerhalb des Schaustellermilieus zu heiraten.
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Die Frauen spielen, ähnlich einem stationären Familienunternehmen, eine wichtige Rolle im Mittelpunkt der Familie. Sie vereinigen alles in einer Person: Ehefrau, Mutter, Köchin, Buchhalterin, Kauffrau, Chefin und mehr. Sie betreiben die Kassen oder sonstige Geschäfte und sind Ansprechpartner für Alltagsprobleme in der Familie und Betrieb. Beim Mann liegen in der Regel die Verantwortung der Logistik, des Auf- und Abbaus der Geschäfte, bei technischen Störungen oder anfallenden Reparaturen. Aufgrund der subjektiven Erfahrung der Autorin möchte sie behaupten, dass die Erziehung der Kinder meist konservativ und behütet erfolgt, und sich dabei fast immer enge und liebevolle Beziehungen zu beiden Elternteilen entwickeln. Sicherlich beeinflusst der berufliche Alltag der Eltern die frühe Selbstständigkeit der Schaustellerkinder, die bereits schon als Heranwachsende, gemäß den Wünschen der Eltern, eine wichtige Position in der Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft der Familie erfüllen. Es besteht auch nach Eintritt der Volljährigkeit oder Heirat eine starke Familienbindung und beständiger Kontakt. Der Schaustellerbetrieb wird traditionsgemäß häufig durch Einbeziehung der Kinder vergrößert und/oder an Sohn oder Tochter weitergegeben. Anderenfalls wird von den Eltern versucht, eine Starthilfe in die Selbstständigkeit der Heranwachsenden zu geben. Die Schaustellerseelsorge liegt in den Händen der 1954 gegründeten „Katholischen Circus- und Schaustellerseelsorge“ und der seit 1967 bestehenden „Evangelischen Seelsorge auf Reise“. Vertreter beider Kirchen besuchen regelmäßig die Volksfestplätze. In Sonntagsgottesdiensten, die nicht selten auf einer Autoskooterfahrbahn oder in einem Festzelt stattfinden, werden manchmal auch die Sakramente der Taufe, Kommunion oder Konfirmation vollzogen.
Bildung und Ausbildung Bis Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts war bei Schaustellern ein regelmäßiger Schulbesuch noch recht ungewöhnlich. Damals gingen viele Kinder „auf der Reise in die Schule“. Dies ist eine Bezeichnung für den Schulbesuch am jeweiligen Veranstaltungsort der Eltern während der Saison. Es war nicht selten, dass das Schaustellerkind in der neuen Schule bewundernd begrüßt wurde, etwas über die Kirmes erzählte und zur Auflockerung des Unterrichts beitrug. Montags war in vielen Orten schulfrei, und am Ende 215
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der Veranstaltung meist dienstags meldete sich das Schaustellerkind vom Unterricht wieder ab. Hier zeigte sich die klassische Problemsituation der Schaustellerkinder. Viele Kinder verließen oft ohne Schulabschluss die Schule, nicht selten waren sie bereits im elterlichen Betrieb als Arbeitskraft eingeplant. In vielen Familien glaubte man damals, dass Lesen, Rechnen und Schreiben für den Beruf des Schaustellers ausreiche. Eine durchaus gängige Praxis konnte im übrigen auch beobachtet werden, bei der Schaustellerkinder von sich aus schlechte Noten anstrebten, um einen weiteren Schulbesuch unmöglich oder überflüssig zu machen, sodass letztendlich die Schule verlassen werden musste. Es gab und gibt allerdings auch Ausnahmen, dass nämlich die Ernsthaftigkeit und die Koordination vom Schulbesuch auf Reisen zum Schulabschluss führten und angestrebt wurden. Einige Eltern entschieden sich schon in den 1960er Jahren für eine Internatsunterbringung ihrer Kinder. Im Reisegebiet der Autorin, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, waren die ersten christlichen Internate, in denen Schaustellerkinder zur Schule gingen, die Ursulinen in Köln und Bonn/Hersel. Dazu kamen Jungeninternate in Siegburg, Mayen oder Rengsdorf. Daneben wurden in den 1980er zwei spezielle Schaustellerinternate in Feuchtwangen und in Herford gegründet. Das Internat in Herford besteht nach wie vor. Für das monatlich recht hohe Internatsschulgeld gibt es in einigen Bundesländern für die dort beheimateten Eltern staatliche Zuschüsse. Zum einen ist auch bei Schaustellern Bildung und Ausbildung eine Frage des Geldes. Wer nicht die finanziellen Möglichkeiten hat, kann seine Kinder nicht ins Internat schicken. Zum anderen ist es nicht unbedeutend, dass ein Internatsaufenthalt eine Trennung des Kindes von der Familie mit sich bringt. Diesen Trennungsschmerz wollen die Eltern vielfach nicht auf sich nehmen. Manchmal bleiben die Kinder bei den schon zu Hause lebenden Großeltern oder alternativ fahren einige Schausteller ihre Kinder täglich zu ihrer Heimatschule. Dies ist jedoch meist nur möglich, wenn es sich um Schausteller handelt, die nur rund 50 km plus/minus von ihren Heimatort Kirmesveranstaltungen beschicken. Anzumerken wäre, dass von den Kindern, die ein Internat besucht haben, die Mehrzahl die Schule vorzeitig abbrachen, andere den Schulabschluss mit der Mittleren Reife oder dem Abitur erreichten, dennoch später fast alle wieder zu Hause arbeiteten.
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Obwohl die schulische Ausbildung inzwischen einen hohen Stellenwert im Schaustellergewerbe erreicht hat, ist es heute noch gängig auf der Reise zur Schule zu gehen. Von der Kultusminister Konferenz (KMK) wurde vor einigen Jahren ein so genanntes Schultagebuch erarbeitet, in das die Anwesenheit und Teilnahme am Unterricht der Kinder in der jeweiligen Stützpunktschule bescheinigt wird. Die Einträge werden in der Stammschule der Wintermonate auf die Schulpflicht angerechnet und tragen zur Beurteilung und Versetzung bei. Seit 1998 stellt die Bezirksregierung kostenlos so genannte Bereichslehrer für Schaustellerkinder zur Verfügung. Sie besuchen die Kinder auf den bestimmten Volksfestplätzen, erteilen Förderunterricht, helfen bei Hausaufgaben und sonstigen schulinternen Formalitäten. Die Einrichtung nennt sich „Schule unterwegs“ und die pädagogischen Verantwortlichen haben die Problematik der Schaustellerkinder klar erkannt. In den Informationsunterlagen wird die Situation der Kinder in ständig wechselnden Schulen wie folgt beschrieben: „Ihre Mobilität ist die Ursache dafür, dass sie aus dem Schulsystem herausfallen, und sie verhindert gleichzeitig, dass ihre Lernsituation erkannt wird: Bevor die Lehrerinnen und Lehrer an den unterwegs besuchten Schulen den Lernstand der Kinder erkannt haben, müssen diese die Schule bereits wieder verlassen. Reisende Kinder erfahren somit Schule häufig als Ort der Ausgrenzung, des Misslingens und Versagens. Dies kann dazu führen, dass diese Kinder die Schule nicht mehr besuchen wollen. Auf der anderen Seite besitzen reisende Kinder hohe Kompetenzen. Seit frühester Kindheit übernehmen sie in den Familienunternehmen zuverlässig und verantwortlich „ihre“ Bereiche. Auftritte, Tierversorgung, Kartenverkauf, Reklame, Süßwarenverkauf, Auf- und Abbauarbeiten, Kinderbetreuung, Ton- und Lichttechnik, Wagenreparaturen und vieles mehr erledigen sie mit Liebe und Hingabe für „ihr“ Familienunternehmen. Was im Bereich der Schlüsselqualifikationen in der Regelschule manchmal mühsam eingeübt werden muss, beherrschen diese Kinder ganz selbstverständlich. Ihr „alltags- und anwendungsbezogenes“ Wissen ist wesentlich größer als das gleichaltriger Mitschülerinnen und Mitschüler in der Regelschule“ (www.Schule-unterwegs.de)
Obwohl inzwischen auch der Schaustellernachwuchs die Schule nicht selten mit Mittlerer Reife oder Abitur abschließt, ist das wirklich Wesentliche für einen Schaustellerjungen nach wie vor: Zugmaschine zu fahren, an der Kasse zu sitzen, eben seinen Mann zu stehen und auch manchmal schon Chef zu sein. Sorgen um Ausbildungsplätze kennen junge SchaustellerInnen nicht, weil sie fast ausschließlich im elterlichen Betrieb ihre berufliche Zukunft beginnen. 217
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Wo hnsituat ion Leider sind in der Literatur genaue Angaben über die Entwicklung der Wohnverhältnisse der Schausteller vom 19. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart recht dürftig. Auf alten Stichen, Zeichnungen und Gemälden sind manchmal Planwagen oder selbstgebaute, einfache Fuhrwerke zu erkennen. Es ist anzunehmen, dass seit Einführung der Wandergewerbeordnung mit der Möglichkeit zur Ausweitung des Reisegebietes auch die Ausstattung der Wohnwagen intensiver wurde. Etwa zeitgleich mit der Gründung von Karussellbaufirmen in Thüringen und Sachsen begann auch der Wohnwagenbau. Ab 1883 erschienen in der Fachzeitschrift Komet Inserate von Wohnwagenherstellern. Darunter auch die Firmen Schuhmann aus Werdau/ Sachsen, von der im Markt- und Schaustellermuseum Essen ein Wohnwagen erhalten ist sowie Heinrich Mack, die im Jahre 1780 in Waldkirch/Breisgau als Stellmacherei gegründet worden war und andere. Später folgten die Firmen Eberhard Stork aus Soest, nach dem Zweiten Weltkrieg Willi Dietz aus Schwalmstadt und viele andere. Die mit Pitchpine Holz verschalten Wagen waren anfangs noch klein, aber dennoch mit Kochnische, Wohn- und Schlafzimmer eingerichtet. Der Sanitärbereich beschränkte sich auf Waschschüssel und Toiletteneimer, ähnlich dem des einfachen Volkes im traditionellen Wohnungsbau dieser Zeit.
Abbildung 1: Mack-Wohnwagen um 1920, Baese, Archiv: Margit Ramus Die äußere Form des Wohnwagens war angelehnt an einen Eisenbahnpersonenwagen. Dem Tonnendach war eine Oberlichtleiste aufgesetzt. An den Längsseiten des Wagens waren beidseitig, die Achsen der einzelnen Räume aufgreifend, Fenster eingesetzt, die mit
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ausstellbaren Fensterläden geschmückt waren. Die Wohnwagentür befand sich an der Kopfseite über der Deichsel. Zwischen den Achsen waren so genannte Kellerkästen für Vorräte oder andere Utensilien unterzubringen untergebaut. Mit der Zeit wurde ein kleiner Verandavorbau an die Kopfseite angebracht. Bereits nach der Jahrhundertwende ließen sich die etwas wohlhabenden Schausteller einen gesamten Wohnwagenzug bauen. Auch dieser Begriff erinnert an die Eisenbahn, deren Entwicklung der Personenwagenausstattung parallel ablief. Der Wohnwagenzug bestand aus einem Wohnwagen mit Wohn- und Schlafzimmer und einem Küchenwagen, der mit Küche und einem dahinterliegenden Kinderzimmer ausgestattet war. Verbunden waren beide Wagen durch eine geschlossene Veranda.
Abbildung 2: Mack-Wohnwagenzug um 1925 Mack, Baese, Foto: Margit Ramus Diese Wohnform wurde noch bis in die 1960er Jahre beibehalten. Daneben entwickelten sich die neueren Wagen. Die Holzverkleidung wich einer Außenverkleidung aus Leichtmetall. Die Fahrgestelle entsprachen dem jeweils aktuellen Fahrzeug- bzw. Anhängerbau. Verbesserungen im traditionellen Wohnungsbau z. B. im sanitären Bereich fanden auch bei Schaustellerwohnwagen ihren Einzug. Eine weitere Innovation konnte seit den 1960er Jahren beobachtet werden: Ein oder zwei Erker wurden aus den Seitenwänden des Wohnwagens ausgefahren.
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Abbildung 3: Lehmann Stork-Wohnwagen innen BJ. 1968, Schoeneseifen, 2006, Foto: Margit Ramus Inzwischen werden beide Längs- und Kopfseiten fast komplett ausgezogen, sodass die heutigen Wohnwagen einem Einfamilienhaus im Komfort, Technik und Kaufpreis nahe kommen. In den 1980er Jahren wechselte man von der Runddachform zur Containerkastenbauform.
Abbildung 4: Mack-Wohnwagen, Lehmann, 1998, Foto: Margit Ramus
Abbildung 5: Mack-Wohnwagen Grundriss, 1990er, Archiv: Margit Ramus (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Mack)
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Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre interessierten sich die Schausteller für den inzwischen als mobile Ferienwohnung bekannt gewordenen Campingwagen. Zunächst kaufte man kleine Wagen als externe Zimmer für die heranwachsenden Kinder. Bald nutzten einige Schausteller den Campingwagen als Ersatz für einen Wohnwagen herkömmlicher Bauart. In den 1970er Jahren wurden die Holzwohnwagen fast völlig ersetzt. Viele Schausteller besitzen eigenen Grund und Boden, eine Halle zur Unterbringung des Geschäftes sowie ein Wohnhaus. Daher verkauften einige auch ihre großen arbeitsaufwändigen Wohnwagen und wechselten zum Campingwagen oder fahren abends sogar teilweise nach Hause. Dies ist jedoch abhängig von der Reisegewohnheit des Schaustellers. Schausteller, die Großveranstaltungen der gesamten Bundesrepublik bereisen und es sich wirtschaftlich leisten können, halten meist auch heute noch an ihren geräumigen und komfortablen Wohnwagen fest, da sie im Frühjahr ihr Haus verlassen und erst im Herbst dahin zurückkehren. Inzwischen bieten amerikanische Firmen auch eine Kombination von Wohn- und Campingwagen als amerikanischen Aufliegerwagen, kurz „Ami“ genannt, an. Wie schon angesprochen, haben sich durch Unkenntnis der Lebensweise und dem Wohnkomfort der Schausteller noch immer gewisse Vorurteile von Seiten der Bevölkerung behalten. Ohne Zweifel hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur bei den deutschen Schaustellergeschäften eine revolutionäre Entwicklung vollzogen, sondern auch in der mobilen Wohnsituation der Schausteller. Parallel zum traditionellen Wohnungsbau sind längst dem Zeitgeschmack angepasst die moderne Einbauküche, das elegante Bad, Zentralheizung, Klimaanlage und sonstige technische Errungenschaften keine Seltenheit mehr. Abschließen soll der kleine Einblick in die Welt der Schausteller mit einem Auszug einer Rede Jürgen Werners, Hauptgeschäftsführer des deutschen Fremdenverkehrsverbandes e.V. Bonn, anlässlich des 38. Delegiertentag 1987 in Herford: „Die Schaustellerfamilien bestehen aus Menschen, die nicht nur alles zu können scheinen, sondern tatsächlich auch alles können, als hätten sie ein Dutzend Berufe mindestens bis zur Meisterprüfung erlernt: Schausteller sind Handwerker, Ausbilder, Erzieher, Buchhalter, Kaufleute, Spediteure, Verhandlungs- und Verwandlungskünstler, Dekorateure, [...] sie sind Köche und Versorgungsmeister, Beherbergungsgeber und Reiseexperten, Familienoberhäupter, Arbeitgeber, Seelsorger und was man sonst so alles noch sein kann. Ein-
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Kultur des Vergnügens fach bewundernswert. Sie, die Schausteller, bringen Unmengen von ‚gewusst wie’ mit in eine Stadt, vor allem drei Wesensmerkmale: Flexibilität, Mobilität und Improvisationskunst.“ 1
Quellen Arnold, Hermann (1980): Fahrendes Volk. Neustadt an der Weinstraße: Pfälzische Verlagsanstalt. Dering, Florian (1986): Volksbelustigungen. Nördlingen: Franz Greno. Hampe, Theodor (1902): Fahrende Leute in der deutschen Vergangenheit. Monographien zur deutschen Kulturgeschichte. X. Band: Fahrende Leute. Leipzig: Eugen Diederichs. Heinsius, Theodor (1822): Volkstümliches Wörterbuch der deutschen Sprache mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung für die geschäfts- und Lesewelt. Bd. 4, Abt. 1. Hannover. Komet (1983): Volkfeste und Märkte, Jubiläumsbuch anlässlich 100 Jahre Komet. Pirmasens: Komet. Schule unterwegs: www.Schule-unterwegs.de Schwäke, Heinrich (1983): Lang war der Weg. Geschichte und Gründung des DSB. Berlin. Stadtmuseum Münster (1986): 1200 Jahre Münster-Send. Münster: Aschendorff. Werner, Jürgen (1990): Festschrift zum 38. Delegiertentag des Deutschen Schaustellerbundes e.V. Berlin. 22.01.1987 Herford. In: Jahrbuch Schausteller 2000, Waiblingen: Druckhaus Waiblingen, 151 f.
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Mack-Wohnwagen um 1920, Baese, Archiv: Margit Ramus Abbildung 2: Mack-Wohnwagenzug um 1925 Mack, Baese, Foto: Margit Ramus Abbildung 3: Lehmann Stork-Wohnwagen innen BJ. 1968, Schoeneseifen, 2006, Foto: Margit Ramus Abbildung 4: Mack-Wohnwagen, Lehmann, 1998, Foto: Margit Ramus
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Werner, Jürgen: Festschrift zum 38. Delegiertentag des Deutschen Schaustellerbundes e.V Berlin. 22.01.1987 Herford. In: Jahrbuch Schausteller 2000, Waiblingen 1990, S. 151 f. 222
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Abbildung 5: Mack-Wohnwagen Grundriss, 1990er, Archiv: Margit Ramus (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Mack.
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In den Köpfen – die Innenwelt de s Vergnügens
Der Them enpark. Vergnügliche Illusion swelt jenseit s de s Allt ags CLAUDIA SCHIRRMEISTER
Themenparks gehören zu den alltagsfremden Welten, die dem Individuum einen vergnüglichen Aufenthalt außerhalb seines Daseins in der Alltagswelt erlauben. Alltagsfremde Welten sind soziale Wirklichkeiten, welche eigene, vom Alltag – unserer objektiven gemeinsam geteilten Welt – separierte Sinnzusammenhänge, Bedeutungen, Regeln und Relevanzsysteme ausbilden. Anders als die nur in Einsamkeit kognitiv durchlebten Phantasiewelten und Träume oder die lediglich passiv zu rezipierenden fiktiven Welten des Films, des Theaterstücks oder des Romans besitzen alltagsfremde Wirklichkeiten ein Maß an Sozialität, das dem Menschen ein Handeln und Kommunizieren – ein, um mit Alfred Schütz (vgl. 1971: 260 ff) zu sprechen, „Wirken“ – in diesen Welten ermöglicht. Die alltagsfremde Wirklichkeit gestattet dabei nicht bloß den aktiven Eingriff, sie fordert und benötigt geradezu das Wirken ihrer Besucher, um am „Leben“ zu bleiben und den Charakter als alltagsfremde Wirklichkeit aufrechterhalten zu können. Im gemeinsamen intersubjektiven Handeln der Individuen zeigt sie sich als soziale Wirklichkeit. Wirklichkeit, und dies gilt insbesondere auch für alltagsfremde Welten, ist nicht einfach „da“, sie muss von den Individuen erst hergestellt werden. Dem phänomenologischen Postulat zufolge, das wir unseren Ausführungen zugrunde legen, entsteht Wirklichkeit im Erleben und in der Wahrnehmung; soziale Wirklichkeit benötigt überdies gemeinsames Handeln mit anderen Personen. Dass die in materieller und immaterieller Hinsicht stimmige Beschaffenheit der Welt wesentlich zu ihrer Akzeptanz und Verinnerlichung beiträgt, steht dabei außer Frage – den Wirklichkeitssprung aus dem Alltag in die andere Welt hat der einzelne allerdings selbst kognitiv zu vollziehen.
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Kultur des Vergnügens
Unter den alltagsfremden Welten differenzieren wir in quasi wirklichkeits-semantischer Weise zwischen den „ernsten“ und den „nicht-ernsten“ Welten. Ernste alltagsfremde Welten konstituieren etwa das Gefängnis, das Gericht oder das Krankenhaus. Sie besitzen oftmals einen institutionellen Charakter, der sie stützt und legitimiert. Ihre Handlungsergebnisse sind auch in der Alltagswelt von Bedeutung, sie sollen geradezu in den Alltag hineinwirken. Obgleich die Handlungen in den ernsten alltagsfremden Welten intern eigenen Sinnstrukturen und Regeln gehorchen und sich darin deutlich von den in der Alltagswelt herrschenden abheben, sind sie doch prinzipiell folgenreich für den Alltag. Der Aufenthalt im Gefängnis ist auch nach seiner Beendigung tatsächlich biografisch relevant; der entlassene Sträfling mag in der Alltagswelt Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu bekommen etc. – die Gefängniswelt ist keine Spielwelt, die nach dem Verlassen völlig belanglos erscheint, auch wenn beide – Gefängniswelt und Spielwelt – von der Alltagswelt losgelöst sind. Gleichzeitig braucht die Alltagswelt den alltagsfremden ernsten Ort „Gefängnis“ zu ihrem Selbsterhalt, für ihr eigenes reibungsloses Funktionieren gewissermaßen. Personen, welche die in der Alltagswelt geltenden Rechtsnormen verletzen und missachten, womit sie diese Wirklichkeit bedrohen, zumindest jedoch stören, werden durch die alltagsfremde Unterbringung aus der Alltagswelt sozial wie räumlich entfernt. Die nicht-ernsten alltagsfremden Welten prägen diese Relevanz für den Alltag nicht aus. Hier sind Auswirkungen in die Wirklichkeit des Alltags keineswegs beabsichtigt oder gewünscht, im Gegenteil: Sie werden buchstäblich als Un-Fälle betrachtet, etwas, das eigentlich gar nicht geschehen kann bzw. darf, wofür der während des Wartens auf eine Achterbahnfahrt erlittene Kreislaufkollaps im Vergnügungspark ein Beispiel darstellt. Das kranke Individuum trägt dann über seinen auch alltagsuntauglich gewordenen Körper das in der alltagsfremden nicht-ernsten Wirklichkeit Geschehene in den Alltag hinein, ist hier womöglich einige Tage lang arbeitsunfähig. Das Individuum weiß jedoch aufgrund seines während der Sozialisation erworbenen Wissens um die Qualitäten der diversen erlebbaren Welten. Es verwundert es nicht, wenn der von ihm im Traum erschlagene Mensch am nächsten Tag gesund und munter an seiner Haustür klingelt. Dieses Weltwissen ist die Voraussetzung für das Annehmen und damit die Existenz aller Vergnügungswelten. Der Besucher dieser Welt weiß um den spezifischen nicht-ernsten Wirklichkeitscharakter, er weiß um die prinzipielle Wirkungslosigkeit dieser Wirklichkeit außerhalb ihrer Grenzen, die beim Vergnü228
Der Themenpark
gungspark zusätzlich materiell – Zäune, Eingangsbereich, Eintrittshäuschen – markiert sind. Der Mensch ist illusionskompetent. Das in diesem Sinne noch unerfahrene kleine Kind muss allerdings zuweilen schon beruhigt und in dieses Wirklichkeitswissen eingeführt werden: „Hier kann dir gar nicht passieren, das Monster tut dir nichts“. Indem sich aber der Besucher in der alltagsfremden nicht-ernsten Welt bewegt und sich nach den dort geltenden Regeln verhält, nimmt er diese Wirklichkeit als gegeben, eben als wirklich hin. Die alltagsweltlichen Bedeutungen und Relevanzen verschwinden aus dem Bewusstsein; das Wissen um die Alltagswelt und auch das Wissen um den Nicht-Ernst dieser Welt werden ausgeschaltet, indem die Welt ohne Zweifel in ihrem So-Sein, so, wie sie sich eben darstellt, hingenommen wird. Die Illusionswelt erhält durch Kognition und Handeln Wirklichkeitsstatus. Allerdings: „Sobald sich mein Alltagswissen ‚meldet’, ich über die zweifellos hingenommene Wirklichkeit zu reflektieren beginne, befinde ich mich kognitiv nicht länger in der alltagsfremden Illusionswelt“ (Schirrmeister 2002: 118). Die alltagsfremde nicht-ernste Welt – vor allem aber die kommerzialisierten, auf wirtschaftlichen Erfolg ihrer Betreiber ausgerichteten Vergnügungswelten – setzt alles daran, solcherart Störungen so gut es geht, zu verhindern. Deutlich hat dieses Bestreben Walt Disney (zit. n. Goronzy 2006: 56) formuliert: „I don’t want the public to see the world they live in while they’re in the Park. I want them to fell [sic!] they’re in another world“. Nicht-ernste alltagsfremde Welten sind ebenfalls als materialisierte, intersubjektiv erfahrbare Phantasie-, Spaß- oder Spielwelten zu bezeichnen. Drei Beispiele seien genannt: Séparéebar, Ferienclub und eben der Vergnügungspark. Mit Kagelmann (vgl. 2004: 160) setzen wir die Begriffe „Freizeitpark“ und „Vergnügungspark“ synonym; um den wesentlichen Zweck der Einrichtung zu betonen, entscheiden wir uns für die Verwendung von „Vergnügungspark“. Vergnügungsparks lassen sich unter den Foucaultschen Begriff der „Heterotopie“ fassen, sie sind als solche „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, [...] gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (Foucault 1991: 68). Vergnügungsparks können differenziert werden nach Themenparks – hier unterliegt der Park oder Bereiche des Parks einem oder mehre-
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ren thematischen Mottos – und diese wiederum nach „Brand Parks“, in denen ein Firmen-/Markenname und das jeweilige Produkt die Thematik des Parks beherrschen, das „Ravensburger Spieleland“ in der Nähe des Bodensees ist ein Beispiel. Vergnügungsparks sind großflächig angelegte, von ihrer örtlichen Umgebung auch materiell abgegrenzte, zumeist kommerzialisierte Räume bzw. Orte, denen die Unterhaltung, das Vergnügen der Besucher als Daseinslegitimation gilt. Die meisten Vergnügungsparks verzeichnen wirtschaftliche Erfolge mit einer hohen Besucheranzahl, die sich zu 70 % aus Familien rekrutiert; die Verweildauer im Park beträgt durchschnittlich fünf bis zehn Stunden, wie Freizeitforscher Opaschowski (vgl. Goronzy 2006: 28) ermittelt hat – viel Zeit, um in die alltagsfremde Wirklichkeit ein- und abzutauchen. Vergnügungsparks stellen damit sozial legitimierte Welten dar, was nicht für alle nicht-ernsten Welten gilt, man denke etwa an die sexuellen Vergnügungswelten. Akzeptiert man den Wunsch nach Vergnügen als ein fundamentales menschliches Bedürfnis und damit als typische Eigenheit des Menschen, verwundert es nicht, dass seit Menschengedenken Vergnügungswelten existieren. Der Ausbruch aus der herrschenden Ordnung der Alltagswelt mittels Spielen, Witzen oder Feiern wird in unterschiedlicher inhaltlicher Ausprägung jede Gesellschaft gekannt haben und kennen. Im westlichen Kulturkreis besitzen Vergnügungsparks eine lange Tradition. Entstanden aus den Kirchweihfesten vor dem kulturellen Hintergrund der christlichen Gesellschaft, den Kirmessen hin zu stationären Räumen, wie dem 1776 eröffneten Wiener Prater, und schließlich zum Nachbau bereits thematisch orientierter exotischer Palmengärten, deren Errichtung durch den Einsatz von Glas- und Stahlkonstruktionen in riesigen räumlichen Dimensionen möglich wurde. Der Londoner Crystal Palace aus dem Jahr 1851 zeigte sich bereits als recht moderner Vergnügungspark, indem er Bauwerke aus verschiedenen Jahrhunderten und geografischen Zonen, Fahrgeschäfte, Sportangebote, Palmengärten, Restaurants und eine Tierausstellung an einem Ort vereinte. Der Crystal Palace vereinigte damit zwei Stränge, aus denen sich der Vergnügungspark historisch entwickelt hat: die Kirmes mit ihren Aufregung und Angstlust erzeugenden Fahrgeschäften und dem Gefallen an der Betrachtung des Fremden und Exotischen, das auch als Nachbildung Gefallen fand und findet. Schon im Rokoko bereiteten Imitationen von chinesischen Gärten und Teehäusern, antiken Stilelementen sowie Nachgestaltungen der Natur in Form von kleinen Wasserfällen, Grotten und fremdländischer Bepflan230
Der Themenpark
zung den Privilegierten in zumeist privaten „Lustgärten“ Entzücken und Staunen. Im engen Zusammenhang mit dem Drang nach Exotischem stehen die Völkerschauen, wobei auch auf Jahrmärkten oder Kirmessen einzelne „Wilde“ den Besuchern vorgeführt wurden – die weibliche Wilde häufig in schwüler Erotik inszeniert, der männliche Wilde als gefährlich krude Gestalt, dem Wirklichkeitscharakter der Vergnügungswelt entsprechend natürlich angekettet oder im Käfig zum gefälligen Nervenkitzel präsentiert. Die Darstellung der Fiktion des aufregenden Fremden und Unbekannten erledigen heute „Aliens“, Halbtote oder andere Monsterkreaturen. Im Zuge der Elaborierung der Vergnügungsparks entstanden nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Themenparks. Wie erwähnt, definieren wir den Themenpark als eine Variante des Vergnügungsparks, dessen inhaltlich-semantische Weltgestaltung einem oder mehreren Themen unterliegt. Die Illusion, man befinde sich in einer Welt des Wilden Westens, in einer Unterwasserwelt, in einem Hollywoodfilm usf. wird materialisiert und darüber als tatsächlich aktiv erfahrbare Wirklichkeit vermittelt. Als elementare Voraussetzung für den Wirklichkeitstransfer aus der Alltagswelt bzw. für den Wirklichkeitssprung in die Illusionswelt dient eine detaillierte Planung der Welt; Themenparks sind vom Reißbrett in Akribie entworfene Orte. Die Disney-Parks mit ihren von sogenannten „Imagineers“ konstruierten Illusionsräumen gelten hier als Paradebeispiele „wirklich“ gewordener Phantasien und Fiktionen. Phantasiewelten, sonst nur im Kino, Theater oder allein im „eigenen Kopf“ zu erleben, werden in eine gemeinsam mit anderen zu erlebende soziale Wirklichkeit transformiert, die auch materiell erfahren und tatsächlich „begangen“ werden kann. Hier scheint ein Wirken des Besuchers möglich. Er handelt schließlich in dieser Welt, kann hier Dinge verändern, was ihm etwa während des Traums nicht gelingt. Die im Traum ausgeführten Handlungen verursachen keine Folgen, der im Traum Erschlagene – bleiben wir bei obigem Beispiel – weist am nächsten Tag nicht einmal ein „blaues Auge“ auf. Aktives Handeln, „Wirken“ ist also in der geschlossenen Sinnwelt des Traums nicht möglich. In alltagsfremden Welten, die letztlich in hellwachem Zustand mit anderen Personen gemeinsam erlebt werden, verhält es sich so, dass der Besucher zwar Spuren hinterlässt – er produziert Müll, er isst, er besteigt ein Karussell, er kommuniziert – jedoch bleiben diese Ereignisse und die durch sie kurzzeitig erzeugten Spuren nach dem Verlassen dieser Welt bedeutungslos und ohne Konsequenzen. Das Wirken des Besuchers ist damit nur im Vergnügungspark relevant, und auch hier verbleiben vom Besucher als 231
Kultur des Vergnügens
individueller Person keine Spuren. Schon beim nächsten Besuch wird sich keine von ihm erzeugte Markierung finden lassen. Die Welt ist in ihrer semantischen Stimmigkeit und Präsentation nicht auf sozusagen fremde Eingriffe eingerichtet, Defekte werden umgehend repariert und wiederhergestellt, womit die Außenwelt in ihrer Erscheinung immer gleich bleibt, eben jedem Besucher das gleiche Bild bieten kann. Im Themenpark entsteht eine Welt der vielfältigen, jedoch eindeutig definierten Erlebnisangebote, welche im Unterschied zu den Attraktionen auf dem Kirmesplatz nicht separat nebeneinander angeordnet, sondern in ein homogenes infrastrukturelles und thematisches Netz eingewoben sind und einer spezifischen Sinnstruktur unterliegen. „Story-telling“ heißt hier das fachliche Schlagwort; da die inszenierte Welt über keine eigene Historie verfügt, werden Geschichten erfunden, simuliert, und an diesen Geschichten hat der Besucher Anteil. Er wird wie selbstverständlich zu einem Teil dieser Welt, und diese Integration erzeugt eine besonders enge Identifikation mit der Welt und damit eine gelungene Annahme der Wirklichkeit. Die in dieser Welt vergebenen Namen und Bezeichnungen haben Imagineers für ein stimmiges Wirklichkeitserleben ebenfalls an die spezifische Weltthematik angepasst: Im Bibel-Park „Holy Land Experience“ in Florida darf sich der Besucher einen „Goliathburger“ schmecken lassen (vgl. Kagelmann/Friederichs-Schmidt/Sauer 2004: 209). Anders als die historisch gewachsene Alltagswelt, in der wir leben, ist die Welt des Themenparks also eine bewusste, mit Bedacht kalkulierte Inszenierung, in der Phantasien und Fiktionen materiell erfahren werden, ebenso wie Fremdes, das im Alltag nicht, nicht mehr oder nur unter besonderen Vorkehrungen nah zugänglich wird. Über die Zahlung eines Eintrittspreises, der nach dem Motto „pay-one-price“ die Nutzung aller Angebote im Park einschließt – schließlich würde die typisch alltagsweltliche Geldzahlung gehäuft nur zu sehr illusions(zer)störend wirken –, gelangt der Besucher in den alltagsfremden Ort, eine eigene Sinnwelt. Das illusionsgeneigte Individuum ist nun gleichsam entlastet von dem Befolgen der Regelwerke und der Verhaltenskodices des Alltags, hier ist es der Western-Cowboy, der sich in speziell gefertigter Kulisse auch als solcher fotografieren lassen kann und mit dem Foto immerhin einen Beweis seiner Existenz im Wilden Westen mit in die Alltagswelt bringt, denn die Erlebnisse in der Vergnügungswelt verlieren im Alltag, wie ausgeführt, ihren Sinn. Das Cowboy-Foto avanciert zum Souvenir aus 232
Der Themenpark
der anderen Welt, ist aber – natürlich – nicht einmal als Passfoto verwendbar. Die Freiheit von den Sinnstrukturen der Alltagswelt ist allerdings eine scheinbare und trägt ebenfalls einen illusionären Charakter: Vergnügungswelten, und dies gilt auch für den Themenpark, sind von strenger Intoleranz geprägt. Werden die rigiden Handlungs- und Bedeutungsmuster nicht befolgt oder angenommen, weisen Wirklichkeitswächter den abweichenden Gast wieder auf den – zuweilen buchstäblich – richtigen Pfad zurück. Das Verlassen vorgezeichneter Wege, der versuchte Blick hinter die „fake architecture“ einer Pagode oder aggressives pöbelndes Verhalten werden nicht geduldet. Sicherheitspersonal und Animateure stehen gleichermaßen korrigierend wie helfend zur Seite. Alltagsweltliche Einbrüche und Missachtungen der Gesetze im Park führen rasch zum (kognitiven) Einsturz der – wenn auch von einem festigenden kommunikativen und physischen Rahmen umgebenden – an sich fragilen Wirklichkeit. Nur wenn diese für den Besucher erhalten bleibt, kommt er womöglich wieder und das eigentlich kommerzielle Konzept wirft Gewinn ab. Der idealtypische Besucher bemerkt die sozialen Lenkungen der Wirklichkeitsarbeiter und die materiellen Verhaltensvorgaben durch die bauliche Konstruktion des Raumes nicht, er feiert allein den Ausbruch aus den alltagsweltlichen Relevanzen und Restriktionen, wähnt sich sogar in seinen Handlungen angesichts nicht offen-sichtlicher Sanktionen als autonomes Subjekt. Die vergnüglichen Erlebnisse können immer wieder wiederholt werden – ein permanenter emotionaler Genuss, den der Alltag nicht liefern, geschweige denn garantieren kann. Den Themenpark als Illusionswelt zu klassifizieren, belegt sich in zweierlei Hinsicht, im materiellen und sozialen Sinne. Die im Park vorgefundene Architektur, Versatzstücke aus der fiktiven und der realen Welt, zusammengefügt mit thematisch bzw. sinngemäß angepassten Einrichtungen wie Restaurants oder Fahrgeschäften, bedient Klischees, womit sie einen hohen Wiedererkennungswert besitzt. Szabo (vgl. 2006: 40) spricht von „Zitaten“ – „Ja, das ist ja der Markusplatz!“ Man erlebt Fremdes, das allerdings nicht völlig fremd ist, sondern zugeordnet werden kann, selbst wenn der Besucher zuvor nur den klangvollen Namen kannte und ein Postkartenfoto des Dargestellten vor dem inneren Auge sah. Bei der perfekten baulichen Simulation zeigt sich der Platz von Schmutz und Unrat gereinigt; die Angst vor Taschendieben ist in der künstlichen Welt re-
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lativ unbegründet. Der Gast im Themenpark erlebt eine bereinigte Welt. Wirklichkeit wird assoziiert mit dem Originalen, dem Echten und dem Tatsächlichen; da Wirklichkeiten aber stets soziale Konstruktionen darstellen, lassen wir den zuweilen geäußerten Anspruch auf Wahrheit gänzlich beiseite. Auch der Nachbau der Western-Stadt besitzt diesen tatsächlichen Charakter, schließlich ist sie vom Besucher gemeinsam mit vielen anderen begehbar und erfahrbar. Das Individuum vermag sich die alltagsfremde Illusionswelt ähnlich wie die Wirklichkeit seiner Alltagswelt handelnd anzueignen. Jedoch ist die Western-Stadt die Simulation der Vorstellung einer WesternStadt, wie sie im perfekten Sinne zu erscheinen hat, und unter diesen ästhetischen Aspekten ohne jeglichen Anspruch auf Authentizität ist sie gebaut worden. Überhaupt kennzeichnet die simulierten Architekturen eine Hyperrealität: Die Simulation wird realer als das Reale, indem typische Merkmale des Originals gewissermaßen potenziert und perfektioniert werden. Es entsteht eine Scheinwelt, die den Erwartungen in idealtypischer Form nicht nur entspricht, sondern die Erwartungen zudem übertrifft. Die Errichtung einer solchen „truer-than-life replica“ (Kagelmann 2004: 178) erfordert detaillierte Vorbereitungen und ein enormes technisches Vermögen der Weltkonstrukteure. Sandra Scherreiks (vgl. 2005) schildert in diesem Sinne die Perfektionen von künstlichen Unterwasser- und Winterwelten. Die Allrounder Winter World versetzt die Skikultur des Salzburger Landes ganzjährig nach Neuss mit künstlichem Pulverschnee, alpinen Skihütten und Mitarbeitern aus dem Salzburger Land, die auch als „lebende Originale“ (Scherreiks 2005: 178) zur Stimmigkeit der dargestellten Welt beitragen. Die Inszenierung der Welt impliziert soziale Simulationen, ebenfalls mit Illusionscharakter. Nahezu jede Vergnügungswelt beherbergt ein Moment des Aufregenden, des Nervenkitzels. Im Themenpark wird die Illusion des Abenteuererlebens erzeugt, die Fahrgeschäfte versprechen „thrill“, und überhaupt kann jederzeit Aufregendes und Überraschendes erlebt werden. Der Vergleich zur materiellen Simulation der Architektur drängt sich auf: Gefährliche Situationen, gefährliche Gestalten oder Tiere stellen zwar im spezifischen Sinnkontext der Wirklichkeit „Gefahr“ dar, entbehren jedoch tatsächlich jeglicher echter Gefahr. Die erlebte Gefährlichkeit ist gleichzeitig Illusion und Simulation, denn in der Tat ist die Welt des Themenparks eine sehr sichere, weil überwachte Welt. Unfälle sind, wie erwähnt, als nicht vorgesehene Störungen zu betrachten, und es werden kei234
Der Themenpark
ne Mühen gescheut, dem thrill und dem Abenteuer alle Gefährlichkeit zu nehmen. Ein Paradox: Im Themenpark geht das Risiko, tatsächlichen Gefahren ausgesetzt zu sein, sozusagen gegen Null. Das Krokodil im Themenpark stellt damit (lediglich) ein auf Gefahr verweisendes Symbol dar: „the fake alligator that thrills but never threatens“, wie Schickel (1968: 330) das audioanimatronische Krokodil aus Plastik mit einem ausgefeilten technischen Innenleben im Disneypark treffend beschreibt. Und der Besucher weiß um diesen spezifischen Bedeutungsrahmen, der die Vergnügungswelt umgibt, er empfindet Schauder, er erschrickt – aber nicht zu Tode. Denn, wie gesehen, bildet gerade das Wissen um die Illusion die Voraussetzung zu ihrer Annahme: Das, was mich im Vergnügungspark erwartet, ist nicht tatsächlich so, wie es mir dargestellt wird und wie ich es in meinem kognitiven Eintauchen in diese Wirklichkeit selbst erleben werde. Die Vergnügungswelt liefert Erlebnisse unter der Käseglocke, als Symbole, die auf Echtes verweisen – Echtes, das der in relativer physischer Sicherheit lebende Mensch nicht erleben kann, und Echtes, das der psychisch Gesunde tatsächlich nicht erleben möchte.
Quellen Foucault, Michel (1991): Andere Räume. In: Wentz, Martin (Hrsg.): Stadt-Räume. Frankfurt a.M., New York: Campus, 65-72. Goronzy, Frederic (2006): Erlebniswelten. Grundlagen, Untersuchung, Auswertung. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller. Kagelmann, H. Jürgen (2004): Themenparks. In: Ders./Bachleitner, Reinhard/Rieder, Max (Hrsg.): Erlebniswelten. Zum Erlebnisboom der Postmoderne. München, Wien: Profil, 160-180. Kagelmann, H. Jürgen/Friederichs-Schmidt, Silke/Sauer, Roman (2004): Erlebnisgastronomie. In: Ders./Bachleitner, Reihard/ Rieder, Max (Hrsg.): a. a. O., 193-210. Scherreiks, Sandra (2005): Grüne Hölle oder schillerndes Paradies? Zur Geschichte und kulturellen Bedeutung von Erlebnisparks in Deutschland. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann. Schickel, Richard (1968): The Disney Version. The Life, Times, Art and Commerce of Walt Disney. New York: Simon and Schuster. Schirrmeister, Claudia (2002): Schein-Welten im Alltagsgrau. Über die soziale Konstruktion von Vergnügungswelten. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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Schütz, Alfred (1971): Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Band I. Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Martinus Nijhoff, 237-298. Szabo, Sacha-Roger (2006): Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte. Bielefeld: transcript.
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Fresskult ur und Trinkrituale BRIGITTE VEIZ Die Feste rufen einander, und durch die Dichte der Dinge und Menschen vermehrt sich das Leben. (Canetti 1981: 66)
Die fest liche Masse Die festlich gestimmte Masse von Menschen, wie sie auf Volksfesten anzutreffen ist, entspricht Elias Canettis Vorstellung von der Festmasse. Menschenmassen brauchen laut Canetti einen gemeinsamen Fokus, welcher sie motiviert und auf ein zu erreichendes nahes oder fernes Ziel hin ausrichtet. Auf Volksfesten ist das Fest selbst das Ziel der Masse und gemeinsame Freude, Genuss und Sinnlichkeit stehen im Mittelpunkt. Generell feiern alle Völker ihre Feste in einem Zustand von Überfluss mit einer Fülle an Essen und Trinken, um dem sonst herrschenden realen oder auch nur wahrgenommenen äußeren und inneren Mangel das Besondere und Außergewöhnliche des Festes entgegenzusetzen. In mageren und schwierigen Zeiten ermöglichten Feste den Zustand der Fülle an wenigen Tagen des Jahres. Das Fest soll sich von dem sonst gleichförmigen Alltag abheben. Es werden riesige Mengen von Essen und Trinken vorbereitet und alles ist im Überfluss vorhanden. Canetti schreibt: „Es ist sehr viel vorhanden auf einem beschränkten Raum, und die vielen, die sich auf diesem Areal bewegen, können alle daran teilhaben. Die Erträgnisse, welcher Kultur immer, werden in großen Haufen zur Schau gestellt. Hundert Schweine liegen in einer Reihe gebunden da. Berge von Früchten sind aufgetürmt.“ (Canetti 1981: 65)
In Zeiten der materiellen Fülle und des übermäßigen Konsums – wie gegenwärtig in der westlichen Welt – stellt sich die Frage, wie die alltägliche Konsumflut durch ein Fest noch übertroffen werden kann. Während früher das Essen und Trinken auf einem Volksfest wirklich besonders waren, weil es sonst wenig gab, geht es heutzu237
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tage nicht ausschließlich um Essen und Trinken. Der französische Soziologe Michel Maffesoli, der die Qualität des dionysischen in der Postmoderne untersuchte, schreibt, dass „the power of the basic sociality – the being together“ und die lebensbejahende „warmth of the collectivity“ (Maffesoli 1996: X) die Menschen zusammenführt in Massen, Gruppen, neuen Stämmen und miteinander feiernden Gemeinschaften. Das dionysische Element der körperlichen Sinnlichkeit und die damit einhergehende Transzendenz der alltäglichen Ratio sind für Maffesoli der menschlichen Natur „immanent“ (ebd.) und Menschen suchen vor allem in Zeiten der postmodernen Vereinzelung danach, dieses Gefühl in einer, oft temporären, Gemeinschaft zu erleben. Über den Aspekt der leiblichen Genüsse hinausgehend hat ein Volksfest deshalb immer die „Aura“ des Besonderen, denn eine große Masse, das Volk – alle Generationen – treffen sich, um miteinander zu feiern. Gemeinschaft, entspanntes Miteinander, Freude, lachen, tanzen, singen, seelische Lockerung, Sinnlichkeit und Eros sind die wichtigen dionysischen Aspekte eines Festes. Hierbei erscheinen Essen und Trinken auch als Mittel zu einem höheren Zweck, denn es geht in jeder Hinsicht um Selbstentgrenzung, heraus aus alltäglichen Beschränkungen, es geht um orale Befriedigung, Maßlosigkeit, Völlerei und Rausch, die das Fest von dem sonst Gewöhnlichen abheben. Die rauschhafte Freude und die gemeinsame Entgrenzung sind das Ziel eines Volksfestes. Besonderes Essen und rauschbefördernde Getränke sind daher unerlässlich. In der westlichen Kultur sind dies vor allem deftige, kalorienreiche Nahrungsmittel, Bier, Wein, Schnaps und Likör. Canetti schreibt über das Festessen: „In mächtigen Gefäßen ist das beliebteste Getränk zubereitet worden und wartet auf die Genießer. Es ist mehr vorhanden, als alle zusammen verzehren könnten, und um es zu verzehren strömen immer mehr Menschen hinzu. Solange etwas da ist, nehmen sie davon zu sich, es sieht aus als könnte es nie ein Ende nehmen.“ (Canetti 1981: 65)
Neben der Fülle ist die Dichte laut Canetti ein wichtiges Kriterium der Masse, welche sich in der Nähe der Menschen zueinander, aber auch in der Dichte der Dinge zeigt, die die Festmasse konsumieren will. Bei Volksfesten aller Art und besonders auf dem Oktoberfest als größtem Volksfest der Welt, das hier als Beispiel dienen soll, fällt immer wieder die überbordende Fülle aller materiellen Dinge auf,
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der Überfluss an Essbarem, Trinkbarem und anderweitig Konsumierbarem. „Die Dinge, die aufgehäuft daliegen und von denen man bekommt, sind ein wesentlicher Teil der Dichte, ihr Kern. Sie sind zuerst gesammelt worden und erst wenn sie alle beieinander sind, sammeln sich die Menschen um sie. Es kann Jahre dauern, bis alles vorhanden ist, und man mag lange Entbehrungen für diesen kurzen Überfluss erleiden. Aber man lebt auf diesen Augenblick hin und führt ihn zielbewusst herbei. „(ebd.)
Während Canetti glaubt, dass Menschen in früheren Zeiten noch große Entbehrungen auf sich genommen haben, um üppige Feste auszustatten, was etwas mühselig klingt, ist der Evolutionsbiologe Josef Reichholf der Ansicht, dass der Wunsch „üppige, rauschhafte Feste abzuhalten“ (Reichholf 2009), der eigentliche Antrieb war, um Ackerbau, Braukunst und Viehzucht zu vervollkommnen. Der Genuss von Bier und der kollektive Rausch waren somit laut Reichholf die ursprünglichen Gründe, um Landwirtschaft zu betreiben. Die Herstellung von Brot aus Körnern sei erst nach dem Bierbrauen geschehen, was alte Quellen beweisen. „In großen Festgelagen, zu denen Gruppen aus der unmittelbaren Umgebung und von weiter außerhalb zusammen kamen, wurde dieses Bier dann konsumiert“ (Ufen 2009: 17). „Der Statuswettstreit der Reichen“ (ebd.) bei diesen Trinkgelagen war es auch, der nach Ansicht des Archäologen Brian Hayden „zur Erfindung der Landwirtschaft geführt und daraus die Zivilisation hervorgetrieben hat“ (ebd.). Man wollte seine Gäste verwöhnen und beeindrucken und andere Gastgeber übertrumpfen und war deshalb bemüht, Speisen und Getränke zu verfeinern. „Nicht der Hunger, sondern das Bedürfnis nach kollektiven Rauschzuständen stehe am Anfang der Geschichte der menschlichen Zivilisation“ (ebd.). Wie damals so ist auch heute der Wunsch nach Rausch, Fülle, Überfluss und Genuss das zentrale Thema jedes großen Festes. „Wandert man durch die Budenstraßen, fällt der Überfluss auf, überall quellen Spielsachen, Lebkuchenherzen, Souvenirs, Stofftiere und Krimskrams aus den Ständen, alles ist übervoll. Die Essensstände sind reichlich gefüllt, und unzählige Haxen und Hendln drehen sich an den Spießen. Sieht man sich die Hähnchengrills in den Zelten genauer an, so wird einem bewusst, welche Massen hier verzehrt werden.“ (Veiz 2006: 50)
Diese Dichte der Dinge ist ein unübersehbares Kriterium eines Volksfestes. Die scheinbar unaufhörliche Fülle ist faszinierend. Vielfalt und ständige Abwechslung machen die Anziehungskraft großer
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Volksfeste aus, denn man kann sich an allem satt essen und satt sehen. „Aber nicht nur für die leiblichen Genüsse ist gesorgt, denn Festmassen wollen allen sinnlichen Genüssen frönen, wollen ganz Körper und Gefühl sein, wollen vollkommene Sinnlichkeit“ (Veiz 2006: 48). „Es ist ein Überfluss an Weibern da für die Männer und ein Überfluss an Männern für die Weiber. Nichts und niemand droht, nichts treibt in die Flucht, Leben und Genuss während des Festes sind gesichert. Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz ungewohnte Annäherungen werden erlaubt und begünstigt. Die Atmosphäre für den einzelnen ist eine der Lockerung…“ (Canetti 1981: 65)
Die Kontakte der Menschen untereinander sind bei der festlich gestimmten Masse wichtiger als bei anderen Massen, nicht allein die Dichte, sondern auch der Kontakt, der Austausch, die Begegnung zählen. Im euphorischen Rausch eines Bierzelts werden alle sozialen Unterschiede aufgehoben, alle sind sich in der Masse gleich. Dieses Gefühl der Gleichheit entspricht der „Entladung“ aller Unterschiede (Veiz 2006: 47ff) in der feiernden homogenen Masse. Die Annäherung zwischen den Geschlechtern ist deshalb erleichtert und eine gewisse Freizügigkeit ist erlaubt und wird genossen – auch im Schutz einer gewissen Anonymität – wenn es sich um ein großes Fest, wie z. B. das Oktoberfest handelt. Sonst unerlaubte Annäherungen, generelle Ausgelassenheit, das Loslassen von Selbstbeschränkungen und das Freilassen von Gefühlen fallen wesentlich leichter – man lässt seiner Spontaneität freien Lauf. Das einzige Ziel der Festmasse ist das Fest selbst. Canetti schreibt: „Es gibt kein Ziel, das für alle dasselbe ist und das alle zusammen zu erlangen hätten. Das Fest ist das Ziel, und man hat es erreicht.“ (ebd.)
Der Genuss im Augenblick ist das alle vereinende Ziel. Sinnliche Reize, Düfte, Geschmack, Farben, Lichter, Musik, Berührungen, schöne Kleidung und gutes Essen und Trinken – das alles gehört zur Stimmung eines großen Festes.
Die dio nysische Gemeinschaft Die feiernde Masse ist im Falle eines Volksfestes eine Menschenansammlung größter Dichte, die auf dem Festplatz außerhalb der Bier- oder Weinzelte heterogen und chaotisch erscheint, die innerhalb der Zelte aber meist einen gemeinsamen Rhythmus und homo-
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Fresskultur und Trinkrituale
gene Bewegungen hat. Der äußere Rhythmus ist der der Musik – im Süden Deutschlands meistens der einer Blaskapelle. Die innere Bewegung der Masse ist eine hin auf den gemeinsamen glücklichen Rausch und den ekstatischen Höhepunkt des Abends. Auf dem Oktoberfest ist dies vor allem in den Festzelten jeden Tag gut zu beobachten. Da es natürlich viele kleinere Volksfeste gibt, die nicht die Dichte und ekstatische Wucht des Oktoberfestes entwickeln, das Oktoberfest hier aber als Beispiel dienen soll, müssen von den weiteren Beobachtungen je nach Gegebenheit und Situation Abstriche gemacht werden. Nicht auf jedem Volksfest steuert die erregte Masse im Zelt 16 Tage lang, Tag für Tag auf einen tranceartigen Höhepunkt zu. Doch eines ist allen Volksfesten gemeinsam, viele im Bierzelt Anwesende suchen mehr oder weniger die Dichte, die Nähe, die „Wärme des Kollektivs“ (Maffesoli 1996: X) und die gemeinsame Harmonie in Gesang, Rhythmus und Bier- oder Weinseligkeit. Die Menschen drängen sich an den vollen Tagen dicht auf den Bänken, oft auch in den Gängen, sie treffen sich für einen bestimmten Zeitraum an einem bestimmten Ort, in einem begrenzten Raum und jeder weiß, um 22.30 Uhr ist – auf der Wiesn – das Ende des gemeinsamen Feierns durch das Ausschankende festgelegt. Die Festbesucher in den Zelten lassen sich gerne durch die Musik zu gemeinsamen Bewegungen und einem gemeinsamen Schunkel- oder Hüpf-Rhythmus auf den Bänken hinreißen. Dieser gemeinsame Rhythmus steigert sich immer mehr und erreicht oft erst zum Schluss, in der letzten halben Stunde, seinen Höhepunkt. Traditionelle und populäre Musikstücke und Trinklieder, wie z. B. das vom Oktoberfestwirt Georg Lang um die Jahrhundertwende erstmalig umsatzsteigernd eingesetzte „Ein Prosit der Gemütlichkeit“, sind heutzutage in fast jedem Bierzelt Deutschlands zu hören. Kollektiv ausgeführte Bewegungen nach dem Ruf „Die Krüge hoch!“ formieren die zunächst heterogene Masse zur homogenen, dionysischen Gemeinde im Bierzelt. Alle stemmen gleichzeitig ihren Maßkrug in die Höhe, prosten sich zu, stoßen an und trinken im selben Moment. Das „Oans, zwoa, drei, g’suffa“ wird zum allabendlichen „BierzeltMantra“. Wenn sich 8.000-10.000 Menschen gleichförmig bewegen und ihre Maßkrüge gemeinsam im Takt schwenken, herrscht ausgelassene Fröhlichkeit überall. Die Masse im Bierzelt agiert am Stimmungshöhepunkt des Abends wie ein einziger Körper, sie erlebt sich als vereint und zelebriert im Idealfall die „gemeinsame Entladung ihrer individuellen Unterschiede“ (Canetti 1981: 12). Canetti hat die Entladung der Unterschiede und normalerweise zurückgehaltenen Emotionen als Hauptkriterium der ekstatischen Masse
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definiert. In diesem Zusammenhang kann man auf Sigmund Freud verweisen, der im Massenzustand das Durchbrechen der sonst individuell kontrollierten Libido erkennt. Der Ethnologe Viktor Turner nennt das erhebende Gemeinschaftsgefühl während eines Rituals die „Communitas“ (Turner 2000: 96). Das Bierzeltgeschehen auf der Wiesn hat in diesem Sinne rituellen Charakter und allnächtlich zelebriert die Festzeltgemeinde eine kollektive, bierselige „Communitas“. Auch Emile Durkheim beschreibt mit der „effervescence“ (vgl. Durkheim 1994) – der überschäumenden Freude und Seligkeit – im religiösen Entzücken einer Gemeinde, ein ähnliches Phänomen. Die Masse als dionysisch-festliche Gemeinde genießt sich selbst. Und Nietzsche schreibt: „[Es] fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins“ (Nietzsche 1999: 29). Der einigende Rhythmus der Musik veranlasst Menschen zu gleichförmigen Bewegungen und körperlicher Nähe. Das Verschmelzen im Augenblick, im Einssein aller Körper, in sinnlicher Seligkeit am Höhepunkt der Festlichkeiten ist das Ziel. Maffesoli nennt das Dionysische, „das orgiastische Lebensgefühl“, das „entscheidende Konstituens des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ (Maffesoli 1986: 19), dessen „funkelnde, buntscheckige und laute Struktur“ der menschlichen Sinnlichkeit alles zu verdanken habe. „Von perversen Spielen in der Kinderwelt“ und „von Anzüglichkeiten, die auf jedem Volksfest unweigerlich laut werden“ bis hin „zu den verwinkelten Geheimnissen, die sich in Liebeshandel kleiden“, spanne die dionysische Kraft einen „variationsreichen Fächer“ (ebd.) der Leidenschaften auf. Gerade in der Postmoderne, in Zeiten der Vereinzelung des Individuums, ist laut Maffesoli das Dionysische die Kraft, welche Gruppen zusammenbringt und zusammenhält.
Abbildung 1: Löwe trinkt, 2001, Foto: Brigitte Veiz 242
Fresskultur und Trinkrituale
Da Dionysos der Gott des Theaters, des Tanzes, der Masken, der Verwandlung, der Sinnlichkeit und des Eros ist, steht das sinnlichkörperliche Vergnügen im Mittelpunkt des dionysisch-ekstatischen Geschehens. Es sollen die äußeren Schranken der Alltäglichkeit und die inneren Schranken der Ratio fallen, damit der Mensch in der Euphorie des Augenblicks ganz er selbst wird, rauschhaft glücklich und göttlich enthoben. Kaum jemand hat diesen Zustand anschaulicher formuliert als Friedrich Nietzsche: „Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: Er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Weg, tanzend in die Lüfte empor zufliegen“ (Nietzsche 1999: 29).
Die Ess- und Fresskult ur Bei einer dionysischen Festlichkeit geht es natürlich nicht nur um himmlische, oft durch Fahrgeschäfte erzeugte, Trance und tanzende Leichtigkeit, die ekstatische Gemeinde frönt auch gerne allen leiblichen Genüssen – Essen und Trinken sind zentral wichtig. Der Genuss und auch die Völlerei, die Maßlosigkeit im Großen und Ganzen, stehen im Zentrum jeder Volksfestaktivität. Während es auf Volksfesten früher nicht alltägliche Spezialitäten gab, sind in Zeiten des Überflusses – wie in unserer Gesellschaft – potentiell alle Dinge immer zu haben. Ein Brathendl bekommt man jeden Tag überall, wenn man will, auch gebrannte Mandeln und Zuckerwatte sind in den Süßwarenabteilungen von Kaufhäusern zu bekommen, zwar nicht frisch zubereitet, aber immerhin vorhanden. Was ist also dann das Besondere am Essen auf Volksfesten? Es fällt auf, dass alle Nahrungsmittel auf Volksfesten und Kirchweihen traditionell sehr deftig sind. Es wird viel Fleisch gegessen, Fett, Zucker und Kohlenhydrate sind die Hauptzutaten der meisten Gerichte. Verfeinerte Küche ist generell nicht üblich, auch wenn auf der Wiesn in München in manchen Zelten inzwischen Austern, Hummer und Kalbsnüsschen oder auch Champagnermousse, Pfirsichsorbet und Früchteparfait angeboten werden, so sind das die ungewöhnlichen Ausnahmen von der Volksfestregel. Hendl, Haxen, Ochs am Spieß, Bratwurst, Schaschlik, Fischsemmeln und „Gwedelte“ – Steckerlfisch sind die Klassiker und natürlich die in Süddeutschland übliche Brezn. Dazu trinkt man Bier, Wein, Radler und den Schnaps zum Verdauen. Die Klassiker unter den Süßigkeiten sind gebrannte Mandeln, Zuckerwatte, glasierte oder in Schokolade getauchte Fruchtspießchen, Softeis und Lebkuchenherzen. Das Volksfestessen ist – kurz gefasst – deftig, fett, sättigend, einfach und ziemlich
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ungesund. Da man auf Volksfesten meistens im Stehen an einer Bude oder in einem Bierzelt isst, hat das Essen eine Art provisorischen Charakter und es muss, auf einem Pappteller oder Stück Papier serviert, schnell und mit den Fingern essbar sein. Einerseits muss dass Essen für die Massen schnell zubereitet werden können, andererseits will man umgehend bedient und sofort zufriedenstellend gesättigt werden. Nichts Schlimmeres, als dass man auf einem rauschhaften Fest nicht satt würde. Fülle ist das Wort, Völlerei das Ziel. Das Orale ist zentrales Thema dionysischer Feste – so auch der Volksfeste – und der orale Trieb, einmal losgelassen, gewährt keinen Aufschub. Zu oft und zu lange hat man schon im Alltag gedarbt und sich beherrscht, aber da Volksfeste – und am Beispiel der Wiesn ist das täglich zu beobachten – „das ungehemmte Loslassen aller Triebe“ (Veiz 2006: 167) ermöglichen, wie Freud es formulieren würde, wollen die Triebe und zunächst der nach Nahrung, ungebremst befriedigt werden. Jetzt! Sofort! Deshalb muss alles in Massen vorhanden sein, es darf kein Mangel herrschen, denn der wird bereits allzu deutlich im Alltag erlebt – psychisch, sozial oder materiell – und den Alltag will man vor allem vergessen auf einem Volksfest (Veiz 2006: 71). Es muss alles unbegrenzt vorhanden sein – Essen, Trinken und Gaudi!
Abbildung 2: Bräurösl leer, 2000, Foto: Brigitte Veiz Das triebhafte, archaische Wesen des Menschen findet auf einem Volksfest seinen Platz der Selbstverwirklichung. Wie Sacha Szabo in seinem Buch über die Volksfestattraktionen schreibt, geht es um Schaulust, Neugierde, Nähe, Körper, Spannung, Sex, Potenz, Lachen, usw. (vgl. Szabo 2006). Man fühlt sich zurückversetzt in eigene frühere Zeiten der Kindheit oder auch in frühere Zeiten der Menschheit, was emotionale Spontaneität, Sinnlichkeit und das Essen betrifft. Denn es wird mit Vorliebe gebrutzelt, gegrillt und auf 244
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offenem Feuer gebraten, und das ist auch das Besondere am Volksfest, das Fest und das Essen haben archaischen Charakter. Man feiert unter freiem Himmel und das Fleisch brät auf heißer Kohle und Feuer. Das so zubereitete Fleisch oder Würstl riecht und schmeckt scheinbar viel besser als selbiges aus der Pfanne zu Hause und man isst es mit der Hand und schleckt sich dann die Finger ab. Wenn auch unbewusst, erinnert das alles an Lagerleben, fahrendes Volk, Freiheit, Ungebundenheit, Nomadismus – Schausteller, Zirkus, „Zigeunerleben“ – das hat etwas Abenteuerliches, Ursprüngliches. Die Menschheit hat die längste Zeit in nomadischen Zuständen gelebt – Jäger und Sammler, Hirtenvölker, die Pioniere im Wilden Westen und mittelalterliche Feste fallen einem ein, Lager und Budenstädte aus Zelt und Tuch, fahrende Märkte, reisende Medizinmänner und Gauklertruppen – all diese transitorischen Zustände sind faszinierend, weil sie eine abenteuerliche Freiheit versprechen, die jenseits der alltäglichen Sesshaftigkeit liegt. Und auch das Essen, über Feuer geschmort und primitiv auf einem Papier serviert und im Gehen oder auf einer provisorischen Bierbank gegessen, hat diesen Charakter des Vorübergehenden. Das Essen geht auf Volksfesten schnell und zwischendurch, weil man Zeit haben will, die Fahrgeschäfte und dargebotenen Sensationen auf dem Festplatz auszuprobieren, um dicht gedrängt alle möglichen sinnlichen und körperlichen (Grenz-)Erfahrungen zu machen. Aber auch in den Festzelten, in denen die Gäste länger sitzen bleiben, ist das Essen traditionell einfach, schnell zubereitet und leicht zu handhaben. Auch hier überwiegen in Süddeutschland klassisch das Hendl, die Bratwurst, Brezn, Leberkäs, Kartoffelsalat, belegte Semmeln und Steckerlfisch. Auf dem Oktoberfest hat sich in den letzten 20 Jahren in vielen Zelten ein Trend hin zur Gourmetküche entwickelt und es gibt nichts, was es nicht gibt, was aber nicht als volksfesttypisch einzustufen ist. Garnelen, Hasenmedaillons, Lachs und Kaiserschmarrn Parfait (Oktoberfest 2008) sind sonst kaum auf Volksfesten zu finden, auch weil diese Gerichte in einer transitorischen Küche schwer zuzubereiten und nur mit Besteck zu verzehren sind. Aber auf dem Oktoberfest sieht man jedes Jahr, dass auch das möglich ist und dass das Essen immer mehr auf den gehobenen Geschmack zugeschnitten wird, was allerdings typisch für München ist und auch dem aktuellen Zeitgeist entspricht. Volksfeste sollten für das Volk erschwinglich sein, Superlativen im Geldausgeben können jedoch auch als eine Form der Selbstentgrenzung gewertet werden.
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Was am Volksfestessen auffällt ist, dass meistens mit den Händen gegessen wird. Besteck wird einerseits leicht entwendet oder kommt abhanden, andererseits ist das Abspülen zu aufwändig, also besinnt man sich auf die Finger. Auch das Hendl wird mit den Fingern zerteilt und das Greifen ins Fleisch und das Zerren an den Hähnchenkeulen ist auch Teil des archaischen Volksfestvergnügens. Man kommt mit seinem Essen direkt in Berührung. Das Essen mit den Fingern, was für den Großteil der Weltbevölkerung alltäglich ist, hat im Westen besonderen Charakter, es ist nicht alltäglich und deshalb der Ausnahmefall. Essen mit den Fingern ist archaisch und oral, und es befriedigt die Gelüste des Mundes auf kindliche Art und Weise. Man darf zurück in die eigene Kindheit, ins Alter Dreijähriger, ins europäische Mittelalter und noch weiter zurück, darf mit den Händen essen – eine seelische Erleichterung – zu mampfen und zu schlürfen und alles fallen lassen zu dürfen, auch das Besteck oder die abgenagten Knochen oder die halbvolle Maß. Was jedenfalls auf dem Oktoberfest auf dem Boden landet, bleibt liegen und ist Symbol einer Lockerung der Sitten und auch einer Erleichterung der Seele. Will man Norbert Elias zitieren, so geht es um das Loslassen der „Selbstzwangapparatur“ (vgl. Elias 1997) des westlichen Individuums – was auf Volksfesten im Rausch gründlich geschieht.
Abbildung 3: Bierleiche mit Hut, 2001, Foto: Brigitte Veiz
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Die obligatorische Wiesnbrezn wird auf dem Oktoberfest am Biertisch immer wieder mit anderen Leuten geteilt, was völlig selbstverständlich auch mit der Hand geschieht. Diese Art, das Brot mit allen am Biertisch zu teilen, mag zwar nur entfernt an eine christliche „Kommunion“ erinnern, hat aber genau dieselbe Funktion: Es ist ein verbindendes Ritual. Denn alle sind eingeladen, sich über das gemeinsame Essen miteinander zu verbrüdern und eine Gruppe zu bilden, was sonst unter wildfremden Menschen nicht üblich wäre. Auf dem Oktoberfest gibt es aber diese spezielle Form der Offenheit, Bier und Brezn zu teilen. Alle sind eingeladen mitzuessen und das Aufteilen der Nahrung, so dass mehr Menschen vom selben Brot essen und vom selben Krug trinken, ist eines der ältesten verbindenden Rituale der Menschheit. „Brot und Wein – Bier und Brezen, ein sakrales christliches und ein profanes „bavarisch“-dionysisches Ritual, beides ist eine „Kommunion“, um allen ein Gefühl von Zugehörigkeit zu geben und sie in Ausrichtung auf ein Ziel hin zu vereinigen […] Einerseits ist die spirituelle Transzendenz das Ziel, andererseits die rauschhafte Selbstentgrenzung in der Masse.“ (Veiz 2006: 307)
Die ko llektiven Trinkrit uale Volksfeste als Form des dionysischen Festes haben als zentrales Vergnügen den kollektiven Genuss eines Rauschgetränks. Auch wenn das Bier historisch nicht dem Weingott Dionysos sondern weiblichen Fruchtbarkeits- und Getreidegöttinnen zugeschrieben wurde, z. B. Isis, Ischtar und Demeter (vgl. Rätsch 2002), so wollen wir das Oktoberfest und alle Volksfeste auch weiterhin mit dem überkommenen Begriff „dionysisch“ nennen. Auf deutschen Volksfesten ist zweifellos Bier das beliebteste Getränk, welches z. B. auf dem Oktoberfest in riesigen Mengen genossen wird. In 16 Tagen werden ca. 6 Mio. Liter weggeschluckt, das sind 375.000 Liter pro Tag, was bei 250.000 bis 450.000 Besuchern pro Tag im Durchschnitt etwa einer Maß pro Besucher entspricht. Eigentlich wenig, könnte man denken, zieht man allerdings Kinder, Senioren und Frauen ab, die kein oder nur wenig Bier trinken, bleiben die meisten Maße für die Männer übrig, die 60 % der Wiesnbesucher ausmachen. Überall, wo Alkohol getrunken wird, gibt es spezielle Trinksitten und Trinkrituale. Diese sind lokal unterschiedlich und normalerweise traditionell geregelt. Auch auf Volksfesten haben sich Trinkrituale eingebürgert. Wobei kein anderes, von mir besuchtes Volks247
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fest die Intensität des Oktoberfestes entwickelt hat. Dies hat auch mit der großen Masse an Festzeltbesuchern auf der Wiesn zu tun. „Zu den wichtigsten Ritualen auf dem Oktoberfest gehören die kollektiven Trinkrituale im Wiesnzelt, sie formieren die heterogene Menge zur Masse und lassen aus einzelnen Besuchern und Grüppchen am Biertisch eine annähernd homogene Gemeinschaft entstehen. Trinksprüche, Trinklieder und damit zusammenhängende kollektive Bewegungsabläufe lassen die Einzelpersonen zur bierseligen Gemeinde „verschmelzen“. Der Alkohol spielt hierbei eine erhebliche Rolle und trägt zur generellen Lockerheit und Zwanglosigkeit bei.“ (Veiz 2006: 302)
Je ausgelassener die berauschte Gemeinde, desto heftiger die Rituale, zumal mit einem Maßkrug als „Ritualgefäß“. Die Wirkung des Alkohols erleichtert die Bildung einer rituellen, vom Alltag losgelösten Bierzeltgemeinschaft und über die Wucht des Anstoßens mit einer Maß können sich auch spontane Gefühle entladen. Kolitzus schreibt: „Alkohol als die Hauptdroge unserer Gesellschaft hat die Eigenschaft, uns angstfreier und kontaktfreudiger zu machen, den starken Druck des Gewissens zu mildern und unsere Triebregungen deutlicher hervortreten zu lassen. Der ritualisierte Gebrauch des Alkohols bei Feiern fördert die Gemeinschaft und den Kontakt zwischen den Geschlechtern.“ (Kolitzus 1998: 195)
Hier werden die Hauptaspekte eines großen Festes genannt: angstfreier Umgang miteinander, neue Kontakte, Loslassen der Triebe und Affekte, Zurücktreten der Scham und der Über-Ich-Kontrolle, erotische Freizügigkeit. Das Anstoßen mit dem Maßkrug ist sozusagen die erste körperliche Kontaktaufnahme mit einem oder einer Fremden – auch wenn sich zunächst nur die Krüge berühren, liegt man sich eventuell Stunden später in den Armen. Volksfeste versetzen ihre Besucher in Zustände von „Liminalität“, wie der Ethnologe Viktor Turner (Turner 2000: 95) es nennen würde, in körperliche und psychische Ausnahmezustände jenseits des Alltäglichen, in eine Schwellenwelt aus Rausch, Taumel, Erotik und Selbstentgrenzung, durch Geschwindigkeit, Vielfalt, Buntheit, Flirten und ungezwungene Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht und auch durch Überessen und Übertrinken. Das Grenzwertige ist das Interessante an rauschhaften Lustbarkeiten und auch an Volksfesten generell. Dennoch stellt ein Volksfest nicht nur ein chaotisches Durcheinander dar und hat bestimmte interne Regeln.
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Viele Abläufe haben ritualisierten Charakter, auch weil sie in einer Schwellenwelt außerhalb des Gewöhnlichen geschehen. Um einen Vorgang als Ritual bezeichnen zu können, sollten allerdings gewisse Grundkriterien erfüllt sein. Die ethnologischen, psychologischen und soziologischen Ritualtheorien der Gegenwart sind vielfältig und teilweise widersprüchlich und so beziehe ich mich vor allem auf die von mir erarbeiteten Kennzeichen eines kollektivfestlichen Rituals am Beispiel des Oktoberfestes (Veiz 2006: 256). Von Bedeutung sind: 1. der Ritualplatz, 2. der Zeitraum des Rituals, 3. die Ausstattung des Körpers, 4. die Verwendung von Ritualgegenständen (z. B. Maßkrug), 5. rituelle Getränke und Speisen (z. B. Bier, Brezn, Brathendl), 6. rituelle Handlungen und Gesten (z. B. Tänze, Gesänge), 7. die Wiederholung ritueller Gesten, die zu Trance und Ekstase führen sollen (z. B. kollektiver Rhythmus, Stampfen), 8. die Wiederholung des Rituals, das durch seine verlässliche Wiederkehr die Gemeinschaft stärkt. „Die Communitas, die Stammesangehörige in ihren Riten […] suchen, hat nichts mit der angenehmen und mühelosen Kameradschaft zu tun, die jederzeit zwischen Freunden […] entstehen kann. Jene suchen eine transformierende Erfahrung, die bis in die Tiefe des Seins jedes Einzelnen vordringt und dort etwas grundlegendes Gemeinsames findet.“ (Turner 2000: 134)
In den Bierzelten werden bestimmte Trinklieder und Trinksprüche ständig wiederholt. Das steigert natürlich den Umsatz, hat aber auch die Funktion, die sonst religiösen Mantras zukommt, nämlich die Teilnehmer am kollektiven Ritual aus ihrem kognitiven Alltagsbewusstsein in eine andere Art Bewusstseinszustand zu versetzen, in eine Art kopflose Trance. Kurze Liedtexte, die jeder kennt oder die leicht erlernbar sind, werden zu einfachen Melodien ständig wiederholt – eine Art Litanei. Ein „Lobgesang“ auf Bier und Brunft, in den man berauscht vom Festtrubel fast automatisch mit einstimmt. Diese „Bierzelt-Mantras“ und Trinklieder werden von kollektiven Bewegungsabläufen der Masse begleitet. Wie in einem sakralen Ritual bestimmen auch in einem Bierzelt die performativen Akte der Gemeinde den zentralen Moment der Feier. Ein Beispiel vom Oktoberfest soll das Gesagte verdeutlichen. Das gemeinsame Ritual „Die Krüge hoch!“ läuft im Bräurosl Bierzelt auf der Wiesn folgendermaßen ab (Podiumssprecher (P) und Masse (M) tauschen einen kurzen Dialog aus, dann singen alle gemeinsam (G)):
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Kultur des Vergnügens P:
Habt’s an Krug in der Hand?
M: Ja! Ja! P:
Die Krüge hoch! Die Krüge hoch! Die Krüge hoch!(die Masse hebt die Krüge dreimal gemeinsam in die Höhe)
G: Ein Prosit! Ein Prosit der Gemütlichkeit! Ein Prosit! Ein Prosit der Gemütlichkeit! Oans, zwoa, drei – g’suffa! (bei oans, zwoa, drei werden die Krüge dreimal gemeinsam in die Höhe gestemmt, dann wird mit den Maßkrügen angestoßen und gemeinsam getrunken) (Veiz 2006: 303)
Oft werden diese Trinkrituale zwischen den Musikstücken der Wiesnkapelle eingeschoben, wie z. B. auch der gemeinsame kurze Chant: „Oa Maß geht no, oa Maß geht no nei. Oa Maß geht no, oa Maß geht ollwei“. Dem folgt meistens noch: „Ein Prosit der Gemütlichkeit“, das nach oben erklärtem Schema abläuft und immer mit dem: „Oans, zwoa, drei – g’suffa!“, dem Anstoßen der Krüge und dem gemeinsamen Trinken endet (ebd.). 4-8-mal in der Stunde habe ich „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ auf der Wiesn abends schon gehört – also über viele Stunden eine wiederholte und gut eingeübte Liturgie. Die ständige Wiederholung schafft ein Gefühl des Vertrautseins mit und der Zugehörigkeit zur singenden Gemeinde. Die Texte sind so einfach, dass jeder sofort mitmachen und sich umgehend zugehörig fühlen kann. Diese Trinkrituale kann man in ähnlicher Form, nur meistens mit geringerer Frequenz pro Abend, auf allen süddeutschen Volksfesten in den Bierzelten beobachten, ebenso an Stammtischen, in Biergärten, auf den Starkbierfesten in Bayern und im Münchner Hofbräuhaus das ganze Jahr über. Neben diesen großen kollektiven Trinkritualen gibt es an manchen Biertischen auch kleine, rituelle Übereinkünfte beim Biertrinken. Manchmal ist es üblich, dass jeder seinen Krug zuerst auf den Tisch stößt, bevor man sich mit den Krügen in der Luft zuprostet. Manche stemmen die Maß nur mit einer Hand, nimmt man dazu zwei Hände, gilt das als „Damenmaß“ und ist folglich unmännlich. Manche Biertrinker stoßen prinzipiell nicht mit nichtalkoholischen Getränken an, anderen ist es egal. Diese oft zu beobachtende Skepsis Nicht-Biertrinkern gegenüber ist verständlich, wenn man sich klar macht, dass es sich bei einem Volksfest um ein rauschhaftes Fest handelt, bei dem die Verbrüderung und die „Verschmelzung“ mit der Masse das Ziel des gemeinsamen Trinkrituals ist. Jeder, der das übliche Rauschgetränk nicht teilt, bewegt sich folglich außerhalb der gemeinsamen rauschhaften Erfahrung und dem Zustand
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des Einsseins, welcher das zentrale Ziel des ekstatisch-rituellen Festes ist. Jedes Jahr liest man in München im September zudem bedrohliche Schlagzeilen auf den Boulevardblättern, in denen das Fest gefährdet scheint: „Oktoberfestbier wird knapp!“, „Bierknappheit auf der Wiesn“ – ja, schlimmere Nachrichten könnte es zur Oktoberfestzeit gar nicht geben. Es darf an nichts mangeln, am wenigsten am Rauschgetränk. Es muss Überfluss herrschen, für alle, jederzeit – Völlerei ist das Ziel beim Essen und beim Trinken. Vor allem Männer fühlen sich berufen, sich gegenseitig zu beweisen, was sie vertragen und bestellen oft eine neue Maß, wenn die alte noch gar nicht leer ist. Die Menge an Alkohol, die einer verträgt ohne umzufallen, ist noch immer ein Beweis männlicher Stärke. Ein von mir aufgezeichneter Dialog auf dem Oktoberfest macht dies anschaulich: „Die hundertste Maß - Dialog im Oktoberfestzelt (2005) MANN 1: Heut hat aner die hundertste Maß trunka! MANN 2: Auf der Wiesn? MANN 1: Ja! MANN 2: In 16 Tag? MANN 1: Ja! MANN 2: Woher woaßt’n du des? MANN 1: In der Zeitung is g’standn. MANN 2: Ach so! MANN 1: Hundert Maßn in 16 Tag! MANN 2: Wie viel san des pro Tag? MANN 1: 10 am Tag. MANN 2: Naa, net! MANN 1: Tust 100 durch 16 teilen – is sechs, oder? MANN 2: Fünf oder sechs. MANN 1: No, fünf oder sechs Maßn am Tag, geht scho, oder? MANN 2: Jeden Tag aber! MANN 1: Ja, jeden Tag. – Also, dran blei’m! – Auf geht’s! Prost! MANN 2: Prost!“
Schon bei den Griechen wurden die Männer belohnt, die am meisten tranken und bekamen einen Siegerkranz ins Haar und jene verspottet, die beim Trinkgelage einschliefen (vgl. Platon 1985). Auch Großzügigkeit beim Geldausgeben galt und gilt als Männlichkeits-, Potenz- und Kraftbeweis, also zahlt man oft ganze Runden. Hin und wieder sieht man junge Männer auf der Wiesn, die sich im Verlauf
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eines euphorischen Abends ihren vollen Maßkrug über dem Kopf ausleeren oder sich gegenseitig mit Bier bespritzen, auch das ein Zeichen von entweder totalem Kontrollverlust oder männlichem Überlegenheitsbeweis – man kann es sich leisten! Viel getrunken wurde von jungen Männern immer, aber das berüchtigte „Kampftrinken“ bis zum Umfallen ist auf Volksfesten gegenwärtig vor allem unter Jugendlichen üblich, die z. B. nur aus diesem Grund zur Wiesn anreisen. Fragt man sich, welchem Zweck Kampftrinken dienen mag, kommt man wiederum auf das Thema Männlichkeitsbeweis. Soziobiologische Ansätze könnten hier eine Erklärung bieten, wie der von Amotz und Avishag Zahavi, zwei israelischen Soziobiologen, die mit dem Handicap-Prinzip zu erklären versuchen, warum sich im Prozess der Evolution bei Tieren und Menschen Verhaltensweisen und körperliche Merkmale entwickeln konnten, die auf den ersten Blick die Beweglichkeit und Fitness der Individuen zu reduzieren scheinen. „Kampftrinken“ könnte somit im Sinne Zahavis als körperlicher „Fitnessbeweis“ (vgl. Zahavi 1998) gedeutet werden, denn derjenige, der den Alkoholexzess ohne Schaden übersteht, hat offensichtlich eine besonders gesunde Natur und folglich gesunde Gene und darf sich zu den überlegenen Individuen seiner Spezies zählen. Wer sich nach Zahavis Theorie im Tierreich ein körperliches Handicap leisten kann und dennoch aus der Konkurrenz mit seinen Artgenossen erfolgreich hervorgeht, wird von seiner Umwelt als besonders lebenstüchtig, potent und von potentiellen Sexualpartnern als attraktiv wahrgenommen. Wer seine Kraft und Energie sinnlos vergeuden kann, zeigt, dass er offensichtlich sehr viel davon besitzt. Das gilt auch für Menschen. Die Verschwendung von Kraft und Energie scheint auch beim „Kampftrinken“ das Thema zu sein. Alkohol ist in großen Mengen ungesund, sogar giftig – verträgt man viel davon, lässt das auf einen gesunden Organismus schließen. Männliche Konkurrenten werden beeindruckt, Frauen eventuell auch. Unter den Bierleichen auf dem Oktoberfest sind seit einigen Jahren allerdings auch immer mehr junge Frauen zu finden. Deren Beweggründe für den Suff, ob aus Lebensfrust, Übermut oder weil sie die Männer beeindrucken und es ihnen gleichtun wollen, sind bisher nicht hinlänglich erforscht.
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Abbildung 4: Bierzeltstimmung-Schottenhamel, 1999, Foto: Brigitte Veiz Überfluss, Überfülle, Übermut – die elegantere Form der Vergeudung von Alkohol findet auf dem Oktoberfest, z. B. im Weinzelt statt. Dort gibt es nur Wein, Prosecco, Champagner und Weizenbier aus relativ kleinen Gläsern – denn man möchte die maßkrugschwenkenden Gäste fernhalten. Wein auf der Wiesn klingt ungewöhnlich, aber der Freistaat Bayern war bis ca. 1600 vorwiegend ein Weinanbaugebiet, bevor er begann dem Bier zu frönen. Damit das rustikale Vergnügen und der Männlichkeitsbeweis auch im Weinzelt nicht zu kurz kommen, gibt es dort Gäste die nächtens mit 9 oder 15 Liter Flaschen Champagner hantieren. Die 15 Liter Flasche mit dem Namen des babylonischen Königs Nebukadnezar kostet immerhin 3.300 Euro. Diese teuren Flaschen lassen die euphorisch feiernden und gut betuchten Zecher zur Freude und zum Befremden der anwesenden Gäste nach eifrigem Schütteln vom Musikpodium aus in die Menge explodieren. Auch eine Art HandicapPrinzip für die fröhlichen Sprüher oben und jene Gäste unten, deren teure Seidendirndl und Hirschlederhosen nass werden. Jedenfalls geht es bei den zuletzt genannten Aktionen nicht um das dionysisch-sinnliche Verschmelzen mit der euphorischen Masse in einer erhebenden Communitas, sondern um individuelle Exzesse und Völlerei. Wie schon erwähnt, waren es wohl narzisstische Gründe und der Wettstreit der Reichen um Macht und Bedeutung
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bei den Gelagen, welche einst zur Verfeinerung der Rauschgetränke und Nahrungsmittel beigetragen haben (Ufen 2009: 17). Die Lust am Genuss als Beginn aller Kultur. – Die erfahrenen Zecher wussten allerdings immer, den „göttlichen“ vom „banalen“ Rausch zu unterscheiden. Auch Platon wetterte schon gegen die Maßlosigkeit und Bodenlosigkeit des ungebremsten Alkoholkonsums (Veiz 2006: 100ff), während er, wie auch Nietzsche, den göttlich-erhebenden Rausch pries, der die Verehrung des „idealisierten“ Dionysos darstellt. Exzess – nein, göttlicher Rausch – ja, wäre die Kurzform des Gesagten.
Quellen Canetti, Elias (1981): Masse und Macht. Frankfurt a. Main: Fischer TB. Durkheim, Emile (1994): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a. Main: Suhrkamp Verlag. Elias, Norbert (1997): Vom Prozess der Zivilisation. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Kolitzus, Helmut (1998): Die Liebe und der Suff. München: Kösel. Maffesoli, Michel (1986): Der Schatten des Dionysos. Frankfurt a. Main: Syndikat Verlag. Maffesoli, Michel (1996): The time of the Tribes. The Decline of Individualism in Mass Society. London: Sage Publications. Nietzsche, Friedrich (1999): Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Augsburg: Goldmann TB. Platon (1985): Das Trinkgelage oder Über den Eros. Frankfurt a. Main: Insel TB. Reichholf, Josef (2009) Warum die Menschen sesshaft wurden. München: S. Fischer. Rätsch, Christian (2002): Bier. Jenseits von Hopfen und Malz. München: Orbis Verlag. Szabo, Sacha (2006): Rausch und Rummel. Bielefeld: Transcript Verlag. Turner, Victor (2000): Das Ritual. Frankfurt a. Main: Campus Verlag. Ufen, Frank (2009) Am Anfang war das Bier. In Rheinpfalz am Samstag (25. 1. 2009: 17). Veiz, Brigitte (2006): Das Oktoberfest. Masse, Rausch und Ritual. Gießen: Psycho-Sozial Verlag. Zahavi, Amotz; Zahavi, Avishag (1998): Signale der Verständigung. Das Handicap-Prinzip. Frankfurt a. Main: Insel Verlag. 254
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Abbildungsverzeichnis Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Veiz
1: Löwe trinkt, 2001, Foto: Brigitte Veiz 2: Bräurösl leer, 2000, Foto: Brigitte Veiz 3: Bierleiche mit Hut, 2001, Foto: Brigitte Veiz 4: Bierzeltstimmung-Schottenhamel, 1999, Foto: Brigitte
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Drehschwindel und E kst ase auf dem Jahrm arkt KAY HOFFMAN
Ob ich das kenne? Ja. Wobei die Kombination von Schwindel und Ekstase mehr auf ein Malheur als auf ein Vergnügen hinzudeuten scheint. Das Wort, in medizinischem Kontext gebraucht, bezeichnet einen Zustand, der ausgelöst wird durch widersprüchliche Informationen verschiedener Sinnesorgane an das Gehirn. Diese gehen von den Augen aus, von dem Gleichgewichtsorgan des Ohres, von den Stellungsfühlern, genannt Sensoren und Propriozeptoren, die sich in der Muskulatur, in den Sehnen und Gelenken als eine Art Bewegungsmelder befinden. Beim Gesunden werden solche Informationen automatisch verarbeitet und gelangen meist nicht einmal ins Bewusstsein, so selbstverständlich sind sie, denn sie informieren nur darüber, in welcher Lage sich der Körper gerade befindet, wobei mit „Lage“ etwas ganz Konkretes, Körperliches gemeint ist. Erst wenn etwas gemeldet wird, das vom erwarteten Normalzustand abweicht, dann schlägt der Organismus Alarm, die Wahrnehmung wird scharf gestellt und das Bewusstsein kommt seiner ersten, vornehmlichsten Aufgabe, der erhöhten Wachheit und Aufmerksamkeit, nach. Wenn hier, sozusagen an der Basis der körperlichen Existenz und ihrer Einbettung in die Gewohnheiten und die Gewöhnlichkeit des Lebens, die Ausnahme die Regel bestätigt, kann im subjektiven Erleben die Basis gründlich aushebelt werden, so dass eine radikale Destabilisierung stattfindet. Was daran so lustvoll ist? Die Welt dreht sich, verschwimmt vor den Augen, löst sich auf, es ist, als wäre man nicht nur auf einen Blickwinkel eingeengt, sondern könne nun aus allen Perspektiven gleichzeitig heraus schauen. Alle Winkel sind so sehr geweitet, dass sie ineinander übergehen und sich zusammenfügen zu einer Rundumschau von 360 Grad. Das hat etwas Berauschendes an sich, weil man der Enge der gewöhnlichen Sichtweisen entkommt und sich der Schwere des erdgebundenen Körper entbunden fühlt. Schwe-
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Kultur des Vergnügens
ben, Fliegen! Augen überall! Allgegenwart, die bislang Gott vorbehalten war, die Dinge verlieren ihre Bedeutung herausgelöst aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang, die Farben vermischen sich und bilden ein Band ohne klar definierte Formen, ohne Grenzen, das ist der Fliegende Teppich in Wirklichkeit, ein flüchtiger Eindruck, mehr nicht. Und doch: Es bilden sich durch das Zusammenspiel der Mischung neue Eindrücke, neue Wirklichkeiten, die nur im Jetzt des Erlebens Bestand haben, aber doch nicht so flüchtig wären, dass die Wahrnehmung sie nicht erfassen könnte. Es sind eben keine Sinnestäuschungen, keine Halluzinationen, sondern Randerscheinungen, die nachvollziehbar sind, vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein, an den Rand zu gehen und hinzuschauen, was sich dort zeigt. Vielleicht ist dieses Spiel mit der Wahrnehmung der eigentliche Grund für den Rausch, der im Schwindel gesucht wird. Ja, so erkläre ich es mir, aber um es anderen überzeugend erklären zu können, müsste ich von einem eigenen Erlebnis erzählen. Und ja, ich habe es erlebt, es kommt mir so vor, als sei es gestern gewesen, aber wo und wann? Zum Wann kann ich nur sagen, dass es schon irgendwann einmal in der Kindheit begonnen haben musste, als sich zeigte, dass ich zum Schwindel neigte, eine Neigung, die mich mein Leben lang begleitete und sich zunehmend steigerte, aber auch veränderte. Hier meine ich jenen Schwindel, der plötzlich einsetzt, dieser Schwindel, der das Unterste nach oben verkehrt, so dass man sich ein für alle Mal entleeren möchte, um endlich wieder zu einem Gleichgewicht auf dieser Erde zu finden. Und wo? Es könnte überall gewesen sein, denn dieser Schwindel hält sich nicht an präzise Ortsangaben. Viel später werde ich mir selbst erzählen: All die Jahre habe ich in einer Blase gelebt. Kindheit, Jugend, alles Schwindel. Eines Tages steige ich aus, als ich die Gondel einer Bergseilbahn verlasse. Ich steige aus der Blase einfach aus. Der sanfte Druck ist weg. Die Ohren sind frei. Von da an ist der Schwindel Erinnerung. Der Schwindel steht für Fremdbestimmung, und ab da werde ich selbstbestimmt leben, so lautet die Wendung, mit der ich mein Erwachsenwerden beschreibe. Ich muss mich also erinnern, um den alten Zauber heraufzubeschwören, so dass ich ihm wieder verfallen kann. Die Erinnerung muss unmittelbare Gegenwart werden, damit der Zauber wirkt. Es geht um ein Gefühl, in das ich eintauche. Da kommt mir ein Bild entgegen, das mich dazu einlädt. Plötzlich weiß ich: Ich bin auf der Auerdult am Mariahilfplatz in München, so mittendrin, wie 258
Drehschwindel und Ekstase auf dem Jahrmarkt
es nur im Traum möglich ist, und doch außerhalb meiner Selbst. Ich sehe das bunte Treiben vor mir, alles flirrend, Konturen und Spuren verwischend, sich verschraubend, höher schwingend, in einen grauen Himmel hinein, vor allem sehe ich das altmodische Kettenkarussell, die Ketten sieht man kaum mehr, auch wenn man den Blick abschirmt gegen das diffus blendende Licht, das sich durch die dichte Wolkenpatina kämpft. Wer sind die, die da vorüber fliegen? Menschen, anderen Menschen folgend, eine Kette bildend, nicht einer Linie entlang, sondern immer im Kreise, das im Bild sich als Oval verfestigt. Immer und immer wieder geht es rund im Oval. Von unten aus der Froschperspektive gesehen rücken vor allem die Schuhe in den Vordergrund, die angehängt an die Menschenfiguren diese abrunden und vollenden, zugleich aber auch verfremden, weil sie wie ferngesteuert als klobige Schatten vom Schaukelsitz abwärts an fliegen zusammen mit den Beinen, die manchmal zu strampeln scheinen, als wollten sie juchzen oder davonlaufen. Flugkraft und Fliehkraft arbeiten einander zu und lösen widersprüchliche Gefühle aus, z. B. Urvertrauen und Abenteuerlust, wobei letztere auf ersterem aufbaut und sie erst möglich macht. Ich sehe mich von außen als einen Teil jener an einem Riesenrad aufgefädelten Schemen durch die Luft gewirbelt gemäß einer Ordnung, die größer ist als der einzelne Sturz oder Flug. Hier endlich gelingt die Ablösung, die Auflösung, ein Durcheinander von Geräuschen und Gerüchen. Ich meine die Orgel aus der Kirche zu hören, dröhnend, ein wenig schräg, außer Gebrauch. Dort also muss es geschehen sein, dass ich mein Leben dem Außergewöhnlichen weihte, auch wenn es damit verbunden war, mir die Seele aus dem Leib zu kotzen. Es ist eine innere Entscheidung, mit Hingabe verbunden. Der äußere Zusammenhang dient der inneren Inszenierung: das Leben als Karussell. Jahrmarkt! Das Wort allein reicht schon, in mir die Spannung zwischen den Extremen nachvollziehen zu lassen, den Extremen von Kirche und Messe. Kirmes! Das ist Sprengung der Grenzen, die keiner sieht und kennt. Alles ist in Ordnung, heute darfst du an deine Grenzen gehen, sagt dieses Durcheinander zu mir und lädt mich ein. Tritt näher! Ich trete näher und löse mich auf. Hier verweigert sich die Erinnerung. Bin das ich selbst? Ist mir das widerfahren? Ich traue dem neugotischen Backsteingebäude, das so ernst und gedrungen über allem dräut, magische Kräfte zu. Die Kirche ist der eigentliche Anziehungspunkt, das bunte Treiben draußen nur Ab-
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lenkung, Geplänkel. Manchmal leuchtet die Kirche rot aus sich heraus, als wäre sie ein Moloch, der seine Opfergaben verzehrt. Dass es sich bei der Dult hauptsächlich um Trödel, liebenswerten Krimskrams, Reste eines vergangenen Lebens mit seinen Vergnügungen, Ablenkungen, Nostalgie, seinen abgestanden und verjährten Angeboten von Lebenslust handelt, verstärkt den Schwindel, der auffliegt, vertieft die Verzauberung der Welt: Partikelchen träger Masse, aufgescheucht wie Staub, der sich wieder setzen wird, und dann wird alles in seinen gewohnten Bahnen weiter gehen. Die Dult als Intermezzo im nicht definierten Niemandsland, wo jeder mal war und die Erinnerung aussetzt, wenn der Schwindel von der Person Besitz ergreift. Eine profane Besessenheit, die vorüber geht, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Fahrgeschäfte werden jetzt seltener, bald gehören sie vielleicht der Vergangenheit an. Früher gab es noch ein kleines Riesenrad, besagtes Kettenkarussell, ein Kinderkarussell mit Tieren und Kutschen, eine Schiffsschaukel hart am Anschlag, sogar eine Pferdereitbahn. Außerdem Autoscooter und Schießbuden. Namen fordern die Fantasie heraus, sich eine passende Geschichte einfallen zu lassen: Walzerbahn, Tagada, Calypso und Wellenflug. Nostalgie, ausgeliehen aus einer anderen Zeit, die künstliches Heim- und Fernweh zugleich erzeugt. Ein unzeitgemäßes Staunen über die Wunderwerke der Technik, gerade rechtzeitig erfunden, um der Enge zu entkommen, die sich durch solche Erfindungen ergibt. An dieser Nahtstelle zwischen Enge und Weite, Kultur und Natur werden die Weichen gestellt. Die Menschen gewöhnen sich daran, auf der Stelle zu treten, statt auszureiten, der Rummel ist die willkommene Herbeiführung körperlichen Kontakts, dazu das Hämmern des automatisierten Orchesters mit Jungfrauen am Bug als Dirigenten. So multipliziert sich die kleine Welt voller elektrischem Blinken und Blinzeln, gleichgeschaltet auf einen gemeinsamen Takt als gelte es durch die schlingernde Hochsee zu stampfen. Es ist die Trauer über die verlorene Kindheit eines längst vergangenen Jahrhunderts, die mir einflüstert, hier sei das eigentliche Zuhause, weil alles noch voller Wunder ist. Jede Dult dauert neun Tage. Früher spielte sich das Ganze in der Innenstadt ab, es wurde dann ausgelagert, als sei der Rummel dieser Art nicht mehr aktuell genug. Die Au ist bis heute ein Gebiet außerhalb der Stadt und ihrem Gedränge. Und so ist es in meiner Erinnerung auch: Ich befinde mich an den leer geräumten Randge-
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bieten einer Kindheit, die ich chronologisch nicht orten kann. Zeit spielt keine Rolle. Der Mariahilfplatz ist eine kleine Welt für sich. Wenn ich diesen Platz betrete, signalisiert mir seine streng geometrische Anordnung: Hier findet alles seinen Platz. Ordne dich ein, dann ist für dich gesorgt. Bis heute fühle ich mich gemaßregelt und komme diesen Gefühlen der Beklemmung nicht aus, der Platz tut sich als wissendes, dräuendes Feld auf. Zwischen dem Mariahilfplatz und dem Nockherberg fließt der Auer Mühlbach hindurch. Auf der einen Seite befindet sich die Frauen- und Jugendarrestanstalt Neudeck, einstmals ein Zuchthaus, noch früher ein Kloster, ein Braumeister erwarb 1813 die ehemalige Klosterbrauerei und führte die Starkbiertradition der Mönche fort. Der Geruch hängt manchmal zum Greifen nah in der Luft. Alles ist hier stark und braut sich zusammen. Ein neobarocker Bau aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts schließt an und bietet Platz für 124 Personen unter Arrest, er soll einmal als Hotel dienen, aber das sind ungewisse Pläne. Verwaltung und Vollzug befinden sich quasi unter einem Dach. Ich weiß es, weil ich für das Amt gearbeitet habe. Ich wusste es immer schon, ich sage mal, ohne es genau zu wissen: aufgrund jenes Schwindelerlebnisses, in dem die Welt in einem Kunterbunt zusammengefasst und ein für alle Mal verquirlt wurde. Gut und Böse wohnen nun eng beieinander, und im kollektiven Gedächtnis der Welt ist all dies gespeichert. Dieses Erinnerungswissen besteht weiterhin aufgrund einer grundlosen Angst, die mich manchmal überfällt, alles wird dann sehr eng und man muss genau aufpassen, wohin man tritt. Nur an geregelten Ausnahmetagen ist die Welt eine verkehrte Welt und darf so weit sein, wie sie will, sonst würde sie platzen vor Wut. Natürlich auf der Auerdult, da muss es gewesen sein, als mich der Schwindel erfasste und überzeugte wie eine fundamentale Glaubenslehre. Hier lernte ich, den Zugriff der Verplanung auf mein Leben zu erkennen und dagegen aufzubegehren. Schwindel nicht nur als Erlebnis sondern als Sinnbild für mein ganzes Leben: ein einziger Schwindel, ein Lügenmärchen, das erzählte ich mir selbst natürlich insbesondere dann, wenn ich die benachbarte Schule schwänzte. Ich saß dann in einem kleinen Cafe am Mariahilfplatz und ließ die Stunden vergehen, die einem geordneten Stundenplan entsprochen hätten, hätte ich sie in der Schule abgesessen. So aber vergingen sie teils im Nu und teilweise gar nicht. Die Zeit blieb einfach stehen. Draußen drohte der Kirchturm wie ein Fingerzeig. Da entschied ich mich für den Schwindel. Abends lag ich im Bett und stellte mir vor: Ich fahre auf der Erde durch das All. Ich bin mein 261
Kultur des Vergnügens
eigenes Fahrgeschäft. Ich spüre die Enge, die nach mir greift, die namenlose Angst vor dem Leben. Aber mit meinem namenlosen Fahrgeschäft schraube ich mich hoch entgegen der Schwerkraft und lasse mich los und sausen, dass mir der Wunsch um die Ohren pfeift und ein neutrales Rauschen alle anderen Geräusche übertönt. Das Rauschen ist nie genug und immer zu schnell vorbei. Die Loslösung gewohnter Orientierung kann nur für Momente gelingen, und dabei spielt es keine Rolle, ob dies nur in der Vorstellung gelingt oder sich in der Wirklichkeit abspielt. Man muss das Rauschen verinnerlichen, selbst zum Rauschen werden. Sagt die äußere Stimme: „Dass du immer so übertreiben musst!“ Assoziationen jagen sich...Übertreibung, Austreibung... Sagt die innere Stimme etwas von „Es wissen wollen“, fragt sich nur, was ? Es entsteht ein Wissen durch Übertreibung, aber welches? Und wozu ist es gut? Übelkeit durch Überdruss: Alles absuchen, an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit gehen, um sich sagen zu können: Hier oder da ist auch nichts Besonderes, alles gleich, mir gleich, alles Schwindel, Einerlei – um sich abwenden, endlich davon ablassen zu können. Ich könnte genauso gut woanders sein. Die Auswechselbarkeit von Orten und Zuständen – Gleichschaltung kurz vor der Auslöschung, Nullerfahrung, Einschmelzen der Formen, um sich sagen zu können: Ich habe nichts versäumt, um so das sehnsüchtige Suchen abzustellen. Ich lese von der dionysischen Zerstückelung des zweimal geborenen Gottes. Zermahlen, zerstoßen, zerrieben. Überfressen, überdreht. Rasende Fahrt. Endlich zum Ende der Endlichkeit kommen wollen, sich erschöpfen, leer laufen wollen. Ich verstehe, was es heißt sich zu verzehren. Nicht aus Hunger, sondern aus Sättigung, satt vom Falschen. So ist es, wenn man es satt hat: Man ist hungriger denn je. Angstlust: Die Welt dreht sich und dreht sich, die Welt läuft an den Rändern hoch, wirft sich auf, um ein Gefäß zu bilden, eine Schale, eine Mulde, eine Kuhle, in die ich kullere, aufgehoben. So falle ich nicht heraus, sondern hinein in die Welt, in eine breitere tiefere Wahrnehmung, die mich von allen Seiten umgibt: Mit Ohren schau262
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en und mit den Augen hören, wie mit 3-D Brillen, ein verschwimmendes Bild, das die Welt wie unter Wasser erscheinen lässt, multidimensional, nicht verflacht und vertrocknet, sondern weich und mollig wie ein Schwamm, der sich voll gesogen hat mit dem Himmel, der jetzt überall ist, auch auf der Erde und in der Erde, die mich aufnimmt, wenn mich hinwerfe, falle und falle. Die Ekstase geht weiter. Mitten in dem säuerlichen Geruch nach Spirituosen meine ich den fremdländischen Geruch nach Weihrauch wie etwas Geheimnisvolles, geradezu Verbotenes zu vernehmen und meine, weinen zu können, und es nicht können, denn es gibt keinen Grund. Dazu wieder die Jahrmarktorgeln hören und eine unsinnige Freude an der Fremdbestimmung in sich aufsteigen fühlen, die Jungfrauen wie Galionsfiguren mit leuchtendem Blick und gleißendem Lack in vorderster Reihe einen unsichtbaren Reigen anführen sehen. Das Drehen der wirbelnden Derwische um aufzugehen in Gott. Sie drehen sich gegen den Uhrzeigersinn, die Uhrzeit wird zurückgedreht bis zur Zeitlosigkeit, alles Relative löst sich auf, das Absolute bleibt, die Mitte ist der Nullpunkt, die Erfahrung des unverwüstlich Göttlichen. Sich drehen, um die festgezogene Schraube der materialisierten Wirklichkeit wieder aufzudrehen, sich dem festen Griff zu entwinden, sich zu verflüssigen, so wie die Welt es im Vorbeihuschen auch tut. Zuflucht bei anderen Kulturen suchen, um der Einbindung in die eigene Gesellschaft zu entgehen. Das eigene Nest fliehen, sich in fremde Nester setzen, die andere, die geborgte Geborgenheit simulieren, neue Stimuli probieren, sich lossagen von der Zivilisation, verwildern wollen, Depersonalisation, Derealisation betreiben als selbst verordnete Medizin und Diät. Wahnsinniges Trommeln in der Fremde. Monotones Lärmen als Trance-Induktion: Einlullen des Bewusstseins, um sich in Sicherheit zu wiegen, denn die erste Funktion des Wachbewusstsein ist es, Wache zu halten. Trance, um weiter zu gehen, dorthin, wo es unsicher wird und wirklich aufregend. Innere Reise unternehmen. Man braucht ein Plateau, eine Startbahn, eine Ebene. Das ist Trance: nur eine Vorbereitung. Trance eröffnet eine Ebene, eine Startbahn für den Transit. Die Frage ist, wie ich mich aus der Ebene in der parabolischen Kurve des kosmischen Aufschwungs heraushebeln kann. Der Drehtanz wirkt als Mittel, eine galaktische Beschleunigung am eigenen Leibe zu erleben, dann sich fallen lassen, aus höchsten Höhen abstürzen. Die Außenstehenden nehmen den rastlosen Atem des Drehtänzers wahr, die Augen, die immer noch einem Fokus hinterher jagen, der 263
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Tänzer selbst wird später von unglaublichen inneren Reisen berichten, von einem Fall auf die Erde wie damals am Anfang der Schöpfung, als das ungebrochene Licht sich verströmte und gebrochen wurde, um all die Formen und Farben zu bilden, die wir heute als feste Tatsachen hinnehmen. Das Drehen versetzt in Trance, die Welt ist im Transit begriffen. Das Durchmischen und Verflüssigen ist nur Vorbereitung, heute ist es für mich überflüssig geworden, ich drehe mich nicht mehr, ich vollziehe mit dem Finger höchstens eine minimale Drehbewegung gegen den Uhrzeigersinn, und schon bin ich in der Mitte der Zeit, am Nullpunkt angelangt, in der zeitlosen Gegenwart angekommen. Vielleicht ist es das, wonach sich alle weltlichen Anstrengungen des Vergnügens ausrichten: an der Freude, endlich zu einem Ende zu kommen und in ein Jenseits der festgefahrenen Persönlichkeit zu gelangen. Aber, warnen die Eingeweihten, die um diese Verlockung wissen, Chaos allein bringt noch keine neue Ordnung hervor! Man könnte ein Leben lang drehen und niemals über das Stadium der Verwirrung und der Übelkeit hinaus kommen. Es braucht eine innere Ausrichtung, um die Trance – ein zweckgebundenes Reisen in den geistigen Welten – in einem Erlebnis der Ekstase kulminieren zu lassen. Der Körper ist befähigt zu solchen Höhepunkten, und der Geist bedarf ihrer, um sich an sich selbst zu erinnern. In schamanischen Märchen wird erzählt, dass die mächtigen Tiergeister ab und zu ein Kind rauben, um es in überweltliche Regionen zu entführen, es den Herzschlag der Adlergeistmutter hören zu lassen und ihm dann den Auftrag zu geben, sein Volk darüber aufzuklären, dass es mehr Ekstase im Menschenleben braucht. Die Geister brauchen das: Ekstase. Sie nähren sich damit, so wie die Menschen durch sie genährt werden. So kommt die Inspiration in die Welt, das Neue, das sich niemand ausdenken kann. Das bedeutet, man muss den Sprung von der Trance zur Ekstase schaffen. Aber wie? Ein Projekt der Hirnwellenforschung trommelt die Trancereisenden zusammen. Es findet sich ein Häufchen von Aussteigern ein, viele Ethnologen, die sich mit wissend verschmitztem Block aus roten Augen begrüßen, die Techniker, die bessere Kleidung tragen und abgegrenzt wirken. Sie werden die wissenschaftliche Seite des Experiments abdecken. Die Köpfe der Probanden, alle bekennende Grenzgänger der Bewusstseinsdimensionen und die meisten miteinander bekannt, unterwerfen sich den Bedingungen des Experi-
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ments, lassen sich kichernd verkabeln, strecken sich auf den bereit gelegten Matratzen aus, während sie an die Messgeräte angeschlossen werden. Diese sollen die Kurven aufzeichnen, denn Worte und Begriffe sind missverständlich, aber die Kurven sind Niederschlag der Messungen, die einen großen Teil des Ergebnisses ausmachen. Bedeutungen aufgrund von Interpretationen werden vertagt. Die Trance wird durch ein Rasseln auf Original-Rasseln aus der neumexikanischen Wüste induziert, jeder kennt das Ritual. Nach 15 Minuten ist es vorbei. Die Probanden kommen wieder zu sich, dehnen und räkeln sich, reiben sich die Augen, wickeln sich aus den Decken wie morgens in einem Jugendlager. Jetzt sind wir neugierig geworden. Wir sitzen vor dem Monitor, der sein bläuliches Licht ausstrahlt, eine Kurvensequenz wird abgespielt nach der anderen, schon am Vollbild, das einen Gesamteindruck vermittelt, lässt sich erkennen ob der fragliche Sprung in die Ekstase sich vollzogen hat. Fehlanzeige. Bei den meisten verharren die Wellenkurven in ihrem rhythmischen Auf und Ab und schwingen sich nicht zu ekstatischen Spitzenleistungen des Gehirns auf, in denen sich die elektrische Ladung dramatisch erhöht. Nur bei einem ist es so, wie es im Fachbuch beschrieben wird. Sein Wellendiagramm ist geradezu idealtypisch für die Ekstase, wie sie etwa in Pfingstgemeinden vorkommt, wenn der Heilige Geist einfährt. Der Heilige Geist zeigt sich in einer Eindeutigkeit, die als Gewissheit erlebt wird. Diese Gewissheit ist über alle Zweifel erhaben und äußert sich nicht in Gedankenketten, deren Argumente aufeinander folgen und sich von einem ersten Grund ableiten lassen. Deshalb kann Gott nicht bewiesen werden – aber das sei nur am Rand erwähnt. Dieses Wissen wird als direktes, unvermitteltes Wissen beschrieben, und das Wellenbild einem physischen Ausnahmezustand zugeordnet. Alle schauen den jungen Mann an, der solches geleistet hat, bewundernd, zweifelnd, voller Neid. Sein Wellenbild beweist, dass auch hier mitten in einer alteuropäischen Großstadt, solches möglich, und mehr noch, auf dem Monitor zu sehen ist. Ob er etwas Besonderes erlebt habe, wird der junge Mann gefragt. Ja, sagt der, und lächelt verklärt. In diesem Lächeln, in dieser Verklärung liegt so viel Eindeutigkeit, so viel Gewissheit, dass ich mich später immer wieder daran erinnern werde, wenn ich selbst die Orientierung verloren habe. Meine Wellen verharrten nämlich gleichförmig träge in ihrem Bett des Einerlei. Als ich nach Hause fahre, war ich enttäuscht von mir selbst. Wo das war, und wozu das Experiment? Ich kann keine Quellen angeben, ich weiß die Namen 265
Kultur des Vergnügens
nicht mehr, habe keinen Kontakt zu der Szene, falls es sie noch gibt. Zu gerne hätte ich den jungen Mann gefragt, welchen Unterschied das Erlebnis in seinem Leben gemacht hätte, wenn überhaupt. Ich erinnere mich nur an den Ort: ein kleines Theater mit verstaubtem Vorhang und einem Dunkel, das die Show unterstützt – ein Theaterdunkel von dramatischer Schwärze. Ich erinnere mich daran, wie ich danach ans Tageslicht getreten bin, denn das Experiment hatte ja tagsüber stattgefunden, und wie ich ziemlich desorientiert auf der Straße stand, mir selbst überlassen, und mich dann, nach einigem Zögern, „unter die Menschen mischte“, ja, die Erfahrung bzw. ihre Beschreibung muss mit Anführungszeichen markiert werden. Einfach nur Körper sein, vor allem: SEIN. Ohne Bedingungen. Ohne Konditionen. Ohne Maßstäbe, Ansprüche, Vergleiche. Die Sehnsucht ist es, die mich in die Enge treibt, denn je mehr ich mich diesem Sein anzunähern glaube, desto mehr entferne ich mich davon. Das erkenne ich erst aus der Perspektive des Rückblicks. Ich erkenne in all meinen verzweifelten Versuchen, eine Bewusstseinsveränderung zu erreichen, das wiederholte Ergebnis des Leerlaufs. Ich laufe leer aus. Zeitweilig falle ich in den Nihilismus meiner Jugend zurück, dann wieder lese ich mystische Texte und versetze mich in die Person, die sich angesichts eines Gottes taumelnd auflöst. Alles Schwindel? Die Ekstase geht weiter, im doppelten Sinne. Sie wirkt nach, schafft Dauer und Kontinuität im Verborgenen. Sie setzt einen Punkt, worauf sich das Körpergedächtnis beziehen kann. Eine Spur ist gelegt. Die Ekstase geht auch weiter im Sinne einer grenzüberschreitenden Entfaltung. Sie schafft neue Räume, Perspektiven und Dimensionen. Die Grenzen werden aufgelöst, aber nur für den jeweiligen Moment, in dem die Ekstase stattfindet. Sogleich bilden sie sich zurück und lassen den Bewusstseinshorizont auf das gewöhnliche Maß zusammenschrumpfen, auf ein RestBewusstsein, einen Rest-Horizont, und das wiederum nährt die Sehnsucht, die mehr weiß als die Erfahrung des Gewöhnlichen, weil sie sich des Ungewöhnlichen zu erinnern weiß: Die Ekstase geht weiter.1
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Dies ist das Fazit vieler langer Lehrjahre: Worüber man nicht sprechen kann, davon sollte man erzählen. Deshalb statt Literaturhinweisen, ein Hinweis auf eine Geschichte, die mit Drehschwindel und Ekstase auf dem Jahrmarkt beginnt und in nächster Zeit von mir unter dem Titel „Null Guru“ veröffentlicht wird.
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„Acht erbahnen sind das Inbild der S ymbiose von Vergnügen und Äst hetik der Baukunst“ INTERVIEW MIT FRANK LANFER
Frage: Was macht für Sie die Faszination des Jahrmarkts aus, Herr Lanfer? F.L.: Die Faszination eines Jahrmarkts ist das Temporäre, das Nichtalltägliche. Ein Jahrmarkt ist etwas Besonderes im Ablauf eines Jahres, und das muss er auch bleiben, um bestehen zu können. Negativbeispiel: Der Hamburger Dom findet dreimal pro Jahr statt, dreimal vier Wochen lang. Das ist nichts Besonderes mehr, und auch deshalb hat dieser Jahrmarkt in Hamburg nicht den Stellenwert, den er aufgrund seiner langen Tradition eigentlich haben dürfte. Vielmehr fällt es sehr schwer, das traditionelle Amüsement als kulturelles Gut in der Öffentlichkeit darzustellen. Aber es gibt auch andere Jahrmärkte, die nur einmal im Jahr veranstaltet werden. Beispielsweise der Bremer Freimarkt oder das Münchner Oktoberfest. Ein weiteres exemplarisches Beispiel wäre der Stoppelmarkt in Vechta. Neben kleineren Volksfesten innerhalb eines Kalenderjahres findet der Hauptmarkt, der Stoppelmarkt, nur einmal im Jahr und nur sechs Tage statt. So ist und bleibt er etwas Besonderes, und so ist gewährleistet, dass sich die gesamte Bevölkerung mit diesem Fest verbunden fühlt – gute Vorbereitung und Management natürlich vorausgesetzt. Schließlich sollte ein Jahrmarkt mit traditioneller sowie regionaler Identität einerseits und Spannung, Action und Partystimmung andererseits etwas nicht Alltägliches im alltäglichen Leben einer Stadt sein. Wenn ein an sich populäres Fest allerdings zu häufig innerhalb von 12 Monaten veranstaltet wird, dann verliert sich diese Einmaligkeit im Jahresrhythmus. Und darunter leidet alles: die Stimmung, das Engagement der Schausteller und letztendlich die Tradition der Veranstaltung selbst. Seit einigen Jahren gibt es anhaltend negative Tendenzen und leider nur
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Kultur des Vergnügens
noch wenige Volksfeste in Deutschland, die noch steigende Besucherzahlen haben. Frage: Und was glauben Sie, warum die Leute auf den Jahrmarkt gehen? F.L.: Neben dem Traditionsgedanken hat sich die Motivation eines Volksfestbesuchs im Laufe der Jahrzehnte bzw. im letzten Jahrhundert grundlegend verändert. Damals fühlten sich die Leute eher vom Ungewöhnlichen in personalisierter Form angezogen, also von Kuriositätenkabinetten oder von den Schaustellern selbst, denen ja bis heute zigeunerhafte und geheimnisvolle „Tugenden“ nachgesagt werden. Damals aber wollte man das Ungewöhnliche sehen, tierisch oder menschlich entstellte Wesen bestaunen, sich daran ekeln, um letztendlich festzustellen, dass das eigene, damals harte Leben eigentlich doch gar nicht so schlimm war. Darin lag eine Facette dieser Vergnügungssucht. Ein weiterer Unterschied liegt im damals recht begrenzten Bewegungsradius, schließlich hatte bis nach dem Zweiten Weltkrieg ja kaum eine Familie ein eigenes Auto. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, in andere Länder zu fliegen. Die Menschen hatten gar keine andere Wahl: Wollten sie fremde Länder, andere Sitten und Attraktionen erleben, mussten sie auf den Jahrmarkt gehen. Heute aber kann man selbst bestimmen, wann und wo der nächste Urlaub verbracht wird, welches Land man noch kennen lernen will und welche Attraktionen man erleben möchte, Heide-Park, Europa-Park oder Movie-Park. Heute hat sich die Motivation eines Volksfestbesuchs eher nach dahin verschoben, dass es vor allem um Partyspaß geht. Das sieht man beim allseits bekannten Oktoberfest am besten: Es kommen nicht jährlich 6 Millionen Leute aus aller Herren Länder zum Karussellfahren hierher, sondern vor allem zum Wettsaufen. Flüchtige Partystimmung mit hohem Flirtfaktor in einer ebenso flüchtigen, nämlich temporären Umgebung. Das passt vielen Schaustellern nicht, schließlich will man die Besucher lieber in ihren Fahrgeschäften wissen als in einem der zahlreichen Bierzelte. Dennoch, das ist der momentane Trend, und bis zu einem gewissen Grad muss man es den Jugendlichen zugestehen, schließlich sind sie die Zukunft des Marktes. Papst Johannes XIII. stellte schon fest: „Tradition heißt die Flamme weitergeben und nicht die Asche.“ Denn ohne Enthusiasmus in der Bevölkerung gäbe es selbst für solch eine traditionelle Veranstaltung wie den über
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Interview mit Frank Lanfer
700 Jahre alten Stoppelmarkt bald keine Zukunft mehr und schon gar nicht in dieser Form, in dieser Größe und in dieser Originalität. Frage: Sie haben jetzt schon ein bisschen abgewogen oder den Unterschied zwischen dem historischen und dem gegenwärtigen Jahrmarkt beschrieben. Was glauben Sie, wie die Zukunft des Jahrmarkts aussieht? Wird das jetzt noch mehr in Richtung Party gehen? F.L.: Einerseits ist es wichtig, die Wünsche und Bedürfnisse von Jugendlichen zu berücksichtigen, andererseits darf eine Kirmes nicht zum reinen Saufgelage verkommen. Ich denke, es muss eine gesunde Mischung aus Party, Attraktionen und Atmosphäre gefunden werden: Kurzweiliges Vergnügen und bleibende Eindrücke – das ist das Geheimrezept. Frage: Sie haben ja anfangs angesprochen, dass der Jahrmarkt ein temporäres Ereignis ist. Anders sieht es bei einem Vergnügungspark aus. Was sind denn die Unterschiede zwischen dem Jahrmarkt und den Vergnügungsparks? F.L.: Beide Orte bieten zwar Ausnahmesituationen vom Alltag, aber beim einen, dem temporären Ort für Vergnügungssüchte, überwiegt die Partystimmung, während beim anderen, dem saisonalen, fast ganzjährig zugänglichen Ort für Außergewöhnliches, eher der Ritt auf einer Achterbahn im Vordergrund steht. Auch der Geselligkeitsfaktor ist ein anderer: Auf Volksfeste geht man mit vorlieb in einer großen Gruppe und in Freizeitparks eher nur mit einem Freund oder – ein ganz wichtiger Faktor in der Branche – mit der Familie. In diesem Zusammenhang spielt auch der Alkoholgenuss eine Rolle, dem im Freizeitpark ein sehr untergeordneter Stellenwert beizumessen ist. Damit einhergehend ist die Tatsache, dass ein Volksfest eher in den Abendstunden zum Leben erwacht, dann also, wenn alle Freizeitparks leider schon ihre Tore schließen. Eigentlich ist es erstaunlich, dass die europäische und vor allem deutsche Freizeitparkbranche ganz bewusst die stimmungsvolle Atmosphäre, die ein abendliches Lichtermeer der Fahrgeschäfte bietet und den Tagestouristen länger in dem Park hält, ihren Besuchern vorenthält. Frage: Was zeichnet einen guten Vergnügungspark aus? F.L.: Vor allem zwei Sachen: Einerseits eine gute Auswahl an Attraktionen, andererseits eine ansprechende Thematisierung. Natürlich kann sich nicht jeder Park aufwändige Thematisierungen wie 269
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bei Disney oder Universal leisten, doch eine gelungene Landschaftsgestaltung, also eine landschaftliche Thematisierung, tut es auch und sollte eigentlich für jeden Park erschwinglich und wichtig sein. Als stellvertretendes Beispiel nenne ich hier den Bayern-Park, ein recht kleiner, familiär geführter Park, der eine überraschend gute gärtnerische Gesamtleistung sein Eigen nennt. Doch leider ist das bei vielen europäischen Familienparks noch immer nicht der Fall. Bei vielen wird bei der Thematisierung und Landschaftsgestaltung eingespart, und das kann letztendlich nur der falsche Weg sein. Denn schmutzige und lieblose, ja teilweise sogar schlammige oder staubige Wege gibt es auch in den Städten, dazu braucht man keinen Freizeitpark besuchen. Frage: Und wie sieht die Zukunft des Vergnügungsparks aus, wenn man es analog zur Zukunft des Jahrmarkts sieht? F.L.: Für bestehende Parks eigentlich sehr gut, würde ich sagen. Eine kleine Einschränkung gibt es leider, denn während sich die Freizeitindustrie nach den New Yorker Terroranschlägen vom 11. September 2001 relativ rasch erholen konnte, hat die Wirtschaftskrise zu Beginn 2009 doch einen erheblich größeren Einfluss auf das Reiseverhalten als zuvor angenommen. Insbesondere in den USA müssen kurzfristig schmerzhafte Besucherrückgänge hingenommen werden, so dass viele Betreiber die angekündigten Investitionen um ein Jahr verschoben oder gar komplett gestrichen haben. Mittelfristig jedoch stehen die Chancen auf eine Erholung des Marktes mehr als gut. Ich möchte für Europa sogar einen leichten Aufschwung prognostizieren, da die Menschen in Zeiten finanzieller Unsicherheit eher auf den zweiten Jahresurlaub verzichten und anstelle dessen mehr Tagesausflüge unternehmen, bei denen Freizeitparks natürlich eine große Rolle spielen. Also die Zukunft sieht, im Verhältnis zu Volksfesten, zufriedenstellend aus – sowohl für die Betreiber durch Festigung der Besucherzahlen, als auch für die Besucher durch Addition neuer Attraktionen. Frage: Was ist denn Ihre Lieblingsattraktion? F.L.: Achterbahnen sind die Königinnen der Volksfeste und der Freizeitparks. Die Achterbahn ist der Eyecatcher und der eigentliche Grund, einen Freizeitpark oder ein Volksfest zu besuchen, auch wenn man sich selbst gar nicht damit zu fahren traut und dem Dahinrauschen der Züge auf den zumeist spektakulär gebogenen Schienensträngen lieber zuschaut. Man geht nicht in einen Freizeit-
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park, um ein nettes, altes Bodenkarussell zu bestaunen oder um mit der Seilbahn zu fahren, sondern man geht dorthin, um diese in Stahl gewordenen Giganten zu „er-fahren“. Genau das ist es, was die Volksfeste damals ausmachten, und genau das ist es, was die Freizeitparks heute offerieren: das Außergewöhnliche. Zwar hat mittlerweile fast jeder Freizeitpark eine Kinderachterbahn, aber nicht jeder eine große. Denn leider sind Achterbahnen immens teuer und haben einen schier gigantischen Platzbedarf. Das macht sie so bedeutend und selten. Bautechnisch gesehen ist eine Achterbahn nichts anderes als eine Brückenkonstruktion, bei der sich die Fahrbahn jedoch nicht horizontal, sondern in alle erdenklichen Richtungen windet. Solche „Brücken des Abenteuers“ sind außergewöhnliche Kunstwerke der Architektur und wichtige Zeugnisse der baugeschichtlichen Entwicklung. Die Betonung der Vertikalen, der klar an der Konstruktion ablesbare Kräfteverlauf, die scheinbare Aufhebung der Schwerkraft. Das sind gotische Architekturmerkmale in ihrer Vollendung. Achterbahnen sind das Inbild der Symbiose von Vergnügen und Ästhetik der Baukunst. Doch Achterbahnen sind nicht nur visuell, sondern auch physisch erlebbar. Das macht sie so attraktiv. Frage: Was zeichnet eine gute Attraktion aus? F.L.: Für Freizeitparkbetreiber ist eine Attraktion dann gut, wenn sie vom Zehnjährigen bis Siebzigjährigen benutzt werden kann, wenn sie also die gesamte Familie gleichermaßen anspricht. Natürlich sind Familienbesucher und Familienattraktionen sehr wichtig, und jeder Park muss jede Zielgruppe bedienen. Meiner Meinung nach ist es allerdings ab einer bestimmten Parkgröße überhaupt nicht ratsam, eine Attraktion für alle bauen zu wollen. Vielmehr sollte man mit einem neuen Fahrgeschäft gruppenspezifisch polarisieren, um damit auch überregional aufzufallen. Attraktionen speziell für Jugendliche, speziell für Ältere, speziell für die ganze Familie, aber auch speziell für kleine Kinder. Wenn man aber Europas höchste Achterbahn errichten will, die gleichzeitig familienfreundlich sein soll, weil man sich als Familienpark versteht, dann widerspricht sich dieses Vorhaben im Grundsätzlichen. So geschehen bei der 2002 errichteten „Silver Star“ im Europa-Park. Dieser 1.600 Meter lange und 73 Meter hohe Stahlgigant schreckt das Familienpublikum vor einer Mitfahrt ab, während sich der jugendliche Passagier gelegentlich etwas enttäuscht darüber zeigt, dass die Fahrt relativ milde ausfällt. Dennoch ist solch eine Megaat-
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traktion natürlich besonders gut zu vermarkten und ein Garant für stetigen Besucherzulauf. Grundsätzlich aber gilt: Eine Attraktion muss etwas Außergewöhnliches sein, sie muss Spaß machen, sie muss Abenteuer und Nervenkitzel bieten, sie darf nicht zu kurz oder zu lang sein, und sie sollte, wenn möglich, in das „Overall Theming“, also in den thematischen roten Faden des Parks, eingebunden sein. Und sie muss eine angemessene Kapazität haben, damit die Wartezeiten im erträglichen Rahmen bleiben. Frage: Und was ist der besondere Reiz an der Achterbahn? F.L.: Zunächst einmal hat sie eine imposante und zugleich ästhetische Erscheinungsweise, die sich mit ihren geschwungenen Schienensträngen einer weiblichen Formensprache bedient. Und dann ist da diese stahlharte Eleganz und die Technik, die allgemein sicherlich eher die männlichen Besucher anspricht. Natürlich versetzt auch die scheinbar ungebändigte Geschwindigkeit in einen Rauschzustand, wobei eigentlich nicht die Geschwindigkeit selbst, sondern nur der Wechsel der Beschleunigungen erlebbar ist. Eine Achterbahn will erobert und zugleich bezwungen werden. Nach einer erfolgreich absolvierten Fahrt dürfen sich die Passagiere als Helden feiern. Wo gibt es das noch in unserem Alltagsleben? Frage: Im Vergleich zur Achterbahn, was ist dann der Reiz von einem Karussell, das dann doch eher gleichmäßig fährt? F.L.: Gleichmäßig kann man gar nicht sagen. Außer Riesenrad, Kettenflieger und Kinderkarussell zeichnen sich die meisten so genannten Rund- und Hochfahrgeschäfte ja durch überlagernde Bewegungen aus, in dem man eine Grundrotation mit mindestens einem weiteren, teils asymmetrisch gelagerten Rotationsschwerpunkt in die entgegengesetzte Richtung kombiniert. Und deshalb geht auch bei modernen Karussells nichts gleichmäßig zu. Richtungs- und Beschleunigungswechsel sind teils sogar kräftiger als bei einer Achterbahn, obwohl sich alles mehr oder weniger auf einer Bewegungsebene abspielt. Das ist besonders gut abzulesen beim Klassiker „Calypso“ von Mack und seinem Nachfolger, dem „Breakdance“ von Huss. Frage: Und wenn man jetzt als Vergleich ein eher betuliches Geschäft wie eine Geisterbahn dazunimmt …?
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Interview mit Frank Lanfer
F.L.: Heute wie damals liegt der Reiz einer Geisterbahnfahrt darin, dass man sich für einen Moment den Blicken der anderen entziehen kann und die zumeist männliche „Beschützerpranke“ um die zumeist weibliche Schulter legen darf. Diese Motivation war damals natürlich stärker ausgeprägt, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ganz andere waren. Aber zwei Minuten lang mal ungestört und unbeobachtet „ganz Mann“ sein zu dürfen, das ist auch heute noch das Besondere an einer Geisterbahnfahrt. Wirklich erschreckende Geisterbahnen gibt es hingegen nur sehr wenige. Frage: Eine Zusatzfrage hätte ich jetzt noch: Sie haben sehr oft dieses Moment der Zweisamkeit betont. Verbindet die gemeinsame Fahrt auf der Achterbahn? F.L.: Wie eigentlich jede gemeinsam bestandene Lebenssituation, so verbindet auch eine gemeinsame Achterbahnfahrt. Es macht keinen Spaß, alleine etwas zu erleben, schon gar nicht, wenn es sich um solch eine intensive Ausnahmesituation wie ein heißer Ritt auf den Schienen handelt. Der Mensch möchte sich anderen mitteilen. Gemeinsam Erlebtes schweißt zusammen und grenzt zugleich von anderen ab. Eine Achterbahnfahrt ist eine persönliche Erfahrung und gleichzeitig ein Gemeinschaftserlebnis. Und man kann andere animieren, es auch zu wagen, indem man ausruft: „Wir waren da drin, wir haben es überstanden. Es war klasse.“ Es ist eine Art Bund, der für eine temporäre Zeit besteht, und zugleich hebt es die „Überlebenden“ von den „Ängstlichen“ ab. Frage: Sie sprachen anfangs davon, dass mir dieser Geschwindigkeitswechsel sozusagen auf der körperlichen Ebene Dimensionen eröffnet, die man sonst nicht so wahrnimmt. Was ist der Unterschied zwischen der Achterbahn und dem Simulator der Achterbahn? F.L.: Simulation und Realität sind selbstredend nicht vergleichbar. Zwar können auch Simulatoren für sich genommen tolle Attraktionen sein – ein herausragendes Beispiel ist sicherlich „Vienna Airlines“ im Wiener Prater –, in denen die häufig eingesetzten RüttelSchüttel-Effekte mal mehr mal weniger gut auf die optische Projektion abgestimmt sind, reale Beschleunigungskräfte wirken jedoch zu keinem Zeitpunkt auf die Körper der vermeintlichen Passagiere. Deshalb können bei einer Simulation auch Parkbesucher jeden Alters teilnehmen. Hingegen geht es bei einer realen Achterbahnfahrt um das Zusammenspiel von Beschleunigungsmomenten und visuellen Eindrücken. Während einer Fahrt wirken so genannte g-Kräfte
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auf den menschlichen Körper – von positiven Kräften, wie sie nur beim Start einer Rakete zu erleben sind, bis hin zu atemberaubender Schwerelosigkeit wie im Weltall. Hinzu kommen die ungewohnten optischen Eindrücke, die das Gehirn nicht imstande ist, innerhalb solch kurzer Zeit zu verarbeiten – denn wann stürzt man schon mal mit mehr als 100 Stundenkilometer in einen bis zu 90 Grad steilen Abhang? Und auch bei Rundfahrgeschäften spielen positive und negative Beschleunigungen eine wesentliche Rolle. Simulatoren können dies nicht bieten. Frage: Und warum tun das Menschen ihrem Köper an? F.L.: Die Ursachen für die bis heute anhaltende Achterbahneuphorie sind stets die gleichen gewesen: Es sind Versuche, der Zivilisationslangeweile zu entkommen, sich aus gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Auf den Furcht erregenden Konstruktionen sucht der Mensch neue Erlebnisse. Mit Hilfe der Technik genießt er das kalkulierte Risiko und kommt seinen eigenen Grenzen dadurch ein Stück näher. Und für manche Menschen ist eine Achterbahn aufgrund ihrer virtuosen Simulation von Risiko ein Stück Lebensphilosophie. Achterbahnen sind etwas nicht Alltägliches, und deshalb haben sie solch einen Riesenerfolg. Sie sind die Königsklasse aller Attraktionen. Ein Freizeitpark ohne Achterbahn ist kein Freizeitpark. Und ein Volksfest ohne eine Schienenattraktion nur ein zweitklassiger Rummel.
Die Fragen stellte Sacha Szabo, November 2005
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Chillride s SACHA SZABO 2008 wurde im Erdgeschoss des Kunsthauses Bregenz die Installation „R B Ride“ von Carsten Höller gezeigt. Es handelte sich dabei um ein modifiziertes Karussell, dessen Drehgeschwindigkeit so reduziert wurde, dass eine Umdrehung 15 Minuten dauerte.
Abbildung 1: Carsten Höller: „R B Ride, 2007“, Carsten Höller/VBK, Wien, 2008, Kunsthaus Bregenz, Foto: Markus Tretter Der kulturhistorische Hintergrund der Karussellgeschichte bildet dabei das Passepartout, vor dem die Symbolik des Karussell als Metonym für eine beschleunigte „dromologische“ (Virilio) Wirklichkeit gebrochen thematisiert wird. Spricht man bei den modernen dynamischen Fliegenden Bauten von Thrillrides, so haben wir es hier mit einem entschleunigten Komplementärentwurf: einem „Chillride“ zu tun. Doch werfen wir zuerst einen Blick auf die Qualitäten, die durch Karussellanlagen initiiert werden. Sehr dicht beschreibt der deutsche Schlager „Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell“ von Jürgen Marcus aus dem Jahre 1975 Merkmale, die der Vergnügungsattraktion Karussell innewohnen.
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Kultur des Vergnügens „Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell darum wäre es schön wär’ man noch einmal zehn da sind alle gleich ob sie arm oder reich alle fahren gleich schnell auf dem Karussell. Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell.“ (Jürgen Marcus 1975)
Die egalisierende Kraft des Karussells wird mit der Kindheit in Verbindung gebracht, wobei diese sicherlich idealtypisch gedacht ist: Kindheit als Phase, in der soziale Unterschiede nivelliert sind. Das Besondere der Kindheit zeichnet sich für Koepke dadurch aus, dass Kinder sich noch nicht als Träger eines eigenen Schicksals empfinden; erst mit dem Überschreiten des so genannten „Rubikons“, etwa im Alter von neun Jahren, erlebt das Kind die eigene Individualität, erlebt die Endlichkeit seines irdischen Lebens und erlebt sich als eigenständig gegenüber seiner Umwelt (vgl. Koepke 1999). Auch wenn wir gelegentlich Karussells auf Spielplätzen in Form von Drehkreiseln finden, steht das Karussell doch neben dem Riesenrad und der Achterbahn metonymisch für die Kirmes. Und gerade die Verwandtschaft dieser Fahrattraktion mit dem Kinderspielzeug scheint für manche Erwachsene so etwas wie ein angenehm besetzter Regress in die Kindheit zu sein. So wundert es nicht, dass Papst Johannes XXIII. gerne als ideeller Schirmherr dieses Vergnügens mit folgenden Worten zitiert wird: „Es ist kein Blumenbeet zu schade dafür, dass man nicht darauf ein Karussell für Kinder bauen könnte“ (Lanfer 1998: 3). Sicherlich irritiert diese Aussage auf den ersten Blick, wenn man sich die lauten und wilden Orte vor Augen führt, an denen normalerweise Karussells ihre Heimat finden. Und doch ist die Nähe spiritueller Erfahrungen zu den ekstatischen Erlebnissen eines Rummelplatzes enger, als wir im ersten Moment glauben. Schon der Begriff der „Kirmes“ leitet sich von einem sakralen Hochfest, der „Kirchmesse“, ab. In der Kirmes scheint sich etwas Ekstatisches zu erhalten, das ursprünglich in der Liturgie beheimatet war, sich daraus exkludierte und nun auf dem Kirchvorplatz, dem Messplatz, in Form unterschiedlichster Fahrattraktionen präsent ist. Was aber ist es, wodurch spirituelle Erlebnisse mit solch scheinbar profanen Ereignissen wie einer Messe verzahnt sind. Bei der Betrachtung einer Karussellfahrt kommen wir dem Geheimnis einen Schritt näher. Hilfreich ist hier ein Blick in die wahrnehmungspsychologischen 276
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Deutungen von technisch erzeugten Ekstaseerfahrungen. Außergewöhnliche Bewusstseinszustände, wenn man so will, in letzter Instanz auch spirituelle Erfahrungen, können nicht nur durch pharmakologische oder psychologische Auslöser, sondern auch durch manipulative Auslöser initiiert werden (vgl. Cousto 1998). Ein außergewöhnlicher Bewusstseinszustand zeichnet sich durch eine veränderte Form der Wirklichkeitswahrnehmung aus, es kommt zu einer temporären Transzendenzerfahrung, die die exzentrische Positionalität des Individuums aufhebt und für einen kurzen Moment Ich und Umwelt vereint. Exzentrische Positionalität bezeichnet dabei die reflexive Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt (Plessner 1975: 324). Transzendente Erfahrungen basieren gerade auf der Überwindung dieses Zustandes. Zwei Strategien zur Erzeugung dieses Zustandes lassen sich kategorisieren: die gezielte Verringerung von Umwelteinflüssen und die gezielte Reizüberflutung (vgl. Cousto 1998). Ziel beider Techniken ist es, eine bestimmte Form der Vergegenwärtigung zu erzeugen, bei der die Zeitachsen Vergangenheit und Zukunft sich zu einem Gegenwärtigen amalgamieren. Die Wahrnehmung dieser hochpotenzierten Gegenwart impliziert auch die kurzfristige Aufgabe der Parameter, über die sich ein Individuum konstituiert. Vergangenheit, mit erlebten Furchtsituationen und Schuldgedanken, und Zukunft, mit antizipierbaren Ängsten und Sorgen, werden kurzgeschlossen. So erlebt sich das Individuum ganz in seiner Umwelt aufgehoben. Dieser Moment, in dem das Wissen um die eigene Endlichkeit aufgehoben ist, ist der Ansatzpunkt, an dem Sinnordnungssysteme anknüpfen, um so ihre „Ideologie“ anzubinden. Diesen Moment, in dem Zukunft und Vergangenheit – oder noch elementarer: in dem Ich und Umwelt zusammenfallen –, diesen Moment wollen wir als „Kairos“ bezeichnen. In der griechischen Mythologie ist Kairos der jüngste Sohn des Göttervaters Zeus und der Gott des richtigen Moments und der günstigen Gelegenheit. Kairos teilt die Zeit (Chronos) in ein Davor und ein Danach; er selbst ist aber nicht messbar, sondern jeder Moment ist gleichwertig. Aber auch wenn es eine unendliche Zahl an Momenten gibt, so ist nicht jeder geglückt, sondern nur der, der als solcher erfahren wird, also der unmittelbare.1
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Diese Unmittelbarkeit entspricht dem, was Lacan das „Reale“ nennt.
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Seit der Industrialisierung und dem Aufkommen eines kapitalistischen Gesellschaftssystems erleben wir verschiedene Veränderungen. Religion im vormodernen Sinne wird als spekulativ und utopisch diskreditiert und das Jenseitsversprechen wird in das Diesseits verlagert. Damit wird der geglückte Moment in seiner Wertigkeit erhöht. Zeit ist in diesem System nicht unendlich, sondern knapp und begrenzt. Das Paradoxe ist nun, dass der geglückte Moment ständig ein flüchtiger bleibt, während dem Menschen aber nicht mehr unendlich Zeit zur Erreichung eben dieses Zustandes zur Verfügung steht. Damit steigt das Bemühen nach dem Kairos, was dazu führt, dass sich dieser immer weiter in die Zukunft entzieht. Dieses paradoxe Axiom scheint – zumindest in der Lesart von Paul Virilio – nicht auflösbar, sondern steht in einer engen Beziehung zum kapitalistischen System (vgl. Virilio 1993). Virilio führt dies am Begriff der Information aus: Nicht mehr der Inhalt, sondern die Übertragungsgeschwindigkeit wird zur relevanten Größe. Geschwindigkeit wird damit zu einer Sache, die unsere Wahrnehmungen zentral beeinflusst. Im gleichen Zug werden die beiden anhängigen Parameter Raum und Zeit außer Kraft gesetzt (vgl. Virilio 1978: 53). Im Bemühen aber, Realität, die Grundlage eben dieses Prozesses ist, zu greifen, entzieht sich diese durch die dem Betrachter implementierte Beschleunigung (vgl. Virilio 1999). Wir haben es hier mit dem so genannten Double-Bind-Phänomen zu tun. Uns enteilt der Kairos im Bemühen, ihn zu fassen, und zugleich wissen wir gar nicht, ob er uns enteilt oder ob nicht gar wir an ihm vorbeieilen. Wir können also sagen, dass sich gesellschaftliche Prozesse in der Anstrengung, den Kairos festzuhalten, gezwungenermaßen dynamisieren. Genau diese Prozesse können wir anhand einer Genealogie der Karussellformen belegen. Die ersten Karussellformen finden sich bereits im Mittelalter. Dort dienten überkreuz angeordnete Holzbalken dem militärischen Training. Diese ursprüngliche Nutzung wurde aber recht schnell zweckentfremdet. Aus dem soldatischen Trainingsgerät wurde ein Belustigungsgerät. So ist von Peter dem Großen (1672-1725) überliefert, dass er seinem Gefolge befahl, eben solch ein Gerät zu besteigen, und sich über die Missgeschicke seiner Untergebenen herrlich amüsiert haben soll. Als typisches Karussell wird gemeinhin das „Pferdekarussell“ aufgefasst. Dabei handelt es sich um ein Bodenkarussell, das mit verschiedenen Aufbauten (in der Regel mit Pferden) bestückt ist, was auf die Herkunft des Karussells als Reitschule verweist. Auf diese 278
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Genese weist auch der Begriff „Karussell“ hin, den Dering als aus dem italienischen Sprachschatz entlehnt sieht. Ihm zufolge setzt sich der Begriff zusammen aus „gara“ (Streit) und „sella“ (Sattel) (Dering 1986: 27-46). Aus dieser Entwicklungslinie leitet sich auch das „Ringlispiel“ ab, bei welchem die Karussellfahrgäste während der Fahrt einen außerhalb angebrachten Ring mit einem Stecken aufzuspießen versuchen. Hier taucht als historische Reminiszenz der Ritterzweikampf, die „Tjoste“, auf. Betrachten wir die klassischen Aufbauten eines alten Bodenkarussells, denken wir sofort an Pferde. So zitiert ein Karussell einerseits eine mittelalterlich militärische Entstehungslinie, reproduziert aber gleichzeitig durch die Nachbildung eines Ausritts die exklusive adlige Lebensführung. Im angelsächsischen Begriff „Ride“ für Fahrgeschäft schwingt diese Bedeutung noch mit. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts werden diese Karussellaufbauten durch technische Objekte (Eisenbahn, Auto etc.) ergänzt und ersetzt, um auch hier den Besuchern die Illusion eines exklusiven Vergnügens zu bieten. Gleiches wiederholt sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als neue Statussymbole (Fahrräder, Autos, Motorräder etc.) aufmontiert werden. Andere Rundfahrgeschäfte beschleunigten das Fahrerlebnis und betten neue Qualitäten in den Fahrablauf ein, wie zum Beispiel die Berg- und Talbahnen. Um 1907 entsteht ein neuer Karusselltypus: das Kettenkarussell oder der Kettenflieger. Vorläufer dieses Karussells bilden vermutlich Hängekarussells, die ähnlich den Bodenkarussells ausgearbeitet sind, nur dass bei diesen die Aufbauten mit Ketten an der drehbaren Decke angebracht werden. Bei den Kettenfliegern wird das Hinausschwingen zum zentralen Fahrmoment erhoben. Eine Neuerung bieten ab den zwanziger Jahren Hochfahrgeschäfte, wie etwa das Zeppelin-Karussell des Schaustellers Hugo Haase, die die Höhe mit in das Erleben einbinden. Ab den sechziger Jahren werden vertikale und horizontale Drehachsen kombiniert, wie bei den Calypso-Karussells und deren ideellem Nachfolger, dem sehr aktuellen, sehr populären „Breakdancer“. Bei diesen Fahrgeschäften sind die Chaisen (die teilweise Autokarosserien zitieren) einzeln auf eine Bodenplatte montiert. Die Gondeln drehen sich dabei um ihre Horizontalachse. Sobald das Karussell in Bewegung gesetzt wird, überlagern sich horizontale und vertikale Drehachsen,
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daraus entstehen unvorhersagbare und intensive Fahrabläufe. Frank Lanfer beschreibt diese folgendermaßen: „Die einfachste Konstruktion ist eine runde, sich drehende Scheibe, die nochmals um einen asymmetrisch gelagerten Schwerpunkt rotiert, entweder in die gleiche oder in die andere Richtung. Daraus entsteht der Reiz der Beschleunigungswechsel, ein Nachlassen und Wiederanziehen der Geschwindigkeiten. Das ist der Reiz bei einem Karussell. Ganz extrem zu erleben beim Breakdancer – obwohl sich auch hier die gesamte Bewegung nur in einer zweidimensionalen Ebene abspielt: Das Hauptpodium geht in die eine Richtung, die Gondelkreuze in die andere, und die einzelnen Gondeln sind asymmetrisch frei drehbar angebracht. Dadurch entstehen extreme Kräfte, wenn man komplett von der einen auf die andere Seite des Fahrgeschäfts geschleudert wird.„ (Lanfer in: Szabo 2006: 138)
In der Geschichte der Karussellformen lässt sich eine ganz klare Linie seit der Industrialisierung angeben. Waren damals Karussells noch betuliche Fahrgeschäfte, die von Menschenkraft angetrieben wurden, beschleunigte sich der Ablauf mit der Einbindung von Dampfmaschinen, der Motorisierung und schlussendlich mit der Elektrifizierung. Die Fahrgeschäfte gewinnen an Geschwindigkeit, immer gewagtere Fahrabläufe, sich überlagernde Figuren und Ornamente kicken den Besucher in eine technisch erzeugte Besinnungslosigkeit, in eine „Ekstase“ im Sinne des ‚Aus-sichHeraustretens’ (vgl. Duden 2001). Wir können an der Genealogie der Fahrgeschäfte auf den Festplätzen ablesen, wie sich der Erlebnisdruck konkret in physikalischen Größen ausdrückt und dass die Kräfte und damit die Belastung des Körpers durch Beschleunigung seit der Erfindung der Fliegenden Bauten, der Thrillrides (Rund-, Hoch- und Hochrundfahrgeschäfte), seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts ständig zugenommen hat. Dabei wird Technik zum Zweck der Körperaufwertung eingesetzt, um einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand herzustellen. Dieser zeichnet sich bei einer Karussellfahrt dadurch aus, dass eine Fahrt von einem Rezipienten als wesentlich „länger“ als von einem Betrachter wahrgenommen wird. Der Fahrgast „verliert“ für einen Moment seine exzentrische Positionalität; Ich und Umwelt amalgamieren für die kurze Zeit des Rides.
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Abbildung 2: Vortex, 2005, Foto: Sacha Szabo Das Irritierende ist nun aber, dass diese Strategien, je intensiver sie sich um den Kairos bemühen, der hier als der Punkt intensiver Vergegenwärtigung gedacht ist, versagen. Der Kairos enteilt umso flinker, je mehr man ihn einzuholen sucht: er verlagert sich in die Zukunft. Konkret bedeutet dies, dass ein Ride schnell an Attraktivität verliert und ständig ein neuer „Kick“ gesucht werden muss (vgl. Caysa 2003: 114 ff.). Diese Sehnsucht nach Vergegenwärtigung nimmt dabei strukturell Formen der Sucht an. Aus der Erlebnissuche wird Erlebnissucht. Betrachtet man einen Festplatz, so fällt schon auf den zweiten Blick auf, dass es sich bei all den Attraktionen um Maschinen handelt, die auf ganz irritierende und verstörende Weise zwar einerseits Strukturen der umgebenden Welt aufgreifen, bemerkenswerterweise diese karnevalesk um- oder besser verkehren. Diese Denkfigur wurde von Michail Bachtin am Beispiel des mittelalterlichen Karnevals entwickelt. Für eine kurze Zeitspanne werden im Karneval die bestehenden Verhältnisse gespiegelt. Das Hohe wird erniedrigt, das Niedere erhöht, das Heilige und das Schreckliche verlacht (vgl. Bachtin 1996: 48-49). Genau dieses karnevaleske Motiv finden wir auf dem Festplatz wieder. Objektiv ist bei der Geisterbahn die ursprünglich sakrale Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit am stärksten präsent, da der Besuch einer Geisterbahn, eines Dark-Rides, eine Art volkstümliche Jenseitsschau darstellt, bei der die Fahrgäste mit tiefsitzenden Ängsten wie Krankheit, Verbrechen und Tod in Gestalt verschiedener bewegter Figuren (Automaten/Animatronics) konfrontiert werden (vgl. Szabo 2006). Genauso spannend sind Attraktionen, die 281
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moderne technische Errungenschaften, welche für die jeweilige Gesellschaftsstruktur konstitutiv sind, verkehren. Denken wir etwa an das Verkehrswesen. Aus der Autofahrt wird das Boxautofahren, bei der die herrschende Prämisse der Unfallvermeidung konsequent in ihr Gegenteil verkehrt wird. Aus der Eisenbahn, deren Funktion darin liegt, Orte miteinander zu verbinden, wird die Achterbahn, die mit Schienen und Waggons die Eisenbahn zwar zitiert, dabei aber mit hoher Energie ständig den gleichen Ort anfährt. Aber die Verkehrungen sind noch elementarer und lassen sich bei allen Attraktionen finden. Denken wir uns eine Autofahrt, so ist der Landschaftsgenuss nur Beiwerk, selten machen wir eine Ausfahrt nur der Landschaft zuliebe. (Genau diese Aufwertung der Landschaft findet beispielsweise in Road-Movies wie etwa „Easy Rider“ statt.) Bei der Betrachtung eines Karussells und dessen Aufbauten sieht man Pferde, Autos, exotische Tiere, Flugzeuge und Motorräder, alles symbolische Fortbewegungsmittel. Paradoxerweise drehen sich diese ständig im Kreis. Was geschieht also bei einer Karussellfahrt? Das Erleben der Fahrt wird auf Dauer gestellt und der flüchtige Moment, der in der Landschaft vorbeifliegt, wird permanent reproduziert. Betrachtet man dies darüber hinaus im historischen Kontext, so wird das exklusive Erleben einer privilegierten Schicht (wie ein Ausritt oder eine Autofahrt) auch Angehörigen weniger betuchter Schichten zugängig gemacht. Was aber, wenn das Grundmotiv dieser Festplätze, das der karnevalesken Verkehrung, nun auf die Attraktionen selbst angewendet würde. Was hieße das? Spontan bietet sich ein sehr amüsantes Gedankenspiel an: ein Karussell (wieder) zu einem Fortbewegungsmittel machen. Ganz so abwegig ist der Gedanke dabei gar nicht, wenn man an die Drehkreuze (Personenvereinzelungsanlagen) in Supermärkten in Analogie zum Drehkarussell denkt. Und tatsächlich finden wir hybride Vorrichtungen, die nicht allein nur dem praktischen Nutzen, sondern gleichermaßen dem Erlebnis dienen. Warum sonst gäbe es gläserne Aufzüge, die an der Außenseite eines Hochhauses angebracht sind und letztlich vergleichbare Erlebnisse erzeugen wie Aussichtstürme in den Freizeitparks? Aber radikalisieren wir die Verkehrung noch. Was geschieht, wenn wir eine Kirmesattraktion genau mit den Mechanismen besetzen, die diese Attraktion auszeichnen? Wenn wir uns also eine Art Meta-Attraktion erdenken? Es müsste überlegt werden, was die Attraktionen auszeichnet, und dann müsste konsequenterweise die Komplementärkonstruktion errichtet werden. Fassen wir einmal die Merkmale 282
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eines Karussells auf einem Festplatz zusammen, so ist dieses Arrangement bunt, laut, schnell und wirkt massiv auf den Körper ein. Was passiert also, wenn wir uns ein Karussell denken, das schlicht, still, langsam ist und den Körper schont? Ein wesentlicher Parameter bei dieser Betrachtung kommt bei modernen Karussells dem Körper zu. Immer rasantere Fahrabläufe beanspruchen den Körper immer intensiver und schreiben ihn über Körpersensationen wie Schwindel und Schmerz in eine Erlebnisgegenwart. Dem Schwindel („Vertigo“) kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Unter „Schwindel“ versteht man eine ‚Irritation des Gleichgewichtssinns’. Das Innenohr als Teil des Gleichgewichtsorgans liegt etwa hinter dem Schläfenknochen. Es gliedert sich in die Schnecke, deren Vorhof und die Bogengänge. Gefüllt ist es mit einer zähen Flüssigkeit, der Endolymphe. Deren Konsistenz ist dafür verantwortlich, dass einem nach intensiven Drehungen weiterhin schwindlig ist. Im Vorhof und den Bogengängen befinden sich zudem kleine Härchen, die über die aktuelle Haltung des Körpers im Raum Auskunft geben. Zudem wird das Gleichgewichtsorgan durch den so genannten Gehörsand beeinflusst, dies sind winzige Calciumcarbonatkristalle, die je nach Lage einen bestimmten Druck ausüben. Eine Karussellfahrt erzeugt demnach Schwindel, da durch die Fahrabläufe das Gleichgewichtsorgan irritiert wird. Da diese Manipulation anscheinend lustvoll besetzt ist – sonst würde niemand freiwillig ein Karussell betreten –, kann man zu Recht von einem Rausch der Reize sprechen. Dies ist aber nur die physiologische Beschreibung, diese korrespondiert wiederum mit psychologischen Vorgängen. Balint entwickelt in seinem 1959 erschienenen Buch eine Theorie des „Thrill“ und übersetzt diesen englischen Begriff mit „Angstlust“ (vgl. Balint 1972: 17, 24-30). Die zentrale Erfahrung ist eine kurzfristige Einheit zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Individuum und Körper oder zugespitzt zwischen Geist und Körper, da der Körper als zentrale Referenzgröße durch intensive physikalische Belastungen aufgewertet und in seine Erlebnisgegenwart (Kairos) „gekickt“ wird. „In einem radikalen Akt der Verdiesseitigung stellen Menschen nicht das Unvermeidliche des Todes in beschleunigter Weise her, sie nobilitieren ihr Leben vielmehr durch Risikoerfahrung, Angstbewältigung und bisweilen auch Todesnähe. Der Versuch, personale Sicherheit und Lebendigkeit jenseits des Alltags zu stiften, geschieht mit einer bemerkenswerten Volte, nämlich durch das sys-
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Kultur des Vergnügens tematische Aufsuchen von potentiell unsicheren oder gar gefährlichen Situationen.“ (Bette 2004: 20)
Dabei werden diese Beanspruchungen immer kürzer und intensiver, nur der nächste Thrillride verspricht, dabei das Gefühl der Vergegenwärtigung einzulösen. Aus traditioneller Sicht der kritischen Theorie kann hier sogleich eingewandt werden, dass selbst das scheinbare Amüsement der Profitmaximierung folgt (vgl. Horkeimer/Adorno 1988: 145). Profitmaximierung bezieht sich hier in erster Linie auf den Faktor Zeit; also Zeitoptimierung durch möglichst intensive Thrills in kurzer Zeit. Diese Verwertung der Zeit führt den einzelnen Fahrgast in eine Situation des Erlebnisstresses: Welche Attraktionen kann ich in welcher Zeit fahren? Genau dies ist die Motivation diverser Erlebnismarathons, über die so häufig in den Medien berichtet wird („Rekord im Dauerachterbahnfahren“). Wir können hier ruhigen Gewissens von Erlebnisstress sprechen. In der Systemtheorie wird Stress dadurch definiert, dass Entscheidungen unter Zeitdruck gefällt werden müssen. Da nicht mehr jede Option zu jedem Zeitpunkt möglich ist, limitiert sich zugleich das Handlungspotential der Individuen, die jetzt von Sachzwängen (die letztlich nicht anderes als Zeitzwänge sind) diktiert werden. Versucht man also eine Art Meta-Kirmes oder ganz konkret ein Meta-Karussell zu denken, so muss dieses als erstes das Axiom der Zeitverknappung thematisieren. Vielleicht weniger bunt, sondern monochrom, vielleicht einen weniger hektischen Fahrablauf und vielleicht auch etwas langsamer; sagen wir, 15 Minuten für eine Runde. Dann entdecken wir in dieser Entschleunigung völlig neue Erlebnisqualitäten. Zeit streckt sich, es dauert alles eine lange Weile. Und man macht die Erfahrung, dass die Zeit langsamer vergeht, wenn man mehr davon hat. Diese Erfahrung kann jeder Zugreisende, der einmal fünf Minuten auf einen Zug gewartet hat, bestätigen. Zeit scheint nicht zu verrinnen und aus Minuten werden gefühlte Stunden.
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Abbildung 3: Carsten Höller: „R B Ride“, 2007, Carsten Höller/VBK, Wien, 2008, Kunsthaus Bregenz, Foto: Markus Tretter Wenn man jetzt dem Fahrgast auf diese Weise Zeit „schenkt“, enthebt man ihn des Entscheidungsstresses und plötzlich ist Raum (und Zeit) für eine ausgiebige Betrachtung der Umwelt. Zeit verrinnt nicht, sondern kondensiert sich. Wir erleben in dieser Situation die Umkehrung des paradoxen Kairos-Axioms. Jetzt, wo wir aufhören, dem geglückten Moment hinterher zu eilen, erleben und vergegenwärtigen wir ihn. Im Akt der Zeitverschwendung gewinnt der Mensch ein knappes Gut: Zeit. Wenn wir also festhalten, dass das Thrillseeking Merkmal der Erlebniskultur in der fortgeschrittenen Moderne ist, dann haben wir es hier mit dem Komplementärvorgang zu tun: nicht mehr mit dem Thrill, sondern, um hier einen neuen Begriff einzuführen, mit dem „Chill“. Der Ausdruck „chillen“ wird als ‚entspannen, rumhängen, nichts tun‘ beschrieben. Chillen kann man zuhause, in der Stadt, in der Natur, alleine oder in Gemeinschaft, Drogen können förderlich sein, aber auch störend, es hängt ganz vom Set und dem Setting ab. Eines zeichnet das Chillen aber elementar aus: Es ist unproduktiv. Chillen ist ein Protest und ein Ausstieg aus der Verwertungslogik. Was geschieht aber, wenn wir diesen Vorgang industrialisieren? Wir denken uns einmal eine Maschine, in der wir eingebunden sind, aus der wir nicht jederzeit aussteigen können, die keine Anforde285
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rungen an uns stellt und auch keine Herausforderung, die uns zwingt zu chillen, die uns nicht „hochpitcht“, sondern „relaxed“. Rufen wir uns nochmals die Theorie der veränderten Bewusstseinszustände in Erinnerung. Es gibt neben den exturbatischen Techniken, die eine Reizüberflutung bewirken, auch die imperturbatischen Techniken, die über eine Reizverringerung ihre Wirkung entfaltet. Das traditionelle spirituelle Verfahren ist die Meditation. Wird diese Form des kontemplativen In-sich-Versenkens technisiert, haben wir eine neue Maschine erdacht: Den Chillride. Ein Chillride entschleunigt und macht auf diese Weise den Kairos erlebbar. Zwar verhält sich dieser Chillride komplementär zu konventionellen Thrillrides (Achterbahn, Hochfahrgeschäft etc.), repräsentiert aber viel adäquater den karnevalesken Charakter, der ursprünglich diesen Volksfestattraktionen innewohnte. Und er macht, wie die Pferde- oder Autokarussells vor hundert Jahren, Luxusgüter erlebbar – und was ist heute exklusiver als Zeit zu haben?
Quellen Bachtin, Michail (1996): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M.: Fischer. Balint, Michael (1972): Angstlust und Regression. Beitrag zur psychologischen Typenlehre. Hamburg: Rowohlt. Bette, Karl-Heinrich (2004): X-treme. Zur Soziologie des Abenteuer und Risikosports. Bielefeld: Transcript. Caysa, Volker (2003): Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports. Frankfurt a. M.: Campus. Cousto, Hans (1998): Drogeninduzierte und andere außergewöhnliche Bewusstseinszustände. Ein Bericht über Sucht und Sehnsucht, Transzendenz, Ich-Erfahrungen und außergewöhnliche Bewusstseinszustände, Eve+Rave, Solothurn (http://www.everave.net/abfahrer/ kultur.sp?text=3). Dering, Florian (1986): Volksbelustigungen. Nördlingen: Delphi. Duden (2001): Universalwörterbuch. Mannheim: Duden. Horkeimer, Max/Adorno, Theodor W. (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer . Koepke, Herrmann (1999): Das neunte Lebensjahr. Seine Bedeutung in der Entwicklung des Kindes. Dornach: Verlag am Goetheanum. Lanfer, Frank (1998): Hundert Jahre Achterbahn. o. O.: Gemi.
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Plessner, Helmuth (1975): Die Stufen des Organischen und des Menschen. Berlin: deGruyter. Szabo, Sacha (2006): Rausch und Rummel. Bielefeld: Transcript. Virilio, Paul (1978): Fahren, fahren, fahren... Berlin: Merve. Virilio, Paul (1999): Fluchtgeschwindigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer. Virilio, Paul (1993): Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin: Merve.
Sonstiges Jürgen Marcus (1975): Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell, Telefunken, 6.11721.
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Carsten Höller: „R B Ride, 2007“, Carsten Höller/VBK, Wien, 2008, Kunsthaus Bregenz, Foto: Markus Tretter Abbildung 2: Vortex, 2005, Foto: Sacha Szabo Abbildung 3: Carsten Höller: „R B Ride“, 2007, Carsten Höller/VBK, Wien, 2008, Kunsthaus Bregenz, Foto: Markus Tretter
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Vergnügungsparks im Film DENNIS JANZEN „In place of a hermeneutics we need an erotics of art“. (Sontag 1964: 14)
Mit diesem letzten von zehn Punkten hat Susan Sontag in ihrem vieldiskutierten Essay Against Interpretation eine Forderung gegen die Suche nach in künstlerischen Texten enthaltenen Bedeutungen zugespitzt (Iser 1975: 228). Wenn wir uns mit Vergnügungsparks und deren Attraktionen beschäftigen, muss das in besonderem Maße zutreffen: Selten gelingt es uns, für die Phänomene einen eindeutigen Bedeutungszusammenhang zu formulieren, ohne allzu forciert zu wirken. Dies liegt am Objekt selbst; das Außeralltägliche, Unterhaltende widersetzt sich mit gutem Grund unserem Begriffsinstrumentarium. Auch wenn Vergnügungsobjekte filmisch-symbolsprachlich auftreten: Es wird sich keine gesicherte Bedeutungsanalyse einstellen lassen, vielmehr die sinnliche Freude (d.i. Erotik) an der Betrachtung unterschiedlicher Darstellungsmodi verschiedener Objekte. Die sinnliche Erfahrung ist es, die uns während der Karussell-Szene in Hitchcocks Strangers on a train (1951) erst in den Schwindel der Geschehnisse hineinzieht oder die postmodernhyperreale Ver(w)irrung von Sandra Bullocks Rolle in Irwin Winklers The Net (1995) während des Versteckspiels auf dem Rummelplatz erleben lässt. Dennoch wird im Folgenden versucht, die Darstellung von einzelnen Vergnügungspark-Elementen bis hin zum Themenpark an sich mit einem analytischen Blick zu betrachten. Was wir hier finden werden sind gruselige Geisterbahnen, spannende Achterbahnfahrten, riesige Dinosaurier, merkwürdige Somnambulisten und vieles mehr!
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Rides im Film und Ridefilms Anne Paechs und Joachim Paechs Buch Menschen im Kino benennt im Inhaltsverzeichnis sein erstes Kapitel mit „Jahrmarktkino und Der erste Kinobesuch“ (vgl. Paech, Paech 2000). Dieser Titel hat es nicht in den Haupttext geschafft: Hier wird das erste Kapitel nur mit „Kinematographen“ überschrieben. Dennoch beginnt Paechs und Paechs Kinogeschichte mit einer Erzählung über Jacques Tatis Film Jour de Fête (1947) (vgl. ebd.: 1): Die Filmgeschichte beginnt auf dem Rummelplatz1. Die Schausteller nahmen die Attraktion „Cinématographe“ begeistert in ihr Programm auf, stellte sie doch eine fantastische Neuerung und Ergänzung zu den so beliebten Schaukästen, Panoptikums und Panoramen dar (vgl. Paech 1988: 76 ff.). Da die Filme damals noch vom Schaubudenbetreiber gekauft werden mussten und nicht durch ein Verleihsystem zirkulierten, „waren die Kinematographen-Veranstalter gezwungen, sich für dieselben Filme immer wieder ein neues Publikum zu suchen“ (Paech; Paech 2000: 10) und zogen somit „von einem Jahrmarkt zur nächsten Kirmes“ (ebd.) und weiter zum nächsten Vergnügungsort. Uwe Geese hebt in seiner Jahrmarks-Kulturgeschichte hervor, dass der Film von seinem Veranstaltungsort auch sein Thema adaptierte: „Die Produktion dieser Filme war weitgehend bestimmt von der Kuriosität des Kinematographen als technische Neuheit. Daher war der Jahrmarkt nicht nur der Ort des neuen Mediums, sondern auch sein Inhalt.“ (Geese 1981: 50) Oder, wie Geese Hartmut Bitomsky zitiert: „Historisch 1
Ich habe die vielfältigen Verknüpfungen von Kino- und Vergnügungsparkgeschichte an anderer Stelle dokumentiert: Janzen, Dennis (2009): Vergnügungsparks
und
Kinofilme.
http://cyberpunkcrisis.wordpress.com/
2009/03/ 09/vergnugungsparks-und-kinofilme/ (Stand der Abfrage: 11.05. 2009). Empfohlen seien hier auch die Beiträge in der Encyclopedia of Early Cinema: Toulmin, Vanessa (2005): fairs/fairgrounds: Europe. In: Abel, Richard (Hrsg.) (2005): Encyclopedia of Early Cinema. London: Routledge, S. 226-228. Und Rabinovitz, Lauren (2005): amusement parks. In: Abel, Richard (Hrsg.) (2005): Encyclopedia of Early Cinema. London: Routledge, S. 21-23. Auf die frühe Kinogeschichte in Deutschland und deren Bedingung durch das Jahrmarkt- und Wanderkino geht vor allem Joseph Garncarz ein. Siehe
Garncarz,
Joseph
(2005):
Film
im
Wanderkino.
In:
Jung,
Uli/Loiperdinger, Martin: Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Band 1, Kaiserreich 1895-1918. Stuttgart: Reclam, S.101-107, und Garncarz, Joseph (2002): Über die Entstehung der Kinos in Deutschland 1896-1914. In: KINtop 11. Kinematographen-Programme, S. 144-158.
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Vergnügungsparks im Film
müsste man sagen: das Kino war anfangs auf dem Jahrmarkt zu Hause und übernahm die Stoffe der Schausteller und deren Darbietungsweise.“ (Bitomsky 1976: 50). Der Film kopierte also die vorfilmische Realität seines Veranstaltungsortes und ersetzte die Attraktionen des Jahrmarktes (Akrobatik, Menagerie, Zauberei etc.) „mit seiner eigenen technischen Attraktion“ (Paech, Paech 2000: 11). Diese frühen Filme sind heute zum größten Teil verloren2, doch die Faszination des Jahrmarktes ist als Motiv in einigen der damaligen Spielfilme zu entdecken. Das berühmteste Beispiel dafür ist wohl Robert Wienes Das Kabinett des Dr. Caligari (1920), der das Jahrmarkttreiben als verstörend expressionistischen Ausgangspunkt seiner Handlung um Dr. Caligari und seinen Somnambulisten Cesare zeigt. In Robert Wienes Film entspinnt sich die Handlung vom Schaustellertreiben eines Rummelplatzes aus. Der Film konnte sich durch diesen Handlungsort die Konditionen des Rummelplatzes zu eigen machen. Ebenso wie die Schaubuden des Rummelplatzes spricht der Film den Gesichtssinn der Besucher an, ähnelt in der Rezeptionssituation also den wohlig-schaurigen „Abnormitätenschauen“ des Festplatzes, deren bekannte Atmosphäre er zudem durch die gestalterischen Mittel des expressionistischen Kinos abbildet und überzeichnet. Der Rummelplatz, auf dem Dr. Caligari seine Schaubude hat, scheint gleichwohl mit dem Film selbst verknüpft zu sein: Die Kamerablende zeigt zunächst nur den eifrig kurbelnden Leierkastenmann und die schwungvoll kreisende Spitze eines Karussells im Hintergrund. Durch die langsame Öffnung der Irisblende wird die Illusion hervorgerufen, der Leierkastenmann treibe gleichfalls das (filmische) Karussell wie den (weltlichen) Filmapparat an, der die Szene auf der Leinwand illuminiert. Ganz nach dem Schuss-Gegenschuss-Muster montiert ist die Szene in Caligaris Kabinett: Caligari präsentiert auf der Bühne seinen Somnambulisten, während die Kamera immer wieder die Köpfe der 2
Eine schöne Sammlung bietet aber die Doppel-DVD Crazy Cinématographe. Europäisches Jahrmarktkino 1896-1916. Hg. von der Cinémathèque de la ville de Luxembourg und der Medienwissenschaft der Universität Trier. Edition Filmmuseum Nr. 18, 2007.
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Kultur des Vergnügens
Zuschauer zeigt, die sonst fast im Dunkeln sitzen – eine Situation, wie sie den Zuschauern des Films sehr ähnlich der ihren vorkommen muss. Der Rummelplatz selbst erscheint im Film nicht anders als der Rest der dargestellten Stadt auch. Man sieht eine wirre Architektur mit spitzen Winkeln und krummen Wänden. Verständlich, steht am Ende des Films doch die Auflösung des Gesehenen als Vorstellungswelt eines Verrückten. In der Psyche des Irren sind Rummelplatz und Lebenswelt architektonisch kaum voneinander zu unterscheiden – die Kuriositäten und Abnormitäten dieser Gegenwelt haben sich ununterscheidbar vom wirklichen Leben gemacht. Gerade im Horrorfilmgenre sind Vergnügungsorte ein beliebter Topos: Das unbeschwerte Vergnügen des Rummelplatzes oder Parks funktioniert ja nach dem Prinzip eines gefahrlosen Nervenkitzels. Im Kontext des Vergnügungsortes blicken wir der Gefahr ins Angesicht – sei es den Abnormitäten in den Schaubuden, der atemberaubenden Abfahrt der Achterbahn oder dem Grusel der Geisterbahnen – „jedoch stets im Wissen um die eigene Sicherheit in einem vor allem Ernst geschützten Raum“ (Schirrmeister 2002: 162). Der common sense bestätigt, dass wir gerade auf Unfallmeldungen aus dem „geschützten Raum“ des Vergnügungsparks schockierter reagieren als auf ähnliche Meldungen aus unserer Alltagswelt. Der Horrorfilm macht sich diese Konditionierung unserer Wahrnehmung von Vergnügungsorten zunutze und verdreht die Sicherheitssituation: Der ausgestellte Somnambulist in Caligaris Kabinett ist wirklich gefährlich und seine Vorhersagen treten wirklich – d.h. außerhalb des Rummelplatzes in der Alltagslebenswelt – ein, eine Achterbahnfahrt endet in einer Katastrophe (Final Destination 3, 2006) oder die Animatronics machen plötzlich Jagd auf die Besucher (Westworld, 1973). Ein schönes Muster für das Spiel mit der Konditionierung auf den „gefahrlosen Nervenkitzel“ und die Einbindung kinotypischer Apparaturen in den Themenparkkontext bietet die Neuverfilmung von House on Haunted Hill (1999). Steven Price ist ein Vergnügungsparkunternehmer, der zu Beginn der Filmhandlung eine brandneue Achterbahn3 – mit dem beschreibenden Namen Terror Incognita – der Presse vorstellt. Premierengast ist eine gelangweilte Reporterin, die die Attraktion als „just another generic rollercoaster“ abtut. Zusammen betreten sie einen Fahrstuhl mit transparenten Wänden,
3
Hierbei handelt es sich vorfilmisch um The Incredible Hulk Coaster aus dem Universal Studios Park Islands of Adventure, Florida.
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Vergnügungsparks im Film
Decke und Boden, der sie zur Startrampe der Achterbahn bringen soll. Auf halbem Weg beginnt das Metall des Fahrstuhlturms zu ächzen und zu stöhnen und plötzlich stürzt die Kabine 20 Stockwerke dem Boden entgegen. Die Langeweile der Reporterin ist verständlicherweise wie weggeblasen und als die Kabine schließlich auf dem Boden aufprallt erscheint auf dem Kabinenboden ein freundlich grinsender Totenschädel als das Logo der Achterbahn: Der vermeintliche Ausblick aus der Fahrstuhlkabine war nur eine versiert eingesetzte Filmprojektion. Der Film beginnt also ganz anders, als es für den Zuschauer zu erwarten gewesen wäre. Man sieht kein Geisterhaus, keine gruselige Musik setzt ein. Stattdessen eröffnet die von hellem Sonnenschein erleuchtete Szenerie eines Vergnügungsparks den Horrorschocker – eine Szenerie, die dem jungen Zielpublikum als Ort des Nervenkitzels wohlbekannt ist. Der Blickpunkt des Publikums wird durch die Reporterin subjektiviert: Schon wieder eine dieser altbekannten Achterbahnen! Sie beide sollen Recht behalten, denn der wahre Thrill4 dieses rides geht nicht von einer kinetischen Sensation aus, sondern findet prinzipiell betrachtet in einem Kinosaal durch Filmprojektionen statt, auch wenn dieser Kinosaal lediglich die Ausmaße eines Fahrstuhls hat. Die Reporterin ist der Erfahrung eines ridefilms aufgesessen, einer Apparatur, die die körperliche Erfahrung einer Fahrt mit dem visuellen Erlebnis der Filmvorführung verknüpft und deren Geschichte sich bis 1904 zurückverfolgen lässt (vgl. Rabinovitz 2005: 293 f.). Durch das Zeigen einer solchen FilmApparatur im Film eröffnet sich ein grundsätzlicher Diskurs: Die traditionelle Theorie geht davon aus, dass der Zuschauer selbst passiv ist und durch den Blick auf die Leinwand eine „dematerializing, out-of-body experience“ (vgl. Rabinovitz 1998: 136) erlebt. Im Gegensatz dazu versucht der ridefilm – auch unterstützt durch hydraulisches „Ruckeln“, künstlichen Fahrtwind etc. – die Kinoerfahrung wieder im Körper zu verankern und die Illusion einer tatsächlichen Reise/Bewegung zu erzeugen (ebd., passim). Hier schließt sich das Genre von House on Haunted Hill an: Der Horrorfilm setzt ebenso wie der ride im Vergnügungspark auf eine körper-
4
Die Theorie des Thrills (zu Deutsch: Angstlust) verdanken wir Michael Balint (1972): Angstlust und Regression. Beitrag zur psychologischen Typenlehre. Hamburg: Rowohlt. Für die Analyse von Fahrgeschäften pointiert nutzbar gemacht wurde der Begriff zuletzt von Sacha Szabo (2006): Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte. Bielefeld: transcript S. 167 ff.
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liche Erfahrung, die der forcierte thrill mit Anspannung oder Angstschweiß erzeugt5. Diese Kopplung des Films an eine kinetischkörperliche Sensation nutzte bereits James Goldstone in Achterbahn (1977)6. Ein junger Mann erpresst Vergnügungsparkunternehmer mit selbst gebauten Bomben auf ihren Achterbahnen, was zumindest in der Exposition zu einem verheerenden Unglück führt. Obwohl die Katastrophe in drastischer Form gezeigt wird, bindet der Film seine Zuschauer wesentlich effektiver als durch bloße Schaulust ein: Nachdem der Zuschauer durch die Verfolgung mehrerer Pärchen7 in der Warteschlange sozialisiert wurde und eine passende Identifikationsfigur zur Mitfahrt gefunden hat, wechselt der Film mit dem Einstieg in die Bahn die Perspektive. In einer erste-PersonSicht blickt der gesamte Kinosaal nun auf die Achterbahnstrecke und wird so selbst zur Gondel umfunktioniert – das klassische Dispositiv des ridefilms. Der Zuschauer wird so selbst zum innerfilmischen Objekt und entsprechend korrespondiert seine Körperwahrnehmung mit dem visuellen Filmerlebnis: „It’s like being inside, not just at, the movies.“ (Rabinovitz 1998: 148). Dass Vergnügungsparkrides im Film noch wesentlich mehr können, als nur Thrills darzustellen, zeigt Brad Andersons symbolträchtiger Film The Machinist (2004). Christian Bale spielt hier den seit einem Jahr schlaflosen und krankhaft abgemagerten Trevor Reznik, der sich zwanghaft die Hände mit Bleiche wäscht, sich selbst Post-itZettel hinterlässt und zudem von einem mysteriösen Fremden heimgesucht wird, durch dessen Schuld Reznik einen folgenschweren Arbeitsunfall auslöst. Zum Ende des Films offenbart sich, dass der Fremde die Personifikation seines verdrängten Schuldbewusstseins ist, hat Reznik doch vor einem Jahr einen Jungen durch einen Verkehrsunfall getötet und Fahrerflucht begangen. Der Film zeigt Rezniks gestörte Wahrnehmung der Wirklichkeit, in der sich ständig wiederholende Zeichen und Symbole auf das Verdrängte aufmerksam machen wollen. Diese Zeichen kulminieren auf halbem Weg durch den Film in einem Rummelplatzbesuch, wo eine Geisterbahnfahrt zum komplexen Psychogramm des Protagonisten wird. Der
5
Auch in anderen Genres, vor allem natürlich der Pornographie, muss eine
6
Von Sacha Szabo kommt der Hinweis, dass dieser Film mit verantwortlich
rein visuelle, d.h. unkörperliche Erfahrung ausgeschlossen werden. für Coaster-Mania der frühen Achtziger Jahre war. Siehe auch Szabo 2006, S. 166. 7
Ausgesucht nach vielen möglichen Identifikationsschemata (jung, alt, männlich, weiblich, weiß, farbig).
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Vergnügungsparks im Film
Darkride „Route 666“ führt den Maschinisten durch ein grotesk verzerrtes Abbild seines eigenen Lebens, vorbei an den ausgemergelten Körpern in der Wüste Verirrter, an einem Kuchenstand – Kuchen ist seit dem Unfall sein einziges Nahrungsmittel – und an einem Indianer, der einen abgerissenen Arm präsentiert: Eben jenen Arm, den sein Arbeitskollege Miller durch Rezniks Schuld verlor. Die Geisterbahn führt ihn immer tiefer in sein Schuldbewusstsein, zeigt ihm Bilder einer trauernden Frau an einem Kindergrab und einen Erhängten, der dasselbe Arbeiterhemd trägt wie Reznik und dessen Galgen mit einem Schild versehen ist, das deutlich das Wort „Guilty“ zeigt. Die Szenerie ändert sich zu einem Rotlichtviertel – eine Erinnerung an die Prostituierte Stevie, Rezniks einzigen Ruhehafen – und er beginnt sich wieder zu entspannen, als plötzlich ein Zusammenstoß des Geisterbahnwagens mit einem spielenden Kind simuliert wird. Dies ist allerdings nur ein kurzer Schock, der Wagen fährt unermüdlich weiter, an der blutigen Leiche eines Unfallopfers vorbei durch eine Tür, hinter der sich eine Weggabelung auftut: rechts in die „Road to Salvation“, links auf den „Highway to Hell“. Unausweichlich rollt der Wagen nach links. Die Geisterbahnfahrt fasst so die Handlung des Films zusammen und lässt es zu, das Ende bereits zu kennen – wenn man nur die Zeichen richtig deutet. Sacha Szabo bezeichnet die Geisterbahn als Höllenfahrt, „die sich durch Unkontrollierbarkeit, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit auszeichnet“ und das „Ausgeliefertsein des Individuums in einem vereinnahmenden Diskurs“ thematisiert (Szabo 2006: 94 f.). Die Szene spricht hier natürlich auch die von Szabo erwähnte „Angst vor einer gesellschaftlichen Strafe“ (ebd.: 95) an. Während eine echte Geisterbahn allerdings ihre Wirklichkeit dem Besucher durch die Erzeugung einer Stresssituation geradezu aufzwingt (ebd.: 94), produziert sich die filmisch-imaginäre Geisterbahnfahrt aus der unterbewussten Realität des Protagonisten und wird so zu seiner eigenen Metapher, die – qua räumlicher Kontiguität – als Metonymie auszuweisen ist und somit kausal von ihm abhängig scheint8. Da auch der Zuschauer mit Reznik in dessen Geistes-Geisterbahn einfährt, kann man sagen, dass beide hier geradezu körperlich an dessen Innenleben partizipieren. Um eine Pointe
8
Ein Gedankengang, der kurioserweise einem Absatz über Stephan Lochners „Madonna im Paradiesgärtlein“ aus Marius Rimmeles Konstanzer Dissertation (2008): „Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. Zur Semantisierung eines Bildträgers im Spätmittelalter“, S. 235 ff., folgt bzw. von diesem inspiriert ist.
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leicht abgewandelt zu wiederholen: „It’s like looking inside, not just at, the character.“ Die kathartische Wirkung der Geisterbahn, die sich hier auch im klassischen Sinne auf eine Vanitas-Thematik und damit auf die Sterblichkeit des Besuchers9 bezieht, kann so ihre Wirkung am stärksten entfalten: Statt eines Berichts über den Unfall Rezniks wird dieser in symbolischer Form nachgeahmt, was im besten Falle Schaudern (phobos) hervorruft und dadurch reinigend wirkt10. Im Falle von The Machinist führt die Geisterbahn dem Protagonisten erstmals deutlich und buchstäblich sein Verbrechen und seine Schuld vor Augen – sie motiviert die abschließende Katharsis, die mit tiefem Schlaf belohnt wird. Neben psychogrammatischer und kathartischer Wirkung ist den Darkrides aber vor allem eines eingeschrieben, was die Disneyländer seit jeher zu unterdrücken suchen: eine latent körperliche, sexualisierte Grundstimmung. In der Geisterbahn erfährt der Besucher eine Stresssituation, die durch Lichteffekte, Geräusche und Bewegung motiviert wird. Die Symptome von Schreckmomenten wie Ausrufen und Herzklopfen führen zu einer Aufwertung des Körpergefühls, was mit der „erotischen Grundstimmung“ (Szabo 2006: 94) des Rummelplatzes kollidiert und ein Zusammenrücken der Fahrenden begünstigt. Oder, wie es der Attraktionshersteller Franz Mack darlegt: „Wenn die Geister kommen, kann der junge Mann zu seiner Gefährtin, die bei ihm Schutz sucht, rüberlangen.“ (ebd.: 93). In Jean-Pierre Jeunets Film Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (2001) ermöglicht diese Darstellung der Geisterbahn eine erste körperliche Annäherung zwischen der schüchternen Protagonisten Amélie und Nino, in den sie sich verliebt hat. Neben seiner Tätigkeit in einem Pornoladen arbeitet dieser nämlich als Erschrecker in der Geisterbahn, verkleidet als Skelett. Obwohl – oder gerade weil – sein Gesicht unter einer Maske versteckt ist, kommt es in der in freundlichen Grün-, Gelb- und Rottönen gehaltenen Geisterbahn zu einer zärtlichen Begegnung zwischen ihm und Amélie. Wie in The Machi-
9
Szabo 2006, S. 95 f. Die kathartische Wirkung eines gruseligen oder schockierenden Darkrides wird auch gerne eingesetzt um einen Drogenentzug zu visualisieren, beispielsweise im Crossover-Zeichentrickfilm Cartoon AllStars to the Rescue (1990), in dem der drogenabhängige Michael von unzähligen Cartoonfiguren wie Alf, Garfield und Bugs Bunny durch den verrückt gewordenen Themenpark seines eigenen Gehirns gejagt wird.
10
Vgl. Aristoteles: Poetik Kap. 6, 1449b 24 ff.
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nist ermöglicht die Geisterbahn eine Intimität und Vorausschau auf Dinge, die in der Lebenswelt der Besucher so noch nicht gesehen und empfunden werden können.
Disneys dunkle Seite Nachdem hier die filmische Verwendung und (narrativ-filmisch)kult-urelle Implikationen einzelner Fahrgeschäfte besprochen wurden, möchte ich im Folgenden den Blickwinkel erweitern und auf den heute oft anzutreffenden Zusammenschluss dieser Attraktionen, verbunden in einer thematisch eingekleideten Landschaft, eingehen: den Themenpark11. Als ein Lieblingsobjekt der Kulturindustriekritik ist er (allen anderen Ausprägungen voran natürlich Disneyland) ein vielbesprochener Gegenstand verschiedenster Fachbereiche12. Hier soll es um ein herausragendes Beispiel gehen, dass sich explizit in die Park-Thematik versetzt. 1993 verfilmt Steven Spielberg Jurassic Park von Michael Crichton. Crichtons zweite Themenpark-Fiktion (nach Westworld) handelt von einem Themenpark auf einer Pazifikinsel, in dem der Milliardär John Hammond echte Dinosaurier – geklont aus Genmaterial, das in Bernstein eingeschlossenen Stechmücken entnommen wird – als Attraktion ausstellen will. Nach dem Tod eines Mitarbeiters fordern Hammonds Investoren eine Überprüfung des Parks durch Spezialisten, die Hammond in Form der Paläontologen Alan Grant, Ellie Sattler und des Chaos-Mathematikers Ian Malcolm rekrutiert. Auch seine Enkelkinder Lex und Tim lädt Hammond zum Probelauf seines Parks ein. Wie von Malcolm prophezeit, bricht während der Tour ein Chaos im Park aus, ausgelöst durch Manipulationen des
11
Sacha Szabo begründet den Themenpark als chronologisch zwingenden, aber entzauberten, weil kulturindustriell ausgeformten Aggregatszustand (meine Formulierung) der Kirmes. Szabo 2006, S. 48.
12
„More recently, there has been a boom in ‘Disney Studies,’ as numerous scholars have directed attention to the phenomenon and joined in ‘the fashionable sport of Disney bashing.’ Analysis has featured rhetorical, literary, feminist, and psychoanalytic critiques, stressing social issues, such as race and gender representation. Anthropologists, architects, historians and geographers are also seriously discussing the impact of Disney’s worlds (especially the theme parks), considering their aesthetic, cultural and social implications.” Wasko, Janet (2001): Understanding Disney. The Manufacture of Fantasy. Malden, MA: Blackwell, S. 4., soll hier auch als Verweis mit umfangreichem Literaturapparat genügen.
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Parkmitarbeiters Dennis Nedry, der die Sicherheitssysteme außer Funktion setzt, um Dinosaurier-Embryos zu stehlen. Die Dinosaurier brechen aus ihren Gehegen aus und machen Jagd auf die Besucher, während über der Insel ein Tropensturm tobt. Michael Crichton sagt in einem Interview zum Film, dass es ihm wichtig war, „the dark side of Disney“13 zu zeigen. Im Folgenden wird der Film auf seinen Umgang mit dem Topos „Themenpark“ untersucht. Die Untersuchung gliedert sich unter den Leitoperatoren „Themeing“, „Sexualität“ und „Kontrolle/Macht /Realität“14.
THEMEING Bereits der Weg in den Jurassic Park trennt ihn sauber von der Alltagswelt der Besucher ab: Die Insel ist nur durch spezielle Luftoder Wasserfahrzeuge (in diesem Fall ein Helikopter) zu erreichen, wodurch ein Übergangsritus (Schirrmeister 2002: 185; Legnaro, Birenheide 2005: 179) initiiert wird, der die Besucher durch einen ersten ride – denn die Landung ist wegen der Aufwärtswinde etwas holprig – an ihre neue Umgebung anbindet und zeitgleich ihre alltagsweltliche Umwelt verschwinden lässt. Ebenso hält es Walt Disney World, Florida: Die Besucher werden mit einer der typischen Disney-Scenic-Railways (die ja konsequent filmisches Sehen vermittelt (Paech 1985: 40-49)) in die Mitte des Parks transportiert, wo die Entdeckungstour vollkommen abgeschirmt von der Außenwelt erst losgehen kann. Spätestens jetzt – die Eröffnungsszene mit den Park-Mitarbeitern einmal ausgenommen – wird das Jurassic Park-Logo deutlich inszeniert. Mit einer Kameraeinstellung auf die Tür des die Besucher abholenden Jeeps wird das bekannte Logo mit dem TyrannosaurusSkelett auf rotem Grund bildfüllend gezeigt, wohlwissend, dass dieses Logo auch auf dem Filmplakat (und auf den unzähligen Merchandise-Produkten) zu sehen sein wird. Später sehen wir eine große Anhäufung an Merchandise im Park-Shop/-Restaurant, da-
13
Jenseits von Jurassic Park. Interviews mit Autor Michael Crichton (2001).
14
Das Jurassic Park-Argument könnte noch wesentlich weitgreifender ausgeführt werden. Verwiesen sei hier zusätzlich auf den Aufsatz O’Neill, John (1996): Dinosaurs-R-Us. The (Un)Natural History of Jurassic Park. In: Cohen, Jeffery Jerome (Hrsg.): Monster Theory. Reading Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 292-308, und das sehr interessante Kapitel über Jurassic Park in Brereton, Pat (2004): Hollywood Utopia: Ecology in Contemporary American Cinema. Bristol: Intellect, S. 69-89.
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runter neben T-Shirts und Spielzeugdinosauriern auch das Buch „The Making of Jurassic Park“ von Don Shay und Jody Duncan, die (auch) in der außerfilmischen Realität ein Buch desselben Namens geschrieben haben. Dieses außerfilmische Buch behandelt allerdings nicht die genetischen Grundlagen des Dinosauriermachens, sondern die Produktion von CGI-Modellen der Dinosaurier und Interviews mit dem Regisseur Spielberg. Jurassic Park durchbricht somit seinen filmischen Rahmen und entlässt sein Themeing in die wirkliche Welt. So kann man sich einerseits nach dem Besuch im Kino ein Andenken kaufen, das den Kinobesuch zum tatsächlichen Parkbesuch hochsimuliert und andererseits vermischen sich außerfilmische und filmische Realität zu einem Spiel, in dem die Selbstreflexion ihre Referenz verliert, wenn die Grenzen unklar werden und sich verschieben (Cholodenko 1997: 68). Das Making-of-Buch ist ganz klar dasjenige, das auch in unserer Welt existiert; deshalb müssten die Protagonisten des Films nur darin lesen, um zu bemerken, dass sie lediglich vor CGI-Animationen davonlaufen. Man muss allerdings bemerken, dass diese kurze Aufnahme des Buches die einzige Stelle ist, an der ein solcher Bruch zwischen außerfilmischer und filmischer Realität zu finden ist. Das Themeing des Urzeitparks zeigt sich des Weiteren schwer von filmischen Vorbildern inspiriert. Zwischenzeitlich sind Hammonds Gäste im Besucherzentrum des Parks angekommen, dessen Eingangshalle von einem Tyrannosaurus-Skelett dominiert wird, über dem ein Banner mit der Aufschrift „When Dinosaurs ruled the Earth“ hängt. Eine klare Reminiszenz an den gleichnamigen Film von 1970. Auch der Eingang des ersten und bisher einzigen Parkrides wird durch ein doppelflügeliges, gigantisches Holztor markiert, das demjenigen aus King Kong (1933) ähnelt, das den Riesenaffen verbirgt. So wird auch treffend von Ian Malcolm bemerkt: „What have they got in there, King Kong?“ Jurassic Park ist also vornehmlich ein Filmpark, der sich wie beispielsweise der (real-weltliche) Universal Studios Park mit Zitaten aus vergangenen Filmen schmückt. Diese Vermutung reicht noch weiter, sieht man sich die Spezifika bzw. die Anordnung (Paech 1985: 41) des rides an. Die Parkbesucher durchfahren den ride in Ford-Geländewagen, die – gleich einer Eisenbahn oder der klassischen Geisterbahn – auf Schienen durch das Gelände gelenkt werden. Dabei können die Gäste lediglich das beobachten, was ihnen durch die Scheiben oder das gläserne Dach vorgeführt wird. Der Ton zum Bild kommt über Lautsprecher in den Wagen. Die Jurassic 299
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Park-Besucher werden damit in dieselbe Position wie das Kinopublikum gerückt: „In der Tat hat die An-Ordnung [des rides] vieles mit der An-Ordnung Kino gemeinsam. So wird der Reisende im Abteil zum Zuschauer (s)einer Bewegung, die er nur getrennt von sich, der bewegungslos ist, visuell wahrnehmen kann, da sie sich nur dem Blick aus dem Abteilfenster mitteilt. Der Zuschauer seiner eigenen Fortbewegung am Abteilfenster findet sich bewegungslos bewegt – und das gleiche gilt für einen Kinozuschauer, der einen Film sieht.“ (ebd.: 42)
SEXUALITÄT Ein bekannter Vorwurf, der den Disneyländern immer wieder gemacht wird und in der Literatur prominent vertreten ist, bezieht sich auf die Ausklammerung jeglicher Sexualität aus den Themenparks. Gehört Sexualität auf den Jahrmärkten und Rummelplätzen zur Grundstimmung (Szabo 2006: 94) – man denke nur an den Liebestester, den Stier, den es an den Hörnern zu packen gilt oder an Hau-den-Lukas – wird Erotik und Sexualität in Disneyland auf zwei Arten ausgeschlossen. Einerseits kann die Asexualität seiner Einwohner als Leitbild für den gesamten Parkbetrieb gelten: „Mickey – hairless, sexless and harmless – is a summary: as Disney once put it, ‚Mickey is a clean mouse.’“ (Sorkin 1997: 223). Dieses saubere Image gilt es unter allen Umständen zu pflegen (Szabo 2006: 39; Schirrmeister 2002: 182). Legnaro und Birenheide sprechen von einer „Inszenierung, die jegliche Erotisierung oder gar Sexualisierung strikt vermeidet (in der Werbung, in der Darstellung, im Warenangebot und auch im Angebot an Vergnügungen – nichts findet sich hier, was an die lasziven Doppeldeutigkeiten einer Kirmes oder deren Arrangements, Intimitätsgrenzen aufzubrechen, auch nur von weitem erinnert)“ (Legnaro, Birenheide 2005: 228). Andererseits und als Alternative bieten die Disneyparks eine moralisch einwandfreie, kontrollierbare Beziehungsform an: die Kleinfamilie. „Die Kleinfamilie ist, wie man oft kritisch angemerkt hat, die Zielgruppe von Disneyland, sie erscheint hier als die primäre Lebensform überhaupt, und jegliche Bedarfs- und Unterhaltungsstruktur stellt sie in den Mittelpunkt. Individualismus findet hier im kleinen Kollektiv statt, […], das die Vielfalt gesellschaftlicher Lebenskonstellationen reduziert auf ein tradiertes Element sozialer Übersichtlichkeit.“ (ebd.)
Jurassic Park bietet uns Lesarten für diese beiden Formen kontrollierter Sexualität an. Betrachten wir zunächst die Attraktionen des Parks, die Dinosaurier. Diese Auswüchse schierer Körperlichkeit 300
Vergnügungsparks im Film
(was anderes sind der gigantische T-Rex oder der noch gigantischere Brontosaurus als Körper in ihrer am meisten beeindruckenden Form?) sind nicht Resultat natürlicher sexueller Vorgänge, sondern künstliche Körper, die in Genlabors durch modernste Technik erschaffen werden15. Neben dieser passiven Zeugungssexualität wird auch ihre aktive Sexualität von den Wissenschaftlern des Parks kontrolliert: „Actually they can’t breed in the wild. Population control is one of our security precautions. There’s no unauthorized breeding in Jurassic Park. […] Because all the Animals in Jurassic Park are female. We engineered them that way“, erklärt Dr. Henry den staunenden Besuchern. Einmal mehr ist es Chaos-Theoretiker Malcolm, der eine Kontrolle der Fortpflanzungssexualität ausschließt. Er soll Recht behalten, haben die Park-Wissenschaftler doch die unvollständige Dinosaurier-DNA mit Frosch-Genmaterial aufgefüllt, was dazu führt, dass die Dinos zeitweise ihr Geschlecht ändern können, um sich fortzupflanzen. Die vermeintlich kontrollierte Sexualität nimmt dadurch ein seltsames Zwischenstadium zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit16 ein: Natürlichkeit, weil es scheint, als hätte die Natur – wie Malcolm es voraussagt – einen Weg gefunden, ihre technisch auferlegten Grenzen zu überwinden und sich fortzupflanzen; Künstlichkeit, weil die Fortpflanzung durch die technologischen Eingriffe von ihrem natürlichen heterosexuellen Kontext gelöst wurde (Yaszek 1997: 54). Die sexuelle Kontrolle im Jurassic Park ist ebenso wenig praktikabel (weil vielleicht redundant?) wie die in Disneys künstlichen Welten. Die Dinosaurier lassen sich ihre Sexualität so wenig nehmen, wie die Disney-Charaktere – trotz vordergründiger Versuche – entsexualisiert sind: Pinocchios Nase und Eselsohren wurden von psychoanalytisch geprägten Kritikern als phallische Symbole gedeutet (Wasko 2001: 138 f.), und die Disneyhelden und -heldinnen sind immer attraktiv und finden ihre Erfüllung üblicherweise in einer heterosexuellen Verbindung (ebd.: 116). Die Voraussetzungen für eine asexuelle bzw. entsexualisierte Welt sind sowohl im Jurassic Park als auch in Disneyland nicht gegeben. Wie steht es mit der oben erwähnten Kleinfamilie als ideale Beziehungsform innerhalb des Themenparks? Zunächst sind die Weichen dafür nicht besonders gut gestellt. Die Erwachsenen, die den
15
Bzw. außerfilmisch in Jurassic Parks CGI-Effektcomputern.
16
Szabo (2006: 38) sieht die „künstlich hergestellte Natürlichkeit“ als „das originär Neue an Disneys [Themenpark-]Konzept“ an.
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Jurassic Park besuchen, scheinen alle in mehr oder weniger großen Beziehungsproblemen zu stecken: Ellie Sattler liebt Kinder, Alan Grant kann Kinder überhaupt nicht leiden. Dass die beiden Wissenschaftler überhaupt in einer Liebesbeziehung leben, wird nur ganz flüchtig erwähnt, als der mehrfach geschiedene Malcolm versucht, mit Dr. Sattler anzubandeln. Die Kinder Lex und Tim kommen aus dem Scheidungsstreit ihrer Eltern heraus auf die Insel, wo sie von ihrem Großvater Hammond in Empfang genommen und gleich darauf wieder zu den Wissenschaftlern abgeschoben werden. Letztlich bleibt es beim Kinderhasser Alan Grant, die zerrütteten Verhältnisse neu zu ordnen, in dem er sich zur Vaterfigur wandelt: Nach dem Angriff des T-Rex findet sich Tim in einem Autowrack auf einem hohen Baum gefangen und wird von Grant aufgefordert, herunter – und damit in Sicherheit – zu klettern. „It’s like climbing down from a treehouse. Didn’t your dad ever build you a treehouse?“ Tim verneint und Grant klettert selbst den Baum hinauf, um die traditionelle Aufgabe des Vaters nachzuholen und Tim das Hinabklettern beizubringen. Schließlich wacht der Paläontologe auch am Nachtlager über den Schlaf der Kinder, was seine Wandlung vom kinderhassenden Workaholic zur achtsamen Vaterfigur treffend visualisiert. Diverse hektische Momente später ist die ganze Familie wieder vereint und durch das Ausscheiden von Malcolm, dem Jäger Muldoon, dem Anwalt Gennaro und dem Programmierer Arnold auf das ideale Maß reduziert: Grant und Sattler als Vater und Mutter, Lex und Tim als Kinder und Hammond als Großvater. Nachdem diese kontrollierbare Einheit wiederhergestellt ist, kann die neu gebildete Familie mit vereinten Kräften und nach traditionellen Mustern agierend die Dinosaurier aufhalten: Die Erwachsenen halten mit vereinten Kräften die Tür zwischen ihnen und den Raubtieren zu, während Lex ihr Computerwissen nutzt, um die Türschlösser zu aktivieren. Es ist die Integrität der Kleinfamilie, die Sattler, Grant, Hammond und die Kinder das Abenteuer überleben lässt, während die Dinosaurier, denen diese Form sexueller Identität fehlt, sich schließlich gegenseitig angreifen.17 Hier verhält sich der vordergründig kritische Film wieder affirmativ zu den konservativen Werten des Disneyparks: Selbst wenn die Welt verrückt spielt, gibt es eine verlässliche Einheit – und auf diese Einheit hat sich verständlicherweise auch das Hollywoodkino mit seinen Abenteuerfilmen spezialisiert.
17
Die letzten beiden Absätze folgen Yaszek (1997), S. 54-56.
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KONTROLLE/MACHT/REALITÄT „Kontrolle“ ist wiederum eines der Leitthemen der Disney-Kritiker und –Analysten18. Jeder Besucher wird durch die perfekt geplanten Themenparks so geführt, dass er dasselbe sieht wie seine Vorgänger und schleichend in eine passive Haltung gedrängt wird, die wesentlich mehr von der Rezeption als von der Reaktion der Gäste lebt: „Disneyland operates through imaging aimed at controlling controlled imaginations. […] Ours is but to laugh at the jokes and to marvel at the genuine technical achievements of modelers and engineers. We too are reduced to the ‚ideal‘ child-like condition of being acted upon rather than acting. The excitements of reading (or being read to) have truly been doubly translated and betrayed.“ (Hunt, Frankenberg 1990, zit. in: Wasko 2001: 167)
Die Kontrolle über die imaginierte Realität der Disneyländer geht teilweise so weit, dass das medizinische Personal keinen Gast für tot erklären darf, bevor sein Körper nicht die Grenzen des Firmenbesitzes überquert hat – so ist es auch zu erklären, dass laut der Disney Corp. noch niemand in Disneyland gestorben ist (Wasko 2001: 168). In Disneyland passiert niemals etwas Unvorhergesehenes: „Disneyland Park is the prototypical theme park, where control is the overriding element not only in the design, but in the experiencing of the park. Total control of space, movement, and mood create a succession of visual stereotypes so profound in effect that they quickly achieve the status of national popular images. Everything about the park, including the behavior of the ‚guests‘, is engineered to promote a spirit of optimism, a belief in progressive improvement toward perfection.“ (Adams 1991, zit. in: Legnaro, Birenheide 2005: 224) Damit sind wir im Kern der Geschichte von Jurassic Park angelangt: Der Film übt Ideologiekritik, indem er zeigt, dass der Park nicht kontrolliert werden kann. Der Versuch der Kontrolle und der Verlust über ebenjene ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film. Bereits zu Beginn des Films werden wir Zeugen eines Betriebsunfalls, der letztlich erst zur tatsächlichen Handlung des Films führt. 18
Hier folgt eine sehr pointierte Lesart. Wesentlich differenzierter ausgearbeitet finden wir den Disney-spezifischen Kontrollbegriff bei Legnaro, Aldo (2000): Subjektivität im Zeitalter ihrer simulativen Reproduzierbarkeit. Das Beispiel des Disney-Kontinents. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 286-314.
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Hier versagt die Kontroll-Technik bei der Velociraptoren-Verladung, was zum Tod eines Arbeiters führt. Wegen dieses Unfalls erwarten Hammonds Investoren eine Prüfung des Parks durch unabhängige Wissenschaftler. Hammond wiederum beharrt auf dem Standpunkt, selbst die Kontrolle behalten zu wollen, wie man deutlich aus seinem eröffnenden Gespräch mit dem Anwalt Gennaro auf der Insel hören kann. Als die Besucher dann eine Art fahrbares Kino betreten, das ihnen die wissenschaftlichen Grundlagen hinter Jurassic Park zeigen soll – interessanterweise zunächst durch eine Filmprojektion, dann durch einen Schaukasten, hinter dem echte Wissenschaftler arbeiten – rebellieren die Gäste zum ersten Mal gegen die Kontrollinstanzen des Parks, indem sie die Sicherheitsbügel des rides aushebeln und so die Fahrt unterbrechen. Der folgende Streit geht klar zu Hammonds Ungunsten aus und den Rest der Geschichte kennen wir zur Genüge: Zunächst zeigen sich nicht einmal die Dinosaurier, wie es geplant war (denn der T-Rex lässt sich nicht durch angekettetes Futter kontrollieren, er will jagen) und erst als die Sicherheitssysteme des Parks ausfallen, gibt es ein – nun völlig unkontrolliertes – Treffen mit den Raubtieren. Selbst der Schluss des Films wird geprägt von einer Erfahrung des Kontrollverlustes, diesmal auf der Seite der Dinosaurier: Die Velociraptoren, die sich dank ihres überlegenen Rudeljagdverhaltens ihrer Beute sicher sind, haben nicht mit dem mächtigen T-Rex gerechnet, der sich mit aller Gewalt zwischen sie und ihre Mahlzeit wirft. Kontrolle begründet sich – nach John Hammonds kapitalistischer Philosophie – letztlich auf Macht: „Creation is an act of sheer will. […] When we have control…“ Seine Macht ist die Wissenschaft, die es ermöglicht, aus einem Tropfen konservierten Blutes ganze Dinosaurier zu schaffen. Ein bisher übersehenes, dabei oft groß und deutlich ins Bild gesetztes Symbol für Hammonds Macht ist sein Gehstock mit dem geschliffenen Bernstein mit Insekteninklusion als Griff: Bernstein gilt seit der Antike als Insigne der Reichen und Mächtigen und ihm werden wundersame Kräfte zugesprochen, die ihre Begründung in seiner Beschaffenheit finden19. Für den Jurassic
19
Bernstein kann verbrennen und setzt dabei Kolophonium frei, das antiseptisch wirkt, was den Bernstein zu einem heiligen Element der Alchimisten (mehr oder weniger Vorgänger der Jurassic Park-Zauberer) machte. Bernstein schloss im Volksglauben zudem das Licht der Sonne in sich ein, was ihn zu einem begehrtem und wertvollen Herrschaftszeichen machte; nicht umsonst nahm sich der Deutschorden im Mittelalter ein „Regalrecht“ heraus, das die Gewinnung und Veräußerung von Bernstein unter Hoheits-
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Park wiederum bedeutet die Qualität des Bernsteins bzw. seiner Inklusion das Wohl und Wehe seiner Produktion. Nur wenn die eingeschlossenen Mücken genug Blut und damit Dinosaurier-DNA hergeben, können sie auch tatsächliche Dinosaurier produzieren. Nach Nietzsche wird Realität durch das jeweils größte Zentrum der Macht erzeugt20 und auf ein (symbolisches) Zentrum der Macht stützt sich Hammond durch den ganzen Film: auf seinen Gehstock mit dem Bernstein. Insofern sind die Dinosaurier selbst als Bilder zu lesen, die Hammond durch seine Machtstellung der Welt aufdrängt; er selbst ist der Geburtshelfer jedes einzelnen Dinosauriers auf der Insel, wie er selbst während der Tour sagt. 1993, also kurz nachdem Francis Fukuyama das Ende der Geschichte in einer „Welt ohne Alternative“ ausgerufen hat (Fukuyama 1989: 3 ff.), geht der Jurassic Park einen Weg, den Disney, dessen „Welten von Morgen“ immer schon wie „Welten von Gestern“ wirken (Bukatman 1991: 55 ff.), verpasst hat: Der Themenparkwelt stellt er einen Gegenentwurf vor, indem er die Posthistorie in eine Prähistorie verwandelt und das Ausgestorbene, Überholte zur Attraktion erhebt (Cholodenko 1997: 67). Jurassic Park schreibt der Welt also eine neue Realität ein, in der das Tote wieder zum Leben erweckt wird und droht, das Lebendige zu übertreffen. Ähnlich ist es mit Jurassic Park als Film: Die Computerspezialisten von Industrial Light and Magic (ILM) arbeiten wie die Genforscher des Jurassic Parks auf höchstem technologischen Niveau, um bisher ungesehene Spezialeffekte zu schaffen, Dinosaurier, die sich recht stellte. Das Einbehalten eines gefunden Bernsteins konnte sogar mit dem Tod bestraft werden. Noch 1712 ließ der preußische König Friedrich I. das Bernsteinzimmer bauen, um damit seine Machtstellung zu legitimieren, zu
demonstrieren
und
zu
festigen.
Siehe
Wikipedia:
Bernstein
http://de.wikipedia.org/wiki/Bernstein (Stand der Abfrage: 11.05.2009) und von Bock, Gisela Reineking (1981): Bernstein. Das Gold der Ostsee. München: Callwey, S. 9-43. 20
Salter, William MacKintire (1915): Nietzsche on the Problem of Reality. In: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy. New Series, Vol. 24, No. 96, S. 453. Kurz gefasst sagt Nietzsche, dass wir uns ein vollkommen unbegründetes Bild von der Realität machen, dass lediglich aus Reizen und deren Interpretationen besteht. Die Zentren der Macht, die jedem Wesen zueigen sind, dehnen die Bilder, Kategorien und Interpretationen als Realität aus, bis sie auf ein stärkeres Zentrum der Macht stoßen.
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„wie echt“ in die Realität des Films einfügen, um dem Ende der Kinogeschichte – denn das Kino ist selbst ein überalterter „Dinosaurier“ (Paech, Paech 2000: 296) – noch einmal ein Schnippchen zu schlagen. Hier scheint es geradezu prophetisch, dass die Spezialeffekte und CG-Images sich wie die gefräßigen Raptoren, die sie in Jurassic Park verkörpern, das Kino als ihren Lebensraum erobert haben und die „Vielfalt der Arten“, allen voran den Kunstfilmer (mehr oder weniger also den Paläontologen unter den Filmmachern) massiv bedrohen (ebd.).
Film im Vergnügungspark Ein Analogieschluss erlaubt sich im Rekurs auf die zu Beginn angesprochene Kinogeschichte: Nachdem es sich von seiner „Mutter“, dem Jahrmarktskinematographen, emanzipiert hatte, trug das Kino als neuer, sauberer Vergnügungsort zumindest eine Mitschuld am Untergang der Vergnügungsparks in den 50er Jahren (Paech, Paech 2000: 29 f.). Gerade in dieser Depression besann sich aber ein Filmindustrieller der Vergnügungsparkbesuche seiner Kindheit: Am 17. Juli 1955 wurde in Anaheim, Kalifornien, Disneyland eröffnet. Disney hatte viel von seinem filmischen Wissen in den Park einfließen lassen: Die Gebäude entlang der Main Street (der eröffnenden Straße, die in jedem der Disneyländer hinter dem Eingang zuerst zu betreten ist) sind wie Kulissen gebaut, d.h. die unteren Stockwerke entsprechen einem Größenverhältnis von 8:10, die darauf aufbauenden Stockwerke nur noch einem Verhältnis von 6:10 (Szabo 2006: 36), selbige „Hauptstraße“ ist nach dem Prinzip des long shot auf das Dornröschenschloss hin gebaut21 und der Blick vom zentralen Hügel, The Hub, scheint wie auf eine CinemaScope-Leinwand projiziert zu sein22. Aus der Stummfilmzeit übernahmen Disneys Imagineers23 die Idee des wienies, einem Konstruktionsprinzip, nach 21
Wobei Legnaro/Birenheide (2005: 182) darauf hinweisen, dass das Prinzip des long shots bereits vor dem Film bekannt war, beispielsweise in der Gestaltung barocker Alleen oder in Landschaftsgärten des 18. Und 19. Jahrhunderts.
22
Legnaro/Birenheide (2005: 191). Der erste im CinemaScope-Verfahren gedrehte Zeichentrickfilm war übrigens eine Disney-Produktion: Toot, Whistle, Plunk and Boom von 1953.
23
Wie so viele Themenparkbegriffe eine Schöpfung der Disney Corp.: Die Berufsbezeichnung Imagineer setzt sich aus den Worten Imagine und Engineer zusammen und betitelt die Erfinder der disneyschen Themenlandschaften.
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dem der Blick der Besucher im Gelände stets von einem (meist vertikalen) Blickmagneten gefangen werden soll (Legnaro, Birenheide 2005: 190). Die Imagineers gehen auch heute noch beim Erfinden einer neuen Attraktion dabei, wie Disney selbst, von einem zweidimensionalen Storyboard aus, auf dem sich schließlich eine Geschichte entwickelt. Disneyland will nicht, wie beispielsweise Coney Island, nur durch den thrill der kinetischen Bewegung eines rides oder das Staunen über eine gutgemachte Inszenierung den Besucher faszinieren; Disneyland macht den Parkbesuch zum persönlichen Film des Besuchers. Der medieneigene Konter sollte noch auf sich warten lassen; in den 1960er Jahren näherte sich die Filmindustrie zunächst auf andere Weise an den Themenparkboom an: Die Universal Studios in Hollywood boten den interessierten Besuchern nun einen ride durch Garderoben, Studioproduktionen und Backstagebereiche an, was sich bald zu einem ausgewachsenen, den Film thematisierenden Vergnügungspark mit Achterbahnen und Spielplätzen entwickelte. Disney erinnerte sich erst 1989 mit der Eröffnung der Disney-MGMStudios in Orlando, Florida, wieder an den Film und das Kino als Publikumsmagnet. Dieser neue Park, der angeblich ein funktionierendes Filmstudio darstellte – tatsächlich wurden eher alibimäßig Fernsehshows und Seifenopern dort produziert – bringt in einem 30-minütigen ride Film und Themenpark auf einen Nenner: Im The Great Movie Ride konnte und kann der Besucher die größten Momente der Filmgeschichte – wie die Abschlussszene zwischen Bogart und Bergman in Casablanca – sozusagen hautnah und in drei Dimensionen als Audioanimatronic-Szenerie miterleben24. Es lässt sich dabei allerdings eine Stimmung konstatieren, die der Besichtigung eines bewegten Wachsfigurenkabinettes gleicht und die eine Szene zur Szenerie umdeutet; ein spezifisch amerikanisches Phänomen, das Umberto Eco als das Bestreben bezeichnet hat, eine
24
Die Ausbeutung „ernsthafter“ Filme für Themenpark-rides scheint bereits frühen Kritikern zu missfallen: Der vorgeblich undurchdachte Medienwechsel vom Film zum Animatronic-Puppentheater reduziert den Film auf seine narrative Funktion und – noch wesentlich stärker – auf die memorative Darstellung seiner Stars. Das Vorbeifahren an den beiden Robotern, die Bogart und Bergman nachempfunden sind und sich durch ihre Glasaugen ausdruckslos anstarren, hat nichts mit der intimen Atmosphäre zu tun, die im Film bei der selben Szene durch enge close-up shots hergestellt wird. Vgl. Nelson, Steve (1990): Reel Life Performance. The Disney-MGM Studios. In: The Drama Review, Vol. 34, No. 4, S. 75.
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Reproduktion zu schaffen, die nicht Lust auf das Original erzeugen, sondern das Original obsolet machen soll (Eco 1987: 19). Hier hat der Themenpark den Film vereinnahmt, ihn der meisten seiner Spezifika beraubt und zum kurzen Aufblinken eines bildlich memorierten Momentes (ohne diesen Moment dem Film entsprechend abzubilden) degradiert: Die kurze Szenerie aus Casablanca ist nur ein paar Augenblicke zwischen der kurzen Szenerie aus Alien und dem umtanzten Platz aus dem Zauberer von Oz zu sehen. Andererseits ist das Kino selbst – also nicht nur der Film – im Themenpark heimisch geworden: Kein Park kommt heute noch ohne Flugsimulator (eine Kabine auf deren vordere Wand ein Film – zumeist eine Fahrt oder ein Flug – projiziert wird, dessen kinetische Dimension von Hebe-, Senk- und Rüttelmechanismen an der Kabine spürbar gemacht wird), Actionkino (in dem das Flugsimulatorprinzip auf einen großen Kinosaal ausgedehnt wird) oder 4-D-Kino (das die bereits früh bekannte Technik des 3-D-Films um Düfte, Wind- und Wassereffekte und sogenannte „Beinkitzler“ ergänzt) aus25. Des Weiteren versuchen viele Parks (vor allem die Parks der Six Flags-Kette) seit den 90er Jahren die Thematisierung ihrer rides mit vorausgehenden Filmvorführungen zu unterstützen: Bevor man etwa im Darkride Bermuda Triangle: Alien Encounter im Bottropschen Movie Park die Boote besteigen darf, wird man in einer Filmvorführung über die thematisch vorhergegangenen Ereignisse aufgeklärt – ganz wie der Abenteurer, dessen Rolle man in dem ride dann einnehmen darf. Diese Entwicklung des klassischen Kinodispositivs zum vergnügungsparkkonformen, spannungs- und aktionsgeladenen Erlebnisraum dechiffrieren Paech und Paech als den „Wunsch der Zuschauer/innen, so unmittelbar wie möglich am Filmgeschehen beteiligt zu werden, der vielmehr der Wunsch des Kinos nach Zuschauer/innen ist, die dies wünschen“ (Paech, Paech 2000: 310). In diesem Sinne verstehen Paech und Paech auch rides wie das Jurassic Park River Adventure im Universal Studios Park als die Erfüllung dieses Wunsches: Hier wird der Film durch „Dinosaurier zum Anfassen“ vermeintlich erlebbar gemacht und ‚live‘ nachgeahmt (ebd.). Es muss allerdings angemerkt werden, dass die Nähe zum Geschehen hier auch nur simuliert wird, denn die Dinosaurier sind weiterhin au-
25
Dass dies keineswegs ein neumodisches, sondern nur ein wiederentdecktes Dispositiv ist, habe ich oben bereits dargelegt. Vgl. Rabinovitz (2005) und (1998).
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ßerhalb der Reichweite des Betrachters und der Zuschauer bleibt wie im Kino auf seinem Platz sitzen, während die Bilder der Attraktion an ihm vorüberziehen – oder besser: während er an den Bildern vorüberzieht. Die Filmindustrie hat mit der Eroberung der Themenparks oftmals in ihre eigene Trickkiste gegriffen, um dem Besucher möglichst ‚filmische‘ Erfahrungen zu bieten – wer in Indiana Jones and the Temple of Peril einsteigt, möchte sich wie Indiana Jones fühlen und im Great Movie Ride möchte man live dabei sein, wenn das bösartige Alien die Nostromo überfällt – und gleichzeitig ihre Ideengeber und Vorbilder rücksichtslos geplündert26. Wenn das Kino sich im Sinne von Paul Youngs Sentenz seine Rivalen erträumt (vgl. Young 2006), wurde einer dieser Konkurrenten bisher zu wenig beachtet. Beide Vergnügungsorte, das Kino und der Themenpark, stehen in enger, sich wechselseitig durchdringender Beziehung zueinander.
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Das Ende des Great Movie Rides wird von einer Filmschau markiert, die in wilder Parallelmontage 75 Jahre Filmgeschichte innerhalb weniger Minuten abspult.
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Kultur des Vergnügens
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Der Jahrm arkt in der Lit erat ur oder Piazz a Universale. E in lesen swert es und am üsant es S amm elsurium , eben eine kleine S chaubude BRIGITTE AUST
Der Jahrmarkt ist weitgehend aus unseren Biographien verschwunden. Es sind fast nur noch die Großväter, die davon erzählen können, in Notzeiten der Aufforderung „Junger Mann zum Mitreisen“ gefolgt zu sein oder sich ihr Studium mit dem riskanten Aufbau von Fahrgeschäften oder hinter dem Tresen einer Bratwurstbude finanziert zu haben. Wer kann schon, wie der 1873 als Karl Pick in Loiwein, Österreich, geborene Filmpionier, Regisseur und Schriftsteller Josph Delmont, von sich behaupten: „Ich war Artist, Metall-dreherlehrling, wieder Artist, Dompteur, hernach Tropenreisender und Bestienfänger“? (Hinrichs 2004) Warum sollte man sich eine Biographie erträumen wie Alvy, gespielt von Woody Allen in „Der Stadtneurotiker“: „großer Schwur: ich bin aufgewachsen unter einer Achterbahn in Coney Island, in Brooklyn […] Mein Vater, der hatte ne Konzession für n Autoskooter.“ (Allen 1981)
Dem Auf und Ab des Schicksals nicht mehr hilflos ausgeliefert zu sein, das Tempo der Anderen zu bestimmen und mit starker Hand Einhalt gebieten zu können – in dieser Phantasie hat die Figur des großen Schaustellers heute ausgedient. Deshalb lassen Sie uns einen Blick auf eine Welt werfen, die in den Spiegelungen der Literatur weiterlebt.
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P i a z z a U n i v e r s a l e – L e b e n a u f d e n a lt e n Märkten und Jahrmärkten – Fahrendes Volk Viele unserer Jahrmärkte und Kirmessen haben eine über 1000jährige Geschichte. Versetzen wir uns einfach ein paar Jahrhunderte zurück. Neben Bauern, Markthändlern und Kaufleuten begegnen wir Musikanten, Gauklern und Vaganten und vielen anderen Gestalten, die Tommaso Garzoni in seinem Kompendium Piazza Universale: Das ist: Allgemeiner Schauplatz, Marckt und Zusammenkunfft aller Professionen, Künsten, Geschäfften, Händeln und Handwercken, 1585 in Venedig erschienen und 1659 ins Deutsche übertragen, treulich auflistet: Schreiber, Redner, Wahrsager, „Schertzer mit Worten und Gebärden“, Federschneider, Wetterzeiger, Spieler, Springer, Tänzer, „Mackeler“ und Kuppler, und natürlich: Müßiggänger und „Pflastertreter“, Diebe, Beutelschneider und Zechbrüder. (Garzoni 2006) Hier agiert ein Komödiant, dort ein rechtschaffener Medicus, auf der anderen Seite findet die lautstarke Sozietät von Heilkunst und Komödie ihr dankbares Publikum. Einige der bunten Gestalten kommen uns seltsam bekannt vor: Doktor Johann Faust betritt die Bühne, seines Zeichens Arzt, Doktor der Philosophie, Wunderheiler, Wahrsager und Alchemist, man munkelt auch: Teufelsbündler und Schwarzkünstler. Till Eulenspiegel erfreut das Publikum mit deftigem Spott. Der von Krieg und Not getriebene Abenteurer Simplicissimus preist ebenfalls seine Künste als fahrender Heilkünstler an. Mit donnernder Stimme beschwört der Prediger Abraham a Sancta Clara das Höllenfeuer auf die lasterhaften Sünder und Sünderinnen herab. Der absolute Publikumsliebling ist allerdings der reisende Arzt Doktor Johann Andreas Eisenbarth, der seine Auftritte mit prunkvollem Aufwand bewirbt und einem großen Tross von Musikanten, Gauklern und Artisten reist. (Hampe 1902) Kolporteure (Händler und Hausierer mit Druckschriften), Quacksalber, Bänkel- und Moritatensänger verkaufen dem faszinierten Publikum die Texte direkt vor Ort zum Nach- oder Vorlesen daheim, sorgen durch ihre Reisen aber auch für eine weite Streuung. Der Buchhandel hat seit dem 15. Jahrhundert auf den großen Jahrmärkten und Messen seinen festen Platz. Die drastischen Späße Eulenspiegels, das Epos „Reineke Fuchs“, die Fastnachtspiele von Hans Sachs sind bereits Markt-Bestseller des 16. Jahrhunderts. Aber selbst wertvolle Bibeln und Schriften der großen Philosophen finden auf Jahrmärkten ihre Käufer.
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Der Jahrmarkt in der Literatur
Und eine eigene Literaturform entsteht: die Jahrmarktsdrucke. Flugschriften und Kleindrucke mit Liedern, Gedichten, Predigten, Rezepturen, Sprüchen, drastisch illustrierte Räuberromanzen, Beschreibungen von Naturkatastrophen, Bergwerksunglücken, Auswandererschicksalen, Geschichten von Liebe und Treue, Mord und Totschlag. (Koolman 1990; Galle 1992). Aus den geschäftigen Buchgassen der liberalen Messestädte Frankfurt und Leipzig entwickeln sich selbstständige Buchmärkte, die Händler und Gelehrte aus ganz Europa anziehen, und die bis heute als Jahrmärkte der Literatur – Buchmessen – lebendig sind. (Roth 1965, Myers et al. 2007) Der Jahrmarkt ist damals wie heute eine temporäre Veranstaltung, die Welt der Schausteller dreht sich nicht nur um die eigene Achse. Das fahrende Volk, die Schauspieler, Artisten, Scharlatane, Tierbändiger, Puppenspieler, Musikanten und Schausteller zerstreuen sich in alle Winde und machen sich alleine oder in Gruppen hoffnungsvoll auf den Weg zu neuen Wirkungsstätten. Doch ohne den Schutz des Jahrmarkts sind die Wege für vogelfreie Leute, bunte Hunde und Außenseiter der Gesellschaft gefährlich. Die Begegnungen mit den sesshaften Bürgern sind oft genug von Misstrauen oder Gewalt geprägt. Bürgerlicher Großherzigkeit und Güte begegnet der reisende Künstler auch im aufgeklärten 19. Jahrhundert nur selten. Pole Poppenspäler, der sich bei der Vorführung von „Fausts Höllenfahrt“ in die kleine dunkle Puppenspielertochter Lisei Tendler verliebt und standhaft zu ihr hält, ist eine rühmliche Ausnahme. (Storm 2002)-
Arbeit , Vergnügen und Inspirat ion für einen Dichterfürsten – Goethe auf dem Volksfest Das gleiche, uralte Puppenspiel beeindruckt auch Johann Wolfgang von Goethe. Zeit seines Lebens interessiert er sich für den Alltag der kleinen Leute, lernt – vor allem beruflich als Minister in Weimar – ihre Sorgen und Nöte kennen, aber auch ihren Optimismus und Frohsinn auf Jahrmärkten, Kirchweih- und Schützenfesten, beim Vogelschießen und Johannisfeuer, bei der Weinlese und Erntefesten. Ganz praktisch beschäftigt er sich als Politiker mit der Organisation von Volksfesten. Die Medienwirksamkeit und wirtschaftliche Bedeutung einer gelungenen Großveranstaltung sind ihm offensichtlich sehr bewusst. 315
Kultur des Vergnügens „Ich habe so manchen guten Einfall, wodurch nach und nach dieses Vogelschießen bunt, bedeutend und anziehend werden könnte. Man muß aber sachte gehen, weil sich die Philisterey gleich vor allem echauffiert“ (Freitag 1999)
Die Zeilen aus dem Monolog des „Faust“ in der Szene „Vor dem Tor“, in der sich Faust mit seinem Famulus Wagner auf ihrem Osterspaziergang ins Volksfestgetümmel begeben: „Hier ist des Volkes wahrer Himmel, Zufrieden jauchzet groß und klein; Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ (Goethe 1986)
werden von Kirmesfreunden also nicht ganz zu Unrecht gerne als wohlwollender, genialer Werbedreizeiler für Jahrmärkte interpretiert. „Wie oft mußte ich mir das verwünschte Puppenspiel vorwerfen lassen, das ich euch vor zwölf Jahren zum heiligen Christ gab, und das euch zuerst Geschmack am Schauspiele beibrachte“ (Goethe 2008), klagt Wilhelm Meisters Mutter. Ihr Sohn hat sich einer reisenden Komödiantentruppe angeschlossen und führt ein unstetes, abenteuerliches Wanderleben – ein Thema, das Goethes eigene Sehnsucht und Leidenschaft offenbart. Der alte Jahrmarkt, seine schillernde Vielfalt und sein exzentrisches Personal sind bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die ideale Bühne für Satire, Karikatur, deftige Komik und verschlüsselte politische und soziale Kritik. Goethe nutzt das Sujet in diesem Sinne in Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Ein Schönbartspiel. Genau zweihundert Jahre später wird der Stoff unter gleichem Titel von Peter Hacks weitergesponnen – und wieder schlägt auf dem Jahrmarktsfest die hohe Kunst der Dramatik zwangsläufig in Komik und Komödie um. (Hacks 1982)
Nachtseiten. Geheimnis und Romantik In den Sog der geheimnisvollen Seiten des Jahrmarkts, des Spiels mit okkulten, optischen und physikalischen Phänomenen zwischen Naturwissenschaft, Aufklärung und Illusion, präsentiert von Scharlatanen, Magiern, Hypnotiseuren und anderen illustren Gestalten, gerät der schillerndste Dichter der Romantik, E.T.A. Hoffmann (1776–1822), der „pflichtvergessene, höchst unzuverlässige und selbst gefährliche Staatsbeamte“ (so der preußische Polizeiminister Friedrich von Schuckmann in einem Brief an den Staatskanzler
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Karl August Fürst von Hardenberg). (Hoffmann 1984: 459). Die vermuteten machtvollen Beeinflussungen durch Blicke, Strahlen, Gehirnwellen und andere Phänomene verarbeitet er künstlerisch in Werken wie „Der Magnetiseur“, „Die Elixiere des Teufels“, „Der Sandmann“ und „Das öde Haus“. Die phantastisch-naturalistische Atmosphäre der Erzählung „Das Wachsfigurenkabinett“ von Oskar Panizza ist ein vorweggenommener Ausflug ins Cabinet des Doktor Caligari. Die Vorführung der Passionsgeschichte mit mechanischen Wachsfiguren in einer schäbigen Schaubude auf der Nürnberger Dult versetzt die Zuschauer in schwerste, kaum zu kontrollierende Beunruhigung. Verzerrte Perspektiven, Visualisierung von Wahnvorstellungen, expressionistische, stark übertriebene Mimik und Gestik der Darstellenden – der Weg aus den alten Schaubuden führt auf direktem Wege in die Horror- und Fantasy-Welt unserer Tage. „Das Kino tastet… nach den eigenen Ursprüngen im Zwielicht der Schaubude, wo man nebenan in der Geisterbahn mit ihren plötzlich aus dem Dunkel hervorschnellenden Schreckmasken den Urreiz des Horrorfilms einüben konnte.“ (Kalka 2008)
Drehbühne frei! Eine ebenfalls gespenstische, groteske Szene ist es, die Walter Brecht und sein Bruder Eugen Berthold auf dem Plärrer, dem Augsburger Jahrmarkt, während des 1. Weltkriegs miterleben müssen. Eine Gruppe invalider, traumatisierter Soldaten erleidet durch die flackernden Lichter und kakophonische Musik der großen Jahrmarktorgeln einen gemeinsamen epileptischen Anfall. (Brecht 1987: 23). Bertolt Brecht, 1898 in Augsburg geboren, kann auf dem Jahrmarkt seiner Heimatstadt den letzten reisenden klassischen Bänkelsängern zuhören. Schaubudenparaden, Moritatensänger, die durchdringende, etwas schräge Musik der Jahrmarktorgeln und die Ausrufer: All das prägt – neben dem Brettl, dem Cabaret, seinem bewunderten Freund Karl Valentin und vielen anderen Einflüssen Brechts spätere Vorstellungen von Theater. Die Menschen des Jahrmarkts und der Halbwelt faszinieren ihn zeitlebens – er sieht in ihnen vor allem sachliche, intelligente, selbstbewusste und ab und zu gefährliche Individualisten. Wahres Leben ist für den Bürgersohn Brecht nicht in den Vierteln der Reichen zu finden. Er schaut dem Volk aufs Maul, er prägt sich die Sprüche der Proleten auf der Straße und in den Kneipen ein und hält sie in Notizen fest – und ist stets dort, wo sich die Leute am liebsten treffen: auf dem Jahrmarkt 317
Kultur des Vergnügens
– „Das Schönste, was es gibt.“ (Brecht über den Augsburger Plärrer, Brief an Neher, 13.April 1918) (Hecht 1997: 53). Die trivialen alten Bänkellieder und Moritaten, schon oft zu Hochliteratur und aktuellem politischen Protest gewandelt, klingen z. B. mit Apfelböck oder die Lilie auf dem Feld in seiner Hauspostille (Erstdruck 1926) nach. Brechts erfolgreichstes Stück kehrt ganz auf den alten Jahrmarkt zurück: Der Schauplatz der Dreigroschenoper (Uraufführung Berlin 1928) ist der von Bettlern, Gangstern und leichten Mädchen bevölkerte „Jahrmarkt in Soho“. Die Moritat von Mackie Messer, komponiert von Kurt Weill, wird ein Welthit.
Existenzangst , Notzeiten, Krieg – Der große Treffpunkt Mehr noch als Seefahrt und Militär bietet der Jahrmarkt und sein Umfeld in wirtschaftlich harten Zeiten Zuflucht für Glückssucher und Verwegene, Angeschlagene und Ausgeknockte. So versuchen zwei Artisten auf eigene Faust ihr Glück. Beide arbeiten eigenverantwortlich als Schausteller und Attraktion zugleich, als Grenzgänger zwischen Mensch und Tier. Der brillant sprechende, nach großen Anstrengungen fast völlig vermenschlichte Affe Rotpeter in Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ macht Karriere im Varieté. „Ein Hungerkünstler“ in seinem Käfig dagegen verliert seine Anziehungskraft –die Attraktion des Hungerns wird für das Publikum zur bedrohlichen Alltäglichkeit. Für Kriegsheimkehrer und Invaliden bietet der Jahrmarkt Verdienstmöglichkeit und temporäre Heimat, allerdings auf die Gefahr hin, als seelisch und körperlich Deformierte selbst zu Schaustellungen, zu „Abnormitäten“ zu werden. Ernst Toller lässt seinen „Hinkemann“ Mäusen und Ratten die Köpfe abbeißen, und, wie Woyzeck, wird ihm auf dem Rummelplatz der letzte Halt, seine Gefährtin, ausgespannt. Aber es besteht durchaus die Chance zu einer neuen, exotischen Identität als Schausteller zu gelangen, wie Wolfdietrich Schnurres schlauer Schaubudenbesitzer „Pagoden-Ede“ (Schnurre 1996: 91121) Kriegsangst und Weltwirtschaftskrise steigern die Sehnsucht nach Vergnügen, Rausch und etwas Glanz ins Fieberhafte. Um 1930 lässt Ödon von Horvath „Kasimir und Karoline“, einen arbeitsloser Chauffeur und seine Braut, jede Attraktion und Enttäuschung des 318
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Oktoberfestes – einschließlich der Sanitätsstation – auskosten. Kasimir erfährt schmerzlich, dass mit der Arbeitslosigkeit seine soziale und erotische Anziehungskraft auf den Nullpunkt gesunken ist, während die lebenshungrige Karoline die dürftigen Präsente der Wiesen-Kavaliere mit dem Verlust ihrer Liebe bezahlt. „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich– aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen –“ (Horvath 2002: 75)
Hart im Nehmen! Vo lksvergnügen: manchmal explosiv 1874 lässt Wilhelm Busch in der Bildergeschichte „Kirmes“ seine junge Hermine nächtens aus dem Fenster steigen, denn der schlafende Vater hat wohlweislich den Hausschlüssel versteckt. „Kaum hat man was, was einen freut, so macht der Alte Schwierigkeit“ ist Hermines ewig aktuelles Fazit der Jugend. Die Kirmes lockt – und mit ihr erste erotische Abenteuer in Gestalt eines schmucken „Forstgehülfen“. Alkohol und Übermut lassen das Fest in Chaos und Desaster enden, aus dem die Protagonisten schwer zerzaust, aber recht fröhlich und in aufgeräumter Stimmung hervorgehen – ein uraltes Volksfestphänomen. (Busch 1981) Wesentlich brisanter ist die Stimmung in dem 1909 entstandenen Stück „Die Wupper“. Else Lasker-Schüler zwingt das Personal einer von sozialen und wirtschaftlichen Krisen bedrohten Industriestadt in dem Kulminationspunkt Jahrmarkt zusammen: Fabrikarbeiter, Fabrikarbeiterinnen, Kommis, Ladenmädchen, Dienstmädchen, Herren der Gesellschaft mit ihren Schätzen, Schuljungen, Gassenkinder, Herumtreiber, Jahrmarktleute. (Lasker-Schüler 1986: 34-46) Der Konflikt entlädt sich nicht. Die Spannungen zwischen Villa und Arbeiterviertel, Besitzenden und Proletariern bleiben bestehen – aber für ein paar Stunden sind die gegensätzlichen Welten in ihren Sehnsüchten, alkoholisierten Verbrüderungen, Illusionen und Vergnügungen vereint. Der Jahrmarkt als Schmelztiegel der Generationen und Schichten – noch ist er funktionstüchtig. Aggressionen und latente Gewalt, die in den Massenquartieren einer Zwangsgemeinschaft von Kriegsheimkehrern, Zwangsverpflichteten und Glückssuchern im Uranbergbau entstehen – Schauplatz ist die Wismut AG der 1950er Jahre in Werner Bräunigs Roman Rummelplatz – bringen das Pulverfass in einer packenden Szene ebenfalls nur fast zur Explosion: 319
Kultur des Vergnügens „Uralte Verlockung der Jahrmärkte. Locker sitzen die Fäuste in den Taschen, die Messer, die zerknüllten Hundertmarkscheine, der Rubel rollt. Also johlte die Horde über den Platz, über gewalzte Schlacke und evakuierte Gräber hin, der Luftschaukelbesitzer sah sie anrücken. Er schob den Jungen beiseite, der die Kähne bremste, denn der Mann kannte seine Leute. Jetzt musste er selber ran.“ (Bräunig 2008: 87)
Eine Flasche Wodka auf „ex“, dann dreißig lebensgefährliche Überschläge mit der Schiffschaukel – pervertiert und unerreichbar fern ist die friedliche Kinder-Zauberwelt des Jahrmarkts, der bunten Kinder- und Bilderbücher.
Distanz, erstaunlich bürgerlich Künstler können sich mit dem Pathos der fahrenden Künstler identifizieren, erforschen die Schattenseiten des Volksvergnügens, die entfesselten, rauschhaften Disziplinlosigkeiten. Heinrich Mann, der das Milieu genau kennt, lässt seinen Professor Unrat durch den Tingel-Tangel und die „Barfußtänzerin“ Rosa Fröhlich auf tragische Weise die bürgerliche Existenz verlieren. Der Verfall des komödiantischen Christian Buddenbrook, Gestalten wie der bösartige Zauberkünstler Cipolla und der teuflische venezianische Bänkelsänger lassen bei seinem Bruder Thomas eher tiefes bürgerliches Unbehagen vermuten. Von besonderer, bedrohlicher Faszination sind die uralten Fahrenden, die Zigeuner: „Wie war es nur möglich, daß ich in alle diese excentrischen Abenteuer geriet? Ich bin doch kein Zigeuner im grünen Wagen, von Hause aus...“ (Mann 2005: 284) Geradezu im Umkehrschluss – und sogar etwas enttäuscht – stellt der abenteuerlustige Rostocker Reedersohn Walter Kempowski alias Sigmund Korbach um 1930 eine erstaunliche Bürgerlichkeit der Schausteller fest – eine Beobachtung, die spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts überwiegend der Lebenswirklichkeit oder zumindest dem angestrebten Status der Schausteller entspricht. „Schräg zum Karussell war der braune Wohnwagen der Rummelleute abgestellt: Geranien vor den Fenstern und ein blauer Trecker. Ein Briefträger kam und brachte die Post. Aus Wuppertal kamen die Leute, das stand auf dem Wagen.“ (Kempowski 1995)
Seien es Berührungsangst oder Arroganz, seien es Langeweile oder Überdruss: Der Jahrmarkt hat sich, wie aus unseren Biographien, weitgehend auch aus unserer Literatur verabschiedet.
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Die Kirmes und die Schausteller mit ihren Insignien Karussell, Achterbahn und Riesenrad taugen gerade noch als Metaphern für Biographien und Romane, vorzugsweise als Stoff für Kriminalromane und -filme. Die in den Organismus eines Jahrmarkts gehörenden Objekte und Personen werden entweder isoliert und distanziert betrachtet oder aber dienen als Requisiten in einer merkwürdig unauthentischen, aus Versatzstücken vergangener Jahrzehnte collagierten Jahrmarktwelt. Als originär multimediales Ereignis taucht die Bilder- und Klangwelt des Jahrmarkts mittlerweile weitaus lebendiger in Videoclips, Werbung und Spielekonsolen-Games auf. Laute Musik, krasse Sprüche, exzentrische Personen, falscher Glanz, schnelle Fahrten, Spiel mit Technik, „Fun Food“ und mobiles Leben: Der Tross des alten Jahrmarkts hat sich so scheint es heimlich ganz neue Plätze abseits der alten Wege erobert.
Genius Loci – oder literarische Mikrokosmen und Biotope Auf den alten Plätzen verharren, trotz aller Widrigkeiten, die meisten traditionellen Volksfeste des deutschsprachigen Raumes. Sie faszinieren bis heute ihr Publikum, finden ihr literarisches Echo aber hauptsächlich in oft liebloser Lokalpresse und höchstens regional interessanter Heimat- oder Mundartliteratur. Es gibt Ausnahmen: Plätze, die eine so spannende und starke Atmosphäre besitzen, dass sie für die sensible Spezies der Künstlerpersönlichkeiten zum Anziehungspunkt und Impulsgeber taugen:
DER PRATER Der Vergnügungspark im Wiener Prater, genannt der „Wurstelprater“, behauptet sich hartnäckig gegen den „Mainstream“ der amerikanischen Themenparks und bietet immer noch den uneinheitlichen Charakter der alten Kirmes. Hierher verlegt Alfred Polgar die für die Bühne bearbeitete Budapester „Vorstadtlegende“ von Franz Molnar um den Ausrufer Liliom. Liliom, das Urbild aller draufgängerischen, standfesten „Schiffschaukelbremser“ mit einer Vorliebe für grelle Kleidungsstücke, der zum unverbindlichen Abenteuer in jeder Beziehung einlädt und der sich zwar in der Welt außerhalb der Karussells nicht besonders gut auskennt, aber dessen Kraft und Dreistigkeit auch durch himmlische Mächte nicht zu bändigen
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ist. (Molnar 1986). Von dieser widerspenstigen Kraft zehrt noch Elfriede Jelinek: „Der Prater allerdings ist mir, als ich Kind war, von meiner Mutter weggenommen worden, weil mein Wille, diese Vergnügungsmaschinen mit meinem kleinen Körper zu bändigen, ein Wille war, der auf etwas anderes gerichtet war und letztlich der Zähmung, der Dressur durch die Mutter mit einem Atom Willenskraft Widerstand geleistet hätte“. (Jelinek 2008: 24-29)
Literarische Individualisten und weltbekannte Schriftsteller von Peter Altenberg bis Stefan Zweig fühlten und fühlen sich von dieser traditionsreichen, abgeschlossenen, etwas sinistren Welt inspiriert und angezogen.
DAS OKTOBERFEST Das Oktoberfest, der jährliche exzessive bayerische „NationalRausch„ findet ungebrochenen journalistischen, filmischen und literarischen Niederschlag, angefangen mit Friedrich Hebbel über Oskar Maria Graf und Ludwig Thoma bis Gerhard Polt und Herbert Achternbusch. (Maigler 2008). Das größte deutsche Volksfest ist ein Besuchermagnet mit mittlerweile weltweiter, zwischen Begeisterung und Ekel oszillierender Medienberichterstattung, von kommerziellen Interessen zwar zunehmend bedrängt, bietet das Oktoberfest dennoch eigentlich schon ausgestorbenen Jahrmarktsensationen eine Nische. Wo sonst gibt es noch einen Flohzirkus, wie schon 1928 von Egon Erwin Kisch beobachtet? Und wo wird noch im Illusionstheater die „Enthauptung einer lebenden Person auf offener Bühne mittels Guillotine“ grauenvoll, aber unblutig zelebriert?
BERLINER PLÄTZE Berlin besitzt bis heute kein Volksfest von zentraler Bedeutung. Das vielfältige, weit gestreute Vergnügungsangebot für alle Bevölkerungsschichten wurde bis 1933 vom Lunapark, dem größten und modernsten Vergnügungspark Europas beherrscht. Else LaskerSchüler, 1894 von Wuppertal nach Berlin gezogen, schöpft für ihren literarischen Orient aus dem Reservoir der Berliner Populärkultur, den allgegenwärtigen Schaustellungen des Exotischen auf Jahrmärkten, in Panoptiken, Panoramen, Varietés und – dem Lunapark (Kirschnick 2007) Berlin brachte eine einzigartige Spezies hervor: großstädtische, neugierige, gebildete Literaten und witzige Journalisten, analytische Beobachter mit scharfer Feder. Ohne jede Bor322
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niertheit und mit einer geradezu filmischen Kraft des Erzählens übermitteln uns die großen Flaneure eine wichtige Facette des Großstadtlebens: Straßenleben und Volksvergnügen von der Kaschemme bis zum Rummelplatz. Walter Benjamin, der karussellfahrende Kinder, Schiessscheiben und das Kaiserpanorama beschreibt (Benjamin 1987: 96-100; ebd. 1991), Siegfried Kracauer, der in den frühen 30er Jahren das spezielle Lebensgefühl der Großstadtangestellten bei der Fahrt in der Berg- und Talbahn des Lunaparks beobachtet (Kracauer 2003: 3941), Ernst Bloch, der in „Traumschein, Jahrmarkt, Kolportage“ die proletarische Folklore preist („Je mehr Arbeiter gerade eine Stadt hat, desto weniger ist dieser Volkszauber verschwunden, desto greller sehen seine Meßplätze aus...“) (Bloch 2007: 341-346), Joseph Roth, der das Teufelsrad besteigt (Bienert 1999), Kurt Tucholsky, der für Wilhelm Bendow die Kabarett-Paradenummer „Die tätowierte Dame“ schreibt, Friedrich Holländer, der die Tingel-Tangel„Zersägte Dame“ bitten lässt „Säge mir ein liebes Wort“ – das sind nur einige der großen Namen, die dem Jahrmarkt und seiner Literatur zur Ehre gereichen. (Kühn 1988). Übrig geblieben ist leider nur ein kleines anarchistisches Echo in der Lesebühnen- und PoetrySlam-Szene des heutigen Berlin: meist Nachrichten von der „Talsohle des Lebens“ (Hannemann 2008), traurigen Weihnachtsmärkten und alkoholisierten Rummelerlebnissen.
Spagat und Fliegender Wechsel Nicht nur einseitige Inspiration, der fliegende Wechsel zwischen Bürgern, Künstlern, Schrift- und Schaustellern kann – aus Not, Ehrgeiz oder Leidenschaft heraus – gelingen. Zurück von großer Fahrt, arbeitslos und hungrig, verdingt sich Ringelnatz 1901 als Aushilfe in „Malferteiners Schlangenbude“ auf dem Hamburger Dom. Diese Episode seines Lebens hält er höchst authentisch in seinen Erinnerungen „Mein Leben bis zum Kriege“ fest. (Ringelnatz 1994). 1921 ist Karl Valentin auf der Wiesn als Schausteller mit einem selbst entworfenen Jux-Geschäft, der Froschbahn, vertreten. Mit kleinen Holzwagen auf unebenen, abschüssigen Bahnen riskiert das Publikum Kopf und Kragen. Seine „Wolkenkratzer-Absturz-Bahn“ wird – glücklicherweise – damals nicht verwirklicht. (Dimpfl 2007; Gigl o.A.). 1934 beantragt er die Konzession für sein mit Liebe zum
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makabren Detail und höllischer Vertracktheit ausgebautes KellerPanoptikum. Das Publikum empfindet Unbehagen und Entsetzen – und bleibt aus. (Schweiggert 1985). Der Schausteller Otto Witte, ein schillernder Charakter und Abenteurer, nutzt als Soldat die Wirren des Balkankrieges und lässt sich 1913 zum König von Albanien ausrufen. Nach fünf Tagen ist seine Herrschaft zu Ende, Otto sucht sein Heil in der Flucht, behält aber fürderhin den Titel, schreibt seine Autobiographie und bereist als „König“ die Jahrmärkte. Die merkwürdige, widersprüchliche Geschichte geistert unvergessen durch die Jahrzehnte und wird 2007 schließlich zum Roman. Natürlich mit dem Titel: „Der König von Albanien“ (Izquierdo 2007) Leider fast vergessen ist die Autobiographie „Als Liliputaner um die Welt“ (1937) des kleinwüchsige Artisten Willy Rolle: die nüchterne Bestandsaufnahme eines schweren, aber abwechslungsreichen Lebens. Er entgeht auf seinen Tourneen der tödlichen Gefahr, die im Deutschland des Nazi-Regimes allen körperlich „Abnormen“ droht. Der Schausteller-Sprössling André Eisermann schließlich tritt in die Fußstapfen einer großen Kollegin, Friederike Caroline Neuber. Die „Neuberin“, eine fahrende Komödiantin, wird in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts zur wichtigsten Reformerin des Theaters und zur ersten großen deutschen Schauspielerin. André Eisermanns Autobiographie „1. Reihe Mitte: ein Schaustellerleben“ beschreibt einen Weg aus der durchaus nicht von Zwängen freien Arbeitswelt des Jahrmarkts zum leidenschaftlichen, erfolgreichen Schauspieler, wobei er die Mythen längst vergangener Schaubudenwelten geschickt als interessante Facette seiner Persönlichkeit einfügt. (Eisermann 2002) Es gibt aus nahe liegenden Gründen leider insgesamt sehr wenige von Schaustellern selbst verfasste Texte. Mit einer Ausnahme: die schreib- und lesekundigen Puppenspieler – denn Textbücher und Notizen bieten im harten Konkurrenzkampf eindeutige Marktvorteile. In der Puppentheatersammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden werden mehr als 3000 handgeschriebene Textbücher von Marionettentheatern aufbewahrt. Darüber hinaus gewähren zahlreiche Autobiographien einen Einblick in den Alltag und die Überlebensstrategien der populären Unterhaltungskünstler. (Rebehn 2006)
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Schon Herder hatte den bewahrenden Charakter der Puppenspieler erkannt, doch die kreativen Prinzipale und Bühnenautoren passen die alten Stücke deutscher Volkskultur durchaus radikal den eigenen Bedürfnissen und dem Geschmack des Publikums an. Der überaus menschliche, direkte und schlitzohrige Tonfall dieser meist anonymen oder vergessenen Autoren lebt in einigen wenigen reisenden Puppenbühnen, aber indirekt auch im Erfolg der „Sesamstrasse“ weiter. „und zweitens hat uns dasselbe Vorbild geprägt, ein Gedicht, das, in Schönschrift auf ein großes Schild gemalt, Anfang der sechziger Jahre Rummelplatzbesucher zum Schiffsschaukeln verleiten sollte: ’Wie ein Pfeil fliegt man daher, als ob man selber einer wär.’“
Große Geste, schnell gekippt durch eine schräge Metapher: die Schausteller-Lyrik der Göttinger Kirmes entzückt die „Neue Frankfurter Schule“, das Team um Robert Gernhardt, F.W. Bernstein und F.K. Waechter, die fortan auch als fahrende Vortragskünstler ihr Publikum erfreuen (Gernhardt, Bernstein 1997).
Das Große Karussell: Mythos und Symbol „Ein großer Anblick und ein genußreiches Schauspiel war ein großes Rad, das ich um das ganze Erdenrund vom Aufgang bis zum Niedergang drehte… nach der Art eines Tretrades, auf das die Zeit trat; und von des einen Tages Sprosse auf die des nächsten springend, brachte sie es zum Kreisen und mit ihm alle Dinge; einige kamen von neuem zum Vorschein und andere verbargen sich als veraltet und kamen wieder zum Vorschein, wenn die Zeit abgelaufen war.“ (Gracian, El Criticón 1651-57)
Um bei den großartigen Metaphern zu bleiben: das Rad als Sinnbild des unabwendbaren Schicksals und der ständigen Wiederkehr ist durch die Kunst, Literatur und Philosophie der Jahrhunderte zu verfolgen. Das Karussell, als Turnierspiel und Ringstechen (Ringelspiel) schon seit dem Mittelalter bekannt, wird, mit wenigen Ausnahmen, erst mit seiner Popularisierung und Perfektion im 19. Jahrhundert zum Motiv. (Arendt 1986) Mit der gleichzeitigen technischen Entwicklung der großen Jahrmarktorgeln erzeugen die Karussells eine Schwindel erregende Verbindung von Musik und Bewegung. Eine geradezu ideale Begleitung 325
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der großen Räder sind Klang und Rhythmus des Walzers. Noch Stanley Kubricks Raumstation in „2001: Odyssee im Weltraum“ rotiert majestätisch wie ein großes altes Karussell zum Walzer „An der blauen Donau“ durchs All. (Magdanz 2006). Schnitzlers Bühnenwerk „Reigen“ formt von seiner Erzählstruktur her einen Kreis und fast zwangsläufig montiert Max Ophüls 1950 die Verfilmung quasi auf ein Karussell: es verbindet die Begegnungen der Dirne mit dem Soldaten – mit dem Stubenmädchen – mit dem jungen Herren – mit der jungen Frau – mit dem Ehemann – mit dem süßen Mädel – mit dem Dichter – mit der Schauspielerin – mit dem Grafen – und wieder mit der Dirne… zu den Klängen des „Reigen-Walzers“ (Dreht Euch im Reigen nach alter Weise) von Oscar Straus. Rainer Maria Rilkes 1906 entstandenes Gedicht „Das Karussell – Jardin du Luxembourg“ lässt das Bild des Kreisens, des Auftauchens und Verschwindens geradezu hörbar und sichtbar erstehen: „Und das geht hin und eilt sich, dass es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel. Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet, ein kleines kaum begonnenes Profil – Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel. Glückliche, verzauberte Kinderwelt, noch blind für den riskanten Jahrmarkt der Erwachsenen.“
Denn mächtige Dampfmaschinen und starke Motoren treiben seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Vergnügungsmaschinen an, das „Aussteigen während der Fahrt“ wird zunehmend lebensgefährlich. Das Symbol gewinnt an Kraft in dem Maße, wie der Welt-Jahrmarkt sich zum globalen Panoptikum und Hexensabbat wandelt. Erich Kästner sieht auf einer Münchhausenfahrt eben dies Karussell, das die Erdrotation bald in Unwucht bringen wird: „Die Globusachse ragte aus dem Eise,Wir zierten Sie mit einem Sitzgestell, Das drehte sich und war ein Karussell. Nun galt’s zu handeln, rücksichtslos und weise.“ („Münchhausen schreibt ein Reisefeuilleton“, 1925 (Kästner 2004))
1925 befeuern hohe US-Kredite kurzfristig die deutsche Konjunktur, das „Schulden-Karussell“ der Wirtschaft nimmt Fahrt auf, bis es 1929 in der Weltwirtschaftskrise auf schreckliche Weise zum Halten kommt. 1926 steht auch Robert Walser in der Schweiz vor
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einem Karussell – zwar mit kindlicher, klarer Bewunderung, aber merkwürdig ahnungsvoll: „Wie sich das um seine Achse dreht! Tut nicht etwas Ähnliches die Erde? Da sollte man nicht staunen, nicht für ein paar Minuten perplex sein?“ (Walser 2003). Schon aus greifbarer Kriegsangst heraus entsteht 1936 in Wien Josef Weinhebers Gedicht: „Auf das Unabwendbare“: „Zwings, versuchs doch! Heb den tappigen Fuß aus dem Bügel deines hölzernen Pferds: Spring und verlaß dich auf Gott! Nicht einen Takt unterbricht ihr Spiel die mechanische Orgel nach dem tödlichen Sturz.“(Weinheber 1972)
Auch Oskar der Blechtrommler sieht im Fiebertraum das große Karussell, die verrückte Mühle (niederländisch: Mallemolen) des Krieges. Der „himmlische Vater“ bezahlt beim gleichgültigen Schausteller des Schicksals Runde um Runde. „Mit vielen Kleinkindern saß ich in Feuerwehrautos, ausgehöhlten Schwänen, auf Hunden, Katzen, Hirschen und Säuen, wollten nicht mehr Karussell fahren, durften aber nicht.“ „Ach Vaterunser, sag stop!“ (Grass 1966: 393-396). „Mehr und mehr wird alles zum Karussell, Doch es gibt kein Aussteigen, und auf das Klingelzeichen für die Kinderschar Hält weder die Sau noch der goldene Schwan“ (Friedrich Georg Jünger: Chimären) (Jünger 1987)
Keine Chance „… man kann, man kann – nur eins kann man nicht: von dem KARUSSELL abspringen, das von Montag bis Montag die Menschen umtreibt!“ (Ingeborg Drewitz: Das Karussell)
Der Philosoph Paul Virilio illustriert seine These vom Verlust der verlässlichen Bezugssysteme von Zeit und Raum, des „rasenden Stillstands“ mit dem starken Bild des Karussells. Der Künstler Carsten Höller dagegen bremst auf seine Weise die Schwindel erregende Fahrt des Schicksals aus: Er überhöht und verfremdet ein handelsübliches Karussell durch extreme Verlangsamung zum Kunstwerk. (Virilio 2002; Höller 2008) „Drehen“ sich nicht unsere Geschichten unablässig um den KarussellMittelbau der existenziellen Themen? Heißt „Revolution“ in der Übersetzung
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Kultur des Vergnügens nicht auch Umdrehung? Wer sich auf die rasende Fahrt einlässt, der ist, zumindest für Augenblicke, jung und lebendig. „Und ist das Rad endgültig stehen geblieben, dann hat der erlöste Mensch vergessen, daß er für eine Freude bezahlt, aber eine Todesfurcht gekostet hat. Ihm ist, als wäre er noch billig genug mit dem Leben davongekommen“ schreibt Joseph Roth 1924. (Roth 1999)
Wenn das Karussell steht, schweigt und „wegen mangelnder Nachfrage, mit Zeltbahnen verhangen ist“ (Kästner 2006: 176), dann ist der Jahrmarkt des Lebens, so banal oder bedrohlich er gewesen sein mag,
- AUS UND VORBEI -
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Lit eratur Allen, Woody (1981): Der Stadtneurotiker. Zürich: Diogenes. Arendt, Dieter (1986): Das Karussell in der Kunst und Literatur oder: Der archimedische Punkt der Geschichte. In: Studi Germanici, Jg. 24, 347-375. Benjamin, Walter (1987): Häfen und Jahrmärkte. In: Ders.: Briefe an Siegfried Kracauer. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 96-100. Benjamin, Walter (1991): Gesammelte Schriften. Bd. 4: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, T. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bienert, Michael, Hrsg. (1999): Joseph Roth in Berlin: ein Lesebuch für Spaziergänger. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bloch, Ernst (2007): Folklore des Jahrmarkts. In: Ders.: Der unbemerkte Augenblick. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bräunig, Werner (2008): Rummelplatz: Roman. Berlin: Aufbau Verlagsgruppe. Brecht, Walter (1987): Unser Leben in Augsburg, damals. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 23. Busch, Wilhelm (1981): Die Kirmes: Bildergeschichten und Gedichte. Stuttgart: Reclam. Dimpfl, Monika (2007): Karl Valentin. München: dtv. Eisermann, André (2002): 1. Reihe Mitte: ein Schaustellerleben. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Freitag, Egon (1999): Ich streiche was ehrlichs in Thüringen herum. In: Goethe trifft den gemeinen Mann. Köln: Böhlau. Galle, Heinz (1992): Volksliteratur und wie es begann: Volksbücher und Moritatenhefte auf dem Jahrmarkt. In: Magazin für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur, Jg. 19, H. 74. Garzoni, Tomaso (2006): Piazza universale, das ist, Allegemeiner Schawplatz, Marckt, und Zusammenkunfft aller Professionen, Künsten, Geschäfften, Händeln, und Handtwercken… Lizenzierte Online-Ressource Thomson Gale http://infotrac.galegroup.com/. Gernhardt, Robert/Bernstein, F.W. (1997): Besternte Ernte: Gedichte. Frankfurt a.M.: Fischer. Gigl, Fritz (o.J.): Die weitgehend unbekannte Seite von Karl Valentin. http://www.giglfritz.de/kv/kvunbekannt/kvunbekannt.htm (Stand der Abfrage: 10.03.2009). Goethe, Johann Wolfgang von (2008): Wilhelm Meisters Lehrjahre. Frankfurt a.M.: Fischer.
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Kultur des Vergnügens
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Der Jahrmarkt in der Literatur
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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft Juni 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5
Thomas Hecken Pop Geschichte eines Konzepts 1955-2009 September 2009, 568 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-982-4
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3) ANZ1070.p 221422469950
Kultur- und Medientheorie Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Juni 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9
Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Dezember 2009, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1
Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens Februar 2010, ca. 330 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1194-6
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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion
Dezember 2009, ca. 450 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3
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Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«
Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht
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Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva, Daniel Stein (Hg.) Comics Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums August 2009, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1119-9
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Von Monstern und Menschen Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive November 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1235-6
April 2009, 326 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0
Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts Januar 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-803-2
Rebekka Ladewig, Annette Vowinckel (Hg.) Am Ball der Zeit Fußball als Ereignis und Faszinosum Juli 2009, 190 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1280-6
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien November 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
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