Wider den Kulturenzwang: Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur [1. Aufl.] 9783839409879

In Zeiten transkultureller Bewegungen erweist sich die Literatur, die sich aus verschiedenen Gründen nicht in nationale

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German Pages 412 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
KULTURALISIERUNG
Ehrenmord, Ethnologie und Recht
Operative Kultur und die Subjektivierungsstrategien in der Integrationspolitik
Kulturelle Grenzziehungen in integrationspolitischen Diskursen deutscher Printmedien
Zur Soziogenese einer kulturalisierten Einwanderungsgesellschaft
Rappen für Gott, König und Vaterland: Über Trance, Kulturalisierung und Macht in Marokko und der marokkanischen Migration
SCHREIBWEISEN DER MIGRATION
»Wer Augen hat, der sehe, und das Wissenswerte wird einem dann kundgetan.« Interview mit Feridun Zaimoğlu
Kritisch »Kanak«: Gesellschaftskritik, Sprache und Kultur bei Feridun Zaimoğlu
Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino
Fiktive Migration und migrierende Fiktion. Zu den Lebensgeschichten von Emine, Leyla und Gül
WELTLITERATUR
»Die Entrückung gebiert Ungeheuer.« Interview mit Ilija Trojanow
Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. Literaturen für Europa
Öde Landschaften und die Nomaden in der eigenen Sprache. Bemerkungen zu Franz Kafka, Feridun Zaimoğlu und der Weltliteratur als »littérature mineure«
Eine exemplarische Analyse des weltliterarischen Anspruchs: Sadeq Hedayats Buf-e kur (1936)
Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I: Die fünf Zeitschichten der Globalisierung
Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée II: Die Ökumene des swahili-sprachigen Ostafrika
Autorinnen und Autoren
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Wider den Kulturenzwang: Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur [1. Aufl.]
 9783839409879

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Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hg.) Wider den Kulturenzwang

2009-04-16 16-17-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cf207793724200|(S.

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2009-04-16 16-17-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cf207793724200|(S.

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Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hg.) Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur unter Mitarbeit von Stefanie Ulrich

2009-04-16 16-17-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cf207793724200|(S.

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Gefördert vom Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universtät Konstanz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-987-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-04-16 16-17-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cf207793724200|(S.

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INHALT

Vorwort ÖZKAN EZLI, DOROTHEE KIMMICH UND ANNETTE WERBERGER 9

KULTURALISIERUNG

Ehrenmord, Ethnologie und Recht THOMAS HAUSCHILD 23

Operative Kultur und die Subjektivierungsstrategien in der Integrationspolitik LEVENT TEZCAN 47

Kulturelle Grenzziehungen in integrationspolitischen Diskursen deutscher Printmedien VALENTIN RAUER 81

Zur Soziogenese einer kulturalisierten Einwanderungsgesellschaft JÖRG HÜTTERMANN 95

Rappen für Gott, König und Vaterland: Über Trance, Kulturalisierung und Macht in Marokko und der marokkanischen Migration MARTIN ZILLINGER 135

SCHREIBWEISEN

DER

MIGRATION

»Wer Augen hat, der sehe, und das Wissenswerte wird einem dann kundgetan.« Interview mit Feridun Zaimoğlu PHILIPP OSTROWICZ/STEFANIE ULRICH 177

Kritisch »Kanak«: Gesellschaftskritik, Sprache und Kultur bei Feridun Zaimoğlu YASEMIN YILDIZ 187

Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino ÖZKAN EZLI 207

Fiktive Migration und migrierende Fiktion. Zu den Lebensgeschichten von Emine, Leyla und Gül ANDREAS PFLITSCH 231

WELTLITERATUR »Die Entrückung gebiert Ungeheuer.« Interview mit Ilija Trojanow ILIJA TROJANOW 253

Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. Literaturen für Europa OTTMAR ETTE 257

Öde Landschaften und die Nomaden in der eigenen Sprache. Bemerkungen zu Franz Kafka, Feridun Zaimoğlu und der Weltliteratur als »littérature mineure« DOROTHEE KIMMICH 297

Eine exemplarische Analyse des weltliterarischen Anspruchs: Sadeq Hedayats Buf-e kur (1936) NACIM GHANBARI 317

Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I: Die fünf Zeitschichten der Globalisierung ERHARD SCHÜTTPELZ 339

Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée II: Die Ökumene des swahili-sprachigen Ostafrika THOMAS GEIDER 361

Autorinnen und Autoren 403

VORWORT ÖZKAN EZLI, DOROTHEE KIMMICH, ANNETTE WERBERGER

Ursprünglich sollte der vielprämierte Film Gegen die Wand nach Aussage Fatih Ak¤ns eine Komödie werden.1 Die Geschichte einer jungen türkischen Frau, die mit Hilfe einer Scheinehe mit einem türkischen Mann versucht, in einer verdeckt rebellischen Form den traditionellen Lebenserwartungen der Eltern zu entkommen. Mit witzig-humorvollen Besuchsszenen – die Eltern beim frischvermählten Paar – sollte die essentialisierende Kulturzuschreibung eines türkischen Ehrenkodex konterkariert werden.2 Es ist gut möglich, dass Ak¤n in seinen Überlegungen zu dieser Geschichte an den – zehn Jahre vor Gegen die Wand mit dem »Goldenen Bären« ausgezeichneten – Film The Wedding Banquet (1993) seines amerikanisch-taiwanesischen Kollegen Ang Lee gedacht hat. Denn in diesem Film steht ganz ähnlich eine geplante Scheinehe zwischen einem homosexuellen Taiwaner und einer taiwanesischen Malerin im Vordergrund; sie soll den Eltern des Mannes seine homosexuelle Beziehung zu einem Amerikaner verheimlichen. Die Eltern kommen aus Taiwan zu Besuch nach New York, um die designierte Schwiegertochter kennenzulernen. Die Zusammenkunft unterschiedlicher Lebensmodelle zwischen selbst gewählten Lebensentwürfen und tradierten Normen fängt Lee in seinem Film gekonnt humoristisch und subtil auf.3 Es waren das Ereignis des 11. September und seine unmittelbaren gesellschaftspolitischen Folgen, die – so Ak¤n – eine Komödie in dieser

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Akın, Fatih: Gegen die Wand, Spielfilm, Corazon International, Deutschland 2003/2004. Essentialisierung generiert die Vorstellung eines Wesenskerns, der den Charakter eines Menschen, einer Gesellschaft oder einer Epoche unverrückbar bestimmt. Essentialisierungen reduzieren die Vielschichtigkeit sozialer Phänomene auf ein Merkmal und führen oft zu Verhärtungen sozialer Konflikte. Lee, Ang: Hsi Yen – The Wedding Banquet, Spielfim, Central Motion Pic./ Good Machine, Taiwan/USA 1992. 9

WIDER DEN KULTURENZWANG

Form nicht mehr zuließen.4 Gegen die Wand wurde ein Drama mit identischer Story, das der durch 9/11 sich verstärkenden imaginären Logik eines »Clash of Cultures« begegnet. Seine Protagonisten Sibel (Sibel Kekilli) und Cahit (Birol Ünel) sind weder deutsch noch türkisch, weder muslimisch noch nicht-muslimisch. Sie sind existentielle Figuren, die aufgrund ihrer körperlichen Bedürfnisse und Wünsche – Sibel geht die Scheinehe ein, um mit so vielen Männern wie möglich zu schlafen – den essentialistischen Kulturdiskurs konterkarieren. Gegen einen »Clash of Cultures« wird hier ein »Clash of Desires« eingeführt, der sich nicht auf Gesetze und Grenzen von Kulturen, sondern auf menschliche Bedürfnisse bezieht.5 Die Geschichte illustriert mit den Protagonisten nicht, wie Kulturen funktionieren, sich begegnen oder Konflikte generieren. Vielmehr stellt sich heraus, dass keine der Handlungen, Einstellungen, kein Traum und keine Sehnsucht der Figuren »kulturell« sinnvoll begründet, erklärt motiviert oder begriffen werden kann. Der Film entwirft und zeigt ein »Milieu« – durchaus im materialistischen Sinne Bourdieus –, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es keiner »Kultur« zuordenbar ist. Die Protagonisten sind keine »Türken« und keine »Deutschen«, keine Kleinbürger und keine Proletarier. Sie sind politisch nicht links, aber auch nicht konservativ, auch nicht rechts. Religion spielt keine Rolle für die Definition der eigenen Person. Persönliche Bindungen werden nicht nach traditionellen Modellen gestaltet, sondern als Laboratorium und Experiment verstanden. Der Film feiert die ganz große, ganz unmögliche Liebe zweier radikal selbstmörderischer Individuen, wie sie nicht erst seit Penthesilea und Achill, Chosrou und Schirin, MadschnÙn und Layla, Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Rick und Ilsa die Weltliteratur bevölkern. Gerade weil die beiden nirgends dazugehören und eigentlich allen fremd sein müssten, wirkt das Phänomen, dass sie zugleich für alle verständlich eine welthistorische Tradition weiterleben, verstörend und anrührend zugleich. Sie gehören zu keiner Kultur, zu keinem Milieu, sondern sind der Welt der tragischen Liebesfiktionen entstiegen; diese allerdings, so lässt man sich leicht überzeugen, ist realer als jede deutsche oder türkische »Kultur«, die im Gegenzug nur ein billiger Abklatsch von Imaginationen ist. Kultur als »Essenz«, als Gründungmythos, stellt sich als ideologisch heraus; allerdings handelt es sich um eine politisch hochwirksame und produktive ideologische Konstruktion. Die 4 5

Siehe Audiokommentar zu: Akın, Fatih: Gegen die Wand, Spielfilm, Corazon International, Deutschland 2003/2004. Vgl. Ezli, Özkan: »Von der Identität zur Individuation. Gegen die Wand: eine Problematisierung kultureller Identitätszuschreibungen«. In: Konfliktfeld Islam in Europa, hg. v. Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan, Soziale Welt Sonderband 17 (2007), S. 283-304. 10

VORWORT

Funktionsweisen von kulturalistischen Zuweisungen heraus zu arbeiten, zu diskutieren und zu kritisieren, dieser Aufgabe ist der erste Teil der hier versammelten Beiträge gewidmet. Der Ethnologe Thomas Hauschild konstatiert für die Entwicklung seiner Disziplin, dass niemand mehr in der Ethnologie, besonders in der international stark verbreiteten dekonstruktivistischen Ethnologie, mit einer Rückkehr des Begriffs »Ehre« im Zusammenhang der Ehrenmorde gerechnet hätte. Mit einer semantischen Expansion des so genannten »Ehrenmords« kehrte auch die Vorstellung von »Kultur als Essenz« zurück: »Nach der Skandalisierung von Morden im Namen der Ehre in den letzten Jahren sind wir aufgefordert, deutlich Antwort auf die Frage zu geben, ob Zuwanderer aus dem Mittelmeerraum, ob Männer aus tribalen, patrilinear organisierten Gesellschaften, ob muslimische Männer durch ihre Kultur genötigt sind, gelegentlich Mitglieder ihrer eigenen Familie zu töten. Und wir müssen uns mit diesem Thema angesichts einer kritischen weltpolitischen Situation positionieren, wo der so genannte Ehrenmord obendrein immer häufiger pauschal ›dem Islam‹ zugeordnet wird«6 (S. 29). Dieser Pauschalisierung begegnet Hauschild konkret in deutschen Gerichtsentscheidungen zu Ehrenmordfällen, die in der Regel als Affekthandlungen verhandelt werden, weil sie an einen islamischen Kulturcode gebunden seien. Es gebe, so Hauschild, nach den Gerichtsurteilen einen Zwang zum Ehrenmord, einen »Zwang zur Kultur«, der Ehrenmorde entsprechend nicht als Handlungen aus »niederen Beweggründen« definieren kann (S. 25). Jedoch beweise schon eine oberflächliche Akteneinsicht, dass es sich in den meisten Fällen nicht um Clanaufträge handelt. Vielmehr zeigen sich heterogene Motivationen der Täter, die nicht auf Kultur, sondern auf gespannte, von dramatischem Streit gekennzeichnete Patchwork-Familienverhältnisse verweisen. Vergleichbare Kulturalisierungen seit dem 11. September sehen auch die Soziologen Levent Tezcan und Jörg Hüttermann in der deutschen, aber auch in der internationalen Ausländer- und Migrationspolitik. Aus einer Makroperspektive zeigt Tezcan auf, dass in England, den Niederlanden und in Deutschland Kultur sich »gegenwärtig unter den operativen Gesichtspunkten der Regierbarkeit primär in Religion übersetzen lässt. Religion soll qua Konstitution gesellschaftlich verantwortbarer Subjekte die Regierbarkeit multikultureller Gesellschaft gewährleisten« (S. 48). Hier erfolgt eine systematische Einbindung von Religion (Islam) in die Integrationspolitik bei der es gilt, Gefahrenpotentiale und

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Die Seitenzahlen im Fließtext nach den Autoren beziehen sich im Folgenden auf den vorliegenden Band. 11

WIDER DEN KULTURENZWANG

Ressourcen der Migrationsbevölkerung zu ermitteln. Die Migranten würden als religiöse Subjekte verstanden; wobei zu erwähnen ist, dass diese »Entdeckung« des Islams partiell von den Migranten der zweiten Generation durchaus selbst angebahnt wurde.7 Wir haben es bei den neuen Integrationspolitiken im Schatten der Terrorakte in den Vereinigten Staaten und in Europa mit einer Islampolitik zu tun, »die auf die Zurichtung berechenbarer muslimischer Subjekte zielt« (S. 76). Gegen die Gleichsetzung von »Migrant« und Muslim wendet sich auch der Beitrag von Jörg Hüttermann. Kulturkonflikte, zum Beispiel der Moscheenstreit, seien nicht der Kultur, sondern dem Sozialen geschuldet. Die vermeintlichen Kulturkonflikte in der deutschen Einwanderungsgesellschaft sind nach Hüttermann Rangordnungskonflikte: »Gerade der Übergang vertikaler Hierarchien zum Differential einer prekären Vormacht über erstarkende Fremde ist eine wichtige Bedingung für die Entzündung gruppenbasierter Rangordnungskonflikte. […] Sie durchbrechen lebensweltlich sedimentierte Rangordnungsgrenzen und bedrohen das eingelebte Machtdifferential« (S. 120). Hüttermann, Tezcan und Hauschild konstatieren, dass Integrationsfragen immer mehr als religiöskulturelle Fragen erscheinen. Problematisch ist dies, weil sich so Konflikte und Probleme durch die Aufrufung »tiefster Kulturschichten oder höchster theologischer Wahrheiten in nicht mehr verhandelbare ›Entweder-oder-Konflikte‹ verwandeln«.8 Der Blick auf kulturelle Grenzziehungen bestimmt auch den Beitrag Valentin Rauers, der Kulturenzwänge in öffentlichen Aussagen der türkischen Dachverbände TBB (Türkischer Bund Berlin-Brandenburg) und TGD (Türkische Gemeinde in Deutschland) in den Printmedien zwischen den Jahren 1995 bis 2004 nachgeht. In diesem Zeitraum waren es vor allem die thematischen Schwerpunkte »Staatsbürgerschaft«, »Islam« und »Integration«, die den Mediendiskurs seitens der Verbände bestimmten, »die grundsätzlich auf die Bearbeitung und Reflexion kultureller Grenzziehungen zielen« (S. 86). In diesen Feldern zeigt Rauer auf, dass die grundlegende Kulturunterscheidung eigen/fremd nicht eindeutig angewendet, sondern in den genannten Bereichen differente Variationen erfährt, die Kulturenzwänge problematisiert. Auf eine Verhandlungsform von Kulturen jenseits einer »Entwederoder-Logik« macht Martin Zillinger in der marokkanischen Migration 7

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Vgl. Schiffauer, Werner: »Vom Exil- zum Diaspora-Islam. Muslimische Identitäten in Europa«. In: Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Jahrgang 55 (2004), Heft 4, S. 347-368. Hirschmann, Alfred: »Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?«. In: Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft 22 (1994), S. 293-304, hier S. 303. 12

VORWORT

aufmerksam, deren Ausdruck von Rapmusik bis hin zu auf den ersten Blick traditionell organisierten Hochzeiten von Migranten im Emigrationsland Marokko reichen. Bei seinen ethnographischen Analysen von Hochzeiten, mystische Prozessionen (Æikr) und Videoclips stellt er transversal eine Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten, wie die Kopplung von Inszenierung und Authentizität, von Individualität und Kollektivität, von Staat und individuellem Körper dar, die sich mit einer »sowohl (modern) als auch (nicht-modern)-Logik« auf den Sufismus beziehen und dabei nicht auf die segregierende, sondern integrierende Kraft von Kultur verweisen, die sich jedoch der Konstitution ganzheitlicher Kultursubjekte verweigert. Schreibweisen der Migration – so der Titel des zweiten Teils – stellen offenbar eine zeitgleiche, einflussreiche und komplexe Gegenbewegung zu den Tendenzen der Kulturalisierung dar. Wollten die Schriftsteller der ersten Einwanderungsgeneration noch die Sorgen und Nöte ihrer Landsleute in der Diaspora vertreten, so kann davon heute keine Rede mehr sein. Weder die türkische noch die deutsche noch eine irgendwie geartete deutsch-türkische Kultur des Dazwischen wird hier repräsentiert. Die Schreibweisen der Migration sind »trans-kulturell« nicht nur in dem Sinne, dass sie nicht einer bestimmten Kultur zuzuordnen sind; hier wird »Kultur« vielmehr »transzendiert« in einem kritischen Sinne, der die Zwänge jeglicher kultureller Repräsentation aufgreift, unterläuft und vor allem ironisiert. Die lange Zeit an der Peripherie der Kultur angesiedelte Literatur- und Filmproduktion von Migranten erweist sich so mittlerweile als zentrales Feld kulturtheoretischer und kulturwissenschaftlicher Diskussionen. Für die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Yasemin Y¤ld¤z zeigt sich die Komplexität einer ästhetischen, sprachlichen und sozialen Verortung von Schreibweisen der Migration besonders in der Kanak Sprak, die der deutsch-türkische Literat Feridun ZaimoÊlu Mitte der 1990er Jahre mit seinen Publikationen Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995), Abschaum (1997) und Koppstoff (1998) initiierte. Der hier beschriebene und zugleich erfundene »Kanake« hat die »deutsche Kulturlandschaft des letzten Jahrzehnts insgesamt animiert« (S. 190). Hier wird eine in Deutschland besonders verwurzelte Vorstellung der Verbindung zwischen Sprache, Nation und Ethnie imaginativ unterlaufen. »Kanak Sprak inszeniert die deutsche Sprache […] als einen Ort, an dem Lokales und Transnationales zusammentrifft; einen Ort, der nationale Erinnerungen als auch die Erinnerung an nichtnationale Sprachen und Geschichten in sich aufgenommen hat«: Eine Neuimagination der deutschen Kultur als Transkultur (S. 203).

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WIDER DEN KULTURENZWANG

Was hier für die deutsch-türkische Literatur gilt, finden wir ähnlich in der deutsch-türkischen Filmproduktion. Özkan Ezli zeigt einen Wandel in deutsch-türkischen Filmen von der 1980ern bis zu Fatih Ak¤ns Film Auf der anderen Seite auf, die er als einen Übergang von interkultureller zu kultureller Kompetenz nachzeichnet. Bei dieser stichprobenartigen Kurzgeschichte des deutsch-türkischen Films konzentriert sich Ezli kultur- und filmanalytisch auf die Filme Tevfik Ba¢ers aus den 1980ern und auf die beiden Filme Gegen die Wand (2003) und Auf der anderen Seite (2007) von Fatih Ak¤n. Wenn Gegen die Wand noch durch den Inhalt seiner Geschichte als ein deutsch-türkischer Film bezeichnet werden konnte, so ist Auf der anderen Seite als globales und internationales Kino zu sehen, das sich von der Vorrangigkeit des deutsch-türkischen Konnex' gelöst hat. Trotz der biographisch bedingten Disposition, die Migration, Familie, Nation und Kultur bündelt, geht es in Akıns Film weder um einen Kulturdialog noch um einen Kulturkonflikt. Kultur wird in Auf der anderen Seite vielmehr von einer Unbestimmtheit getragen, die moderne und vormoderne Vorstellungen von Kultur, wie sie Dirk Baecker in Wozu Kultur? ausführt,9 zusammenbringt. Jenseits einer Logik der Identität, der Essentialisierung wird Kultur hier als Material und nicht als Ziel der Selbstbestimmung verhandelt. Ak¤n ging es nach seinem Audiokommentar zum Film darum, visuelle Ähnlichkeiten und somit visuelle Beziehungen zwischen den Protagonisten zueinander und den Protagonisten zu den Dingen und Landschaften zu schaffen.10 Sie bestimmen die Behandlung und Bearbeitung von Kultur in diesem Film, die die behandelten Kulturen »auf eine ›vorerste‹ [avant-première] (Derrida) Kultur zurückführt, der man Prägungen, Verletzungen, Begehrlichkeiten verdankt, die man empfangen hat, als man noch gar nicht wusste, dass es so etwas wie eine Kultur gibt«11. Auch Andreas Pflitschs vergleichende Analyse der Romane Das Leben ist eine Karawanserei von Emine Sevgi Özdamar, Leyla von Feridun Zaimoğlu und Die Tochter des Schmieds von Selim Özdoğan konstatiert, dass in der deutsch-türkischen Literatur nicht von Kulturalisierungen die Rede sein kann. Vielmehr stehen nach Pflitsch beim Vergleich dieser drei Romane in einem innerdeutsch-türkischen Verhältnis zwei Generationen von AutorInnen gegenüber, die die gleichen Lebensgeschichten der ersten Generation, bedingt durch unterschiedliche Narrationsformen zwischen »migrierender Fiktion vs. fiktiver Migration«, different

9 Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2003, S. 28. 10 Akın, Fatih: Auf der anderen Seite, Spielfilm, Corazon International, Deutschland/Türkei 2006/2007. 11 Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, S. 31. 14

VORWORT

bearbeiten.12 Zwei Interviews mit prominenten Vertretern der zeitgenössischen deutschen Literaturszene runden den zweiten Teil des Buches ab. Beide Autoren, Zaimoğlu und Trojanow, zählen sich dezidiert nicht zur Migrationsliteratur.13 Keiner sieht sich als Repräsentant einer bestimmten »Kultur«, weder der deutschen noch der türkischen noch der bulgarischen etc. Das Deutsche als Literatursprache bildet vielmehr einen Raum, der mit Kontexten unterschiedlichster Herkunft angefüllt wird. Die Beiträge zu den Kapiteln Schreibweisen der Migration und Weltliteratur (dritter Teil) zielen in enger Relation zum Ausgangskapitel Kulturalisierungen darauf, Veränderungen in Literatur, Kultur und den Wissenschaften durch transkulturelle Bewegungen in Zeiten der Globalisierung aufzuzeigen und sie kulturtheoretisch zu verorten. Aufgrund der gesteigerten Zirkulation von Literatur in der Welt durch Migration und hohe Mobilität wird seit den 1990er Jahren intensiv darüber diskutiert, ob der traditionelle Begriff »Weltliteratur« in Zeiten der Globalisierung Bedeutung haben kann oder ob es anderer Begriffe bedarf, um die neuen nichtnationalen, transnationalen, transkulturellen Textgattungen und Rezeptionsgewohnheiten zu beschreiben. In kurzen Abständen erschien eine ganze Reihe von Artikeln und Büchern zum Thema Weltliteratur.14 12 Siehe hierzu auch: Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 61-73. 13 Die beiden Autoren waren im November 2007 als Poetikdozenten in Tübingen. Die Vorlesungen wurden publiziert: Feridun Zaimoglu, Ilija Trojanow: Ferne Nähe, hg. v. Dorothee Kimmich/Philipp Ostrowicz, Künzelsau 2008. 14 Die »American Comparative Literature Association« lässt in 10-jährigen Abständen Berichte zur Lage der Disziplin schreiben. Nach Comparative Literature in the Age of Multuculturalism (1995) erschien 2006 Comparative Literature in the Age of Globalization. Haun Saussy, der den letzten Bericht herausgab, konstatiert zwei seit 2003 aktuelle Modelle der komparatistischen Forschung und Lehre: »›world literature‹ and the politics of empire« (siehe: Saussy, Haun: Comparative Literature in an Age of Globalisation, Baltimore 2006, S. viii). Die Hauptakteure dieser neuesten Weltliteraturdiskussion sind vor allem Emily Apter, David Damrosch, Franco Moretti, Christopher Prendergast. Aber auch in Deutschland und Frankreich sind wichtige und vieldiskutierte Arbeiten entstanden. So hat Manfred Koch in Weimarer Weltbewohner sehr differenziert die Entstehung von Goethes Begriff »Weltliteratur« analysiert (siehe Koch, Manfred: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff ›Weltliteratur‹, Tübingen 2002). Pascale Casanova hat in La république mondiale des lettres (Paris 1999) ökonomisch-politische und literarische Zirkulationen 15

WIDER DEN KULTURENZWANG

Trotz neuer Untersuchungen zu Aspekten der Übersetzung oder zum Lesen als weltliterarischem Modus dominieren weiterhin kanonischqualitative und extensiv-quantitative Konzepte das Feld der Weltliteraturdiskussion. Franco Moretti hat sich deswegen auch gegen eine reine Ausweitung der weltliterarischen Lesezone ausgesprochen und für ein »distant reading« plädiert, das beispielsweise der wellenförmigen Wanderung der Romangenres durch die Welt folgt.15 In welcher Weise Konzepte von »Weltliteratur«, wie sie das 19. Jahrhundert vordenkt, die heutige Rezeption und Produktion noch erfassen können, untersucht Dorothee Kimmich. Nicht nur – vorwiegend in großen Weltsprachen geschriebene und – weltweit verbreitete Texte bestimmen, was heute Weltliteratur ist. Vielmehr gehört dazu gerade der Aspekt der transkulturellen Überschreitung von »Kultur« als Wirklichkeit und Entität. Die neue Weltliteratur initiiert weder einen »Dialog« der Kulturen noch »interkulturelle« Kommunikation, sondern stellt vielmehr die Existenz von »Kulturen« als Akteuren oder Systeme selbst in Frage. Der Romanist Ottmar Ette kartographiert in seinem weit ausgreifenden Aufsatz eine Theorie der europäischen Literatur, die sich nicht mehr auf ein europäisches Territorium, sondern auf einen Bewegungsraum zwischen dem National- und Weltliterarischen bezieht – und dabei an Schreibwege und -formen des lateinischen Mittelalters erinnert. Nach einem Überblick über Globalisierungsphasen schließt er an Überlegungen Giorgio Agambens und Jorge Semprúns an und zeigt anhand eindrücklicher Beispiele (Albert Cohen, Emma Kann, Cécile Wajsbrot oder Max Aub), wie sich »aus den Konzentrationslagern ein neues, vielsprachiges und vielkulturelles Europa erhebt, das zum Gegenpol jeglichen totalitären Denkens wird« (zweites Kapitel). Er verbindet damit überraschenderweise die Literatur der Shoah mit ihren Bewegungsmustern von vielfacher Flucht, Deportation und Internierung mit der Imagination einer globalisierten Literatur, die sich aus geschichteten Migrationsprozessen speist und ein translinguales Schreiben im weltweiten Maßstab repräsentiert (José Oliver, Emine Sevgi Özdamar, Sherko Fatah und Yoko Tawada). Nacim Ghanbari untersucht anhand einer exemplarischen Analyse von Buf-e kur (Die blinde Eule) des persischen Schriftstellers Sadeq Hedayat wie sich durch diesen Text die weltliterarische Initiation der kurzgeschlossen. Siehe aber auch die Arbeiten von Ottmar Ette und Elke Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg 2007. 15 Moretti, Franco: »Conjectures on World Literature«. In: Debating World Literature, hg. v. Christopher Pendergast, London/New York 2004, S. 148162. 16

VORWORT

iranischen Literatur vollzieht. Motoren für Hedayats weltliterarischen Anspruch sind dabei die Mobilität von Texten, die Artikulation von Rückständigkeit mittels Modernisierungstheorien oder der Import literarischer und folkloristischer Stilmittel. Hedayat gelingt letztendlich ein weltliterarischer Erfolg, weil er regionale Literatur mittels Verfahren der Doppelung in Weltliteratur umschreibt. Erhard Schüttpelz beleuchtet im Dialog mit Thomas Geider einen anderen Aspekt der Weltliteratur:16 Er konstatiert im Zusammenhang mit seinen Studien zur ethnoliterarischen Moderne in Die Moderne im Spiegel des Primitiven viel eher eine Schrumpfung des Literaturbegriffs seit den 1960er Jahren, der das völlige Aufbrechen des Eurozentrismus und Universalismusanspruchs der »Neuen Weltliteratur« in Frage stellt. Schüttpelz konstatiert, dass seit dem Poststrukturalismus und seinem dominanten Textualismus ein Literaturbegriff entsteht, der die Einbindung oraler Literatur in die Konzepte von Weltliteratur verhindert. Damit bleiben trotz des subversiven Gestus postkolonialer Theorie Asymmetrien erhalten. Denn während in der Hochzeit des Kolonialismus der Zustrom verschriftlichter oraler Stimmen den europäischen Hochliteraturbegriff zumindest zeitweise in Frage stellte und sich Autoren, Linguisten, Ethnologen und Schriftsteller mit diesen – vielleicht einzigen wirklich universalen – Traditionen aktiv auseinandersetzten, wird orale Literatur nach 1960 aus dem Kanon ausgeschlossen. Das Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Othering erschafft eine Dichotomie zwischen der Mündlichkeit der Nicht-Europäer und Schriftlichkeit der Europäer, die dazu führt, dass in den 1960er Jahren in den Medientheorien eine Rehabilitierung der Mündlichkeit versucht wurde, die aber den Literaturbegriff unangetastet ließ. Schüttpelz und Geider werfen in diesem Band deswegen gemeinsam einen Blick auf »Weltliteratur in der Longue durée«. Schüttpelz differenziert dabei in Anlehnung an Ferdinand Braudels Erforschungen der Weltwirtschaft zwischen einer »Weltliteratur« (littérature mondiale), die alle literarischen Erzeugnisse der Welt meint, also die weltweite Literatur, und einer »Weltliteratur« (littérature monde) als Teil-Ausschnitt der literarischen Aktivitäten, die eine weltumspannende Literatur erst hervorgebracht und gestaltet hat. Um dieser universalhistorischen Frage nachzugehen, skizziert Schüttpelz die weltweite Mobilisierung von Personen, Dingen und Zeichen anhand von fünf »Globalisierungen« und damit das Forschungsprogramm für einen Begriff von Weltliteratur, der die Effekte dieser Zeitschichten berücksichtigt. 16 Der folgende Abschnitt bezieht sich auf das 11. Kapitel »Weltliteratur im imperialistischen Zeitalter« in Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven, München 2005, S. 351-379. 17

WIDER DEN KULTURENZWANG

Der Afrikanist Thomas Geider versteht Weltliteratur als »einen diskursiven Raum« und Kommunikationsakt, indem nicht nur literarische Werke, sondern auch Literaturleser, -produzenten und -wissenschaftler sowie Interpretationsansätze, Übersetzungen, literarische Topoi in Kontakt stehen, was er eindringlich anhand einer Fallgeschichte beschreibt, der Editions- und Übersetzungsgeschichte von Aniceti Kiterezas Roman Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka Ntulanalwo na Bulihwali (Die Kinder der Regenmacher) zeigt. Geiders Analyse des Swahili-Romans zeigt zugleich die Chancen und die Grenzen der heutigen »Neuen Weltliteratur«.17 Die Bewegungen und Veränderungen, die in den Kapiteln Schreibweisen der Migration und Weltliteratur skizziert werden, stehen in einem gegenläufigen, jedoch besonderen Verhältnis zu den soziologischen und ethnologischen Reflexionen im Einstiegskapitel Kulturalisierungen. Wenn der Kulturenzwang einheitliche und ganzheitliche Kultursubjekte konstituiert, die eine Entweder-oder-Struktur implizieren und dabei von einem geobotanischen Menschenbild ausgehend Kultur nur als abstraktreine Identität ideomotorisch18 denkt, treffen wir in den literarisch und filmisch bearbeiteten Migrationen von Menschen und Dingen, in den weltweiten transkulturellen Zirkulationen von Texten auf komplexe Verhandlungen von Kulturen, die zwar künstlerisch geformt, jedoch realen Lebensgeschichten entnommen sind und so eine zentrale sensitive Ebene einführen. Diese Bindung von Ideo- und Sensumotorik,19 die aufgezeigte Wechselseitigkeit von Leben und Fiktion ist wie in Fatih Akıns Filmen keine trennbare. Dort wo sie getrennt wird, kommt es zu Kulturenzwängen, wird Kultur zur Ideologie des 21. Jahrhunderts. Der Band entstand durch eine Kooperation mit dem Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz, dem wir auch für Förderung der Tagung und der Publikation herzlich danken. Ein weiterer Dank geht an Philipp Ostrowicz für seine redaktionelle Mitarbeit. Die Konzeption der Tagung und des Bandes entstand im 17 Zum Begriff der »Neuen Weltliteratur« siehe Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg 2007. 18 Eine Ideomotorik bindet das Sichtbare, das Konkrete an ein abstraktes Gesetz, an eine Idee. 19 Eine Sensumotorik bindet das Sichtbare an Körper und Dinge. Ihre Logik ist nicht an abstrakte Begriffe oder Gesetze gebunden. Die Begriffe Ideound Sensumotorik gehen auf eine Unterscheidung von Gilles Deleuze zurück. Siehe: Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 31. 18

VORWORT

Zusammenhang mit der Tübinger Poetikdozentur 2008. Wir danken den beiden Dozenten, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoğlu für ihre Beiträge zu diesem Band.

19

K ULTURALISIERUNG

EHRENMORD, ETHNOLOGIE

UND

RECHT

THOMAS HAUSCHILD » C u l tu r a l D e f e n s e « Es ist nun schon viele Jahre her, seit ein Pionier der deutschen Kulturund Sozialanthropologie, nämlich Werner Schiffauer, den öffentlichen Diskurs über Zuwanderung, ethnische Kulturen und Gewalt aus einer wissenschaftlich-ethnologischen Perspektive angestoßen hat. Bis zur Veröffentlichung von Schiffauers Aufsatz über die »Gewalt der Ehre«1 im Jahre 1980 war das Thema »Ausländer« vor allem Gegenstand politisch grundierter Auseinandersetzungen im Umfeld der deutschen Soziologie, nun ergriffen die Ethnologen das Wort. Ausgangspunkt von Schiffauers Veröffentlichung im damals sehr populären Kursbuch war die Entführung und Vergewaltigung einer deutschstämmigen jungen Frau durch eine Gruppe von Jugendlichen, die fast alle der zweiten Generation türkischer Einwanderer zuzurechnen waren. Ganz im Stile der damals im Fach Ethnologie international sehr anerkannten anthropology of the Mediterranean2 schilderte Schiffauer den Fall als ein schreckliches interkulturelles Missverständnis. Die junge Frau war von einer Gruppe von Jugendlichen auf der Straße aufgegriffen und dann tagelang vergewaltigt worden. Sie sei mitgegangen, weil ihre pathologische Furcht vor der Gewaltbereitschaft ausländischer Jugendlicher sie schon auf der Straße, als sie noch gar nicht bedroht wurde, wehrlos gemacht habe. Xenophob verängstigt sei sie, so Schiffauer damals, zum Objekt eines Mannbarkeitsrituals geworden, in dessen Verlauf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit auf das Gröbste von jungen Männern verletzt wurde. Diese hätten sich zu dieser Straftat gegenseitig herausgefordert, es sei ihnen um eine Demonstration von Virilität und männlicher Ehre gegangen. Das deutsche Kulturmerkmal der Xenophobie habe sich mit dem türkischen

1 2

Schiffauer, Werner: »Die Gewalt der Ehre«. In: Kursbuch, Bd. 62, Berlin 1980, S. 1-16. Siehe z.B. Dir, Yamina: Bilder des Mittelmeerraumes: Phasen und Themen der ethnologischen Forschung seit 1945, Berlin 2005. 23

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Kulturmerkmal der virilen Ehre verfangen und so sei es zu der schrecklichen Tat gekommen. Die zugrunde liegende Argumentation lautet folgendermaßen: Junge Männer aus dem Mittelmeerraum hätten auf Grund des in mediterranen Familienverbänden aufrechterhaltenen Ehrkodex schützende, ritterlichehrenhafte Funktionen, insbesondere gegenüber ihren weiblichen Verwandten. Sie würden aber auch zu eher aggressiven und machistischen Verhaltensweisen jenseits der Grenzen der Verwandtschaft erzogen. Die Mädchen aus mediterranen Familienverbänden seien gehalten, sich schamhaft zu geben, um drohender Entehrung zu entgehen, die auf ihre gesamte Familie zurückfallen würde. In dieser Dichotomie von Ehre und Schande, Tugend und Aggressionsbereitschaft seien mediterranes Alltagshandeln und insbesondere die Geschlechterbeziehungen verankert.3 Jugendliche schaffen in diesem Rahmen immer wieder Probleme, die von verheirateten Erwachsenen beiderlei Geschlechts in moderierenden Rollen unterschiedlicher Aktivitätsgrade vermittelt und bearbeitet werden, oft unter Zuhilfenahme der aggressiven Potentiale der jungen Männer. Gerät die Familienentwicklung mit der Reifung des Nachwuchses an einen kritischen Punkt, kommt es leicht zu heftigen Konflikten, die auch in Situationen der Familienfehde und Blutrache münden können. In bestimmten Fällen kann nur Gewalt, das »Blut« der »Blutrache«, die verletzte Ehre wieder reinwaschen. In solchen Fällen wird nicht nur die Kernfamilie zum Akteur, sondern auch das patrilineare verwandtschaftliche Umfeld, die patrilineal extended family, die in bestimmten, besonders staatsfernen Regionen des Mittelmeerraumes sogar zu stammesähnlichen Zusammenschlüssen, zu einer Art von Klanen erweitert werden.4 Ähnlich wie bei den teilautonomen, manchmal bis in 20. Jahrhundert hinein ohne staatliche Verwaltung lebenden Verwandtengruppen in afrikanischen oder asiatischen Gesellschaften, übernehmen korporative Akteure das Recht zur regulierenden Ausübung von Gewalt. Dem europäischen Verständnis nach sollte diese Form des Rechts in einem widerspruchsreichen »Prozess der Zivilisation« oder im Zusammenhang mit der Globalisierung der Zivilgesellschaftlichkeit vom Gewaltmonopol des Staates übernommen werden. In »schwachen Staaten« aber bliebe der gewalttätige Akteur mit einer Mentalität von Ehre und Schande erhalten, oft als eine Art »Verbrecher aus verlorener Ehre«. Als Mentalität bliebe der Kodex von Ehre und Schande sogar bei der Umsiedlung in Gebiete erhalten, die im Prozess der Zivilisation schon weiter fortgeschritten 3 4

Vgl. z.B. Peristiany, John G. (Hg.): Honour and Shame: The Values of Mediterranean Society, London 1965. Pitt-Rivers, Julian: The Character of Kinship, Cambridge 1975. 24

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sind. Mediterrane Mentalität zwänge also, wenn wir diese Argumentationskette für lückenlos halten, zum Beispiel türkische Einwandererfamilien, das Schema von »Ehre und Schande« fortzuführen – bis hin zu expansivem Verhalten gegenüber fremden Frauen, zur Fortführung von Blutrache und zum verabredeten Mord an abtrünnigen Frauen oder deren neuen Partnern. Werner Schiffauer hat damals wie heute diese Argumentation nie bis zu der hier geschilderten extremen kulturalistischen oder modernisierungs-theoretischen Konsequenz vertreten. In seinem später veröffentlichten Buch über die »Gewalt der Ehre«5 entwirft er auch eine Reihe materieller Motive, die zu scheinbar rein kulturspezifischen Taten antreiben können. Heute warnt er in der laufenden heftigen Debatte um den so genannten Ehrenmord dringlich davor, sich den Blick auf soziale und materielle Auslöser von innerfamiliärer Gewalt einfach »zukleben« zu lassen mit dem Begriff »Kultur«6. Doch die Buchveröffentlichung zur »Gewalt der Ehre« belegt noch seine Neigung, die Sympathie der Leser auf die Seite der Täter zu lenken. Bereits am Ende des Buches bedauert Werner Schiffauer in großer Offenheit die Schlagseite seines Arguments: Er habe es nie gewagt, mit dem Opfer der Gruppenvergewaltigung ein Interview zu führen oder es auch nur zu kontaktieren – obwohl, so muss man anfügen, er sich durchaus zutraute, dieser jungen Frau eine pathologische Türkenfurcht attestieren zu können. Ähnliche wie die hier entwickelten Überlegungen zum Thema »Ehre« kehren, manchmal unter Berufung auf Schiffauers Arbeiten, manchmal als Eigenschöpfungen juristischer Praktiker und Sachverständiger, in den 1980er und 1990er Jahren in zahlreichen Plädoyers vor deutschen Gerichten wieder, die zu Fällen innerfamiliärer und häuslicher Gewalt, zu Verbrechen aus Leidenschaft und zu verabredetem Mord im Milieu von Einwandererfamilien gehalten wurden. Auch in den USA fand diese Rechtpraxis als cultural defense Eingang in das System der Anklagen, Prozesse und Urteile und wird dort bis heute kontrovers diskutiert.7 Entsprechend milde Urteile gegen angeblich kulturbedingt handelnde Täter sind bis heute in Deutschland gelegentlich nachweisbar. Diese Praxis konnte an eine bis in die 1970er Jahre verbreitete europäische Rechtsprechung und Gesetzgebung anknüpfen, die »Verbrechen aus Leidenschaft« milder beurteilte als Morde und andere Gewalttaten, die aus »niederen Beweggründen« begangen wurden, zum Beispiel aus Habgier. Auch heute noch dient die strafrechtlich wichtige Kategorie der 5 6 7

Schiffauer, Werner: Die Gewalt der Ehre, Frankfurt a.M. 1983. Schiffauer, Werner: »Schlachtfeld Frau«. In: Süddeutsche Zeitung (25.02. 2005). Renteln, Alison Dundes: The Cultural Defense, Oxford 2004. 25

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Affekttat8 als Folie, auf der immer auch fremde kulturspezifische Normen und Werte vor deutschen Gerichten verhandelt werden. Es passte zum multikulturellen Denken der 1980er und 1990er Jahre, wenn man Menschen aus »anderen Kulturen« nach ihren eigenen Traditionen und Regeln zu beurteilen versuchte. Darunter verstand man aber seltsamerweise im beschriebenen Prozess der »Ethnologisierung« des juristischen Plädoyers nicht mehr das im Ursprungsland geltende Strafrecht, sondern das, was man auf Grund der Gutachten von Ethnologen und anderen Mittlern zwischen den Kulturen für die fremde Rechtsmentalität, also das Rechtsbewusstsein der Angeklagten hielt. Unter deutschsprachigen Ethnologen des Mittelmeerraumes bestand ab etwa 1970 eine Tendenz, als Gutachter eine milde Rechtssprechung gegenüber angeblich kulturspezifischen Taten von Migranten mit Aussagen über die türkische, die mediterrane Kultur zu stützen.9 Das stand in einem eigenartigen Kontrast zu krass ausländerfeindlichen Urteilen, die damals immer wieder in anderer Sache gefällt wurden; und beides ist wohl Teil dessen, was man heute einen Prozess des othering, der VerAnderung der Fremden nennt. Das statische Bild von der Mentalität und der Kultur der Einwanderer wurde bereits in den 1970er Jahren von einer Gruppe jüngerer Mittelmeerraumforscher und -forscherinnen10 aus England, Frankreich und den USA heftig kritisiert; in Deutschland setzte die kritische Durcharbeitung des Kulturalismus in der Migrationsforschung mit dem Ethnosoziologen Roberto Llaryora und dem Soziologen Wolfdietrich Bukow11 Anfang der 1980er Jahre ein. Verhaltensbestimmend seien im Mittelmeerraum selbst, aber auch bei den Migranten aus diesem Bereich nicht die traditionalen Werte, sondern die Erfahrungen, die sie in ihrer Heimat oder in der Zuwanderungsgesellschaft mit Modernisierung und Globalisierung machten, an der »Schnittstelle«, wie Bukow es nannte. Im Zuge der Globalisierungskritik und Globalisierungseuphorie während der 1990er Jahre wurde mit dem US-amerikanischen Mittelmeeranthropologen Michael 8

Saß, Henning: Affektdelikte: Interdisziplinäre Beiträge zu Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten, Berlin 1993. 9 Çağlar, Ayşe: »Der diskrete Charme der Eingeborenen. Drei Gerichtsfälle und die Frage der Regierbarkeit«. In: Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart, hg. v. Thomas Hauschild/Bernd Jürgen Warneken, Berlin 2002, S. 321-339; der Vortrag von Ayşe Çağlar wurde 1999 auf der Tagung »Inspecting Germany« in Tübingen gehalten. 10 Vgl. Herzfeld, Michael: »The Horns of the Mediterraneanist Dilemma«. In: American Ethnologist 11/3 (1984), S. 439-454. 11 Bukow, Wolfdietrich/Llaryora, Roberto: Mitbürger aus der Fremde. Soziogenese ethnischer Minoritäten, Opladen 1984. 26

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Herzfeld die Kritik des Topos von »Ehre und Schande« zur Dekonstruktion gesteigert und zum Allgemeinplatz gemacht. Die Aussagen unserer Informanten und Informantinnen über Würde und Stolz, Respekt und Verachtung wurden zu einem Nebenschauplatz der Genderbeziehungen und zu einem rein situativ bedingten Konfliktstoff erklärt. Das stand quer zur deutschen ethnologisierenden juristischen Praxis der Anerkennung von »kulturellen Hintergründen« ehrbezogener Taten. Die neue, vor allem im Ausland verbreitete verfeinerte Lesart von Kultur als kulturelle Flexibilität und Handlungsermächtigung des Einzelnen wurde von den deutschen Gerichten meist gar nicht wahrgenommen: Man stützte sich einfach weiter auf die Gutachten struktural argumentierender Ethnologen und Ethnologinnen oder anderer Sachverständiger für »Kultur«. Die dekonstruktive Ethnologie, wie sie auch Michael Herzfeld vertrat, stand in der Tradition der Foucaultschen Machtkritik. Deren deutsche Vertreter weigerten sich zumeist, an irgendeiner Form der kategorisierenden und strafenden Machtausübung teilzunehmen, und sei es als Gutachter. Die neue Unübersichtlichkeit hatte die deutsche Ethnologie erreicht, und dieser Umstand ermöglichte es, dass eine kulturalistische, vom wissenschaftlichen Diskurs weit entfernte Rechtspraxis weiter bestehen konnte. Noch im Jahre 2004 argumentierte ein Reutlinger Strafverteidiger im Falle der Ermordung eines albanisch-deutschen Mädchens im südwestdeutschen Raum durch seinen Vater offensiv mit archaischen kulturellen Zwängen, unter denen das Leben der seit fast zwei Jahrzehnten in Deutschland ansässigen Familie gestanden habe. Er fand mit seinen ethnologisierenden Ausführungen jedoch kein Gehör bei den Richtern. Zu dem Urteil könnte in paradoxer Weise beigetragen haben, dass ab dem Jahre 2001 so genannte Ehrenmorde zunehmend skandalisiert worden waren. Frühe Einwände gegen einen kulturellen Bonus für bestimmte Straftäter wurden bezeichnenderweise von Ethnologinnen erhoben. Bereits Ende der 1990er Jahre warnte die türkischstämmige, damals in Berlin arbeitende und lebende Ethnologin Ayşe Çağlar12 davor, mit ethnologischer Expertise an der Strafmilderung für Täter aus dem Migrantenmilieu mitzuwirken, die ihre Frauen oder Schwestern misshandelt oder getötet hatten. In einer eindringlichen Analyse deutscher Gerichtsgutachten konnte sie zeigen, dass die bis in die 1970er Jahre hinein übliche Berücksichtigung strenger türkischer Paragraphen in Bezug auf Affekttaten bei deutschen Verfahren gegen türkische Migranten zu widerspruchsfreieren Urteilen geführt hatte. Mit Kampagnen gegen die unter dem neu geprägten Begriff »Ehrenmord« zusammengefassten Verbrechen machte

12 Çağlar, Ayşe: Der diskrete Charme der Eingeborenen. 27

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dann die Nichtregierungsorganisation terre des femmes das Thema zum Medienereignis.13 Wie ich in Gesprächen mit Aktivistinnen von terre des femmes feststellen konnte, hatten sie dabei immer wieder das Problem der Unübersichtlichkeit und des Kulturalismus vor Augen, mit dem auch die Ethnologie zu kämpfen hat. Allerdings verkehrten sich nun die Verhältnisse zwischen Kulturtheorie und Rechtspraxis ins Gegenteil: Betonten die Frauen von terre des femmes den Begriff »Ehre« als Tatauslöser zu stark, bekamen sie unerwünschten Beifall von Politikern und Wissenschaftlern, die überkommenen statischen Konzepten von kultureller Prägung anhängen. Gingen sie zu sehr auf die Details der materiellen und an den migratorischen Schnittstellen verursachten Gründe für Gewalt ein, so hatte das einen abmildernden Effekt, der nicht zu ihrem Ziel passte, harte exemplarische Strafen für die Täter zu erwirken. Darum vermeidet terre des femmes von »Ehrenmord« zu sprechen, die dort engagierten Frauen ziehen den Begriff »Mord im Namen der Ehre« vor. Eine Postkarte, die terre des femmes bei ihren Kampagnen gegen häusliche Gewalt und Ehrverbrechen im Zuwanderermilieu verwendet, formuliert diesen Widerspruch zwischen angemaßter Ehre und naiv verstandener Kultur des Ehrkodex in unnachahmlicher Weise: Zwei junge Männer im HipHopOutfit haben sich wie schützend vor zwei stolz posierende Mädchen gestellt: »Ehre ist, für die Freiheit meiner Schwester zu kämpfen.« Das ist ein paradoxer Gebrauch des Begriffs, wie ich es bei den französischnordafrikanischen Straßenrebellen des Jahres 2005 beobachten konnte: »Wir kämpfen hier für unsere Ehre, wir fordern Respekt, wir kämpfen für égalité, fraternité, liberté!« Abbildung 1: Postkarte von terre des femmes

13 Vgl. http://www.terre-des-femmes.de, 01.01.2009. 28

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O r i e n t a l i sm u s u n d E h r e Diese Rückkehr des Begriffs »Ehre« in den öffentlichen und damit auch in den akademischen Diskurs hätte wohl kein dekonstruktiver Mittelmeerethnologe im Deutschland der 1990er Jahre für möglich gehalten. Doch auch Michael Herzfeld ist mittlerweile bewusst geworden, dass Forschung an der Selbststilisierung von Menschen aus mediterranen Nationen ein wichtiger Gegenstand der vergleichenden Ethnologie sein könnte.14 Damit befinden wir uns in einer Situation, in der sowohl die innere Entwicklung der wissenschaftlichen Debatte als auch die Verpflichtung gegenüber den europäischen Gesellschaften als Geldgeber die Kultur- und Sozialforscher dazu drängt, differenziert auf der Basis ethnologischen Wissens zu intervenieren oder zumindest Tatenlosigkeit detailliert zu begründen. Nach der Skandalisierung von Morden im Namen der Ehre in den letzten Jahren sind wir aufgefordert, deutlich Antwort auf die Frage zu geben, ob Zuwanderer aus dem Mittelmeerraum, ob Männer aus tribalen, patrilinear organisierten Gesellschaften, ob muslimische Männer durch ihre Kultur genötigt sind, gelegentlich Mitglieder ihrer eigenen Familie zu töten. Und wir müssen uns mit diesem Thema angesichts einer kritischen weltpolitischen Situation positionieren, in welcher der so genannte Ehrenmord obendrein immer häufiger pauschal »dem Islam« zugeordnet wird. Die fachethnologische deutsche Literatur zu den Themen Mittelmeerraum und Migration hat weiterhin viel zu bieten, wenn es um die Dekonstruktion panmediterraner Stereotypen oder der Vorurteile deutscher Beamter und der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Migranten geht.15 Der Weg zur reflektierten Mikroanalyse verhaltensbestimmender Faktoren an migratorischen Schnittstellen und in den sich rapide wandelnden mediterranen Gesellschaften wird jedoch noch viel zu selten eingeschlagen. Ich werde darum hier versuchen, die gängige ethnologische Literatur zu Familie und Ehre im Mittelmeerraum auf das wenige ethnographische Material zu beziehen, das wir zum so genannten Ehrenmord in Deutschland besitzen.

14 Herzfeld, Michael: »Practical Mediterraneanism: excuse for everything, from epistemology to eating«. In: Rethinking the Mediterranean, hg. v. William V. Harris, Oxford 2005, S. 45-63. 15 Hüwelmeier, Gertrud: »Zur Ethnographie des Mittelmeerraumes – lokal, regional, transnational«. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde (2004), S. 65-79; Sökefeld, Martin (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz. Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei, Bielefeld 2004. 29

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Bereits die heftige Diskussion um Edward Banfields Klassiker über die »moralische Grundlage einer unterentwickelten Gesellschaft«, über den »amoralischen Familismus« süditalienischer Kleinstädter in den 1950er Jahren16 führte zu einem seltsam uneinheitlichen Ergebnis: Bäuerliche Ideologien der sexuellen Schande und der Abschottung ehrenhafter patrilineal extended families konnte man seinerzeit in Süditalien ebenso beobachten, wie die Ablösung dieser Struktur durch Heiligenkulte, egalitäre action sets sowie Netzwerke der Patronage und Klientel.17 Die Sozialarbeiterin Ann Cornelisen18 behielt in diesem Zusammenhang mit ihrer Beobachtung recht, dass die bäuerliche Ideologie der extended family kaum als einheitlicher kollektiver Diskurs zu betrachten ist, wenn man sie vom Gesichtspunkt einer die Gruppen durchziehenden weiblichen Solidarität her betrachtet: Die Entscheidung der süditalienischen Frauen, bei der Volksabstimmung 1974 mehrheitlich für das Recht auf Scheidung zu stimmen, kam nicht nur für konservative Politiker sehr überraschend, sondern auch für viele struktural orientierte Soziologen und Sozialanthropologen wie Banfield. In ähnlicher Weise konnte sich Pierre Bourdieu als junger Ethnologe, der algerische Familienstrukturen untersuchte, an den Aktivitäten der strukturfunktionalen und strukturalistischen Mittelmeerethnologie um Julian Pitt-Rivers und John G. Peristiany beteiligen,19 wobei Bourdieus Ausdeutung einzelner konflikthafter Anwendungen des Ehrkodex bereits die große Spanne möglicher individueller Varianten und Anpassungen des Habitus zeigen. 1977 schrieb John Davis in seinem Überblicksband People of the Mediterranean,20 dass Ehre und Status nicht ausnahmslos, aber doch in recht stringenter Form mit Ressourcen verknüpft sind. Bei seiner Feldforschung im süditalienischen Pisticci21 hatte er es mit Bauern zu tun gehabt, die mit der Einführung des arbeitsintensiven Tabakbaus auf einmal ihren Frauen erlaubt hatten, allein oder in kleinen Grüppchen auf die

16 Banfield, Edward/Fasano, Laura: The Moral Basis of a Backward Society, Glencoe 1958. 17 Hauschild, Thomas: Magie und Macht in Italien, Gifkendorf 2002, S. 197238. 18 Cornelisen, Ann: Frauen im Schatten, Frankfurt a.M. 1978. 19 Bourdieu, Pierre: »The Sentiment of Honour in Kabyle Society«. In: Honour and Shame, hg. v. John G. Peristiany, London 1965, S. 191-241, Anm. 3; ders.: »The Attitude of the Algerian Peasant toward Time«. In: Mediterranean Countrymen. Essays in the Social Anthropology of the Mediterranean, hg. v. Julian Alfred Pitt-Rivers, Paris/Den Haag 1963, S. 55-72. 20 Davis, John: People of the Mediterranean. An Esssay in Comparative Sociology, London 1977. 21 Davis, John: Land and Family in Pisticci, London 1973. 30

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Felder zu ziehen. Die arbeitsintensive Methode machte eine Vergrößerung der Arbeitskraft nötig, und auf einmal war es nicht mehr wichtig, dass »man« bis dahin lange Zeit von den Frauen verlangt hatte, möglichst viel Zeit im sicheren Haus zu verbringen und dadurch die Familie vor einer Schmälerung ihrer Ehre zu bewahren. Die Liste der Komplexitäten ließe sich fortsetzen mit Bourdieus algerischer Dialektik zwischen Doxa, Habitus und Praxis oder mit dem nicht enden wollenden Streit um den »amoralischen Familismus« der Süditaliener. Besonders eindrucksvoll in dieser Hinsicht ist Leila Abou Lughods22 Studie über beduinischägyptische Männer und Frauen, die in ihren Liedern gegen den Kodex und gegen ihr eigenes öffentliches Verhalten gerichtete Gefühle ausdrücken. Singend bekunden sie zum Beispiel ihre nach wie vor empfundene Liebe zu einem untreuen, verstoßenen oder weggelaufenen Partner. Individuelle Entscheidungen, ökonomische Veränderungen, indigene Medien und globalisierende Verschriftlichung verhindern, dass ein familiäres System, das auf die Herstellung großer, korporativ handelnder familiärer Segmente zu zielen scheint, wirklich in eine Art Stammesgesellschaft mündet. In den mediterranen Verwandtengruppen hat die formende Kraft der matrilinearen oder patrilinearen Körperschaften so weit nachgelassen, dass zwar weiter eine Tendenz zur Ausdehnung der Kernfamilie besteht, aber stets auch das Wissen über die Grenzen dieser Tendenz vorhanden ist.23 Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Auflösungsprozesse und schon seit langem bestehenden Spielräume in einem fast noch tribalen System, das aber unter dem Druck der schriftlichen Verfestigung sozialer und religiöser Praktiken steht, sind die Kanun, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts familiäres Gewohnheitsrecht in Nordalbanien fixiert und publiziert haben.24 Nordalbanisches Gewohnheitsrecht und seine schrittweise Fixierung sind gelegentlich Gegenstand übertriebener Abstrahierungen im Stile einer »heroischen Lebensform« und eines kollektiven Zwangs zu Blutrache und Ehrenmord.25 Tatsächlich kommt es im 22 Abu-Lughod, Lila: Writing Women's worlds: Bedouin Stories, Berkeley 1993. 23 Goody, Jack: Ehe und Familie in Europa, Berlin 1986, S. 18-46. 24 Ich danke Ajkuna Hoppe, MA für zahlreiche Hinweise und Materialien dazu in ihrer unveröffentlichten Hausarbeit »Fragmentierte Landschaften, fragmentierte Bilder, fragmentierte Identitäten. Zur Ambivalenz der albanischen eingeschworenen Jungfrauen«, Institut für Ethnologie der Universität Tübingen 2007. 25 Kaser, Karl: Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien 1995; Gesemann, Gerhard: Heroische Lebensform. Zur Literatur und Wesenskunde der balkanischen Patriarchalität, 31

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patrilinear orientierten und wenig staatlich kontrollierten ländlichen Lebenszusammenhang Nordalbaniens zu vielbeachteten sozialen Phänomenen wie dem der »eingeschworenen Jungfrauen«. Frauen entscheiden sich, gegen alle Gebote der Schamhaftigkeit, das Leben eines Mannes zu führen, sich als Männer zu kleiden, die Rechte von Männern wahrzunehmen usw. Antonia Young26 veröffentlichte im Jahre 2000 eine Studie über die »geschworenen Jungfrauen«, aus der hervorgeht, dass diese Veränderung oft dann stattfindet, wenn es Vätern an männlichen Erben mangelt. Die von Priestern und anderen Schriftkundigen seit dem 19. Jahrhundert immer wieder fixierten und fortgeschriebenen Kanun, die »Kanons« des Gewohnheitsrechts, verhinderten z.B. den Mangel an Söhnen stillschweigend durch Adoption oder Hinzuziehung eines Neffen auszugleichen, wie es in rein auf der Grundlage mündlicher Traditionen organisierten, patrilinearen tribalen Gesellschaften üblich wäre. Die schriftliche Fixierung der patrilinearen Abstammungslinien in den Kanun hat dazu geführt, dass scheinbar schriftlich nachgewiesene reine Blutsabstammung vor pragmatischen Regelungen rangiert, wie wir sie aus schriftlosen tribalen Gesellschaften kennen. Die Väter ziehen es daher in solchen Situationen vor, eine Tochter, als Blutsverwandte, zum Mann werden zu lassen und als Erbin einzusetzen, die sich dafür der Schande aussetzt, dass sie agiert wie ein Mann, ausgeht, raucht, trinkt, Frauen nachstellt. Ihre Schande ist keine Schande mehr, denn sie ist keine Frau mehr, im Interesse der Erhaltung patrilinearer Erbgüter für die kommende Generation lebt sie als Ausnahme, die von der Regel akzeptiert wird. An diese kulturelle Modalität konnten sich dann andere Formen des weiblichen Eigensinns anschließen, zum Beispiel schwesterliche Solidarität unter Waisen, deren Älteste ohnehin zur »Jungfrau« werden musste, um dem Haushalt vorzustehen.27 Auch türkische extended families entwickeln, hier im Zusammenhang mit der Modernisierung der türkischen Gesellschaft und der

Neuried 1979; Krasztev, Péter: »The Price of Amnesia. Interpretations of Vendetta in Albania«. In: Journal for Politics, Gender and Culture 1/2 (2002), S. 33-63. 26 Young, Antonia: Women who become Men. Albanian Sworn Virgins, New York/Oxford 2000; Rapper, Gille de: »Entre masculin et feminin – la vierge jurée, l'héritière et le gendre à la maison«. In: L'Homme 154 (2000), S. 457-466. 27 Grémaux, René: »Women becomes Man in the Balkans«. In: Third Sex, Third Gender. Beyond Sexual Dimorphism in Culture and History, hg. v. Gilbert Herdt, New York 1994, S. 241-285; diesen Hinweis verdanke ich Ajkuna Hoppe, MA. 32

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Massenmigration, ungewohnte und scheinbar irreguläre Formen weiter.28 Aus der patrilokalen Großfamilie werden heute häufiger junge Nuklearfamilien »ausgeworfen«, um später, als Alte, doch wieder als extended family Unterschlupf bei ihren Kindern oder bei patrilinear Verwandten zu suchen. Ähnliche Prozesse konnte Jan Brögger29 bei seinen Feldforschungen in Süditalien allerdings schon in den 1960er Jahren nachweisen, vor der industriellen Revolution des Südens. Es ist, kurz gesagt, instruktiv, nicht von der einen mediterranen Familie zu sprechen, sondern von einem Komplex verwandtschaftlicher Regeln und Praktiken, der sich unter bestimmten historischen Bedingungen (und nicht nur im Verlauf der Globalisierung und Modernisierung) sowohl auf die Kernfamilie hin verengen als auch in Richtung auf eine patrilineare segmentäre Gesellschaft ausweiten kann.

Einheit in Vielfalt Dieser Zustand der wandelbaren Fixierung zwischen zwei Idealtypen – die Nuklearfamilie oder die erweitere Familie – muss in vielen Gebieten des Mittelmeerraumes schon sehr lange anhalten, wenn man den wechselnden und zum Teil aggressiven Einfluss der mesopotamischen, ägyptischen, jüdischen Königreiche, der griechischen Polis, des römischen Reiches, der christlichen und islamischen Gesellschaften auf Siedlungsgewohnheiten, Gewohnheitsrecht, Familienstruktur und tribale Organisationsformen ihrer Untertanen betrachtet. Der riesige Korpus mediterraner schriftlicher Überlieferungen wird von Staaten und Kirchen weitergeführt und verwendet und wirkt so auf das massiv von konkreten Interessen bestimmte lokale Verhalten ein: Mal werden Ehen in bestimmten Verwandtschaftsgraden verboten, dann wieder erlaubt, mal wird Ehe ohne Trauschein geduldet, dann wieder heftig tabuisiert, mal wird die durch Patenschaft gestiftete Beziehung zwischen Familien als ein Äquivalent zur Blutsverwandtschaft betrachtet, dann wieder nicht. Der Versuch, einen starken, über kleine Familien herrschenden Staat (oder seine Vorform als religiöser Verband) zu schaffen, ist hier in ständiger Entstehung und in ständigem Scheitern begriffen. Das unterscheidet mediterrane Verwandtschaftsverhältnisse einerseits graduell von mitteleuropäischen Verhältnissen und traditionalen Gesellschaften des angrenzenden subsaharischen Afrika andererseits. 28 Rasuly-Paleczek, Gabriele (Hrg.): Turkish Families in Transition, Frankfurt a.M. 1996. 29 Broegger, Jan: Montevarese. A Study of Peasant Society and Culture in Southern Italy, Bergen 1971. 33

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Jack Goody hat in seinen Überblicksstudien30 zur Geschichte der eurasiatischen Verwandtschaftssysteme gewissermaßen einen afrikanischen Blick auf mediterrane Verhältnisse geworfen. Er schildert, wie Staaten und Religionen um immer neue Arrangements der Macht zwischen Zentrum und lokalen Gruppierungen kämpfen. Dabei steht die Politik der Verwandtschaft immer wieder im Mittelpunkt. Heute werden seine Analysen von den großen Revisionisten der Mittelmeerforschung, Peregrine Horden und Nicholas Purcell wieder aufgenommen: Sie argumentieren gegen die Dekonstruktion des Mittelmeerraumes, verstehen darunter jedoch nicht mehr eine einheitliche Landschaft, sondern eine Vielzahl sich ergänzender karstiger und immer wieder katastrophischer regionaler Nischen auf engem Raum. Diese Nischen sind typgebend für den Mittelmeerraum auch in Bezug auf soziale Organisation. Man beobachtet eine Fülle lokaler sozialer Erfahrungen und Schöpfungen, die auf einem Kontinuum zwischen dem tribalen Modell und der modernen, auf der Kleinfamilie ausgerichteten Ideal der Verwandtschaftsbeziehungen angeordnet werden können: Unity in Diversity. 31 Kernstück der panmediterranen Gemeinsamkeit ist dabei das System der im Judentum, im Islam und im Christentum verbreiteten Patenschaftsbeziehungen.32 Wenn patri- oder matrilinear Verwandte keine große Rolle als extended family im Leben der Kernfamilie mehr spielen, bieten sie eine alternative Struktur fiktiver Verwandtschaft an, welche die Aufnahme von Vertrauens- und Tauschbeziehungen jenseits der Kernfamilie erleichtert. Die Verbreitung von verpflichtenden Ritualen fiktiver Verwandtschaft33 in anderen Weltteilen und ihr Rückgang in Mitteleuropa seit dem 19. Jahrhundert zeigt, dass es hier nicht um eine spezifisch mediterrane Mentalität geht, sondern dass in Mitteleuropa ökonomische Verhältnisse, die größere Korporationen von spirituell oder real Verwandten begünstigen, früher beendet waren als im Mittelmeerraum, wo dieser Zustand bei nur punktueller Industrialisierung in sehr unterschiedlicher Intensität anhält. In anderen Weltgegenden wie Südamerika herrschen ähnliche Verhältnisse punktueller Industrialisierung 30 Goody, Jack: Ehe und Familie in Europa. 31 Horden, Peregrine/Purcell, Nicholas: The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, Oxford 2001. 32 Hammel, Eugene: Alternative Social Structures in the Balkans, Englewood Cliffs 1968; Hauschild, Thomas: Magie und Macht in Italien, S. 35-53. 33 Vgl. Z.B. Tegnaeus, Harry: Blood-Bothers: An Ethnosociological Study of the Institutions of Blood-Brotherhood with Reference to Africa, Stockholm 1952; Paul, Benjamin David: Ritual Kinship: With special Reference to Godparenthood in Middle America, Chicago: Theses on Middle America from the University of Chicago, 1967, Rollfilm 35mm. 34

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und phasenweiser Regression der Moderne wie im Mittelmeerraum, daher ist auch hier die Tauschwirtschaft der Paten weiter eine populäre Reserve des sozialen und ökonomischen Handelns. Oft werden von den Betroffenen erst einmal in einer vielfältigen Binnenmigration Erfahrungen mit diesen Umwälzungen gesammelt, bis dann einzelne Teile der Familie ins Ausland emigrieren und für die Zurückgebliebenen entweder ganz ihren Status als Verwandte verlieren oder aber als Reserve für den Augenblick des Rückfalls, der Krise präsent bleiben. Umgekehrt können die Daheimgebliebenen aus der Perspektive der Migranten als Halter und Pfleger von Immobilien und Landbesitz wichtig bleiben, als Träger künftiger Jobchancen im sich wandelnden Mutterland, als Arbeitskraftreserve für Neugründungen im Zuwanderungsland, gelegentlich auch als eine mehr oder weniger verblasste moralische Autorität im Bewusstsein hier und heute z.B. in Deutschland agierender Menschen mit Migrationshintergrund.

A k te E h r e n m o r d Markus Ehrlich34, der zurzeit eine umfangreiche Studie über Fälle von »Ehrenmord« vorbereitet, hat deutsche Staatsanwaltschaften nach Ehrverbrechen befragt und gelegentlich Akteneinsicht erhalten. Dabei fällt auf, dass die von den Staatsanwaltschaften als Ehrverbrechen eingestuften Fälle oft nur sehr oberflächlich dem Schema folgen, dass nämlich ein Familienrat den Tod einer abtrünnigen Frau oder ihres Liebhabers/Entführers verfügt. Die Akten betreffen keineswegs nur Menschen, die im Mittelmeerraum geboren wurden. Über »Ehrenmord« wurde zum Beispiel vor einem deutschen Gericht gestritten, nachdem ein paschtunischer Einwanderer seine Schwägerin ermordet hatte. Nach dem Tode seines Bruders hatte er von der Schwägerin verlangt, entweder ihn in polygynischer Ehe zu heiraten (nach dem so genannten Stammesgesetz des Levirat, der Witwenerbschaft) oder die Ersparnisse ihres verstorbenen Ehemannes an ihn als den Träger der patrilinearen Gruppe herauszugeben. Eine lokale paschtunische »Volksversammlung« (Dirga) von Migranten beriet daraufhin den Konflikt und kam zu einer zunächst von beiden Seiten akzeptierten gütlichen Regelung in Form einer Ausgleichszahlung aus dem Erbe des Toten. Der Angeklagte vergewaltigte jedoch 34 Markus Ehrlich, MA (Universitäten Essex und Tübingen) verfolgt ein Promotionsprojekt zum Thema »Ehrenmord« am Institut für Ethnologie der Universität Tübingen. Ich danke ihm für die Erlaubnis, mich auf seine umfangreiche Ausarbeitung »Untersuchung von Akten der Staatsanwaltschaft Berlin des Bereichs Kapitalverbrechen« zu beziehen. 35

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kurz darauf seine Schwägerin, schwängerte sie und versuchte dann, diese unter nicht nur unter menschenrechtlichen, sondern auch unter speziell paschtunischen Gesichtspunkten ehrlose Tat durch Mord zu vertuschen. Das Gericht erkannte in diesem Falle, dass »Ehre« vom Angeklagten hier nur in verdrehter Weise als reiner Vorwand ins Spiel gebracht wurde. Die Konsequenzen dieser Sichtweise für die Betrachtung von Ehrkonflikten und Fällen häuslicher Gewalt bei Migranten liegen auf der Hand. Aus dem Bericht des Bundeskriminalamtes über »Ehrenmord« und aus den Vorstudien über den Diskurs und die Realität von »Ehrenmord«, die Marinela Potor und Markus Ehrlich am Institut für Ethnologie der Universität Tübingen erarbeitet haben, entnehme ich sehr heterogene Triebkräfte, die vielleicht gerade in ihrer Unübersichtlichkeit zu derartigen Taten getrieben haben oder den Weg zur Tat geebnet haben. Auf der Grundlage irgendeines geschlossenen Kodex der Ehre sind die Verbrechen jedenfalls nicht zu verstehen. Dabei muss man im Auge behalten, dass in Deutschland zwar zwei Drittel aller Mordund Totschlagversuche an Männern begangen werden, dass sich jedoch bei dieser Art von Taten unter Verwandten das Verhältnis umkehrt, d.h. hier sind zwei Drittel Frauen betroffen.35 Das scheint gleichermaßen für deutsche Staatsbürger (unter denen es wiederum Zuwanderer gibt) und Zuwanderer ohne deutschen Pass zuzutreffen. Es gibt Formen der häuslichen und familiären bzw. in anderen engen Beziehungen habitualisierten Gewalt, die sich speziell gegen Frauen richten und von den Tätern wahrscheinlich häufiger mit Motiven von Ehre, Würde, Respekt, Verrat, Betrug begründet werden, wenn man sie entsprechend befragt. Die Statistiken erfassen den Ausländeranteil und eventuelle mediterrane Hintergründe nicht und der Bericht des Bundeskriminalamtes Ehrenmord hat auch einen hausgemacht deutschen Fall von so genanntem Ehrenmord aufzuweisen.36 Schon auf der groben Ebene einer Nachfrage bei Staatsanwaltschaften und der statistischen Betrachtung entsteht ein heterogenes Bild, das keine klaren Schlüsse im Hinblick auf die Existenz von Ehrenmorden als kulturelle Gewohnheit zulässt, die als familiäre Fememorde organisiert werden – es ist aber damit auch keineswegs ausgeschlossen, dass eine solche kulturell gebahnte Gewohnheit existiert, und zwar bei Deutschen wie bei Migranten aus dem Mittelmeerraum. Man kann in dem Material, das Ehrlich als Unterlage zum Thema Ehrenmord von den Staatsanwaltschaften überlassen wurde, allenfalls eine Tendenz zum 35 Vgl. Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006 Bundesrepublik Deutschland, http://www.bka.de/pks/pks 2006/index.html, Berlin. 36 Bundeskriminalamt: Presseinformation zu den Ergebnissen einer BundLänderabfrage zum Phänomenbereich »Ehrenmorde in Deutschland«, Berlin 2006. 36

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Bruch mit Traditionen feststellen, zu materiellen Problemen und schweren interpersonellen Konflikten. Gerade der Bruch mit Traditionen wird uns hier besonders interessieren. Ehrlich fand bei seinen Recherchen den traurigen und interessanten Fall eines in Deutschland aufgewachsenen türkischstämmigen jungen Mannes, dessen Schwester zwischen ihrem türkischen Ehemann und einem deutschen Liebhaber schwankte. Sie geriet mit beiden anscheinend immer wieder in unübersichtliche Streitigkeiten, an denen auch der Bruder beteiligt war. Als sich dieser Konflikt wieder einmal in heftigen Beschimpfungen Bahn bricht, durchsucht und zertrümmert der Bruder, wohl angestachelt von der Schwester, die Wohnung des Liebhabers, um dann in einer heftigen Wendung seine Schwester über ihr Sexualleben zu befragen und abrupt auf sie einzustechen, als diese ihm beichtet, dass sie auch mit ihrem Ehemann wieder Sex gehabt hatte. Mit der Festnahme, so wirkt es in den Akten, setzt jener Diskurs über »unsere Ehre« ein, mit dem der Angeklagte dann in wirren Reden vor Gericht seine aus unübersichtlichen ödipalen Streitereien erwachsene Tat zu rechtfertigen versucht. Wichtig scheint mir auch der Fall eines türkisch-kurdischen Einwanderers in Deutschland, der sich durch den unehrenhaft gescheiterten Versuch der Ehe mit einer jungen Türkin aus der ländlichen Türkei 50.000 Euro Schulden zugezogen hatte. Sein Versuch, diese Erfahrung in paradoxer Weise durch die Fluchtheirat mit einer extrem streng erzogenen schleiertragenden Deutsch-Türkin zu korrigieren, sollte ebenfalls scheitern. Die Ehe wurde nach islamischem Recht geschlossen, aber als die junge Frau von der ersten Ehe und von den Schulden erfuhr und wohl auch das Leben auf der Flucht unerträglich fand, fuhr der Held unserer Geschichte kurzerhand in die Türkei und heiratete dort eine dörflich erzogene Bekannte seiner Schwester. Er behielt jedoch eine Liebesbeziehung zu seiner zweiten Frau bei. Seine immer mehr ins Phantastische tendierende, mit Schulden belastete Existenz als Trigamist in drei scheinbar normalen traditionell-islamischen Ehen scheint auch bei den Verwandten des jungen Mannes nicht nur auf Zustimmung gestoßen zu sein. Die Familie seiner zweiten Frau beschloss, ihm die weiterhin, trotz der dritten Ehe, in einer heimlichen sexuellen Liaison verbundene zweite Frau durch eine erneute traditionale Verlobung mit einem anderen Mann zu entziehen. Da erschoss der junge Mann seine zweite Frau und jetzige Geliebte. Das deutsche Gericht urteilte mildernd in Richtung auf »cultural defense«, sprach in für mich nicht nachvollziehbarer Weise von unüberwindbaren kulturellen Zwängen. Ein assyrischer Christ aus Syrien, so ergibt es die Aktenlage ferner, ermordete einen patronal und freundlich auftretenden landsmännischen

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Helfer seiner Frau. Der freundliche Patron hatte der Frau anscheinend wirklich nur ermöglichen wollen, von dem prügelnden Ehemann wegzukommen. Mit Gewalt erzwang der eifersüchtige Ehemann von seiner Frau das Geständnis, der Helfer habe Sex mit ihr gehabt – eine Behauptung, die im gesamten sozialen Umfeld und später, während der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auch wieder von der Frau bestritten wird. Vor Gericht versucht das Ehepaar, die Tat des Ehemannes mit den Ehrbegriffen des moralischen Kodex einer imagined community der assyrischen Christen zu rechtfertigen. Vor Ort hat keinerlei moralische Autorität die Tat verlangt oder sanktioniert, denn der einzige andere assyrische Christ in der Umgebung war das Opfer. Dieses Motiv einer manchmal gänzlich imaginären, aber vor Gericht zum Ausgangspunkt von Ehrdiskursen gemachten indigenen Rechtsprechung, einer peer group von Zeugen und Zeuginnen, kehrt immer wieder. Es ist ein Motiv des Verlustes und des Mangels im sozialen und im materiellen Sinne. Markus Ehrlich fiel bei seinen Recherchen auf, dass kaum ein Täter in geregelten Verhältnissen lebte, dass regel mäßige Einkünfte fehlten. Einer der Täter scheint getötet zu haben, weil die Trennung von seiner Frau zur Einbuße der Sozialhilfe führte. Die Täter und ihre Bezugspersonen lebten in gespannten, von dramatischem Streit gekennzeichneten Patchwork-Verhältnissen, untypisch für das solide Bild, welches manche Literaturen und Gutachter von der extended patrilineal family mediterraner, asiatischer oder afrikanischer Menschen zu zeichnen gewohnt sind. Dieses Material spricht auch für eine komplexere Definition von »Mord im Namen der Ehre«, als sie heute noch von terre des femmes und vom EU-Projekt Shehrazad verwendet wird: »Gewalt im Namen der Ehre ist eine Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die im Rahmen von patriarchalen Familienstrukturen, Gemeinschaften und Gesellschaften stattfindet. Die Ausübung von Gewalt wird in der Regel mit dem Erhalt/der Wiederherstellung von Ehre gerechtfertigt. Ehre als Wertesystem, Norm oder Tradition ist dabei immer sozial konstruiert.«37

Die Krise dieses Rahmens als funktionierender Familienverband oder Familienrat, ist unter Umständen stärker an der Entstehung von Bluttaten beteiligt als ein wie auch immer funktionierendes traditionales Umfeld, wenn es dieses jemals gegeben haben sollte.

37 EU-Projekt »Shehrazad – Combating Violence in the Name of Honour«, http://www.terre-de-femmes.de, 01.01.2009. 38

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Die überregional sehr bekannt gewordene Tat an dem deutschalbanischen Mädchen Ulerika Gashi38 bildet eher eine Ausnahme im Verhältnis zu dem von Ehrlich gesammelten Material, weil das Opfer in einem sehr gefestigten deutsch-albanischen Umfeld groß geworden ist. Doch gerade in diesem Umfeld, bei den Verwandten und Landsleuten, fällt der Täter, der Vater des Mädchens, mit seinen autoritären und brutalen Erziehungspraktiken unangenehm auf. Auch die Mutter vertritt, ohne ihre albanische Identität aufzugeben, völlig andere Ansichten, wenn es um die Erziehung des Mädchens geht. Den Zeitpunkt der Tat, die der Vater und Täter seinen Angaben nach im Affekt und um der Ehre willen begangen hat, legte er berechnend auf einen Abend, an dem seine Frau nicht zu Hause war. Frau Hanife Gashi, Ulerikas Mutter, ist heute eine der bedeutendsten deutschen Protagonistinnen von Kampagnen gegen Verbrechen im Namen der Ehre,39 die im Einwanderermilieu selbst wurzeln und deren Protagonistinnen sich darum nicht weiter mit kulturtheoretischen Debatten über einen Zwang zum Ehrenmord abzugeben genötigt sehen, ob dieser nun auf bäuerlichen Werten beruhen soll oder auf dem Koran. Tabelle 1: Überblick wissenschaftlicher und juristischer Perspektiven auf »Ehrenmord« in der Bundesrepublik Deutschland Ethnologische Denkschulen Vor 1960 keine Ethnologie des Mittelmeerraumes in Deutschland, Ethnologie als reine Forschung an außereuropäischen, meist afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen traditionalen Kulturen

Ethnologische Verfahren und Anwendungen Historische und feldforschende Völkerkunde; Betonung der Differenz Europa/NichtEuropa. Kulturalismus

Rechtspraxen

Uneinheitliche Rechtspraxis, bei der meist keine »cultural defense« zugelassen wird, allenfalls die Berücksichtigung einheimischer nationaler Rechtssprechung bei der Einschätzung von Schuldfähigkeit und Rechtsbewusstsein

38 Ich danke stud. phil. Marinela Potor, Universität Tübingen, für unterstützende Recherchen zu diesem Fall. 39 Gashi, Hanife/Rizvi Sylvia: Mein Schmerz trägt deinen Namen: Ein Ehrenmord in Deutschland, Reinbek 2005. 39

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Klassische Ethnologie des Mittelmeerraumes (1960er bis 1980er Jahre) Extended patrilineal family im Mittelmeerraum, Ehrkodex als Tatauslöser

Strukturale Kulturanalyse Bereitschaft zur mildernden gutachterlichen Bewertung kulturspezifischer Zwänge

Plädoyer auf mildernde Umstände und entsprechende Urteile unter Hinweis auf die alltägliche Rechtspraktiken unter Laien im Herkunftsland

Systemische Selbstreflexion, Dekonstruktion von Grundbegriffen der Ethnologie, Dokumentieren von Aussagen und Politiken menschlicher Gruppen

Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Perspektive stehende Fortdauer der auf »mildernde Umstände« auf Grund kultureller Zwänge plädierenden Rechtspraxis oder Verweigerung der Anerkennung kultureller Minderheitenrechte/Bezug auf allgemeine Menschenrechte

Dekonstruktive Ethnologie des Mittelmeerraumes (1970er bis 1990er Jahre) Kritik von »Ehre« und »Kultur« als Verhaltensursache, Machtkritik, Auflösung des Kulturspezifischen in prozessuale Details

Verweigerung der Mitarbeit bei kategorisierender Machtausübung (Gerichtsverfahren)

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Ethnologie des Mittelmeerraumes nach der Ära der Dekonstruktion Prozessuale Verknüpfung von Kultur, materiellen Reserven und sozialen Prozessen; Kulturvergleich

Schnittstellen- und prozessuale Analyse, Mischung verstehender, analytischer, vergleichender und selbstreflexiver Verfahren Differenzierung bei kulturspezifischen Motiven, Berücksichtigung von Schnittstellendaten über die Migrationserfahrung selbst als Grundlage des Handelns von Migranten

Zunehmend Plädoyers und Urteile auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte, Verweigerung kultureller Sonderrechte, Anerkennung problematischer sozialer Situationen der Täter nach den bereits bestehenden Regelungen als Milderungsgrund

Schlüsse Es gibt keinen fixierten mediterranen Ehrkodex, der Männer dazu treibt, scheidungswillige Ehefrauen oder unternehmungslustige und modernisierte Schwestern oder Töchter zu töten. Es kann darum auch keinen kulturellen Bonus bei Gerichtsverhandlungen für Täter geben, die sich auf einen kulturell überlieferten Ehrkodex berufen, keine Berücksichtigung irgendeiner »Stimme des Blutes«. Im Gegenteil, eine Fülle alternativer Modelle, mildernder Rituale und komplexer Verhandlungen zwischen Verwandtengruppen begleiten solche Konflikte bereits im traditionalen ländlichen Feld. Das Feld, der Raum und die ihm innewohnenden ökonomischen Potentiale und sozialen Alternativen prägen Mentalitäten und den Bruch mit ihnen. Gerade abgerissene Familienbeziehungen verstärken kurzfristig in bestimmten Fällen die Tendenz zu autoritär geführten Kleinfamilien, gerade der Ausfall der traditionalen Instanzen sowie mangelnder Kontakt, mangelnder Tausch mit Vertretern der Zuwanderungsgesellschaft

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schaffen Situationen der Desorientierung und der Gewalttätigkeit. Das kann nur in einem sehr geringen Maße als strafmildernd berücksichtigt werden, nicht mehr als die ohnehin im Strafrecht verankerten Themen der »schwierigen Jugend« oder einer sozial verursachten seelischen Störung. Die Konsequenz auf Seiten der Wissenschaft ist eine Dynamisierung der wissenschaftlichen Begriffe von Kultur oder Mentalität, ihre Relativierung und ihre Analyse im Zusammenhang mit materiellen und sozialen Prozessen – aber auch ein neuer Abstand zu den rein sprach- und machtkritischen Verfahren, die Handeln im juristischen Kontext unmöglich machten. Damit wendet sich die Ethnologie nach Jahrzehnten der Machtkritik auch wieder juristischen Anwendungen zu, die allerdings wiederum im Wesentlichen in der Redimensionierung angeblich kulturell überlieferter Tatmotive liegt. Die Ethnologie kehrt mit der kritischen Reflexion von Kulturalismen und Ethnozentrismen im Gepäck zu ihren früheren Aufgaben im Bereich der Bestimmung kulturspezifischer Tatmotive zurück (siehe Überblick in Tabelle 1). Dabei ergibt sich Folgendes: Es fehlt an Forschung und Betreuung. Die Ethnologie selbst hat ihre Potentiale der Mikroforschung in diesem Bereich noch nicht voll realisiert, darum musste ich hier auf fragmentarisches Material zurückgreifen. Detailliertes Wissen über die Konzepte von Familie und Zugehörigkeit sowie über die damit verbundenen Prozesse des Tauschs und der Ausbildung von Reserven – in der Beziehung zu anderen Migranten, zu deutschen Eingeborenen und zu den im Ursprungsland zurückgebliebenen Angehörigen – wird dringend benötigt, um Integrationsmöglichkeiten besser erkunden, einschätzen und propagieren zu können. Mit dem Stichwort »Integration« sind wir wieder bei den multikulturalistischen Themen und toleranten Gewohnheiten angelangt, von denen am Anfang in kritischer Weise die Rede war. Ich habe versucht zu zeigen, wie leicht wir in blinden Kulturalismus abfallen können, wenn wir nur noch der Spur der Rassismuskritik, des postkolonialen Denkens und der multikulturellen Toleranz folgen. Ohne »harten« sozialanthropologischen Vergleich, ohne analytisch gefasste Mikrostudien geht die Ethnologie schnell in die Irre und verliert die Fähigkeit, ihre Felddaten gemeinsam mit makroperspektivisch argumentierenden Wissenschaften, mit Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Historikern und Ökonomen zu lesen. Aber ohne den Impuls, das Fremde verstehen zu wollen, ohne den Wunsch, Einwanderern beizustehen und mit ihnen unsere Gesellschaft verändern, wird auch die »harte« Wissenschaft schnell an ihre Grenzen stoßen und zum technischen und instrumentellen Denken verkümmern.

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E d i t o r i sc h e N o t i z Der Aufsatz entstand aus Vorträgen an den Universitäten Halle und Luzern im Jahre 2006, vor einmal mehr, einmal weniger transparent und sachlich argumentierenden Gremien, die über meine einmal erfolgreiche und einmal erfolglose Bewerbung auf Professuren für Ethnologie zu entscheiden hatten. Ich danke den Hallenser Kollegen und Kolleginnen und insbesondere Prof. Dr. Richard Rottenburg und Prof. Dr. Burkhard Schnepel (beide Universität Halle) sowie Prof. Dr. Valentin Groebner (Luzern) für wichtige Hinweise und Fragen. Für weitere Hinweise danke ich auch den Studierenden meiner »Laboratorien für Migrationsforschung« an der Universität Tübingen (2000-2006) und den in Tübingen zur »Arbeitsgemeinschaft Ethnologie und Migration (ArEtMi) e.V.« zusammengeschlossenen Studierenden um Ulrike Müller, MA, ferner Ajkuna Hoppe, MA und stud. phil. Marinela Potor, die beide zu meinen Hauptseminaren in Tübingen Hausarbeiten über »Ehrenmord« geschrieben haben. Für nachhaltiges Interesse an der Edition bzw. für zahlreiche Korrekturen danke ich Dr. Eva Gilmer (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main), Prof. Dr. Bernd Stiegler (Suhrkamp Verlag und Universität Konstanz) und Michaela Schäuble, MA (Universität Halle). Vor allem bin ich aber Markus Ehrlich, MA (ethnologischer Doktorand in Essex und Halle) dankbar dafür, dass er mir Material zur Verfügung gestellt hat, welches auf seinen Archivforschungen zum Thema Ehrenmord beruht. Ohne diese Grundlage hätte ich den Aufsatz nicht schreiben können und ich kann nur hoffen, dass meine manchmal vielleicht voreiligen Schlussfolgerungen im Endeffekt zu seiner auf wesentlich gründlicheren Studien beruhenden Doktorarbeit zum Topos »Ehrenmord« passen werden. Eine Version des Aufsatzes erscheint in meinem Buch Ritual und Gewalt, Frankfurt a.M. 2008. Prof. Dr. Dorothee Kimmich (Universität Tübingen) danke ich bei dieser Gelegenheit für kontinuierliche Initiative und Unterstützung bei der Durchführung kulturwissenschaftlicher interdisziplinärer Projekte an der Universität Tübingen.

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OPERATIVE KULTUR UND D I E S U BJ E K T I V I ER U N G S T R A T E G I EN I N D E R I N T EG R A T I O N S P O L I T I K LEVENT TEZCAN Mit welcher Art von Rationalität operiert eine Politik, die auf die Herausforderung von gegenwärtigen Identitätspolitiken und -Konflikten reagiert, die sich über die Kultur definieren? Im Folgenden befasse ich mich mit einer spezifischen Artikulation der Kultur, die ich als operative Kultur bezeichnen möchte, um einen politischen Trend in den Integrationspolitiken in Europa darzulegen. Es handelt sich um die Entdeckung des Islam als Gegenstand einer gouvernementalen Rationalität in Europa, um die Integrationsprobleme der multikulturellen Gesellschaft inklusive terroristischer Gewalt in den Griff zu bekommen. Im Folgenden zeichne ich einige Ansätze nach, die auf die Schaffung verantwortbarer (accountable) Subjekte qua religiöser Strukturen abstellen. In operativer Hinsicht lässt sich die Kultur offenbar unschwer in Religion übersetzen. Migrationsströme, technologische Sprünge in Produktion, Transport und Telekommunikation, epistemologische Entmachtung europäischer Fortschrittsmodelle zugunsten der Diversifizierung von Weltentwürfen, das Ende des Kalten Krieges und damit auch das Ende des Klassenkampfparadigmas; all dies gelten als Hintergrundsprozesse, die die Aktualität des gegenwärtigen Zivilisationsbezuges gefördert haben.1 Solche Ansätze machen auf die besondere Rolle aufmerksam, die die Religion dabei spielt. Aktuell hat Habermas seinerseits mit dem Begriff der »postsäkularen Gesellschaft«2 die multikulturelle Debatte auf die entscheidende Rolle der Religion hin zugespitzt.

1

2

Populär geworden durch Huntington, Samuel: »The Clash of Civilization«. In: Foreign Affairs, 72/4 (1993), S. 22-49; systematisch behandelt bei Eisenstadt, Shmuel: »The Reconstituion of Collective Identities and InterCivilizatiuonal Relations in the Age of Globalization«. In: Konfliktfeld Islam in Europa, hg. v. Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan, Soziale Welt, Sonderheft 17, Baden-Baden 2007, S. 21-32. Habermas, Jürgen: »Die Dialektik der Säkularisierung«. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4 (2008), S. 33-46. 47

LEVENT TEZCAN

Anders als Eisenstadt und Habermas, die sich für die religiös unterlegte Kulturthematik letztlich in normativer Absicht interessieren, tritt die Systemtheorie Luhmanns einen Schritt zurück, um zu verstehen, wie die Kultur überhaupt als Semantik funktioniert. Demnach bezeichnet diese eine Vergleichsoperation, die seit dem Beginn der europäischen Moderne die Herausbildung der Weltgesellschaft zeitlich (Auftauchen des spezifischen zukunftsorientierten Geschichtsbegriffs) wie räumlich (europäischer Kolonialismus) semantisch begleitet. Angesichts der gegenwärtigen Prominenz des Kulturbegriffs fällt die historische Analogie auf, dass wie beim Auftauchen des Kulturbegriffs in Substantivform im 18. Jahrhundert auch der gegenwärtige historische Moment von einer enormen Erweiterung (und gleichzeitiger Schließung) des Welthorizonts gekennzeichnet ist. Kultur scheint demnach als eine »Vergleichsfolie«3 für Fremd- und Selbstbeschreibungen in der globalen Gesellschaft zu funktionieren, die allerdings nicht mehr vornehmlich von den Kulturschaffenden vorgenommen werden, sondern jeden einzelnen Alltagsmenschen in die Position eines ethnologischen Beobachters setzen. Der vorliegende Beitrag bezieht sich bei aller Vielfalt von Analyseansätzen auf Foucaults Studien zur Gouvernementalität, da sie sich besonders gut für die Analyse der Praktiken der Subjektkonstitution eignet. Bei Eisenstadt wird der kulturalistische Rahmen, innerhalb dessen sich Kultursubjekte konstituieren, generell konstatiert und doch letztlich nicht problematisiert. Habermas geht von der faktischen Lage der Vielfalt kulturell spezifischer Ansprüche (letztlich analog zu Eisenstadt) aus und ist besorgt darum, wie der öffentliche Raum, in dem die Religion sich als legitime Stimme öffentlich meldet, unter den Prämissen demokratischen Verfassungsstaates verwaltet werden kann. Luhmann analysiert die semantische Geschichte der Kultur, während die Praktiken, mit denen Subjekte konstituiert werden, nicht in den Blick gelangen. Der Gouvernementalitätsansatz scheint mir die ausgewogene Verbindung zwischen theoretischer Konzeptualisierung und empirischer Analyse zu leisten. Die Leitthese meines Beitrags lautet, dass sich Kultur gegenwärtig unter den operativen Gesichtspunkten der Regierbarkeit primär in Religion übersetzen lässt. Religion soll qua Konstitution gesellschaftlich verantwortbarer Subjekte die Regierbarkeit multikultureller Gesellschaft gewährleisten.

3

Luhmann, Niklas: »Kultur als historischer Begriff«. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik 4, Frankfurt a.M. 1999; vgl. auch Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2000. 48

OPERATIVE KULTUR UND SUBJEKTIVIERUNGSSTRATEGIEN IN DER INTEGRATIONSPOLITIK

S i c h e r h e i ts d i s p o s i t i v u n d d i e E r m i t t l u n g von Milieus Um eine knappe Definition des Ausdruckes Gouvernementalität, der zentralen analytischen Kategorie dieser Abhandlung, vorwegzuschicken: Es handelt sich um die Verknüpfung von (Selbst-)Führung der Individuen und Gruppen einerseits und politischen Programmen andererseits. Damit ist eine Form der politischen Rationalität angesprochen, die auf die Führung von Führung abzielt. Folglich ist darunter ein Ensemble von Führungstechniken zu verstehen, mit denen man eine Bevölkerung regiert, indem man ihr zugleich Selbstregulierungskompetenz zugesteht. Dabei ist zu beachten, dass hier nicht einfach eine Herrschaftsbeziehung angenommen wird, die hierarchisch von oben nach unten liefe. Gouvernementalität bezeichnet nicht einseitig das Regierungshandeln im Sinne der Exekutive, auch nicht dass nun einem Bevölkerungsteil einfach von Außen etwas aufgedrückt würde, sondern ein spannungsvolles Zusammenspiel politischer Regulierungen auf unterschiedlichen Ebenen einerseits und der aktiven (Lebens-)Führung der Individuen bzw. Kollektive andererseits. Das setzt wiederum die Identifizierung relevanter Milieus und genauere Kenntnis der Strukturen, dynamischer Machtverhältnisse darin voraus. Das Sicherheitsdispositiv ergänzt bei Foucault zwei weitere Formen der Regulation: Während 1. das Gesetz die Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen bestimmt (juridisch-rechtliche Maßnahmen), implementiert 2. der Disziplinarmechanismus das Gesetz mit einer Reihe »von angrenzenden polizeilichen, medizinischen, psychologischen usw. Techniken«, die auf Überwachung, Diagnose, eventuelle Veränderungen von Individuen usw. hinweisen.4 Das Gesetz markiert das Zentrum der Souveränität, auf das sich die Realität richtet, die Disziplin schafft hingegen eine neue Realität. Das Sicherheitsdispositiv 3. hingegen lässt sich auf eine bereits bestehende empirische Realität ein und ermittelt die Risiken und Potentiale. Der primäre Gegenstand der Macht ist hier nicht mehr der Bürger/Untertan (wie im Souveränitätsmodell), noch sind es die Körper der Individuen, die gemaßregelt werden (wie im Disziplinarmodell), sondern eine Population/Bevölkerung, deren Gefahrenpotentiale und Ressourcen es zu ermitteln gilt. Dass die Kultur mittlerweile als Ressource begriffen wird, gehört hierhin. Sie dient nämlich zur Eingrenzung von Populationen, für die besondere Maßnahmen entwickelt werden sollen.

4

Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität, Frankfurt a.M. 2004, S. 19. 49

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Dass ein Sicherheitsdispositiv zunächst einmal die Grenzen eines Milieus erkennbar ziehen muss, bedeutet nicht einfach ein »natürliches« Milieu aufzusuchen, sondern zugleich, durch institutionell gestützte Zuschreibungspraktiken performativ die Konstitution des Milieus mitzubestimmen. Dies ist kompatibel mit der zunehmenden öffentlichen Umdeutung der Migrantenpopulation (der Türken, Pakistani, Araber etc.) in Muslime, die sowohl von den Medien exzessiv betrieben, als auch von den muslimischen Gruppen beansprucht und im wissenschaftlichen und politischen Diskurs zunehmend unbedarft übernommen wird. Zweitens benötigt die gouvernementale Politik Anlaufstellen bzw. Autoritätszentren innerhalb des Milieus, die man ansprechen, aber auch in eine Verantwortungsbeziehung einbinden kann. Die Gründe für die steigende Bedeutung der Moscheegruppen für die Integrationspolitik kann man nicht nur, aber auch hier suchen. Unter Sicherheitsdispositiv sind entgegen der alltagssprachlich nahe liegenden Annahme nicht einfach repressive Techniken zu verstehen, sondern die aktive ethisch begründete Arbeit der Akteure an ihrem Verhalten. Damit rückt ein weiterer Begriff, nämlich der von Community in den Blick, der in der Gouvernementalitätsforschung eine wichtige Rolle spielt. Regieren durch Community ersetzt nach Nicolas Rose die vormalige Konstruktion des »Sozialen«, in der ein bestimmtes Verhältnis zwischen Bürger und Gesellschaft installiert war.5 Gemeinschaft bezeichnet dabei eine »Methode des Regierens«6. Durch den »Aufbau verantwortlich handelnder Gemeinschaften, […] in denen jeder bereit sein müsse, sich selbst einzubringen«, soll die Gesellschaft erneuert und soziale Gerechtigkeit maximiert werden.7 Dieser neue Gebrauch der Community fixiert sich keineswegs auf ein Territorium, in dem etwa face-to-face-Beziehungen zwischen den Individuen stattfinden. Die neuen Communities erscheinen eher als »virtuelle Diasporas«, die »in den nicht-geographischen Räumen von Aktivisten-Diskursen, von kulturellen Codes und Bildern der Medien konstruiert werden«8. Das Individuum in seiner Gemeinschaft (geschlechtlich, ethnisch, professionell, religiös etc.) wird nunmehr als Moralsubjekt konstruiert,9 das zugleich in der Kommunitarismus-Debatte sozialphilosophisch reflektiert und 5

6 7 8 9

Rose, Nicolas: »Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens«. In: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung der Gegenwart, hg. v. Ulrich Bröckling/Susanne Krassmann/Thomas Lemke, Frankfurt a.M. 2000, S. 79-81. Ebd., S. 86. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82. Ebd., S. 84. 50

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makrosoziologisch in Multiple Modernities konzeptualisiert wurde. Entscheidend ist also, so Rose an einer anderen Stelle: »Individuals are to be governed through their freedom, but neither as isolated atoms of classical political economy, nor as citizens of society, but as members of heterogeneous communities of allegiance«10.

R e l i g i ö s e S c h n e i se n i n d e r I n t e g r a ti o n s p o l i ti k Exemplarische Programme Die Thematik Religion, Kultur und Integrationspolitik wird gemeinhin im Kontext von Integrationsmodellen diskutiert. Mit dem Gouvernementalitätsansatz11 möchte ich hingegen das Feld nationaler bzw. supranationaler Integrationsmodelle verlassen, mich dafür einem Trend zuwenden, der seit einiger Zeit im Gange ist. Statt nationaler Modelle wenden wir uns daher exemplarischen Programmen zu. Drei Beispiele aus Großbritannien, Niederlanden und Deutschland werden hier vorgestellt. Die britische Politik der Community Cohesion, die nach den Ausschreitungen in 2001 in Bradford, Oldham und Burney in die Debatte geworfen wird, reagiert im Grunde auf die vormalige Leitidee der Diversität. Sie soll nun von der inneren Kohäsion der Gemeinschaften ausgehend die gesellschaftliche Kohäsion zwischen den Gemeinschaften erreichen, da diese in so vieler Diversität doch zu kurz gekommen sei. Damit korrespondiert diese Politik mit der Konzeption des multikulturellen Subjekts, so wie die deutsche Leitkultur-Debatte darauf reagiert, dass sich die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft generell durchgesetzt hat und sich nunmehr die Frage stellt, wie die Machtverhältnisse zwischen den Kulturen geregelt werden sollen. Interessant wäre eigentlich zu wissen, inwiefern diese »Entdeckung der Community« auf im britischen Kontext vorhandene Traditionsbestände zurückgreift. Wenn man sich Amartya Sens12 kritische Auseinandersetzung mit dem »pluralen Monokulturalismus« anschaut, als den er den gegenwärtigen Multikulturalismus in Großbritannien, aber nicht nur da, bezeichnet, finden wir durchaus Verweise auf Vorläufe aus der Kolonialpraxis. Sen wirft 10 Rose, Nicolas: »Governing Advanced Liberal Democracies«. In: Foucault and Political Reason, hg. v. Andrew Barry/Thomas Osbourne/Nicolas Rose, Chicago/London 1996, S. 41. 11 Vgl. auch Peter, Frank: »Political Rationalities, Counter-Terrorism and Policies on Islam in the United Kingdom and France«. In: The Social Life of Anti-Terrorism Laws, hg. v. Julia M. Eckert, Oxford 2008. 12 Sen, Amarya: »Welcher Multikulturalismus?«. In: Lettre International 72 (2006), S. 104 ff. 51

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diesem Multikulturalismus die Tendenz vor, die »Weltbevölkerung […] unter dem Aspekt religiöser Zugehörigkeiten« zu betrachten. »Menschen in die getrennten Schubladen gegebener ›Gemeinschaften‹ einzusperren«, diese Praxis, an der »etwas Totalitäres« sei, werde »seltsamerweise oft als Rechtfertigung individueller Freiheit angeführt, oder es werde sogar die ›Vision‹ einer ›multiethnischen Zukunft‹ beschworen, in der das Land als ›lockere Föderation von Kulturen‹ erscheint […]«13. Ähnlich wie Rose konstatiert auch Sen, dass die offizielle Politik Großbritanniens seit vielen Jahren dazu neige, »die vom indischen Subkontinent stammenden britischen Staatsbürger und Einwohner in erster Linie als Angehörige ihrer jeweiligen Gemeinschaften zu betrachten«14. Die »Community Politics«, die Rose beschreibt, dürfte mit dieser gouvernementalen Politik genealogisch zusammenhängen. Sie operiert vornehmlich über Klassifikation und Festlegung auf Gemeinschaftsidentitäten, die wiederum durchaus von der liberalen Politik gefördert werden.15 Das oben angekündigte Programm, Terrorismus und Extremismus zu bekämpfen, entstand in diesem politischen Zusammenhang. Im Zentrum dieses Unternehmens steht, dass die Moscheen als integrationsrelevante Community Centers für muslimische Migranten entdeckt werden. In Berlin fand am 14. März 2006 eine Tagung statt, die ein Novum in Deutschland gewesen sein dürfte. Die Britische Botschaft lud zusammen mit deutschen Behörden unter dem Titel »Radikalisierung gemeinsam bekämpfen: Einbeziehung muslimischer Gruppen« ein, um gemeinsam darüber zu diskutieren, wie die muslimischen Gruppen selber an der

13 Sen, Amarya: Welcher Multikulturalismus?, S. 105. 14 Dabei verweist Sen im Rückblick auf die Erfahrung Gandhis, die heute vielen Einwanderern ebenfalls bekannt sein dürfte. Gandhi wurde während der Londoner Gespräche zur Indienfrage (1931) als Wortführer der Hindus, vor allem der Kastenhindus, behandelt, obwohl er seine Bewegung als eine säkulare für die gesamtindische Nation verstand. 15 Auf einer abstrakteren Ebene vertrat Georg Stauth gar die mit diesen konkreten Fällen korrespondierende These, dass erst die liberale Modifikation des alten deutschen Ursprungsdenkens, wie beispielsweise von Charles Taylor und Michael Walzer vorgenommen, die fundamentalistische Suche nach dem Authentischen zeitgemäß mache, siehe Stauth, Georg: Authentizität und kulturelle Globalisierung, Bielefeld 1999. Mit Blick auf Minderheiten weist Baumann darauf hin, dass »in pursuing these goals [against discrimination of minorities] the local state turns into an active partner in the encorporation of religious traditions and currents into quasi-corporate groups«. In: Baumann, Gerd: »Body Politics or Bodies of Culture? How nation state practices turn citizens into religious minorities?«. In: Cultural Dynamics 10 (1998), S. 270. 52

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Terrorismusbekämpfung mitwirken könnten. Es ging dabei aber nicht um eine rein polizeiliche Abwehrpolitik im engeren Sinne, sondern um ein breiter angelegtes Integrationsprogramm. Besser gesagt, ist eher von der transnationalen Verbreitung einer Politik zu sprechen, die in der Form in Großbritannien bereits vor einigen Jahren angelaufen war. Schon 2002 wurde im Cantle Report, der anlässlich der Ausschreitungen Bradford, Oldham and Burnley angefertigt wurde, eine Akzentverschiebung vorgenommen, indem als Grund für Gewaltausbrüche mangelnde Community Cohesion diagnostiziert wurde. Gemeint ist der Befund, dass die verschiedenen Communities ohne produktiven Austausch nebeneinander her existiert hätten. Nach den Londoner Anschlägen im Jahre 2005 wurde nun von der Regierung ein Programm angeregt, das auf die Muslim Community als Ansprechpartner abzielte, um die Potenziale, die in dieser Population liegen, für die Bekämpfung der Terror- und Gewaltgefahr zu fördern, die von eben dieser Population ausging. Die Einbettung dieser neuen Islamstrategie in der Sicherheitspolitik ist sehr deutlich u.a. im Sicherheitsbericht des Home Office: »Engaging in the battle of ideas – challenging the ideologies that extremists believe can justify the use of violence, primarily by helping Muslims who wish to dispute these ideas to do so.«16 Wie ebenfalls dort berichtet wird, startete das besagte Programm unmittelbar nach den Londoner Bomben; der Britischer Premier traf sich mit 25 »Muslim community leaders on 19 July 2005«. Das Programm trägt den Titel Preventing Extremism Together. Working Groups17. Es bildeten sich in diesem Rahmen sieben Arbeitsgruppen, die nach intensiven Diskussionen Vorschläge unterbreiteten. Neun Kleinund Großstädte mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil wurden ins Programm einbezogen; 1000 Muslime nahmen an den Gesprächen teil und entwickelten 64 Empfehlungen, die später partiell von der Regierung übernommen wurden. Die besagte Tagung in Berlin basierte gewissermaßen auf der Grundlage dieses Programms, das nun von der so adressierten Muslim Community (d.h. muslimischen Verbänden, Akademien und Privatpersonen) ausgearbeitet werden und schließlich auch die Debatte in Deutschland in dieser Richtung anregen sollte. Die Working Groups umfassten relevante Bereiche der öffentlichen Debatte über Islam und Migration: • Engaging with Young People • Education

16 HO – CIT, 2: Home Office – Contering International Terrorism (2006). 17 PET – WG: Preventing Extremism Together – Working Groups, The Home Office, London 2005. 53

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• • • • •

Engaging with Muslim Women Supporting Regional and Local Initiatives and Community Actions Imams Training and Accreditation and the Role of Mosques as a Resource for the Whole Community Community Security Tackling Extremism and Radicalisation

Die Working Groups selbst berufen sich explizit auf die integrationspolitische Wende, die sich zum Teil auf die Kritik stützt, dass Kultur und Religion bisher vernachlässigt worden seien. Angemahnt wird dabei eine prominente Stellung für die Frage religiöser Zugehörigkeit in den laufenden Programmen zu Diskriminierung und Antirassismus. Die Arbeitsgruppe 4 zu »Supporting Regional and Local Initiatives« formuliert dazu unter Punkt 2.3: »The central question is where faith sits alongside other identities in the context of public policy. How and why is faith as important, or more important than race, when understanding and planning responses to needs of British Muslims.«18 Die Autoren, die konsequent und primär von den Muslimen als Gegenstand und Subjekt politischen Handelns sprechen, beschweren sich darüber, dass »currently no accurate data exist for Muslim communities«19. Sie halten es für »a mistake to take statistics relating to ›Pakistani/Bangladeshi‹ groups as substitutes for ›Muslim‹.«20 So lautet die konkrete Empfehlung folgerichtig »(to) improve data collection on Muslim communities through faith monitoring«21. Working Groups bestätigen dabei der Regierung nicht nur die neue Bestimmung der (vornehmlich südostasiatischen) Migranten als Muslim Community; sie benennen auch die primären Akteure und institutionellen Zentren als Partner der Regierung. Es sind Muslim voluntary organisations, vor allem aber Moscheen »acting as community hubs«22. »It is important that sites, where faith-based communities gather, including places of worship, have the capacity to function as a resource to the local community, including members of all faiths. […] Locating community needs around mosques and encouraging them to function as community centres.«23

18 PET – WG: Preventing Extremism Together – Working Groups, The Home Office, London 2005, S. 47. 19 Ebd., S. 48. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 52. 22 Ebd., S. 56. 23 Ebd. 54

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Das Insistieren auf Religion als primärer Zugehörigkeitsquelle ist allerdings nicht als etwas zu betrachten, was nun den Menschen einfach von Außen zugeschrieben würde. Es gibt Studien, die auf die Präsenz dieser Selbstbeschreibung bei den Betroffenen selbst hinweisen. Tufyal Choudhury weist jedenfalls in seinem im Auftrag vom Department for Communities and Local Government erstellten Bericht The Role of Muslim Identity Politics in Radicalisation24 darauf hin, dass die gegenwärtige Betonung der religiösen Identität bereits durch die Einführung ethnischer Zugehörigkeit (»including Pakistani and Bengladashi groups«) in der Bevölkerungszählung von 1991 im Ansatz vorweggenommen worden sei. »Asian/British-Dichotomy« wurde nun später durch die von »Muslim/non-Muslim« ersetzt.25 Mehrere Studien, die Choudhury präsentiert, unterstreichen offenkundig diese Tendenz.26 In der Volkszählung von 2001 »bezeichneten sich 1,591 Millionen Menschen als Muslime«27. Eigentlich schließen diese Befunde an die in den Sozial- und Geisteswissenschaften öfter betonte »Rückkehr der Religion«. Diese »Rückkehr«, oder besser: Wendung, lässt sich nicht alleine in Selbstbeschreibungen von Migranten selbst feststellen, auch nicht alleine an den relevanten öffentlichen Konflikten, sondern auch an politischen Vorgaben. Matthias Koenig beschreibt in seinem Aufsatz Europäisierung von Religionspolitik. Zur institutionellen Umwelt der Anerkennungskämpfe muslimischer Migranten28 eindrücklich, wie institutionelle Arrangements »neue Ressourcen, politische Opportunitätsstrukturen und kulturelle Repertoires für Anerkennungsforderungen religiöser Identitätsgruppen« schaffen. 24 Choudhury, Tufyal: The Role of Muslim Identity Politics in Radicalisation (a study in progress), Department for Communities and Local Government, London 2007. 25 Ebd., S. 7. 26 Nur bei den Türken und Kurden liegt die nationale Selbstbeschreibung höher als die religiöse. Dieser Befund wird aber mit Referenz auf Talip Kücükcan, der die Meinung vertritt, dass »Turkish ethnicity, identity and Islam are closely intertwined and cannot be readily separated from one another« (Ebd., S. 8), wieder in das generelle Schema hineingepasst. Säkulare Orientierungen unter ihnen werden dann nicht mehr für wichtig gehalten. 27 Schönwälder, Karin: »Gesellschaftlicher Zusammenhalt und kulturelle Differenz: Muslime und Debatten über Muslime in Großbritannien«. In: Konfliktfeld Islam in Europa, hg. v. Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan, Soziale Welt, Sonderheft 17, Baden-Baden 2007, S. 242. 28 Koenig, Matthias: »Europäisierung von Religionspolitik. Zur institutionellen Umwelt der Anerkennungskämpfe muslimischer Migranten«. In: Konfliktfeld Islam in Europa, hg. v. Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan, Soziale Welt, Sonderheft 17, Baden-Baden 2007, S. 348. 55

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Koenig selbst bezieht sich in seinem makrosoziologischen Ansatz vornehmlich auf die Effekte institutioneller Regelungen auf europäischer Ebene und stellt zu Recht fest, dass auf dieser Ebene die positive Einbeziehung von Religion nicht die entsprechende Berücksichtigung muslimischer Organisationen nach sich gezogen habe. Dies scheint sich seit einiger Zeit doch zu ändern. Vornehmlich im Kontext sicherheitspolitischer Überlegungen reagieren einige Regierungen, wie hier die britische und unten die deutsche, positiv auf die religiöse Identitätspolitik. Dabei suchen die Regierungen ihre Gesprächspartner längst nicht mehr so unter den säkular orientierten Einwanderern, wie Saba Mahmood29 es in ihrem Beitrag unterstellte. Im Kontext des globalen Multikulturalismusdiskurses sind es immer weniger die Säkularisten in muslimisch geprägten Gesellschaften (wie auch in der Türkei), die jetzt als Ansprechpartner in Frage kommen; dagegen scheint der Kulturdiskurs gegenwärtig vor allem konservative, bisweilen auch nicht-gewalttätige fundamentalistische Kräfte zu begünstigen. Das britische Programm scheint denn auch tatsächlich konsequent verfolgt worden zu sein. Eine umfassende wissenschaftliche Evaluation des Programms liegt noch nicht vor, wenn auch die Regierungsstellen erste Auswertungen vorgenommen haben. Es gibt hier einen großen Bedarf an systematischen Untersuchungen. Eine durchgehende Analyse des umschriebenen Programms kann hier aus Mangel an weitergehendem Material nicht geliefert werden. An dieser Stelle möchte ich lediglich auf einen für den vorliegenden Beitrag zentralen Aspekt eingehen. Es handelt sich um eine aktive Religionspolitik, die gemäß dem neuen Sicherheitskonzept nicht einfach auf polizeiliche Abwehr setzt, sondern den Erfolg darin sucht, die Religion in eine, wie es heißt, integrationsverträgliche Richtung zu fördern. Ziel ist, die Organisationen so einzubinden, dass sie mehr tun als Lippenbekenntnisse abzugeben: »Our immediate priorities are to: Fundamentally rebalance our engagement towards those organisations that uphold shared values and reject and condemn violent extremism. We have made it clear that it is not acceptable for leadership organisations merely to pay lip service to tackling violent extremism. Government is giving priority, in its support and funding decisions, to those leadership organisations actively working to tackle violent

29 Mahmood, Saba: »Secularism, Hermeneutics, and Empire: The Politics of Islamic Reformation«. In: Public Culture 18/2 (2006), S. 323-347. 56

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extremism, supporting community cohesion and speaking out for the vast majority who reject violence.«30

Inwiefern und wie diese Einbindung tatsächlich so erfolgt, dass sie auch geprüft werden kann (also accountability), dafür sind empirische Studien nötig, die noch fehlen. Der politische Wille in dieser Richtung ist allerdings eindeutig. Den wichtigsten Schritt sieht die Regierung in »support(ing) the development of strong faith institutions and leaders capable of engaging effectively with all members of Muslim communities.«31 Zwar deutet das Papier hier eine Zurückhaltung, da es ja letztlich doch um theologische Debatten gehe, in die sich die Regierung nicht einmischen dürfe. Doch wie man die unmittelbare Einflussnahme und Verwicklung in die theologischen Fragen effektiv vermeiden kann, darüber findet noch keine Reflexion statt, die über das Bezeigen des Problems hinausginge. Man stellt Unterstützung in Aussicht, sofern sie in theologischen Fragen benötigt wird. Folglich wurde denn auch eine Reihe von Fallstudien angeregt: Leadership Development Project beispielsweise sieht bessere Ausbildung von Imamen und muslimischen Frauen zu Führungskräften vor. Women's Voices sucht die Rolle muslimischer Frauen in lokalen Gemeinden zu stärken. Besonders offensiv hört sich das Bradford Citizenship Madrassas Project zu sein an: »Project to develop a citizenship curriculum to supplement traditional Koranic training for 8-13 year olds, promoting British citizenship and acceptance of key shared values.«32 Nun möchte ich hervorheben, dass die Regierung dabei nicht nur die Beziehungen unter den frommen Muslimen in einer kontrollierten Form beeinflussen will. Diese eher klassische Abwehrstrategie, die auf die Beobachtung einer Gruppe fokussiert, wird in zwei Richtungen hin überschritten. Zum einen macht sich die Politik zur Aufgabe »to promote links between Muslim communities here and overseas to develop joint projects to support the promotion of shared values and to tackle violent extremism […]«33. Noch wichtiger dürfte jedoch das Ziel sein, das islamische Bewusstsein im breiteren muslimischen Milieu zu fördern. Unter der Überschrift »Supporting and nurturing civic and theological leadership« formuliert es das Anleitungsbuch für »Government Offices and Local Government« in England als Ziel: »Activities that promotes 30 PVE – WHM: Preventing Violent Extremism – Winning Hearts and Minds, Department for Communities and Local Government, London 2007, S. 9, Hervorhebung im Original. 31 PVE – WHM, S. 10. 32 Ebd. 33 Ebd. 57

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Islamic awareness amongst Muslim communities and local communities more widely«34. Zielgruppe sind junge Muslime, die sich als nichtakzeptiert fühlen, keinen Zugang zu ihrer Umwelt haben, und schließlich keine Unterstützung von ihrer Gemeinschaft und Moschee erhalten. Überhaupt wird die Idee hochgehalten, dass eine bessere Information über den eigenen Glauben, eine stärkere Beschäftigung damit ein wichtiges Mittel gegen den gewalttätigen Radikalismus ist: »Religious institutions and organisations must be able to connect to young people, address their needs and concerns«, so formuliert es das von Department for Communities and Local Government in Auftrag gegebene Gutachten.35 Schließlich wird, das ist gewissermaßen die logische Konsequenz des Diskurses von Multikulturalismus, empfohlen, »to foster the development of ›Islamic discourses‹ of citizenship and British Muslim identities«36. Die Implikationen dieser Rationalität, die auf Pastoralisierung abstellt, sind vielfältig und führen uns auf grundlegende Probleme unserer Zeit zurück, die zunächst im Kontext Multikulturalismus philosophisch reflektiert, später als Ausdruck von Multiple Modernities perzipiert wurden. Die gegenwärtige sicherheitspolitische Artikulation der Thematik kultureller Identität setzt allerdings die Relevanz der kulturellen bzw. religiösen Werte, also der Gemeinschaftsorientierung, als integrationsdienlich voraus. Welche Konsequenzen respektive Konflikte daraus erwachsen können, und welche Folgeforderungen dies alles mit sich bringt, von dieser Seite ist in den Berichten noch keine Rede; sie müssen erst noch empirisch eruiert werden. Eine Implikation wurde allerdings kürzlich in voller Konsequenz affirmativ in Rechnung gestellt, allerdings nicht von den Politikern, sondern vom anglikanischen Erzbischof von Canterbury, Dr. Rowan Williams, in seinem Vortrag vor den Juristen, gehalten am 7. Februar 2008. Auf der Höhe der philosophischen Debatte über Multikulturalismus zieht er in Erwägung, die islamische Scharia in Teilen neben das britische Gesetz zu stellen: »(To) bring communal loyalties into direct relation with the wider society and inevitably lead to mutual questioning and sometimes mutual influence towards change, without compromising the distinctiveness of the essential elements of those communal loyalties.«37 34 PVE – PF: Preventing Violent Extremism. Pathfinder Fund – Guidance Note for Government Offices and Local Authorities in England, London 2007, S. 10. 35 Choudhury, Tufyal: The Role of Muslim Identity Politics in Radicalisation (a study in progress), S. 33. 36 Ebd. 37 http://www.archbishopofcanterbury.org/1575, 18.02.2008. 58

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Ungeachtet der harschen Kritik, die der Vortrag auf sich gezogen hat, bringt die Rede doch die volle Brisanz und Aktualität der Multikulturalismusdebatte zum Ausdruck, sofern diese politisch operationalisiert wird. Weder eine affirmative Stellungnahme noch eine unbesorgte Distanzierung wird der ambivalenten Bedeutung dieser Frage gerecht.

Social Charter mit praktischem Gebrauch Ein weiteres Beispiel, das hier kurz herangezogen werden soll, stammt aus den Niederlanden. Wie am britischen Fallbeispiel geht es mir auch hier nicht darum, nationale Integrationsstrategien im Vergleich zueinander darzulegen. Dafür ist ein Fall wie dieser wahrlich zu wenig. Vielmehr möchte ich mithilfe des Gouvernementalitätsansatzes für ein anderes Vorgehen plädieren, das sich statt großer Integrationspolitiken bescheiden mit partikularen Praktiken befasst. Es handelt sich konkret um den Fall der Stadt Rotterdam, die sich mit einer konzertierten Aktion anschickte, eine Social Charta mit den Muslimen zu schließen. Derzeit wird über das Programm kaum mehr berichtet. Durchaus möglich ist also, dass aufgrund des gravierenden Stimmungswechsels in der niederländischen Öffentlichkeit gegenüber den muslimischen Migranten dieser offensive Ansatz zunächst zurückgefahren wurde. Dieser Umstand beeinträchtigt jedoch keineswegs die Relevanz des Programms, da das Konzept der Gouvernementalität nicht auf ein etwaiges, in sich geschlossenes generelles Integrationssystem abstellt, sondern sich mit Praktiken aus unterschiedlichen Bereichen befasst, die sich gegenseitig genauso gut fördern wie auch behindern können. Auch Praktiken gehören dazu, die dann möglicherweise fehlschlagen – dieser Ansatz kommt also ohne Telos aus. Das Programm passt ohne Weiteres in den so genannten Paradigmenwechsel hin zu Kulturthematik hin. Tatsächlich konstatieren andere Untersuchungen ihrerseits die stärkere Fokussierung in der niederländischen Öffentlichkeit (wie auch woanders) auf die Kultur der Einwanderer.38 Wie im britischen Fall ist es auch in den Niederlanden nicht einfach ein völlig neuer Ansatz, Communities zu fördern. Im Grunde haben die Niederlande eine lange Tradition diesbezüglich, die zwischen 1880 – 1960 gar institutionell in dem Versäulungsprinzip verkörpert worden war. Peters and Vellenga beschreiben, dass die niederländische In38 Peters, Ruud/Vellenga, Sipco: »Contested Tolerance: Public Discourse in the Netherlands on Muslim Migrants«. In: Konfliktfeld Islam in Europa, hg. v. Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan, Soziale Welt, Sonderheft 17, Baden-Baden 2007, S. 223 ff. 59

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tegrationspolitik in den 1980ern auf der Idee des auf ethnische Differenzen achtenden Multikulturalismus basierte (»integration with preservation of identity«). In den 1990er allerdings, so die Autoren, wechselt dies wiederum in Richtung der individuellen Förderung mit thematischem Fokus auf sozioökonomische Integration (»increasing the participation in education and the labour market«39). Wiederum habe sich in den 2000ern der Schwerpunkt auf den soziokulturellen Aspekt verschoben. Darunter seien hauptsächlich die Beherrschung der niederländischen Sprache und Anpassung an die zentralen Werte der niederländischen Verfassung40 subsumiert – das Gleiche lässt sich übrigens auch von Deutschland sagen. Ob dies alles ist, oder doch eine Art Verschiebung des Nichtkommunizierbaren auf kommunizierbare Themen stattfindet (wie auch in der deutschen Debatte über Sprache und Religionsunterricht), dass man den Schein der Lösbarkeit und Handlungskompetenz durch identifizierbare Themen aufrechterhält, diese Frage bleibt von essenzieller Natur – auch ungelöst. Ich setze hier an der Akzentverschiebung von soziökonomischer Integration hin zum Diskurs über die kulturelle Differenz, die gleichzeitig von der Idee begleitet wird, dass die Regierung »the integration of migrants more and more as their own responsiblity« betrachtet.41 In diesem Kontext, dem man durchaus auch Parallelen zur neoliberalen Neuverteilung von Verantwortlichkeiten unterstellen kann, tauchte erst das Vorhaben auf, eine Charta mit Muslimen zu schließen. Die Idee der Social Charter ist für die Stadt Rotterdam eigentlich keineswegs neu. Bereits 1996 hatte die Stadt infolge einer internationalen Konferenz mit Teilnehmern aus 17 Ländern die Rotterdam Charter für »Policing for a Multi-Ethnic Society« aufgelegt. Diese Charter zielte noch alleine darauf, die Diskriminierung zu bekämpfen. Migranten tauchen hier zunächst primär als Gefährdete, und noch nicht selber als aktuelle Gefahrenquelle, wie es infolge der gegenwärtigen religiösen Wende im Multikulturalismus der Fall sein sollte. Zwar spielt auch hier die Sicherheitsproblematik eine wichtige Rolle: Künftig könne nämlich von ihnen eine Gefahr für die Gesellschaft ausgehen, wenn sie dauerhaft der Ungleichbehandlung und Unterdrückung ausgesetzt blieben.42 Die Hauptbesorgnis der Politik gilt jedoch der Herstellung von Gleichbehandlung. Die Polizei soll hier eine entscheidende Rolle wahrnehmen. 39 Ebd., S. 227. 40 Ebd. 41 Peters, Ruud/Vellenga, Sipco: Contested Tolerance: Public Discourse in the Netherlands on Muslim Migrants, S. 230. 42 RC – PfMES: The Rotterdam Charter: Policing for a Multi-Ethnic Society. Introduction for RC – PfMES (2001). 60

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Tatsächlich ging denn auch das Programm auf die gemeinsame Initiative von »Rotterdam-Rijnmond Police, Rotterdam City Council, and RADAR – the anti-disrimination organisation for Rotterdam«. Das ganze Programm liest sich denn auch als Dienstanweisungen für die Polizei: »Training in ethnic issues, recruitment of minority officers, implemantation of relevant law, management of ethnic crime statistics« sind die wichtigsten Punkte in der Charter. Zugleich wurde dort auf »Partnership with minority ethnic communities«43 besonderer Wert gelegt. Im Kern, so kann man es auf den Punkt bringen, handelt die Charter davon, wie sich die Polizei für ihren Einsatz im multikulturellen Kontext sensibilisieren soll. Noch sind Communities und Community Leaders unspezifisch, generell gehalten, ja von Religion ist überhaupt noch keine Rede. Wir sehen die Idee einer Charter noch einmal Mitte der 2000er aufkommen. Die Feststellung, dass es zwischen den Einwanderern und den Einheimischen Spannungen gibt, führt 2004 nun zu der Entscheidung, ein längerfristiges Programm, das aus mehreren Schritten besteht, zu entwickeln, an dessen Ende eine Social Charter mit Muslimen stehen soll.44 Inzwischen scheint der Ausdruck Migrant mit Muslim identisch geworden zu sein. Die allgemeine Formulierung Migrant communities bekommt eine konkrete Gestalt: »In support of thereof, agreements will also be formulated between different organisations. These organizations, such as residents' organizations, selforganizations of a Muslim nature, mosque societies, churches and the like can be very meaningful for the manner in which the different population groups in Rotterdam coexist with each other.«45

Das Programm Islam and Integration besteht aus mehreren Schritten: 1. Expert Meetings, die sich mit den Themen »Us and Them; Values and Norms; Islam as a Religion in Rotterdam; The Position of Muslim Women; Self-Organizations; Education and Economic Situation« auseinander setzten; 2. Internal Debates, in denen sich die Muslime untereinander (Türken, Marokkaner und Somalier überwiegend) vergewissern sollten, wo sie in der Gesellschaft stehen, was und wohin sie wollen. Insbesondere betonten die Teilnehmer die Diskriminierung der Muslime auf dem Arbeitsmarkt; 3. Information Meetings »to provide information to Muslims and non-Muslims with regard to each others' situation and 43 Ebd. 44 IE – SC: Islam and Integration: Preconference Islam & Integration, Working Papers, Rotterdam Office for Social Integration 2005. 45 Ebd., S. 4. 61

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backgrounds so that the mutual backlog of knowledge could be made up«;46 4. Public Debates, in denen von den Muslimen erwartet wurde, »(to) make a concerted effort to integrate into Rotterdam society«, wobei die Rotterdamer aufgefordert wurden »to involve Muslims more in Rotterdam Society«;47 5. International Conference. So wie im britischen Programm die Community zunächst ins Zentrum gerückt und dann von einer ethnischen in eine religiöse umdefiniert wurde, kapriziert sich die angedachte Social Charter ebenfalls auf die Religionszugehörigkeit. Auffallend ist, dass das Bestreben, die Muslime und Nicht-Muslime in einen Dialog zu bringen, die Vorstellung von getrennten Blöcken erst recht betont. Das wird besonders deutlich in den einzelnen Workshops, in denen zu Themen wie Radicalisation, Position of Women and Homosexuals oder (das ist besonders interessant) Participation in Education and Labour Market durchgehend Muslim and nonMuslim perceptions of the problem dargelegt werden. Das Design des Programms ist so angelegt, dass es, relativ unabhängig von der empirischen Realität der Teilnehmer, gemäß der zugrunde liegenden Identitätslogik ausschließlich Repräsentation kollektiver Blöcke bzw. kulturelle Benennung von Problemen zulässt. Die Zuschreibung einer kollektiven Identität, der Fokus auf Muslim and Non-Muslim perceptions umreißt den Rahmen des Sagbaren und Nichtsagbaren. In diesem Kontext stellt sich schließlich die Autoritätsfrage noch einmal; die Frage nämlich, wer befugt ist, im Namen der Community zu sprechen, wer fähig ist, innerhalb des gegebenen Wissensrahmens (ausgerichtet auf Religion) wahr zu sprechen, und folglich welche Kräfte man unter den Einwanderern fördern soll. Hierzu wird dann explizit vorgeschlagen: »To start with, a uniform interpretation of the Koran is urgently needed.« Eine vermeintlich rein theologisch-wissenschaftliche Interpretationsangelegenheit enthüllt ihre enorme Relevanz für politische Regulierungen.48 Damit werden

46 Ebd., S. 5. 47 Ebd., S. 6. 48 Das mag vordergründig dem Säkularismusprinzip widersprechen, sofern man hier der konventionellen Rede folgt, dass der Säkularismus die Religion zurückdränge. Historisch gesehen, war es aber eher so, dass die Religion durch staatliche Eingriffe eine neue Gestalt bekommen hat als behindert oder verfolgt zu werden (Baumann, Gerd: Body Politics or Bodies of Culture? How nation state practices turn citizens into religious minorities?, S. 263-280; Burchell, Graham: »Peculiar Interests: Civil Society and ›the System of Natural Liberty‹«. In: The Foucault Effect. Studies on Governmentality, hg. v. Graham Burchell/ Colin Gordon/Peter Miller, Chicago 2005, S. 119-150; Van der Veer, Peter: »Cultural Politics and the State«. In: Cultural Dynamics 10 (1998), S. 281-286; Tezcan, Levent: 62

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zugleich konkrete Adressaten genannt: »Imams can play an important role here. They can explain in a balanced way, to both the Muslim community and Dutch society, the role of women according to the Koran, so that the repression of women cannot be justified by Islam.«49 Tatsächlich ist dann die Zusammensetzung bzw. die Adressierung der Beteiligten bereits im Vorfeld bestimmt, wenn die Integrationsthematik von der Religion her aufgezogen wird. Muslimische Migranten von Rotterdam treten nunmehr vornehmlich als Muslime in Erscheinung; dass ihre Vertreter dann der renommierte muslimische Intellektuelle Tariq Ramadan oder der Rektor der Islamischen Universität Rotterdam Ahmet Akgündüz heißen, liegt auf der Hand. Auch hier findet seit einiger Zeit eine Verschiebung in der Akteurskonstellation in Migrantenmilieus – eben diese inneren Kämpfe werden in der Debatte über die Anerkennung der kulturellen Identität nicht berücksichtigt, da hier Migranten in der Regel eine bestimmte (hier: religiöse) kulturelle Identität zugeschrieben wird. Hier möchte ich abschließend auf zwei Punkte kurz eingehen. Selbstverständlich gab es auch Positionen, die sich exakt gegen die Fixierung der Migranten auf Religionszugehörigkeit wendeten (so im unveröffentlichten Beobachtungsprotokoll vom türkischen Soziologen Mustafa Şen, der auch zu den Teilnehmern gehörte). Das Setting des Diskurses belässt ihnen allerdings keinen Artikulationsraum, da die Sprecherpositionen nunmehr qua dem Code Muslime/Nicht-Muslime verteilt werden. Von hier aus kann man über die Effekte nachdenken, die auf die Gesellschaft ausstrahlen. Und umgekehrt gilt zugleich danach zu fragen, welche Gegenstrategien gegen die Homogenisierung des Milieu-Images einsetzen. Die zweite Anmerkung betrifft die Frage, wie denn nun diese Entwicklungen innerhalb der muslimischen Gruppen kommuniziert werden. Diese Frage wurde bisher eigentümlicherweise nicht gestellt. Das liberalistische Setting hat hierzu eine minimalistische Erwartung: Sofern das Gesetz und die Werte der Verfassung beachtet werden, ist die gemeindeinterne Kommunikation kein Thema für etwaige Problematisierungen. Hier werden schließlich »private Ethiken« gepflegt, die zur Stärkung der öffentlichen Moral dienen können. Auf dieser Idee fußt letztlich der liberale Multikulturalismus. Die primäre Aufgabe besteht dann darin, wie unterschiedliche Wertregime nebeneinander bestehen können; dementsprechend verändert sich auch die Aufgabe der Kritik, die nun nicht mehr Religiöse Strategien der »machbaren« Gesellschaft. Verwaltete Religion und islamistische Utopie in der Türkei, Bielefeld 2003). So geschieht es nun auch gegenwärtig mit dem Islam in den europäischen Gesellschaften. 49 IE – SC, S. 28. 63

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auf die Wertsetzung zielen kann, die die kulturellen Identitäten nicht als gegeben nähme, sondern lediglich darüber zu wachen hat, ob die Einhaltung des Rechts und Anerkennung körperlicher Unversehrtheit der Anderen gewährleistet wird. Damit scheint sich das Politikverständnis auf die Verwaltung der Differenzen zu reduzieren. Wie wäre es aber, wenn man einen Blick in die »privaten« Räume werfen könnte? Bislang haben sich Studien zu Religionspolitiken vorwiegend auf den Vergleich nationaler Modelle kapriziert. Wie sich die Communities konstituieren, und ob und in welcher Form die Fragen der Integration dort kommuniziert werden, und ob überhaupt und welche Art Interesse tatsächlich unter den Community Members bestehen, diese Fragen möchte ich hier zumindest in Erinnerung rufen. Einen kleinen Wink, der den Bedarf nach einer genuinen Debatte darüber nicht mal im Ansatz stillen kann, möchte ich dennoch liefern, indem ich auf eine Versammlung der Islamischen Universität von Rotterdam eingehe. Ich beziehe mich dabei auf einen Beobachtungsbericht vom oben bereits erwähnten Soziologen Mustafa Şen. Şen berichtet von der Veranstaltung, die am zweiten Tag der Rotterdamer Konferenz an der privaten Islamischen Universität stattfand. Der Rektor Ahmet Akgündüz, dem eine Nähe zu den türkischen Nurcus nachgesagt wird,50 übersetzt die Charter in die Begrifflichkeit des islamischen Diskurses. Er spricht von vier »Gesellschaftsverträgen« in der türkisch-islamischen Geschichte, die die Muslime mit Nichtmuslimen geschlossen hätten – mit der Rotterdamer Social Charter stehe nun der fünfte auf der Tagesordnung: 1. Der (Ur-)Vertrag von Medina, den der islamische Prophet in Medina schloss; 2. Omars, des zweiten Khalifen, Vertrags mit den Juden nach der Eroberung Jerusalems; 3. der Vertrag des türkischen Sultans Mehmet dem Eroberer nach der Einnahme Konstantinopels mit den Christen und 4. schließlich die (erste) Osmanische Konstitution von 1876 unter der Herrschaft von Abdulhamid dem Zweiten. Die Besonderheit des neuen, fünften Vertrags bestehe darin, dass die Muslime zum ersten Mal (»maalesef«/»leider«, wie Şen den Akgündüz zitiert) als Minderheit aufträten. Inwiefern bei den historischen Vorbildern tatsächlich von Gesellschaftsverträgen die Rede sein kann, ist eine Frage für sich. Beispielsweise wurde der Sultan Abdulhamid zur Deklaration der Verfassung von 1876 von den Jungtürken einfach mit einem Staatsstreich gezwungen, die eine konstitutionelle Monarchie mit Gleichstellung aller Untertanen als Bürger vorsah. Er hob sie dann aber auch bei der nächsten Gelegenheit 50 Vgl. auch Riexinger, Martin, http://blog.transatlantic-forum.org/index. php/archives/2006/696/ahmet-akgunduz-islamische-universitat-rotterdam/ (2006), 23.02.2008. 64

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gleich wieder auf. Man muss den islamistischen Diskurs der 1990er Jahre in der Türkei über den Vertrag von Medina kennen, um derartigen freizügigen Gebrauch des Begriffs Gesellschaftsvertrag nachzuvollziehen.51 Dieser Diskurs knüpfte im Grunde an die westliche Multikulturalismusdebatte an, übersetzte sie in ein islamisches Konzept, das von früher als das Millet-System bekannt war. Demnach sollte jede Gemeinschaft ihre interne Angelegenheiten selber regeln, was über einen Rechtspluralismus zu erfolgen habe. Die Kernfrage sei, wie die unterschiedlichen Gemeinschaften friedlich und respektvoll nebeneinander leben könnten. Die Funktion des Staates solle sich auf die Verrichtung und Überwachung technischer Dienste und Bewahrung des inneren Friedens beschränken. Es ist erstaunlich, wie nah dieses Modell, das letztlich die Gemeinschaftsidentitäten festzurrt und den interreligiösen/interkulturellen Dialog von geschlossenen Gemeinschaften als nahezu einzige legitime Form der Kommunikation zwischen den Gesellschaftsmitgliedern übrig lässt, an dem liberalen Multikulturalismus daran ist. Ohne Zweifel besteht hier ein großer Reflexionsbedarf, die sozialphilosophische Multikulturalismusdebatte mit der politischen Praxis in einen Zusammenhang zu bringen, wobei die darin steckenden Dynamiken, Spannungen und identitätshypostasierenden Momente sorgfältig herauszuarbeiten wären.

I sl a m k o n f e r e n z , d i e d e u ts c h e B a l a n c e z w i s c h e n C o m m u n i ty S u p p o r t u n d P a r a l l e l g e s e l l sc h a f t ? Lange Zeit war islamische Präsenz eher eine Frage pragmatischer Regelungen.52 Diese wurden noch nicht zusammen mit der Terrorbekämpfung und dem demographisch gefährdeten Lebensstil zusammen artikuliert. Erst durch diese Verknüpfung stellt sich die Frage nach der Integrierbarkeit größerer Bevölkerungsteile im Kontext der Religion, und die Integrationsfrage erfährt dadurch eine Wendung, die die Kulturfrage praktisch werden lässt. Parallel zu den Entwicklungen, wie oben beschrieben, finden sich auch in Deutschland politische Reflexionen über eine systematische Einbindung von Religion in die Integrationspolitik. Die Moschee als Integrationsagentur, diese Idee wird allerdings im deutschen politischen Diskurs weiterhin mit einer ambivalenten Haltung verfolgt. Immerhin führt sie die Implikation mit, dass damit eine 51 Ausführlich dazu: Tezcan, Levent: Religiöse Strategien der »machbaren« Gesellschaft. Verwaltete Religion und islamistische Utopie in der Türkei. 52 Für Beispiele s. Rohe, Matthias: Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen: rechtliche Perspektiven, Tübingen 2001. 65

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komplette Infrastruktur mitsamt Krankenhäusern, Privatschulen, Kindergärten etc. legitimiert und die Option staatlicher Unterstützung auch für muslimische Verbände denkbar wird. Die Angst vor einer Parallelgesellschaft kanalisiert folglich die Förderung islamischer Strukturen in die bekannten Bahnen korporativer Einbindung. Selbst die Kirchenvertreter, die doch als religiöse Organisationen eine institutionelle Gleichstellung des Islam mit den christlichen Kirchen befürworten, zeigen sich gewissermaßen genau wegen der gesellschaftlichen Folgen zögerlich.53 Jedenfalls dreht sich die Debatte vornehmlich um die Frage einer zentralen Repräsentanz und des Religionsunterrichts als des primären Instruments. Da allerdings dieser vornehmlich juridische Ansatz zumindest auf der Regierungsseite nicht für ausreichend gehalten wird, taucht zeitgleich zu den oben beschriebenen Programmen auch in Deutschland ein spezifisches politisches Programm, das über die vorherrschende juridische Debatte hinausführt. Es ist übrigens eine Zeit generellen Umbruchs in der deutschen Integrationspolitik überhaupt. Die Bundesregierung startete nämlich unter der Federführung des Kanzleramtes im Jahre 2006 einen umfangreichen Nationalen Integrationsplan, in dem die Religionsthematik als ein Teilaspekt auftauchte. Im gleichen Jahr rief das Bundesministerium für das Innere die Initiative Deutsche Islam Konferenz ins Leben, die der Gegenstand folgender Ausführungen sein wird. Der gouvernementale Dialog wurde allerdings schon vorher im interreligiösen Dialog vorbereitet. Der christlich-islamische Dialog existiert eigentlich seit über 30 Jahren. Lange noch randständig gewesen, erhielt er gesellschaftliche Relevanz über die Einbindung in integrationspolitische Überlegungen, deren sicherheitspolitische Relevanz unleugbar schien.54 Mit dem Dialog wurde eigentlich eine Art Trainingslager eingerichtet, in dem muslimische Organisationen und die Politik durch die Vermittlung der christlichen Kirchen einander näher kamen. Dieser organisierte Dialog der religiös Bewegten scheint sich nun in zwei Richtungen hin auszudehnen. Auf der einen Seite wird der Dialog medial aufgegriffen, verselbständigt und gemäß der Logik der Massenmedien exzessiv betrieben. Jede Art von Kommunikation zwischen Einwanderern und Einheimischen erscheint dann als interkultureller bzw. interreligiöser Dialog. Teilweise im Unterschied zu dieser medialen Übertreibung versucht die Politik, die 53 So antwortete mir während meiner empirischen Forschung ein Gesprächspartner, ein katholischer Weihbischof, der die gleichen Rechte für die Muslime wie Kirchen befürwortet, genau mit dieser Ambivalenz. Er wisse auch nicht, wie man da eine Lösung findet. 54 Vgl. Tezcan, Levent: »Interreligiöse Kommunikation und politische Religionen«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/29 (2006), S. 26-32. 66

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von den Wellen der medialen Präsentation stark affiziert wird, den Dialog zu rationalisieren, indem sie (wie z. B. die Landesregierung NRW) »gemeinsam mit den muslimischen Organisationen im Lande, die die Werte der Verfassung anerkennen und die zum Gelingen der Integration beitragen, vom bloßen Dialog zu konkreten Kooperationsvereinbarungen kommen (will)«55. Die bestehende Kommunikation soll dann in dauerhafte Strukturen – den »Zusammenschluss von Moscheegemeinden (Schura)« – überführt werden, der modellhaft in zwei Städten NordrheinWestfalens ins Leben gerufen wird.56 Der CID, in dem das Wissen voneinander und Manieren der wechselseitigen Behandlung ausprobiert werden, verlässt damit den ursprünglichen exklusiven Ort der religiösen Gruppen und wird zum einen zu einem politischen Programm. Zum anderen wird das Wissen darüber in professionellen wissenschaftlichen Einrichtungen produziert. Rose sprach davon von der generellen Tendenz, dass die Befugnis zum Wahrsprechen von der Theologie und Jurispuridenz zu anderen Disziplinen, u.a. Sozialwissenschaften, abwandert.57 Das sozialwissenschaftliche Aufgreifen des Dialogs, das diesen auf Sicherheits- und Integrationsfragen hin modelliert,58 klinkt sich als eine weitere Instanz in die Dialogdebatte ein. Überhaupt wird ein komplexes Wissensfeld über den Islam aufgebaut. Das diskursive Format, in dem dieses Wissen produziert und zirkuliert wird, ist vornehmlich der Dialog mit dem Islam. Diese neue Wendung im Dialog basiert eben auf einem erweiterten Sicherheitskonzept, das nicht alleine auf Repression setzt, sondern qua Wissen gestaltend in die Beziehungsökologie innerhalb der Migranten eingreifen will, um einerseits die Risiken dort zu benennen, andererseits den politischen Dialog mit moderaten Muslimen zu fördern. Religion erscheint nunmehr als ein Instrument dieser Politik, das bisher sträflich vernachlässigt worden sei. In diesem Kontext wird die Stellung des Imam in pastoraler Hinsicht als Community Leader neu definiert59. Das Subjekt dieser Politik, 55 NRW – Aktionsplan Integration (2006): http://www.mgffi.nrw.de/pdf/ integration/aktionsplan-integration.pdf, Punkt 7, 10.06.2007. 56 Ebd. 57 Rose, Nicolas: Governing Advanced Liberal Democracies, S. 45. 58 Vgl. Angenendt, Steffen/Cooper, Belinda: »Zuwanderung in Zeiten des Terrors. Hilft erfolgreiche Integration gegen die islamistische Bedrohung?«. In: Internationale Politik 3 (2006), S. 6-14. 59 Malik, Jamal: Ausbildung von Imamen und Seelsorgern für die Herausforderungen von morgen, Unv. Ms., 2005 (vgl. die gekürzte Version: Ausbildung und Rolle der Imame, in der Moschee, http://www.anawatistiftung.de/seiten/100jahre-11-19.pdf, 07.08.2006). 67

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der seiner selbst bewusste Muslim, wird in der Schmiede des interreligiösen Dialogs geformt, bevor er als ethisch/politisch verantwortbarer Kulturvertreter die politische Bühne betritt. Die Fremdzuschreibung als Muslim trifft sich hier mit der zunehmenden Selbstbeschreibung der Migranten als Muslim. Sosehr nun der interreligiöse Dialog wegbereitend für die spätere gouvernementale Aufnahme des Dialogs gewesen sein mag, mussten staatliche Institutionen eigene Akzente setzen. Letztlich ist der Dialog der Gläubigen nicht »verbindlich genug«, wie die politische Arbeit es sich wünscht. Nun ging es darum, »verbindliche Vereinbarungen« zu treffen, die institutionell verankert in die Tat umgesetzt werden soll. Wie im niederländischen Fall fanden hier auch die ersten Ansätze eines institutionellen Dialogs auf der Ebene der polizeilichen Arbeit. Die Polizei hat in den 2000er Jahren in mehreren Städten Stellen für »polizeiliche Kontaktbeamte für Muslime« eingerichtet. Ihre Aufgabe besteht darin, über vertrauensbildende Maßnahmen mögliche terroristische Umtriebe im Moscheenmilieu frühzeitig mitzubekommen. Die polizeiliche Zusammenarbeit mit Moscheeverbänden erlebte 2005 einen Qualitätssprung, als der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime nach den Terroranschlägen von London am 7. und 21. Juli 2005 sich mit einem Schreiben an die Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesamtes für Verfassungsschutzes und an die jeweiligen Landesbehörden wendete, um den Dialog mit den Sicherheitsbehörden auf Spitzenebene zu intensivieren. Unter der Einbeziehung der DITIB wurde dann eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die Vorschläge zu »Vertrauensbildenden Maßnahmen« zwischen den muslimischen Verbänden und den Behörden entwickeln soll. Interessant ist an diesem Dialog vor allem, dass die polizeiliche Arbeit von Anfang an pragmatisch orientiert ist. Zwar ist hier auch von den Muslimen die Rede; sie bezieht sich jedoch fallorientiert nahezu stets auf muslimische Organisationen. Der Diskurs der Polizei operiert so, dass der Dialog auf ihren Arbeitsbereich beschränkt bleibt, ohne generelle Zuschreibungseffekte zu erzeugen. Viel schwieriger ist dies hingegen in der Islamkonferenz, dem Dialog der Regierung (qua des Ministeriums des Inneren) mit Muslimen.

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D e u t sc he I sl a m K o n f e r e n z ( D I K ) Bereits in der Koalitionsvereinbarung zwischen der Union und der SPD wurde ein Dialog mit dem Islam als Ziel anvisiert. »Ein interreligiöser und interkultureller Dialog ist nicht nur wichtiger Bestandteil von Integrationspolitik und politischer Bildung; er dient auch der Verhinderung und Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Extremismus. Gerade dem Dialog mit dem Islam kommt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle zu. (…) Dieser Dialog wird nur gelingen, wenn wir insbesondere junge Muslime sozial und beruflich besser integrieren.«60

Die Deutsche Islam Konferenz setzt im Grunde genommen diese Vereinbarung in die Tat um. Die Grundannahme, die der DIK zugrunde liegt, lautet, dass die Integration des Islam nicht einfach eine Frage rechtlicher Inklusion ist. Sonst hätte man einfach von dem bereits vorhandenen Instrument des Staatskirchenrechts bzw. -Vertrags Gebrauch gemacht. Von Anfang an wurde darauf insistiert, dass es genau nicht in erster Linie darum gehen kann. Zwar spielte auch hier zunächst das Argument, dass die Muslime nicht mit einer Stimme sprächen, also keine zentrale Institution besäßen. Dieses Argument erweckt eigentlich den Eindruck, dass die Problematik letzten Endes mit der Existenz einer zentralen Repräsentation stehe und falle. Gleichwohl war nicht primär dieses Argument, das außerdem kürzlich gänzlich aufgegeben wurde, das Grundproblem für die Islamkonferenz. Vielmehr bestand es darin, dass die Politik mit solchen muslimischen Gruppen zu tun hatte, deren politische Verträglichkeit bzw. Werteorientierung als problematisch betrachtet wurden. Nicht nur die Milli Görüs, bzw. Islamrat, die als fundamentalistisch eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet werden, auch nicht alleine Zentralrat der Muslime, sondern auch die DITIB, die dank der erklärten Säkularität des türkischen Staats einen gewissen Schutz vor Fundamentalismusverdacht genießt, konnte hier nicht auf volles Vertrauen seitens der Politik hoffen. Ihre institutionelle Bindung zum türkischen Staat (zum Amt für Religiöse Angelegenheiten, Diyanet) sorgt für Vorbehalte. Dabei sollte man hier nicht voreilig den bequemen Schluss ziehen, dass die deutsche Politik hier gegenüber den muslimischen Verbänden unzulässigerweise voreingenommen sei. Diese Organisationen haben nun mal eine Genealogie, die unmittelbar in ihre Gegenwart hineinreichen und diese Gegenwart mitkonstituieren. Die Geschichte, Ziele und Umgangsformen sind tatsächlich nicht ohne Weiteres mit den politischen und gesellschaftlichen Bräuchen hierzulande kompatibel gewesen, sind es auch teilweise 60 Koalitionsvertrag CDU, CSU, SPD, vom 11.11.2005, Abschnitt 8, S. 138. 69

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nicht.61 Es ist u.a. eventuell auch dieser Umstand, der die Suche nach einer neuen Inklusionsstrategie begründet. Die Islamkonferenz hat eine doppelte Struktur. Zum einen gibt es drei Arbeitsgruppen und einen Gesprächskreis, die sich mit ausgesuchten Kernfragen auseinandersetzen sollen. Dann trifft sich zweimal im Jahr das öffentlich stattfindende Plenum, auf dem 15 muslimische Vertreter von den AGs mit 15 Staatsvertretern zusammenkommen. Die AG 1 befasst sich entsprechend ihrem Titel mit Deutsche(r) Gesellschaftsordnung und Wertekonsens; bei der AG 2 handelt es sich um Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis und schließlich Wirtschaft und Medien als Brücke bei der AG 3. Der Gesprächskreis beschäftigt sich mit den Fragen von »Sicherheit und Islamismus«. Nach Meinung einiger muslimischer Teilnehmer wolle die Politik mittels der Bezeichnung Gesprächskreis den Status dieser Gruppe niedrig halten, da hier eine merkwürdige Konstellation entstehe, dass die Politik mit Islamisten über den Islamismus zu diskutieren habe. Tatsächlich kann man hier durchaus umgekehrt auch einen mutigen Schritt sehen, da die Regierung eine von ihrem Verfassungsschutz als extremistisch bezeichnete Organisation in die Verhandlungen über die Bekämpfung des Extremismus einbezieht. In struktureller Hinsicht hat sich die Politik bei der DIK für eine besondere organisatorische Kombination entschieden. Jede AG besteht aus drei Teilnehmergruppen. Die erste Gruppe setzt sich aus den Vertretern der muslimischen Verbände zusammen, die hier als Repräsentanten des »Organisierten Islam« bezeichnet werden. Da aber diese Gruppen eine Minderheit unter den muslimischen Migranten, also lediglich den organisierten Teil repräsentieren, wollte man verhindern, dass sie eine alleinige Machtposition als Vertreter der Muslime überhaupt erhielten. So hat man außerdem die Macht der Gruppen im Vorfeld gedämpft, die wie oben schon vermerkt partiell als problematisch gelten. Im Grunde will die Politik, so können wir auf unsere Thematik hin mutmaßen, die identitätspolitischen Konsequenzen ihrer eigenen Initiative, die Fragen der Regierbarkeit über die Religion anzugehen, mit diesem organisatorischen Griff ein Stück entschärfen. Der Zuschreibungseffekt, der von der DIK als Instanz der Verhandlungen über soziale Probleme auf die Perzeption aller muslimischen Migranten ausgeht, wird gewissermaßen konterkariert, indem dem organisierten Islam eine Gruppe von »Individualisten« entgegenstellt wird. Rein unter dem Repräsentationsgesichtspunkt betrachtet, müsste man hier von einem merkwürdigen Konstrukt sprechen; 61 Siehe Tezcan, Levent: »Inszenierungen kollektiver Identität, Artikulationen des politischen Islam – beobachtet auf den Massenversammlungen der türkisch-islamistischen Gruppe Milli Görüs«. In: Soziale Welt 53 (2002), S. 301-322. 70

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aber eine solche abstrakte Verurteilung würde die geschichtlichpolitische Besonderheit des Falles verfehlen. Daher sollte man, das Wort merk-würdig positiv wendend, hier eher von zwei unterschiedlichen Repräsentationslogiken sprechen, die zu unterschiedlichen Ebenen gehören. Die so genannten Individualisten sind in der Regel öffentliche Personen mit muslimischem Hintergrund. Hier steht nicht so sehr der Bekenntnisaspekt als vielmehr die Verwicklung mit dem Islam im Vordergrund. So gehören auch selbst Teilnehmerinnen wie Necla Kelek oder Seyran Ates, die in der Öffentlichkeit oft mit dem Attribut »Islamkritikerin« versehen wurden.62 Neben diesen unter den Teilnehmern zum Teil umstrittenen Personen befinden sich unter den Nichtorganisierten durchaus auch Vertreter von Organisationen, die jedoch bisher mit der Religion in der institutionellen Hinsicht gar nicht verbunden waren. Bei diesen handelt es sich entweder um Berufsverbände oder um politische Interessengruppen wie die Türkische Gemeinde Deutschlands (TGD). Ihre Existenz vor allem, zusammen mit der alevitischen Föderation, die selber zu der Gruppe organisierten Islams gehören, fungiert als Gegengewicht gegenüber den konservativen sunnitischen Organisationen. Schließlich besteht neben diesen zwei letztlich muslimischen Gruppen eine weitere Gruppe, die aus »Wissenschaftlern« besteht, die die DIK begleiten. Der Staat ist ebenfalls in jeder AG mit ständigen Teilnehmern vertreten. Die Islamkonferenz zeichnet sich durch gegensätzliche Interessen aus. Während die sunnitischen muslimischen Verbände bestrebt sind, den Dialog auf die juridische Ebene zu beschränken, auf der die Fragen der Institutionalisierung verhandelt werden sollen, versucht die Regierung, Vereinbarungen unterhalb dieser Ebene zu erreichen, die dann als Grundsatzerklärung zur Regelung der Probleme des multikulturellen Alltags dienen sollen. Anfänglich stand denn auch als Ziel, einen »Gesellschaftsvertrag mit Muslimen« zu schließen. Nach den ersten öffentlichen Reaktionen wurde dieses Ziel vorerst zurückgestellt. Nun soll ein Dokument entstehen, das, wie es scheint, im Wesentlichen eine symbolische Bedeutung haben wird, mit der die Muslime und die Regierung sich zusammen zu einem Wertekonsens bekennen sollen. Dass die religiöse Bezeichnung zum Unterscheidungsmerkmal gemacht wurde, hat den Konflikt um die Definition des wahren Islams intensiviert. Das führt dazu, dass auch solche Migranten bzw. Organisationen, die bisher nicht über Religion kommuniziert haben, an diesem 62 Ihre Nominierung erzeugte durchaus Befremden in der Öffentlichkeit; organisierte Muslime reagieren bis heute gar mit Unverständnis bis Ablehnung. Schriftsteller Feridun Zaimoğlu, der auch eingeladen war, bot seinen Platz, nicht zuletzt aus Protest gegen die Präsenz von Kelek und Ates, einer kopftuchtragenden Frau an. 71

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Diskurs teilnehmen. Die langfristigen Effekte dieser neuen Konstellation sind noch abzuwarten.

Geopolitische Relevanz des Kampfes um den » r i c h ti g e n « I sl a m Was innerislamisch geschieht, das betrifft nicht nur die Innenpolitik, sondern weist ebenfalls eine geopolitische Relevanz auf, die sich vor allem in der Politik der Supermacht USA widerspiegelt. Selbstverständlich ist eine islamaffirmative Politik der US-Regierungen nicht neu. Im Kampf gegen den Kommunismus waren konservativ muslimische Kräfte und Regierungen wichtige Verbündete der US-geleiteten westlichen Welt in diesem Kampf; dieses strategische Schicksalsbündnis fand seinen Höhepunkt im Mitaufbau und in der massiven Unterstützung bewaffneter islamischer Gruppen in Afghanistan gegen die Sowjetbesatzung. Nur, dieses Mal sind es die ehemals verbündeten radikal islamischen Gruppen, gegen die nun die Variante »moderate Islam« gefördert werden soll. Es ist die Frage, ob diese Politik einfach die alte Politik fortsetzt oder mit ihrer massiven Einmischung in die theologischen Angelegenheiten (welcher Islam bzw. Islam within) doch eine neue Qualität hervorbringt. Die Regierungsprogramme Combating Terrorism oder Muslim World Outreach and Engaging Muslim Civil Society oder die Empfehlungen des Think Thank Instituts RAND Corporation (Building Moderate Muslim Networks) haben mit konzertierten Aktionen in dieser Richtung gewirkt. Hier geht es dann nicht mehr nur darum, Einfluss auf die Muslime zu nehmen, sondern die Entwicklungen innerhalb des Islam als Religion und Kultur gehen Amerika und seine Verbündete unmittelbar an. Saba Mahmood63 hat einen profunden Artikel darüber geschrieben, wie die Politics of Islamic Reformation, d.h. eines quasi-protestantischen, modernisierten Islam, mit der globalen Sicherheitspolitik der Empire zusammenkommt. Besonders bestechend ist der Hinweis auf die machtpolitische Relevanz von Hermeneutik, die als Mittel einer intrinsischen Transformation des religiösen Gesetzes gefördert wird. Sie befindet, dass »the U.S. Government has found an indigenous ally in the form of moderate or liberal Muslims who, in the opinion of State Department planners, are most open to a ›western vision of civilization, political order, and society‹«64. In der Tat kann man unschwer diese Zielsetzung in wichtigen Dokumenten wieder finden. Bereits früh wurde explizit, wenn

63 Mahmood, Saba: Secularism, Hermeneutics, and Empire. 64 Ebd. 72

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auch noch unspezifisch, »Win the War of Ideas« als ein wichtiges Ziel der Terrorbekämpfung bestimmt.65 Ausgeführt wurde dieses Vorhaben qua diverser Programme wie das Muslim World Outreach and Engaging Muslim Civil Society, ursprünglich etabliert von White House National Security Counsil und umgesetzt von der United States Agency for International Development (USAID – Outreach 2004). Mahmood richtet unseren Blick auf die theological agenda, die den wesentlichen Unterschied dieser Strategie zu denen im Kalten Krieg unterstreiche.66 In den Berichten, die von dem konservativen Think Thank Institut Rand Corporation (mit erheblichem Einfluss in Regierungskreisen) vorgelegt wurden, liegt der Schwerpunkt darauf, eine genaue Analyse innerislamischer Differenzen vorzunehmen, um daraus eine effektive Bündnispolitik zu entwickeln. Der Kategorie »moderate Islam«67 kommt in solchen Texten eine zentrale Rolle zu. Sie impliziert »Liberale«, »Modernisten«, »Sufis« und schließlich die »Traditionalisten«, wobei sich die letzteren mit ihrem scriptural literalism partiell mit dem radikalen Fundamentalismus überlappen. Nichtsdestoweniger werden auch sie bei aller Vorsicht, so meine von Mahmood' abweichende Lesart, als potentielle Verbündete im Kampf gegen den Terror betrachtet. Mahmood verweist uns zu einseitig auf die Hofierung von Autoren wie Bassam Tibi, Sorousch oder Hasan Hanefi in vielen westlichen Foren. Dabei hat sich die US-Strategie keineswegs auf eine einzige Linie festgelegt. Schaut man sich die konkreten Förderpraktiken der US-Regierung bezüglich Islam, auf die im Übrigen Mahmood selber in einer Fußnote68 hinweist, dann erkennt man, dass 65 NS – CT: National Strategy for Combating Terrorism, USA – The White House (2003), http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/02/counter _terrorism/counter_terrorism_strategy.pdf, 06.11.2007; NS – CT: National Strategy for Combating Terrorism, USA – The White House (2006), http://www.whitehouse.gov/nsc/nsct/2006/nsct2006.pdf, 06.11.2007. 66 Mahmood, Saba: Secularism, Hermeneutics, and Empire, S. 331. 67 Die Kriterien für moderate Islam werden in einem RAND-Bericht von 2005 (RAND – MRI 2005) exemplarisch folgendermaßen bestimmt: »Their prefered forms of government (do they seek to establish an Islamic state or are they willing to accept secular forms of government?); their political and legal orientation (do they insist on the application of Islamic or sharia law, or do they accept other sources of law?); their attitudes toward the rights of women and religious minorities (do they deny women equal rights, including the right to political participation? Do they support the education and advancement of women? Would they allow freedom of worship?)« In: RAND – MRI: Moderate and Radical Islam, Angel Rabase, (2005), http://www.rand.org/pubs/testimonies/2005/RAND_CT25 1. pdf, 06.11.2007, S. 2. 68 Mahmood, Saba: Secularism, Hermeneutics, and Empire, S. 330, Fn. 14. 73

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diese Aktivitäten keineswegs auf den Ausschluss des traditionalistischen Islam gerichtet sind. Hier eine Auswahl dieser Aktivitäten: »UNITED KINGDOM: Think tank on moderate Islam; BULGARIA: Restoration of old mosques and Islamic library; MOROCCO: Workshop for Islamic political activists; journal on moderate Islam; ALGERIA: Workshop for Islamic political activists; preservation of over 1,000 ancient Islamic manuscripts; MALI: Training of madrasah teachers; restoration of Islamic manuscripts. NIGER: Preservation of over 4,000 antique Islamic manuscripts; NIGERIA: Workshop for Islamic political activists; training of madrasah teachers and curriculum reform; UGANDA: Construction of three Islamic elementary schools; promotion of Islamic FM radio; donation of 10,000 books to Islamic university; EGYPT: Workshop for Islamic political activists; restoration of two ancient mosques; JORDAN: Workshop for Islamic political activists; YEMEN: Workshop for Islamic political activists; restoration of Amiriya Madrasah monument; MADAGASCAR: Inter-mosque sports tournament; IRAQ: Training of mosque leaders; workshop for Islamic political activists; AFGHANISTAN: Two radio networks with Islamic programming; textbooks with Islamic lessons; restoration of 17th-century mosque; workshop for Islamic political activists; CYPRUS: Restoration of Hala Sultan Tekke, holiest site for local Muslims; TURKEY: Workshop for Islamic political activists; TURKMENISTAN: Restoration of 11th-century Abu Sakhyt Abul Khaira shrine, a Sufi pilgrimage site; restoration of 15th-century Seit Jemmalatdin Mosque; UZBEKISTAN: Preservation of some 20 ancient Korans and manuscripts.«69

Anders als Mahmood vertrete ich die These, dass, wie in den hier betrachteten nationalen Integrationspolitiken, die US-Politik bereits darin begriffen ist, über die Förderung säkularer Gruppen oder »liberaler Muslime« hinaus mehr und mehr auf die konservativen Muslime zu setzen. Der Kampf um die Herzen soll in den Islam hinein getragen werden, das bedeutet für die politische Rationalität Autoritätsinstanzen zu finden, die von innen her mit gewachsener religiöser Legitimität und Kompetenz auf die Gläubigen einwirken können. Die so genannte Versöhnung des Islam mit Moderne und Säkularität kann demnach nicht mehr von den Modernisten geleistet werden, die doch hauptsächlich von Außen des Islam her sprächen. Vielmehr wird diese Leistung das Werk konservativer oder gar fundamentalistischer Kräfte sein, die eine gewisse Transformation durchgemacht haben. So nimmt es kein Wunder, dass die türkische Regierungspartei AKP vom Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan, hervorgegangen aus der islamistischen Bewegung von Necmettin Erbakan, als 69 Kaplan, David E: »In an Unseen Front in the War on Terrorism, America is Spending Millions… To Change the Very Face of Islam«. In: U.S. New&World Report (17.04.2005). 74

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der Prototyp einer solchen Entwicklung verhandelt wird.70 Eine weitere türkische Hoffnungsfigur für diesen politischen Trend ist Fethullah Gülen, dessen Bewegung nicht nur in dem von Mahmood zitierten Bericht, wenn auch unter dem Kategorie »Modernisten«,71 vorgestellt wird, sondern auch auf einer kürzlich in Cooperation mit dem britischen House of Lords veranstalteten Tagung als eine zentrale Figur der Transformation des Islam72 gewürdigt wurde. Man wird wohl zu Recht behaupten können, dass weder Erdoğan noch Gülen irgendwie mit dem klassischen Typus des islamischen Modernisten etwas gemein haben. Sie sind jedenfalls die Vertreter des konservativen scriptural literalism – das gilt selbst trotz ihrer mystischen Abkunft für die Gülen-Bewegung. Auch das Attribut »protestantisch«, das Mahmood den Modernisten in kritischer Manier zuschrieb, wird längst für eben diese konservativ-traditionalistische Variante in Anspruch genommen; von eben diesen »islamischen Calvinisten« gehe nunmehr die mit eigener kultureller Tradition versöhnte Modernisierung aus.73 Sie firmieren in der internationalen Sprache unter der Bezeichnung moderate Islam. Die Vermutung, dass sie sich eher gegenwärtig für die strategischen und ordnungspolitischen Ziele der Empirepolitik eignet und nicht die klassischen prowestlichen Bewegungen als quasi natürliche Verbündete, müsste durchaus ernst genommen werden.

70 Das aktuelle Buch von Graham E. Fuller (früherer Vice-Chairman von National Intelligence Council at the CIA The New Turkish Republic 2008) entfaltet diesen Gedanken systematisch. 71 »Fethullah Gulen puts forward a version of Islamic modernity that is strongly influenced by Sufism and stresses diversity, tolerance, and nonviolence. His writings have inspired a strong multinational following and have proven attractive to young people«. In: RAND – CDI: Moderate and Radical Islam – Civil Democratic Islam, Cheryl Benard (2003), http://www.rand.org/pubs/monograph_reports/MR1716/, 06.11. 2007, S. 38. 72 http://gulenconference.org.uk/, 01.01.2009. 73 ESI – IC: European Stability Initiative Islamic Calvinists. Change and Conservatism in Central Anatolia (2005), http://www.esiweb.org/pdf/esi _document_id_69.pdf, 06.11.2007. 75

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S c hl u s s Die politische Rationalität, die qua Sicherheitsdispositive operiert, bezieht sich auf die Religion der Migranten als Mittel der Integrations- und Sicherheitspolitik, wobei die Migranten als religiöse Subjekte neu ausgerichtet werden und dies aber auch vor allem partiell selber tun. Religion bietet sich als geeignetes Medium für die Sicherheitspolitik, da sie einerseits die Lebensführung der Einzelnen regelt, andererseits über organisatorische Strukturen mit Regierungspraktiken in Verbindung bringt. Es wäre falsch, wenn man behauptete, dass diese Politik den Einwanderern bloß überstülpt würde. Ebenfalls gründet das geostrategische Umdenken, angeregt von Huntingtons Kulturkampfthese, auf realen sozialen Entwicklungen, die auf eine zunehmende Hegemonie islamischer Identitätspolitik weltweit verweisen. Die Leistung des Diskurses besteht nun darin, die bestehenden einzelnen Elemente neu zu rahmen, also miteinander auf eine spezifische Art und Weise zu verknüpfen. Konkret gesprochen, avanciert damit der bereits vorhandene innerislamische Hegemoniekampf zu einer politikrelevanten Angelegenheit, woran eine aktive Islampolitik anschließt, die auf die Zurichtung berechenbaren muslimischen Subjekts abzielt. Es handelt sich scheinbar alleine um eine Auseinandersetzung zwischen den radikalen und moderaten Varianten des Islam. Beim genauen Hinsehen fällt jedoch unmissverständlich auf, dass die religiöse Identität überhaupt dazu tendiert, zur zentralen Achse der Politik zu werden, was dann noch erhebliche Folgen für Machtverhältnisse und Politikangebote innerhalb des Einwanderermilieus zeitigen dürfte. Entwicklungen von beiden Richtungen her scheinen darauf hinauszulaufen, dass der Gegenstand dieser Gouvernementalität der Homo Islamicus ist. Nun stellen sich einige Fragen: Wie wird z.B. der ethische Gehalt religiöser Ideen von dieser Politik affiziert? Damit ist nicht nur danach gefragt, wie die milieuinternen Konkurrenzen um Macht ablaufen, sondern auch wie die unterschiedlichen Formen von Religiosität tangiert werden. Vom Ansatz politischer Praktiken her scheint es zunächst nahe zu liegen, dass der Blick, der sich auf den Islam richtet, zunächst einmal von einer Sichtweise getragen wird, die vom Amt aus erfolgt. Die Form der Religiosität, die sich repräsentieren lässt und damit identifizierbare Machtzentren bildet, kommt hier als Gegenstand politischen Interesses in Frage. Andererseits kann man mit Differenzierungsprozessen rechnen, die aus der Politik der Förderung einer pastoralen Macht entstehen würden. Wenn nämlich der Islam in praktischer Hinsicht interessant, d.h. gewissermaßen »lukrativ« bzw. »gefährdet« ist, dann fangen auch andere an, sich in den Religionsdiskurs einzumischen. Man kann also auch damit

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rechnen, dass die Idee des Islam einerseits institutionell gebunden wird, sich jedoch andererseits inhaltlich weiter öffnen könnte. Auch die Folgen für die Politik wird man noch eruieren müssen. Was die Natur der Erwartungen an die muslimischen Gruppen anbetrifft, fragt sich, wie und wann die angepeilte verbindliche Vereinbarung erreicht wird, die, wie oftmals angemahnt, über ein »bloßes Lippenbekenntnis« hinausgehen soll. So unvermeidlich diese Forderung in praktischer Hinsicht ist, so problematisch scheint umgekehrt ihre Realisierbarkeit und Prüfung. Bislang ist die auffälligste Form, in der das gouvernemental anzuerkennende muslimische Subjekt seine Accountabilität versichern konnte, das öffentliche Bekenntnis: Distanzierung von diversen Gewalttaten und Praktiken, die von Muslimen im Namen des Islam verübt wurden. Auch der so genannte »Muslimtest« antwortet eben auf den Bedarf an Wahrhaftigkeit. Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass in einer Situation, die über den Zusammenprall kultureller Werte definiert wird, die Wahrhaftigkeit zur zentralen Sorge der politischen Kommunikation wird. Die liberal gewendete Gouvernementalität bemüht sich, ordnungspolitisch die Identitäten miteinander zu vermitteln, die auf differenten Werten basierten. Befriedung unterschiedlicher Werte ist damit das Ultima Ratio des politischen Handelns, aber auch des philosophischen Reflektierens.

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KULTURELLE GRENZZIEHUNGEN IN I N T E G R A T I O N S PO L I T I S C H E N D I S K U R S E N DEUTSCHER PRINTMEDIEN VALENTIN RAUER Das Begriffspaar ›Kultur‹ und ›Integration‹ bildet in den letzten Jahrzehnten einen festen Bestandteil des migrationspolitischen Diskurses in Deutschland.1 Dies war keineswegs immer der Fall. Lange Zeit dominierte die Öffentlichkeit das Diktum der »Ausländerpolitik«2. Die Ausländerpolitik setzte die ›Kultur‹ der ›Ausländer‹ als etwas Unveränderliches voraus. Falls kulturelle Grenzgänger die öffentliche Arena betraten, so geschah dies nicht im Rahmen der ›Ausländerpolitik‹, sondern im Rahmen des Exotischen. Im Zuge der 1990er Jahre verdrängte der Begriff der ›Integrationspolitik‹ zunehmend die ›Ausländerpolitik‹. Mit dieser Umbenennung verabschiedete sich das Politikfeld von seiner topologischen Unterscheidung in ›Innen/Außen‹ und rückte stattdessen eine temporalisierende Unterscheidung ›Integration/Segregation‹ in den Vordergrund. Während die Unterscheidung ›Innen/Außen‹ kulturräumliche Zustände beschreibt, präfiguriert die Unterscheidung ›Integration/Segregation‹ kulturräumliche Prozesse. Der ›Ausländerpolitik‹ gelten kulturelle Grenzen als überzeitlich gegeben. Die ›Integrationspolitik‹ verzeitlicht die politischen Zielvorstellungen im Rahmen eines 1

2

Rauer, Valentin/Schmidtke, Oliver: »›Integration‹ als Exklusion? Zum medialen und alltagspraktischen Umgang mit einem umstrittenen Konzept«. In: Berliner Journal für Soziologie 11/3 (2001), S. 277-296; Vonderau, Astrid: »Integration als absolute Bedingung. Diskursive Ausgrenzungsmechanismen am Beispiel der Zeitungsdebatte über die doppelte Staatsbürgerschaft«. In: Zuwanderung und Integration, hg. v. Christoph Köck et al., Münster 2004, S. 97-106; Sökefeld, Martin: »Das Paradigma kultureller Differenz«. In: Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz, hg. v. ders., Bielefeld 2004, S. 9-33. Bade, Klaus J.: »Einheimische Ausländer: ›Gastarbeiter‹ – Dauergäste – Einwanderer«. In: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland: Migration in Geschichte und Gegenwart, hg. v. ders., München 1992, S. 393-401; Herbert, Ulrich: Geschichte der Gastarbeiter in der BRD, München 2001, S. 232-243. 81

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kulturellen Wandels. Der Integrationsbegriff ist zwar keineswegs frei von »Kulturalisierung«3, im Vergleich zur Ausländerpolitik dynamisiert er jedoch die Logik der vorausgesetzten kulturellen Grenzen.4 Für sich allein stehend ist der Begriff ›Integration‹ inhaltsleer. Er legt lediglich die abstrakte Formel von einer ›Zusammenfügung von Elementen‹ nahe. Es bleibt offen, was die zu ›integrierenden Elemente‹ kennzeichne und welches ›Ganze‹ auf welche Weise wie zusammenzufügen sei. Diese Unentschiedenheit ist jedoch kein Mangel, sondern qualifiziert den Begriff zu einem migrationspolitischen Schlüsselbegriff. Schlüsselbegriffe charakterisieren grundsätzlich eine inhaltliche Leere und normative Vagheit.5 ›Integration‹ ist kein Begriff eines spezifischen politischen Lagers. Ob das Ziel der Politik in einer nationalen, globalen oder regionalen ›Integration‹ bestehe, ob es sich zudem um soziale oder kulturelle Integration handele, bedarf semantisch zunächst keiner Festlegung. Für die Frage nach den Kulturzwängen innerhalb öffentlicher integrationspolitischer Debatten folgt aus dieser Vorüberlegung, dass zunächst die öffentliche Praxis der Begriffsverwendung nachzuzeichnen ist. Empirisch sind die Medien mit Blick auf die verschiedenen Sprecher und kulturellen Grenzvorstellungen zu unterscheiden. Das ›integrierte Ganze‹ konstituiert sich im medialen Diskurs durch die ex- und implizit mitgeführten kulturellen Grenzvorstellungen. In den Medien schreiben Journalisten Texte für imaginierte Leser. Wenn Fragen der kulturellen Grenzenvorstellungen erörtert werden, dann setzen die Journalisten besondere Assoziationsräume ihrer Leser voraus.6 Des Weiteren zitieren Journalisten diverse öffentliche Akteure wie Politiker und Experten sowie Sprecher

3 4

5 6

Kaschuba, Wolfgang: »Kulturalismus: Kultur statt Gesellschaft?«. In: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 80-95. Selbstverständlich bedeutet eine semantische Änderung der Schlüsselbegriffe nicht, dass sich der gesamte Diskurs vollständig verändert. Vielmehr lassen sich Kontinuitäten neben neuen Argumentationsmustern beobachten (vgl. dazu Wengeler, Martin: »Zur historischen Kontinuität von Argumentationsmustern im Migrationsdiskurs«. In: Massenmedien, Migration und Integration, hg. v. Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun, Wiesbaden 2006, S. 13-36; Rauer, Valentin: Die öffentliche Dimension der Integration. Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland, Bielefeld 2008). Parsons, Talcott: Das System moderner Gesellschaften, Weinheim 1996. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 1988; Giesen, Bernhard/Junge, Kay: »Vom Patriotismus zum Nationalismus zur Evolution der ›Deutschen Kulturnation‹«. In: Nationale und kulturelle Identität, hg. v. Bernhard Giesen, Frankfurt a.M. 1991, S. 255-303. 82

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von sozialen Protestbewegungen und Verbänden. Zu jeder Debatte – sei es zu ›Lohnnebenkosten‹, zur ›Abtreibung‹ oder zum ›Weltfrieden‹ – die Medien präsentieren zu dem jeweiligen Thema im Durchschnitt zu sechs bis sieben Prozent die Meinungen von Interessenverbänden und Vereinen.7 Dies gilt seit den 1990er Jahre auch in dem Feld der Ausländer- respektive der Integrationspolitik. In jener Zeit gründete sich die ›Türkische Gemeinde in Deutschland‹ und der ›Türkische Bund BerlinBrandenburg‹. Seither werden kulturelle Grenzvorstellungen nicht mehr ausschließlich von ›deutschen Deutschen‹, sondern auch von ›türkischen Deutschen‹ in den Printmedien artikuliert. Die Verbände und Vereine bekleiden damit eine wichtige diskursive Funktion, die bei der Analyse dieses Politikfeldes nicht vernachlässigt werden darf. Was bedeuten diese öffentlichen Präsentationen von Einwandererverbänden in den deutschen Printmedien für die Frage nach den Kulturzwängen und kollektiven Grenzziehungen? Um was für eine Textgattung handelt es sich, wenn in deutschen Printmedien Forderungen dieser Verbände zitiert werden? Die Zitate werden nicht in einer türkischen, sondern in einer deutschen Zeitung präsentiert. Sobald die Zitate in deutschen Printmedien erscheinen, sind sie nicht mehr ausschließlich als Teil des vielfach beforschten so genannten ›Minderheitsdiskurses‹ zu interpretieren. Die Verbandsrahmungen werden in den Kommentaren der deutschen Medien als ›eigenes‹ Argument angeführt. Die Forderungen der ›türkischen‹ Verbände werden dem ›deutschen Mehrheitsdiskurses‹ zu Eigen. Bei diesen Texten überlappen sich also Mehr- und Minderheitspositionen. Sie sind miteinander »vernäht«, um einen Terminus von Chantal Mouffe8 zu verwenden. Die öffentliche Argumentation mit den Zitaten der Verbände überbrückt die Spaltung in ›Mehr- und Minderheitsdiskurs‹. Auch in diesen vernähten Positionen finden sich kulturelle Grenzziehungen. Es ist jedoch zu vermuten, dass sie sich aufgrund ihrer ›Nahtstellen‹ von den klassisch nationalstaatlichen Grenzziehungen unterscheiden. Der vorliegende Beitrag versucht die Grenzvorstellungen solcher ›vernähter‹ Diskurse auf der Basis einer empirischen Medienanalyse von deutschen Tageszeitungen nachzuzeichnen.

7

8

Hackenbroch, Rolf: Verbände und Massenmedien. Öffentlichkeitsarbeit und ihre Resonanz in den Medien, Wiesbaden 1998; Vowe, Gerhard: »Das Spannungsfeld von Verbänden und Medien: Mehr als öffentlicher Druck und politischer Einfluss«. In: Interessenverbände in Deutschland, hg. v. Thomas von Winter/Ulrich Willems, Wiesbaden 2007, S. 465-448. Mouffe, Chantal: »Demokratische Staatsbürgerschaft und politische Gemeinschaft«. In: Episteme, Online-Magazin für eine Philosophie der Praxis (1993), http://www.episteme.de/-download/Mouffe.rtf, 01.01.2009. 83

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Die im Folgenden vorgestellte Analyse beruht auf einer umfassenden Untersuchung von deutschen Tageszeitungsartikeln im Zeitraum von 1995 bis 2004. Dieses Zeitfenster erfasst die Jahre nach der Gründung der ›Türkischen Gemeinde in Deutschland‹ und der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts der Rot-Grünen Bundesregierung. Zum Datensatz zählen sämtliche Artikel, die die ›Türkische Gemeinde in Deutschland‹ und den ›Türkische Bund Berlin-Brandenburg‹ erwähnten (N=811).9 Die Kodierung erfolgte nach der Methode der ›Grounded Theory‹ und erfasste sämtliche Artikel.10 Als Ergebnis ist zunächst die formale Ausrichtung der zitierten Verbandsrahmungen zu nennen. Formal lassen sich im Wesentlichen vier verschiedene Kategorien unterscheiden: erstens ›Forderungen‹, zweitens ›Kommentare‹, drittens ›Aktionen‹ sowie viertens die ›Aussagen von Dritten‹ (Tabelle 1): Tabelle 1: Formal-inhaltliche Vorkodierung, absolut und in Prozent (N=1314; 100 %) 1. Politische Forderungen TBB 325 TGD 247 Summe 572 % 44

2. Politische Kommentare 223 160 383 29

3. Performative Aktionen 139 51 190 14

4. Aussagen Dritter 72 97 169 13

Die häufigste Kategorie stellten die ›politischen Forderungen‹ dar (44 Prozent). Diese Kategorie umfasst diejenigen Verweise der Medien, in denen die Verbände explizite inhaltliche Forderungen formulierten, wie beispielsweise die staatliche Finanzierung von Integrations- oder Sprachkursen etc. Thematisch eng verwandt ist die Kategorie ›politische Kommentare‹ (29 Prozent). Sie beinhaltet Stellungnahmen, in denen politische Inhalte bewertet wurden, ohne dass diese Bewertungen explizit 9

Ein Teil der Daten dieses Beitrages bezieht sich auf die ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema bei Rauer, Valentin: Die öffentliche Dimension der Integration. Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland. 10 Glaser, Barney G./Strauss, Anselm: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Chicago 1967. Für die Grundgesamtheit wurden sämtliche Artikel im Zeitraum von zehn Jahren ausgewählt. Der Zeitraum war präzise auf den 01.01.1995 bis zum 31.12.2004 begrenzt. Bei den Tageszeitungen handelte es sich um die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, DIE WELT und die tageszeitung. 84

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als Forderung formuliert wurden. Da die Kommentare jedoch affirmative oder kritische Positionen bezogen, wurde diese Kategorie als ›indirekte politische Forderung‹ in die Analyse miteinbezogen.11 Bei der Kategorie ›performative Aktionen‹ handelt es sich eher um deskriptive Informationen zu Veranstaltungen. Beispielsweise berichteten die Medien über eine Bildungsoffensive der Verbände etc. Die spärlichen ›Aussagen Dritter‹ zu den Aktivitäten der Verbände stellen eine informative und selten auch selbstreflexive Thematisierung der Verbände dar. Nur sehr selten finden sich hier auch argumentative oder normative Rahmungen.12 Zudem hat sich die Bedeutung der Verbände im öffentlichen Diskurs im Laufe der untersuchten Jahre verstetigt. Der Verlauf der Medienaufmerksamkeit bleibt von 1995 bis Ende 2004 mit etwa 50-60 Nennungen stabil. Im Jahr 1999 und 2004 findet sich ein Anstieg um das Ein- bis Eineinhalbfache. Der Anstieg im Jahr 1999 ist in erster Linie durch das Erdbeben in der Türkei und die Reform des Staatsbürgerschaftrechtes in der Bundesrepublik bedingt. Der Anstieg im Jahre 2004 gründet auf verschiedenen, thematisch gleich gewichteten Ereignissen. Hierzu zählten in erster Linie das Attentat auf Theo Van Gogh in den Niederlanden, die Debatte um die Kopftuchverbote und islamischen Religionsunterricht in den Bundesländern und die Diskussion um einen künftigen TürkeiBeitritt in die Europäische Union. Insgesamt erweisen sich die Verbände auf der quantifizierenden formalen Typisierung des Diskurses als ein argumentativer und normativer Akteur im migrationspolitischen Diskurs. Dieser Eindruck wird durch die Analyse der inhaltlichen Schwerpunkte der Verbandsrahmungen bestätigt. Die Kodierung ergab fünf übergeordnete thematische Schwerpunkte: ›Staatsbürgerschaft‹, ›Islam‹, ›Integration‹, ›Ausgrenzung und Rassismus‹ sowie ›EU-Beitritt der Türkei‹ (Tabelle 2 auf der nächsten Seite).

11 Allgemein zur Methode der »political claim analysis« vgl. Koopmans, Ruud/Statham, Paul: »Political Claims Analysis: Integrating Protest Event and Political Discourse Approaches«. In: Mobilization: An International Journal 4/1 (1999), S. 40-51. 12 Die beiden informativ ausgerichteten Kodierungen werden aus der weiteren Analyse ausgeklammert. 85

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Tabelle 2: Thematische Rahmen der Forderungen und Kommentare (N=911)

Staatsbürgerschaft Islam Integration Ausgrenzung, Rassismus EU-Beitritt Sonstige 0

25 50

75 100 125 150 175 200 225 250

Etwa ein Viertel (26 Prozent) sämtlicher Forderungen und Kommentare bezogen sich auf das Thema ›Staatsbürgerschaft‹. Dazu zählen Auseinandersetzungen um die Reform des Einwanderungsgesetzes und die doppelte Staatsbürgerschaft. Etwa ein Fünftel (22 Prozent) der Forderungen und Kommentare bezogen sich auf das Themenspektrum ›Islam‹. Hier werden Topoi wie das Kopftuch, der bekennende Religionsunterricht an staatlichen Schulen sowie der islamistische Terrorismus verhandelt. Ebenso häufig (22 Prozent) setzen sich die Verbände mit dem Problemfeld ›Integration‹ im Rahmen von Bildung, Sprache und Arbeit auseinander. Die Verbände fordern innerhalb dieses Diskurses vor allem die Förderung des individuellen Kompetenzerwerbs in Form von Integrationskursen, Bildungseinrichtungen etc. Das Thema ›Ausgrenzung, Rassismus oder Diskriminierung‹ findet sich in 14 Prozent der Forderungen und Kommentare. Zu acht Prozent werden Äußerungen zur »Aufnahme der Türkei in die Europäische Union« zitiert. Alle anderen Themenbereiche wurden unter der Kategorie ›Sonstiges‹ zusammengefasst. Resümierend lässt sich feststellen, dass die drei häufigsten thematischen Felder an denen die Verbände in den deutschen Medien partizipieren – Integration, Staatsbürgerschaft und Islam – grundsätzlich auf die Bearbeitung und Reflexion kultureller Grenzziehung zielen. Jede Grenzziehung fordert zumindest indirekt zur Anerkennung ihres Verlaufs auf und übt somit einen subtilen Zwang aus. Abschließend soll der Frage eingehender nachgegangen werden, welche Grenzkonstruktionen und Vorstellungen von Kulturzwängen in den jeweiligen Rahmungen enthalten sind.

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1. Integration: In den Jahren vor der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes durch die neue Rot-Grüne Bundesregierung galten die ehemaligen Gastarbeiter symbolisch als ›Gäste‹. Sie waren Migranten im wörtlichen Sinne, d.h. sie waren »Wandernde«, die – nach der Definition von Georg Simmel –, »heute kommen und morgen wieder gehen«13. Zu ›Anderen‹, d.h. zu »Fremden«, die »heute kommen« und »morgen bleiben« und die deshalb das Recht auf Integrationsprogramme hätten, wurden sie erst nach der Reform. Integrationsforderungen, wie Sprachkurse und Bildungsprogramme, wurden vor der Reform des Gesetzes gar nicht erst in den Medien diskutiert. Eine öffentliche Integrationspolitik, in der diese Fragen kontrovers hätten aufgenommen werden können, existierte vor 1998 nicht. Stattdessen regelte die Ausländerpolitik den Diskurs. Erst mit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 begann eine Periode, in der die Idee von Integrationspolitik den Diskurs prägte. So bat beispielsweise die taz den damaligen Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde, Hakki Keskin, seine Erwartungen zusammenzufassen: Dort heißt es: »Die Kohl-Ära, welche ausländerpolitisch Abwehr und Absonderung betrieb, ist endlich vorbei […]. Die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung und Gleichbehandlung der Migrantenbevölkerung stellt ein unverzichtbares Gebot des demokratischen Rechtsstaates dar. Gleichstellung und Gleichbehandlung setzen Integration voraus.«14 Der Regierungswechsel markiert in dieser Stellungnahme den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Nun scheint eine Integrationspolitik denkbar, in der es nicht mehr um die Abwehr, sondern auch um die Einbeziehung von Einwanderern gehen soll. Umfassende demokratische Grundrechte, »die Gleichstellung und Gleichbehandlung der Migrantenbevölkerung«, können nunmehr proklamiert werden. So ruft der Verband das Motto aus: »Schulsprache Deutsch, Muttersprache Türkisch«. Die »türkische Sprache und Kultur« soll an deutschen Schulen zu einem Regelfach werden. Zudem sei Bilingualität nicht als Desintegration, sondern als »ein Reichtum, den wir unbedingt fördern sollten« zu bewerten.15 Im Integrationsdiskurs der Verbände wird eine Förderung der doppelten Kompetenz der Einwanderer, deren Kinder und Kindeskinder gefordert. Die kulturelle Grenzziehung wird in diesen neuen Integrationsforderungen vom ›Ausländer‹ zum ›Einwanderer‹ verschoben. Der ›Ausländer‹ symbolisiert eine kollektive Negativbestimmung, der ›Einwanderer‹ symbolisiert eine individualisierte Positivbestimmung. Die Kompetenzen des ›Ausländers‹ sind defizitär, die des ›Einwanderers‹ sind verdoppelt. Die kulturelle Verdoppelung von Kompetenzen wie beispielsweise 13 Simmel, Georg: Soziologie, Frankfurt a.M. 1992 [1908], S. 764. 14 taz (14.10.1998). 15 Ebd. 87

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Bilingualität umgeht den assimilativen Kulturzwang der Ankunftsgesellschaft, indem es ›Kultur‹ als eine individuell erwerbbare und akkumulierbare ›Kompetenz‹ definiert. Eine solche Umdeutung von kulturellen Zwängen ähnelt dem aktuellen Konzept des Kosmopolitismus.16 Anders als der ›Ausländer‹ oder der ›Einwanderer‹ zeichnet sich die Figur des ›Kosmopoliten‹ dadurch aus, dass sie kulturelle Differenz konsumiert und nicht assimiliert. Kulturelle Differenz stellt für Kosmopoliten keine aufgezwungene Zumutung, sondern eine Gelegenheit zur Unterhaltung dar. 2. Staatsbürgerschaft: Die Unterscheidung in ›Ausländer‹ und ›Einwanderer‹ ist in der 150-jährigen Geschichte der deutschen Staatsbürgerschaft von Beginn an indirekt angelegt. Bereits in den Debatten der Paulskirche seit dem Jahre 1848 unterscheiden sich die jeweiligen Positionen in zwei ähnliche sich unvereinbar gegenüberstehende Lager. Die einen definierten die Staatsbürgerschaft anhand von kulturellen Vorstellungen, das andere Lage favorisierte soziale Kriterien zur Bestimmung von Zugehörigkeit.17 Die soziale Staatsbürgerschaft wird durch Leistungen, wie Steuerzahlungen, Wehrdienst etc. erworben, die kulturelle Staatsbürgerschaft wird vererbt. Bisweilen wird diese Unterscheidung auch mit den missverständlichen Termini ius soli und ius sanguinis erfasst.18 Die Forderung der Verbände nach einem sozialen Staatsbürgerschaftsrecht, das auf Integration zielt, wurde anlässlich der Gründungsversammlung der Türkischen Gemeinde bereits im Jahre 1995 in den deutschen Medien ausführlich zitiert: »Keskin nannte den immer noch diskriminierenden Status der Türken in Deutschland inakzeptabel und inhuman und eine Gefahr für den sozialen Frieden. Die Türkische Gemeinde in Deutschland trete für die rechtliche Gleichstellung und gleiche Behandlung der Türken ein, die bereits in der dritten

16 Hannerz, Ulf: »Cosmopolitans and Locals in World Culture«. In: Global Culture. Nationalism, globalization and modernity, hg. v. Mike Featherstone, London 1990, S. 237-251; Vertovec, Steven: »Fostering Cosmopolitanisms: A Conceptual Survey and A Media Experiment in Berlin«. In: WPTC-2K-05 (2005), Working-Paper Oxford University, Institute of Social and Cultural Anthropology. 17 Vgl. Gosewinkel, Dieter: »›Unerwünschte Elemente‹ – Einwanderung und Einbürgerung der Juden in Deutschland 1848-1933«. In: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 27 (1998), S. 71-106. 18 Giesen, Bernhard/Junge, Kay: Vom Patriotismus zum Nationalismus zur Evolution der ›Deutschen Kulturnation‹; Brubaker, Rogers: Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich, Hamburg 1994. 88

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Generation in Deutschland lebten, aber sich hier immer noch nicht zu Hause fühlen dürfen. Haupthindernis einer Einbürgerung der Türken sei es, dass die deutsche Politik eine doppelte Staatsbürgerschaft nur in Ausnahmefällen toleriere.«19

Mit der Umstellung von der kulturellen auf eine soziale Staatsbürgerschaft im Jahre 1998 sah es anfänglich sogar danach aus, als ob sämtliche Forderungen der Verbände – auch die der doppelten Staatsbürgerschaft – erfüllt werden sollten. Doch die doppelte Staatsbürgerschaft scheiterte. Die konservative Opposition (CDU) initiierte im Jahre 1999 eine öffentliche Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.20 Etabliert wurde der Catchframe »Doppel-Pass«, der nicht mehr doppelte Kompetenz bedeutete, sondern, aus dem Fußballsport stammend, eine trickreiche Überwindung des Gegners suggerierte. Die Stellungnahmen der Verbände zur Unterschriftenkampagne waren harsch.21 In einem offenen Brief fordern sie die CDU dazu auf, die Kampagne sofort abzubrechen.22 Der Türkische Bund konstatierte, dass sich weniger »in rassistischen Äußerungen«, als in solchen Kampagnen »die großen Ressentiments in der Bevölkerung gegenüber Nichtdeutschen« offenbarten.23 Gleichwohl blieb es dabei. Die doppelte Staatsbürgerschaft für Nicht-EU-Bürger wurde nicht eingeführt. Stattdessen einigten sich die Parteien auf ein Optionsmodell, nach dem sich die Kinder der Einwanderer im volljährigen Alter für eine der Staatsbürgerschaften entscheiden müssen. Vergleichend betrachtet, fand die Verdoppelung der individuellen Kompetenzen des Integrationsdiskurses keine Entsprechung auf der Ebene der Staatsbürgerschaft. Die Einhegung von kulturellen Zwängen durch die Verdoppelung der beteiligten ›Kultur‹ ließ sich nur auf der individuellen Ebene erfolgreich im Diskurs realisieren. Die kollektiven Zugehörigkeiten, wie die der Staatsbürgerschaft, sind zwar praktisch verdoppelbar.24 Gleichwohl hat eine kollektive Verdoppelung ein

19 SZ (04.12.1995). 20 Faist, Thomas: »Doppelte Staatsbürgerschaft als überlappende Mitgliedschaft«. Politische Vierteljahresschrift 42/2 (2001), S. 247-264; Vonderau, Astrid: Integration als absolute Bedingung. Diskursive Ausgrenzungsmechanismen am Beispiel der Zeitungsdebatte über die doppelte Staatsbürgerschaft. 21 DIE WELT (13.03.1999); SZ (16.04.1999). 22 taz (19.01.1999). 23 taz (12.02.1999). 24 Faist, Thomas: Doppelte Staatsbürgerschaft als überlappende Mitgliedschaft. 89

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höheres öffentliches Irritationspotential. Bilingualität gilt als kultureller Reichtum, Bi-Staatlichkeit als kulturelle Illoyalität. Der Staatsbürgerschaftsdiskurs changiert also zwischen verdoppelten Zugehörigkeiten und dem Zwang zur Entscheidung – zur Option – für die eine oder für die andere Kultur. 3. Islam: Kein Symbol scheint in der Bundesrepublik stärker die ›Fremdheit‹ der Einwanderer zu repräsentieren als der muslimische Glaube und das Kopftuch. Im Gegensatz dazu scheint gemäß den Forderungen der Verbände nichts so uneindeutig zu sein, wie der Fremdheitsstatus des Islam in der Bundesrepublik. Stattdessen findet sich eine Gemengelage polarer, inkommensurabler Positionen. Die Schnittstelle zwischen den beiden Positionen verläuft nicht zwischen den ›autochthonen Einheimischen‹ und den ›allochthonen Fremden‹, sondern mitten durch die beiden Gruppen hindurch. Um hier nur wenige Beispiele zu bemühen: Aus Anlass einer Gesetzesverabschiedung zum Kopftuchverbot für Lehrer im Land Niedersachsen kam es zu einer öffentlichen Anhörung: »Die evangelischen Kirchen, die liberalen Juden und die Türkische Gemeinde« befürworteten ein solches »Verbot«, während die »katholische Kirche, die orthodoxen Juden und der Zentralrat der Muslime« sich dagegen aussprachen.25 Und in der FAZ heißt es zu diesem Thema: »In dankenswerter Klarheit […] stellt die Türkische Gemeinde klar, daß jene, die das Kopftuch auch ›amtlicherseits‹ tragen wollen, nicht ›den‹ Islam repräsentieren […]: ›Dies ist ein Versuch zahlenmäßig kleiner, radikaler Gruppen innerhalb der islamischen Bevölkerung, die Religion für ihre politischideologische Gesinnung zu instrumentalisieren. Ihr Endziel ist ein Staat nach dem Gesetz der Scharia. Dies sollte jedem klar sein.‹«26

In einer anderen Debatte, dem Streit um den islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, werfen die Verbände der Bundesregierung vor, aus »falsch verstandener Toleranz zur Salonfähigkeit von Extremisten beigetragen zu haben«27. Die Verbände fordern stattdessen einen »nicht-bekennenden, religionskundlichen Unterricht an staatlichen Schulen«28, ein Anspruch, der bisher an den Strukturen der Mehrheitsgesellschaft scheiterte. Die ›fremden‹ Einwandererverbände rahmen damit diverse muslimische Vereine als ›fremder‹, als einige politische Repräsentanten der Aufnahmegesellschaft. 25 26 27 28

taz (27.02.2004). FAZ (20.01.2004). taz (29.08.2003). Ebd. 90

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Allgemein betrachtet, setzt der Islamdiskurs eine kulturelle Grenze zwischen den Verfechtern von säkular-laizistischen Werten einerseits und den Anhängern religiös-fundamentaleren Werten andererseits. Damit über- und unterschreitet der Diskurs die Grenzen von sich ethnischnational definierten Gruppen. Die Verbände reagieren nicht auf einen Kulturzwang der Mehrheit, sondern verorten sich im säkularen Lager. Die säkulare Kultur ist grenzüberschreitend gültig. Als das kulturell Andere gelten die religiös-fundamentalen Gruppierungen jedweder religiösen Richtung. Nicht Religion oder Nation bildet das Unterscheidungsmerkmal für die kulturelle Grenzziehung, sondern Fundamentalismus und Laizismus. Nicht die ethnisch-religiöse Grenze, sondern die Intensität oder Pluralität von Glaubenspositionen wird wechselseitig als Kulturzwang gedeutet. Potentieller Zwang wird weder nur der ›Mehrheit‹, noch der ›Minderheit‹, sondern sowohl der ›Mehrheit‹ als auch der ›Minderheit‹ zugerechnet. Entscheidend ist im Islamdiskurs die Grenze zwischen Laizismus und religiöser Orthodoxie, nicht die Grenze zwischen ›eigenen‹ und ›fremden‹ Kulturen.29 Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen drei Diskursen ableiten? Zunächst gilt es zu betonen, dass die Unterscheidung in das Eigene und das Fremde und die jeweils zugrunde gelegten identitären Kriterien der drei Diskurse variieren. Das Bild einer homogen definierten Unterscheidung bestätigt sich nicht. Vielmehr überlappen sich die jeweiligen Positionen. Die Zurechnungen von kulturellen Zwangsausübungen verteilen sich je nach thematischem Schwerpunkt auf unterschiedliche Gruppen. Subjektpositionen stehen sich nicht gegenüber, sondern sind miteinander ›vernäht‹. Dies bedeutet nicht, dass sich kulturelle Zwänge im heterogenen Spiel der Identitäten verflüchtigen. Sie sind lediglich thematisch differenzierter adressiert, als es das Denken in ethnischen oder nationalen Identitäten nahe legt. Im Integrationsdiskurs wird den Einwanderern die individuelle Fähigkeit zugerechnet, sowohl den Anforderungen der Herkunftskultur, als auch denen der Ankunftskultur gerecht zur werden. ›Integration‹ bedeutet im Rahmen der türkischen und deutschen Öffentlichkeit die ›Erwerbung von Kompetenzen‹. Der Migrationspolitik wird die Aufgabe überantwortet, kulturell homogenisierenden Zwangsformen die Förderung doppelter Kompetenzen entgegenzustellen. Bilinguale Schulen und Ausbildungsprogramme bilden eine zentrale Position der jeweiligen Forderungen. Das ›Klagelied‹ der multikulturellen Toleranz verwandelt sich

29 Diese Transgression von identitätspolitischen Lagern wurde in migrationspolitischen Forschungsprojekten bisher zu wenig beachtet. 91

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in einen ›Lobgesang‹ auf die bikulturelle Kompetenz. Kulturelle Differenz wird nicht mehr ›toleriert‹, sondern ›dupliziert‹. Im Staatsbürgerschaftsdiskurs sind die Positionen umstrittener. Die konservativen Stimmen betonen die exklusive Zugehörigkeit zu einer Nation. Die sozialdemokratischen Stimmen und die Verbände plädieren hingegen für eine Duplikation der Zugehörigkeit, ähnlich dem Modell der bi-kulturellen Kompetenz. Die politischen Haltungen präferieren in diesem Kontext weniger die kulturellen Eigenheiten, als die jeweilige Weltsicht auf eine national differenzierte Gesellschaft einerseits und eine global universalisierte Weltgesellschaft andererseits. Das Optionsmodell versucht einen Kompromiss zu schließen, indem es zwischen dem Wunsch nach nationalkultureller Einmaligkeit und den globalen Anforderungen zur bi-kulturellen Kompetenz nur scheinbar vermittelt. Es überführt den homogenisierenden Kulturzwang der klassischen Nationalstaatsbildung in ein Entscheidungsmodell. Der Islamdiskurs ist demgegenüber ausschließlich nach dem Entweder-oder-Prinzip organisiert. Die Vorstellung von kultureller Duplikation findet sich hier nicht. Entweder jemand ist gläubig oder ungläubig, christlich oder muslimisch, fundamentalistisch oder laizistisch. Fragen des Glaubens und der Werthaltungen gelten nicht als addierbar, sie schließen sich im Sinne eines Entweder-oder vollständig aus. Insgesamt finden sich also drei Modi der kulturellen Grenzziehung: Erstens die kulturell duplizierbare Grenze im Integrationsdiskurs, zweitens die auf Zwang zur Entscheidung gründende Grenze im Staatsbürgerdiskurs und drittens die laizistisch-fundamentale Grenze im Islamdiskurs. Damit folgen die migrationspolitischen Forderungen der türkischen Dachverbände weder der Logik einer nationalen Homogenisierung, noch der Logik einer multikulturellen Differenz. Nicht Identität versus Differenz bestimmen die kulturellen Verortungen, sondern duplizierbare, entscheidungspflichtige oder verworfene Kriterien der Grenzziehungen. In einem Einwanderungsland erweisen sich die kulturellen Grenzen zwischen Her- und Ankunftsnation von geringer Bedeutung als gemeinhin angenommen wird. Viel entscheidender sind die Nahtstellen und Überschneidungen von Zugehörigkeiten.

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Literatur Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 1988. Bade, Klaus J.: »Einheimische Ausländer: ›Gastarbeiter‹ – Dauergäste – Einwanderer«. In: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland: Migration in Geschichte und Gegenwart, hg. v. ders., München 1992, S. 393-401. Brubaker, Rogers: Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich, Hamburg 1994. Faist, Thomas: »Doppelte Staatsbürgerschaft als überlappende Mitgliedschaft«. In: Politische Vierteljahresschrift 42/2 (2001), S. 247-264. Giesen, Bernhard/Junge, Kay: »Vom Patriotismus zum Nationalismus zur Evolution der ›Deutschen Kulturnation‹«. In: Nationale und kulturelle Identität, hg. v. Bernhard Giesen, Frankfurt a.M. 1991, S. 255-303. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Chicago 1967. Gosewinkel, Dieter: »›Unerwünschte Elemente‹ – Einwanderung und Einbürgerung der Juden in Deutschland 1848-1933«. In: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 27 (1998), S. 71-106. Hackenbroch, Rolf: Verbände und Massenmedien. Öffentlichkeitsarbeit und ihre Resonanz in den Medien, Wiesbaden 1998. Hannerz, Ulf: »Cosmopolitans and Locals in World Culture«. In: Global Culture. Nationalism, globalization and modernity, hg. v. Mike Featherstone, London 1990, S. 237-251. Herbert, Ulrich: Geschichte der Gastarbeiter in der BRD, München 2001. Kaschuba, Wolfgang: »Kulturalismus: Kultur statt Gesellschaft?«. In: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 80-95. Koopmans, Ruud/Statham, Paul: »Political Claims Analysis: Integrating Protest Event and Political Discourse Approaches«. In: Mobilization: An International Journal 4/1 (1999), S. 40-51. Mouffe, Chantal: »Demokratische Staatsbürgerschaft und politische Gemeinschaft«. In: Episteme, Online-Magazin für eine Philosophie der Praxis (1993), http://www.episteme.de/-download/Mouffe.rtf, 01.01. 2009. Parsons, Talcott: Das System moderner Gesellschaften, Weinheim 1996. Rauer, Valentin/Schmidtke, Oliver: »›Integration‹ als Exklusion? Zum medialen und alltagspraktischen Umgang mit einem umstrittenen Konzept«. In: Berliner Journal für Soziologie 11/3 (2001), S. 277296.

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Rauer, Valentin: Die öffentliche Dimension der Integration. Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland, Bielefeld 2008. Simmel, Georg: Soziologie, Frankfurt a.M. 1992 [1908]. Sökefeld, Martin: »Das Paradigma kultureller Differenz«. In: Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz, hg. v. ders., Bielefeld 2004, S. 933. Vertovec, Steven: »Fostering Cosmopolitanisms: A Conceptual Survey and A Media Experiment in Berlin«. In: WPTC-2K-05 (2005), Working-Paper Oxford University, Institute of Social and Cultural Anthropology. Vonderau, Astrid: »Integration als absolute Bedingung. Diskursive Ausgrenzungsmechanismen am Beispiel der Zeitungsdebatte über die doppelte Staatsbürgerschaft«. In: Zuwanderung und Integration, hg. v. Christoph Köck et al., Münster 2004, S. 97-106. Vowe, Gerhard: »Das Spannungsfeld von Verbänden und Medien: Mehr als öffentlicher Druck und politischer Einfluss«. In: Interessenverbände in Deutschland, hg. v. Thomas von Winter/Ulrich Willems, Wiesbaden 2007, S. 465-448. Wengeler, Martin: »Zur historischen Kontinuität von Argumentationsmustern im Migrationsdiskurs«. In: Massenmedien, Migration und Integration, hg. v. Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun, Wiesbaden 2006, S. 13-36.

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ZUR SOZIOGENESE EINER KULTURALISIERTEN EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT JÖRG HÜTTERMANN Prolog Die Geobotanik ist ein Teilgebiet der Botanik. In ihren u.a. durch die Pionierleistungen Alexander von Humboldts gesetzten Anfängen erforscht sie das Einwirken von Boden- und Klimabedingungen auf die Verbreitung und die Artenzusammensetzung der Vegetation.1 Kulturdeterministische Diskurse (vor allem) des 19. Jahrhunderts wenden die Perspektive der frühen Geobotanik an, um soziale Zusammenhänge zu analysieren. Statt von geographischen Bedingungen auszugehen, setzen sie bei vermeintlich ehernen Kulturlandschaften oder historisch-geographisch gewachsenen Kulturkreisen an, um daraus Mentalitäten, menschliches Verhalten und sogar soziale Entwicklungen abzuleiten. Die geobotanische Gesellschaftsauffassung erlebt zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen erneuten Aufschwung. Dieser Aufschwung könnte unsere Gesellschaft grundlegend verändern, denn er trägt zur Kulturalisierung der deutschen Einwanderungsgesellschaft, ihrer Menschen und Konflikte, bei.

1. Einleitung Die deutsche Einwanderungsgesellschaft begibt sich nach dem Ende der Gastarbeiterzuwanderung in einen Rangordnungskonflikt zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern. Schon die Tatsache, dass man die Zuwanderer zunächst als Gastarbeiter, heute aber vor allem als Muslime betrachtet,2 deutet an, dass dieser Rangordnungskonflikt gegenwärtig eine Kulturalisierung erfährt. 1 2

Vgl. Pott, Richard: Allgemeine Geobotanik, Berlin 2005, S. 6. Vor der Gastarbeiterzuwanderung in der Nachkriegszeit hat es ähnliche Rangordnungskonflikte z. B. auch zwischen Alteingesessenen und Vertriebenen bzw. Kriegsflüchtlingen gegeben (vgl. Hüttermann, Jörg/ Mewes, Alexander: Zuwanderung, Figuration und Konflikt: Figurative 95

JÖRG HÜTTERMANN

Indem der Autor die Entwicklung der deutschen Einwanderungsgesellschaft von der Gastarbeiterzuwanderung bis heute mit Hilfe einer figurativen Konfliktanalyse rekonstruiert, zeigt er, dass die Kulturalisierung des Rangordnungskonflikts durch den aktuell zu beobachtenden Wiederaufschwung des geobotanischen Menschen- und Gesellschaftsdiskurses mitgetragen wird. Seine Figurationsanalyse möchte zugleich dazu beitragen, die sozialen Ursachen für die gegenwärtige Wiederbelebung der geobotanischen Kultur- und Gesellschaftsdiskurse herauszuarbeiten. Deren Wiederaufschwung verdankt sich, so die Hypothese, einem eskalierenden Rangordnungskonflikt zwischen Alt- und Neueingesessenen, dessen soziale Natur er zugleich verschüttet. Die Argumentation wird in sechs Schritten entfaltet: Der nächstfolgende Abschnitt befasst sich in aller gebotenen Kürze mit einigen Autoren und Kritikern des geobotanischen Menschen- und Kulturbildes (Kapitel 2). In den folgenden vier Kapiteln werden die jeweils charakteristischen Figurationen von vier Sequenzen der deutschen Einwanderungsgesellschaft erläutert (vgl. Schema 1): Dies sind die Figurationen »Platzanweiser und Gäste« (Kapitel 3), »verunsicherte Platzanweiser und periphere Fremde« (Kapitel 4), »partiell entmachtete Platzanweiser und avancierende Fremde« (Kapitel 5) und schließlich die Figuration »abendländische und muslimische Kultursubjekte« (Kapitel 6). Die Rekonstruktion des Figurationswandels in den Kapitel zwei bis sechs macht den Wandel der Machtbalance zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern von den 1960er Jahren bis heute greifbar. Jede Figuration steht für eine je bestimmte Rangordnungsbeziehung zwischen Mehrheit und Minderheit. Jede Figuration ist schließlich auch durch je besondere Interaktionsrollen im Verhältnis von Einwanderern, Mittlern und Alteingesessenen charakterisiert (vgl. Schema 1 auf der folgenden Seite).

Konfliktanalyse kleiner Stadtgesellschaften mit hohem Aussiedleranteil, Weinheim/München (erscheint 2009). 96

ZUR SOZIOGENESE EINER KULTURALISIERTEN EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT

Schema 1: Idealtypische Figurationen der deutschen Einwanderungsgesellschaft PARADIGMATISCHE INTERAKTIONSROLLEN Zuwanderer Mittler Repräsentanten Figuration 1: Selbstverständliche Hierarchie seit 1955 Alteingesessene

Platzanweiser

Dolmetscher

der periphere Fremde

(als Gast) Figuration 2: Fragwürdige Hierarchie in den 1970er und 1980er Jahren verunsicherte Platzanweiser

Anwälte

partiell entmachtete Platzanweiser

a) Paternalisten

christlichabendländisch säkularisiertes Kultursubjekt

a) Kronzeugen

Der periphere Fremde

(als Arbeiter und Klient) Figuration 3: Veränderung der Machtbalance in den 1990ern Avancierende Fremde

(als Neubürger) b) Protestierende bzw. Kläger ----------------------------------Figuration 4a: Kulturalisierte Einwanderungsgesellschaft seit 2001

b) Dialogakteure

Muslimisches Kultursubjekt (als aufgeweckter oder noch verschlafener Sleeper)

Figuration 4b: Einwanderungsgesellschaft mit entwickelter politischer Kultur Someone

Someone

Someone

Geh- und denkfähige Alt- und Neu-Eingesessene, die ihre kulturellen Voraussetzungen kennen, jedoch nicht zu letzten, unteilbaren Werten überhöhen. Die vier Figurationen (insbesondere die sie charakterisierenden lebensweltlich sedimentierten Akteursrollen und Machtdifferenziale) werden unter Rekurs auf empirische Beobachtungen und Beispiele veranschaulicht. Der Gang durch die Sequenzen des Figurationswandels offenbart, wie und warum sich hierzulande ein Konflikt zwischen Alteingesessenen 97

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und Zuwanderern entwickelt hat, der sich zwar mehr und mehr an kulturellen (insbesondere islamischen) Symbolen entzündet und in kulturellen Semantiken artikuliert, aber dennoch kein Kulturkonflikt ist. Der Schwerpunkt der Figurationsanalyse liegt auf der vierten Sequenz bzw. der vierten Figuration; denn es ist weder einfach zu verstehen noch in der gebotenen Kürze eines Aufsatzes darzulegen, wie Akteure zur Kulturalisierung beitragen und in welcher Weise intendierte oder nichtintendierte Seiteneffekte ihres Handelns zusammengreifen, um diese Figuration in unserer Einwanderungsgesellschaft zu etablieren. Im letzten Argumentationsschritt werden schließlich einige nahe liegende Einwände gegen die Analyse antizipiert und diskutiert (vgl. Kapitel 7).

2. Das geobotanische Kultur- und M e n sc h e n b i l d Im ausgehenden 19. Jahrhundert definiert sich die Soziologie als eigenständige Wissenschaft, indem sie erstens einen ihr exklusiv zukommenden Erkenntnisgegenstand und zweitens eine eigene Perspektive bestimmt. Den Erkenntnisgegenstand brachte Durkheim auf den Begriff des »fait social«. Die Perspektive der Soziologie ist die des »faire social« beziehungsweise, die »Wechselwirkung«, von der Simmel sprach, oder eben, wie man heute sagt, die Interaktion. »Faire social« und »fait social«, Perspektive und Gegenstand bedingen sich wechselseitig. Der soziale Tatbestand ist, was er ist, weil er aus Aktionen und Interaktionen hervorgegangen ist und auf den Menschen – z. B. über die Prägekraft von Milieus vermittelt – mitunter zwingend zurückwirkt. Kultur ist ein solcher Tatbestand. Schon seit ihren Anfängen betrachtet Soziologie Kultur deshalb als ein Artefakt der sozialen Praxis. Kultur ist für sie keine eherne, zeitlos gültige außersoziale Macht, sondern eine soziale Größe. Das wiederum heißt, Kultur unterliegt grundsätzlich sozialem Wandel. Selbst tief verankerte sinnstiftende longue-durée-Strukturen der Religion werden dem Soziologen Max Weber zufolge durch kreative Aneignung und Deutung (insbesondere durch charismatische Akteure in Religion und Politik) verändert. Wie Weber betont,3 ist selbst ein über Jahrtausende bestehender Kulturtatbestand wie die Religion nicht dazu berufen, als monokausaler Erklärungsgrund für andere soziale

3

Vgl. Weber, Max: »Vorbemerkung«. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, S. 1. 98

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Tatbestände, wie etwa die moderne Rationalität, oder den modernen Kapitalismus zu dienen. Diesem Kulturverständnis zufolge ist der Mensch nicht mit einem unabänderlichen Kulturboden verwachsen. Er zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass er trotz aller historischen und kulturellen Voraussetzungen über sich und seine Umstände hinauszugehen vermag. Die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene philosophische Anthropologie Helmut Plessners sieht denn auch das Wesen des Menschen gerade darin bestimmt, dass dieser sich – anders als die Pflanze oder das Tier – über seine Milieugrenzen hinweg, exzentrisch positionieren kann, um auf seine kulturellen Voraussetzungen kreativ zurückzuwirken.4 Dieser Kultur- und Menschenbegriff erwächst in Deutschland aus dem geistigen und letztlich auch gewaltsamen Ringen mit einem historisch eingeschriebenen Verständnis, das Kultur metaphysisch überhöht. So ist das geistige Umfeld der deutschen Soziologie um das Jahr 1900 durch ein Denken geprägt, das Kultur als einem alles Weitere bestimmenden Wesenskern des Volkes versteht. Die Soziologie muss sich vor allem Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem Kultur- und Menschenbild emanzipieren, um sich als eigenständige Wissenschaft mit einem eigenständigen Erkenntnisgegenstand (eben die soziale Tatsache) zu etablieren. Stellvertretend für viele Gegner der werdenden Soziologie sei Oswald Spengler genannt, der die auf den Afrikaforscher Frobenius zurückgehende Kulturkreislehre zu einer metaphysischen Kulturmonadologie ausbaute. Dem geobotanischen Kulturverständnis zufolge werden Menschen wie Wesen gedacht, die – um es metaphorisch auszudrücken – weder Beine haben, auf denen sie sich fortbewegen noch intellektuelle und praktische Fähigkeiten, um vorgefundene Grenzen zu überschreiten. Im Lichte des geobotanischen Menschenbildes erscheint der Mensch bloß als auf ewig verwurzeltes Gewächs eines ehernen Kulturbodens. Dieser Mensch geht nicht, sondern er steht. Er lernt nicht, sondern er weiß oder fühlt, was seine Kultur ihm mitgegebenen hat. Er hat keine Biographie, denn auch sein Lebensweg ist kulturell vorgezeichnet. Dieser Pflanzenmensch ruht in seinem Stamm, und dieser Stamm wurzelt in einem, je besonderen Kulturboden. Durch ihre Wurzeln sind die Menschenarten und -rassen mit je besonderen Mutterböden, Vaterländern und Kulturkreisen verwachsen und zu homogenen Kulturvölkern gereift.

4

Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die Philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975 [1928], S. 291 f., 309 ff. 99

JÖRG HÜTTERMANN

Ansatzpunkte des geobotanischen Kultur- und Menschenbildes finden sich hierzulande etwa in der Reaktion Fichtes auf die im Zuge der Französischen Revolution erfolgten Judenemanzipation. Zwar billigt Fichte den Juden in einem noch zu schaffenden bürgerlich-demokratischen Deutschland grundsätzlich Menschenrechte zu, ihnen Bürgerrechte zu geben lehnte er mit Blick auf die mangelnde Kulturbodenhaftung der unabänderlich erscheinenden jüdischen Menschennatur ab: »Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken«5. Eine geobotanische Menschen- und Kulturauffassung liegt auch Herders Geschichtsphilosophie zugrunde. Etwa dort, wo Herder den Nexus von Staat, Nation und Mensch erläutert, kommt sie zur Sprache: »Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschengattungen und Nationen unter einen Szepter. Der Menschenszepter ist viel zu schwach und klein, dass so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man Staatsmaschine nennet, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander.«6

Auch mit Blick auf die Juden bringt Herders Geschichtsphilosophie das geobotanische Argument ins Spiel: »Die Juden sind ein Volk, dass in der Erziehung verdarb, weil es nie zur Reife einer politischen Cultur auf eigenen Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte«7. Das geobotanische Menschen- und Kulturbild liegt uns Deutschen weder im Blute noch im Boden. Es ist auch nicht die logische Konsequenz der deutschen Aufklärung, die weitaus mehr Facetten aufweist, als

5

6

7

Fichte, Johann Gottlieb: »Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution«. In: Schriften zur Revolution, hg. v. Bernard Willms, Köln/Opladen 1967 [1793], S. 176. Herder, Johann Gottfried von: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. In: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a.M. 1989, S. 369. Fisch, Jörg: »Zivilisation, Kultur«. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679-774. 100

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die obigen Zitate zum Ausdruck bringen können.8 Wie Elias9 zeigt, ist seine Karriere vielmehr der historischen Figuration eines politisch schwachen deutschen Bürgertums geschuldet. Dieses glaubte, seine Sehnsucht nach dem Nationalstaat nur gegen das Unkraut einer französierenden Aristokratie beziehungsweise gegen die vornehme Simulation des französischen Zivilisationsideals durch deutsche Landesherren und schließlich gegen das Vorbild der französischen Revolution und ihrer Ideale verwirklichen zu können. Daher bot es die Tiefe der deutschen Kultur gegen die vermeintliche Flachheit der französischen Zivilisation auf. Nachdem der Nationalsozialismus mit seiner rassistischen und antisemitischen Zuspitzung der geobotanischen Menschen- und Kulturauffassung an der militärischen und kulturellen Überlegenheit der westlichen Zivilisation gescheitert ist, ist das Denken in kulturellen Stammesund Wurzelkategorien hierzulande kleinlauter geworden. Erst Debatten im vereinigten neuen Deutschland geben dem geobotanischen Kulturverständnis wieder Auftrieb. In diesen Kontext gehören u.a. Diskussionen um die Frage, ob Zuwanderung von Flüchtlingen begrenzt werden soll, sowie die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, oder die Behauptung dass es hierzulande eine muslimische Parallelgesellschaft gebe, sowie das bewegende Thema des so genannten »Ehrenmordes« und schließlich die maßgeblich vom damals noch bedeutenden Unionspolitiker Friedrich Merz im Jahre 2000 angestoßene Kontroverse um eine ›deutsche Leitkultur‹. Hinzu kommen Diskurse, die den global-lokal-Nexus betreffen, das Thema des islamischen Terrorismus, die Frage, ob die Türkei in die europäische Union gehöre oder der weltumspannende Streit um die Mohammed-Karikaturen. Sie alle düngen und wässern, was längst verdörrt schien. So hat etwa der ehemalige Haushistoriker der Deutschen Bank, Manfred Pohl, jüngst ein Buch mit dem keineswegs ironisch gemeinten Titel Der Untergang des weißen Mannes10 veröffentlicht, in welchem er sich, das Kulturkreisdenken wieder aufnehmend, gegen den vermeintlich drohenden Siegeszug andersfarbiger Menschentypen und der modernen Frau 8

Bei Herder selbst finden sich Aussagen, die Kulturdifferenz eher graduell und nicht substanziell denken (vgl. Nübel, Birgit: »Zum Verhältnis von ›Kultur‹ und ›Nation‹ bei Rousseau und Herder«. In: Nationen und Kulturen, hg. v. Regine Otto, Würzburg 1996, S. 97-111, Fisch, Jörg: Zivilisation, Kultur, S. 679-774). 9 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1976. 10 Pohl, Manfred: Das Ende des Weißen Mannes: Eine Handlungsaufforderung, Berlin/Bonn 2007. 101

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wendet. Im Zuge solcher Debatten, die Pohl als Vorsitzender des einflussreichen »Konvents für Deutschland« vorantreibt – bei dem es sich um eine Art neokonservativem ›Think Tank‹ handelt – verändert sich hierzulande die Sicht auf Immigranten und ethnische Minderheiten. Während Zuwanderer sich noch in den 1960er und 1970er Jahren als Gastarbeiter (und politisch weitgehend unsichtbar) in die fordistische Arbeitswelt einfädelten, ohne dass die Öffentlichkeit daran Anstoß genommen hätte, verwandeln sie und ihre Nachfahren sich im Zuge der genannten Diskurse mehr und mehr in fremdkulturelle Wesen. Wie konnte es soweit kommen? Ist die aktuell zu beobachtende Aufspaltung der Einwanderungsgesellschaft in einerseits christlichabendländisch säkularisierte Kultursubjekte und andererseits muslimischokzidentale Kultursubjekte, nur die natürliche Konsequenz des u.a. bei Herder und Fichte anklingenden geobotanischen Zusammenhangs von Mensch und Kultur? Der vorliegende Artikel wendet sich gegen diesen Kurzschluss. Was manchem heute als Kulturkonflikt erscheint, ist nicht der Natur der Kultur, sondern der Natur des Sozialen geschuldet – die vermeintlichen Kulturkonflikte der deutschen Einwanderungsgesellschaft sind Rangordnungskonflikte. Die Analyse von Konflikten der deutschen Einwanderungsgesellschaft muss erst noch soziologisiert werden, um dies zu erkennen. Ein zielführender Weg ist die figurative Konfliktanalyse. Dabei handelt es sich um eine Analyse, die sich mal auf außeralltägliche und mal auf alltägliche Interaktionen und Diskurse konzentriert, die für die häufig konflikthaft verlaufende Veränderung sozialer Rangordnungen von konstitutiver Bedeutung sind.

3 . D i e F i g u r a ti o n der Platzanweiser und Gäste Zuwanderer wandern nicht einfach in eine Gesellschaft ein, sondern in eine normative soziale Ordnung (vgl. Schema 2 auf der folgenden Seite). Soweit es geht und soweit sie ihnen verständlich ist, unterwerfen sie sich dieser Ordnung. Die normative Ordnung einer Gesellschaft besteht aus formellen wie informellen Regeln, sie besteht aus Arbeits-, Hygiene-, und Straßenverkehrsnormen aber auch aus lebensweltlich sedimentierten Selbstverständlichkeiten des guten Benehmens, der Bekleidung oder des geselligen Auftretens. Die formellen Normen sind gesatzte, zum Teil verrechtlichte Regeln. Die informellen Normen sind im Wesentlichen, die des Gastrechts oder das, was man dafür hält.

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Schema 2: Paradigmatische Interaktionsrollen in der frühen Gastarbeitergesellschaft Platzanweiser

Dolmetscher

der periphere Fremde (als Gast)

Das Gastrecht ist eine interkulturelle Konstante und bestimmt das Verhältnis von Fremden und Eigenen seit Jahrtausenden. Bei allen kulturellen Besonderheiten wohnt dem Gastrecht eine hierarchisches Machtdifferenzial inne: Auf der einen Seite der platzanweisende Hausherr oder auch Patron und auf der anderen Seite der Fremde als Schutzbefohlener und Gast, der keine Ansprüche stellt, sondern das, was kommt, mit gebotener Dankbarkeit entgegennimmt. Die normative Ordnung der Zuwanderungsgesellschaft begegnet den Zuwanderern in der sozialen Figur des platzanweisenden Gastgebers oder eben kurz als Platzanweiser. Gleich ob als Vorarbeiter oder als Hausmeister, ob als Ausbilder oder als Lehrer, ob als Polizist oder als Schaffner, als Amtsperson oder Vermieter, als Verkäufer oder Nachbar, ob Kollege oder Freund – Alteingesessene weisen den Hinzugekommenen immer auch beiläufig den ihm zukommenden Platz und Rang zu. Wenn nötig, geschieht dies mit Händen und Füßen. Auf dem Arbeits- als auch auf dem Wohnungsmarkt im Wohnumfeld wie im Freizeitbereich nehmen die Zuwanderer randständige soziale Positionen ein. Nicht nur im Arbeitsleben sondern auch im öffentlichen Leben befinden sie sich im weitesten Sinne des Wortes unter Tage. Selbst im Unterhaltungsfernsehen jener Zeit weist dem Zuwanderer die randständige Rolle eines gutwilligen, aber doch tollpatschig-naiven Zeitgenossen zu, der die herrschende Hausordnung immer wieder missversteht und somit lustige Situationen anstößt (Heinz Eckhard und Rudi Carell). Sowohl den älter eingesessene Platzanweisern als auch den Hinzugekommenen sind die Grenzen zwischen oben und unten, zwischen Zentrum und Peripherie selbstverständlich. Weil sie so selbstverständlich sind, erscheinen sie allen Beteiligten als legitim. Die randständigen Plätze sind im Legitimationsprinzip des Gastrechts und des Gewohnheitsrechts verankert. Verstößt der randständige Fremde gegen die engere oder erweiterte Hausordnung der deutschen Gesellschaft, so wird er mit den Worten ermahnt: »Bei uns in Deutschland ...« Das folgende Interviewzitat aus einem Interview mit einem ehemaligen Duisburger Betriebsrat bringt die Asymmetrie mit drastischen Worten auf den Punkt:

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»Und ich sag Ihnen dat mal so: Ich mußte denen damals sogar Scheißen lernen. Wir hatten nen Hausmeister in den Häusern von Thyssen, da hat der Verwalter gesagt: ›Paßt mal auf. Hier wird dat so gemacht.‹ Nicht die Unterhose, aber die Hose [hat er] ausgezogen, hat sich hingesetzt und hat gesagt: ›So, jetzt macht mal da rein.‹ Dolmetscher war dabei. ›Und dann putzt man ab oder nicht – je nachdem.‹ Wir mußten denen wirklich beibringen, wie gekackt wird.«11

Die Erwartung, dass der Schutzbefohlene sich den Anweisungen fügt, harmonierte mit einer engagierten Anpassungsbereitschaft der Zuwanderer. Zur Veranschaulichung sei ein Zitat aus einem Interview mit einem Polizisten angeführt, das der Autor dieser Zeilen 1997 mit einem Polizisten führte, der als Sheriff von Bruckhausen in die Duisburger Stadtgeschichte einging: »Mit der ersten Generation hatte ich ein enges Vertrauensverhältnis. Die vertrauten mir ja. Da konnt' ich sagen: ›Mach das so und so!‹, ne, dann haben die das gemacht, ne. Und das hat beiderseitigen Nutzen. (...) Da ist mal ein ganz dummes Ding passiert. Da kommt einer und sagt: ›Die Nachbarn sagen mir, mein 17-jähriger Sohn [ist] nachts immer draußen. Ich habe ihm schon paar mal [Bescheid] gesagt, [aber] er hört einfach nicht‹. ... Und zuletzt sage ich, so mehr so zum Spaß: ›Wissen sie was, ich würd' mir von einem 17-jährigen nicht so auf der Nase herum tanzen lassen. Zum Notfall würde ich ihn an die Heizung ketten, ne. Er geht also weg, und am anderen Tag, ein Kollege von mir (...) guckt sich die Wohnung an und sieht, der Junge angekettet an der Heizung, hier eine Kette um den Hals und ein Schloss daran.‹«

Beide Zitate bringen, neben der selbstverständlichen lebensweltlichen Hierarchie auch zum Ausdruck, dass Sprachprobleme und entsprechende Missverständnisse mitunter die reibungslose soziale Reproduktion der Rangordnung von Platzanweisern und peripheren Fremden im Alltag stören konnten. Aus diesem Grunde ist die Dolmetscher-Rolle für die Figuration der Gastarbeitergesellschaft von zentraler Bedeutung. Zur Verständigung mit der aus der Türkei eingewanderten Minderheit werden vor allem solche Dolmetscher eingestellt, die unmittelbar vor und nach dem Putsch in der Türkei im Jahre 1980 eingewandert sind. Dabei handelt es sich meist um politisch Verfolgte, die häufig eine akademische Ausbildung vorzuweisen hatten, oder diese in Deutschland zum Abschluss bringen. Zwar werden diese ausgesuchten Migranten meist nicht formell als Dolmetscher eingestellt; da aber Verwaltungen, Parteien, Schulen, Wohnungsbaugesellschaften und 11 Auszug aus einem Interview mit einem ehemaligen Betriebsratsmitglied eines Thyssen-Betriebs. 104

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Wohlfahrtsorganisationen es zunehmend mit der neuen zugewanderten Klientel und entsprechenden Verständigungsproblemen zu tun bekommen, rutschen sie gewissermaßen in die Dolmetscher-Rolle. Für diejenigen die der sozialen Figur des Dolmetschers gerecht werden wollen, gibt es viel zu tun. Sie werden in eine zwischen Platzanweisern und Schutzbefohlenen gelagerte Transmissionsrolle integriert.12 Nicht nur im Arbeitsfeld, sondern auch auf dem Felde der Politik, der Schule, im Wohnbereich, im Gesundheitswesen tragen sie explizit oder auch nur beiläufig dazu bei, dass die als selbstverständlich und qua Selbstverständlichkeit legitim erscheinende Hierarchie zwischen Platzanweisern und randständigen Fremden erhalten bleibt.

4 . D i e F i g u r a ti o n d e r v e r u n s i c h e r te n P l a tz a n w e i s e r u n d K l i e n t e n Seit den 1970er Jahren verändert sich die Figuration zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern (Schema 3). Die Machtbalance verschiebt sich partiell zugunsten der Zuwanderer. Dies liegt zunächst einmal daran, dass die Gäste sich zunehmend auch als Arbeiter fühlen und entsprechende Klasseninteressen wahrnehmen, um sich schließlich in die dominante Figuration von Arbeit und Kapital einzufädeln. Es liegt aber auch daran, dass nach dem Dolmetscher eine neue soziale Figur an Bedeutung gewinnt, nämlich die des Anwalts. Schema 3: Fragwürdige Hierarchie in den 1970er und 1980er Jahren umstrittene Platzanweiser

Anwälte

der periphere Fremde (als Arbeiter und Klient)

Die soziale Figur des Anwalts umfasst mehr als der Begriff des Rechtsanwalts hergibt. Meist ohne juristische Qualifikation, fügt sich die soziale Figur, um die es hier geht, allmählich in eine neue Rolle, die die Einwanderungsgesellschaft gewissermaßen anbietet. Zuerst sporadische und dann kontinuierliche Parteinahme für Schutzbefohlene verwandelt viele Alteingesessene in informelle Advokaten der Sache der Minderheit. 12 Vgl. Jonker, Gerdien: »Problem der Kommunikation zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft – Analyse und praktische Beispiele«. In: Vom Dialog zur Kooperation. Die Integration von Muslimen in der Kommune. Dokumentation eines Fachgesprächs, hg. v. Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, Berlin/Bonn 2002, S. 9. 105

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Als von christlichen, humanistischen oder sozialistischen Solidaritätsidealen bewegte Gewerkschafter, Hausmeister, Vorarbeiter, Kumpel, Nachbarn, Ärzte, Mitarbeiter von Wohlfahrtsverbänden und als Genossen wachsen Alteingesessene in die meist informelle anwaltliche Rolle hinein. Sie verteidigen Zuwanderer gegenüber Ausbeutung und Übergriffen etwa von Arbeitgebern, Vermietern und Behördenvertretern. Die Anwälte, um die es hier geht, rekrutieren sich aus den Reihen der Platzanweiser. Als Platzanweiser mit Herz sind sie für die Humanisierung der Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern von größter Bedeutung. Die Anwaltsrolle impliziert, dass sie Zuwanderer primär als hilflose Opfer betrachten, die nicht für sich selbst sprechen können. Das ist angesichts der Verständigungsprobleme in der jungen deutschen Einwanderungsgesellschaft sowie angesichts der fortdauernden, sich aus dem Gastrecht herleitenden präventiven Fügsamkeit der Zuwanderer auch angemessen. Als eine der prägnantesten Verkörperungen der Anwaltsfigur im Bereich Journalismus kann der Investigativ-Journalist Hans-Günter Wallraff gelten. Er hat mit seinen intrinsischen Reportagen zu den Arbeitsbedingungen von Zuwanderern in Industrieunternehmen sehr öffentlichkeitswirksam auf die ungerechte Behandlung von Zuwanderern hingewiesen. Wallraff gab sich 1983 als türkischer Gastarbeiter namens Ali Sığırlıoğlu aus. Er arbeitete unter anderem bei einem Subunternehmer von Thyssen und legte seine Beobachtungen in dem Buch Ganz unten13 dar. Dort beschrieb er etwa die systematische Verletzung einfachster Arbeitsschutzregeln für Gastarbeiter.

5 . D i e F i g u r a ti o n g e sc h w ä c h te r P l a tz a n w e i se r und avancierender Fremder Für die Beantwortung der zentralen Fragen, warum und wie hierzulande aus Gastarbeitern muslimisch-okzidentale Kultursubjekte und aus älter eingesessenen Platzanweisern christlich-abendländisch säkularisierte Kultursubjekte werden konnten, ist die dritte Figuration der deutschen Einwanderungsgesellschaft von großer Bedeutung (vgl. Schema 4 auf der folgenden Seite).

13 Wallraff, Günter: Ganz unten, Köln 1985. 106

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Schema 4: Veränderung der Machtbalance in den 1990er Jahren partiell entmachtete Platzanweiser

a) Paternalisten b) Protestierende

Avancierende Fremde (als Neubürger)

In den 1990er Jahren ist die Herausbildung einer ganz neuen Figuration zu beobachten. Die Dolmetscher von einst haben mehr und mehr ausgedient, weil Immigranten einander zunehmend selbst einweisen und auf die herrschende Hausordnung (und ihre Lücken) einstimmen. Pioniere und Nachzügler sind jetzt in ständigem Austausch. Hinzu kommt, dass Migranten, wenn sie sich etwa im Behördendschungel oder aber als Klienten in der labyrinthischen Welt des Wohlfahrtsstaates bewegen wollen, im wachsenden Maße auf die eigenen bildungsinländischen Kinder zurückgreifen. Die Platzanweiser von einst werden mehr und mehr entmachtet, weil das lebensweltlich sedimentierte Gastrecht aber auch ihre Transmissionsriemen, die Dolmetscher, an Bedeutung verlieren. Aus den Gästen der Gastgeber, den Klienten der Anwälte und den Mündeln der Paternalisten werden Arbeiter, Mitbürger und schließlich gar Anspruchsbürger, die auf gleicher Augenhöhe agieren wollen. Diese avancierenden Fremden kennen ihre Rechte und wollen nicht länger in der Dankbarkeit des Gastes oder der Unsichtbarkeit des randständigen Fremden verharren. Gerade weil die Zuwanderer und ihre Nachfahren sich nicht länger in den randständigen Rollen und Räumen der Gesellschaft verharren, erscheinen sie den zunehmend entmachteten Platzanweisern fremder denn je. Der Grund dafür liegt darin, dass sie die lebensweltlich sedimentierten Statusgrenzen überschreiten und zerbrechen und so den Platzanweisern in neuer, irritierender, beängstigender Unmittelbarkeit begegnen. Dieser avancierende Fremde ist nicht der Fremde von dem einst Simmel sagte, dass er »heute kommt und morgen bleibt«14, sondern er ist derjenige, der vorgestern kam, gestern blieb und heute die ihm zugedachten Außenseiterrollen sowie die den Platzanweisern lieb und teuer gewordenen Rangordnungsgrenzen in Frage stellt. Er tut dies, indem er die lebensweltlich sedimentierten Rangordnungsgrenzen überschreitet. Und weil er diese Grenzen überschreitet, die gerade älter eingesessene Akteure gerne erhalten wollen, kommt es alltäglich zu mal sporadischen und mal verfestigten befremdenden Rangordnungskonflikten. Um diesen Zusammenhang aufzuhellen gilt es die drei folgenden Fragen zu beantworten: 1. Welche Rangordnungsgrenzen überschreitet

14 Simmel, Georg: Soziologie, Frankfurt a.M. 1992 [1908], S. 764. 107

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der avancierende Fremde? 2. Wie überschreitet er diese Grenzen? Und 3. Was haben Grenzübertritte mit Rangordnungskonflikten zu tun?

5.1 Die Herausbildung von Rangordnungsgrenzen durch Ausweichverhalten Auf verschiedenen Interaktionfeldern der Stadtgesellschaft werden lokale Gruppenfigurationen und Gruppengrenzen gewissermaßen alltäglich stabilisiert. Dies geschieht u.a. durch machtbezogenes und zugleich hierarchiewirksames Ausweichverhalten.15 Das Ausweichverhalten, um das es hier geht, ist nur selten explizit reflexiv gesteuert, sondern zumeist bloß beiläufig in die Routinen des städtischen Alltagshandelns, des Arbeitslebens oder des Freizeitverhaltens eingebettet. So kann Ego Macht zum einen symbolisch (und damit zugleich auch materiell) reproduzieren, indem es Alter Ego mittels seiner raumgreifenden Inszenierung von Statussymbolen, Lebensstilen oder – im weitesten Sinne des Wortes – seines sozialen Überholprestiges dazu zwingt, ihm auszuweichen, Platz zu machen oder Raum zu geben. Zum anderen kann Ego seine überlegene Macht aber auch dadurch ins soziale Spiel bringen, dass es anderen, die ihm darin nicht zu folgen vermögen, seine Fähigkeit vor Augen hält, sich unerwünschten Räumen (bzw. den mit ihnen assoziierten unangenehmen Begegnungssituationen) zu entziehen und sich anderen, ihm privilegiert zukommenden Räumen zuzuwenden (z. B. Rotary-Club, exklusive Geschäfte und Freizeitveranstaltungen etc.). Nun ist offensichtlich, dass machtvolles und hierarchiewirksames Ausweichverhalten keineswegs per se soziale Konflikte hervorbringt. Wenn soziales Ausweichverhalten bloß stabile Hierarchien bestätigt, dann sind Konflikte unwahrscheinlich, weil einerseits machtstarke Akteure kein Interesse an der Veränderung ihrer Dominanz haben und andererseits machtschwache Gruppen sich keine Chance zur Veränderung der 15 Ausweichverhalten ist natürlich nicht die einzige Form hierarchiewirksamen sozialen Handelns. Auch Charisma (Weber) und Charme (vgl. Stölting, Erhard: »Charme: Soziologische Überlegungen zum Zusammenhang von Verzauberung und Öffentlichkeit«. In: Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania (Festschrift für Helene Harth zum 60. Geburtstag), hg. v. Anja Bandau/Andreas Gelz/Susanne Kleinert/Sabine Zangenfeind, Tübingen 2000, S. 387-402), Rationalitätsdiskurse (Foucault) und sogar die Kunst (Bourdieu) implizieren Hierarchiebildung. Die Reihe hierarchiewirksamer Handlungsformen und Felder ließe sich fortsetzen. 108

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Machtbalance ausrechnen. Erst die Veränderung von Machtbalancen und Figurationen oder deren Destabilisierung durch verändertes Ausweichverhalten birgt entsprechende Konfliktpotenziale.16

5.2 Wie der avancierende Fremde Rangordnungsgrenzen überschreitet Die Rangordnungen verändern sich, wenn der andere mir nicht mehr länger ausweicht, wie ich es ehedem noch selbstverständlich erwarten durfte, sondern sich mir entgegenstellt, Widerstand leistet oder gar seinerseits erwartet, dass ich ihm ausweiche (oder dass wir einander gleichzeitig ausweichen). Die Formen der Befolgung, Erzwingung oder Verweigerung von erwartetem Ausweichen sind vielfältig und mitunter sehr subtil: Gabriel de Tarde schrieb in seiner Soziologie der Nachahmung, dass die Französische Revolution schon in den Jahren vor 1789 begann, als nämlich das bürgerliche Publikum in Paris den stets zuerst in Versailles uraufgeführten Theaterstücken nicht mehr artig applaudieren wollte.17 Vor diesem Hintergrund betrachtet war der verweigerte Applaus nicht einfach ein verweigerter Applaus, sondern zugleich die körpersprachlich ausgedrückte Weigerung des aufstrebenden Bürgertums dem Adel die Bewegungsfreiheit zu lassen, die künstlerischen Trends zu setzen. Statt wie zuvor fügsam applaudierend auszuweichen, zog das avancierende Bürgertum eine neue Grenze des Widerstands gegen Privilegien, der herrschenden sozialen Gruppe. Hierarchiewirksame Veränderungen im Ausweichverhalten sozialer Gruppen können aber auch unmittelbar auf den Sozialraum bezogen sein. Als Beispiel sei eine Beobachtung aus dem Jahre 1997 herangezogen, die zeigt, wie Alteingesessene des Duisburger Stadtteils Marxloh die Tatsache empfinden, dass die ehemaligen Gastarbeiter nicht mehr nur in die berufsständischen Randbereiche der Gesellschaft ausweichen, sondern sich neuen Branchen zuwenden. »BM180397 Kebab Gegen Mittag bin ich einmal zufällig in einer bürgerlichen Kneipe an der Wiesenstraße, etwa 500m vom Schwelgern-Stadion entfernt gelandet. Vor der langen Theke hocken drei ältere Herren, alle um die 60, beim Pils. Ich bestellte 16 Vgl. Gaventa, John: Power and Powerlessness. Quiescence and Rebellion in an Appalachian Valley, Oxford 1980, S. 23; Horowitz, Donald L.: The deadly ethnic Riot, Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 525. 17 Tarde, Gabriel de: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2003, S. 223. 109

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mir eine Apfelschorle, woraufhin der Wirt erst mal in den Keller gehen muss, um Wasser zu holen. Thema ist der ein oder zwei Tage zurückliegende Tod eines Freundes. Jetzt würden wohl jede Menge Kränze gestiftet: Von der SPD, den Verwandten, von der Knappschaft etc. ›Da könnten so an die 20 Kränze gestiftet werden.‹ Es stellt sich nun heraus, dass der Tote eine Kneipe oder Gaststätte betrieben hatte, die jetzt wohl verkauft werden müsse. Man fragt sich, wer denn jetzt die Kneipe kaufe. Eine ›tüchtige schlanke Kellnerin‹ wird als Nachfolgerin ins Spiel gebracht. Und dann, mit deutlichem Abscheu: ›Oder ein Türke, die haben doch schon fast alle Geschäfte hier. Die machen dann wohl ein Kaffee daraus.‹ Ein anderer: ›Noch ein Kaffee? Et gibt doch schon vier oder fünf davon um die Ecke. Womit verdienen die wohl ihr Geld?‹ Daraufhin der andere wieder mit trockenem verschmitztem Unterton: ›Mit Kaffee!‹ Alle lachen. ›Ja die haben doch hier schon alle Imbissbuden mit ihrem, – Kebab? Oder wie heißt dat?‹ Der Thekennachbar bestätigend ›Kebab.‹ Der dritte: ›Und die Friseure! Die Friseure sind doch auch schon alle Türken!‹«

Ebenso bedeutend für die Veränderung von Machtbalancen sind auch vier andere Beispiele, die ich ebenfalls ethnographischen Feldforschungen entnehme, die ich zwischen 1996 und 1999 in Duisburg durchgeführt habe. Auch sie veranschaulichen den Nexus von Ausweichverhalten, Gruppenhierarchie und Konflikt. 1. Am 1. Mai 1997 gelingt es weder dem DGB noch der Duisburger Polizei einige türkische und kurdische Gruppen davon abzuhalten, von der vom DGB angemeldeten Demonstrationsroute abzuweichen und dann eine eigene Kundgebung unter eigenen Fahnen durchzuführen. Die zugewanderten Arbeitergruppen weichen dem Führungsanspruch der alteingesessenen Gewerkschaften erfolgreich aus. Sie machen sich für die ehemaligen Platzanweiser in irritierender Form sicht- und vernehmbar. 2. Alteingesessene Bevölkerungsgruppen wollen seit etwa Mitte der 1990er Jahre in Duisburg nicht länger von türkischen Taxifahrern transportiert werden. Daher bestellten sie bei der Taxi-Funkzentrale explizit deutschstämmige Taxifahrer. Nach einem am 28. Mai 1999 gesprochenen Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf musste diese diskriminierende Praxis schließlich aufgegeben werden. Die ehemaligen Platzanweiser können dem avancierenden Fremden, der seine Rechte kennt und durchsetzt, nun nicht länger in der gewohnten Form ausweichen. 3. In der Mitte der 1990er Jahre wird das Thema »Häuserkauf durch Türken« in Duisburg zu dem bewegenden Thema der lokalen Öffentlichkeit. Das Eigentümliche dieses Konfliktthemas ist, dass es vor allem den deutschen Teil der Stadtteilöffentlichkeit bewegt, während der türkische Pol von der (die Alteingesessenen) bewegenden Qualität dieses Themas

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kaum Kenntnis hat. Nicht allein die sich verändernden Besitzverhältnisse im Mietsektor und bei Eigentumswohnungen bringen die fortschreitende Umkehrung der überkommenen Rangordnung zum Ausdruck; vielmehr werden aus der Sicht der alteingesessenen Deutschen mittlerweile auch solche Gasthäuser und Geschäfte von den avancierenden Fremden übernommen, die ehedem gewissermaßen als Zitadellen respektive als Zentren des identitätsaffirmativen Raumes und als Denkmäler besserer Zeiten fungierten. Das eigene Zentrum wird aus der Sicht der alteingesessenen Deutschen damit zur Peripherie. Mit jedem »türkischen« Geschäft oder jedem »türkischen« Gasthaus, das seine eigenen Zeichen und Grenzmarkierungen setzt (z. B. in Form von zum Teil türkischen Werbetexten, Warenauslagen, Klientel etc.), sehen sich viele Alteingesessene gezwungen, zurückzuweichen und/oder auszuweichen. Anlässlich der nordrheinwestfälischen Kommunalwahlen gelingt es einem alteingesessenen Immobilienhändler schließlich die alte sozialdemokratische Hochburg Duisburg-Marxloh zu erobern. Sein zugkräftigstes Argument ist damals, dass er sich gegen den Immobilienerwerb von Türken einsetzen will. Da er aber diesbezüglich nichts bewirken kann, weicht er als CDU-Ratsherr später auf Sportpolitik aus. 4. Auch die Tatsache, dass Bewohner türkischer Herkunft seit den 1990er Jahren nicht mehr die ihnen lange Zeit zugeordneten randständigen Automarken und -typen, so genannte »Türkenkutschen«, sondern Mercedes und BMW favorisieren, und somit in Richtung auf statushöhere Marktsegmente avancieren, wird von Seiten Altreingesessener als Beleg für illegale Einkommen und kriminelle Machenschaften gewertet. Sie wollen, dass der avancierende Fremde auf das ihm gebührende randständige Marktreservat zurückweicht. Vergeblich bitten Bürger den Polizeipräsidenten Duisburgs dafür zu sorgen, dass alle südländisch aussehenden Fahrer teurer Autos angehalten und durchsucht und auf ihre wahrscheinliche Zugehörigkeit zur türkischen Mafia hin überprüft werden sollen. Doch die Polizei kann und will die partiell entmachteten Platzanweiser nicht wieder in die gewohnte Vormachtstellung zurückbringen, weil das moderne Polizeirecht dies nicht in der Form zulässt, die sich viele Alteingesessene wünschen.

5.3 Grenzüberschreitungen und gruppenbezogene Rangordnungskonflikte Akteure, die nicht ausweichen, wo man dies selbstverständlich erwartet, enttäuschen nicht einfach Erwartungen, sie durchbrechen mitunter sogar eine durch die Erwartung gesetzte Grenze. Wenn diese Grenze eine

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Rangordnungsgrenze ist, dann riskieren Akteure Rangordnungskonflikte. Rangordnungsgrenzen markieren immer explizite oder implizite Hierarchien. Für die Herausbildung von Rangordnungskonflikten sind etwa die legitim erscheinenden Erwartungen Alteingesessener von Belang, dass sie Zuwanderer, ohne Widerspruch zu ernten, über die informelle deutsche Hausordnung belehren dürfen oder dass sie auf dem Bürgersteig, im Supermarkt, im Wohlfahrtsstaat, im Gesundheitsbereich, im Wohnumfeld oder im politischen Raum Vorfahrt gegenüber Ausländern genießen. Alles in allem geht es um die eingelebte Unterstellung, dass das »angestammte« Überholprestige durch das fügsame Ausweichen des Gegenübers symbolisch ratifiziert wird. Wenn hierarchische Rangordnungsgrenzen zunehmend häufig in Frage gestellt, angegriffen oder nicht mehr, wie gewohnt, mit Verweis auf eindeutiger Übermacht entschieden werden können, dann entzünden sich Rangordnungskonflikte. Im letzten Beispiel wird anschaulich, dass viele kleine für sich genommen unbedeutende Rangordnungs- konflikte durch stigmatisierenden Schimpfklatsch respektive durch Verschwörungstheorien in gruppenbezogene Konflikte überführt werden. Wenn die an solchen Rangordnungskonflikten Beteiligten das Konfliktverhalten des jeweils anderen wechselseitig auf das Machtstreben der ihm zugerechneten Gruppe zurückführen, transformieren sich Konflikte in gruppenförmige Rangordnungskonflikte. Gruppenförmige Rangordnungskonflikte entfalten ihr Konfliktpotenzial erst durch eine deutliche Verschiebung von Machtdifferenzialen. Gerade der Übergang vertikaler Hierarchien zum Differenzial einer prekären Vormacht über erstarkende Fremde ist eine wichtige Bedingung für die Entzündung gruppenbasierter Rangordnungskonflikte. So beobachtet schon Tocqueville, dass sich die französische Revolution nicht in dem Moment entzündet, als die materielle und ideelle Situation des Volkes infolge einer Ernährungskrise auf dem Tiefstpunkt ist, sondern erst als diese sich schon deutlich verbessert hat. Die Konfliktforschung rezipiert diesen Zusammenhang als »Tocqueville-Paradox«18. 18 Vgl. Esser, Hartmut: Soziologie: Spezielle Grundlagen, Bd. 1., Frankfurt a.M./New York 1999, S. 405 f. Sowohl klassische Revolutionstheorien (vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich: »Die Deutsche Ideologie«. In: MarxEngels-Werke, Bd. 3, Berlin 1983; Tocqueville, Alexis de: Der Alte Staat und die Revolution, Reinbek bei Hamburg 1969) als auch moderne Gruppentheorien der sozialen Identität [SIT] (vgl. Taijfel, Henry: Gruppenkonflikt und Vorurteil, Bern 1982, S. 63 ff.) und empirische Studien, die sich mit Gruppenkonflikten befassen (vgl. Davies, James C.: »Toward a Theory of Revolution«. In: Studies in Social Movements, hg. v. Barry McLoughlin, New York 1969, S. 85-109; Miller, Abraham H./Bolce, Luis H./ 112

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5.4 Paternalisten und Protestierende Wie die oben angeführten Beispiele veranschaulichen, werden Rangordnungskonflikte zwischen Alt- und Neueingesessenen in den 1990er Jahren zunehmend sichtbar. Bereits in den 1980er Jahren zeigen sich politisch radikalisierte Migranten der deutschen Öffentlichkeit von einer bis dato ganz unbekannten Seite. Im Gefolge der zum Ende der 1970er Jahre sich entfaltenden bürgerkriegsähnlichen Situation in der Türkei und des Militärputsches im Jahre 1980 sowie auch aufgrund des dann eskalierenden kurdischen Guerillakampfes radikalisieren sich auch einige Zuwanderergruppen im linken und rechten Spektrum. Stellvertretend für viele andere Gruppierungen sei etwa die kurdische Arbeiterpartei (PKK), die seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland aktiv ist. Sie organisiert hierzulande nicht nur Protestaktionen gegen das türkische Militär, die in den 1990er Jahre in zunehmenden Maße gewaltförmig verlaufen. Am 24. Juli 1993 besetzen etwa PKK-Anhänger das türkische Generalkonsulat in München und nehmen 20 Geiseln und fordern, dass sich der Bundeskanzler öffentlich für die Kurdische Sache ausspricht. Darüber hinaus werden zahlreiche Brandanschläge gegen türkische Einrichtungen verübt. Halligan, Mark: »The J-Curve-Theory and the Black Urban Riots. An Empirical Test of Progressive Relative Deprivation Theory«. In: American Political Science Review 71 (1977), S. 964-982; Gaventa, John: Power and Powerlessness. Quiescence and Rebellion in an Appalachian Valley; Dubet, Francois: »Jugendgewalt und Stadt«. In: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, hg. v. Wilhelm Heitmeyer/John Hagan, Wiesbaden 2002, S. 1171-1192) gehen davon aus, dass Intergruppenkonflikte durch sozialen Wandel bedingt werden (vgl. Feyerabend, Ivo K./Feyerabend, Rosalind L./Nesvold, Betty: »Social Change and Political Violence«. In: Anger, Violence and Politics, hg. v. Ivo K. Feyerabend/Rosalind L. Feyerabend/Ted Robert Gurr, New Jersey/Englewood Cliffs 1972, S. 107124). Einige Ansätze brechen diese sehr unspezifische Annahme herunter, indem sie die Bedeutung des ökonomischen und sozialstrukturellen Wandels, den Zerfall politischer Systeme (vgl. Bwy, Douglas P.: »Political Instability in Latin America: The Cross-Cultural Test of a Causal Model«. In: Anger, Violence and Politics, hg. v. Ivo K. Feyerabend/Rosalind L. Feyerabend/Ted Robert Gurr, New Jersey/Englewood Cliffs 1972, S. 223 ff.) oder die Rolle der Veränderung von Werterwartungen im Verhältnis zu Wertrealisierungsmöglichkeiten in den Vordergrund rücken. Wieder andere Ansätze, wie die SIT, stellen den nicht auf Struktureffekte reduzierbaren Wandel von Gruppenbeziehungen selbst ins Zentrum ihrer theoretischen Überlegungen zu Konfliktursachen, soweit dieser sich im Vorfeld der Konflikteskalation vollzieht (vgl. Taijfel, Henry: Gruppenkonflikt und Vorurteil, S. 63 ff.). 113

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Am 26. November 1993 wird die Organisation schließlich in Deutschland verboten. Anlässlich eines EM-Qualifikationsspiels der türkischen Nationalmannschaft gegen die schwedische im Jahre 1995 kommt es auch in Duisburg zu größeren unangemeldeten Freudenkundgebungen, die in politische Demonstrationen von PKK-Anhängern und Gegnern münden. Vorübergehend werden auch Straßenbarrikaden errichtet. Der Vorfall macht Eindruck. In fast allen narrativ-biographischen Interviews, die ich zwischen 1996 und 1998 in Duisburg-Marxloh mit alteingesessenen Bürgern durchführte, wird diese Konflikteskalation zur Sprache gebracht. Es ist dort zu einer Art lokalem Trauma geworden. In diesen und anderen Ereignissen kommt eine neue soziale Figur ins Spiel, die sich nicht nur im politischen Feld, sondern auch im Alltag vernehmbar macht; der protestierende Fremde. Der protestierende Fremde ist gewissermaßen die Avantgarde des avancierenden Fremden. Der protestierende Fremde löst die aus den Reihen der Alteingesessenen stammende Anwaltsfigur zunehmend ab. Sein Erscheinen bringt zum Ausdruck, dass Zuwanderer jetzt eine weitere Statushürde überwinden. Statt als Schutzbefohlene in der Klientenrolle eingeschlossen zu sein, verstehen sich Zuwanderer zunehmend als Anwälte in eigener Sache. Statt sich und ihre Interessen einem juristischen Diskurs der alteingesessenen Experten zu überantworten, entwickeln sie nun einen anklagenden Diskurs, der mit dem Passepartout-Argument des Rassismus oder Diskriminierungsvorwurfes operiert. Das den Anwälten nachgeahmte Passepartout-Argument wird bald auf allen Konfliktfeldern – vom Sport, über die Arbeitswelt bis hin zum Konflikt im Straßenverkehr –, weil es bei den verunsicherten Platzanweisern so leicht verfängt, eingesetzt. Die Mehrheitsgesellschaft reagiert auf diese neue Entwicklung paternalistisch. Strenge Paternalisten, wie etwa der Innenminister, reagieren mit (Organisations-)Verboten und Polizei. Wohlmeinende, advokatorische Paternalisten reagieren mit Rückkehrhilfen und Ausländerbeauftragten. Schon 1978 wird das Amt »Beauftragter zur Förderung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen« dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zugeordnet, weil man Zuwanderung noch ganz im Rahmen von Arbeitsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat diskutierte. Später wird es dem Familienministerium und schließlich (seit 2005) dem Kanzleramt unterstellt. Schon in dieser Entwicklung zeigt sich, dass das Thema ›Zuwanderung und Integration‹ zunächst den Rahmen Figuration von Kapital und Arbeit sprengt, um dann auch über die Kompetenzen des Familienressorts hinauszuwachsen und schließlich soweit avanciert, dass es zur ChefInnen-Sache wird. Seit etwa dem Ende der 1980er Jahre werden Ausländerbeauftragte auf

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breiter Ebene in Städten und Ländern aber auch in großen Unternehmen und Universitäten etabliert. Entsprechend der von Bundesland zu Bundesland variierenden Gemeindeordnungen stehen den Einwanderungsstädten nun Ausländerbeiräte zur Seite, die das neue Protestpotenzial in die zivile Konfliktkultur einfädeln sollen. Während meiner Feldforschungen in Duisburg (1996-1998) besuchte ich auch Sitzungen des lokalen Ausländerbeirates. Der für den Ausländerbeirat zuständige Bildungsdezernent ist damals während der Beiratssitzungen überwiegend damit befasst, die Beiräte zu ermahnen, Verfahrensregeln zu beachten und sich keine Kompetenzen anzumaßen, die ihre öffentlich-rechtlich definierten Befugnisse überschritten. Die abnehmende Beteiligung an den Wahlen zu den Beiräten zeigt schließlich, dass das paternalistische, die Zuwanderer auf politische Rechte zweiter Klasse festlegende Unternehmen »Ausländerbeirat« von den Zuwanderern nicht ernst genommen wird. Avancierende Fremde und ihre protestierende Avantgarde passen nicht mehr in das Reservat. Die genannten Beispiele mögen hinreichen, die Figuration von zunehmend entmachteten Platzanweisern, Paternalisten sowie protestierenden und avancierenden Fremden zu beschreiben. Diese Figuration bringt zum Ausdruck, dass sich das Machtdifferenzial von Alteingesessenen und Zuwanderern jetzt ein wenig mehr – zumindest, was die Alltagsebene der Interaktion betrifft – in Richtung symmetrischer Intergruppenbeziehungen bewegt hat, und eben darum Rangordnungskonflikte einleitet.

6. Die Figuration der kulturalisierten Einwanderungsgesellschaft Spätestens seit dem Kristallisationsereignis des 11. September 2001 nimmt die Entwicklung der deutschen Einwanderungsgesellschaft eine neue Wende. Der sich in der vorausgegangenen Figuration manifestierende Rangordnungskonflikt verwandelt sich in einen Kulturkonflikt (vgl. Schema 5 auf der nächsten Seite).

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Schema 5: Figuration 4a) Kulturalisierte Einwanderungsgesellschaft seit 2001 christlicha) Kronzeugen abendländisch säkula- b) Dialogakteure risiertes Kultursubjekt

Muslimisches Kultursubjekt (als aufgeweckter oder noch verschlafener Sleeper)

6. 1 Von Kultursubjekt zu Kultursubjekt Nachdem die Duisburger Moscheevereine 1996 beantragen, den lautsprecherverstärkten Gebetsruf durchführen zu dürfen, reichert sich der gegen den avancierenden Fremden gerichtete Schimpfklatsch der Alteingesessenen mit Kulturargumenten an. Selbst noch das ungebührliche Verhalten von Kindern wird mit dem Szenario einer muslimischen Weltverschwörung verknüpft: »Muslimische Weltherrschaft: P: Ich kam mit meinem Mann, wir parkten dann unsern Firmenwagen hier vorne am, vorm Gericht und ähm, da waren welche um elf Uhr [abends] noch draußen, mit [dem] Fahrrad. [Das] waren auch so Türken gewesen, drei oder vier. [...] Und da sag ich: ›Mensch, müßt Ihr nicht mal zu Hause sein?‹ [Sie antworten:] ›Wir sind freie Bürger, wir dürfen hier alles!‹ [...] Die waren höchstens zehn, älter auf keinen Fall. ›Wir sind freie Bürger, wir dürfen hier alles!‹ [...] Die kriegen das richtig eingeimpft, ich denke auch mal, ähm, hat ja auch was mit der Religion zu tun [...] und ähm, die kriegen das also eingeimpft, auch sind das diejenigen, sag ich mal, die – äh, ich vermute mal – sowieso die Weltherrschaft anstreben, sag ich mal so, weil die sagen: ›Wir sind die Richtigen‹ – ne? – ›und alle anderen, Christen oder sonstwen, die müßte man am liebsten‹ – ähm, sag ich mal – ›skalpieren!‹ ne?«19

Das letzte Beispiel zeigt, dass der avancierende Fremde fremd wird, weil er zum einen Statusgrenzen durchbricht und sich eben darum der Platzanweiserperspektive entfremdet und weil er zum anderen kulturalistisch befremdet wird. Entfremdung auf der einen und kulturalisierende Befremdung durch lokalen und globalen Schimpfklatsch (etwa in Form massenmedialer Bilder) auf der anderen Seite greifen in diesem ganz alltäglichen Prozess Hand in Hand. Selbst wort- und textsprachlich

19 Auszug aus einem Interview mit einer Bewohnerin. 116

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sachliche Berichterstattungen über Zuwanderer aus islamisch geprägten Ländern werden seit der islamischen Revolution (1978) im Iran geradezu zwanghaft mit Bildsequenzen über die geschlossenen Reihen betender Männer oder mit Kopftücher tragender Frauen überformt. Gerade die Bildsprache zeichnet seither die Figur des muslimischen Kultursubjekts. »Gefährlich Fremd«, so lautet beispielsweise ein Leitartikel der illustrierten Wochenzeitung DER SPIEGEL im Jahre 1997.20 Zwar berichtet diese in dieser Ausgabe teilweise sehr differenziert über soziale Desintegrationsprozesse und die Ethnisierung sozialer Konflikte. Ganz anders als das plakative Titelbild vermuten lässt geht es nicht allein um fanatisierte türkeistämmige Gastarbeiternachfahren, sondern auch um deutschstämmige Aussiedler. Auf der Ebene der Bildsprache aber reiht sich diese Spiegelausgabe in die breite Front medial inszenierter, ursprungsbedingt gefährlicher Kultursubjekte ein. Seit dem Kristallisationsereignis des ›Elften September‹ sorgt unter anderem der Sleeper-Diskurs dafür, dass die Zuwanderer zunehmend befremdlich erscheinen, und dass man dies auch endlich sagen darf. Dieser Diskurs wird durch die fortdauernde Aufdeckung immer neuer Aktivitäten islamistischer Terrornetzwerke genährt. Dies wirkt wiederum auf die lokalen Konfliktkonstellationen zurück. Anlässlich meiner Feldforschungen zu Moscheekonflikten begegne ich im Jahre 2002 dem Sprecher einer gegen den Bau eines Minaretts gerichteten Bürgerinitiative. Er verleiht mir gegenüber seiner Sorge Ausdruck, dass der betreffende Moscheeverein, zwar aktuell moderat sein möge, dass man aber nicht wissen könne, ob das auch für alle Zukunft gelte. Er betrachtet die Moscheevereinsmitglieder als potentiell radikalisierbare Fanatiker. Andere Mitglieder der Bürgerinitiative lesen während der Verhandlungen mit dem Moscheeverein mit zitternder, angsterfüllter Stimme aus Zeitungsartikeln vor, die von den Attentätern des ›Elften September‹ und den Taliban in Afghanistan handeln, und bringen dabei entsprechende Befürchtungen zum Ausdruck. Was die Alteingesessen da zur Sprache bringen, ist die soziale Figur des »verschlafenen Sleepers«. Der kann, bedingt durch die Natur seiner Religion und/oder seiner Ethnizität, langfristig nicht aus seiner kulturellen Haut heraus. Wenn ihn erst entzündungsfähige Ereignisse wecken, wird der »verschlafene Sleeper« zum wiedererwachten Gotteskrieger. Vom »Sleeper«, wie ihn Sicherheitsorgane definieren, unterscheidet sich der »verschlafene Sleeper« des Alltagsdiskurses darin, dass er dem Zuwanderer unterstellt, aufgrund eines ihm selbst nicht immer bewussten subkutanen kulturellen Codes zu handeln.

20 DER SPIEGEL: »Gefährlich fremd« (1997) 117

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Der »verschlafene Sleeper« ist das muslimische Kultursubjekt, und das muslimische Kultursubjekt ist der »verschlafene Sleeper«. Muslimische Kultursubjekte legen ihre wahren Motive – ob bewusst oder unbewusst – nicht offen. Daher greifen sie zu Salamitaktiken. Das Schlagwort »Salamitaktik« macht hierzulande überall dort die Runde, wo sich Konflikte an islamischen Symbolen entzünden. Dass eine stark geräucherte und scharf mit Knoblauch gewürzte Dauerwurst herhalten muss, um als Symbol für heimtückisches Vorgehen Eingang in die deutsche Alltagssprache zu finden, macht Sinn: Ist diese Wurst – und damit wohl auch die durch sie appräsentierte taktische Hinterlist – doch ursprünglich ein fremdes, aus Italien stammendes Produkt. Zwar wird der Begriff Salamitaktik oft mit einem gewissen Schmunzeln geäußert – aber hält man sich den historischen Kontext seiner Verwendung vor Augen, so werden die ihm innewohnenden moralischen Konnotationen deutlich. Dabei handelt es sich um moralische Konnotationen, die mittelbar auf die Soziologik des Gastrechts verweisen. Der Begriff »Salamitaktik« bezeichnet ein strategisches Vorgehen in mehr oder weniger kleinen Schritten, die für sich genommen und auf den ersten, arglosen Blick nicht auf ein ihnen zugrunde liegendes strategisches Konzept schließen lassen, ja die dieses vielmehr gezielt verschleiern. Wenn der mit der »Salamitaktik« konfrontierte Akteur die Strategie schließlich erkennt, ist es schon zu spät. Der Begriff wird offenbar überwiegend in politischen Kontexten benutzt, um in der Regel das vermeintlich hinterlistige Vorgehen des politischen Gegners aufzudecken, der das großzügige Entgegenkommen eines sich als Quasi-Gastgeber gerierenden Akteurs ausnutzt. Der Kampfbegriff evoziert das Bild eines undankbaren Gastes, der die Freigiebigkeit des Hausherrn über Gebühr in Anspruch nimmt und somit droht, diesen arm zu machen,21 sprich dessen Salamivorräte restlos aufzuzehren. Der Gast ist ihm gewissermaßen ans »Eingemachte« gegangen (als gepökelte und damit zur Bevorratung bestimmte Dauerwurst ist die Salami schließlich auch eine Art Eingemachtes). Aus dieser Situationsdefinition speist sich sodann die »berechtigte« Empörung des Quasi-Gastgebers gegenüber einem Gast, der plötzlich zum schmarotzenden Feind mutiert. Der Hausherr und Wirt ist folglich fortan von Großzügigkeit und Rücksichtnahme gegenüber dem nimmersatten und ihm feindlich gesonnenen Gast moralisch entbunden. Jetzt geht es gewissermaßen um die Wurst.22 21 Pitt-Rivers, Julian: »Das Gastrecht«. In: Der Gast, der bleibt: Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins, hg. v. Almut Loycke, Frankfurt a.M./New York 1992 [1977], S. 17. 22 Der politische Begriff der »Salamitaktik« soll 1946 oder 1947 von ungarischen Kommunisten geprägt worden sein (vgl. Küpper, Heinz: Handliches 118

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Doch was kann in diesem Zusammenhang als Wurst gelten? Oder anders gefragt: Worin besteht das »Eingemachte« des alteingesessenen Hausherrn, das durch die Entstehung eines Minaretts bedroht ist? Es geht um die in lebensweltlich sedimentierte Rangordnungsgrenzen verankerte Dominanz Alteingesessener gegenüber Zuwanderern, die diese überkommene Machtasymmetrie in Frage stellen. Sie stellen die alte Hierarchie schon in Frage, indem sie sich sicht- und vernehmbar machen, um somit eine basale Voraussetzung ihrer Integration zu erfüllen. Denn ohne Sicht- und Vernehmbarkeit ist die Teilhabe am gemeinsamen Interessenstreit, durch die sich eine offene Gesellschaft integriert, nicht denkbar. Die Kindeskinder der Gastarbeiterimmigration, die auch nach 22:00 Uhr ihre Rechte einklagen, junge Nachfahren von Gastarbeitern, die statt der ihnen zugestandenen Ford-Automobile nun zu prestigeträchtigen Marken wie BMW und Mercedes wechseln, die Wohneigentum erwerben und nun deutschen Mietern als Vermieter gegenübertreten (wobei diese Mieter unter Umständen einst ihre Vorarbeiter waren), Moscheevereine, die nicht länger unsichtbar auf Hinterhöfen am Rande der lokalen Öffentlichkeit in Randständigkeit verharren wollen, Zuwanderer, die nicht erst auf die Fürsprache eines informellen alteingesessenen Anwalts warten, sondern zur Polizei gehen und gegen ihre ehemaligen Platzanweiser Anzeige erstatten oder die spontan mit dem Rassismus- und Diskriminierungsvorwurf operieren, haben aus figurationssoziologischer Wörterbuch der deutschen Alltagspraxis, Hamburg/Düsseldorf 1968, S. 293). Als Schöpfer des Begriffs wird der ungarische Kommunist Rakoczi genannt. Der historische Kontext ist die Volksfrontpolitik der osteuropäischen Kommunisten, die ihre schrittweise erfolgende Machtübernahme in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durch die geschickte und überrumpelnde Einbeziehung bürgerlicher Parteien realisieren konnten. Andere wollen das Wort schon 1939 gehört haben. Der Begriff verweist in diesem Zusammenhang wahrscheinlich auf die schrittweise erfolgende und allzu gleichmütig hingenommene Annektion fremder Territorien durch das Naziregime im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. Wie dem auch sei: Beide Wortursprünge bezeichnen dieselbe politisch motivierte Heimtücke eines bedrohlichen, avancierenden Fremden, der zunächst nur beansprucht, am Gastrecht beziehungsweise an den großzügigen Zugeständnissen einer bereits etablierten politischen Gemeinschaft zu partizipieren, der aber die Naivität und gefährliche Gutgläubigkeit des Gastgebers ausnutzt, um diesen schließlich zu hintergehen. Im Falle Ungarns sind dies etablierte bürgerliche Parteien, im Falle Deutschlands die etablierten europäischen Großmächte England und Frankreich, die Nazideutschland mit Hilfe ihrer Appeasement-Politik einen gleichberechtigten Platz im europäischen Machtgefüge zugestehen wollten. 119

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Sicht eins gemein: Sie alle durchbrechen lebensweltlich sedimentierte Rangordnungsgrenzen und bedrohen das eingelebte Machtdifferenzial. Eben darum werden sie durch stigmatisierende Sleeper-Diskurse und mittels in Gestalt von Salami-Rhetorik verkleideten Verschwörungstheorien als ›gefährlich fremd‹ definiert und zu Kultursubjekten stilisiert. Die Kulturalisierung sozialer Konflikte der deutschen Einwanderungsgesellschaft erhellt nicht nur die Soziologik von mehr oder weniger beiläufigen Alltagskonflikten, die man in deutschen Stadtgesellschaften beobachten kann, sie drückt sich auch in Debatten aus, die den erweiterten Sozialraum der europäischen Kulturnation thematisieren – etwa in Diskursen über den möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Hans Ulrich-Wehler gilt als einer der Väter der Bielefelder Schule der Geschichtswissenschaft, die sich einst als historische Sozialwissenschaft verstand, und eher materiellen als kulturellen longue-duréeStrukturen Erklärungskräfte zuschrieb. In aktuellen Fernsehauftritten und Reden bringt Wehler aber ganz neue Seiten zum Klingen, die ihn eher als historischen Kultur- denn als Sozialwissenschaftler ausweisen. Wehler ist ein dezidierter Kritiker der Integration der Türkei in die EU. Im Eifer des Gefechts dieser mitunter sehr aufgeregten Debatte rekurriert er dabei nicht nur auf sozialwissenschaftlich nachvollziehbare, sondern auch auf kulturalistische Argumente. Einige seiner Formulierungen stilisieren den Islam zu einem Kollektivsubjekt, das über Menschen hereinbricht, erfasst und mitreißt. »Der Islam ist die einzige noch immer auffällig rasch expandierende Weltreligion. Sie erfasst jetzt mehr als eine Milliarde Menschen und wird in nächster Zeit die Anhänger des Christentums weit überholen«23. Im Tenor dieser Formulierungen sind Menschen keine Akteure, sondern Akzidenzien eines halb unter- halb überirdisch verankerten Kultursubjekts, dem noch kein irdischer Mensch je begegnet ist. Wehler legt den kulturtiefen und letztlich handlungsdeterminierenden Boden des Islam frei, um die Unverträglichkeit dieser Religion mit der europäischen Kultur zu belegen: »Aus Mohammeds synkretistischer Verschmelzung unterschiedlicher religiöser Elemente – auch vielfach aus der israelischen und christlichen Religion, in deren Tradition des Prophetentums er sich bewusst stellte – ist ein militanter, expansionslustiger Monotheismus hervorgegangen, der seine Herkunft aus der Welt kriegerischer arabischer Nomadenstämme nicht verleugnen kann.«24 Die 23 Wehler, Hans-Ulrich: Amerikanischer Nationalismus, Europa, der Islam und der 11. September 2001 (Vortrag vom 14.06.2002), Bielefeld 2002, S. 7. 24 Vgl. Bollmann, Ralph: »Muslime sind nicht integrierbar«. In: taz (10.09. 2002). 120

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Inkommensurabilität des Islam werde, so Wehler auch an der Integrationsverweigerung der Muslime in Europa deutlich. Auf die Frage eines TAZ-Journalisten, ob nicht 2,4 Millionen türkische Einwanderer in Deutschland ein Beispiel dafür seien, dass ein friedliches Zusammenleben funktionieren könne, antwortet Wehler: »Das Beispiel zeigt, dass es eben nicht funktioniert. Die Bundesrepublik hat kein Ausländerproblem, sie hat ein Türkenproblem, diese muslimische Diaspora ist im Prinzip nicht integrierbar«25. In solchen Formulierungen verleiht Wehler dem geobotanischen Kultur- und Menschverständnis wieder neues Gewicht und dem muslimischen Kultursubjekt das Antlitz kriegerischer Nomaden. In den Augen von Islamforschern und Soziologen, die sich ernsthaft mit Muslimen und ihrer Religiosität befassen, ist Wehlers Vorstellung vom Islam als einem metaphysischen Kulturboden, der sich selbst noch jenen an die Seele heftet, die ihren Kulturkreis verlassen, unhaltbar. Nehemia Levtzion26 etwa zeigt, dass die islamische Mystik maßgeblich an der Verbreitung des Islams mit friedlichen Mitteln beteiligt war und dabei viele Elemente anderer Religionen aufgenommen hat. Noch heute ist der Sufismus in der islamischen Welt und auch unter den aus von Muslimen geprägten Herkunftsländern stammenden Einwanderern eine weit verbreitete spirituelle Bewegung, die so gar nichts mit kriegerischen Nomadenstämmen zu tun hat.27 Eine in 31 von Muslimen maßgeblich geprägten Ländern durchgeführte Umfrage des Gallup-Instituts mit 50.000 Befragten zeigt, dass selbst im ›Gottesstaat‹ Iran 85 % der Befragten sich die Gleichberechtigung von Mann und Frau wünschen. Und nur 7 % der Muslime rechtfertigen die Attentate des ›Elften September‹. Und selbst von diesen Extremisten bewundert noch etwa jeder zweite das westliche Wertesystem.28 Auch die größte Zuwanderergruppe in der BRD, die aus der Türkei zugewandert ist, passt nicht in Wehlers Zerrbild, denn nur etwa ein Drittel dieser Zuwanderer begibt sich regelmäßig in die Moschee, ein Drittel erscheint nur einmal im Jahr zum Zuckerfest und ein Drittel betritt nie eine Moschee.29 Von den regelmäßigen 25 Ebd. 26 Vgl. Levtzion; Nehemia: »Aspekte der Islamisierung: Eine kritische Würdigung der Beobachtungen Max Webers«. In: Max Webers Sicht des Islam, hg. v. Wolfgang Schluchter, Frankfurt a.M. 1987, S. 142 ff. 27 Vgl. Hüttermann, Jörg: Islamische Mystik. Ein ›gemachtes Milieu‹ im Kontext von Modernität und Globalität, Würzburg 2002. 28 Vgl. Süddeutsche Zeitung (28.02.2008). 29 Vgl. Salentin, Kurt: Sind Türken Muslime? Ein empirisches Bild der Religiosität der größten Zuwanderergruppe in der Bundesrepublik, Bielefeld 2002, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, 121

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Moscheegängern wiederum stehen viele für einen eher pragmatischen unorganisierten Volksislam, der zwar ethisch hoch anspruchsvoll ist, dessen islamische Prinzipien aber durch Humor und Ironie sowie durch mündlich überlieferte Lebenserfahrungen gefiltert und so an die modernen Alltagsnöte adaptiert worden sind.30 Das Beispiel Wehler ist nicht nur geeignet, die kulturalisierende Befremdung des Fremden zu veranschaulichen und zu zeigen, dass und wie die soziale Konstruktion des muslimischen Kultursubjekts nicht nur in den von Zuwanderung geprägten Stadtgesellschaften vorangetrieben wird, sondern auch von Akteuren der alteingesessenen Bildungselite gepflegt wird. Es zeigt zugleich auch, dass sich alteingesessene Akteure im Zuge ihrer Kritik avancierender Fremder und avancierender Staaten selbst in Kultursubjekte verwandeln – und zwar in christlich-abendländische Kultursubjekte. »Europa ist geprägt durch die christliche Tradition, durch die jüdisch-römisch-griechische Antike, durch Renaissance, Aufklärung, Wissenschaftsrevolution. Das alles gilt auch für die Beitrittsstaaten in Osteuropa, aber es gilt nicht für die Türkei. Man kann diese Kulturgrenze nicht in einem Akt mutwilliger Selbstzerstörung einfach ignorieren.«31 Wehler lehnt den möglichen türkischen EU-Beitritt u.a. auch deshalb ab, weil die Türkei »einem anderen Kulturkreis« angehöre.32 Der Begriff »Kulturkreis« wird vom Afrikaforscher Leo Frobenius in seinem 1898 veröffentlichten Aufsatz über den Ursprung der afrikanischen Kultur geprägt.33 Frobenius nimmt darin an, dass es Völkergruppen gebe, denen Kulturelemente zugrunde lägen, die nicht durch Kulturaustausch affiziert oder durch ihn affizierbar seien. Solche Elemente stellten vielmehr ureigene, invariante Wesenheiten eines gegebenen Kulturkreises dar. Damit hat Frobenius der Völkerkunde ein Konzept mitgegeben, das die geobotanische Menschen- und Kulturauffassung prägnant zum Ausdruck bringt. In den 1930er und 1940er Jahren ist die Kulturkreislehre in Deutschland dennoch so stark etabliert und rassistisch zementiert worden, dass Frobenius, der ihr schließlich abschwört, sie nicht mehr zurückrufen kann. Die Lehre ist da schon an die sozialdarwinistische

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Arbeitspapier SW 3/2002 des DFG-Projekts Bedingungen und Folgen ethnischer Koloniebildung. Vgl. Tezcan, Levent: »Das Islamische in den Studien zu Muslimen in Deutschland«. In: ZFS 32 (2003), S. 256, Fn. 23. Bollmann, Ralph: Muslime sind nicht integrierbar. Wehler, Hans-Ulrich: »Verblendetes Harakiri: Türkei-Beitritt zerstört die EU«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 33-34 (2004), S. 7. Frobenius, Leo: Ursprung der afrikanischen Kultur, Berlin 1898. 122

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Rassenlehre adaptiert.34 Dass der Historiker Wehler den Begriff des Kulturkreises im Eifer des Konflikts wieder aufnimmt, zeigt, dass die geobotanische Kulturauffassung offenbar eine Versuchung darstellt, derer sich auch diejenigen, die es besser wissen, nicht entziehen können. Mit Blick auf substanzialisierende Verfremdung des Fremden zu einem geobotanisch aufgefassten Kultursubjekt erscheinen der wohnumfeldnahe Diskurs, der Kinder zur Vorhut muslimischen Weltverschwörer stigmatisiert, und der Wehler-Diskurs als funktionale Äquivalente. Mehr noch: der Begriff des Kulturkreises dient zudem noch der metaphysischen Überhöhung des eigenen. Wie ein symbolischer Burgwall zieht er sich um die ureigenen europäischen Wesenheiten legt (eben die christliche Tradition, jüdisch-römisch-griechische Antike, Renaissance, Aufklärung und moderne Wissenschaft). Auf der Seite der in unseren Tagen primär als Muslime wahrgenommenen Nachfahren ehemaliger Gastarbeiter – fehlen einstweilen noch jene Persönlichkeiten, die auf gleicher Augenhöhe bzw. mittels einer akademisch raffinierten Form der kulturalisierenden Befremdung des Fremden zu antworten in der Lage wären. So mangelt es an öffentlichkeitsfähigen Persönlichkeiten, die ihr Gegenüber gewissermaßen zu unrettbar christlich-abendländischen Kulturpflanzen erklären könnten. Zwar kann man in wohnumfeldnahen Milieus, in denen die Nachfahren von aus der Türkei oder Marokko eingewanderten Gastarbeitern in zahlenmäßig dominieren, beobachten, dass befremdende Verschwörungstheorien kursieren; insbesondere solche Theorien, die den alteingesessenen Platzanweisern die Absicht unterstellen, die türkeistämmige Jugend bewusst in die Kriminalität oder die Drogenabhängigkeit zu treiben, um sie zunächst kulturell zu entwurzeln und dann langfristig an die deutsche Mehrheitskultur zu assimilieren.35 Zwar werden hierzulande in einigen islamischen Milieus die europäischen Gesellschaften aufgrund ihrer christlichen Wurzeln abgelehnt und ihre nichtmuslimischen Bewohner entsprechend moralisch disqualifiziert.36 Und Anhänger des politischen Islam sowie türkisch-nationalistischer Gruppierungen werten zudem die Mehrheitsgesellschaft durch einen Überlegenheitsanspruch ab, 34 Vgl. Kronsteiner, Ruth: »Kulturkreis« oder Rassismus/Sexismus im neuen Gewand? Vortrag gehalten am 20.04.2005 in Graz, http://www.isop. at/veranstaltungen/kultur_rueck2005.htm, 01.01.2009, S. 1 f. 35 Vgl. Tezcan, Levent: »Kulturelle Identität und Konflikt. Zur Rolle politischer und religiöser Gruppen der türkischen Minderheitsbevölkerung«. In: Bedrohte Stadtgesellschaften, hg. v. Wilhelm Heitmeyer/Reimund Anhut, Weinheim/München 2000, S. 401-448, hier S. 439 ff. 36 Vgl. etwa Hüttermann, Jörg: Islamische Mystik. Ein ›gemachtes Milieu‹ im Kontext von Modernität und Globalität, Würzburg 2002, S. 186, 200 f. 123

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den sie mit Blick auf den Islam begründen.37 Aber angesichts der fortdauernden Machtasymmetrie zwischen alteingesesser Mehrheit und als islamisch etikettierter Minderheit bleibt dieser befremdende GegenDiskurs zumeist unterhalb der Öffentlichkeitsschwelle. Er ist zunächst einmal nur geeignet, zur Verhärtung lebensweltlicher Gruppengrenzen zwischen nichtmuslimischen Mehr- und muslimischen Minderheiten beizutragen.

6.2 Kronzeugen Wenn die verfügbaren Beweismittel in Strafrechtsprozessen nicht ausreichen, werden mitunter Kronzeugen bestellt, die Mittäter sind oder waren. Auch wenn die verfügbaren Beweismittel im Prozess der Stigmatisierung von Menschen zu Kultursubjekten nicht ausreichen, werden Zeugen bestellt. Eine der prominentesten Kronzeuginnen der kulturalisierten Zuwanderungsgesellschaft unserer Tage ist Necla Kelek. Um es gleich zu sagen, der Vergleich hinkt. Zwar wird auch der Kulturalisierungsdiskurs mitunter geführt, als ginge es darum, den jeweils anderen (gleich ob alteingesessen oder zugewandert) einer vollbrachten oder auch nur geplanten Unrechtstat zu überführen, andererseits aber sind die Kronzeugen der Kulturalisierung nicht Mittäter, sondern eher prominente Opfer ihrer zugewanderten Landsleute. In der kulturalisierten Einwanderungsgesellschaft gehen sie in der ihnen insbesondere von den Massenmedien sowie von intellektuellen und politischen Platzanweisern der Einwanderungsgesellschaft zugewiesenen Rolle auf. Vom normativen Bezugspunkt der eigenen Biographie und der Aufklärung ausgehend, widmet sich Kelek unter anderem einem, die deutsche Öffentlichkeit zurecht empörenden sozialen Tatbestand, nämlich der Zwangsehe zwischen in Deutschland lebenden Muslimen und zum Teil minderjährigen Muslima, die zu diesem Zweck aus der Türkei regelrecht importiert werden. Für den sozialen Tatbestand Zwangsehe macht Kelek die althergebrachte Sklavenhaltermentalität der Schwiegermütter und Kinder in den traditionellen türkisch-muslimischen Familien verantwortlich. Hinzu käme der tief verwurzelte Fatalismus gegenüber dem eigenen Schicksal. Keleks Zeit- und Menschendiagnose ist sehr klar und glatt formuliert: »Seitdem eine verstärkte Islamisierung der türkischen Gesellschaft 37 Vgl. etwa Weitmeyer, Wilhelm/Müller, Joachim/Schröder, Helmut: Verlockender Fundamentalismus. Eine empirische Untersuchung über die Verbreitung islamisch-fundamentalistischer Orientierungen, Frankfurt a.M. 1997, S. 156. 124

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auch unter den Migranten in Deutschland zu beobachten ist, kommen die alten Traditionen und Bräuche, von denen man glaubte, sie seien durch Atatürks Reformen und durch die Moderne überwunden, wieder zur Anwendung. Die Tradition frisst die Moderne.«38 Dass die Tradition erst die türkische und nun auch die deutsche Moderne frisst, führt Kelek auf die tiefsten Sedimentschichten des islamischen Kulturbodens zurück: »Und je länger ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto stärker wurde mein Verdacht, dass vieles, was den Islam so resistent gegen die Anforderungen der Moderne macht, seinen Kern und Ursprung im Leben seines Gründers hat«39. Indem sie so den ungeschriebenen Imperativ des geobotanischen Kultur- und Menschenbildes folgt, und Menschen in tief verwurzelte Wesen verwandelt, stellt sie sich tatsächlich auf die Seite jener Vertreter der deutschen Aufklärung, die den substanzialisierenden Kulturdiskurs salonfähig gemacht haben. Dass Keleks Zeit- und Menschendiagnose so einfach und glättend formuliert ist, ist auch der Grund für ihre Unhaltbarkeit: So haben Islamforscherinnen in allen Teilen der vom Muslim/innen geprägten Welt40 aber auch in Deutschland41 beobachtet, dass eine islamistische bzw. textfundamentalistische Auslegung des Islam der Emanzipation junger Muslima von traditionellen, patriarchalen Strukturen dienen kann. Die der heiligen Texte kundigen neuen Islamistinnen legen sich ihren Islam so aus, dass er ihnen etwa zur Abwehr der elterlichen Ehe-Arrangements dient. Die abgesprochenen Ehen werden von diesen Frauen zurückgewiesen, indem sie sich auf den vermeintlich reinen, von der kulturellen Tradition unverstellten Islam berufen. In solchen empirischen Studien von Islamforscherinnen, die sich so gar nicht als Kronzeuginnen eignen, erscheinen Muslima als Menschen, die deuten und verstehen und auf ihre Umstände zurückwirken können. Sie werden nicht als auf ewig mit ihren Ursprüngen verwachsene Pflanzenwesen dargestellt. Ob das von Islamforscherinnen beobachtete neue Denken und Handeln der Muslima bloß als Randphänomen bewertet werden darf, ist eine ernst zu nehmende Frage. Indem Kelek diese und andere Einwände aber 38 Kelek, Necla: Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln 2005, S. 57. 39 Ebd., S. 165. 40 Vgl. Werner, Karin: Between Westernization and the Veil. Contemporary Lifestyles of Women in Cairo, Bielefeld 1997; Klein-Hessling, Ruth/ Nökel, Sigrid/Werner, Karin (Hg.): Der neue Islam der Frauen. Weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne – Fallstudien aus Afrika, Asien und Europa, Bielefeld 1999. 41 Vgl. Nökel, Sigrid: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken, Bielefeld 2002. 125

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gar nicht erst diskutiert, erweist sie sich nicht als Wissenschaftlerin, sondern eben als Kronzeugin, die schlicht und einfach Menschen über den Kamm der tief verwurzelten Kulturdifferenz schert. Im Kontext der Figuration einer kulturalisierten Einwanderungsgesellschaft können wohnumfeldnaher und akademisch raffinierter Schimpfklatsch darauf Bezug nehmen.

6.3 Dialogakteure Der christlich-islamische Dialog auf lokaler nationaler und internationaler Ebene wird überschätzt. Er erfüllt nicht die hohen Erwartungen, dass er zur Integration der Einwanderungsgesellschaft oder gar der Weltgesellschaft beiträgt. Die Gründe dafür können hier nur angerissen werden. Zum einen schafft der Dialog selbst wieder soziale Grenzen – nämlich die zwischen dialogfähigen und nichtdialogfähigen sozialen Gruppen.42 Zugleich liefert er die moralische Legitimation, die jeweils andere Gruppe abzuwerten und so neue Gegnerschaften oder gar Feindschaften im Wortsinne herbeizureden. Eine weitere Schwäche des Dialogs, der sich anmaßt, schulpolitische, sicherheitspolitische oder kriminalpolitische Debatten ablösen zu können, ist, dass er erst schafft, was er zu überwinden vorgibt, nämlich Kultursubjekte und schließlich auch Kulturkonflikte. »Seit der interreligiöse Dialog, verstärkt als Reaktion auf den internationalen Terrorismus, öffentlich mit der Aufgabe betraut wird, bei der Integration von (muslimischen) Einwanderern zu helfen, ist er kein randständiges Thema mehr. Es geht um die Transformation vom (muslimischen) Einwanderer zum eingewanderten Moslem. Integrationsfragen erscheinen immer mehr als religiös-kulturelle Fragen.«43 Aus integrations- und konfliktsoziologischer Sicht besteht die paradox anmutende Wirkung eines seine Grenzen verkennenden Dialogs darin, dass Rangordnungs- und Verteilungskonflikte der Einwanderungsgesellschaft durch den interreligiösen Dialog nicht gelöst werden können. Im Gegenteil, wenn wir mit Blick auf Diskurse über Kriminalität, Drogenhandel, aber auch mit Blick auf bewegende Themen wie Häuserkauf durch Türken oder auch mit Blick auf knappe Arbeitsplätze die Dialogkarte ausspielen, dann unterstellen wir fälschlicherweise, dass kulturell bzw. religiös sich definierende Dialogakteure, die zudem ohne 42 Vgl. Nassehi, Armin: »Dialog der Kulturen – Wer spricht?«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29 (2006), S. 33-38. 43 Tezcan, Levent: »Interreligiöser Dialog und politische Religion«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29 (2006), S. 31. 126

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demokratische Legitimation sind, nicht nur alle ihre zugewanderten Kulturgenossen repräsentierten, sondern sie darüber hinaus auch noch führen könnten. Mehr noch: Konflikte und Probleme, über die man nüchtern reden könnte, verwandeln sich gerade durch die Anrufung tiefster Kulturschichten oder höchster theologischer Wahrheiten in nicht mehr verhandelbare »Entweder-Oder-Konflikte«44. Die Überdehnung von Dialogdiskursen impliziert mithin eine Spirale der Konflikteskalation. Konfliktsoziologisch betrachtet ist ein interreligiöser oder interkultureller Dialog nur dann hilfreich, wenn er seine Grenzen kennt und sich darin trainiert auch angesichts fundamentaler theologischer Differenzen grenzüberschreitende Sympathien zu kultivieren und zudem jede noch so attraktive Kronzeugenrolle ablehnt. Ein solcher Dialog ist auch insofern hilfreich, als dass er beide Seiten abwechselnd in Gast und GastgeberRollen versetzt und somit die Symmetrie der gleichen Augenhöhe herstellt. Seine ritualisierten, auf das Gastrecht bezogenen Formen des Austausches bringen zudem Bekanntschaften und mitunter auch freundschaftliche Bande hervor. Der Umschlag von Bekanntschaft oder gar Freundschaft in Feindschaft respektive die Umstellung von Gast- auf Faustrecht ist, aufgrund der reziproken konstituierten Beißhemmungen unwahrscheinlicher als der Umschlag von indifferenten Beziehungen in Feindschaft.

7. Verlockende Kulturalisierung Soweit wir heute sehen, gibt es keinen gesellschaftlichen Standpunkt, welcher der Entwicklungsdynamik der Einwanderungsgesellschaft bzw. ihrem Figurationsprozess enthobenen wäre. Die zukünftige Entwicklung der deutschen Einwanderungsgesellschaft ist demnach nicht abzusehen. Die im Zuge des erläuterten Figurationswandels drohende Transformation einer relativ kulturvergessenen Gesellschaft, die ihr Wirtschaftswunder durch Gastarbeiter auf Dauer stellen will, in eine kulturalisierte Einwanderungsgesellschaft wäre ohnehin nicht das Werk einiger verschworener Drahtzieher, deren Pläne man nur kennen müsste, um die Zukunft zu lesen. Selbst wenn es diese Drahtzieher geben würde, wären sie selbst aufgrund der Dynamik der Einwanderungsgesellschaft nicht mehr die, die sie in ihrem Anfang gewesen sein mögen. Die Entwicklung der deutschen Einwanderungsgesellschaft hat keine Ursache, aus der dann notwendig absehbare Konsequenzen folgen, sie hat bloß einen 44 Vgl. Hirschman, Alfred: »Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?«. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 22 (1994), S. 303 f. 127

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gemeinhin mit der Gastarbeiteranwerbung gesetzten Anfangspunkt. Dieser Anfangspunkt setzt Entwicklungen frei, die wie u.a. die Figurationsanalyse zeigt, in Rangordnungskonflikten einmünden, die wiederum kulturalisiert zu werden drohen. Man mag gegen diesen Befund der figurationssoziologischen Analyse einwenden, dass hierzulande mit Blick auf italienische oder spanische Minderheiten keine vergleichbaren Konflikte zu beobachten seien, und dies mit deren »christlich-abendländischen Kulturböden« erklären. Dem ist entgegenzuhalten, dass die genannten Gruppen nicht nur christliche Ursprünge gemein hatten, sondern auch eine vergleichsweise bessere Vorbildung ihrer Zuwandererpioniere. Hinzu kommt die Voraussetzung, dass Italiener, Griechen und Portugiesen in den 1960er Jahren nicht so massenhaft an bestimmten Produktions- und Siedlungsstätten konzentriert wurden, wie Einwanderer aus der Türkei. Vor allem aber stimmen die vermeintlich unproblematischen Minderheiten darin überein, dass sie aus Gesellschaften ausgewandert sind, die als befreundet gelten. Zuwanderer dagegen, die aus Staaten ausgewandert sind, die seit 1978, also seit der islamischen Revolution des Iran, Gesellschaften zugeordnet werden, die mit Schurkenstaaten, islamischen Fanatismus oder Terrorismus assoziiert werden, bringen demgegenüber Voraussetzungen mit, die sie in den Augen von Platzanweisern geradezu für die Rolle des Außenseiters qualifizieren. Auch ein kurzer Blick in die USA entkräftet das geobotanische Kulturargument deutscher Fassung: Bei dortigen Platzanweisern genießt eine bestimmte religiös-ethnische Minderheit denselben Ruf, wie hierzulande jene Bevölkerungsgruppe, deren Vorfahren in Gesellschaften lebten, die von Muslimen maßgeblich geprägt worden sind. Auch jene Minderheit, die konservative amerikanische Kreise beschäftigt, gilt diesen als machistisch, frauenfeindlich und fanatisch, sie igele sich in Ghettos ein, engagiere sich im Drogengeschäft, weigere sich, die Landessprache zu erlernen, sei überproportional kriminell etc.45 Doch das, was die inkriminierte Minderheit charakterisiert, ist aus amerikanischer Sicht nicht der Islam, sondern die katholische Religion und die spanisch geprägte Kultur. Dass der Katholizismus und die spanische Kultur mit 45 Joan Moore beschreibt mit Blick auf Chicano-Barrios in Los Angeles, dass es in manchen Ethnien kriminelle oder kriminogene Traditionen/Werte gibt (»maleness, competence, and being in command«), die durch die lokalen Gangs nur weiter tradiert werden (Moore, Joan: Homeboys, Philadelphia 1978, S. 52 f.; vgl. auch Horowitz, Ruth: Honor and the American Dream, New Brunswick 1983; Vigil, James Diego/Long, John M.: »Emic and Ethic Perspectives on Gang Culture«. In: Gangs in America, hg. v. Ronald Huff, Newbury Park 1990, S. 55-68). 128

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modernen liberalen Gesellschaften nicht kompatibel seien, behaupten dort insbesondere Intellektuelle, wie Samuel P. Huntington.46 Der würde damit aber selbst bei deutschen Platzanweisern keine Zustimmung finden. Der Vergleich zeigt, dass das, was die als gefährlich fremd wahrgenommenen Minderheiten in den USA und in Europa verbindet und was ihre soziale Randstellung erklärt, gerade nicht die gemeinsame Religion oder die gemeinsame Kultur ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie von machtstarken Gruppen der jeweiligen Einwanderungsgesellschaften kulturell und religiös stigmatisiert werden. Das zentrale Anliegen dieses Artikels ist es, die Ursachen und die möglichen negativen Nebenfolgen der Kulturalisierung von Rangordnungskonflikten der deutschen Einwanderungsgesellschaft mit Hilfe der Analyseperspektive der figurativen Konfliktsoziologie absehbar zu machen. Zwar mag die Versuchung der partiell entmachteten Platzanweiser groß sein, die alte Machtstellung durch Kulturdialoge und unter Berufung auf Kronzeugen wieder herzustellen. Auch kann eine Politik, die auf die Instrumente des Sozialstaats verzichten möchte, der Verlockung erliegen, durch Kulturdebatten und Integrationsgipfel Handlungsspielräume zurückzuerlangen, ohne vermeintlich überstrapazierte Haushaltsmittel bemühen zu müssen. Und viele mehr oder weniger schlichte Gemüter mögen dem Kitzel nachgeben, sich öffentliches Gehör zu verschaffen, indem sie ihre durch keinen rationalen Diskurs zu widerlegende, kulturell unterfütterte Betroffenheit in die öffentliche Arena zu werfen.47 Aber wenn erst älter Eingesessene und die Nachfahren der Gastarbeiter einander zurufen: »Auf einem mir ureigenen Kulturboden bin ich verwurzelt, ich kann nicht anders!«, dann mag es für die integrative politische Kultur des öffentlichen Interessenstreits (vgl. Schema 6 auf der folgenden Seite) zu spät sein.

46 Vgl. Huntington, Samuel: Who Are We? Die Krise der amerikanischen Identität, Hamburg 2004. 47 Vgl. Hüttermann, Jörg: Das Minarett: zur politischen Kultur des Konflikts um islamische Symbole, Weinheim 2006, S. 103 ff.; ders: »Konflikt um islamische Symbole in Deutschland«. In: Konfliktfeld Islam in Europa, hg. v. Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan, Soziale Welt, Sonderheft 17, Baden-Baden 2007, S. 205 ff. 129

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Schema 6: Figuration 4b: Einwanderungsgesellschaft mit politischer Kultur Someone

Someone

Someone

Geh- und denkfähige Alt- und Neu-Eingesessene, die ihre kulturellen Voraussetzungen kennen, jedoch nicht zu letzten, unteilbaren Werten überhöhen. Es geht um die Seiteneffekte der Verwandlung von Rangordnungs- und Ressourcenkonflikten in unteilbare – weil auf letzte unter- und überirdische Werte bezogene – Kulturkonflikte, es geht um die mögliche Herausbildung unversöhnlicher vermeintlich kulturverwachsener Feindschaften zwischen sozialen Gruppen, die nur durch die Gewalt eines autoritären Leviathan, unterhalb der Bürgerkriegsschwelle gehalten werden können. Mit anderen Worten: Es geht um einen Preis, den wir für die kulturalistische Sublimierung von Rangordnungskonflikten zu zahlen bereit sein müssten: Es geht um die offene Gesellschaft, um unsere Gesellschaft.

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RAPPEN FÜR GOTT, KÖNIG UND VATERLAND: ÜBER TRANCE, KULTURALISIERUNG UND MACHT I N M A R O K K O U N D D E R M A R O K K AN I S C H E N MIGRATION1 MARTIN ZILLINGER Jedes Jahr im Sommer, wenn viele der drei Millionen Auslandsmarokkaner aus Europa nach Marokko übersetzen, beginnt eine lukrative HochZeit der marokkanischen Sufi-Bruderschaften. Auf Hochzeiten und Familienfesten wird mit ihrer Hilfe ein Raum »kultureller Intimität«2 erzeugt, in dem sich die Transmigranten und Daheimgebliebenen ihrer Netzwerke und gemeinsamen Identität versichern. Anhand einer Analyse der Praxen und Medien dieser religiösen Bruderschaften möchte ich die Bedeutung von »Kultur« in der transnationalen Öffentlichkeit marokkanischer Migration ausleuchten. Diese Praktiken medialisieren im weiteren Sinne: sie vermitteln Erfahrung transzendenter Kräfte und sozialer Gemeinschaft. Zunehmend nutzen Akteure und ihre Klienten dabei Neue Medien, die im transnationalen Raum zirkuliert und frequentiert werden. Gleichwohl bleibt der kulturelle Raum, der durch diese Medialisierungspraxen geschaffen wird, an bestimmte Orte und Landschaften geknüpft und die Ästhetisierung und Politisierung ihrer religiösen Praxis bedarf weiterhin der kulturell vermittelten aisthesis, der sensorischen Erfahrung, die in den Ritualen der Bruderschaften in Trancetänzen evoziert und induziert wird. Dies werde ich anhand der Analyse von vier Arenen entwickeln, in denen die Bruderschaften im transnationalen Raum nachgefragt und rezipiert werden. 1. Zuerst werde ich ein Beispiel sozialer und kultureller Verortung junger Marokkanerinnen und Marokkaner mit Hilfe neuer Medien 1

2

Die arabischen Ausdrücke im Text sind entsprechend der marokkanischarabischen Aussprache und dialektalen Begriffe übertragen. Außerdem weicht die Transkription gelegentlich von den Konventionen der DeutschMorgenländischen Gesellschaft ab, um die Aussprache für deutschsprachige Leser zu verdeutlichen (‘Aisāwa statt ‘Isāwa). Herzfeld, Michael: Cultural Intimacy. Social Poetics in the Nation State, London 1997. 135

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untersuchen: einen im Internet zirkulierenden Rap-Song der marokkanischen Hip-Hop Band »H-Kayne«, der 2006/07 von Internetnutzern in Europa und den USA millionenfach aufgerufen und diskutiert wurde. In diesem Lied werden die Trance-Bruderschaften der ‘Aisāwa in Meknes, Marokko, als signum marokkanischer Identität besungen. 2. In einem zweiten Schritt werde ich ein öffentliches Ritual in Meknes von Mitgliedern dieser und einer weiteren, eng mit den ‘Aisāwa verbundenen SufiGruppe, den Íamadša, analysieren. Mit diesem Ritual, in dem religiöse Gefühle in soziale Bindungen übersetzt werden, wird die rituelle Unterwerfung der lokalen Bruderschaften von Meknes unter das marokkanische Könighaus zelebriert, als marokkanische Kultur stilisiert und wiederum über Medien in den transnationalen Raum transportiert. Diese hierarchische Strukturierung des sozialen Raums in Marokko wird in privat ausgerichteten, lebenszyklischen Ritualen von Transmigranten wiederholt. So werden 3. Hochzeiten gerne mit Hilfe dieser Bruderschaften gestaltet und dadurch kulturelle Kompetenz demonstriert. Diese Feste und ihre mediale Dokumentation dienen der Wiederbelebung sozialer Netzwerke und der Versicherung der eigenen Identität. In einem 4. vierten Schritt werde ich transnational zirkulierende Opfergaben zur Linderung von Besessenheitszuständen heranziehen. Diese Zustände werden von den Bruderschaften behandelt und von den Transmigranten mit heiligen Plätzen in Verbindung gebracht, an die sie während der Urlaubsmonate Opfergaben bringen und wo sie Rituale durchführen (lassen). Die mediale Repräsentation der Bruderschaften und ihrer Trancepraktiken in der transnationalen, marokkanischen Jugendkultur, ihre administrative Verwaltung und rituelle Inszenierung auf staatlichen Ritualen, das folkloristische Erleben ihrer Riten auf (transnational ausgerichteten) Hochzeiten und die individuelle Heilung von Krisenzuständen durch Opfergaben und Wallfahrten operieren mit geteilten, religiösen Erfahrungen, die in Körperzuständen wurzeln und in der Landschaft in und um Meknes an bestimmten Orten verankert sind.3 Religiöse Gefühle und Erfahrungen transzendenter Kräfte bedürfen der Medialisierung, oder, in den Worten Meyers der »sensational forms«, um das Transzendente erlebbar zu machen4 – Formen und Medien, die autorisierten und strukturierten Zugang zu dem Über-Natürlichen ermöglichen und sozial organisieren. Die vorgestellten Medialisierungen eröffnen ein religiöses

3 4

Vgl. Hauschild, Thomas: Ritual und Gewalt, Frankfurt a.M. 2008. Meyer, Birgit: Religious Sensations. Why Media, Aesthetics and Power Matter in the Study of Contemporary Religion, (Antrittsvorlesung) Freie Universität Amsterdam (2006), http://english.fsw.vu.nl/images_upload/ 8B097A2B-B836-ABF4-6018FEDB0D1ED048.pdf, 13.08.2008, S. 9. 136

ÜBER TRANCE, KULTURALISIERUNG, MACHT UND MIGRATION IN MAROKKO

Feld,5 in dem Kultur produziert und erfahrbar wird. Insofern ich sie bei Mitgliedern einer Großfamilie nachvollziehen konnte, die in sozial sehr unterschiedlichen Situationen in Meknes, Südfrankreich und Holland leben, zeigt sich, wie sich transnational handelnde Akteure immer wieder neu in diesem Kontinuum kultureller Praxen mit Hilfe unterschiedlicher Medien situieren: 5. Die »überdehnten« Netzwerke im transnationalen Raum kontrahieren, so zeigt mein Material, an heiligen Orten und Plätzen sowie in rituellen Praxen, an den und durch die sich die Menschen verorten und ein- bzw. zurichten – in einer gemeinsamen Kultur.

B r u d e r s c h a f te n , T r a n c e u n d Ö f f e n tl i c h k e i t Die Sufi-Bruderschaften der Íamadša und ‘Aisāwa sind Teil einer von Heiligenkulten geprägten, religiösen Topographie, die als »local Islam« Gegenstand vieler sozial- und religionswissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist.6 Die Praktiken von marokkanischen Bruderschaften reichen von musikalisch untermalten Preisungen des Propheten und der Heiligen (qÒaid, Sg. qaÒida), über die gemeinsame Intonation des Namen Gottes (Æikr) bis hin zu Tranceritualen mit zum Teil blutigen Selbstverletzungen und fakiristischen Darbietungen. In den Ritualen und Prozessionen der Íamadša und ‘Aisāwa geht es um den Îāl, den segensmächtigen Zustand gemeinsamer oder individueller Trance oder Trance-ähnlicher Zustände, in denen die Segenskraft des Gründungsheiligen antizipiert wird. Während in den häuslichen Tranceritualen die subjektiven Tranceerlebnisse im Vordergrund stehen, mit denen Besessenheitszustände geheilt werden, geht es in den öffentlichen Räumen vor allem um die gemeinsame Erfahrung religiöser »Passion«, des Zustands religiöser Ergriffenheit, der einem »widerfährt« und sich durch gemeinsame Körpertechniken, wie der Bewegung zur Musik und gemeinsamer Atmung, herstellt.7 Dabei werden die Teilnehmer baraka 5 6

7

Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehen, Konstanz 2000. Als Beispiele seien genannt: Bel, Alfred: L'Islam Mystique, Paris 1988 [1928]; Brunel, René: Essai sur la Confrérie Religieuse des ‘Aissaoua au Maroc, Paris 1926; Crapanzano, Vincent: Die Ḥamadša. Eine ethnopsychiatrische Untersuchung in Marokko, Stuttgart 1981 [engl. Orig. 1973]; Eickelman, D.F.: Moroccan Islam: Tradition and Society in a Pilgrimage Centre, Austin 1976; Welte, Frank M.: Der Gnāwa Kult. Trancespiele, Geisterbeschwörung und Besessenheit in Marokko, Frankfurt a.M. 1990. Vgl. McNeill, William H.: Keeping Together in Time. Dance and Drill in Human History, Cambridge 1995; Hauschild, Thomas/Zillinger, Martin/ 137

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teilhaftig, einer göttlichen Segenskraft, die nicht nur besonders frommen Männern, sondern auch besonders mächtigen Gestalten wie den Königen zukommt und die überdies mit Orten und Dingen in Verbindung gebracht wird.8 Doch ihre Praktiken sind im öffentlichen Raum nicht unumstritten. »Folklorisierungen« und »Kulturalisierungen« der Bruderschaften antworten zunehmend auf den Vorwurf des »širk billah«, der in den Auseinandersetzungen um rechte islamische Praxis vehement gegen sie vorgebracht wird: Die Anrufung der Heiligen oder Dämonen [ğnun, Sg. ğinn], deren besessene Opfer sie behandeln, sei eine Form von Mittlerschaft und damit Teilhabe an der unteilbaren Einheit und Macht Gottes. Im Ringen um Selbstbestimmung und Modernisierung gilt die angebliche Weltabgewandtheit der Bruderschaften überdies als schädlich und rückwärtsgewandt. Doch gerade von den jüngeren Anhängern der Bruderschaften wurde mir verschiedentlich erklärt, was sie betrieben und ich untersuchte, wäre nicht »Islam«, Religion (dīn) wäre nur »der Koran«, was sie machen sei »Kultur« (×aqāfa) bzw. »Tradition« (taqālīd). Was die Menschen in den Tranceritualen erfahren würden, wäre »wie Yoga«, wie es immer wieder hieß, es würde den Menschen helfen, sich zu sammeln und neu auszurichten. Diese Rekonzeptualisierung sufischer Kategorien wie der »niyya«, mit der die spirituelle Vorbereitung und Gerichtetheit auf Gott gemeint ist, reagiert offensichtlich auf neotraditionelle Interpretationen islamischer Normen durch salafitische Reformbewegungen, die sich an einer »Praxis der Vorväter« ausrichten und illegitime Neuerungen (bidÝa) bekämpfen. Paradoxer Weise ist es gerade diese Missbilligung angeblich vormoderner Praktiken und ihre einhergehende Folklorisierung, die sie als kulturell authentisch ausweisen. Als Teil einer »lokalen Tradition« marginalisiert und als »vormodern« exotisiert finden sie auf dem Markt der Welt- und Ethnomusik Anschluss, indem sie beständig auf wesentlich körperliche Erfahrungsmodi der Trance verweisen und die Möglichkeit authentischer Erfahrung kommunizieren.9 Mit lokalen Praxen und Orten verbunden und in lokalen Idiomen verhandelt, bilden die Rituale der Bruderschaften zugleich einen Raum kultureller Intimität, der nicht ohne Weiteres mit Außenseitern geteilt werden

8 9

Kottmann, Sina: »Syncretism in the Mediterranean: Universalism, Cultural Relativism and the Issue of the Mediterranean as a Culture Area«. In: History and Anthropology 18/3 (2007), S. 309-332. Vgl. Westermarck, Edward: Ritual and Belief in Morocco, Bd. 1 und 2, London 1926. Vgl. dazu Sant-Cassia, Paul: »Exoticizing Discoveries and Extraordinary Experiences: ›Traditional‹ Music, Modernity, and Nostalgia in Malta and Other Mediterranean Societies«. In: Ethnomusicology 44 (2000), S. 281301. 138

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kann – und der deswegen als spezifisch marokkanisches Differenzierungsmerkmal im transnationalen Raum nachgefragt wird und der Pflege sozialer Bindungen dient. Die Akteure der Bruderschaften vor Ort haben sich auf diesen Markt eingestellt und begonnen spezifisch für nationale »Folklore« im Staatsfernsehen und Marokkanerinnen und Marokkaner in der Migration Aufnahmen zu produzieren. Dabei ist es auffällig, dass die meisten CDs, VCDs (Visual CDs) und im geringerem Maße DVDs, die von einer Plattenfirma in Fes mit Dependance in Paris und Brüssel produziert werden, mit Bildern versehen werden, auf denen Orte und Plätze, aber auch Kleidung und Gegenstände beständig auf die liminalen Kontexte der Rituale verweisen. So vertreibt ein Vorsteher einer Íamadša-Bruderschaft sehr erfolgreich eine CD, auf der er populäre Lieder [ša‘bī] über die Dämonin der Bruderschaft eingespielt hat, die für die Besessenheits- und Trancezustände ihrer Anhänger verantwortlich gemacht wird.10 Auf dem Umschlagbild der CD inszeniert er sich in einem Gewand der Bruderschaft vor dem Opferplatz der Dämonin im Wallfahrtsort des betreffenden Heiligen. In diesen schweren, wollenen Kostümen übertragen sich die Bewegungen der Trancetänzer auf den Körper besonders gut, so dass die Trance-induzierenden Körpertechniken erleichtert werden.11 Abbildung 1: CD-Cover Dämonenschrein

10 Diese Art populärer Musik ist zunehmend auch Bestandteil von Besessenheitsritualen der upper-class in Rabat und Casablanca, bei denen ihre üppige Inszenierung als Fest zum Prestige der Veranstalter beiträgt. 11 Vgl. zu Gewändern und religiöser Erfahrung Hauschild, Thomas: Ritual und Gewalt, S. 40 f. 139

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Zugleich meldet er sich beständig in Diskussionsforen im Internet zu Wort und bestreitet jegliche Verbindung zwischen der rachsüchtigen, Heil und Schaden bringenden Dämonin ÝAiša Qandiša und der Bruderschaft der Íamadša.12 Die Einbettung dieser rituellen Kontexte in die transnationale Zirkulation von Gütern und Konsumvorstellungen bringt eine Reorganisation religiöser Erfahrungen mit sich, wie Dorothea Schulz an ökonomischen, medialen und konsumbezogenen Alltagspraktiken in Mali dokumentiert hat.13 Zugleich verweisen diese medialen Inszenierungen weiterhin auf rituelle Praxen, heilige Orte und Gestalten. Diese Verweise können in Anlehnung an Burkhard Gladigow als »rituelle Zitate« verstanden werden.14 Sie dienen als Indizes für Kontexte und Erfahrungen, die unter Marokkanern als typisch marokkanisch erlebt und kommuniziert werden und deswegen Gefühle von Zugehörigkeit hervorrufen, die mit der Trance-induzierenden Musik und dem abgebildeten, sakralen Ort in Verbindung gebracht und bei einer Heimreise nach Marokko aufgesucht werden. Die Medien legen von transzendenten Kräften Zeugnis ab, die Teil des common sense sind, aber, wie wir sehen werden, nicht zum Gegenstand normativer Diskurse werden können und auch deswegen in diesen ästhetisierten Formen transportiert werden.

R A P 1 0 0 % ‘ A i s a w i a , M ek n e s si a, m ag r e b i a Ein gültiges Beispiel für diese ästhetisierten Formen vorgeblich »authentischer«, religiöser Erfahrung ist der Erfolg der aus Meknes stammenden Rap-Band H-Kayne (Was Gibt's?). Mit ihrem Lied »‘Issawa-Style«, in dem sie die magische Kraft und Kontexte der ‘Aisāwa-Bruderschaft besingt, ist sie sehr schnell über die Grenzen Marokkos hinaus unter jungen Marokkanerinnen und Marokkanern bekannt geworden. Das Video zu diesem Lied wurde allein auf You Tube auf den verschiedenen Seiten mindestens 1, 5 Millionen Mal aufgerufen15 und bald auch als eine

12 Vgl. für die Internetquellen Hyperstition (2005), http://hyperstition. abstractdynamics.org/archives/004336.html, 22.6.2008 und Ronhaleber (2005), http://www.ronhaleber.nl/trance-b.html, 22.06.2008. 13 Schulz, Dorothea: »Promises of (Im)mediate Salvation. Islam, Broadcast Media, and the Remaking of Religious Experience in Mali«. In: American Ethnologist 33 (2006), S. 210-229. 14 Gladigow, Burkhard: »Sequenzierung von Riten und die Ordnung der Rituale«. In: Zoroastrian Rituals in Context, hg. v. Michael Stausberg, Leiden 2004, S. 57-76. 15 Vgl. You Tube (2006), www.youtube.com, 09.09.2008. 140

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3D-Trickfilm-Animation für das Staatsfernsehen produziert,16 in der ihr Gesang auf die Bruderschaft der ‘Aisāwa und marokkanische Identität als eine Popularisierung historischer Wurzeln in Szene gesetzt wird. Bei der Inszenierung von Konzerten und Musikvideos auf dem Place al-Hedim, dem großen Platz zu Füßen des historischen Stadttors Bab al-Mansour, das Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist und von dem Sultan und Staatsheiligen Mūlay IsmāÝīl im 18. Jahrhundert erbaut wurde, geht es offensichtlich um die Bindung an und die Repräsentation eines symbolisch aufgeladenen Ortes: »Meknes«, von dem die Rapper singen, vor dem sie inszeniert und mit dem sie identifiziert werden. In dem Musikclip zeigen sich die Sänger im Rapper-Gestus, unterbrochen von Breakdance Szenen. Der Refrain, der mit den Worten »Kullna Maġraba – (Wir sind alle Marokkaner)« beginnt, wechselt sich mit Soloeinlagen der Bandmitglieder ab, die Namen wie »Sif Lsan«, »HB 2«, »Ter al-Hour«, und »Otman« tragen, und in den Kostümen der ‘Aisāwa vor einer aufspielenden Bruderschaft gezeigt werden. Letztere sieht man in traditioneller, marokkanischer Kleidung, der Êillabas (Marokk. Pl. Êlaleb), Kopftüchern und den traditionellen Schlupfschuhen die Musikinstrumente der Bruderschaft spielen. Bei ihnen sind Fahnen der Bruderschaften aufgestellt. Abbildung 2: Ein Sänger der Rap-Gruppe »H-Kayne« im traditionellen Kostüm vor einer Bruderschaft im Musik-Filmclip »Isawa-Style«.

Quelle: You Tube 2006

16 Vgl. 2M (2008), http://de.youtube.com/watch?v=j96y9GPygk8&feature =related, 26.05.2008. 141

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Diese Inszenierung entspricht den Auftritten der Bruderschaften im öffentlichen Raum, aber auch auf Internetseiten, auf denen sie für ihr Engagement durch marokkanische Migranten werben.17 Aus den unterschiedlichen Textversionen des Liedes, die im Internet kursieren, kann im Abgleich mit Konzertmitschnitten und Befragungen von Muttersprachlern, die sich auf meine Bitten den Filmclip anschauten, folgender Text erstellt werden:18 »‘Aisāwa -Style« Refrain (Wir sind) alle Marokkaner,19 H-Kayne, was gibt's, mit dem ‘Aisāwa-Rhythmus steigt ğedba auf20, steh auf da. Wir bringen alles durcheinander und kommen hoch ahiya ahiya ahiya nouvelle impacte, H-Kayne, auf dem Rhythmus der ‘Aisāwa, kompakt, beweg Dich nicht so, beweg' Dich, Rap, grün und rot [marokkanische Nationalfarben], ahiya, ahiya Sif Lsan [wörtlich: Schwertzunge]: H-Kayne, Wer sind die Marokkaner, mein Herr, damit Du weißt, dass ihre Stadt aus Meknes ist, geh, und, damit ich es Dir besser klar machen kann, komm zur rue de Paris [der kleinen Fußgängerzone in der französisch erbauten Neustadt in Meknes, an der sich »die Gymnasiasten treffen«] und sperr Deine Ohren auf, hör die Melodie, Du wirst ein Mann sein, die marokkanische Sprache, höre die Worte eines Mardi [einer, der mit dem Segen der Eltern handelt]: Fahre fort mit der Melodie der ‘Aisāwa – sie lässt Dich schwelgen in den Bedeutungen von Meknes, dort bleibst Du stecken und wenn Du kapierst, was es 17 Vgl. Zillinger, Martin: »Folklore und Passion. Marokkanische Hochzeiten und transnationale Öffentlichkeit«. In: Migration und religiöse Dynamik. Ethnologische Religionsforschung im transnationalen Kontext, hg. v. Andrea Lauser/Cordula Weissköppel, Bielefeld 2008, S. 217-244. 18 Ich bedanke mich insbesondere bei stud. phil. Mohamed Amjahid, Meknes-Tübingen, mit dem ich in vielen Stunden diesen und andere Musikclips angeschaut und diskutiert habe und dessen Ideen im Laufe unserer Transkriptionen und Übersetzungen meine Überlegungen bereichert haben – ohne, dass er notwendiger Weise mit der hier vorgestellten Analyse einverstanden sein muss. Für den Text vgl. www.raptivisite.net, 01.01.2009. 19 Auf einigen Texten im Internet findet sich die Umschrift Lkoul al-mġarba, das etwa als »alle Marokkaner« zu übersetzen wäre. Bei Live-Mitschnitten allerdings singen die Sänger ganz deutlich »kullna Maġarba« und so wurde es von drei weiteren Muttersprachlern verstanden, die ich unabhängig von einander dazu befragt habe. 20 In den Ritualen der Bruderschaften steht die Dämonin oder der Dämon auf, der in der Trance, der ğedba, ausagiert wird. 142

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ist, wirst Du verletzt [davon] gehen [d.h. weil sie Dich tief im Inneren berührt]. Ohne fortzufahren es ihm zu erklären, die Wörter sind klar, mit dem flow. Wechsel den Rhythmus. Die, lass sie immer in Bewegung, mit Deiner Hand mach so. H-Kayne, verrückt im Rap immer so ooo. HB 2 Oh Wahrsagerin (Devine), die abschiebt21 immer wieder von neuem, die Dich aufbringt22 mit Klasse aus Meknes, um die Latte höher anzulegen, hebe Deine Arme, Wahrsagerin, die Dich in Dein Leben verschifft, und die Dich einwickelt ohne nach Deiner Meinung zu fragen, ‘Aisāwa-Style, Wahrsagerin, es sind die Gleichen, die zurückkommen, die ihre Latten nicht [woanders] hin hängen, um ihr Geld [wörtlich: paille] zurückzuhalten, die ihre Freunde mit sich nehmen23 H-Kayne, Krach. Refrain: Wir sind alle Marokkaner, H-Kayne, was gibt's, mit dem ‘AisāwaRhythmus … Ter al-Hour [grob: freier Vogel] Vergiss die Probleme, jetzt, und tanze mit uns, ich bin Dein Bruder, was ist schon dabei, wenn Du tanzt, fehlt Dir etwas? Komm näher, komm zu uns, hier, verdreh' Dich more steh auf von dort, sag, dreh, das macht mir Freude, ohne dass Du die Sache noch verknotest, die Melodie ist klar, das macht Spaß, alle werden von der Musik ergriffen, nur Du bleibst alleine zurück, hier nimm [hak], nimm [qbet], nimm [šed], nimm [ḫud], ich bin Dein Bruder, das ist ein veränderter Schatz, Schätze, die uns und Euch unsere Großväter hinterlassen haben, jeder, der darin sucht, und seine Augen daran abnutzt, gewinnt, frage nur, wir zeigen Dir, wo Du langgehen musst, die Melodie der ‘Aisāwa, und ahiya ahiya. Otman Kinder, es ist immer noch die Nation [berberisch: fsiweġlan] und ich schreibe und ich fahre fort aufzuschreiben und »daym allah« »Gott ist ewig«, ja Leute, in meinem Leben ist alles auf ihn geschrieben, oder hat es aufgehört vorher bestimmt24 zu sein? Steh auf, fahre fort, aufzuschreiben. Sieh, ich bin Dein Bruder, ich bin Dein Bruder beim Zoll. Sie, fass, bring es zusammen, dreh al-hitya [?] Sif Lsan Du sagtest, H-Kayne haben uns mit der Melodie der ‘Aisāwa [und] mit den Großvätern die hundert Prozent marokkanischen Wurzeln [3rouk] aus Meknes

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Wörtlich: debarquer, also »ausbootet/an Land setzt«. Wörtlich: qui te braque, deswegen auch »angreift«. Wörtlich: s'empare leurs MES MEC. Wörtlich: geschrieben. 143

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gebracht [Ýarūq meknassiya und miya fel miya meġribiya]: allah daym, alle sagen allah daym aha eheheheheh Refrain: Wir sind alle Marokkaner, H-Kayne, was gibt's, mit dem ‘AisāwaRhythmus … (2x)

Das Lied, das sich durch die Wahl der Stilmittel (RAP), der Kleidung (Gangsta-Rap, Jugendkultur) und der Sprache (Marokkanisch-Arabisch der Jugendkultur, Französisch) in einer globalen Moderne, bzw. als lokalisierte, »parallel modernity«25 verortet, beginnt im Refrain mit einem Bekenntnis zur marokkanischen Identität: kullna Maġarba – wir sind alle Marokkaner. Es behauptet »alles durcheinander zu bringen« und in diesem Durcheinander der Jugend eine Stimme zu geben, die sich in den marokkanischen Nationalfarben und dem »traditionellen« Rhythmus der Musik der ‘Aisāwa-Bruderschaft erheben. ğedba: die wilde Party, wie das Jugendliche heute übersetzen, ist eigentlich die rasende Trance, in der die Trance-Tänzer ihre Glieder wild schütteln (iÊedbu) und die Besinnung verlieren, während in ihnen ein Dämon hoch kommt und von ihnen Besitz ergreift. Das Durcheinander wird im Kontext der Bruderschaften als rituelle Inversion der sozialen Ordnung geduldet: die Vermischung von Frauen und Männern im Trance-Tanz schafft im Lärm der Musik einen sozialen Freiraum auf Hochzeiten und Besessenheitsritualen, auf den hier angespielt wird. In der ersten Strophe rappt der Sänger mit dem Namen »Schwertzunge« von der Stadt, aus der die Marokkaner kommen: Meknes, der Stadt, in der im 18. Jahrhundert die Macht der (heute noch herrschenden) Alawiden-Dynastie durch den Sultan Mūlay IsmāÝīl ihr Zentrum und ihre Blüte gefunden hat. Meknes ist die Stadt, von der aus im kulturellen Gedächtnis Marrokkos unter der Herrschaft IsmāÝīls die europäischen Kolonialisierer weitgehend aus Marokko verdrängt wurden. In Íamriya, an einem Ort des kulturellen Konflikts und der kulturellen Durchmischung, eine von den Franzosen erbauten Neustadt von Meknes, treffen sich die Kinder der Mittel- und Oberschicht in einer Fußgängerzone: Hier hören sie die lokalen Melodien und die lokale Sprache und werden in diesem lokalen Kontext und mit dem Segen der Eltern zu Männern. Diese Meknessianischen Bedeutungen [mÝani meknassia] müssen einem nicht erklärt werden, sie ergreifen einen und machen einen verrückt – so wie

25 Larkin, Brian: »Indian Films and Nigerian Lovers: Media and the Creation of Parallel Modernities«. In: The Anthropology of Globalization. A Reader, hg. v. Jonathan Xavier Inda/Renato Rosaldo, Oxford 2002, S. 406-440. 144

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die Trance die Anwesenden ergreift, ohne, dass sie etwas dagegen tun oder es erklären könnten. In der zweiten Strophe von HB2 wird die šuwafa besungen, die Seherin (la devine), die mit den Kontexten der Bruderschaften in Verbindung gebracht wird und die in Volksliedern Marokkos häufig besungen wird – die šuwafa wird aufgesucht bei Liebesproblemen, Berufswünschen, gesundheitlichen Krisen und Besessenheitszuständen. Mit ihren geheimnisvollen Referenzen – die Dämonen (von denen sie Informationen bekommen kann oder die durch sie sprechen), das böse Auge (das sie angesichts von Krisen diagnostiziert), die Knochen (die sie wirft, um Nachrichten über den Zustand eines Menschen zu erhalten) und die Mittelchen und Kügelchen, die sie einem mitgibt und die schaden und heilen können – wickelt sie einen ein, ohne, dass man sich ihr entziehen könnte oder nach der (eigenen) Meinung gefragt wird. Wahrsagerinnen werden häufig frequentiert, um Chancen auf Emigration auszuloten – wird jemand nach Europa übersetzen? ist die Vermittlung der marriage blanc, der bezahlten Heirat, verlässlich? werden wir an die notwendigen Papiere kommen? wie geht es den verschwundenen Familienmitgliedern in Frankreich, Belgien oder Deutschland? – doch hier werden sie adressiert, weil ihre Dienste nicht gebraucht werden, da die Freunde aus der Migration zurückkommen werden, ihre »Latte nicht woanders hin hängen werden« und ihre Freunde nicht vergessen haben, weil sie »die Gleichen« geblieben sind. Nach dem erneuten Refrain »kullna Maġarba« setzt der Sänger mit dem schönen Namen »freier Vogel« ein, und fordert zum Mittanzen auf, beschwört die familiäre Bindung »als Marokkaner« (ich bin Dein Bruder), der wie alle Marokkaner den Erfahrungshorizont der gemeinsamen Tänze und Trancetänze auf Festen teilt, in dem einen »die Musik ergreift«. Das ist »ein veränderter Schatz«, der von den Großvätern herkommt – er ist legitimiert, hat »Wurzeln«, die für den eigenen Gewinn eingesetzt werden können und die mit der Musik der ‘Aisāwa erfahrbar werden. In der vierten Strophe beschwört der Sänger »Otman« die Einheit der Nation mit dem berberischen Ausdruck »siweġlane« über die ethnischen Differenzen hinweg, die zwischen Arabern und Berbern in Marokko bestehen und die durch das Band des Islams aufgehoben werden: allah daym [Gott ist ewig], wie die ‘Aisāwa in ihren Umzügen singen, auf denen ich nachts auf öffentlichen Plätzen hunderte junger und alter Männer aus Marokko und der Migration in kommunaler Trance erlebt habe, die sich an den Händen halten und in der gemeinsamen Bewegung des Trancetanzes den Namen Gottes in die Nacht skandieren: allah!

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»Es ist alles geschrieben« (kullši maktūb) ist ein häufig gebrauchter Ausdruck in Marokko, der so viel bedeutet wie »es ist in Gottes Hand«. Weit entfernt davon, den von kolonialen Ethnographen konstatierten islamischen Fatalismus zu meinen, beschreibt dieser Begriff die göttliche Legitimation der weltlichen Ordnung, die dem Einzelnen seinen Platz in der Gemeinschaft zuweist und die im eigentlichen Sinne wesentliche Bestandteile seines Weges von Geburt bis zum Tod vorherbestimmt: Geburt, Tod, Gesundheit, Reichtum oder Armut sind in diesem Sinne maktūb.26 Doch wie »Otman« hier singt: »fahre fort aufzuschreiben«, ist der oder die Einzelne damit beschäftigt sich, in den solcherart gegebenen Verhältnissen zu situieren und seine eigene Stellung einer andauernden Prüfung zu unterziehen: »Ich bin Dein Bruder beim Zoll«. In der fünften Strophe bringen H-Kayne mit der Melodie der ‘Aisāwa und »den Großvätern« die hundertprozentig marokkanischen Wurzeln aus Meknes zu ihren Hörern. Die »Ýaruq« meinen die Abstammung, Ursprung, eigentlich: Adern, Wurzeln. Die wulād al-Ýaruq sind die Menschen guter Herkunft, an die man sich halten kann; so wie ein Sprichwort sagt: naÌud bint al-Ýaruq, maši bint al-Ìruq. Ich nehme ein Mädchen aus guter Familie (auch wenn sie arm ist), nicht eine ausstaffierte (die zwar schöne Kleider hat, aber von vulgärer Herkunft ist).27 Herkunft, Familien und genealogische Idiomatik thematisieren »Bindungen, auf die man zählen kann«, bei aller Freiheit diese zu gestalten. Sie bleiben ein zentraler Bezugpunkt im Leben der Menschen, der nicht unwesentlich für die Situierung in sozialen Netzwerken ist und die moralische Konnotation von Zurechenbarkeit und Einschätzbarkeit transportiert.28 Diese ‘aruq sind nicht nur im Wortsinn mit Orten verbunden. Sie sind Teil des ‘aÒl eines Menschen, der sehr genau bestimmt werden kann. ‘AÒl ist, schreibt der Ethnologe Abdellah Hammoudi, »a difficult word conveying the senses of origin, root, and place where the group manifested its existence first, all of which converged in a genealogy and its unfolding from an original ancestor and a place of origin«29. So haben mir Menschen in Rabat, Kenitra, Casablanca, Tübingen und anderswo 26 Vgl. Eickelman, D.F.: Moroccan Islam: Tradition and Society in a Pilgrimage Centre, S. 126. 27 Vgl. Iranqui-Sinaceur, Zakia: »Eintrag ‘aruq«. In: dies.: Le dictionnaire Colin d'arabe dialectal marocain, Rabat 1993-1995, S. 1254. 28 Vgl. Pandolfo, Stefania: Impasse of the Angels. Scenes from a Moroccan Space of Memory, Chicago 1997, S. 104 ff. 29 Hammoudi, Abdellah: »From Recognition to Political Nationalization: The Tribal, the Ethnic and Their Relation to the Moroccan State«. In: State Formation and Ethnic Relations in the Middle East, hg. v. Usuki Akira, Osaka 2001, S. 148. 146

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mit Bestimmtheit erklärt, ihr ‘aÒl sei Meknes, weil sie sich zu einem »Stamm« (qabila) zählen, der für sich in Anspruch nimmt, von dem Heiligen der ‘Aisāwa-Bruderschaft abzustammen.30 Diese Verortung schlägt sich bis heute in jährlichen Besuchen von Meknes zur Heiligenwallfahrt nieder, an der die Menschen als Kinder teilgenommen haben und von der sie jedes Jahr von ihren Verwandten erzählt bekommen, die dort Urlaub machen, ihre Netzwerke auffrischen und an den öffentlichen Spektakeln und Ritualen der ‘Aisāwa teilnehmen – und von denen sie sensationsheischend zu Hause erzählen. Ich konnte während meiner Feldforschung keinen Rückgang der Besucherzahlen auf diesen Heiligenfesten in den Bergen bei oder in Meknes feststellen,31 auch wenn die Anzahl der Bruderschaften selbst, die aus dem ganzen Land dort zusammenkommen zu Gunsten kleiner Gruppen, die rituelle Dienstleistungen anbieten, abzunehmen scheinen. Die Besucher aber reisen weiterhin aus der Migration an, um ihre Verwandten dort zu treffen, und sich in den liminalen Kontexten der Bergdörfer ihrer Identität zu versichern und spirituelle Erfahrungen zu machen. In ihrem »rot-grünen« Siegeszug – Rap rouge et vert wird ihre Musik in Anspielung auf die Nationalfarben genannt – inszenieren sich die vier jungen Männer der Band mit ihren Bewegungen, ihrer Kleidung und den Ketten, mit denen sie sich behängen, als »Gangsta-Rapper« nach USamerikanischen Vorbild, auch wenn ihre Musik eher von der französischen und arabischen Rap-Musik des Mittelmeerraums beeinflusst ist. Sie singen wie alle neueren Rap-Größen Marokkos in dariÊa, dem lokal variierenden, arabischen Dialekt, mit französischen Ergänzungen und arabisierten Wendungen, die für das Dialektal-Arabische Marokkos insgesamt so charakteristisch sind. In kürzester Zeit sind sie an die Spitze einer staatlich geförderten Jugendkultur gelangt, die BreakdanceFestivals und Gesangswettbewerbe umfasst. Soziale Konflikte werden in Grenzen thematisiert. Ihre Texte und Videos unterliegen der Zensur, so dass sie in ihren Liedern zwar Spannungen zwischen den Generationen thematisieren können, aber, wie einer der Bandmitglieder in einem Fernsehinterview defensiv meint: »Marokko ist nicht Frankreich und ist nicht der Westen: Fuck la police, das interessiert niemanden«32.

30 Für den problematischen Begriff des Stammes siehe Eickelman, D.F.: The Middle East. An Anthropological Approach, Englewood Cliffs 1981. 31 Die geschätzte Zahl von 60.000 Besuchern, die Crapanzano, Vincent: Die Ḥamadša angibt und von Welte, Frank M.: Der Gnāwa Kult konfirmiert wird, scheint mir 2005 und 2006 noch übertroffen worden zu sein. 32 Vgl. Arte (2005), http://de.youtube.com/watch?v=LJfnUS-uvuM&feature =related, 26.05.2008. 147

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H-Kayne wurde von zwei Marokkanern in Montpellier gegründet, von denen der eine ein in Frankreich aufgewachsener, erfolgreicher DJ ist und der andere dort studierte. Anders als in der Aufbereitung von (migrationsgeprägten) Jugendkulturen im Kontext der Rap-Musik häufig angenommen, ist ihre Musik jedoch nicht »aggressively deterritorializing and anti-nostalgic«33, sondern eröffnet einen spezifischen, kulturellen Erfahrungsraum mit expliziten Verortungen, mit dem sie in kürzester Zeit Teil der mainstream Populärkultur wurden. Wie auch bei anderen, unter Marokkanern sehr erfolgreichen Rap-Musikern wie BIGG haben wir es hier mit dezidiert lokalen Produktionen zu tun, die trans-nationale Prozesse umfassen und hervorbringen – ein Umstand, der für das Verständnis dieser kulturellen »bricolage«34 wichtig ist, insofern Theoretiker kultureller Hybridisierung häufig eine umgekehrte Blickrichtung verfolgen.35 Da den in Marokko lebenden Mitgliedern von H-Kayne das Einreisevisum zur Aufnahme im französischen Tonstudio verweigert wurde, sind die beiden Migranten der Gruppe kurzerhand nach Marokko gereist und haben in der Wohnung eines ihrer Band-Mitglieder in Meknes ihre ersten CDs hergestellt »und sie mit einem Bügeleisen eingeschweißt«, wie sie in einem Fernsehinterview berichten.36 Heute reisen sie mit anderen Hip-Hop-Bands quer durch Frankreich und Europa, wie nicht ohne Stolz von Marokkanern hervorgehoben wird. In den Einträgen auf You Tube finden sich unzählige Versicherungen ihres »echten marokkanischen Sounds« und Einträge von Auslandsmarokkanern und Menschen aus Meknes, die sich gegenseitig ihrer Identität und der Einzigartigkeit ihres Herkunftslandes bzw. ihrer Herkunftsstadt versichern. Ihr Auftreten steht für einen Gestaltungswillen junger Männer, die ihre Ansprüche im öffentlichen Raum artikulieren. Auch in den Bruderschaften konnte ich erleben, wie sich immer mehr junge Männer zusammenschlossen und auf den öffentlichen Markt der Musik und Folklore drängten, der bis vor wenigen Jahren noch streng durch hierarchische Strukturen gekennzeichnet war, in denen ältere und mächtige Männer Zugang zu diesen Kontexten als Gunsterweis gewährten. Viele 33 Gross, Joan/McMurray, David/Swedenburg, Ted: »Arab Noise and Ramadan Nights: Rai, Rap, and Franco-maghrebi Identities«. In: The Anthropology of Globalization, a Reader (2002), hg. v. Jonathan Inda/Renato Ronaldo, S. 221. 34 Nach Lévi-Strauss, Claude: »Die Wissenschaft des Konkreten«. In: ders.: Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1968 [franz. Orig. 1961], S. 11-48. 35 Vgl. Thomas, Nicholas: »Cold Fusion«. In: American Anthropologist 98/1 (1996), S. 9-16. 36 Arte (2005). 148

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der jungen ‘Aisāwa-Musiker, mit denen ich gearbeitet habe, treten mittlerweile erfolgreich auf internationalen Festivals der Ethno- und Weltmusik auf. Junge Marokkanerinnen und Marokkaner legen eine bemerkenswerte Kreativität an den Tag, ihre Alltagswelt mit Mitteln einer angeeigneten, globalen Moderne zu artikulieren und in die Zirkulation von Bildern, Nachrichten und Konsumkulturen einzuspeisen. Insofern ist die Bemerkung Bernard Lewis', die islamische Welt würde besonders in der musikalischen Kunst kulturellem Wandel als »Westernization« widerstehen37 einmal mehr die Kreativität des kulturellen »Bricoleurs« entgegenzuhalten, der »parallele Modernitäten« gestaltet. Die Inszenierung von H-Kayne als Meknessis im Staatsfernsehen und auf Videoclips greift dabei die Inszenierung lokaler Musiktraditionen und Trachten im marokkanischen Staatsfernsehen, auf Folklorefestivals und privaten Hochzeitsfeiern auf, die sich zu einer nationalen Kultur im transnationalen Raum verdichten. Die soziale Identifikationskraft, die ihr Lied nicht nur im Internet entfaltet hat, basiert auf der Evozierung kommunaler TranceErfahrung, mit der »authentische« marokkanische Kultur in Verbindung gebracht wird.

Staatliche Folklore, königliche Macht und okkulte Ordnungen Für das Königshaus bleibt es dringlich, diesen kulturellen Erfahrungsraum zu besetzen. Seit der Unabhängigkeitsbewegung hat es die königliche Familie geschickt verstanden, marokkanische Identität in der Gestalt des Königs zur Geltung zu bringen: Das ethnisch, sprachlich und kulturell stark variierende Marokko findet diesen Ansprüchen zufolge in der Huldigung seiner Person, in der Anerkennung seiner rituellen Führung und in der Unterwerfung unter seine vermittelnden Schiedssprüche zu nationaler Einheit.38 Angesichts von ca. drei Millionen Marokkanern und Marokkanerinnen, die im Ausland leben – immerhin 10 Prozent der Bevölkerung, deren finanzielle Rückflüsse in ihr Heimatland eine nicht zu ersetzende Einnahmequelle ausmachen (ca. 2 Milliarden Euro jährlich) – stellt sich für die Monarchie zunehmend die Frage, wie sie das Netzwerk

37 Vgl. Lewis, Bernhard: What Went Wrong? Western Impact and Middle Eastern Response, London 2002, S. 150 ff. 38 Vgl. Hammoudi, Abdellah: Master and Disciple. The Cultural Foundations of Moroccan Authoritarianism, Chicago 1997, S. 23. 149

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an Loyalitäten aufrechterhalten kann, das ihre Macht absichert.39 In Marokko selbst ist die Reisetätigkeit des Königs Programm: In allen Teilen Marokkos befindet sich ein Palast, der von einem großen Stab im ständigen Betrieb gehalten wird. Kommt der König in eine Stadt, wird diese herausgeputzt und die Straßen, wann immer er sich von A nach B bewegt, festlich geschmückt und für die wartenden Massen gesperrt. Die Bruderschaften stehen als Teil staatlicher Folklore über Stunden am Straßenrand und erwarten die Vorüberfahrt des Königs, um ihm mit ihren Gesängen zu huldigen. »Folklore«, ein über das Französische vermitteltes, englisches Lehnwort, bezieht sich im marokkanischen Sprachgebrauch auf die Ausstellungslogik religiös-kultureller Festkultur in Marokko.40 »Folklore«, Unterhaltung für Marokkaner und Europäer gleichermaßen, ist ein traditioneller Arbeitsbereich der Bruderschaften wie den ‘Aisāwa, die bereits 1867 bei der Weltausstellung in Paris auftraten41 und bis heute auf öffentlichen und privaten Feiern oder im Zirkus als Artisten auftreten. In der öffentlichen (Selbst-)verortung dieser Bruderschaften blenden taqālīd, (Tradition), ×aqāfa, (Kultur), und eben folklore ineinander über. Wie Schielke zu Recht betont, erstreckt sich im zeitgenössischen Arabisch der semantische Gehalt des Begriffs folklore auf den Bereich populärer Kultur (ša‘bī).42 Folklore bezeichnet so unterschiedliche Gegenstandsbereiche wie traditionelles Handwerk und ihre Erzeugnisse, populäre Malerei, die häufig Motive französischer Orientalisten aufnimmt oder populäre, traditionelle Musik und traditionelle Gewänder einer Region. Darüber hinaus bezieht sich Folklore aber auch auf die spektakulären Praktiken, die von den ‘Aisāwa »renowned for their selfmutilation«, bis heute in Nordafrika für »the edification of visitors in many a tourist centre« aufgeführt werden43 und deren Praktiken als

39 Vgl. Geertz, Clifford: »Die Dritte Welt. Vom Fanal der Revolution zur postkolonialen Realitätsbewältigung«. In: Lettre International 69 (2005), S. 51. 40 Für eine Studie zur Entstehungsgeschichte von Folk-lore in England aus den »popular antiquaties« im Austausch mit deutschen Forschern wie den Gebrüdern Grimm und der entstehenden Volks-Kunde, vgl. Dorson, Richard M.: The British Folklorists. A History, London 1999 [1968]. 41 Brunel, René: Essai sur la Confrérie Religieuse des ‘Aissaoua au Maroc, S. xi. 42 Schielke, Samuli: Snacks and Saints: Mawlid Festivals and the Politics of Festivity, Piety and Modernity in Contemporary Egypt, (Dissertation), Universität Amsterdam 2006, S. 174. 43 Hilton-Simpson, M.W.: »Some Notes on the Folklore of the Algerian Hills and Desert«. In: Folklore 33/2 (1922), S. 190. 150

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Folklore im öffentlichen Raum einen Ort finden – und dadurch auch dem Vorwurf einer häretischen »religious hysteria«44 entgehen. Um in dieser Hinsicht allerdings keine Überraschungen zu erleben, verlangt die staatliche Administration, dass sich Bruderschaften, die auf staatlichen Festivals auftreten wollen, registrieren lassen. So musste auch während meiner Forschung der neu gewählte Vorsteher einer Bruderschaft der Íamadša seine Gruppe eintragen, indem er einen Fragebogen der »Ministerialabteilung für Künste und volkstümlichen Ausdruck« ausfüllte, der bis ins kleinste Detail über die zur Aufführungen kommenden Praktiken Rechenschaft forderte und hier näher analysiert werden soll, da er die staatliche Administrierung der Trance-Praktiken der Bruderschaften deutlich werden lässt.45 Zuerst wird eine nähere Charakterisierung der Mitglieder (sind es Berufsmusiker oder haben sie noch andere Beschäftigungen?) und der Gruppe (was ist ihr offizieller Name und wann wurde sie gegründet?) verlangt. Dafür soll 1. die Tanzart bestimmt und ihre Bedeutung geklärt werden (der Vorsteher der Gruppe schreibt sehr treffend, »der Tanz ist eine Medizin für das Nervensystem und ein Tanz der schönsten Art«).46 2. Des Weiteren sollen die traditionellen (»Heiligenfeste«) und gegenwärtigen Kontexte der Aufführungen (generell: »Religiöse und nationale Anlässe und [Folklore-] Abende«; speziell: »familiäre Anlässe«) benannt werden. Die Hilfsmittel bzw. Musikinstrumente müssen angeführt und Teilnahmen an nationalen und internationalen Veranstaltungen angegeben werden. Zu den Inhalten werden weiterhin die Gesänge benannt (»Anrufungen Gottes [Æikr]«, »religiöse Liedgedichte [qÒāÝid]«47) und charakterisiert (individuell, zu zweit, in der Gruppe), der Anteil von Frauen und Männern bestimmt und die Posen der Tänzer angegeben (stehend oder sitzend? In einer Linie, im Kreis oder Halbkreis?). Die nun folgenden, kleinteiligen Beschreibungen der Körperbewegungen betreffen die in rituellen Kontexten Trance-induzierenden Techniken der Bruderschafen: Es geht um die »Beschreibung des Tanzes mit Verweis auf«: 44 Ebd. 45 Schon aufgrund der Kontroversen über häretische Praktiken wird peinlich genau darauf geachtet, das Ritual nicht mit Bildern unkontrollierbarer, religiöser Ekstase in Verbindung zu bringen, eine Beobachtung, die auch Hammoudi hervorhebt (Hammoudi, Abdellah: Master and Disciple, S. 181, Fn.6). 46 Die Antworten, die von meinen Informanten auf dem Fragebogen eingetragen wurden, sind hier im Text kursiv gesetzt. 47 Zu qÒāid vgl. Vocke, Sibylle: Die marokkanische Malḥūnpoesie, Wiesbaden 1990. 151

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die Bewegung des Kopfes (»natürlich«) der Schultern (»hoch und runter mit dem Rhythmus«) der Hände (»über Kreuz zwei auf zwei«) anderer Körperteile (»antwortet und redet mit dem Hšuš48«)

Nachdem die Kostüme beschrieben werden, die wichtige rituelle Funktionen übernehmen können – im Falle der Îendirāt befördern und verselbständigen die schweren Wollkleider die Bewegungen der Tänzer – und die Instrumente genau angegeben werden, muss »die Art des Takts [iqaÝ] und der musikalischen Melodien« genannt werden (»Takt fünf auf drei und zwei auf drei auf die Melodie des Instruments«). Zum Schluss werden die »Wörter«, also die Gesänge charakterisiert. Die Fragen nach dem Takt und die Erfassung der dazugehörigen Kopf- und Schulterbewegungen sind der staatliche Versuch, die Trance-auslösenden Körperpraktiken der Bruderschaften zu erfassen und zu regulieren. In die kommunale Trance finden die Tänzer in der gemeinsamen Bewegung während des Rituals. Dabei schnellt der Kopf bei geübten Trance-Tänzern immer schneller auf und ab bis sich die Bewegung jenseits bewusster Kontrolle verselbstständigt. In wilder Trance scheren diese Tänzer aus der gemeinsamen Bewegung aus und agieren sie bis zu ihrem Zusammenbruch aus. Die Fragen der Regulierungsbehörde sind Ausdruck von Vorsicht, nicht mit besonders ekstatischen Gruppen und Praxen in Verbindung gebracht zu werden. Und doch bleibt dieses ekstatische Substratum auch bei den ästhetisierten Formen staatlicher Folklore wichtig, wie der Ablauf einer dieser Registrierung unmittelbar folgende Prozession vor dem marokkanischen König zeigt: Der Umzug im Jahr 2006 erstreckte sich über mehrere Stunden. Wie die ‘Aisāwa hatten die Íamadša ein Opfertier bei sich, das die Prozession begleitete und den Brauch aufgriff, dem König im Austausch für seine Präsenz ein Opfer darzubringen. Die kleine Ziege, die der Bruderschaft von einem fonctionaire gespendet worden war, blieb weit hinter dem Wert eines anderen Opfertiers im Umzug zurück, hatte aber offensichtlich als eine Art Maskottchen bei den Zuschauern für großes Aufsehen gesorgt, wie der Vorsteher der Gruppe, ‘Abd el-WaÎad, zufrieden feststellte, als wir uns zusammen die Filmaufnahme der Prozession ansahen.49 Vor der Prozession entlang gingen zwei Mitglieder der

48 Damit ist hier die dreiseitige Bassgitarre der Ḥamadša gemeint. 49 Da ich unmittelbar vor der Prozession zur Geburt meines Sohnes nach Deutschland geflogen bin, basiert die folgende Beschreibung auf den Erzählungen meiner Informanten und der Analyse von Filmmaterial, dass diese selbst hergestellt haben, so wie auf der teilnehmenden Beobachtung 152

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Bruderschaft, Said und sein Bruder, die mit einem Plastikdolch an einem langen Stock und einer Tonschüssel ausgerüstet waren. Im Takt der Musik deuteten Said und sein Bruder den taflāq, den rituellen Schlag gegen den Kopf an, mit dem sich auf Ritualen in rasender Trance, der Êedba, die Kopfhaut mit einem Messer zerhackt wird, oder mit dem Kopf Tonkrüge in Stücke zerschlagen werden – nur dass Said einen überdimensionalen Plastikdolch verwendete und sein Bruder die Tonschüssel in die Luft warf und sie wieder auffing. Sie kommen aus einer Familie, in der einige Mitglieder unter Besessenheit leiden. Said selbst hat sich als Halbwüchsiger in Trance die Arme »für [den Dämon] Sīdī Íammu« zerschnitten. Hinter den beiden gingen die Musiker mit den schweren großen Schultertrommeln (gwāl) und den kleinen Handtrommeln (taÝriÊa). Zum Schluss kamen die beiden Oboen [ġiāÔ]-Spieler auf Maultieren. Abbildung 3: Die rituelle Selbstverletzung als rituelles Zitat, Meknes 2006 (Standbild aus einer Filmaufnahme)

Diese Umzüge sind physisch sehr anstrengend. Nach stundenlangen Zeiten des Wartens schultern die Musiker auf ein Zeichen der Administratoren ihre Instrumente und stellen sich in Position. Die schweren Schläge der geschulterten gwāl übertragen sich unmittelbar auf den

von verschiedenen anderen Prozessionen, an denen ich im Laufe meiner Feldforschung teilgenommen habe. 153

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Körper, der sich rhythmisch in Bewegung setzt. Kontrapunktisch verbinden und erweitern die kleinen Handtrommeln diesen Grundton, von hinten erklingen die Oboen mit ihren grenzenlosen Melodie-Variationen. Während die Oboenspieler ohne abzusetzen ein- und ausatmen müssen und ohne Pausen über Stunden die Luft durch sich strömen lassen, heben die Trommelspieler ihre Fersen (in den traditionellen Schuhen, den belġas wird das Gewicht außerdem auf den Vorderfuß verlagert) und lassen sie im Gleichschritt zu den Rhythmen ihrer Instrumente auf den Boden schnellen. Sie werden von dem Rhythmus getragen, so dass es gleichsam nicht sie sind, welche die gwāl schultern, sondern die gwāl, die ihre Träger schultern und durch den Ritus tragen.50 Die Íamadša werden eingerahmt von einer weiteren Trance-Bruderschaft, den Gnāwa,51 die ihnen vorweg geht und den ‘Aisāwa, die ihnen folgen. Auch die ‘Aisāwa inszenieren ihre Trance-Tradition, indem sie den Æīb, den Schakal, vorweg laufen lassen. Der Schakal wird von Männern dargestellt, die während des Rituals eine Tiertrance durchleben. Anders als die Männer und Frauen in der Trance der Löwen – die auf dem Höhepunkt der Trance noch lebende, gerade geschächtete Schafe oder Ziegen zerreißen – und Kamele – die in Trance Feigenkakteen essen und sich in ihren langen Dornen wälzen52 – zeichnen sich die »Schakale« im Ritualverlauf durch die »bloße« Verkörperung magischer Kräfte aus, die sie vor dem Übergriff der rasenden »Löwen« schützen: Sie legen sich flach auf dem Boden und lassen sich von den Löwen abtasten, die sie bei dem geringsten Anzeichen von Leben in Stücke reißen, wie mir immer wieder erklärt wurde.

50 Vgl. Connor, Steven: »Edison's Teeth: Touching Hearing«. In: Hearing Cultures. Essays on Sound, Listening and Modernity, hg. v. Veit Erlmann, Oxford 2004, S. 153-172. 51 Vgl. Welte, Frank M.: Der Gnāwa Kult. 52 Vgl. Brunel, René: Essai sur la Confrérie Religieuse des ‘Aissaoua au Maroc. 154

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Abbildung 4: Ein »Schakal«, der sich durch einen, mit Spiegel und Glühbirnen behangenen Hut kenntlich macht, Prozession um 1920 in Meknes.

Quelle: Brunel, René: Essai sur la Confrérie Religieuse des ‘Aissaoua au Maroc, Paris 1926. Der auf dem historischen Photo des Schakals zu erkennende Hut mit den Spiegeln und Glühbirnen, Insignien magischer Potenz, war »früher« das »Erkennungszeichen« der Schakale beim Heiligenfest zum Prophetengeburtstag, dem mīlūd, wie mir erzählt wurde. Die Spiegel dienen, wie auch die vielen Spiegelplättchen an den wollenden Umhängen der ‘Aisāwa dazu, den bösen Blick zurückzuwerfen, während die Glühbirnen die magische Kraft im Körper des Trance-Schakals zur Darstellung bringen. Insofern zur Jahrhundertwende, als diese Insignien magischer Potenz aufkamen, elektrisches Licht in marokkanischen Häusern die Ausnahme war, kann diese zur Schau-Stellung zugleich als Aneignung und Neutralisierung der fremden, elektrischen Kraft gelten, in dem sie in die magische Macht der Trance integriert wird.53 Der Rückgriff auf diese lokalen Traditionen in gegenwärtigen Folklore-Veranstaltungen ist zugleich Ausdruck von ritueller Aneignung wie kulturelle Beharrung gegenüber

53 Vgl. dazu Behrend, Heike: »Zur Medialisierung okkulter Mächte: Geistmedien und Medien der Geister in Afrika«. In: Gespenster. Erscheinungen-Medien-Theorien, hg. v. Moritz Baßler/Bettina Gruber/Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2005, S. 201-214. 155

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einer globalen Kulturindustrie und ihrer magischen Medien und Poten(z)tialitäten. Abbildung 5: Ein »Schakal«, der sich durch einen mit Spiegel und Glühbirnen behangenen Hut bei einer Prozession vor dem König kenntlich macht, Meknes 2006 (Standbild aus einer Filmaufnahme).

Ähnlich wie die beiden Brüder, die mit ihrem Plastikdolch und dem kleinen Tonkrug dem Zug vorweg liefen, ist der »Æīb«, der Schakal, als rituelles Zitat gedacht, das auf die Trance-Rituale der Bruderschaft verweist und eine »Folklorisierung« der dissoziativen und blutigen Praktiken darstellt. Dabei sind sowohl die rituelle Selbstverletzung als auch die Trance in Form von Tierdarstellungen weiterhin feste Bestandteile in häuslich ausgerichteten Ritualen bestimmter Gruppen, mit denen ich gearbeitet habe. »Das war die Idee von muqaddim Karim [dem Vorsteher]«, bemerkte der Vorsteher der Íamadša-Bruderschaft in leicht enerviertem Ton, als wir das Video zusammen anschauten und der »Schakal« mit dem charakteristischen Hut in den Blick kam – der Vorsteher der ‘Aisāwa hatte im rituellen Wettstreit zumindest gleich aufgeschlossen. Welche Bedeutung hat nun diese Folklore für die Produktion und Erfahrung eines kulturellen Raums? Welche Erfahrungen werden in diesen folkloristischen Verfeinerungen von den Ausführenden gemacht und welche Bedeutungen werden für Außenstehende transportiert?

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Beim Umzug zur Huldigung des Königs scheint mir die rituelle Erfahrung der Teilnehmer zentral zu sein, die an die Zuschauer, den König und die Honoratioren kommuniziert wird und über die Zirkulation von Filmaufnahmen auch abwesende Marokkaner im In- und Ausland erreicht. Zuallererst ist es eine Autokommunikation, die hier im Zentrum der Durchführung steht, deren Erfahrung darin besteht, dass sich die Teilnehmer einer rituellen Verlaufsform unterwerfen, die sie nicht selbst bestimmen – und die im Falle dieser staatlichen Rituale durch eine Vielzahl an administrativen Abläufen und öffentlichen Erwartungen abgesichert ist: der Zwang sich formal zu registrieren und die rituelle Praxis in ein Schema einzupassen, die Kontrolle aller Teilnehmer und ihrer Erscheinung durch den Provinzgouverneur und die »Eventmanagerin«, die für diesen Zweck beauftragt wurde, aber auch die dem Anlass entsprechende Ausstattung der Gruppe durch wohlhabende Gönner, wie im Falle der Íamadša-Bruderschaft durch den Fonctionaire, der sich mit der Spende des Opfertiers zugleich dem Gouverneur empfiehlt (er trägt zum Gelingen der Veranstaltung bei, die wiederum ein Mosaik-Steinchen in der Empfehlung des Gouverneurs gegenüber dem König ist), und schließlich die formative Kraft des common sense, wie eine Veranstaltung vor dem König stattzufinden hat (und ekstatische Praxen als rituelle Zitate zur Aufführung kommen lässt) sowie der rituelle Wettstreit der teilnehmenden Gruppe im öffentlichen Raum tragen dazu bei, dass die Veranstaltung der »kanonischen Ordnung«54 entspricht, die sie zugleich inszenieren soll. Wie Rappaport hervorhebt, wird Effekten ritueller Formierungen von den Teilnehmern eine Wirkkraft zugestanden, die sie antizipieren, aber nicht so erfahren, als würden sie diese selbst hervorbringen.55 Diese Einsicht führt letztlich auf Emile Durkheim und seine These zurück, nach der die Menschen in Ritualen sich selbst als Gemeinschaft hervorbringen. Die formal-kausale Wirkkraft aufeinander folgender, ritueller Sequenzen bindet die Teilnehmer in eine rituelle Verlaufsform ein, und hebt sie – frei nach Durkheim – über sich selbst hinaus.56 Daneben liegt die Kraft eines Rituals zur sozialen Selbstverständigung in seiner Performanz – die zugleich Gegenstand und Modus ritueller Kommunikation ist. Wie in Narrativen von Sozialverträgen oder

54 Rappaport, Roy: »The Obvious Aspects of Ritual«. In: ders: Ecology, Meaning, and Religion, Berkeley 1979, S. 179. 55 Ebd. 56 Vgl. Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981 [franz. Orig. 1912], S. 560 ff. 157

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Gründungsmythologien,57 fallen Erzählung und Erzähltes in der rituellen Performanz zusammen und machen eine Selbstverständigung über Legitimität und Grund sozialer Verfasstheit möglich. Deswegen kann Rappaport schreiben, Ritual sei »the basic social act« – und Sozialvertrag, Moralität, Konzepte des Heiligen und des Göttlichen, ja selbst das Paradigma von Kreation Teil der Ritualstruktur.58 Zugleich werden Rituale immer »für Andere« konzipiert und ausgeführt, wie Baumann herausgearbeitet hat,59 wodurch diese Formen der Selbstdarstellung in den pluralen Kontexten der Migration besonders interessant werden. In der ÎaÃra, der »Vergegenwärtigung« [ÎaÃāra] im rituellen Verlauf, kommen die Menschen durch die Lieder und Gesänge, die Tonfolgen und Körpertechniken in die Gegenwart des Propheten, der Heiligen und der Dämonen und die diesseitige in die Gegenwart der jenseitigen Welt. Der König führt diese Übergänge in der umgreifenden Ordnung des Rituals an, wie er alle liminalen Kontexte der sakralen Topographie Marokkos durch administrative Ordnung, finanzstarke Zuwendungen in Form von Opfern und Stellvertretern oder seine Präsenz umgreift. Die Bewegungen der Musiker sind streng konzertiert, um nicht beständig aus dem Rhythmus zu fallen, der Blick geht im Falle der Schulterntrommel starr geradeaus und über Stunden ziehen die Männer die Straße entlang mit dem einen Ziel vor Augen: vor dem König zu bestehen, in seine Präsenz zu kommen und vor ihm Träger und Medien dieser mystischen Rhythmen zu werden, die seinen »Großvater«, den Propheten, besingen und die Dämonen besänftigen. Der »Îāl«, der Zustand religiöser Ergriffenheit, glückt, wenn die Ritualteilnehmer »synaesthetisch« im rituellen Verlauf »verfertigt« werden, wie religiöse Passion als pathos am ehesten zu fassen ist.60 Vor den Íamadša drehen und wenden sich die qarqaba-Spieler der Gnāwa, 57 Vgl. Koschorke, Albrecht: »Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung«. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003, hg. v. Walter Erhart, Stuttgart 2004, S. 174-185. 58 Rappaport, Roy: The Obvious Aspects of Ritual Rappaport, S. 174. 59 Baumann, Gerd: »Ritual implicates ›Others‹: Rereading Durkheim in a plural society«. In: Understanding Rituals, hg. v. Daniel de Coppet, London 1992, S. 97-116. 60 Vgl. Busch, Kathrin/Därmann, Iris: »Einleitung«. In: dies. (Hg.): Pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007, S. 7-32; Schüttpelz, Erhard: »Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeiten des Denkens in Operationsketten«. In: Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, hg. v. Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz, Frankfurt a.M. 2008, S. 234-258. 158

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gehen in die Hocke und springen wieder hoch und hinter ihnen führt der »Trance-Schakal« die Gruppe der ‘Aisāwa an, die sich, in der Reihung untergehakt, in Tanzschritten vor und zurück bewegen, und sich verstärkt durch die wallenden, schweren Gewänder in die Dissoziation der gemeinsamen Bewegung bringen, und den Namen Gottes vor sich her tragen: allah daym! (Gott ist ewig). Diese »kanonische Ordnung« des Rituals, um im Duktus Rappaports zu bleiben, wäre bedeutungslos, wenn sie nicht fest im common sense verankert wäre, ein common sense, der durch das Ritual zugleich immer wieder neu evoziert und induziert wird. Nicht nur die rituelle Unterwerfung schreibt sich in den außer-rituellen Kontexten fort und übersetzt sich in die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Alten und Jungen, Reichen und Armen, Handwerkern und Angestellten.61 Frei nach der Hocartschen Formel, das in dem Prinzipal des Rituals die lebensspendende Quelle selbst, das »Okkulte«, verehrt und antizipiert wird,62 muss sich außerdem die baraka des Königs über das Ritual hinaus in den Zuwendungen an seine Untertanen erweisen. Als »lebensspendende Quelle« muss sich seine Anwesenheit in Arbeitsplätzen manifestieren, die durch die Stadtverschönerungen geschaffen werden, die seine Ankunft vorbereiten, in Entwicklungsprogrammen und Hausbauten, die er anstößt, sowie in zeitgemäßen Formen der Konsumtion und Emanation der staatlichen Medien. Die Mitglieder der Bruderschaften verdienen bei einem Umzug vor dem König pro Kopf 400 € – eine Summe, die einem dreieinhalbfachen Monatsgehalt eines angestellten Handwerkers entspricht. Die Legitimierung seiner Herrschaft geschieht in doppelter Hinsicht und wirkt, weil beide Aspekte ineinander fallen: es funktioniert als eine Gründungserzählung, deren symbolische Kraft bis heute vom Königshaus für sich in Anspruch genommen wird (die nationale Einheit des Landes zu garantieren) und beschwört durch die Folklorisierung zugleich die Authentizität und Modernität dieser Traditionen: Indem der König sich gleichsam im Zentrum dieser Modernitäten situiert, inszeniert er sich als oberster Produzent einer lokal angeeigneten, globalen Konsumkultur, die sich in Touristen und internationalen Kulturfestivals manifestiert und auszahlt sowie die Lebenswelten in Marokko und der marokkanischen Migration umgreift.

61 Vgl. Hammoudi, Abdellah: Master and Disciple. 62 Hocart, Arthur M.: Kings and Councillors: an essay in the comparative anatomy of human society, Chicago 1970; vgl. Schnepel, Burkhard: »In Quest of Life: Hocart's Scheme of Evolution from Ritual Organization to Government«. In: Archives Européennes de Sociologie 29/1 (1988), S. 165-187. 159

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Eine Szene, in der Said sich in einer Umzugspause in gespielter Rage das Plastikschwert auf seinen Kopf schlägt, unmittelbar bevor die Bruderschaften den abgesperrten Bereich der königlichen Tribüne und Ehrengäste betreten, scheint mir dabei besonders aufschlussreich zu sein. Sie zeigt, dass die Teilnehmer sich bewusst sind, hier an einem Theater teilzunehmen, das zugleich eine Eigendynamik entfaltet. Rituelle Verläufe setzen sich nicht eins zu eins in die Habitus63 der Ausführenden um und können die soziale Wirklichkeit weder abbilden noch performativ fraglos hervorbringen. Es ist vielmehr diese skeptische, distanzierende Perspektive, die das Ritual als »Theater« entlarvt, und die das Königshaus zur Geltung nehmen und rituell integrieren muss, damit es performativ trägt – indem es sich touristisch inszeniert, dadurch zugleich authentisiert und finanziell für die Menschen der Stadt amortisiert. Beide Strategien, die Legimitierung qua Gründungserzählung und die Exotisierung einer eigenen »Tradition«, greifen aber letztlich nur, insofern sie in der »Charta« sozialer Grunderfahrungen wurzeln – die in den magischen Kontexten der Heiligenkulte aufbewahrt, verfremdet und in der TranceErfahrung zur Geltung gebracht wird.64 In diesen korpo-realen Erfahrungen der Trance kommen eigenständige Mächte zum Wirken – in der marokkanischen Kosmologie in der Regel die ğnun, gut-böse Geister, die psychische, physische und soziale Störungen hervorbringen und regelmäßig Opfergaben bzw. rituelle Handlungen zu ihrer Befriedung erfordern und zugleich Verstöße gegen die moralische Ordnung ahnden oder diese hervorrufen.65 In der Trance erfahren die Menschen die Macht dieser Dämonen, so dass der von Fritz Kramer ausgearbeitete Begriff der »passiones« geeignet erscheint, diesen »inversiven« Aspekt des Handelns zu fassen, den die ğnun verursachen und in dem sie zur Darstellung gelangen.66 Wie die beiden ersten Beispiele zeigen, wird dieser Erfahrungsmodus im Rap-Song medial

63 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976 [Erw. d. franz. Orig. 1972]. 64 Für den Begriff der »Charta« vgl. die klassische Definition bei Malinowski, Bronislaw: Korallengärten und ihre Magie. Bodenbestellung und bäuerliche Riten auf den Trobriand-Inseln, Frankfurt a.M. 1981 [engl. Orig. 1935]. 65 Vgl. Zillinger, Martin: »Wenn Dämonen ins Essen kotzen. Alltag und Magie in Marokko«. In: Alltag – PLURALE. Zeitschrift für Denkversionen 7 (2008), hg. v. Schamma Schahadat, S. 101-129. 66 Kramer, Fritz: Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika, Frankfurt a.M. 1987, S. 64. 160

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repräsentiert, in den folkloristischen Darstellungen evoziert und in spezifischen Körpertechniken induziert. Mit zunehmender Begrenzung der Öffentlichkeit, mit zunehmender »Intimität«, eröffnet sich auch für die weiteren Teilnehmer an diesen Ritualen ein Raum, diese Zustände in den Trancetänzen auszuleben und sich aktiv einer rituellen Verfertigung zu unterziehen. Bei privaten Feiern von Transmigranten dienen die rituellen Darbietungen der Bruderschaften und ihre Trancetänze der Demonstration kultureller Kompetenz, mit der kulturelle Identität erfahrbar wird. Dies trifft besonders für Hochzeiten zu, die gerne mit Hilfe der Bruderschaften von den heimkehrenden und heiratenden Migranten gestaltet werden. Da ich diese Praxis andernorts ausführlich diskutiert habe,67 sollen nur die wesentlichen Punkte im Folgenden kurz vorgestellt werden.

H o c h z e i t e n , F o l k l o r e u n d P a s si o n Eine Bruderschaft, mit der ich eng zusammengearbeitet habe, wurde engagiert, um auf der Hochzeit eines, in den USA studierenden Paares die Gäste hoheitlich zu begrüßen: Über Stunden saßen wir in den wollenen Kostümen der Bruderschaft im Eingang und ließen die Gäste an uns vorbei defilieren, bevor ihnen von einem ‘abid, einem Bediensteten im traditionellen Aufzug eines königlichen Palastsklavens, die Tür zum exquisiten Hotel geöffnet wurde. Die festlich gekleideten Gäste machen dem Brautpaar und ihren Familien ihre Aufwartung und zelebrieren den Statuswechsel der Heiratenden in den sozialen Netzwerken der beiden Familien: Braut und Bräutigam präsentieren sich den Gästen auf einem Thron und werden im Laufe der Feier in kleinen Sänften geschultert, von denen sie Süßigkeiten werfen und den anwesenden Gästen zuwinken. Während beide im Takt der Musik durch den Saal und aufeinander zu getragen werden, wird ihre rituelle Erhöhung angezeigt und die Verbindung der beiden Familien symbolisch dargestellt. Hochzeiten sind Passageriten par excellence, in denen zwei Familien zusammengeführt werden, eine neue Familie gegründet wird und das Brautpaar eine neue soziale Stellung einnimmt.68 Angesichts von Migration und der Aufweichung sozialer Bindungen dienen die hoheitlichen Inszenierungen der Hochzeit der

67 Zillinger, Martin: Folklore und Passion. 68 Insofern gilt dies auch für die in manchen Teilen Marokkos verbreitete Parallel- bzw. Kreuzkusinenheirat. 161

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Wieder-Annäherung und Revitalisierung der sozialen Netzwerke in Marokko und im Ausland.69 Die Hochzeit wird unter mehrmaligen Kleiderwechseln von Braut und Bräutigam begangen, die im Laufe des Heiratsrituals unterschiedliche Rollen und Identitäten annehmen, bevor sie ihren, durch die Hochzeit initiierten, neuen, sozialen Status erhalten. Sie stellen ländliche Frauen aus dem hohen Atlas und Männer in traditionellen Êillabas (Marokk. Pl. Êlaleb) dar, sie verwandeln sich in einem phantasievollen Kleid im Stil eines indischen Sari zu Protagonisten aus den sauberen Herz-Schmerz Filmen aus Bollywood und werden schließlich zur weiß gekleideten, europäischen Braut und erfolgreichem Herr im schwarzen Geschäftsanzug, wie er im übrigen auch das Stadtbild prägt, wenn die Entourage des Königs Einzug hält. Sie repräsentieren verschiedene Formen »paralleler Modernitäten«70, die Öffentlichkeit in Marokko gestalten. Ihre Selbstinszenierung ist zugleich ein Kommentar über die Kräfte und Traditionen, die nationale Identität in Marokko zur Geltung bringen. Diese Kommentierung ist nicht zufällig mit der Hochzeit verbunden, zumal in einer Zeit, in der Diskussionen um das »allgemeine Wohl« an dieser privaten Sphäre ansetzen, an der Stellung der Frau, Heirats- und Scheidungsrecht, oder der Kinderzahl.71 Werden diese Bruderschaften als Folklore angemietet, sind es doch die Trance-Erfahrungen, die als Prüfstein für das Glücken des Festes dienen, wie ich mit der folgenden Beschreibung der, die eigentliche Hochzeit vorbereitenden Henna-Feier zeigen möchte: Der Einzug der Bruderschaft in das Haus der Braut löst die bis dahin mehr oder weniger eingehaltene Geschlechtertrennung auf, hinter den Musikern drängen die anderen, vorwiegend jungen Männer in den Raum und tanzen mit den weiblichen Gästen und Kindern, die mit der Braut auf die ‘Aisāwa gewartet haben. »I love you«-Luftballons schweben durch den Raum und wir, die Bruderschaft und »ihr Ethnologe« nehmen auf einer Stuhlreihe hinter Mikrophonen Platz. Männer der Familie stecken den Musikern 100 und 200 DH Scheine (ca. 10 und 20 Euro) an die Kleidung – ein Almosen (Òadaqa) und zugleich ein Opfer (Marokk. baraka) für die gelingende Hochzeit. Die Festgesellschaft tanzt. Und unter den strahlenden Menschen aus der Verwandtschaft, fangen einige alte 69 Ich beziehe mich mit dem Wort der Annäherung auf den zentralen Begriff der Nähe (qarāba), mit dem soziale Beziehungen beschrieben und bewertet werden (vgl. Eickelman, D.F.: Moroccan Islam). 70 Larkin, Brian: Indian Films and Nigerian Lovers. 71 In diesem Kontext sind besonders die Diskussionen um das reformierte marokkanische Heirats- und Scheidungsrecht zu erwähnen, die während meiner Feldforschung viele Menschen bewegt haben. 162

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und junge Frauen an, heftig zu atmen und ihr Gesicht schmerzhaft zu verziehen, sie fallen in Trance zu den Rhythmen der Bruderschaft. »Das ist normal«, erklärt mir eine Freundin später, »das muss so sein: auf einer Hochzeit muss alles durcheinander gehen«. Doch nicht nur der Ethnologe ist irritiert angesichts des Nebeneinander und Ineinander von Ausgelassenheit und den schmerzverzerrten Gesichtern beim Einsetzen der Trance, die in die wilde Trance, die ğedba, übergeht. Auch die Braut aus den USA schaut besorgt, sie versucht ein Zeichen zu geben – was nicht beachtet wird, da gerade niemand direkt neben ihr steht und sie Hände und Füße nicht bewegen kann, damit die Segen bringende Îenna Tätowierung nicht verschmiert. »Die reichen Leute aus Europa und den USA, die wollen das nicht, die wollen alles kontrollieren«, erklärt mir meine Freundin später, die selbst lange in Übersee gelebt hat. Und tatsächlich, auch auf einer zweiten Hochzeitsfeier, auf der ich die Bruderschaft begleitet habe, fallen Frauen in Trance und das Brautpaar springt entsetzt von den Stühlen auf und gibt Zeichen, den Rhythmus zu wechseln. Doch der Vorsteher entscheidet sich weiter zu spielen – die Besessenen brauchen ihren rīÎ, ihren Rhythmus, der den ğinn zufrieden stellen muss. Brechen Sie den Rhythmus ab, können die Frauen in eine kataleptische Starre verfallen, die nicht die Erleichterung einleitet, sondern einen krankhaften Zusammenbruch. Es ist diese Spontaneität der Trance und ihre Abseitigkeit, die sie zugleich als authentisch ausweist. Sowohl den staatlichen Stellen wie den Transmigranten ist es bewusst, dass die Bruderschaften als Heiler subjektiver, sich häufig körperlich äußernder Krankheitsszustände operieren. Diese werden durch gut-böse Geister, den koranisch belegten Ğnun verursacht, für die Rituale durchgeführt werden. Während der Rituale wird nicht nun auf den individuellen Körper des Betroffenen, sondern zugleich auf seine Umgebung, den sozialen Körper, eingewirkt. In diesem Bereich religiös-spiritueller Körpertechniken ist der Verweischarakter folkloristischer Repräsentation besonders wirksam – und ambivalent: Die Möglichkeit, einen scheinbar nicht politisierten, weil sensitiven Erfahrungsraum zu entdecken und zu beleben macht ihre folkloristische Darstellung besonders wirkungsvoll – sie verweist auf einen »authentischen« Bereich kultureller Praxis. Sie ist zugleich ambivalent, insofern sie sich auf traditionelle und deswegen, wie Mauss betont, auf sozial anerkannte und dadurch wirksame Techniken zur Einrichtung des Individuums bezieht, Techniken, die im intimen Bereich des Körperlichen und der individuellen Verortung im sozialen Raum ansetzen.72 Diese, in 72 Ich beziehe mich hier auf den Zusammenhang von Techniken, Tradition und Wirksamkeit, die Marcel Mauss in seinem Aufsatz zu Körpertechniken entwickelt: Mauss, Marcel: »Die Techniken des Körpers«. In: 163

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familiären oder nachbarschaftlichen Kontexten gepflegten Praktiken sind lokal kodiert und die Übersetzung der intimen Erfahrungen in den offiziellen Raum der Repräsentation ist weder immer erwünscht noch einfach möglich. Die Folklorisierung und Kommerzialisierung in den Rap-Videos, staatlichen Ritualen und überbordenden Hochzeitsfesten hat vordergründig nichts mehr mit dem »intimen Anderen« der eigenen Kultur zu tun, das vor den Augen des Ethnologen verheimlicht werden muss oder Quelle des Unbehagens ist, weil es als das »Andere der eigenen Kultur« einen widerständigen Bereich kultureller Praxis betrifft, der von unteren, sozialen Schichten betrieben73 und als touristische Attraktion gepflegt wird. Und doch wird gerade auch in diesen intimen, körperlichen Erfahrungen Öffentlichkeit verhandelt und strukturiert. Wie Michael Herzfeld mit dem Begriff der »kulturellen Intimität« herausgearbeitet hat,74 sind nicht alle Praktiken und Bedeutungszuschreibungen auf allen Ebenen eines offiziellen Diskurses darstellbar. In Anlehnung an den linguistischen Begriff der »Diglossie« – also der Differenz zwischen lokal gepflegten Dialekten und Idiomen auf der einen und einer offiziellen Hochsprache auf der anderen Seite – nimmt er mit dem Begriff der »Disemia«75 eine Dialektik in den Blick, mit der beispielsweise in Diskursen kommerzieller Folklore lokale Praktiken abgewertet und zugleich geschützt werden.76 Paradoxer Weise ist es also gerade die Missbilligung eines angeblich vormodernen Erfahrungsmodus in Modernitätsdiskursen der Aufklärung und Folklore, die ihn zugleich als authentisch ausweisen und im öffentlichen Raum kultureller Intimität verorten. Im Internet zirkulieren unterschiedliche Filme von Tranceritualen der ‘Aisāwa, bei denen auf diese Erfahrungen besonders hingewiesen und als »Excorcisme by issawa« veröffentlicht werden.

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ders.: Soziologie und Anthropologie 2 (1989), Frankfurt a.M., S. 199-220, bes. S. 205 f. Vgl. Crapanzano, Vincent: Die Ḥamadša, S. 29. Herzfeld, Michael: Cultural Intimacy. Vgl. Herzfeld, Michael: »Disemia«. In: Semiotics 1980, hg. v. Michael Herzfeld/Margot Lenhart, New York 1982, S. 205-215. Dabei sind die Bedeutungen, die kulturellen Praktiken zugesprochen werden, potentiell so vielfältig wie die Menschen, die diese Praktiken ausführen. John Davis hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eher von n-semia als Dis-emia zu sprechen sei, wodurch allerdings die differenzierende Kraft dieser Diskurse weniger genau auf den Punkt gebracht wird, siehe Davis, John: »Michael Herzfeld and Greece«. In: Anthropology Today 5 (1989), S. 18 f. 164

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Abbildung 6: Ein Mann fällt auf einer repräsentativen Veranstaltung der ‘Aisāwa (im Hintergrund) in Trance und wird in einen, für Blicke unzugänglichen Bereich des Raumes gebracht. Standbild aus einem, im Internet zirkulierenden Filmclip.77

Auf typische Weise versuchen die Angehörigen auf der hier abgebildeten Feier den in Trance fallenden Mann vor den Kameras wegzuschaffen und ihn vor der Veröffentlichung seines Zustands durch die filmenden Gäste zu schützen (neben den professionellen Kameraleuten sind Handys mit Filmfunktion allgegenwärtig). Als halb-öffentlicher Bereich dient das Fest der Trance bzw. dem jungen Mann als Arena, seine Beziehung zur Um- und Mitwelt zu kommunizieren, vielleicht auch einfach nur, um seine Krankheit darzustellen.78 Doch so wenig diese rituelle Erfahrung für die weltweite Öffentlichkeit gedacht ist, etabliert sie auf der Grundlage dieses gemeinsamen Erfahrungshorizonts einen intimen Bereich lokaler Praxis und kultureller Verortung. In dem Mikrobereich familiärer und im weitesten Sinne verwandtschaftlicher Beziehungen kommt ein Erfahrungsraum zum Tragen, der den öffentlichen, transnationalen Raum sozialer Beziehungen strukturiert, indem er zwischen »Insidern« und »Outsidern« auf unterschiedlichen Ebenen unterscheidet. Aus diesem Grund fallen in diesem Film-Clip die Besucher auf, die versuchen mit ihren Handy-Kameras den Zustand des jungen Mannes »einzufangen« und die Authentizität der Veranstaltung zu verifizieren. Die Verlegenheit, die 77 http://www.youtube.com/watch?v=eg-IyHFU2jE, 21.02.08. 78 Für Männer ist das Ausagieren von Trance tendenziell problematischer als für Frauen, da sie idealer Weise selbstbestimmt aufzutreten haben. 165

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die ekstatischen und zum Teil blutigen Praktiken der Bruderschaften gegenüber Fremden – seien es deutsche Ethnologen oder saudi-arabische Studenten – auslösen, zeigt, dass es für diese Praktiken keinen mit Außenseitern geteilten Diskurs und geteilten öffentlichen Raum der kulturellen Repräsentation geben kann oder soll. Als Erfahrungsbereich allerdings sind diese Kontexte Teil von Erzählungen und dienen der Regeneration kultureller Identität.

Riten der Regeneration Die Regression auf den Zustand der Trance, in der die Tänzer oder Besessenen die Kontrolle über sich verlieren und häufig in heftiges Weinen und Schreien ausbrechen, bevor der Dämon in ihnen vollständig Gestalt angenommen hat und im Trancetanz befriedet werden kann, ist gegenüber Außenseitern grundsätzlich peinlich. Das verstörende und zugleich regenerative Moment dieses Erfahrungsmodus wird vielleicht am ehesten an den ekstatischen, extremen Formen der Trance deutlich. Die Form der Tiertrancen, in denen die Menschen zu Löwen werden, die den, nach der Schächtung noch zuckenden Opferschafen die Leber herausreißen und roh verschlingen oder die Selbstverletzung in rasender Trance, bis die Trancetänzer blutüberströmt – aber geheilt – zusammen brechen, ermöglicht das Verlassen der sozialen Ordnung und individuellen Zu-Ordnung, um sich in der »Hitze der Trance« im Abseitigen und »wilden Anderen« der menschlichen Gemeinschaft zu regenerieren. Diese Extremformen der religiösen Ekstase und sensorischen Vermittlung des Transzendenten dürfen nicht Gegenstand von öffentlich zirkulierenden Film- oder Tonaufnahmen werden, noch weniger Bestandteil staatlicher Folklore oder prestige-trächtiger Familienfeste. Und doch geht es auch bei den gemäßigten und medial aufbereiteten individuellen Zuständen der Dissoziation um diesen Rückgriff auf körperliche Erfahrungen und Gefühle, die sich der menschlichen Gemeinschaftsordnung entziehen und zugleich in ihrer rituellen Einrichtung konstitutiv für sie sind. Die magischen Kräfte externer, wilder Mächte werden im Laufe der Trance-Rituale kultiviert und zur Heilung von Krisen fruchtbar gemacht. Letztlich geht es bei diesen Ritualen um Erneuerungen der Gesellschaft aus ihrem Gegensatz, wie von Fritz Kramer für agrarische Riten der Regeneration bei den Nuba herausgearbeitet wurde.79 Die segensreichen Kräfte, die in den heiligen Plätzen und Schreinen in Meknes und nahe liegenden Bergdörfern

79 Kramer, Fritz: »Praktiken der Regeneration. Baumgärten und agrarische Praktiken in Afrika«. In: Historische Anthropologie 8/3 (2000), S. 410-422. 166

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aufbewahrt sind,80 machen die Menschen »wieder gesund« und integrieren sie in die Netzwerke sozialer Gemeinschaft, wie am folgenden Beispiel einer Migrantin aus Frankreich deutlich wird: »Meine Mutter ist in Frankreich. Wenn sie hier ist, geht sie [los] und verflüssigt sich [verschwindet] für vier Tage. Eine Woche wissen wir nicht, wo sie ist. Dann kommt sie zurück, mit Geld, mit Zucker, die Leute geben [es] ihr [beim Betteln und versuchen mit diesen Almosen an dem segensmächtigen Zustand ihrer Regression teilzuhaben]. Dann geht sie zum Hamam [und reinigt sich in diesem öffentlichen Bad] und [dann] macht sie zemīta diel [des Heiligen] Sidi Ahmad [und verzehrt es mit ihrer Familie]«.81

Zemīta ist eine Speise von besonderer, ritueller Bedeutung. Sie wird aus Weizen und frischer Gerste hergestellt und für rituelle Zwecke – besonders das Fastenbrechen im Ramadan und für Frauen nach dem Gebären – gegrillt und mit Öl, Gewürzen und einer Prise Salz angerichtet. Dazu kommen Nüsse, Mandeln und Fenchelkörner, Zimt und etwas Zucker, Butter und manchmal das Fruchtfleisch von weichen Datteln. Die Zubereitung variiert typischer Weise nach Region und wird von vielen Menschen mit »ihrer Kultur«, »ihrer Tradition« und »ihrem ‘asl« in Verbindung gebracht – es transportiert Erinnerungen an Familienabende im Ramadan und Feste im Familienkreis. Auf ästhetisierten Ritualnächten so genannter höherer, der städtischen Kultur zugeschriebenen ‘AisÁwaBruderschaften werden stilisierte Trancetänze von »Löwen« über einem Teller mit zemīta durchgeführt, während der Zyklus von Säen und Ernten in einer qaÒida besungen wird. »Das, was von der zemīta übrig bleibt«, fährt meine Gesprächspartnerin fort, »bringt sie zum Heiligtum von Sidi Ahmad und stellt es dorthin. Sie geht zum Vorsteher [dieses heiligen Platzes] und zieht von ihm baraka ab [um seinen, bzw. den Segen dieses Ortes in Form von Brot oder Gegenständen teilhaftig zu werden].82 Dann geht sie [wieder nach Frankreich], bis jetzt schickt sie Geld [von dort], dann bringt die zweite Frau meines Vaters das Geld zu dem Heiligtum, damit sie dort [in der Fremde] nicht rausgeht und bettelt«.83

Die Regression auf den streunenden Zustand einer Besessenen kann in Frankreich, in der Fremde, besonders bedrohlich werden und soll durch kontinuierliche Gaben an heiligen Plätzen in der Heimat vermieden 80 Für die religiöse Topographie von Meknes siehe Zillinger, Martin: Wenn Dämonen ins Essen kotzen. 81 Meknes, 2006. 82 Vgl. dazu Zillinger, Martin: Wenn Dämonen ins Essen kotzen, S. 107. 83 Meknes, 2006. 167

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werden. Der Rückfall auf den a-sozialen Zustand der Besessenheit endet mit der Zubereitung eines gemeinsamen Mahls aus frischem Korn, der Grundlage allen Lebens. Seine Herstellung, Lagerung und Verteilung entscheidet über Hunger und Wohlstand: Getreide wird weitläufig in den fruchtbaren Ebenen in und um Meknes angebaut und wird als Ernährungsgrundlage besonders mit den kleinteilig produzierten Erzeugnissen der Kleinbauern ergänzt – wie Humus und besonders Oliven, die etwa auch an Berghängen gedeihen. Es kann hervorragend gelagert werden, verbindet über die Distributionswege die klimatisch kapriziösen Ökologien Marokkos und bildet die Grundlage der königlichen Macht als Redistributionszentrum.84 Die teuren Brot- und Getreidepreise haben im Frühjahr 2008 in Marokko genauso wie in anderen Ländern an der Südküste des Mittelmeerraums zu politischen Protesten geführt, da sie an der Grundlage der individuellen Versorgung und sozialen Tauschprozesse liegen: Hungersnot entsteht nicht zufällig, wie Gellner hervorhebt, in agrarisch geprägten Gesellschaften (ver)hungern Menschen – immer noch – entsprechend ihrer sozialen Verortung gegenüber dem Machtzentrum.85 Migration ist letztlich eine Strategie, diesen Unwägbarkeiten zu begegnen, so wie die Techniken der Diversifizierung ökonomischer Grundlagen in der Geschichte mittelmeerischer Gesellschaften schon immer eine zentrale, kulturelle »Reserve«86 zur Existenzsicherung darstellte, auf die in sehr spezifischen sozialen und ökologischen Nischen zurückgegriffen werden kann.87 Soziale und magische Kräfte und Störungen im Fluss der Handlungen und Gaben, mit denen das Leben gestaltet wird, werden über die

84 Vgl. Horden, Peregrine/Purcell, Nicholas: The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, Oxford 2000, S. 204. 85 Vgl. Gellner, Ernest: Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999 [engl. Original 1998], S. 38. 86 Hauschild, Thomas: Ritual und Gewalt. 87 Vgl. Horden, Peregrine/Purcell, Nicholas: The Corrupting Sea. Auf die spezifischen ökologischen Grundlagen Marokkos kann hier nicht weiter eingegangen werden. Der Agrarsektor, in dem fast die Hälfte (44 %) aller Marokkanerinnen und Marokkaner arbeitet, hat in der Wirtschaftsbilanz weiterhin großes Gewicht. Im Bericht der deutschen Industrie- und Handelskammer in Marokko heißt es: »Die nationale Wertschöpfung in Marokko wird stark von den klimatischen Bedingungen und starken Schwankungen des Agrarsektors beeinflusst. So hatte 2005 die Wertschöpfung im Agrarsektor einen Rückgang von 18 % verzeichnet, während sie 2006 um rund 30 % wuchs«. AHK – Die deutsche Industrie- und Handelskammer in Marokko 2008: Wirtschaftsdaten, http://marokko.ahk.de/index. php?id=wirtschaftsdaten, 24.05.2008. 168

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Entindividualisierung der Besessenheit erfahrbar gemacht und gegenüber der Gemeinschaft kommuniziert. Diese Bewegung muss auch in der Grammatik staatlicher Inszenierung von Trance, in folkloristischer Darstellung des Schakals oder der theatralischen Inszenierung ritueller Selbstverletzung enthalten sein, wenn das Ritual sinnhaft bleiben will. Die rituelle Entfremdung und Regression wird im Ritual kultiviert und bei dem rituellen Verzehr von Speisen in eine Gemeinschaft übersetzt, die der König anführt. Der Einsatz von Filmen macht diese Bewegung für die Teilnehmer wiederholbar und kann zur Selbstvergewisserung und als »memoria« im Alltag eingesetzt werden, sei es in Meknes oder in Montpellier. Die Trance in den häuslichen Kontexten verweist genauso wie die ästhetisierte Folklore staatlicher Rituale auf den Gestaltungsraum dieser Rituale, mit denen die Adepten re-sozialisiert werden. Diese poiesis, die Kraft zur Verfertigung, die im Ritual liegt, beinhaltet jedoch immer zugleich das Verfertigt-werden, das pathos. Ihre Verschränkung stellt letztlich eine soziale Grunderfahrung dar, die in Ritualen erlebt wird und deren formative Kraft über unterschiedliche Medien Menschen in eine Gemeinschaft ein- und an Plätze und Landschaften zurückbindet. Diese Orte sind häufig zugleich abgelegen – in Bergdörfern oder auf Friedhöfen gelegen – und zentral – indem sie verschiedene Landschaften (etwa durch ihre Sichtbarkeit) und Gemeinschaften (durch rituelle Praktiken) verbinden. Sie müssen im Ernstfall einer Krise aufgesucht werden, damit sich die regenerative Kraft der Rituale entfalten kann. Nicht nur die Kommerzialisierungen einer »globalen« Kulturindustrie leben davon, diesen intimen Bereich sozialer Verortung für sich nutzbar zu machen. Auch die Kulturalisierungen seitens des marokkanischen Staates und Machtansprüche des Königs müssen an dieser Bewegung ansetzen, wenn sie wirkungsvoll werden wollen. Vollständig beherrschen, so zeigt der Versuch ihrer administrativen Regulierung, können sie sie nicht.

Anmerkung Während ich auf die Rap-Musik im Internet im Rahmen meiner medienethnographischen Arbeit unter Migranten in Zentraleuropa gestoßen bin, habe ich die Daten zu der staatlich-königlichen Folklore, den Hochzeiten und den transnational zirkulierenden Opfergaben während meiner stationären Feldforschung unter ‘Aisawa- und Íamadša-Bruderschaften in Meknes, Marokko zwischen 2003 und 2006 erhoben. Alle Angaben zu den hier genannten Menschen in Meknes sind anonymisiert. Für die Bereitstellung der finanziellen und zeitlichen Ressourcen für insgesamt siebzehn Monate Feldforschung bedanke ich mich beim

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Graduiertenkolleg ›Die Figur des Dritten‹, der Forschungsstelle für Kulturtheorie und das politische Imaginäre (beide Universität Konstanz) sowie dem DAAD. Die medienethnographische Arbeit findet unter dem Dach des Teilprojekts ›Trancemedien und Neue Medien in den beiden Globalisierungsschüben (1900 und Heute)‹ des SFBs ›Medienumbrüche‹, Universität Siegen, statt.

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W I S S E N S W E R T E W I R D E I N E M D A N N K U N D G E T A N .« INTERVIEW MIT FERIDUN ZAIMOĞLU PHILIPP OSTROWICZ/STEFANIE ULRICH Feridun Zaimoğlu wurde 1964 in der Türkei geboren, ist in Ludwigshafen, Berlin und München aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Kiel. Zuerst studierte er Medizin und Kunst, entschied sich aber bald für die Existenz als freier Schriftsteller und Maler. Bekannt wurde Zaimoğlu in den neunziger Jahren durch seine Bücher Kanak-Sprak (1995), Abschaum (1997) und Koppstoff (1998), in denen er Interviews mit zumeist sozial deklassierten Männern und Frauen türkischer Abstammung zu einer Folge provozierender Sprachportraits vom »Rande der Gesellschaft« verdichtete. Oft von den Medien als »Malcolm X der Türken« bezeichnet, ist Zaimoğlu, der immer wieder lustvolle Hiebe sowohl gegen das »Multikulti-Getue« als auch gegen den »Identitätsmist« der festen Zuordnung zu Herkunftskulturen austeilt, eine der wichtigsten Stimmen in der anhaltenden Integrationsdebatte. Er selbst kommentiert diese Rolle ironisch, indem er sich als der »Quotentürke der Feuilletons« bezeichnet. 2000 folgte sein Briefroman Liebesmale, scharlachrot. Spätestens seit seinem Auftritt beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 2003 würdigt man Feridun Zaimoğlu jedoch auch als einen der herausragenden Erzähler der deutschen Gegenwartsliteratur, der in einer hochpoetischen und zugleich detailgesättigten, wirklichkeitsnahen Prosa wunderbare kurze Liebesgeschichten (Zwölf Gramm Glück, 2004), so gut wie ein groß angelegtes Familienepos (Leyla, 2006) zu gestalten versteht. Feridun Zaimoğlu war 2007 Dozent der Tübinger Poetik-Dozentur, seine Vorlesungen wurden unter dem Titel Ferne Nähe (2008) veröffentlicht. Dabei greift er ein poetologisches Grundproblem auf: Wie verwandelt sich Welt in Text? Es geht Feridun Zaimoğlu immer um »das echte Leben«, das auf dem Papier und das in Kiel, oder in Prag oder in Wien oder in Nienburg an der Weser, die Schauplätze auch seines neuesten Romans Liebesbrand (2008). Vor dem Hintergrund der Veröffentlichung der Vorlesungen wurde auch das folgende Interview geführt.

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Wir haben in den Tübinger Poetik-Vorlesungen viel über das Schreiben von Dir gehört und ab und an ja auch etwas über das Lesen. Was liest Du im Moment? Ich lese im Moment, kann ich sagen, vierzig Seiten bleiben mir noch, Sekunde, jetzt bin ich auf der Suche nach dem Buch, weil ich leider Gottes ein schwaches Namensgedächtnis habe. Jetzt halte ich das Buch in Händen: Declan Hughes' »Blutrivalen«. Das ist typisch. Ich lese Krimis, Psychothriller und Unterhaltungsbücher. Ich bin der typische Käufer, der eine Viertelstunde vor Abfahrt seines Zuges in der Bahnhofsbuchhandlung steht und sich dann auf die Neuerscheinungen, vor allem auf die Taschenbuchneuerscheinungen in der Sparte Krimis stürzt und mit zwei, drei Büchern in der Tüte dann zum Bahnsteig eilt. Es kommt aber auch vor, dass ich im Jahr drei bis vier literarische Bücher lese. Ich greife auch immer wieder gerne zu Ernst Jünger und Gottfried Benn, das Alte und das Neue Testament und die Apokryphen – das allerdings macht mich in den Augen mancher Leute natürlich verdächtig. Nimmst Du die Bücher Deiner Schriftstellerkollegen zur Kenntnis? Ich bin ein eifriger Feuilletonleser in der Provinz – es kommt sehr häufig vor, dass ich im Zug sitze und lange Fahrten zu den Veranstaltungsorten unternehmen muss. Dann decke ich mich mit Zeitungen und Zeitschriften ein und lese gerne die Besprechungen der Bücher meiner Kolleginnen und Kollegen. Es soll nicht kokett klingen, aber die literarischen Neuerscheinungen lassen mich natürlich nicht unberührt, besonders in dem Monat vor der Leipziger und Frankfurter Buchmesse lese ich die vielen Besprechungen. Außerdem verfolge ich die Literaturdebatten, wenn es sie denn geben sollte... Ich blättere in den Buchläden immer wieder in diesen Büchern, von denen mir dann der eine oder andere Freund sagt, ich solle sie doch lesen. Dass ich normalerweise keine literarischen Bücher lese, hat etwas mit mir selbst zu tun, mit meinem Hang, unterhalten zu werden und damit, dass ich den Kopf leer haben muss, wenn ich mir die Geschichten ertüftele. Alles, was nicht Alltag ist, oder nicht Phantasie, meine eigene Phantasie, das besetzt mich zu sehr. Es werden in Besprechungen Deiner Bücher viele Termini zur Klassifizierung Deiner Texte verwendet: Migrationsliteratur, Weltliteratur – wo in der Literaturszene würdest Du Dich einordnen? Ich bin kein Kosmopolit – ich kenne nur bestimmte Flecken der Welt, hab nur einige Seiten der Weltliteratur gelesen. Wenn es denn schon um

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Selbstverortung gehen soll, dann sehe ich mich als deutschen Literaten oder vielmehr: als deutschen Schreiber. Ich lasse mich dabei von meiner eigenen Stimmung leiten. Ich bin nun mal in diesem schönen Land und bin einer, der von hier aus, wenn er denn Geschichten über Fremde oder fremde Geschichten schreibt, von hier aus herausblickt – das ist sehr wichtig. Als Geschichtenerzähler kann man sagen, gehört man nirgendwo hin. Man könnte sagen, man sei ein Reisender oder: in der Literatur gebe es nur die Sprache als Heimat. Das klingt alles sehr gut, ich kann damit nur nichts anfangen. Heimat, also meine Heimat ist deutsch, und meine literarische Heimat ist auch deutsch. Welche Rolle spielt Deine Erziehung für Dein Schreiben, oder für Deine Weltsicht? Selbsteinschätzung ist meist ein peinliches Unterfangen. Und was die Erziehung betrifft, die strenge Erziehung, die ich genossen habe, so kann ich mich höchstens darauf beziehen, wenn es um Kriterien geht wie pünktliche Manuskriptabgabe oder Zuverlässigkeit: Ich sage dann meistens den Veranstaltern: Entweder ich bin tot oder ich bin da. Ganz klar: Diese Dinge sind von meiner Erziehung beeinflußt. Generell kann man vielleicht sagen, dass ich von der Idee der Verschwendung geleitet bin. Verschwendung war aber in einer Arbeiter- und Bauernfamilie ja nicht unbedingt ein Gut, auf das man sich bezog. Verschwendung, aber immer wieder auch, ja, Konzentration. Ich weiß es nicht, da können schlauere Geister als ich mit Blick auf meine Erziehung dann sagen: Gut, da ist einer ins Gegenteil geschlagen, oder aber: Ja, da hat sich einer überschlagen. Oder aber, man kann vielleicht sagen: All' diese ganzen Anteile finden sich in ihm, denn man möchte ja nicht einen ein- oder zweidimensionalen Schreiber skizzieren. Das ist aber die Aufgabe jener, die dann Zeit und Lust haben, sich mit meinen Büchern zu befassen und die Bilder in diesen Büchern zu beschauen. Diesen Gedanken fortführend möchte ich Dich fragen: Du schreibst ja mit »Leyla« die Geschichte Deiner Mutter auf bzw. einen Teil der Geschichte Deiner Mutter. Du hattest sehr schön bei der Tübinger PoetikDozentur erzählt, wie Dein Vater, nachdem Du mit einem Tonbandgerät die Geschichte der Mutter im Interview aufgezeichnet hattest, dann mit einem Wörterbuch den fertigen Roman später ins Türkische quasi rückübersetzt hat. Könntest Du Dir vorstellen, intensiver in die Sprache Deiner Eltern einzutauchen, einen Roman auf Türkisch zu schreiben?

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Ich denke nicht daran. Ich bin von der Lust getrieben, in der mir jetzt als Muttersprache zugewachsenen deutschen Sprache meine Geschichten aufzuschreiben. Es ist schließlich schwer genug zu schreiben – ich kann daher das Schreiben nicht als Pflichtübung oder als eine Rückgewinnungsmaßnahme, als Sprachrückgewinnungsmaßnahme, ansehen, wenn mir die Lust fehlt. Es gibt Momente, in denen ich es schade finde, dass ich nicht richtig gut türkisch sprechen kann. Das betrifft aber das gesprochene Wort – da finde ich den Sprachschwund schade, aber ansonsten sehe ich überhaupt keine Veranlassung, aus einem falsch verstandenen Verständnis des Rückzugs im wahrsten Sinne des Wortes oder gar der Rückbesinnung mich jetzt der Sprache meiner Eltern zu ermächtigen. Es sieht gar nicht so danach aus, dass ich wirklich einen Roman oder ein Buch auf Türkisch schreiben möchte, wieso denn auch, schließlich geht es doch darum, diese Geschichten so anständig wie möglich zu Papier zu bringen. Glaubst Du dennoch, dass es Stellen in Deinen Texten, die ja ausschließlich deutsch sind, gibt, an denen türkische Musik oder türkische Sprache durchscheint? Auch da muss ich sagen, es wäre peinlich, wenn ich an meinen Texten eine Art Psychoanalyse oder Motivtrennung vornehmen wollte. Ich glaube, da käme nichts Gescheites dabei heraus. Einige Kritiker haben sich darauf bezogen, bzw. sie vermeinten zu Recht und auch zu Unrecht, in den Texten bestimmte herkünftige Motive entdeckt zu haben, aber dazu kann ich wirklich schlecht etwas sagen. Ich schreibe zwar die Geschichten auf, und ich lasse mir Geschichten einfallen: Aber, und das ist vielleicht ein abgedroschenes Wort, ich folge einem unbewussten Strom, der dann natürlich seinen Eingang findet. Der Strom an alten Legenden, Geschichten, an Worten, an Musikalität, über den vermag ich jetzt nichts zu sagen. Aber ich beziehe mich und verweise immer wieder auch auf das Deutsche, mit dem ich erzogen worden bin, mit dem ich aufgewachsen bin. Das Deutsche, wie es in Gestalt der Märchen, der deutschen Märchen, in den Gerüchten, den Geschichten, die man in der Zeitung las und die man ein bisschen ausgeschmückt und weitererzählt hat, existiert. All' das, was die neue Welt umgab, oder abgab, oder hergab: Das hat mich sehr beeindruckt und darauf möchte ich mich beziehen. In diesem Zusammenhang ist es auch sehr schade, dass man von der orientalischen Musikalität spricht: Was will man damit eigentlich sagen? Dass es im Deutschen diese Musikalität nicht gibt, oder was? Ich verwahre mich gegen solche Zuschreibungen wie das »Andere«, das »Eigene«, also das

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Deutsche-Bereicherte. Ist das Deutsche denn arm? Das können nur Ignoranten behaupten. Du schreibst auch für das Theater. Dabei ist mehr als in der Prosa auch die Mis-en-scène entscheidend. Inwieweit ist Filmästhetik ein Thema für Dich? Ich geh zu »Video Peter« bei mir um die Ecke und leihe mir dann DVDs aus. Das sind meist Filme, die ich mir gerne ansehe. Punkt. Ich bin ein visueller Mensch, ganz sicher, aber ich benötige keine Filmvorlage, sondern die Wirklichkeit. Die Vorlage für mich sind Bruchstücke aus meinem Alltag, aus dem Alltag der anderen, die ich beschaue. Das ist mein Blick, der auf all' das fällt, und dieses Szenische gefällt mir, das Dialogische gefällt mir. Aber wieso, in Gottes Namen, muss man diese Momente dem Film zuordnen, die gibt es ja auch in der Literatur! Ich ordne mich eindeutig der Prosaschriftstellerei zu. Ich bin weder musikkundig noch bin ich filmkundig – je mehr ich darüber nachdenke: Ein visueller Mensch zu sein, bedeutet keineswegs, dass der Film eine große Rolle spielt. Nein. Ich bin der typische Kinogänger und Filmanschauer, und sonst sitze ich an der Schreibmaschine, und da geht es um Prosa. Mir ist aufgefallen, und dies war ja sowohl bei »Leyla« wie jetzt im »Liebesbrand« und, soweit ich von Dir weiß, auch für Dein neues Projekt wichtig: Du reist sehr viel. Sowohl als Schriftsteller von Lesung zu Lesung, von Termin zu Termin, aber auch zur Recherche für Deine Projekte. Wie wichtig sind für Dich geographische Orte, geographische Räume für Dein Schreiben? Ich finde eine Geschichte. Die Figuren treten im Laufe der Zeit, im Laufe jener Zeit, in der ich mir Gedanken mache über diese Geschichte, aus dem Dunst, aus dem Nebel heraus. Ich bin wohl ein klassischer Erzähler. Es hat zwar etwas länger gedauert, bis ich das begriffen habe, aber sei's drum. Als klassischer Erzähler will ich eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende. Wichtig sind die Schauplätze. Ich begreife mich im besten Fall als Handlanger der Figuren in meinen Büchern. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn ich die Schauplätze des neuen Textes begehe. Ich sprach von Verschwendung, auch das ist eine Form, einen großen Abstand zu sich selbst einzulegen. Ich bin dann weder ein Tourist in der fremden Stadt noch bin ich einer, der wirklich recherchieren will. Ich bin weder der Ich-Erzähler noch die zentrale Figur oder die Assistenzfigur, nein, ich bin im Auftrag der Figuren unterwegs, und das ist etwas anderes. Welche Plätze suche ich auf? Plätze mit Zusammenbruchszenarien,

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Plätze des Schwunds, der Melancholie, der seltsamen Trauer über die Verluste, über all' die vielen Verluste, die man erleidet. Plätze, wo nicht alles festgelegt ist. Insofern suche ich auch sehr gern Plätze in Deutschland auf. In diesem Augenblick, und das ist sehr wichtig, dies festzuhalten, bin ich kein Reisender. Ilija Trojanow, der mit Dir zusammen bei der Tübinger Poetik-Dozentur 2007 war, würde sich wahrscheinlich als ein ständig Reisender, jemand, der immer unterwegs ist, also keinen festen Ort hat, bezeichnen. Wie siehst Du das für Dich? Ich bin ein Schriftsteller mit festem Wohnsitz, mit einer Heimat. Diese Heimat ist für mich Norddeutschland. Das Reisen ist für mich ein Ausnahmezustand. Ich bin entweder auf Lesereise, dann weiß ich aber, ich bin nicht zuhause. Dann bin ich jede Nacht in einem anderen Hotelzimmer in einer anderen Stadt. Und danach gibt es eine Rückfahrt, eine Rückkehr. Ich freue mich, wenn ich aufbreche, ich freue mich, wenn ich nach Hause zurückkehre. Es ist ein Ressentiment, wenn man jene, die ein solches Gefühl von Zuhause haben, für bieder hält. Jene, die sich freuen, zurückzukehren, die heimatlich verwurzelt sind. Ich glaube, ich gehöre zu eben diesen, wenn man sie denn so bezeichnete, zu den Biederen, zu den Heimatverbundenen. Wenn es darum geht, einen Roman zu schreiben, scheue ich nicht die Mühen, steige in den Zug und fahre tagelang in fremde Länder, in ferne Länder... Ich fühle so den Abstand zwischen meiner Heimat und jenen schönen Plätzen, jener schönen Heimat anderer Menschen, und wenn ich dann zurückkehre, bin ich glücklich. Ich bin nicht nur kein Reisender, sondern auch kein Urlauber. Komischerweise kann ich nicht richtig Urlaub machen. Das ist eine seltsame Sache. Ich kann mich irgendwo aufhalten, und ich kann entspannen, und ich kann weg sein – aber so wirklich entspannt bin ich nur in Kiel. Dein Schreiben ist eine Poetik der Verwandlung: Du schlüpfst in die Rolle Deiner Figuren, Du reist mit ihnen und durch sie – vielleicht braucht man gerade dann einen immobilen Ankerpunkt. Ja. Wenn ich nicht die Möglichkeiten hätte, beim Schreiben von mir wegzugehen – und dann bin ich ja an meinem Schreibtisch in Kiel – wenn man mich dieser Möglichkeit beraubte, so würde ich mich vielleicht anders verhalten oder würde andere Gefühle haben. Ich weiß nicht sicher, ob das zutrifft. Ich bin einer, der nie gern gereist ist, eigentlich nicht, 26-mal bin ich mit meinen Eltern umgezogen. Ich kenne das aus meiner Biographie, von da nach dort zu springen, springen zu müssen. In

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meinen Büchern verwandle ich mich den Figuren an, jedenfalls versuche ich das, und im wirklichen, in einem anderen wirklichen Leben, nämlich im Alltag, unternehme ich auch sehr viele Reisen. Wenn man das alles zusammendenkt, ist es, wie Du völlig zu Recht gesagt hast, verständlich, dass dann so einer, wenn er zuhause ist, eigentlich einen festen Boden haben möchte. Sonst würde mich, glaube ich, dieser Strom wegreißen. Noch etwas, das ich zum Thema Verwandlung fragen möchte. In »Leyla« verwandelst Du Dich in Deine Mutter. Würdest Du sagen, diese Verwandlung in eine Frau, in Deine Mutter hat Deine Perspektive geändert? Siehst die Dinge noch immer auch mit Augen einer Frau, oder ist es damit, wenn das Projekt zwischen zwei Buchdeckeln vorliegt, vorbei? Ich habe immer wieder gesagt, dass die Arbeit an »Leyla« mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit geführt hat. Mir schwebt eine Art Trilogie vor, aber dieses Vorhaben wird in den nächsten zehn Jahren zu verwirklichen sein, vielleicht. Nachdem ich »Leyla« abgeschlossen hatte, habe ich den Ton verloren, leider. Dieser Ton, »Leylas Ton«, hält sich nicht über einen größeren Abstand. Ich glaube nicht, dass ich jetzt, weil ich »Leyla« geschrieben habe, auch aus der Sicht einer Frau die Dinge sehe. Ich glaube eher, dass ich endlich bei mir angelangt bin. Meine Position ist keine Position der Behauptung, sondern der Schwäche. Und aus diesem schwachen, melancholisch angewehten Gefühl lässt sich sehr schön schreiben, lassen sich viele Wandlungen und Verwandlungen vornehmen. Darauf beziehe ich mich immer mehr beim Schreiben. Ich behaupte da nichts, aber in dem Moment, in dem ich ein bestimmtes Buch schreibe, bin ich die Figur, habe ich mich gewissermaßen materialisiert. Aber wenn mir dann eine andere Geschichte einfällt, dann bin ich eben eine andere Figur, und dann bin ich nicht nur eine Figur in diesem Buch, sondern bin ja auch noch die anderen Figuren, die peripheren Figuren. Wenn wir noch einmal an den Anfang unseres Gespräches und zum Schreiben zurückkehren: Große Emotionen schrecken Dich ja nicht, das kann man so sagen. Ganz genau. Das passt wenig zur Literatur der lakonischen Postmoderne. Würdest Du Dich als Außenseiter sehen oder hast Du das Gefühl, in der deutschen Literatur entsteht vielleicht auch gerade wieder etwas Neues?

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Die Postmoderne ist in meinen Augen eine große Verirrung gewesen. Ein Blödsinn. Eigentlich hat man ja nur den groben Unfug gefeiert. Man jonglierte mit Begriffen aus dem Soziologieseminar und dachte, das ist wahr. Plötzlich wird es wahr, dass es nämlich nichts Festes gibt und nichts Flüssiges. Man kam auch nicht zu einer wunderschönen Illusion, wie man sie aus der alten Zeit kennt, nein, es war plötzlich alles so gasförmig und es stank. Natürlich habe ich mich mit diesen Ideen befasst, aber ich konnte mich nie damit identifizieren, noch nicht einmal mich damit anfreunden. In den Achtzigern wollten die Postmodernisten, wie der Name schon nahe legt, uns weismachen, dass alles hinter ihnen liegt: Die Geschichte, die Bestimmung vieler, der Handelnde, das Individuum, das Kollektiv, all' das seien Gespenster der Vergangenheit. In diesen Achtzigern – seltsamerweise – bezog ich mich immer mehr auf das, was sich vor meinen Augen abspielte. Eine Nadel muss man nehmen, eine Stecknadel, und sich diese in die Fingerkuppe pieksen. Dann weiß man schon, was echt ist und was nicht. Wir alle haben große Einbildungskraft. Ich bin weder Prä-Modernist noch Postmodernist noch Modernist, ich bin ein einfacher Mensch. Ich beziehe mich auf die Einfachheit und muss mich auch mit dem ganz großen Missverständnis herumschlagen, dass das Einfache schlecht sei, bzw. dass es kompliziert zugehe. Nein. Wer Augen hat, der sehe, und das Wissenswerte wird einem dann kundgetan. Das wäre fast ein schönes Schlusswort, dennoch möchte ich noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen: Du hast am 27. September 2006 an der ersten Sitzung der so genannten Islamkonferenz in Berlin teilgenommen, bist dann im April 2007 vor der zweiten Sitzung ausgestiegen und hast Deinen Platz für eine deutsche selbstbewußte schamtuchtragende Muslimin zur Verfügung gestellt. Möchtest Du zu diesem Thema überhaupt noch etwas sagen? Ich hab mich da ja einfach verhalten. Man sollte über Abwesende nicht so gemein sprechen, sie können sich ja nicht wehren. Man hätte auch über junge, gläubige Christinnen lästern können, denn es war nichts anderes als Lästern, Denunzieren. Ich wäre bei Gott mit demselben Furor zur Stelle gewesen und hätte gesagt: So, ich räume mal meinen Stuhl, das reicht mir jetzt. Das ist aus meiner Sicht ein einfaches, natürliches Verhalten. Islamkonferenz, was könnte ich dazu sagen? Das Gedächtnis der Menschen verblasst, vor allem das der so genannten politisch Handelnden. Wie war es denn damals, als die Spätaussiedler nach Deutschland kamen? Es ist erstaunlich, wie identisch die Reaktionen, Sympathien und Antipathien sind. Ich habe immer etwas dagegen, wenn man gegen zwei

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Gebote verstößt: Demut und Erbarmen. Das sind wirklich sehr antiquierte Begriffe, aber in diesem Sinn habe ich mich gegen die Konferenz verwahrt und den Stuhl geräumt. Ich bin ein Schreiber, und daher war meine Verwunderung groß, als ich man mich da zu dieser Konferenz einlud. Es gibt Berufenere und Befugtere, die daran teilnehmen können. Wichtig dabei ist, sich in der Kunst der Liebenswürdigkeit einzuüben und nicht Menschen zu denunzieren. Das war mein Anliegen, das bleibt mein Anliegen, und egal welche Holzfiguren man sich schnitzt, und die dann mit Nadeln bespickt, egal, welche Leute verleumdet oder denunziert werden, es gibt immer Leute, die dann sagen: So nicht! Bis hierhin und nicht weiter. Glaubst Du, dass es irgendwann einen anerkannten deutschen Islam geben wird? Es gibt einen türkischen Islam, es gibt einen syrischen Islam, einen jemenitischen Islam, und selbstverständlich wird es auch einen deutschen Islam geben. Es wird deutsche Moslems geben, Menschen, die genauso wie deutsche Christen hier leben und geboren sind. Das wird funktionieren, solange man sich darüber einig ist, dass die Religion, der Glaube, eine private Angelegenheit ist, und man von Denunziation geschont bleibt. Es ist natürlich ein langer Weg, aber ich bin sehr zuversichtlich. Es wird ja so vieles in diesem schönen Land niedergeschrieben und schlechtgemacht. Ich gehöre zu den großen Optimisten, weil ich hinsehe und versuche, die Kleinigkeiten nicht zu übersehen. Alles geht in eine wunderbare Richtung. Vielen Dank. Ich danke Dir. Das Gespräch führte Philipp Ostrowicz am 9. Oktober 2008 am Telephon. Feridun Zaimoğlu befand sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Wohnung in Kiel. Zwei Stunden später brach er zu einer dreißigtägigen Reise zu Lesungen und zu anderen verschiedenen Terminen quer durch Europa auf.

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K R I T I S C H »K A N A K «: GESELLSCHAFTSKRITIK, SPRACHE UND KULTUR 1 B E I F E R I D U N Z AI M O Ğ L U YASEMIN YILDIZ »Die Welt franst aus: Sprache(n) entstehen. […] Und in Deutschland? Deutschland franst im Innern aus. Es entsteht genau dort Neues, wo Mißtöne werden: zu Sprachen. Sprache zu Literatur.« José F. A. Oliver2

Einleitung: Das Phänomen Kanak Sprak Im Jahr 1995 veröffentlichte Feridun Zaimoğlu sein erstes Buch mit dem provokanten Titel Kanak Sprak: 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft.3 Darin präsentiert Zaimoğlu eine literarisch gestaltete Sozial- und Kulturkritik der deutschen Gesellschaft. Neben einem Vorwort besteht der Band aus stilisierten Monologen junger Männer mit türkischem Hintergrund, die in Deutschland leben und die sich durch ihre soziale Rolle, etwa als Zuhälter, Müllmann, Drogenabhängiger, islamischer Fundamentalist oder Transsexueller, am »Rande der Gesellschaft« befinden. Diese Figuren beschreiben die Mainstream-Gesellschaft und ihren eigenen 1

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Ich danke Leslie Adelson, Barbara Mennel und insbesondere Michael Rothberg für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes. Oliver, José F.A.: »Kanak Sprak – Schreiben am Ufer der Fremde. Eine Rand-Literatur in Deutschland?«. In: Universitas, Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 594 (1995), S. 1163. Zaimoğlu, Feridun: Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Hamburg 1995. Seitdem hat Zaimoğlu sich durch eine Reihe weiterer erfolgreicher Romane, Erzählungen und Theaterstücke fest im deutschen Literaturbetrieb etabliert, zuletzt durch die sprachlich, stilistisch und inhaltlich völlig anders angelegten Romane Leyla (2006) und Liebesbrand (2008). 187

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Status darin auf eine kritische, provokante, und zuweilen sogar beleidigende Art. Die heraufordernde Haltung des Bandes kommt durch die Aneignung des höchst abfälligen Begriffs »Kanake« bereits im Titel zum Ausdruck. Anstatt auf positive Gegenbeispiele zu verweisen und so zu versuchen, den negativen Assoziationen dieses Begriffs – wie Kriminalität, Gewalt oder Sexismus – zu begegnen, nimmt sich Kanak Sprak in einer übertriebenen und trotzigen Aneignung vieler Stereotypen an, die mit diesem Schimpfwort verbunden sind. Der auffälligste Aspekt dieser Monologe, der gleichzeitig die stärkste Provokation darstellt, ist jedoch ihre Sprache. Stark an mündlicher Rede orientiert, verwenden die Monologe mit Gusto obszöne und skatologische Ausdrücke, teilweise schwer nachvollziehbaren Slang und bewusst unidiomatische Formulierungen. Dies hat zur Folge, dass das Deutsche in diesem Text eigenartig verfremdet erscheint. Zaimoğlu zufolge basiert diese Sprache auf der Sprechweise junger Männer, die er für das Buch interviewte. Neben diesem Authentizitätsanspruch räumt er allerdings auch ein, dass er die Sprache überarbeitet und bewusste Entscheidungen hinsichtlich ihrer Form getroffen hat4. Das Resultat ist eine Sprache, die sonst weder auf der Straße noch in anderer Literatur zu finden ist. Nicht zuletzt durch diese künstliche Sprache stellt Kanak Sprak einen imaginären Raum dar, in dem sowohl die widerständige Kanak-Figur als auch die kulturelle und soziale Landschaft, in der sie steht, entworfen wird. Mit seiner Sprache und Haltung gehört Kanak Sprak an die Spitze eines kulturellen Phänomens, welches seit Mitte der 1990er Jahre in diversen Medien Äußerungen gefunden hat.5 Während auch von anderen der Versuch unternommen wurde, den Begriff »Kanake« neu zu definieren – zum Beispiel veröffentlichte die Hip-Hop-Gruppe Fresh Familee ihren Song »Sexy Kanake« ein Jahr bevor Kanak Sprak erschien – war es Zaimoğlus Buch, das zum zunächst sichtbarsten Ort dieser Aneignung wurde. Seitdem haben eine Reihe von künstlerischen (Wieder-)Aneignungen der Kanak-Figur und ihrer verschiedenen Sprachversionen Form angenommen. Diese finden sich in literarischen Anthologien, Filmen, Musik, Theater- und Videoperformances, Comedy und Cartoons mit Titeln wie Kanaksta,6 Kanakmän7 oder Fear of a Kanak Planet.8 4 5

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Zaimoğlu, Feridun: Kanak Sprak, S. 15, 18. Seitenangaben im Folgenden im Fließtext. Vgl. Cheesman, Tom: »Akçam – Zaimoğlu – ›Kanak Attak‹: Turkish Lives and Letters in German«. In: German Life and Letters 55/2 (2002), S. 180195 für einen detaillierten Überblick über die Rezeption von Zaimoğlus Text. Lottmann, Joachim (Hg.): Kanaksta: Von deutschen und anderen Ausländern, Berlin 1999. 188

KRITISCH »KANAK«: GESELLSCHAFTSKRITIK, SPRACHE, KULTUR BEI FERIDUN ZAIMOĞLU

Zaimoğlu selbst wurde zum gefragten Kommentator für Zeitungen wie Die Zeit und zum häufigen Gast in Talkshows. Zur gleichen Zeit bildete sich das lose organisierte Netzwerk Kanak Attak und brachte eine gegen Vereinnahmung gerichtete kritische Haltung gegenüber der deutschen Mainstreamkultur und -politik zum Ausdruck.9 Bemerkenswerterweise wurden die verschiedenen Aneignungen von Künstlern sowohl aus der Minderheit als auch aus der Mehrheit unternommen. Nicht alle dieser Beiträge teilten jedoch den antihegemonialen Tenor, welcher Zaimoğlus Buch auszeichnet.10 In manchen Fällen wurden die Stereotypen einfach ohne ersichtliche Kritik reproduziert, so dass der Ausdruck »Kanake« wieder zu der Beleidigung wurde, die er vormals darstellte, wie etwa im Falle der zeitweise populären »Wörterbücher« von Michael Freidank.11 Wie diese breite und heterogene Aneignung zeigt, beschränkt sich das Kanak-Phänomen nicht auf einen einzelnen Autoren und Medienstar. Vielmehr zeugt es von der Entstehung einer kulturellen Figur 7 8

Omurca, Muhsin: Kanakmän (2002), www.omurca.de, 01.01.2009. Der Titel von Loh und Güngörs Buch über Hip-Hop spielt auf das Album Fear of a Black Planet der US-amerikanischen Gruppe Public Enemy an. Loh, Hannes/Güngör Murat: Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, St. Andrä/Wördern 2002. Wie unten weiter erläutert wird, ist Hip-Hop von äußerster Wichtigkeit für dieses Phänomen. 9 Kanak Attak: »Kanak Attak und Basta! Manifest gegen Mültikültüralizm, gegen demokratische und hybride Deutsche sowie konformistische Migranten«. In: die tageszeitung (29.01.1999). 10 Die erfolgreichsten Vertreter in der Populärkultur sind die Charaktere der Comedy-Duos Erkan und Stefan und Mundstuhl. Diese befassen sich jedoch nicht mit den brisanten sozialen Themen, die zentral für Kanak Sprak sind. Ihre Komik beruht vielmehr auf der Verwendung von Nonstandardsprache und einer Karikatur von migrantischen Jugendlichen. Diese werden im Gegensatz zu Zaimoğlus wortgewaltigen Kanak-Figuren in der Regel als sprachlich und intellektuell unterentwickelt dargestellt. 11 Freidank, Michael: Kanakisch-Deutsch: Dem krassesten Sprakbuch ubernhaupt [sic], Frankfurt a.M. 2001. Vgl. auch Cheesman, Tom: Akçam – Zaimoğlu – ›Kanak Attak‹, S. 180. Es sollte daneben betont werden, dass der Ausdruck trotz des zeitweise auftretenden so genannten »Kanak-Chic« (vgl. Steyerl, Hito: »Ornamente der neuen Mitte: Wo Widerstand zu Kanak-Chic wird«. In: iz3w: Blätter des Informationszentrums dritte Welt 253 (2001), S. 24 f. für eine kritische Betrachtung) immer noch häufig als Beleidigung verwendet wird. Eine von mir durchgeführte Onlinerecherche, die als Ergebnisse nicht nur Einträge zu Zaimoğlu lieferte, sondern auch zu Polizeiberichten über brutale Angriffe auf ethnische Minderheiten, in denen dieses Wort als Beschimpfung verwendet wurde, hat mir dies krass vor Augen geführt. 189

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und Form, welche die deutsche Kulturlandschaft des letzten Jahrzehnts insgesamt animiert hat. Was die verschiedenen Manifestationen des Phänomens, so anders sie jeweils geartet sind, verbindet, ist ihre transgressive Pose, welche grundlegend mit einer non-normativen Verwendung der deutschen Sprache zusammenhängt. Dieses Phänomen verbindet die Repräsentation von Minoritäten mit neuen ästhetischen Formen und Formaten und greift dabei im Speziellen auf Interventionen in die deutsche Sprache als Ort dieser Repräsentation zurück. Das Kanak Sprak Phänomen ist damit Teil einer größeren Tendenz innerhalb der Literatur der Migration (und der Nachfolge der Migration) in Deutschland, an der deutschen Sprache selbst zu arbeiten und diese mit anderen Sprachen in Kontakt zu bringen, um der Kritik am exklusiven Charakter der Nation als »imagined community« (Benedict Anderson) Ausdruck zu verleihen.12 Unter den Autoren und Autorinnen in der Gegenwartsliteratur, die die deutsche Sprache neu schreiben, ist zum Beispiel Emine Sevgi Özdamar, die 1991 als erste nichtdeutsche Autorin mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Özdamar verwendet in Texten wie Mutterzunge13 teilweise wörtliche Übersetzungen aus dem Türkischen, bleibt dabei aber in der deutschen Sprache und erzielt so einen höchst poetischen Verfremdungseffekt.14 Größere Bekanntheit erlangte auch der Dichter José F.A. Oliver, der größtenteils auf Hochdeutsch schreibt, aber sowohl seinen alemannischen Dialekt als auch Passagen auf Spanisch in einige seiner Gedichte einstreut und so nicht nur die Form, sondern auch die kulturelle Resonanz des Dialektes und der Heimatdichtung verändert.15 Die Bedeutung dieser poetischen

12 Vgl. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 61-73, der diese Tendenz zur verstärkten sprachlichen Reflektion als die zweite Phase der Migrationsliteratur charakterisiert. 13 Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge, Erzählungen, Berlin 1990. 14 Vgl. Yıldız, Yasemin: »Political Trauma and Literal Translation: Emine Sevgi Özdamar's ›Mutterzunge‹«. In: Gegenwartsliteratur 7 (2008), S. 248270 für eine detaillierte Analyse der übersetzten Schreibweise Özdamars und deren komplexes Verhältnis zu Nation und Migration. 15 Vgl. Oliver, José F.A.: Gastling, Berlin 1993. Zur Verbindung von Mehrsprachigkeit und Transnationalisierung in der deutschen Literatur der Gegenwart siehe auch meinen Aufsatz zu Yoko Tawada, die auf Deutsch und Japanisch schreibt. Yıldız, Yasemin: »Tawada's Multilingual Moves: Toward a Transnational Imaginary«. In: Yoko Tawada: Voices from Everywhere, hg. v. Doug Slaymaker, Lanham 2007, S. 77-89. Diese multilinguale Ästhetik beschränkt sich nicht auf Minderheitenliteratur in 190

KRITISCH »KANAK«: GESELLSCHAFTSKRITIK, SPRACHE, KULTUR BEI FERIDUN ZAIMOĞLU

und provokanten Umgestaltungen der deutschen Sprache durch Minderheitenautoren liegt jedoch nicht darin, lediglich Veränderungen, die am »Rande der Gesellschaft« stattfinden, darzustellen. Vielmehr produzieren sie aus diesen Perspektiven heraus »new imaginaries«16 und stehen so für die Reimagination der kulturellen Landschaft in ihrer Gesamtheit. Angesichts des breiten Interesses, das Kanak Sprak auf sich gezogen hat, ist dieser Text eines der signifikantesten Beispiele einer solchen Neuimagination. Diese Neuimagination verläuft speziell durch die Art und Weise, in der die verwendeten Sprachen evoziert und aufeinander bezogen werden. So verhält sich der Text dezidiert anders gegenüber der türkischen, deutschen und englischen Sprache. Wie der Text diese Sprachen situiert und sie verwendet ist zentral für die Konstruktion der Kanak-Figur und ihrer spezifischen Konturen. Daneben spielen auch die weniger offensichtlichen Spuren des Rotwelschen und jüdischer Sprachen eine Rolle in der kulturellen Imagination des Deutschen, die Kanak Sprak produziert. Um diese neuen Vorstellungen und Bezüge zu erfassen, ist es notwendig, sich den einzelnen sprachlichen Ebenen des Textes genauer zuzuwenden.

Eine Neuverortung der Differenz: V o m T ü r k i sc h e n z u m D e u ts c h e n Eine der universalen sprachlichen Folgen von Migration ist das CodeSwitching. Deutschtürkische Jugendliche und auch junge Angehörige anderer Ethnizitäten praktizieren vielfach solches Code-Switching, wechseln also in ihrer Rede zwischen Türkisch und Deutsch und verwenden zum Teil beide Sprachen im gleichen Satz.17 In Kanak Sprak jedoch kommen weder Wörter aus dem Türkischen noch aus anderen Deutschland, sondern findet sich in diversen Sprachen und Kontexten. Damit stellt sie ein eigenes transnationales literarisches Phänomen dar. Vgl. dazu auch die Aufsätze in Sommer, Doris (Hg.): Bilingual Games: Some Literary Investigations, New York 2003, über »bilinguale Spiele« in verschiedenen Sprachen und literarischen Kontexten. 16 Gaonkar, Dilip Parameshwar: »Toward New Imaginaries: An Introduction«. In: Public Culture 14/1 (2002), S. 1-19. 17 Vgl. Hinnenkamp, Volker: »›Gemischt Sprechen‹ von Migrantenjugendlichen als Ausdruck ihrer Identität«. In: Der Deutschunterricht 5 (2000), S. 96-107; sowie Dirim, Inci/Auer, Peter: Türkisch sprechen nicht nur die Türken. Über die Unschärfebeziehung zwischen Sprache und Ethnie in Deutschland, Berlin 2004. Zaimoğlu selbst deutet diese Tatsache in seiner Beschreibung der Quellen für Kanak Sprak an (13). 191

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Migrantensprachen vor.18 Stattdessen ist Türkisch nur in der indirektesten Weise präsent: etwa in der häufigen Bezeichnung von Deutschen als »der Alemanne«, welches mit dem türkischen Wort für deutsch (alman) und dem Namen des germanischen Stamms spielt. Auch ein Ausdruck wie »Jungblutbengel« (28) ist nicht sofort erkennbar als eine Anspielung auf das türkische Wort für »junger Mann«, delikanlı, verweist aber auf die buchstäbliche Bedeutung des Wortes, »verrücktes Blut« und auf den deutschen Ausdruck »junges Blut«.19 Die einzige Stelle in Kanak Sprak, an der türkische Wörter auftreten, ist das Vorwort, und dort werden sie nur erwähnt, um zu zeigen, was ausgelassen wurde. Die Ausdrücke, die Zaimoğlu als bewusst ausgelassene anführt, sind allesamt Ausdrücke der Zuneigung: »gözüm (mein Auge), gözümün nuru (mein Augenlicht)« (14). Der Autor erklärt diese Entscheidung durch seinen Wunsch, die »Folklore-Falle« zu vermeiden und seine Sprache nicht als »blumige Orientalensprache« (14) verstanden zu wissen. Dies bedeutet, dass weder türkische Wörter noch aus dem Türkischen abgeleitete Ausdrücke sich für die Repräsentation des Kanak, wie Zaimoğlu ihn konstruieren will, eignen. Um die »Orientalisierung« seiner Figuren zu vermeiden, verzichtet Zaimoğlu auf die türkische Sprache oder minimiert ihren Einfluss. So wird zum Beispiel die Anrede »mein Augenlicht« durch den prosaischeren »Bruder« ersetzt (14). Die Zärtlichkeit, die durch den türkischen Begriff zum Ausdruck kommen könnte, wird durch eine brüderliche Beziehung und eine Betonung der Männlichkeit ersetzt. Durch diese Strategie reproduziert Zaimoğlu jedoch implizit ein Bild des Türkischen als inhärent »orientalisch« – was hier gleichgesetzt wird mit unpolitisch, sentimental und feminin.20 Die Sprache von Kanak Sprak basiert daher nicht einfach auf einer Mischung aus Türkisch und Deutsch, wie teilweise angenommen wird.21 Stattdessen wird das Türkische auf eine bestimmte Art konstruiert und dann strategisch vermieden, während Deutsch das primäre sprachliche 18 Die Tatsache, dass Zaimoğlu in späteren Veröffentlichungen durchaus türkische Wörter verwendet, macht dieses Fehlen in Kanak Sprak noch bemerkenswerter. 19 Das seltene Vorkommen direkter Anspielungen auf die türkische Sprache ist eines der Merkmale, welches Zaimoğlus Schreiben von Özdamars Stil unterscheidet. 20 Vgl. auch Gutiérrez Rodríguez, Encarnación: »Widerstand in der différance: Repräsentation und Vereinnahmung von MigrantInnen«. In: iz3W: Blätter des Informationszentrums dritte Welt 253 (2001) für eine kritische Betrachtung der geschlechtsspezifischen, speziell maskulinen, Aspekte im Phänomen Kanak im Allgemeinen. 21 Vgl. Cheesman, Tom: Akçam – Zaimoğlu – ›Kanak Attak‹, S. 180-195. 192

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Material ist, aus dem die Figuren bestehen. Tatsächlich stellt das Deutsche die notwendige Matrix für ein Verständnis von Kanak Sprak dar, ist jedoch auch nicht ausreichend. Zaimoğlu verweist auf diese Tatsache, indem er in der Einleitung einige Passagen »übersetzt«: »Der Kanake sagt, [...] ›Hasshand teilt gerne aus, bricht sich aber viele Knochen‹ und meint ›wer von Hass erfüllt ist, greift ohne Rücksicht auf Verluste zur Gewalt‹«. Oder: »Der Kanake sagt ›Gott fickt jede Lahmgöre‹ und meint ›wenn man weiterkommen will, muss man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen‹« (14). Obwohl in beiden Fällen jedes Wort des ersten Satzes auf Deutsch ist, verlangen die Sätze selbst nach einer weiteren Übersetzung, um verstanden zu werden. Durch diese intralinguale Übersetzung wird das Deutsche multipliziert und seine Vielfalt spielerisch herausgestellt. Es ist das Deutsche als potentiell heterogene Sprache, das hier zu Wort kommt. Diese Sprache drückt nicht nur Differenz und Verfremdung aus, sondern auch Zugehörigkeit. In vielen der Monologe finden sich Spuren der norddeutschen Umgangssprache, etwa in der Kontraktion des Artikels »eine« zu »'ne«, oder in Worten wie »deibel« oder »olle«. Die Verwendung dieser Ausdrücke verortet den Text in einer spezifischen Region Deutschlands. Innerhalb der Monologe stellt diese Region einen häufigen Bezugspunkt dar (»Wir sind wüchsige aus gaarden, hier, wo man das olle gras halm für halm wachsen hört« (39). Eine solche regionale Bindung ist auch auf globaler Ebene nicht ungewöhnlich für Angehörige ethnischer Minderheiten und bietet diese als Alternative zur Nation.22 Die regionale Färbung der Sprache in Kanak Sprak bettet die Figuren verstärkt in diesen lokalen Kontext ein. Neben dieser Evokation des Lokalen spielt die Mischung verschiedenster sprachlicher Register eine zentrale Rolle im Stil von Kanak Sprak und in der spezifischen Konstruktion der Kanak-Figur. So prallt zum Beispiel ein aus einer archaisierenden Wortstellung resultierendes Pathos auf umgangssprachliche Ausdrücke: »Wenn ihr wie olle zoopaviane nach des deutschen wärters zuckerwürfel schnappt, vergesst nicht, 22 Çağlar, Ayşe: »Management kultureller Vielfalt. Deutsch-Türkischer HipHop, Rap und Türkpop in Berlin«. In: Geschlecht und Globalisierung: Ein kulturwissenschaftlicher Streifzug durch transnationale Räume, hg. v. Sabine Hess/Ramona Lenz, Königstein/Taunus 2001, S. 236, betont die Tatsache, dass Zugehörigkeit nicht mehr durch Nationen, Staaten oder Ethnien definiert wird, sondern sich immer stärker an urbanen Räumen orientiert. Die lokale Bindung von Kanak Sprak folgt allerdings nicht dem Trend, Minderheiten in der Großstadt zu verorten, sondern spielt sich vielmehr auf einer provinziellen Ebene ab. Der bereits erwähnte Gebrauch des Alemannischen durch José Oliver ist ein weiteres literarisches Beispiel hierfür. 193

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dass ihr euch habt eure blanke seele verwursten lassen.« (86) Dadurch, dass er die Vermischung verschiedener Register zu einem der wichtigsten Stilmerkmale des Textes macht, hinterfragt Zaimoğlu die Grenzen dessen, was korrekt ist und was zusammengehört.23 Diese Strategie gehorcht nicht den verbreiteten Klischees des »Gastarbeiterdeutsch« oder »Türkenslang«, die beide mit geringem Wortschatz und vereinfachter und inkorrekter Grammatik assoziiert werden. Insbesondere die Breite der Register und der Rückgriff auf literarisches Vokabular unterscheidet Zaimoğlus Stil von den Sprachversionen, die in den Comedyformaten verwendet werden.24 Obwohl diese Figuren am Rande der Gesellschaft situiert sind, macht ihre Sprache Gebrauch von allen Ausdrucksebenen des Deutschen und der anarchischen Hybridisierung derselben. Zaimoğlu unterstreicht dies, wenn er betont, dass sich die Sprache der Kanak-Figur »aus ›verkauderwelschten‹ Vokabeln und Redewendungen [zusammensetzt], die so in keiner der beiden Sprachen vorkommen« (13, Hervorhebung Y.Y.). Anstatt sich auf eine der beiden Nationalsprachen, über die deutschtürkische Jugendliche zu verfügen scheinen – Standarddeutsch und -türkisch –, zurückzubeziehen, markiert Kanak Sprak daher die Entstehung eines neuen Artikulationsmodus. Sie steht damit für die Existenz von etwas, was sich nicht aus Nationalsprachen ableitet. Stattdessen evoziert diese Sprache einen kreativen Raum, der sich gleichzeitig innerhalb des Rahmens von Nationalsprachen befindet und über diese hinausgeht.

E n g l i sc h u n d Ra p i n K a n a k S p r a k: D e r E i n f l u s s d e s G l o b al e n Während eine Migrantensprache wie Türkisch im Hintergrund verbleibt, bedient sich Kanak Sprak nicht nur der vielfältigen Register des Deutschen, sondern auch der »globalen« Sprache Englisch. In Kanak Sprak tauchen englische Wörter zwar nicht ausschließlich, aber in größerer Häufung in Kontexten auf, die sich auf Rap beziehen. Obwohl dies nur in drei von 24 Monologen der Fall ist, erweckt die Stellung dieser drei unter 23 Ein weiteres Stilmerkmal, das auch in dieser Passage zu finden ist, ist Zaimoğlus starke Tendenz zu Alliteration und Assonanz. 24 Zu medial popularisiertem »Türkenslang« als Zeichen von mangelnder Sprachkompetenz und der damit assoziierten mangelnden Intelligenz vgl. auch Androutsopoulos, Jannis: Androutsopoulos, Jannis: From the Streets to the Screens and Back Again: On the Mediated Diffusion of Ethnolectal Patterns in Contemporary German (2000), http://www.archetype.de/ papers/iclavedraft.html, 01.01.2009. 194

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den ersten fünf (Monologe 1, 3 und 5) den Eindruck, dass sie repräsentativ für den gesamten Text sind. Über den Rap erhalten englische Sprachfragmente so eine privilegierte Position und dienen als Eingang in Kanak Sprak. Im Monolog von »Bayram, 18, breaker« nimmt die Verbindung von englischen Ausdrücken, Rapstil und dem Spiel mit der deutschen Sprache die folgende Form an: »Ich bin'n breaker und hab meine gute posse, die alle peace wollen und peace stiften, weil peace is schon das, was man aus sich machen sollte, hüter über deinen bruder und die posse und über die kleinen, die schon ne wehr brauchen vor den verdammten verderbern im dunkeln. Rap is'n harter kodex, auf schlaffem posten bist du im nu'n toter posten. […] Der rap sagt: sieh dich vor vorm untersten wie obersten chargen, vor dem der garantiert im falschen pelz rumläuft, um dich auf lamm zu polen. Bist du'n lamm fressen sie dich. […] hier bei uns, bei den breakern und rappern, bei den brüdern und schwestern, ist schluss mit dem stuss, wir schwimmen nicht mit dem strom, wir machen nen eigenen strikten strom, wo jeder'n fluss ist und aufhört'n gottverschissenes rinnsal zu sein.« (41 f.)

Die englischen Wörter »breaker«, »posse« und »peace« stammen aus dem Vokabular der afro-amerikanischen Rapkultur und stehen in der Sprache dieser Figur jeweils für eine Identität (breaker), eine Gemeinschaft (posse) und eine Vision (peace). Neben der referentiellen Bedeutung dieser Wörter bieten sie eine Form der Orientierung und eine Art, der Welt Sinn zu verleihen, die sich auf die eigene Position innerhalb der Welt und einen Verhaltenskodex beziehen. Diese Orientierung und Sinnstiftung beruht auf einer Gesellschaftsanalyse, die diese Ausdrücke implizit aufrufen. Es sind diese impliziten Bedeutungen, die es unmöglich machen, sie durch deutsche Wörter zu ersetzen. Stattdessen machen die englischen Wörter und die spezifische Minderheitenkultur, auf die sie sich in diesem Kontext beziehen, den jungen deutschtürkischen Breakdancer zu einem Teil einer viel größeren, nämlich transnationalen, »Posse«. Der Transfer dieser afro-amerikanischen kulturellen Praxis in einen deutschen Kontext bringt jedoch seine eigenen Implikationen mit sich.25 Wie die Anthropologin Ayşe Çağlar (2001) zeigt, wird Hip-HopKultur von staatlichen deutschen Institutionen als geeignete »Sprache« und kulturelle Praxis speziell für deutschtürkische Jugendliche gefördert. Von deutschen Sozialarbeitern in Jugendclubs werden Rap-Kurse und

25 Zu einer Konzeption von kultureller Globalisierung im Allgemeinen, vgl. Appadurai, Arjun: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996. 195

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Graffiti- und Breakdancewettbewerbe organisiert.26 Paradoxerweise werden diese Formen der US-amerikanischen Minderheitenkultur als Mittel angesehen, junge deutschtürkische Männer in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.27 Diese Beobachtung wird in einem anderen der Monologe in Kanak Sprak, welcher »Ali, 23, Rapper (von ›da crime posse‹)« zugeschrieben wird, zum Teil bestätigt. »Ali« sieht Rap als Mittel zur »Aufklärung« (28) der Unterdrückten und versteht seine eigene Rolle darin, eine Botschaft gegen Drogen und Kriminalität zu verbreiten: »no drugs, no crime [...] wenn du echt bronx sein willst« (28). Sollte seine musikalische Karriere nicht erfolgreich sein, fährt »Ali« fort, will er Polizist werden, denn er tritt ein für »unbedingte teilnahme« (32). Dieses Beispiel zeigt, dass Rap nicht lediglich eine outlaw-Identität bietet, sondern auch Teil eines auf Recht und Ordnung gestützten Staatsapparates sein kann.28 Eines der erfolgreichsten Produkte dieser Bemühungen war die größtenteils deutschtürkische Hip-Hop-Gruppe Cartel, die als Ergebnis von staatlich subventionierter Sozialarbeit in Berlin entstand.29 Ihr überraschender Erfolg im Jahr 1995 fiel zusammen mit der Veröffentlichung von Kanak Sprak. Beide sind Teil eines allgemeinen Trends in Deutschland, Minderheiten vor allem im Hip-Hop zu Wort kommen zu 26 Çağlar, Ayşe: Management kultureller Vielfalt, S. 226 f. 27 Ebd., S. 229 f. 28 Die prominente Rolle des »black man« in dem Monolog von »Ali« weist weiter darauf hin, dass Quelle und Anknüpfungspunkt dieser Aneignung des amerikanischen Englisch der Ausdruck einer männlichen Minderheitenposition ist. Obwohl es auch einen Monolog einer Transsexuellen gibt (34-38) ist Kanak Sprak explizit maskulin. Als Antwort auf heftige Kritik, vor allem von deutschtürkischen Frauen, stellt Zaimoğlus drittes Buch Koppstoff: Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft eine Sammlung von Monologen der weiblichen Gegenparts zu den Figuren in Kanak Sprak dar. Allerdings wird hier eine auffällig andere Sprache verwendet; einige Monologe sind in Standarddeutsch verfasst. Ders.: Koppstoff: Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft, Hamburg 1998. 29 Die Gruppe da crime posse des oben genannten Rappers Ali (Aksoy) war Teil von Cartel. Laut Cheesman ist Aksoy die einzige Figur in dem Text, die eindeutig zu identifizieren ist. Cheesman, Tom: Akçam – Zaimoğlu – ›Kanak Attak‹, S. 185. Vgl. Çağlar, Ayşe: Management kultureller Vielfalt, S. 231 ff. für eine Diskussion der unterschiedlichen Bedeutungen, die die Betonung türkischer Identität durch das Medium des Hip-Hop durch Cartel im deutschen, deutschtürkischen und türkischen Kontext und im Verhältnis zum Nationalismus hat. Allerdings waren die Songs von Cartel, im Unterschied zu Kanak Sprak hauptsächlich auf Türkisch, und teilweise auch auf Spanisch, Deutsch oder Englisch verfasst. 196

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lassen, wodurch Hip-Hop zum designierten und legitimsten Artikulationsmedium für Minderheiten wird.30 Hip-Hop ist damit ein Bereich, in dem sich die Imaginationen sowohl von Minderheit als auch Mehrheit – wenn man eine solche Trennung vornehmen kann – überschneiden und interagieren. Während dies keineswegs bedeutet, dass die Jugendlichen, die sich dieses Phänomen zu eigen machen, lediglich manipuliert sind,31 weist es doch auf die Tatsache hin, dass in der »deutschen« Imagination eine Verbindung zwischen Minderheiten in Deutschland und den USA besteht.32 Diese imaginierte Verbindung zwischen Deutschtürken und Afroamerikanern ist keineswegs neu. Schon in einem 1973 erschienenen Artikel beschwor der Spiegel die Vorstellung, dass deutsche Städte zu »Harlem« würden. Die US-amerikanische Kultur dient bereits seit geraumer Zeit als Projektionsfläche für den Umgang mit Veränderungen in der deutschen Gesellschaft. Erfahrungen kultureller Differenz wurden und werden durch Verweise auf einen US-amerikanischen Kontext artikuliert, wobei es so scheint, als gäbe es keine brauchbaren Präzedenzfälle innerhalb Deutschlands. Welche Rolle spielt nun die englische Sprache in diesem Kontext? Englische Wörter und Wendungen stellen nur einen minimalen Teil von Kanak Sprak dar. Gleichzeitig hat Englisch jedoch strategische Bedeutung für das Buch. Durch die Verwendung des englischen RapVokabulars partizipieren die Figuren in Kanak Sprak an einem der wichtigsten Beispiele einer transnational zirkulierenden Kulturform, welche 30 Dies scheint auch außerhalb Deutschlands der Fall zu sein, wie ein Artikel in der New York Times über deutschtürkische Jugendliche zeigt, der anhand eines Porträts des Filmemachers Neco Çelik dessen Erfahrungen mit Hip-Hop, Graffiti und als Bandenmitglied thematisiert. Bernstein, Richard: »A Bold New View of Turkish-German Youth«. In: New York Times (13.04.2003). Für eine kritische Diskussion dieses Trends in filmischer Repräsentation vgl. Mennel, Barbara: »Bruce Lee in Kreuzberg and Scarface in Altona: Transnational Auteurism and Ghettocentrism in Recent Turkish-German Films«. In: New German Critique 87 (2002), S. 133-156. 31 Für eine positive Auslegung vgl. z.B. Ayata, Imran: »Kanak-Rap in Almanya – Über die schweren Folgen Deutschlands«. In: Angeworben – Eingewandert – Abgeschoben: Ein anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Katja Dominik, Münster 1999, S. 273-287. 32 In diesem Kontext wäre es weiterhin wichtig, die Rolle von Afrodeutschen sowohl in ihrer aktiven Rolle in der Produktion von Hip-Hop (vgl. Loh, Hannes/Güngör Murat: Fear of a Kanak Planet)und anderen Formen der Minderheitenkultur in Deutschland zu analysieren als auch ihre symbolische Bedeutung für Diskurse über kulturelle Differenz in Deutschland zu betrachten. 197

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sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Obwohl Rap global dominant ist, erweckt er die Assoziationen von Oppositionalität und Widerstand der Minderheit, auf welche sich diese Figuren beziehen. Durch diese Aneignung der globalisierten Sprache des Rap überwinden sie das Klischee des »zwischen zwei Kulturen«-Stehens, welches nach wie vor in Diskursen über Deutschtürken dominiert.33 Als dritte Bezeichnung und Sprache bricht das Englische die binäre Opposition einer Zugehörigkeit entweder zu Türkisch oder zu Deutsch auf. Wie gezeigt, kennzeichnet ein Rückgriff auf eine durch die englische Sprache vermittelte Kulturform nicht unbedingt einen Bereich außerhalb der deutschen Kultur. Im Gegenteil wird die englische Sprache teilweise als Zugang zu einem Platz innerhalb der deutschen Kultur verwendet. In diesem Fall steht Englisch nicht für Amerikanisierung, wie sonst so oft assoziiert, sondern wird sowohl von staatlicher Seite als auch von Seite der Minderheiten in Deutschland als ein Mittel zur Verhandlung anderer Formen kultureller Differenz verwendet. In diesem Sinne illustriert das Vorkommen von Englisch und Rap in Kanak Sprak, wie globale Kulturen eine transformative Sprache bieten, mit der sich die lokalen Bedingungen ausdrücken lassen, während die Zirkulation globaler Formen wiederum auf einer Vielzahl lokaler Interessen beruht.

Rotwelsch und jüdische Sprachen in Kanak Sprak Zaimoğlu verwendet in seinen Monologen nicht nur die Möglichkeiten eines durch den Rap vermittelten Englisch, sondern auch andere Sprachen und Formen: »Längst haben sie [die Kanaken] einen Untergrund-Kodex entwickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die »KanakSprak«, eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen. Ihr Reden ist dem Free-Style-Sermon im Rap verwandt, dort wie hier spricht man aus einer Pose heraus« (13). Rap spielt zwar in dieser Charakterisierung eine hervorgehobene Rolle, doch die anderen Analogien und ihre linguistischen Codes sind ebenfalls von Bedeutung. Rotwelsch zum Beispiel ist bekannt als die Geheimsprache von Randgruppen wie Vagabunden, Bettlern, Kleinkriminellen oder Prostituierten und lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen, während in

33 Vgl. Adelson, Leslie A.: »Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 36-47 für eine Kritik dieses extrem verbreiteten Tropus. 198

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einigen Gegenden auch heute noch Formen davon existieren.34 Es handelt sich dabei um einen Code auf der Grundlage eines Wortschatzes aus kunstvollen Neologismen und Umschreibungen, der für diejenigen, die nicht mit ihm vertraut sind, völlig unverständlich ist. Dieser Effekt wird verstärkt durch eine Vielzahl von Lehnwörtern aus anderen Sprachen, vor allem aus dem Jiddischen, aber auch aus slawischen und romanischen Sprachen. Es ist offensichtlich, dass Zaimoğlus Kanak Sprak einige Gemeinsamkeiten mit Rotwelsch aufweist, sowohl in der Struktur – der Tendenz zur Neubildung deutscher Wörter (»Hasshand« »Lahmgöre«), den Entlehnungen aus anderen Sprachen – als auch in ihrer Positionierung am Rande der Gesellschaft. Während Rap für eine wirkungsvolle Form der öffentlichen Rede steht, stellt Rotwelsch ein Kommunikationsmittel dar, welches die Mehrheit und den Mainstream ausschließt. Wenn dieser Code eine Gemeinschaft hervorruft, dann eine, die durch gemeinsame Geheimnisse, Marginalität und Illegalität gekennzeichnet ist. Kanak Sprak kombiniert beide Elemente: die Veränderung der Standardsprache erzeugt Undurchsichtigkeit und schließt die Mehrheit aus ihrem Netzwerk aus; gleichzeitig ist sie eine stilisierte Form der öffentlichen Rede. Die Verwendung von Rotwelsch wirft daneben die Frage nach dem Jiddischen auf. Rotwelsch besteht zu einem großen Teil aus Lehnwörtern aus dem Jiddischen, was in der Vergangenheit schwerwiegende Folgen für die jiddische Sprache hatte, die zu Unrecht mit der als Gaunersprache der Diebe angesehenen ersteren Sprachform gleichgesetzt wurde.35 In Kanak Sprak finden wir mehrfach Ausdrücke wie »schlamassel« (47), »mischpoke« (121), »meschugge« (117), »schofele« (136), allesamt Wörter jiddischen Ursprungs. Obwohl diese Wörter Eingang in den heutigen Sprachgebrauch gefunden und ihre Konnotation als Fremdwörter teilweise verloren haben mögen, signalisieren sie die sprachlich aufgehobene Erinnerung an die jüdische Präsenz in der deutschen Kultur. Diese Tatsache wiederum wirft die Frage auf nach dem Verhältnis von Migranten zu der Geschichte und dem kulturellen Gedächtnis, mit dem sie durch die Migration in Kontakt kommen und von denen sie Teil werden, nicht zuletzt durch die Sprache.36 In Zaimoğlus Text tauchen immer wieder 34 Vgl. Girtler, Roland: Rotwelsch: die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden, Wien/Köln/Weimar 1998 für eine Beschreibung der heutigen Wiener Variante. 35 Grossman, Jeffrey A.: The Discourse on Yiddish in Germany from the Enlightenment to the Second Empire, Rochester/New York 2000, S. 134 f. 36 Auch Zafer Şenocak und Bülent Tulay werfen diese Frage in ihrem Essay »Deutschland – Heimat für Türken?« auf: »Heißt in Deutschland einzuwandern nicht auch, in die jüngste deutsche Vergangenheit 199

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Verweise auf Juden und im Besonderen auf den Holocaust auf.37 Angesichts dieser expliziten Bezüge scheinen die Spuren jüdischer Sprachen in einem so sorgsam strukturierten Werk wie Kanak Sprak keineswegs Zufall zu sein.38 Dafür sprechen auch weitere »jüdische« Verweise, etwa wenn Zaimoğlu den islamischen Fundamentalisten sagen lässt: »Ich, der ich mich [gottes] wort ergeben, esse koscheres, geschächtetes fleisch.« (141) Dadurch, dass er das hebräische Wort »koscher« anstelle des türkisch-arabischen »helal« verwendet, lässt Zaimoğlu in seinem deutschen Text jüdische und muslimische Gebräuche miteinander verschmelzen und durchkreuzt linguistisch die Subjektpositionen verschiedener Minderheiten in Deutschland. In diesem Fall unterminiert er so genau die Reinheit und Korrektheit, zu der sich der geäußerte Satz bekennt.39 Mit dem Rotwelschen beruft sich Zaimoğlu auf eine Sprachform, welche selbst bastardisiert ist und zum Ziel hat, Autoritäten zu untergraben, und welche sich unabhängig von Nationengrenzen bewegt. Durch das Rotwelsche, und in weniger expliziter Weise durch das Jiddische, evoziert der Text nicht-nationale Sprachen, die als inkorrekt und minderwertig galten und sich damit in einer Sphäre befinden, in der sich auch Kanak Sprak verortet. Diese Sprachen dienen als Index eines kulturellen Gedächtnisses früherer marginalisierter Existenzen in Deutschland und gehen so über das Englische als einzig legitimierter Projektionsfläche für minoritäre Differenz hinaus. einzuwandern?« Şenocak, Zafer/Tulay Bülent: »Deutschland – Heimat für Türken?«. In: Şenocak, Zafer: Atlas des tropischen Deutschland. Essays, Berlin 1993, S. 16. 37 Adelson diskutiert diese Verweise eingehender in einem Essay, indem sie jüdische Bezüge bei Zaimoğlu und Şenocak untersucht. Adelson, Leslie A.: »Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s«. In: New German Critique 80 (2000), S. 1-32. Vgl. auch ihr weitergehendes Kapitel über Holocaustbezüge in der Literatur der Migration: dies.: The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Towards a New Critical Grammar of Migration, New York 2005. 38 Jiddisch wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts durch das Deutsche als Muttersprache der meisten deutschen Juden verdrängt, aber im kulturellen Diskurs weiter mit ihnen in Verbindung gebracht. Vgl. Gilman, Sander: Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986, für eine eingehendere Diskussion der Tropen über Juden und Sprache. 39 An dieser Stelle wird auch deutlich, dass sich der Inhalt der Monologe und ihre Sprache nicht unbedingt decken. Die Worte, die Zaimoğlu dem Fundamentalisten in den Mund legt, sorgen vielmehr für eine ironische Distanz. 200

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Schlussbetrachtung: K o n t e x t e d e r R e s i g n i f i k a ti o n Kanak Sprak kombiniert mehrere Sprachen und Codes auf eine komplexe Weise, und gibt auf diese Art einer stattfindenden kulturellen und sozialen Transformation eine Stimme. Der Ausgangspunkt dieses Prozesses ist die Neuaneignung des Schimpfwortes »Kanake«. Zaimoğlu zufolge sind die Modelle für diese Wiederaneignung die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung und Hip-Hop.40 In der veränderten Funktionsweise des Wortes »Kanak« finden sich jedoch auch einige bedeutende Parallelen zu einem anderen Wort, welches in den letzten Jahren eine Umdeutung erfahren hat, nämlich queer.41 Dieser Ausdruck kam in den 1990er Jahren zunächst durch sexuelle Minderheiten wie Lesben, Schwule, und Bisexuelle in den Vereinigten Staaten in verbreiteten Gebrauch, und hat mittlerweile auch Eingang in den deutschen Wortschatz gefunden. Wie »Kanake« war queer zunächst ein höchst abwertender Ausdruck, bevor er zu einer trotzigen Selbstbeschreibung wurde. Beide Ausdrücke sind nicht mehr nur Bezeichnungen für eine spezifische ethnische oder sexuelle Identität, sondern sind zu Überbegriffen zweier Bewegungen geworden. Im Falle von »Kanak« wird dies besonders deutlich durch das Netzwerk »Kanak Attak«, welches sich nicht um eine spezifische (ethnische) Identität organisiert.42 Diese erweiterte Bedeutung von »Kanak« kann erklären, warum der Begriff auch von Angehörigen anderer Hintergründe aufgenommen wurde.43 Daneben stehen sowohl »Kanak« als

40 (17) Obwohl Zaimoğlu dies nicht explizit äußert, ist die Aneignung des Wortes »Kanake« beeinflusst von der Aneignung des rassistischen Ausdrucks nigger in einigen Formen des Hip-Hop. Das Wort nigger selbst nimmt innerhalb von Kanak Sprak zwei Funktionen ein. An einer Stelle wird es in einer sarkastischen Mimikry deutscher Einstellungen gegenüber Nicht-Weißen dem Ausdruck Kanake gegenübergestellt (22); an anderer Stelle dient es als allumfassender Ausdruck der Identifikation (25). 41 Mein Titel deutet diese Parallele an, indem er auf Judith Butlers einflussreichen Essay »Critically Queer« anspielt. Butler, Judith: »Critically Queer«. In: dies.: Bodies That Matter: On the Discursive Limits of ›Sex‹, New York 1993, S. 223-242. 42 Kanak Attak: Kanak Attak und Basta!; Cheesman, Tom: Akçam – Zaimoğlu – ›Kanak Attak‹, S. 187. 43 Vgl. die Texte von Avantario, Vito: »Ins Gesicht«. In: Morgen Land: Neuste deutsche Literatur, hg. v. Jamal Tuschick, Frankfurt a.M. 2000, S. 21-24.; ders.: »kanaken pulp: kopfschuß? warum denn nicht«. In: Morgen Land: Neuste deutsche Literatur, hg. v. Jamal Tuschick, Frankfurt a.M. 201

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auch queer für eine antinormative und antinormalisierende Haltung. Mit Hilfe von beiden Namen werden Assimilationsdiskurse problematisiert und Sichtbarkeit erzeugt.44 In diesem Kontext lohnt es sich, den Blick auf den historischen Moment zu richten, der Kanak Sprak vorausging. Nach der deutschen Wiedervereinigung stieg die Zahl der rassistischen Angriffe auf die nichtdeutsche Bevölkerung und nichtweiße Deutsche in den frühen 1990er Jahren an. Neben der offenen Gewalt in Rostock im Sommer 1992 oder den zahlreichen Brandanschlägen auf Asylbewerberheime im gleichen Zeitraum führten vor allem die Brandanschläge von Mölln und Solingen zu Massenprotesten von Minderheiten gegen rassistische Gewalt. Die Angriffe auf Familien, die seit Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatten, untergruben die Glaubwürdigkeit der dominanten Assimilations- und Integrationsrhetorik.45 Im Kontext dieser Proteste wurde eine Kritik der Assimilation und Integration als akzeptable oder erfolgversprechende Konzepte für Minderheiten laut. Diese Ablehnung von Assimilation und Vereinheitlichung bildet den Hintergrund für Kanak Sprak und findet einen neuen Ausdruck darin.46 So speist sich Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak aus unterschiedlichsten Quellen, nimmt verschiedenste historische Strömungen in sich auf und verarbeitet diese durch eine augenfällige Sprachästhetik. Trotz des dokumentarischen Anspruchs liegt die Bedeutung dieses Textes in erster Linie in der Art und Weise, wie er Sprachen, Kulturen und soziale Perspektiven neu imaginiert und konfiguriert und in der Folge neue kollektive Subjekte interpelliert. Einige dieser Imaginationen sind durchaus problematisch. Dies gilt vor allem für die Orientalisierung und Marginalisierung des Türkischen und die ambivalente Funktion der überbetonten Männlichkeit als Antwort auf rassistische Strukturen. Insgesamt jedoch ist dies ein Projekt, das die besonders in Deutschland tiefwurzelnde Vorstellung der Verbindung zwischen Sprache, Nation und Ethnie 2000, S. 25 ff., als Beispiel einer ethnienübergreifenden Identifikation und Verwendung dieser Form. 44 Vgl. auch Engel, Antke: »Queer-Feministische und kanakische Angriffe auf die Nation«. In : Vor der Information (2000) [1999], S. 2-5, die die Parallelen und Unterschiede zwischen queer und Kanak ausführlich diskutiert. 45 Çağlar, Ayşe: Management kultureller Vielfalt, S. 233, argumentiert in ähnlicher Weise über den historischen und kulturellen Moment in Hinblick auf den Erfolg von Cartel. 46 In seinem Vorwort zu Koppstoff weist Zaimoğlu retrospektiv auf die Auswirkungen dieser Ereignisse auf Kanak Sprak hin und unterstreicht so deren zentrale Bedeutung. Ders.: Koppstoff, S. 9. 202

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imaginativ unterläuft. Die deutsche Sprache, die wir in Kanak Sprak finden, setzt sich zusammen aus einer Vielzahl linguistischer Ebenen und ist nicht mehr nur an eine Nation und Ethnie gebunden. Kanak Sprak inszeniert die deutsche Sprache vielmehr als einen Ort, an dem Lokales und Transnationales zusammentrifft; einen Ort, der nationale Erinnerungen als auch die Erinnerung an nicht-nationale Sprachen und Geschichten in sich aufgenommen hat. Durch eine selbstbewusste Performanz betont Kanak Sprak, dass die Transformation deutscher Kultur in der Folge der Migration kein noch zur Diskussion stehender Prozess ist, sondern unter anderem in der deutschen Sprache selbst längst stattfindet. (Aus dem Englischen übersetzt von Swantje Möller)

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YASEMIN YILDIZ

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Lange Zeit wurden in der Literaturwissenschaft und in den geisteswissenschaftlichen Feuilletons Film und Literatur deutsch-türkischer Autoren und Regisseure stiefmütterlich und als nicht ernstzunehmende Kunstproduktion behandelt. Den Beobachtungen zweiter Ordnung unterlag bis in die 1990er Jahre die Grundannahme, dass es sich bei Film und Literatur einzig um eine repräsentierende handele, die lediglich empirische Wahrheiten über Migrantenleben widerspiegele und keine eigenen poetologischen Konzepte impliziere.1 In den 1970ern und 1980ern als Dokumentationen des »anderen« Lebens in Deutschland verstanden, dominierte die Vorannahme einer leidvollen Migrantenexistenz zwischen den Kulturen, die zugleich bestimmendes Motiv in Filmen und Texten war.2 Selbst nach den narrativ komplexen Erzählungen und Romanen wie Das Leben ist eine Karawanserei (1991) von Emine Sevgi Özdamar oder Texten von Autoren wie Günay Dal, Aras Ören, oder den vom französischen Autorenkino beeinflussten Filmen von Thomas Arslan und vom amerikanischen Kino von Fatih Akın wurde die kulturalistische Auffassung aufrechterhalten. An die Stelle der Repräsentation einer leidvollen Existenz zwischen den Kulturen trat die ebenso kulturalisierende Interpretation, dass es sich bei den komplexen Narrationsformen um orientalische Literaturformen und Metaphern handele, die der deutschen 1

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Vgl. Adelson, Leslie A.: »Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006 [engl. 2001], S. 36-47, hier S. 38. Siehe auch Göktürk, Deniz: »Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«. In: Interkulturelle Literatur in Deutschland, hg. v. Carmine Chiellino, Stuttgart 2007, S. 329-344, hier S. 330. Vgl. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 61-73, hier S. 62 f. 207

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Literatur fremd seien.3 Dass jedoch Das Leben ist eine Karawanserei und der Film Gegen die Wand (2003) in der Türkei als Fremdkörper empfunden wurden4, hat keinen Eingang in die deutsche Rezeption gefunden. Diese Beobachtung, dass die deutsch-türkische Film- und Literaturproduktion primär eine vermittelnde Funktion innehabe, die bis heute in Wissenschaft, Politik und im Feuilleton zu finden ist, basiert auf der Dominanz einer essentialistischen Kulturvorstellung5, einer monokulturellen Unterscheidung zwischen deutscher und türkischer Kultur, die wir ebenso in deutschen Filmproduktionen zum Thema türkische Migranten in Deutschland finden. Zu den wichtigsten Filmen deutscher Regisseure aus den 1970er und 1980er Jahren, die essentialistische Kulturvorstellungen vermitteln, gehören Shirins Hochzeit (1975) von Helma Sanders-Brahms und Yasemin (1987) von Hark Bohm.6 Es sind Filme,

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Vgl. Wierschke, Annette : »Auf den Schnittstellen kultureller Grenzen tanzend: Aysel Özakın und Emine Sevgi Özdamar«. In: Denn du tanzt auf einem Seil, hg. v. Sabine Fischer/Moray McGowan, Tübingen 1997, S. 182-198, hier S. 186. Vgl. Akyıldız, Olcay: »What happens when fact and fiction overlap? Emine Sevgi Özdamar's ›Das Leben ist eine Karawanserei‹«. In: Autobiographical Themes in Turkish Literature: Theoretical Comparative Perspectives, hg. v. Börte Sagaster et al., Würzburg 2007, S. 17-34, hier S. 28. Essentialisierung generiert die Vorstellung eines Wesenskerns, der den Charakter eines Menschen, einer Gesellschaft oder einer Epoche unverrückbar bestimmt. Essentialisierungen reduzieren die Vielschichtigkeit sozialer Phänomene auf ein Merkmal und führen oft zu Verhärtungen sozialer Konflikte. In Shirins Hochzeit wird die Odyssee einer Türkin erzählt. Die Protagonistin Shirin (Ayten Erten) aus einem türkischen Dorf soll mit einem Gutsbesitzer verehelicht werden, weil dies die einzige Möglichkeit ist, ihr und ihrer Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Shirin flieht über Istanbul nach Deutschland, um ihren schon seit der Kindheit versprochenen Mann Mahmud (Aras Ören) zu finden, der in Köln arbeitet. Sie wird ihn erst am Ende des Filmes finden. Bis dahin gerät sie in die klassische Falle: Ohne Arbeit bekommt sie keine Aufenthaltserlaubnis und umgekehrt ohne Aufenthaltserlaubnis keine Arbeit. Eine Rückkehr in die Türkei ist jedoch ausgeschlossen, da ihre Familie dort nur noch dank ihres Geldes überleben kann. Sie trifft auf den Zuhälter Aida (Jürgen Prochnow) und fängt an, für ihn zu arbeiten. Eine modellhafte Leidensgeschichte wird hier präsentiert, die auch modellartig die verschiedenen Kulturen repräsentiert. (SandersBrahms, Helma: Shirins Hochzeit, Spielfilm, Westdeutscher Rundfunk, BR Deutschland 1975/1976). In Yasemin wird eine »schwierige« Liebesgeschichte zwischen dem 20-jährigen Jan (Uwe Bohm) und der 17-jährigen Türkin Yasemin (Ayşe Romey) erzählt. Schwierig, denn Yasemin muss ein 208

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die von monokulturellen Unterscheidungen ausgehen: deutsches Leben gleich modernem und freiem Leben und türkisches ein rückständiges Leben bisweilen mit archaischen Strukturen. Diese Problemfilme wurden besonders auch durch die deutsche Filmförderung der 1980er und 1990er Jahre begünstigt, in die beispielsweise die Filme des ersten wichtigen deutsch-türkischen Regisseurs Tevfik Başer fielen. Gefragt waren pflichtbewusste Problemfilme, ein »cinema of duty«, wie es im britischen Kontext genannt worden ist.7 Mit dieser gewissen Herablassung wurde den ›Ausländern‹ ihr kultureller Platz zugewiesen, und Filmemacher/innen sahen sich häufig festgelegt auf leidvolle Geschichten vom Verlorensein ›zwischen den Kulturen‹. Um der Förderung teilhaftig zu werden, reproduzierten in Deutschland Autor/innen und Regisseur/innen ausländischer Herkunft in ihren Drehbüchern und Filmen häufig Klischees über die ›eigene‹ Kultur und deren archaische Sitten und Bräuche.8 Zu diesen Filmen gehören besonders die in den 1980ern gedrehten und prämierten Filme von Başer 40 qm Deutschland (1986) und Abschied vom falschen Paradies (1988) über das türkische Migrantenleben in Deutschland. Ziel des Regisseurs sei es gewesen, die kulturelle Welt der Türken den Deutschen erfass- und begreifbar zu machen. Dieser vermittelnden Form einer interkulturellen Kompetenz9 – so eine Aussage dieses Beitrags – unterliegt ebenso eine essentialistische Kulturvorstellung, die wir im Abschnitt »Interkulturelle Kompetenz und ihre Problematisierung« anhand der Filme zeigen werden. Die Intention, das

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Doppelleben führen: nach außen hin das der emanzipierten jungen Frau und in ihrer Großfamilie jenes der traditionell erzogenen, türkischen Tochter. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Der Vater Yusuf (Şener Şen), ein Gastarbeiter, steigert sich im Verlauf des Films immer mehr zum türkischen Despoten, der es nicht zulassen kann, dass seine Tochter einen deutschen Freund hat. Die »türkische« und die »deutsche« Welt sind auch hier eindeutig repräsentativ getrennt. (Bohm, Hark: Yasemin, Spielfilm, Hamburger Kino Kompanie Hark Bohm Filmproduktions KG, BR Deutschland 1987/1988.) Malik, Sarita: »Beyond ›the cinema of duty‹? The pleasures of hybridity: Black British film of the 1980s and 1990s«. In: Dissolving Views: Key Writings on British Cinema, hg. v. Andrew Higson, London 1996, S. 202215, hier S. 204. Göktürk, Deniz: Migration und Kino, S. 333. Unter interkultureller Kompetenz wird hier eine »Vermittlungfähigkeit« verstanden, die spezifische Konzepte der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Handelns von Personen in einer Kultur für andere erfass- und begreifbar macht. 209

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türkische Leben in Deutschland den Deutschen vermitteln zu wollen, finden wir ebenso in den literarischen Texten der 1980er Jahre deutschtürkischer Autoren.10 Mitte der 1990er Jahre wandelt sich dieses Bild von einem Kino der Fremdheit und der Einfühlung in die postulierte andere Kultur zu einem Kino der Métissage, das sich nicht mit der einfachen Dichotomie der »deutschen« und »türkischen« Kultur greifen lässt.11 Anders als in den Migrationsfilmen davor, die immer wieder klar abgegrenzte Kulturen aufeinander prallen ließen, stehen im Zentrum der deutsch-türkischen Regisseurinnen und Regisseuren der zweiten Generation wie Buket Alakus, Thomas Arslan, Fatih Akın und Ayşe Polat offene Formen des Zusammenlebens in einer hybriden, urbanen Gesellschaft. Zu den Migrationsfilmen der 1970er und 1980er Jahre konstatiert der 1962 in Braunschweig geborene Regisseur Thomas Arslan, der mit seiner BerlinTrilogie Geschwister (1996), Dealer (1998) und Der schöne Tag (2001) intellektuelles Aufsehen erregte – seine Filme stehen in der Tradition des westeuropäischen Autorenkinos. »Das Verhältnis von Deutschen und Türken wird [in den Filmen der 1970er und 1980er Jahre] auf einen angeblich alles durchdringenden Gegensatz von Moderne und Traditionalismus verengt. Hier das moderne, aufgeklärte Deutschland, dort eine archaischen Traditionen verhaftete Türkei. Hierbei werden die Heterogenitäten der als fremd eingestuften Kultur unterschlagen und gleichzeitig die Vermischungen und das Gewordene der eigenen (deutschen) Kultur verschwiegen oder verschleiert.«12 Daraus folgernd formuliert er über die kulturelle Positionierung seiner Protagonistin Deniz in seinem Film Der schöne Tag (2001): »Die Figur der Deniz steht sicher für die Erfahrungen von vielen ihres Alters. [...] Die vielbeschworene Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen entspricht nicht ihren Lebenserfahrungen. [...] Sie bewegt sich mit

10 Vgl. Ezli, Özkan: Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik, S. 65. Ebenso wie Başer entstammen die wenigsten deutsch-türkischen Autoren der Gastarbeiterschicht, um die es in den Texten eigentlich geht. Die meisten sind wie Alev Tekinay oder Yüksel Pazarkaya der gebildeten Schicht zugehörig. Tevfik Başer war durch ein Austauschprogramm der türkischen Universität Eskişehir nach Hamburg gekommen. Vgl. Göktürk, Deniz: Migration und Kino, S. 334. 11 Dieser Wandel vollzog sich nicht nur im Filmgenre, sondern vergleichbar auch in der Literatur »deutsch-türkischer« Autoren. Vgl. Ezli, Özkan: Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik, S. 61-73. 12 Arslan, Thomas: Presseheft zu seinem Film »Geschwister«, 2001. 210

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Selbstverständlichkeit durch die Umgebung, in der sie lebt.«13 Dies gilt ebenso für die Protagonisten in Fatih Akıns Filmen, der wohl der bekannteste Vertreter des »deutsch-türkischen« Kinos ist. In seinen Filmen Gegen die Wand (2004) und besonders in Auf der anderen Seite (2007) wird eine Komplexität des »deutsch-türkischen« Alltags exemplifiziert, die jenseits einer dichotomischen Kulturunterscheidung, einer deutschen Leit- und einer traditionell-archaischen »türkischen« Kultur steht. Vielmehr hat sich spätestens mit Auf der anderen Seite (2007), auch wenn der Film topographisch zwischen Deutschland und Türkei spielt, Fatih Akıns Kino vom deutsch-türkischen Konnex' gelöst und ist nun als internationales und globales Kino zu verhandeln. An die Stelle der interkulturellen Kompetenz rückt die kulturelle Kompetenz, die nicht mehr allein deutsch-türkische Geschichten erzählt, sondern zugleich auch transnationale und transkulturelle.

D i e i n t e r k u l tu r e l l e K o m p e t e n z u n d i h r e Problematisierung In 40 Quadratmeter Deutschland wird die Geschichte eines türkischen Paares erzählt, das in der Bundesrepublik lebt. Der 40-jährige Gastarbeiter Dursun (Yaman Okay) ehelicht nach einem einjährigen Arbeitsaufenthalt in Deutschland in seiner Heimat die 18-jährige Turna (Özay Fecht), die mit ihm nach Hamburg in eine verwahrloste, dunkle und enge Hinterhofwohnung zieht. Diese wird ihr zum Gefängnis, denn Dursun schließt seine junge Frau jeden Morgen in der Wohnung ein, wenn er zur Arbeit geht. Dabei ist Dursun weder grausam noch brutal. Er ist konservativ und findet die liberalistische Lebensweise der Deutschen abstoßend und beängstigend. Als Turna bemerkt, dass er sie einschließt, beginnt ein Prozess des Widerstands, der ihre wütende Ohnmacht und seine verständnislose Hilflosigkeit in langen, stummen Einstellungen und kurzen Dialogen beklemmend deutlich macht.14 Başers Intention war es, die totale Verlorenheit in einem fremden Land darzustellen, die er in seinem zweiten Film Abschied vom falschen Paradies erneut inszeniert.15 Der Film liest sich dabei wie die Fortsetzung seines ersten. Elif – erneut steht eine Frau im Zentrum – wird zu 6 Jahren Haft verurteilt, weil sie ihren türkischen Mann getötet hat, der sie in der Türkei heiratete und mit nach 13 »Sowohl als auch: Das ›deutsch-türkische‹ Kino heute«, siehe www.filmportal.de, 01.01.2009, S. 2. 14 Başer, Tevfik: 40 qm Deutschland, Spielfilm, Futura/Filmverlag, BR Deutschland 1986. 15 Ebd. 211

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Deutschland nahm. Das Motiv für den Mord bleibt verborgen. Der Film spielt ausschließlich im Gefängnis und zeichnet eine Integrationsgeschichte jenseits der öffentlichen Gesellschaft nach. Elif lernt im Gefängnis Deutsch und freundet sich mit den deutschen Frauenhäftlingen an. Zu Anfang des Films sehen wir Elif als eine schüchterne, ängstliche Frau, die kein Wort Deutsch spricht, Kopftuch trägt und anatolischdörflich gekleidet ist. Sie repräsentiert eine türkische Frau, die unmündig und ohnmächtig wirkt. Die deutsche Sprache beginnt, ihr Empfinden wiederzugeben. Anfangs sind es noch die Wörter »Hunger. Kalt. Angst.«, die ihre existentielle Situation im Gefängnis ausdrücken. Korrespondierend damit wurde die erste halbe Stunde des Films in kleinen, dunklen, kaum lichtdurchlässigen Gefängnisräumen gedreht. Die Protagonistin ist in der Regel allein und sprachlos. Im zweiten Drittel des Films dominieren die Aufnahmen im Gefängnishof, im »Freien« und in der Kantine. Sie ist nicht mehr allein. Ein eindeutiges Zeichen für ihren Wandel ist ihr Äußeres. Stück für Stück legt sie ihre anatolische Kleidung ab. Zuerst verschwindet das Kopftuch, dann folgt ein Abendkleid, das sie für das erste Treffen mit dem einen unbekannten Geliebten aus dem Männertrakt trägt, und schließlich sehen wir Elif nur noch mit Jeans und Bluse. Elifs Traum wird es, nach der Verbüßung ihrer Strafe ihre Kinder zu sich zu nehmen und in Deutschland Busfahrerin zu werden. Dies gesteht sie ihren deutschen Freundinnen im Gefängnishof ein. Doch dieser Wunsch wird von der Protagonistin erst nach einer Emanzipationsgeschichte innerhalb von Gefängnismauern artikuliert. Bemerkenswert und assoziationsreich ist auch die Filmsequenz hierzu. Sie spielt im »freien« Gefängnishof, in Gesellschaft ihrer deutschen Freundinnen und sie ist technisch gesehen die am stärksten ausgeleuchtete Szene des Films. Dass diese Sequenz wie eine Schlüsselszene wirkt, liegt vor allem an der Licht- und Kostümdramaturgie des Films insgesamt. Eine Bewegung vom Dunklen ins Helle, von Innen nach Außen, die beim Rezipienten eine aufklärerische Ideomotorik in Gang setzt, nämlich der der unterdrückten Türkin, die sich nur jenseits der Mauern und Wände wirklich emanzipieren kann. Eine Ideomotorik bindet das Sichtbare, das Konkrete, das sich Ereignende an ein abstraktes Gesetz, an eine Idee.16 Elif legt im Laufe des Films das Kopftuch ab und für den Zuschauer wird klar, dass damit eine Steigerung ihres Selbstbewusstseins einhergehen muss. Elif will Busfahrerin werden und damit verbunden sind die 16 Die Begriffe Ideo- und Sensumotorik gehen auf die Arbeit Differenz und Wiederholung von Gilles Deleuze zurück. Der Begriff der Sensumotorik wird in der Analyse des Films »Gegen die Wand« eine wichtige Rolle spielen. Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 41. 212

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Konnotationen von Emanzipation, moderner Subjektivität und Integration. Hier läuft der Motor westeuropäischer Aufklärung.17 In beiden Filmen von Başer spielt die Parallelität von kulturellen Welten eine besondere Rolle, die im ersten Film 40 qm Deutschland durch die Hinterhofwohnung in Hamburg getrennt von der real existierenden deutschen Gesellschaft dargestellt repräsentiert wird und in Abschied vom falschen Paradies durch eine Emanzipationsgeschichte, die mit einem Kleider- und Verhaltenswandel einhergeht. Nach Aussage des Regisseurs ging es in beiden Filmen darum, Geschichten über Türken »von innen heraus« zu erzählen, die die Filme deutscher Regisseure nach ihm nicht leisten konnten. »Wenn deutsche Regisseure Filme – auch sehr gute Filme – über Türken machen, dann erzählen sie immer Geschichten drumherum, mit ihren Gefühlen, aber nicht aus der Mitte des Erlebens der Betroffenen heraus. Ich will versuchen, etwas von den Gedanken der Menschen aus einer den Deutschen fremden Kultur deutlich zu machen, an der ich zwar manches zu kritisieren habe, die ich aus ihrer Tradition heraus jedoch verstehe. Ich möchte, dass die Deutschen uns kennenlernen, denn Unbekanntes macht Angst und erzeugt Hass, wie an den Ausschreitungen gegenüber den Türken zu sehen ist. Deshalb schildere ich an einem besonderen Fall die Gastarbeiterverhältnisse in der Bundesrepublik, ohne in meinem Film Wohnung und Haus auch nur ein einziges Mal zu verlassen.«18 Seine Filme zielen daher auf Vermittlung, deren Grundlage eine Trennung von »türkischer« und »deutscher« Lebenskultur voraussetzt. Sie implizieren trotz ihrer künstlerisch sehr gelungenen Darstellungen von Einsamkeit und Verlorenheit ihrer Protagonisten eine Logik der Repräsentation dieser Kulturen in Form von Kleidung, Sprache etc., die versucht, allgemein die emotionalen Erfahrungen der türkischen Migranten der ersten Generation darzustellen. Seine Protagonisten sind Kollektivsubjekte, deren Grenzen mit einem Kultursystem zusammenfallen. Kultur wird hier homogen und normativ aufgefasst und interessanterweise gerade durch die Bestimmung und den repräsentativen Gebrauch einer »deutschen«, die den Diskurs der Aufklärung darstellt, und einer als rückständig dargestellten »türkischen« Kultur. Die Filme Başers stellen Kulturvergleiche und Versuche einer interkulturellen Kompetenz dar, 17 Zur Kleiderdramaturgie im Film siehe Marschall, Susanne: »Metamorphosen: Trachten des Lichts: Kostüme machen Geschichte(n)«. In: Filmdienst: Mode & Film, 59. Jg. (Februar 2006), S. 6-10. 18 Aus Mundzeck, Heike: »Ein türkischer Regisseur drehte in Hamburg einen Kino-Film über eine Gastarbeiter-Ehe«. In: Frankfurter Rundschau (18.01. 1986). 213

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deren vermittelnde Ziele nur zwei mögliche Verhältnisse der Kulturen untereinander aufzeigen können: entweder den der Differenz (Asymmetrie) oder den der Gleichheit (Symmetrie). Eine absolute Differenz herrscht in seinen Filmen zwischen rückständiger türkischer Tradition als Kultur und der modernen Aufklärung vor. Hier wirkt eine monokulturelle Trennung, die die Kultur eindeutig vor das Subjekt stellt und die Asymmetrie bestimmt. Die symmetrische Ebene setzt hingegen Başer durch die sich entwickelnde (Übergang vom unmündigem zu mündigem Subjekt) Emanzipationsgeschichte der Figur Elifs ein. Denn ebenso wie dem Menschen der Moderne geht es Elif um Freiheit. Hier ist der Appell ein universalistischer, der sich gegen jedwede Unterdrückung wehrt, nur nicht gegen eine, nämlich die der Aufklärung. Denn die humanistischaufklärerische Diktion in Abschied vom falschen Paradies wendet den interkulturellen Vermittlungsversuch in einen erneuten Herrschaftszusammenhang, in dem über die Integration hinaus, das assimilierte westeeuropäische Leben für Emanzipation steht, denn so wie die Protagonistin die islamisch-anatolische Kleidung ablegt, verschwindet die türkische Sprache, verschwinden die türkischen Bezugspersonen aus ihrer Lebenswelt. Eine Logik, die wir ebenso in den Filmen Sanders und Hark Bohms wieder finden: Türkische Frauen müssen vor ihren unterdrückerischen Männern, vor ihrer unterdrückerischen Kultur befreit werden. Das westeuropäische Kultursubjekt mutiert hier zum moralisch-souveränen Helden, indem es sein importiertes subnationales (türkisches) Opfer schafft. Fünfzehn Jahre nach Abschied vom falschen Paradies wird diese angeblich klare Trennung der Kulturen, der Akteure und der Kollektive mit dem Film Gegen die Wand von Fatih Akın eindringlich problematisiert. Sibel (Sibel Kekilli), eine 20-jährige Deutsch-Türkin und weibliche Protagonistin in Akıns Film, möchte der konservativ-traditionellen Lebensform ihrer Eltern entfliehen. Sie lernt nach einem Selbstmordversuch in einer geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses den 40-jährigen Deutsch-Türken und desillusionierten Alkoholiker Cahit (Birol Ünel) kennen, der ebenso einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Sie erkennt in dem doppelt so alten Mann eine Möglichkeit, ihrem verhassten Leben zu entkommen. Sie bittet ihn, mit ihr eine Scheinehe einzugehen, denn ihre Eltern würden ihn trotz seines pennerartigen Lebens akzeptieren, da er für sie ein »Türke« ist. Durch eine Heirat mit Cahit würden ihre Eltern sie freigeben. Auf Cahits Frage, was sie mit der Heirat erreichen wolle, erwidert Sibel: »Ich will leben, Cahit. Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken! Und nicht nur mit einem Typen. Verstehst du!?«19

19 Akın, Fatih: Gegen die Wand – Das Buch zum Film, Köln 2004, S. 39. 214

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Die lebenshungrige Sibel kostet ihre Freiheit in vollen Zügen aus: Parties, Drogen und vor allem One-Night-Stands. Fast jede Nacht verbringt sie mit einem anderen Mann. Mit der Zeit steckt Sibels Lebenshunger auch Cahit an. Langsam schleicht sich die Liebe in sein Leben, immer mehr fühlt sich Cahit zu seiner Ehefrau hingezogen. Ebenso wird sich auch Sibel ihrer Liebe zu Cahit bewusst. Doch zu spät, denn im Affekt erschlägt Cahit einen ihrer Liebhaber und landet dafür im Gefängnis. Sibel wird von ihrer Familie wegen dieser Ehetragödie verstoßen. Sie sieht keinen anderen Ausweg, als zu ihrer Cousine Selma, die von Beruf Hotelmanagerin ist, nach Istanbul zu fliehen. Auf ihrer Suche nach einer normalen Existenz scheitert sie in Istanbul zunächst. Jahre danach wird Cahit aus dem Gefängnis entlassen und sein erster Gedanke ist, Sibel nach Istanbul zu folgen. Er ist nun ein anderer Mensch. Trinkt nicht mehr und nimmt keine Drogen. Er erfährt von ihrer Cousine Selma, dass sie ein neues Leben begonnen habe. Sie lebe zusammen mit einem festen Freund und habe eine Tochter. Cahit und Sibel treffen sich. Er versucht sie zu überreden, mit ihm nach Mersin, seine Geburtsstadt, zu gehen. Sibel entscheidet sich schwermütig für ihr Leben in Istanbul. In der Schlussszene des Films verlässt Cahit den Istanbuler Busbahnhof ohne Sibel und fährt in die mittelsüdanatolische Stadt Mersin.20 Auch wenn der Film mit der Fahrt in die Geburtsstadt Mersin des Protagonisten endet, wird hier nicht der Mythos der Identitätssuche, das Motiv des Ausflugs und der Rückkehr bemüht. Der Idee einer kulturellen Identitätssuche stehen schon die ersten Szenen des Films und die Darstellung der Protagonisten entgegen. Die erste Einstellung, eine Totale, zeigt das Ensemble des Musikers Selim Sesler am Ufer des Goldenen Horn. Im hellen Licht wirkt das Bild wie ein Postkartenidyll. Schnitt. Es folgen Nahaufnahmen von Bogenlampen, die grell leuchtend angehen. Sie verdrängen das »malerische« Eingangsbild. Die Kamera schwenkt über den Ort. Ein Konzert ist zu Ende gegangen, und wir sehen den Protagonisten Cahit mit seinem Kumpel Şeref Flaschen und Biergläser einsammeln. Cahit wird in dieser Nacht einen Selbstmordversuch begehen. Er wird gegen eine Wand fahren. Wenn wir in Başers Film noch von einer repräsentativen Figur wie Elif sprechen können, repräsentativ im Sinne der Darstellung einer Kultur im Gegensatz zu einer anderen, der deutschen, so finden wir diese Repräsentation nicht mehr in den Figuren von Cahit und Sibel. Bei ihnen geht es nicht um Assimilation, Integration oder Akkulturation. Es geht nicht um eindeutige Zuschreibungen kultureller Identitäten, die auf einer

20 Akın, Fatih: Gegen die Wand, Spielfilm, Corazon International, Deutschland 2003/2004. 215

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Trennung der kulturellen Substanzen basiert. Die Übergänge zwischen »türkisch« und »deutsch« sind »in« den Protagonisten fließend, die erst durch Aktionen im Film kenntlich werden, denn vom Habitus her gesehen repräsentiert weder ihre Kleidung noch ihr Auftreten etwas »Türkisches«. Sie gehören zum Hamburger Kiez wie jeder andere. Vielmehr finden die Auseinandersetzungen nicht zwischen zwei vorausgesetzten Monokulturen statt, sondern sind in die Körper der Protagonisten eingeschrieben: Sibels gebrochene Nase, Cahits lange Narbe am Hals. Ebenso wird der Körper von beiden des Öfteren im Film geöffnet werden. Sibel schneidet sich drei Mal die Pulsadern auf. Cahit fährt gegen eine Wand, bricht sich die Zähne und wird nach einer Schlägerei in einer türkischen Disko um Sibel blutüberströmt gezeigt. Die »Individuen« sind hier nicht repräsentativ, sondern intensiv. Durch sie drückt sich ein unbändiger Lebenswille aus, dessen Ziel nicht das Ankommen in irgendeiner Gesellschaft ist, sondern die konkrete Auseinandersetzung mit ihr. Die Kopplung zwischen Akteur und übergeordnetem kulturellen Sinnsystem ist hier durch die Logik des Körpers gebrochen. So zielt Sibels Wunsch nicht auf Vermittlung und Integration. Die Frage, die ihr Wunsch/Verlangen aufwirft, ist nicht nur ein Problem der türkischen Community. Sie ist weitaus fundamentaler und problematisiert ebenso die Moral westeuropäischer Aufklärung: »Was sollen Selbstbestimmung und Modernität jenseits sexueller Freizügigkeit bedeuten?«21 Im Gegensatz zu einer repräsentativen Individualität wie im Falle Elifs, die an eine Trennung der Kulturen und somit an eine Ideomotorik gebunden ist – ihr Wunsch zielt auf ein jenseits der Wand, funktionieren die Individuen in Akıns Film sensumotorisch. Wie es der Begriff impliziert, geht es um das Sensitive, um den Körper, um eine Logik des Körpers und letztlich um ein gegen die Wand, die keine Trennung der Kulturen voraussetzt. Nicht die Bindung an abstrakte Begriffe und Gesetze bestimmt hier die Logik. Individualität ist hier nicht repräsentierbar und zielt auch nicht auf die Erfüllung eines Gesetzes, vielmehr generieren Individuationsakte nach Gilles Deleuze ein »problematisches« Feld, »das durch die Entfernung zwischen heterogenen Ordnungen bestimmt wird«.22 Als ein eindringliches Beispiel dient folgende Filmsequenz: Niko, einer von Sibels Liebhabern, der sich in sie verliebt hat und nicht weiß, dass sie verheiratet ist, möchte wissen, was sie für ihn empfindet.

21 Illies, Christian: »Der Ethikrat – Diesmal für: Sibel Kekilli, BerlinaleGewinnerin«. In: DIE ZEIT (26.02.2004), Hamburg 2004. 22 Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, S. 41. 216

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»Niko: Ich bin voll verknallt ... Sibel: Niko hör zu: Wir ham zusammen gebumst, weiß du. Und das war ein Fehler! Ich wollte wissen, wie du im Bett bist. Jetzt weiß ich's, und das Ding ist durch. Geh du mir aus dem Weg, und ich geh dir aus'm Weg, okay? Niko: Was soll'n das? Wie redest du mit mir?« Sibel wendet sich von Niko ab und will die Straße hinuntergehen. Er kommt ihr hinterher und hält sie am Arm. Niko: Jetzt warte doch mal! Sibel: Lass die Finger von mir! Ich bin 'ne verheiratete Frau. Ich bin 'ne verheiratete türkische Frau, und wenn du mir zu nahe kommst, bringt mein Mann dich um, verstehst du!?«23

Interessant an dieser Szene ist abgesehen von der inhaltlichen Aussage, die eine unglaublich abgebrühte selbstbewusste Frau mit einer »verheirateten türkischen« Frau verbindet, die wandelnde Mimik und Gestik der Protagonistin. Zunächst genervt, cool und hart gibt sie Niko einen Korb. Später, als sie sich belästigt fühlt, reagiert sie aggressiv und intensiv auf Nikos Hartnäckigkeit. Hier glaubt man in der Logik der Repräsentation, es gehe mit ihr die »türkische Frau« durch, wo doch Augenblicke zuvor noch die »deutsche« ihren Körper besetzt hielt. Doch kann man die Aussagen nicht voneinander trennen, denn sie gehören zu einer Person. Mächtigkeit und Ohmacht im selben Subjekt. Diskursanalytisch gesprochen, kann man die Propositionen nicht voneinander hierarchisierend oder sich widersprechend trennen, denn sie leiten sich vom gleichen Aussagesystem ab. Die Szene steht exemplarisch für einige Szenen im Film, in denen durch die Protagonisten disparate Ordnungen kommuniziert, die nicht repräsentiert, nicht getrennt, sondern nur intensiv dargestellt werden können. Die Individuation hält das »Andere«, in unserem Fall die »andere Kultur«, nicht auf Distanz, um dem Gesetz der Moderne zu genügen – Moderne bedeutet Freiheit, alles andere ist Repression wie wir sie in Başers Film vorfinden. Sie umfasst das »Andere« und bricht das Reinheitsgebot der »Befreiung«. So stellt sich auch nicht die Frage nach der »Aufhebung des Problems«. Der Individuationsakt ist immer ein Akt der Problematisierung. Denn der Wunsch und die Aussage Sibels in Gegen die Wand, dass sie mit so vielen Männern wie möglich »ficken« wolle, ist nicht nur ein Problem für die konservative »türkische Community«, sondern ebenso für den modernen westlichen Emanzipationsdiskurs, der ihre Ideale eher in der Busfahrerin Elif verkörpert sieht. Die interkulturelle Kompetenz, deren Grundlage der monokulturelle

23 Akın, Fatih: Gegen die Wand – Das Buch zum Film, S. 129. 217

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Vergleich und ihr Ziel die Vermittlung sind, werden hier problematisiert und gebrochen. Der Austragungsort dieser Problematisierung sind die Körper der Subjekte. Und über diesen Weg wird auch das Konzept des souveränen Subjekts der Moderne problematisiert, das mit den Anforderungen der Integrationsvorstellung in Deutschland einhergeht. Wie Michel Foucault in Surveiller et Punir (Überwachen und Strafen) schon aufgezeigt hat, ist der Diskurs um die Freiheiten des Subjekts nur die eine Seite der Moderne, die andere, die eigentliche und die Grundlage der Moderne ist in Foucaults Ausführungen jedoch die Praxis der Disziplinierung und der ökonomischen Effizienz, die den Körper reguliert. In seiner Analyse kehrt er das Fundament der Emanzipationsgeschichte der Moderne um. Er fragt nach seinen Ausführungen, was denn nun die Seele, die Psyche sei. Seine Antwort: Gefängnis des Körpers.24 Zu den »Freiheiten« der Moderne gehört vor allem auch die treue Liebe. Niklas Luhmann und Albrecht Koschorke machen in ihren Arbeiten Liebe als Passion – Zur Codierung von Intimität und Körperströme und Schriftverkehr – Eine Mediologie des 18. Jahrhunderts auf die eigentlichen Träger der modernen frei gewählten Liebe, nämlich die Moral und die Beständigkeit des Gefühls, dass es nur den Einen oder die Eine geben kann, aufmerksam.25 In diesem Zusammenhang zeichnet Koschorke den Übergang in die westeuropäische Moderne Ende des 18. Jahrhunderts als einen Übergang von einem humoralen zu einem neuronalen Körper nach. Wenn der humorale Körper in aktiver Kommunikation mit der Körperumgebung war, d.h., wenn man beispielsweise die Melancholie als stockendes Blut interpretierte und dagegen nur ein Aderlass half oder die Onanie als eine Praxis angesehen wurde, um den Säftehaushalt des

24 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 2006, S. 240-254. 25 Luhmann vergleicht in seinem Liebe als Passion den höfischen Liebescode mit dem des modernen und bürgerlichen: »Weil Personen nicht geändert werden können, ist die Liebe unbeständig. Die Konstanz der Personen produziert die Inkonstanz ihrer Liebe – gegeben die Verschiedenheit der Geschlechter und der Charaktere. Mit der Metaphorik der Liebe könnte man auch sagen: Die Identität verbrennt im Feuer der Liebe, sie kann sich nur durch Inkonstanz retten. So jedenfalls in der Themenstruktur des Codes. Dies ändert sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts. Die Personen werden als änderbar, als entwicklungsfähig, als perfektibel begriffen, und die Liebe dadurch als bestandsfähig, ja schließlich sogar als mögliche Ehegrundlage. Der Zusammenhang bleibt, aber die Vorzeichen kehren sich um; die Unbestimmtheit und Plastizität der Charaktere ermöglicht Beständigkeit in der Liebe.« Siehe Luhmann, Niklas: Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 2003, S. 126. 218

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Körpers im Innern vor zu großer Hitze zu schützen und ihn durch den Samenerguss funktionsfähig zu halten, sozusagen der Körper ein Glied in der Kette darstellte, definiert sich der neuronale Körper durch eine körpereigene Zirkulation, die befördert werden muss. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verliert die Vorstellung der materiellen Entlastung des Körper- und Seelenhaushalts mehr und mehr an Gewicht.26 »Um sich zu erholen, um sich zu kräftigen, musste der alte Körper ›fließen‹ – Eiter, Blut, Schweiß mussten aus ihm getrieben werden« vermerkt Barbara Duden in Geschichte unter der Haut.27 Der neue moderne Körper hingegen verschließt sich, und der Philanthrop sieht eine ganz andere Wirklichkeit, nicht einen sich ausgleichenden mit der Umgebung kommunizierenden Körper, sondern einen Körper, »der verbessert werden muss, sich nicht verlieren und verströmen darf: eine ökonomische Einheit«.28 Hier konstatiert Koschorke ebenso wie Foucault eine Disziplinierung und Ökonomisierung des Körpers. Dies läuft eng mit dem modernen Liebesdiskurs zusammen, in dem der Eine oder die Eine neben dem Anspruch auf der psychischen Ebene auch nur als einziger Anspruch auf den Körper des Anderen hat. Im geschlossenen Kreis der Liebe kann keine Energie verschwendet werden. Das moderne Liebespaar ist eine ökonomische Einheit. Dies ist zugleich die Basis der modernen Ehe. Sibels und Cahits Körper hingegen fließen, verströmen und verlieren Energie. Ihre Ehe ist eine rein unökonomische. Hierbei ist ihre Liebesgeschichte eine antimoderne Geschichte, die dennoch einen Emanzipationsdiskurs führt. Dieser wird über die Wünsche und über die Körper der Protagonisten verhandelt. Ihre Individuationen sind sensitiv, performativ und nicht auf das Telos der Identitätsfindung oder auf die Repräsentation von »Mono«-Kulturen gerichtet. Die Verlorenheit und Fremde, die Sibel und Cahit in Deutschland wie auch in der Türkei empfinden, ist nicht kulturell, sondern eindeutig existentiell. Die »ökonomische« Moralvorstellung, die oben mit Koschorke kurz angedacht wurde und die für ihn die westeuropäische Moderne in seinem Kern darstellt, wird durch Sibels Wunsch und durch Cahits Leben als ein »deutsch-türkischer« Penner problematisiert. Sibels Aussage repräsentiert nicht ein Problem. Sie problematisiert. Denn die »andere« aufgeklärte westeuropäische Seite befindet sich nicht jenseits dieser Problematisierung, jenseits dieser Wand. So findet keine

26 Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr: Eine Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 58-61. 27 Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987, S. 30. 28 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr, S. 62. 219

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»Kulturkommunikation« in Gegen die Wand repräsentativ statt.29 Sie zieht sich durch die Protagonisten Cahit und Sibel und wird in den intensiven Akten dieser problematisiert und erst dadurch überhaupt kommunikationsfähig. Diese lässt sich nicht verallgemeinern, weil sie singulär auftritt und konkret an intensivierende Akte gebunden ist. Dadurch wird auch die Vorstellung in Frage gestellt, dass es sich hier um hybride Identitäten handelt, die souveräne Subjekte implizieren, die eine kultursubstantialistische Unterscheidung wie türkisch/deutsch internalisiert und unter Kontrolle haben. Es liegt kein versuchter Dialog wie in den Filmen Başers vor, sondern eine Kommunikation von disparaten Ordnungen, die sich mit einer essentialistischen Unterscheidung von deutscher und türkischer Kultur nicht greifen lässt. An die Stelle einer künstlerisch interkulturellen vermittelnden Kompetenz ist eine problematisierende Kompetenz getreten, die den Konnex des deutsch-türkischen von einer subkulturellen/-nationalen in eine transkulturelle/-nationale überführt hat.

D i e k u l tu r e l l e K o m p e te n z u n d das globalisierte Kino »Der Vorrang der Identität, wie immer sie auch gefasst sein mag, definiert die Welt der Repräsentation«, konstatiert Gilles Deleuze in seinem Hauptwerk Differenz und Wiederholung.30 Der Repräsentation geht die Unterscheidung von differenten kulturellen Identitäten voraus. Erst durch diese kann wie im Falle von Başers Filmen ein Kopftuch eine andere Kultur repräsentieren. Und auch erst dann kann eine allgemeine Emanzipationsgeschichte erzählt werden, die sich durch den Kleiderwandel der Protagonistin und ihrem Wunsch Busfahrerin werden zu wollen in Abschied vom falschen Paradies repräsentiert. Nach Deleuze ist das Ziel der Repräsentation, allgemeine Aussagen formulieren und vermitteln zu können.31 Solch ein Anspruch auf allgemeine Aussagen benötigt eine interkulturelle Kompetenz, um von einem »Innenleben« einer anderen Kultur berichten, diese repräsentieren zu können. So eine Innen/AußenUnterscheidung, die der Kulturidentität den Vorrang gewährt, finden wir in Akıns Gegen die Wand nicht. Jenseits einer an eine identitätslogische Repräsentation gebundene Licht- und Kostümdramaturgie, wie wir sie bei Başer vorfinden (Übergang vom Dunklen ins Helle/Kleiderordnungen, die Rückständigkeit und Fortschritt repräsentieren), sind Licht- und 29 Repräsentativ wäre ein Dialog, wo beide Seiten vor dem eigentlichen Geschehen schon fixiert und identifiziert wären. 30 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, S. 11. 31 Ebd., S. 26. 220

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Kameraeinstellungen in Gegen die Wand grundlegend an die Personen gebunden, die durch den Fokus auf den Körper nicht Kulturen als geschlossene Modelle repräsentieren, sondern performativ Kulturkommunikationen in den Figuren durch ihre Handlungen (Körper) stattfinden lassen. »Konzeptualisiert man Multikulturalismus nicht als eine Multiplikation homogener Gemeinschaften, sondern als eine Konstellation der simultanen Wirkung unterschiedlicher, die Lebensführung anleitender Wissensordnungen in der Handlungspraxis der gleichen Akteure, dann zeichnet sich ein Konzept des Multikulturalismus ab, das sich von der sozialphilosophischen Tradition deutlich unterscheidet. […] Die Frage lautet dann, in welcher Weise die Akteure mit der Verschiedenartigkeit oder sogar Inkommensurabilität der ihnen gültig erscheinenden kulturellen Codes umgehen […].«32 Filmtechnisch gelingt diese Konzentration auf die Akteure – und nicht auf das, was sie angeblich repräsentieren – durch eine Dominanz von Nahaufnahmen (close up), die Handlungen, Gestiken, Mimiken und Bewegungen in den Vordergrund stellen und so Wünsche, Bedürfnisse und die Körper der Akteure ins Zentrum setzen. Unterstützt wird diese Perspektive durch die Lichtdramaturgie des Films. Es wurde zum Großteil nur mit vorhandenem Licht, sprich ohne künstliche Lichtquellen, gearbeitet. Beleuchtet sind in erster Linie die Akteure, deren Verhaltensweisen dadurch nicht mehr repräsentativ, sondern in ihrer Exzessivität intensiv werden. Wir finden keine Bewegung vom Dunklen ins Helle. Keine Bewegung von Desintegration zu Integration. Die Akteure sind von Anfang an Teil der deutschen Gesellschaft, sie bewegen sich mit Selbstverständlichkeit durch ihre Umgebung. Ihre Wünsche und Verhaltensweisen führen eine Form der Desintegration ein, die rein gar nichts mit einem multikulturellen Integrationsdiskurs zu tun hat. Jenseits einer subkulturellen/-nationalen Kategorie des deutsch-türkischen sind ihre Fragen existentielle, die über jedwede Form von Interkultur hinausgehen und ein Unbehagen an Kultur als Triebverzicht artikulieren, das auch das souveräne westeuropäische Modell der Subjektkultur problematisiert.33 Ganz anders als Gegen die Wand wirkt auf den ersten Blick Fatih Akıns aktuellster Film Auf der anderen Seite, der den zweiten Teil der Trilogie »Liebe, Tod und Teufel« darstellt. Denn so exzessiv der erste Teil mit Gegen die Wand war, so besonnen und ruhig wirkt der zweite in 32 Reckwitz, Andreas: »Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff: Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen«. In: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2 (2001), S. 179-200, hier S. 193. 33 Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur«. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1963 [1930], S. 447-458. 221

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Form und Inhalt. Erzählt werden die Geschichten von sechs Figuren, die zugleich sechs Handlungsstränge definieren. Nejat (Baki Davrak) ist ein zurückgezogen lebender Germanistikprofessor in Hamburg, sein Vater Ali (Tuncel Kurtiz) ein verwitweter, einsamer Mann. Als Ali sich eine Prostituierte sucht, trifft er auf Yeter (Nursel Köse), die ebenfalls aus der Türkei stammt. Er beschließt, ihr Geld dafür zu geben, dass sie mit ihm zusammenlebt. Nejat hat dabei ein Unbehagen, bis er Yeter näher kennenlernt, die ihrer Tochter Ayten (Nurgül Yeşilçay) in Istanbul regelmäßig Geld schickt. Als Yeter ohne Absicht durch die Hand Alis stirbt, macht sich Nejat, der mit seinem Vater wegen der Tötung bricht, auf die Suche nach der Tochter. Diese ist aber längst in Deutschland, eine politische Aktivistin auf der Flucht vor der türkischen Polizei. Sie lernt die deutsche Studentin Lotte (Patrycia Ziołkowska) kennen und lieben, was wiederum deren Mutter Susanne, gespielt von Hanna Schygulla, nicht gutheißt. Durch ein Missgeschick landet Ayten in Abschiebehaft und wird nach einem erfolglosen Asylverfahren in die Türkei abgeschoben. Lotte reist ihr nach, um ihr zu helfen. Dabei kommt sie in Istanbul unerwartet durch Straßenkinder ums Leben. Während der Zeit, die Lotte mit Warten auf einen Gerichtsprozess vor ihrem plötzlichen Tod in Istanbul verbringt, sucht Nejat weiter die Tochter der Prostituierten Ayten. Nejat übernimmt während seiner Zeit in Istanbul einen deutschen Buchladen, wo er auch Lotte begegnet. Sie zieht zur Untermiete bei ihm ein. Nach ihrem plötzlichen Ableben, reist ihre Mutter Susanne nach Istanbul, um mit den Menschen in Kontakt zu treten, die Lotte zuletzt kannten. Zur gleichen Zeit wird Nejats Vater Ali in die Türkei abgeschoben. Ohne seinen Sohn zu besuchen, reist er an seinen Herkunftsort am Schwarzen Meer von Istanbul aus weiter. Gegen Ende des Films sehen wir Nejat unterwegs zu seinem Vater an die Schwarzmeerküste, das zugleich auch die Anfangssequenz des Films ist. Trotz der vielen Charaktere, Biographien, Beziehungen und Bindungen, die der Film thematisiert, wird der Rezipient von den Geschehnissen nicht überrumpelt. Im Gegensatz zu Gegen die Wand ist der Film viel ruhiger geschnitten. In Auf der anderen Seite bestimmen totale und hell fotografierte Einstellungen den Duktus des Films. Die Personen sind durch die Einbeziehung des Raumes gebunden und verwoben, was medial durch die Dominanz totaler Einstellungen (long shot) zum Ausdruck gelangt. Diese Perspektive steht formal konträr zu der in Gegen die Wand (2003) in dem Nahaufnahmen (close-up) dominieren, die auch die Lichtdramaturgie betrifft. Wenn in Gegen die Wand nur mit vorhandenem Licht gearbeitet wurde und dieses sich vor allem auf die Protagonisten konzentrierte, sprich keine künstlichen Lichtquellen benutzt wurden, so ist der neue Film weitaus stärker ausgeleuchtet. Landschaften, Dinge

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und Orte nehmen dadurch ebenso eine Hauptrolle ein wie die Figuren mit ihren Geschichten. Jedoch haben wir es hier nicht mit einer Lichtdramaturgie zu tun, die vom Dunklen ins Helle, von der Unterdrückung ins Aufklärerische übergeht, wie in den Filmen Tevfik Başers. Vielmehr wird eine »Oberfläche« gezeigt, die jenseits einer Innen/Außen, modern/ nichtmodern, emanzipiert/nichtemanzipiert-Unterscheidung zu verorten ist. So impliziert die Lichtdramaturgie des Films keinen metaphorischen Gebrauch, keine Repräsentation. Der Film ist von Anfang hell und spricht den Dingen eine besondere Rolle zu. So ist die Anfangsszene eine Fahrt durch die türkische Provinz, die die Dinge und die Landschaft hell ausgeleuchtet mit einbezieht. Das Subjekt, hier der Germanistikprofessor Nejat, ist in seine Umgebung eingebunden und ist in Bewegung. Er ist auf der Fahrt zu seinem Vater an die Schwarzmeerküste, die zugleich die zweite und eigentliche primäre Bindungslogik in diesem Film aufzeigt, nämlich die der Familie. Gebunden werden diese beiden Ebenen durch die Bewegungen der Protagonisten, die zwischen Bremen, Hamburg, Istanbul und Schwarzmeerküste auf der Suche nicht nach sich selbst, sondern nach Familie und Geborgenheit sind und was die Figuren miteinander in Beziehung treten lässt, sind die Todesfälle von Yeter und Lotte. Die Bindungen zwischen Landschaft, Orte, Familie und den Protagonisten werden vor allem durch präindividuelle Kommunikationen aktualisiert. Eine präindividuelle Kommunikation aktualisiert Bindungen von Subjekten in körperlicher und psychischer Relation. Sie aktualisiert Prägungen. Um diese Kommunikationen einzufangen, muss man das Gesagte und das Sichtbare gleichermaßen beachten. Wir sehen Lotte in einer Telefonzelle im Hotel in Istanbul mit ihrer Mutter telefonieren. In dem Telefonat geht es vor allem darum, wann Lotte denn nun endlich nach Deutschland zurückkehren werde, um ihr Studium fortzusetzen. Lotte reagiert genervt, dass es noch ein halbes Jahr dauern könne und dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl habe, etwas Richtiges zu machen. Während dieser Diskussion sitzt Lotte am Boden in einer embryonalen Haltung. Die Position der Kamera ist eine Totale, die genau diese Haltung einfängt, die repräsentativ gesehen kontrovers zu den Aussagen steht, die eigentlich auf der Aussageebene eine kleine Familienrebellion darstellen. Jedoch dominiert am Ende des Gesprächs, die embryonale Haltung Lottes, denn nicht Lotte bricht das Gespräch ab, sondern die Mutter und wir sehen Lotte in der besagten Haltung unsicher und ängstlich wie ein Kleinkind nach ihrer Mutter rufen. Die Szene steht für Mächtigkeit und Ohnmacht zugleich, indem sie eine präindividuelle Bindung aktualisiert. Wiederholt wird diese Szene in umgekehrter Richtung nach Lottes Ableben. Wir sehen Susanne liegend in Lottes Zimmer in Istanbul das Tagebuch ihrer Tochter lesen, das sie

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während ihrer Zeit in Istanbul verfasst hatte. Ihre Vergangenheit wird durch das Tagebuch ihrer Tochter different aktualisiert. Der gelesene Abschnitt (aus dem Off) aus Lottes Tagebuch: »Diese Schritte, … meine Schritte möchte ich kraftvoll gehen, beherzten Schrittes. Auch wenn Mama das manchmal nicht so richtig begreift, was ich wirklich erstaunlich finde. Sie selbst war doch genauso, beziehungsweise ich gehe unabhängig von ihrer Geschichte, die ich ja erst nach und nach erfahren habe, verblüffend ähnliche Wege wie sie. Vielleicht ist es das. Sie sieht sich selbst in mir.«34

In der nächsten Szene sehen wir, wie Susanne das Haus verlässt und auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei Backgammonspieler (Tavla) mit der gleichen Handbewegung grüßt wie ihre Tochter diese zuvor auch gegrüßt hatte. Ein vergleichbares Bindungsverhältnis erzählt Akın auch für Nejat und seinen Vater Ali. Ebenso herrscht zu Anfang ein Nichtverstehen vor. In einer dieser Anfangsszenen schenkt Nejat seinem Vater den Roman Die Tochter des Schmieds von Selim Özdoğan in türkischer Sprache und bittet ihn, dass er es unbedingt lesen müsse. Sein Vater, der alles andere als literarisiert wirkt, wird dieses Buch in Istanbul nach ihrem angeblichen Bruch lesen und dabei seine eigene Vorgeschichte wieder finden. Özdogan erzählt in seinem Roman eine türkische Familiengeschichte zwischen den 1940er und 1960er Jahren in der türkischen Provinz. Die letzten Seiten des Romans sind der Arbeitsmigration der Protagonistin Gül nach Deutschland gewidmet. Ähnlich wie bei Akın spielen in diesem Roman Dinge, Landschaften und Alltag eine besondere Rolle. Das Subjekt ist ebenso ein gebundenes und in Beziehungen verwobenes.35 So kann hier die Leitaussage in Özdoğans Romans, dass nämlich die ganze Welt eine Fremde sei, auch für Auf der anderen Seite geltend gemacht werden. Wir sehen hier den Protagonisten am Ende der Lektüre in Tränen aufgelöst. Diese zwei erwähnten Lektüreszenen, Susanne liest das Tagebuch Ihrer Tochter, indem sich Lotte mit ihrer Mutter vergleicht, und die Lektüre Alis der türkischen Geschichte vor der Migration, letztlich ein Teil seiner Lebensgeschichte, diese zwei Spiegelszenen folgen in

34 Akın, Fatih: Auf der anderen Seite, Spielfilm, Corazon International, Deutschland/Türkei 2006/2007. 35 Vgl. Ezli, Özkan: Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik, S. 68-71. 224

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der filmischen Narration dicht aufeinander und machen somit auch auf ihre formale wie inhaltliche Ähnlichkeit aufmerksam. Diese Beziehung kann jedoch nicht als ein Kulturvergleich gelesen, vielmehr als ein Beziehungsvergleich, der nebenbei deutsche, türkische wie auch deutschtürkische Geschichte aktualisiert. Dass es sich bei dieser Nebeneinanderführung nicht um einen Dialog zwischen den Kulturen handeln kann, zeigt die Szene, die kurz auf die Lektüreszene folgt. Wir sehen Susanne und Nejat in seiner Istanbuler Wohnung, wie sie vom Fenster aus Menschen beobachten, die zum Opferfest zum Gebet in die Moscheen gehen. Susanne fragt, warum denn dieses Opferfest begangen werde. Nejat gibt die Opfergeschichte Abrahams wider. Susanne reagiert darauf, dass es dieselbe Geschichte auch bei ihnen gebe. Ein Kulturdialog scheint sich anzudeuten. Jedoch wird das Gespräch anders weitergesponnen, denn hier stehen sich nicht zwei Menschen mit unterschiedlichen Kulturen gegenüber, sondern Personen, die vergleichbare präindividuelle Bindungen in sich tragen. Hier ist auch wichtig auf die Art und Weise, auf das Sichtbare zu achten, mit welcher Gestik und Mimik Nejat die Opfergeschichte wiedergibt. Diese löst bei ihm ein Eingedenken an den eigenen Vater aus, denn auf die Aussage, dass es diese Geschichte auch bei ihnen, sozusagen im Christentum gebe, reagiert Nejat mit einer unwillkürlich einsetzenden Erinnerung aus seiner Kindheit, wie früher sein Vater ihm oft die Opfergeschichte erzählt habe und er ihn immer gefragt habe, wie er sich denn anstelle Abrahams verhalten hätte. Auf die Frage Susannes, was sein Vater geantwortet habe, erwidert dieser, dass er immer gesagt habe, dass er sich sogar Gott zum Feind erklären würde, um ihn zu schützen. Jenseits eines Kulturdialogs oder einer Kulturkommunikation findet hier eine Kommunikation über präindividuelle Bindungen statt, die Kultur als Material und nicht als Ziel begreift. Diese Art der Verwendung von Kultur wird vor allem durch eine Kameraeinstellung davor unterstützt, die eine Minarette eingebunden in einem Häusermeer zeigt und nicht isoliert als Zeichen für etwas Essentielles einer Kultur. Islam ist nicht Essenz, sondern Alltag und dient als Mittel im alltäglichen Leben. Nicht mehr und nicht weniger. So werden essentialistische Kulturvorstellungen problematisiert, indem präindividuelle Bindungen der Protagonisten aktualisiert werden, die auf beiden Seiten die gleichen sind. Die präindividuelle Bindung konzentriert sich jedoch nicht allein auf das Verhältnis zwischen den Protagonisten und den Generationen. Eine ebenso große Rolle spielen wie schon erwähnt Orte, Landschaften und Dinge. So erwidert der deutsche Buchhändler in Istanbul auf Nejats Frage, warum er denn seinen sehr schönen deutschen Buchladen verkaufen wolle, weil er nach zehnjährigem Aufenthalt in Istanbul die gesprochene deutsche Sprache vermisse. Der Grund, warum Nejat

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diesen Buchladen plötzlich erwirbt, wird für den Zuschauer gleich beim Eintreten Nejats in diesen Laden habtisch sichtbar. Nejats sehnsuchtsvoller Blick auf die Bücher verweist auf ein existentiell gebundenes Verhältnis zur deutschen Literatur, das in der Begegnung aktualisiert wird. Er streichelt beim Vorbeigehen die Rücken der Bücher. Ebenso Nejats Vater, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, um nach eigener Aussage im Meer wieder fischen zu können. Am Anfang des Films sehen wir Ali in zwei Szenen sein Lieblingsgericht gebratenen Fisch für seinen Sohn und Yeter zubereiten. So ist Akıns Film mit seiner sensumotorischen Struktur auch ein Film über die willkürliche und unwillkürliche Erinnerung, die präindividuelle Bindungen der Protagonisten zu Familie, Orten, Landschaften und Dingen aufzeigt, die jegliche Rede über absolute Differenzen zwischen den Kulturen grundlegend problematisiert. Am Ende fährt Nejat zu seinem Vater an die Schwarzmeerküste und wir befinden uns am Ende und am Anfang des Films zugleich. Zu Beginn und am Ende des Films zeigt sich die grundlegende formale Struktur von Auf der anderen Seite komprimiert, die wir mit den Begriffen Bewegung, Gegenbewegung, Raum und Wiederholung, die von totalen Kameraaufnahmen eingefangen werden, greifen können. In der ersten Szene des Films sehen wir, wie die Kamera sich mit einer Totalen von einem schuppenartigen Haus, das für den Kameramann Rainer Klausmann den Süden darstellt,36 nach rechts schwenkend zu einer Tankstelle bewegt. Von rechts gegen die Kamerabewegung sehen wir ein Auto an die Tankstelle fahren, dass zugleich die Kamerabewegung mit dem Auto halten lässt. Wir sehen den Protagonisten Nejat aus dem Auto steigen, in die Tankstelle eintreten, Verpflegung für seine Reise einkaufen, von der der Zuschauer noch nicht weiß, wohin sie führt und warum. Erst gegen Ende des Films wird der Zuschauer erfahren, dass er unterwegs zu seinem Vater ist, um sich mit ihm zu versöhnen. Dieser ganze Ablauf wird mit einer Totalen aufgenommen, die im Verkaufsraum der Tankstelle fortgeführt wird. Wir sehen den Protagonisten Essensartikel aussuchend im Gespräch mit dem Inhaber der Tankstelle über den türkischen Musiker Kazım Koyuncu, der mit Anfang Dreißig an Krebs verstarb, sich der Kamera nähern. Durch diese Einstellung, die Bewegung aufnimmt, weil die Kamera sich nicht zu den Akteuren bewegt, entsteht Raum durch die Bewegung und Bewegung durch den Raum. Nach dieser Szene ist Nejat wieder mit dem Auto unterwegs. Die formalen wie inhaltlichen Aspekte dieser ersten Sequenz wie Totale, Bewegung, Gegenbewegung, Raum, Wiederholung und der Tod zeigen die konstitutiven Elemente von Auf der anderen Seite. Nach diesem Intro folgt

36 Siehe Audiokommentar von Akın, Fatih: Auf der anderen Seite. 226

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das eingeblendete Kapitel des Films »Yeters Tod«. Es folgt eine MaiDemonstration in Bremen, die zu Anfang des zweiten Kapitels »Lottes Tod« ihre Wiederholung in der Mai-Demonstration in Istanbul erfahren wird. Wir sehen Nejat, den Germanistikprofessor, die gleiche Vorlesung (über Goethe und die Revolution) im ersten und zweiten Kapitel des Films halten, nur mit unterschiedlichen Einstellungen. In der ersten sehen wir allein Nejat, in der zweiten die Linksaktivistin Ayten im Vorlesungssaal schlafen, während Nejat unscharf im Hintergrund über die negative Einstellung Goethes zu Revolutionen räsoniert. Auch wird der Tod wiederholt aufgenommen: Yeters Sarg wird gegen Ende des ersten Kapitels aus einem Flugzeug aus Deutschland auf dem Istanbuler Flughafen entladen. Die gleiche Szene wird sich als Gegenbewegung mit Lottes Sarg von der Türkei nach Deutschland im Kapitel »Lottes Tod« wiederholen. Der Tod überschreitet Grenzen, nivelliert sie. Bewegung ist in vielen Szenen wichtig. So sind die Akteure oft mit Bus, Auto, Dampfer und Flugzeug unterwegs. Nejat fliegt in die Türkei, um Ayten zu suchen. Ayten flieht zwar aus politischen Gründen nach Deutschland, aber auch um ihre Mutter zu suchen. Mit dem letzten Kapitel, das mit dem Haupttitel Auf der anderen Seite betitelt ist, verlagern sich die Geschehnisse des Films ausschließlich in die Türkei. Ali und Ayten werden abgeschoben. Nejat übernimmt den Buchladen in Istanbul und Susanne geht den letzten Spuren ihrer Tochter in Istanbul nach. Dennoch verliert sich der Film nicht in einer totalen Bewegung, denn die Kameraeinstellung ist durchweg eine Totale, die mit Distanz das Agieren der Akteure einfängt. In einem Interview zitiert Akın den bosnischen Regisseur Emir Kusturica, dass »the combination of room and person cinema« sei und er fügt weiter hinzu, dass dies mit ein Ziel des Films gewesen sei. Zudem erlaubt es die Lichtdramaturgie des Films, Dinge, Wohnungen, Städte und Landschaften gleichgewichtig im Blick zu haben wie die Akteure. Akın ging es nach seinem Audiokommentar zum Film auch besonders darum, visuelle Gleichheiten und somit visuelle Beziehungen zu schaffen, die zugleich die grundlegende Behandlung und Bearbeitung von Kultur in diesem Film bestimmt, die wir mit Dirk Baecker als eine der kulturellen Kompetenz bezeichnen können, die als Verfahren der Kulturbeobachtung aussichtsreicher scheint als die der interkulturellen Kompetenz. »Dieses Verfahren [der kulturellen Kompetenz] verschiebt den Akzent von der sozialen Problemdimension der Identifizierung des Anderen als Fremden in die zeitliche Problemdimension einer offenen Zukunft. Es nimmt jede Kultur nicht als Verweis auf eine vergangene und daher nicht mehr zu ändernde, also entweder abzulehnende oder zu verteidigende Vergangenheit, sondern als Verweis auf ein durchweg unklares Schicksal

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nicht nur dieser Kultur, sondern der Weltgesellschaft insgesamt. Jede Kultur wäre dann nicht mehr mit Blick auf ihre Herkunft, sondern mit Blick auf eine denkbare Ankunft zu deuten – so wie Derrida von Sprachen spricht, die nicht mehr wissen, woher sie kommen, und das, was sie sagen, daher nur von einer Ankunft, einer niemals stattfindenden Ankunft her denken und wollen können. Das klingt dunkler als es gemeint ist. Denn es meint im Grunde nichts anderes als die eigenen Identifizierungen, das eigene Wissen und das eigene Begehren von einer offenen Zukunft her zu denken. Das bedeutet, sich ohne Protokoll zu begegnen, weil nichts gesichert werden muss, nicht einmal ein Abstand, sondern alles erst noch gefunden werden kann, auch ein Abstand. Mit Stanley Cavell kann man dieses Verfahren auch ›Amerika‹ nennen. Dieses Verfahren ist auf vorsichtige Weise kognitiv, aber nicht etwa deswegen, weil es jede Erwartung fallen lässt, wenn sie enttäuscht wird, und sich umstandslos auf neue Erwartungen einstellt. Es ist kognitiv, weil es sich an der Enttäuschung und dann auch an der Erfüllung die Erwartung fallen lässt, wenn sie enttäuscht wird, und sich umstandslos auf neue Erwartungen einstellt. Es ist kognitiv, weil es sich an der Enttäuschung und dann auch an der Erfüllung die Erwartung selbst vorführt und überrascht zur Kenntnis nimmt, mit welchen oft unbekannten Erinnerungen man in neue Situationen kommt. Es ist kognitiv, weil es die eigene Kultur auf eine ›vor-erste‹ (Derrida) Kultur zurückführt, der man Prägungen, Verletzungen, Begehrlichkeiten verdankt, die man empfangen hat, als man noch gar nicht wusste, dass es so etwas wie eine Kultur gibt.«37 Auf der anderen Seite endet mit der Ankunft Nejats im Heimatdorf seines Vaters an der türkischen Schwarzmeerküste. Wir sehen Nejat am Strand mit offenem Blick aufs Meer auf seinen Vater warten, der zum Fischen ausfuhr. Es ist eine der hellsten Szenen des Films und der Zuschauer sieht nur den Rücken des Protagonisten. Der Zuschauer sieht und wartet auch. Diese letzte Einstellung ist durch den klar vernehmbaren Wellenschlag und dem klaren Blick zum Horizont eine sensumotorisch visuell angenehme. Sie verspricht Möglichkeiten für die Zukunft, obwohl die Präsenz der Endlichkeit gleichgewichtig da ist, denn der Vater könnte auf See umgekommen sein.

37 Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2003, S. 31. 228

VON DER INTERKULTURELLEN ZUR KULTURELLEN KOMPETENZ. FATIH AKINS KINO

Literatur Adelson, Leslie A.: »Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006 [engl. 2001], S. 36-47. Akın, Fatih: Gegen die Wand, Spielfilm, Corazon International, Deutschland 2003/2004. Akın, Fatih: Gegen die Wand – Das Buch zum Film, Köln 2004. Akın, Fatih: Auf der anderen Seite, Spielfilm, Corazon International, Deutschland/Türkei 2006/2007. Akyıldız, Olcay: »What happens when fact and fiction overlap? Emine Sevgi Özdamar's ›Das Leben ist eine Karawanserei‹«. In: Autobiographical Themes in Turkish Literature: Theoretical Comparative Perspectives, hg. v. Börte Sagaster et al., Würzburg 2007, S. 17-34. Arslan, Thomas: Presseheft zu seinem Film »Geschwister«, 2001. Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2003. Başer, Tevfik: 40 qm Deutschland, Spielfilm, Futura/Filmverlag, BR Deutschland 1986. Başer, Tevfik: Abschied vom falschen Paradies, Spielfilm, Studio Hamburg Produktion für Film und Fernsehen GmbH, BR Deutschland 1988/1989. Bohm, Hark: Yasemin, Spielfilm, Hamburger Kino Kompanie Hark Bohm Filmproduktions KG, BR Deutschland 1987/1988. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 61-73. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 2006. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur«. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1963 [1930], S. 447-458. Göktürk, Deniz: »Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«. In: Interkulturelle Literatur in Deutschland, hg. v. Carmine Chiellino, Stuttgart 2007, S. 329-344. Illies, Christian: »Der Ethikrat – Diesmal für: Sibel Kekilli, BerlinaleGewinnerin«. In: DIE ZEIT (26.02.2004), Hamburg 2004. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr: Eine Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999.

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FIKTIVE MIGRATION UND MIGRIERENDE FIKTION. Z U D E N L E B E N SG E S C H I C H T E N V O N E MINE, L EYLA UND GÜL ANDREAS PFLITSCH Im Frühsommer 2006 hätte es fast so etwas wie einen handfesten Literaturskandal gegeben. Plagiatsvorwürfe gegen Feridun Zaimoğlu standen im Raum. Der Autor, so lautete der Verdacht, habe sich bei seinem just erschienenen und von der Kritik hochgelobten1 Roman Leyla2 bei Emine Sevgi Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus3 von 1992 bedient. Die Diskussion, die sich über etwa sechs Wochen hinzog, bevor sie dann versickerte, verlief gleichsam im Konjunktiv, da sie selbst von Anfang an zum Gegenstand einer Selbstbespiegelung des deutschen Feuilletons gemacht wurde. Es ist hier nicht der Ort, die längst erkaltete Debatte wieder aufzuwärmen. Es lohnt aber, an einige der seinerzeit aufgeworfene Fragen, anzuknüpfen, um dann mit Selim Özdoğans Roman Die Tochter des Schmieds4 einen dritten Text hinzuzunehmen.

Der Vorwurf Die Frankfurter Rundschau deutete Ende Mai 2006 als erste an, was dem Vernehmen nach bereits seit einigen Wochen im Literaturbetrieb kolportiert wurde. Eine Germanistin aus Süddeutschland, die anonym bleiben wollte, habe die beiden bereits genannten Texte von Zaimoğlu und

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Vgl. Mecklenburger, Norbert: »Ein türkischer Literaturskandal in Deutschland?«. In: Literaturkritik.de, Nr. 7 (Juli 2006), der die einseitig positive Kritik zu Leyla kritisiert und als einzige Ausnahme Fridtjof Küchemanns Besprechung in Literaturen Nr. 3 (2006) heraushebt. Zaimoğlu, Feridun: Leyla, Köln 2006. Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Köln 1992. Özdoğan, Selim: Die Tochter des Schmieds, Berlin 2005. 231

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Özdamar miteinander verglichen und dabei eine große Zahl – man sprach von etwa 160 – von verblüffenden Übereinstimmungen gefunden. Diese sind, auf der Ebene des Plots und des Stoffes: Beide Romane sind in Malatya verortet; beide spielen sie in den 1950er und 1960er Jahren, beide erzählen sie aus dem Leben von Frauen, die in der türkischen Provinz aufwachsen und die schließlich im Zug nach Deutschland auf dem Weg in eine ungewisse Gastarbeiterexistenz enden. Aber die Gemeinsamkeiten beschränken sich nicht auf die Anlage der Romane, sondern stecken vor allem im Detail. Tatsächlich ist manche Parallele frappierend. Liest man im einen Text von Buchstaben, die »wie auseinander fliegende Bäume sind«, so heißt es im anderen, Buchstaben seien wie »Menschen, die sich gegen einen starken Wind stemmen«;5 taucht im einen Roman »Humprey Pockart«6 auf, so begegnet uns im anderen eine gewisse »Kessrin Hepörn«7. »Bei Özdamar behauptet der Vater, eine Spinne in seiner Hand sei der tote Bruder.8 Bei Zaimoğlu denkt Leyla an ihren verstorbenen Bruder und klopft sich im selben Augenblick eine Spinne vom Schoß.«9 In Das Leben ist eine Karawanserei ist der Euphrat eine »silberne Schlange« und wird als »verrückter Euphrat« bezeichnet, bei Zaimoğlu tauchen die Begriffe »Schlangenlinie« und »Silberglanz« auf und die Euphratwasser »sind verrückt«.10 Helge Malchow, Verlagsleiter von Kiepenheuer & Witsch, pikanterweise der Verlag beider Autoren, wies umgehend alle Vorwürfe entschieden zurück. Zwar gebe es Ähnlichkeiten im Bereich der motivischen Gestaltung, aber »alle Spezifika künstlerischer Art, die Sprache, der Stil, die Struktur des Plots sind so unterschiedlich, dass es sich um zwei autonome, gänzlich voneinander unabhängig zu lesende Bücher handelt«.11 Ihm sprang eine Woche später Jens Jessen in der Zeit bei, der »zwei grundverschiedene Bücher« gelesen hatte, die »nichts als den Stoff gemeinsam haben«.12 Wären Stoff und Plot ausreichend,

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Zitiert nach Weidermann, Volker: »Streit um den Roman ›Leyla‹: Özdamar gegen Zaimoglu«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (01.06.2006), S. 37. 6 Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei, S. 28. 7 Zaimoğlu, Feridun: Leyla, S. 262. 8 Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei, S. 27. 9 Breitfeld, Arndt: »Plagiatsvorwurf gegen Zaimoglu. Zwei Romane mit derselben Matrix?«. In: Spiegel-online (08.06.2006). 10 Vgl. Mecklenburger, Norbert: Ein türkischer Literaturskandal in Deutschland? 11 Zitiert nach Deutschlandradio: »Kultur heute«, Sendung vom 31.05.2006, http:/www.dradio.de/dif/sendungen/kulturheute/506527, 01.01.2009. 12 Jessen, Jens: »Starker Mann, zarter Textkörper. Zaimoglu vs. Özdamar«. In: Die Zeit, Nr. 24 (08.06.2006). 232

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Plagiatsvorwürfe zu erheben, dann müssten Dutzende Ehebruchsgeschichten des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge von Flauberts Madame Bovary als geistige Diebstähle gelten, einschließlich Dostojevskijs Der ewige Gatte und Tolstojs Anna Karenina, argumentiert Jessen an der Problematik vorbei, denn dass es eben nicht allein um den Stoff ging, hätte ihm zu diesem Zeitpunkt bereits klar sein müssen. Die nicht von der Hand zu weisenden Ähnlichkeiten und Überschneidungen erklärte Malchow, der Özdamars Roman seinerzeit lektoriert hatte, mit kulturhistorischen Gründen und führte damit ein Erklärungsmuster ein, das für die folgenden Überlegungen von zentraler Bedeutung ist: »Wenn zwei Autoren einen Roman schreiben, der in den 50er und 60er Jahren in der Provinz der Türkei spielt und dann anschließend in Istanbul, wenn darüber hinaus im Mittelpunkt ihrer Bücher eine Frau steht, die von ihrer Kindheit bis zum Erwachsenenalter eine Entwicklung durchläuft und am Ende im Zug nach Deutschland sitzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier auf gemeinsame Erfahrungssubstrate zurückgegriffen wird, relativ groß.«13 Volker Weidermann macht sich einige Tage darauf für die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf den Weg nach Kreuzberg, um mit Emine Sevgi Özdamar zu sprechen. Özdamar gibt nur selten Interviews und entschied sich auch diesmal für Zurückhaltung. Weidermann musste sich – nachdem er sich drei Stunden lang mit ihr über die Texte gebeugt hatte – mit einer kurzen Schilderung des eigenen Eindrucks begnügen. »Sie ist außerordentlich erregt, später wird sie sagen, ich dürfe aus unserem Gespräch am Abend nicht zitieren, aber man darf sicher soviel sagen: Emine Sevgi Özdamar ist tief erschüttert, sie fürchtet, ihre Lebensgeschichte sei ihr gestohlen worden.«14 Interessanterweise klang es von der anderen Seite ähnlich. Weidermann telefonierte auch mit Güler Zaimoğlu, der seit einigen Jahren wieder in der Türkei lebenden Mutter Feriduns, die das Material für Leyla in vielen, auf Tonbändern aufgezeichneten Gesprächen mit ihrem Sohn geliefert hatte.15 Weidermann traf fernmündlich auf »eine verzweifelte Frau, die nur weint und sagt, daß man ihre Geschichte stehlen wolle.«16 Im Folgenden verselbstständigte sich die Geschichte. Anwälte wurden eingeschaltet, der Verlag ließ ein Gutachten erstellen, Emine Sevgi Özdamar teilte offiziell mit, sie habe Feridun Zaimoğlu entgegen 13 Deutschlandradio: Kultur heute, meine Hervorhebung. 14 Weidermann, Volker: Streit um den Roman ›Leyla‹, meine Hervorhebung. 15 Erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Debatte hat Hilal Sezgin Teile der Tonbänder gehört, siehe Sezgin, Hilal: »Eine Stimme, ein Unschuldsbeweis«. In: Die Zeit, Nr. 26 (22.06.2006). 16 Weidermann, Volker: Streit um den Roman ›Leyla‹, meine Hervorhebung. 233

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anderslautender Medienberichte »zu keinem Zeitpunkt vorgeworfen, von ihr abgeschrieben zu haben«17 und schließlich verlief die Sache dann im Sande. Im juristischen Sinne, so stellte man fest, liege keine Urheberrechtsverletzung vor. In dieser Hinsicht darf die Sache also als geklärt gelten; aus literaturwissenschaftlicher Sicht wirft der Fall jedoch interessante Fragen auf.

Erklärungen und Begründungen, oder: die Spinne und der tote Bruder Was steckt also hinter den Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Parallelen? Und vor allem, was bedeuten sie? Zaimoğlu betonte wiederholt und versicherte sogar an Eides statt,18 dass er weder Das Leben ist eine Karawanserei noch sonst eines der Bücher von Özdamar gelesen habe, und schloss damit also aus, dass eine unbewusste Beeinflussung vorliegen könnte. Auch die Vermutung, Zaimoğlus Mutter könne Özdamars Buch gekannt und sich in ihren Erzählungen unbewusst davon beeinflusst haben lassen, wies man von sich.19 Bleibt die Frage, woher die Überschneidungen rühren. Gegner der Plagiatsthese – und Feridun Zaimoğlu selber – verwiesen darauf, fehlende Kenntnisse des alltagskulturellen Hintergrunds würden Auffälligkeiten produzieren, wo keine seien. Der Auflistung der anonymen Germanistin warf Zaimoğlu »hochgradige Ahnungslosigkeit« vor.20 Wenn von einer jungen Frau in der Türkei erzählt werde, sei es keine Überraschung, wenn vom schmerzhaften Erlebnis der ersten Enthaarung berichtet würde. Und die doppelt auftretende geheimnisvolle Spinne

17 Breitfeld, Arndt: Plagiatsvorwurf gegen Zaimoglu. 18 So sagt Zaimoğlu selber in einem Interview mit Maik Söhler: »Zaimoglu: Faule Aprikosen aus Malatya«. In: Netzeitung.de (14.06.2006). 19 Vgl. für eine ähnlich verschlungene Rezeption bzw. Beeinflussung die Kinder- und Hausmärchen (1812-22) der Gebrüder Grimm. Manche der vorgeblich deutschen Volksmärchen weisen erstaunliche Parallelen zu den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht auf. Die Erklärung lautet, dass zwei der aus der Mittelschicht Kassels stammenden Gewährsfrauen der Grimms, einen französischen Hintergrund hatten. »Deren Kindheitserinnerungen an Geschichten aus der Gallandschen Adaption mögen der Grund für zwar veränderte, aber doch noch erkennbare Versionen von Ala ed-Din und Ali Baba in der Grimmschen Sammlung deutscher Volksmärchen sein.« Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, Frankfurt a.M. 1997 (Original: The Arabian Nights. A Companion, London 1994), S. 127. 20 Breitfeld, Arndt: Plagiatsvorwurf gegen Zaimoglu. 234

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verliert auch ihre Besonderheit, wenn man weiß, dass sie ein in der Türkei weitverbreitetes Bild für die Seele von verstorbenen Familienangehörigen darstellt.21 Wir haben es also hier möglicherweise mit dem von Helge Malchow angeführten »gemeinsamen Erfahrungssubstrat« zu tun, mit »ähnlichen Kindheitsmythen« (Volker Weidermann) oder einer gemeinsamen »kulturellen Matrix aus Aberglauben und Alltagspraktiken« (Zaimoğlu).22 Das scheint plausibel. Aber dennoch blieb ein Rest an auffälligen Überschneidungen, der mit dieser Argumentation nicht wegerklärt werden konnte, und für die Feridun Zaimoğlu mit einer abenteuerlichen Erklärung aufwartete. In der Tat schöpfen nämlich, wie er herausfand, beide Autoren in Teilen aus der gleichen Quelle. Güzin Cecen und Huriser Cecen, Schwestern von Güler Zaimoğlu und somit Tanten von Feridun, wohnten Mitte der 1960er Jahre im Gastarbeiterinnen-Wohnheim der Firma Siemens in der Stresemannstraße in Berlin. Güzin, die im Roman Leyla die Yasmin ist (Huriser ist Selda), war damals »eine Art Heimleiterin«23, die auf die Einhaltung der Hausordnung achtete. Diese erinnerte sich nun, dass damals eine gewisse Emine Sevgi Özdamar zu den etwa zwanzig Heimbewohnerrinnen gezählt habe. Daher rühren also Zaimoğlu zufolge die Gemeinsamkeiten: »Man habe abends nach der Arbeit zusammengesessen, und einsam, womöglich vom Heimweh geplagt, sei man halt zusammengerückt. ›Was tun Türkinnen‹, fragt Zaimoglu, ›wenn sie zusammenrücken? Sie erzählen sich Geschichten. Das waren Migrantinnen der ersten Stunde. Alles war ihnen fremd, die Arbeit, die Fabrik, die Großstadt, die Kultur. Sie sprachen kein Deutsch, und wenn sie das Wohnheim verließen, waren sie wie taubstumm. So haben sie einander aus ihrem Leben erzählt, von Sehnsüchten, Ängsten, Träumen.‹«24

21 Vgl. auch Jergovic, Miljenko: Das Walnusshaus, München 2008 (Dvori od oraha, Zagreb 2003), S. 435, wo eine Spinne auf einer Beerdigungsszene eine Rolle spielt. Zu erinnern ist auch an die Tatsache, dass Spinnen – neben Särgen und Skeletten – zum üblichen Inventar von Horror- und Gruselkabinetten gehören. 22 Zitiert nach Breitfeld, Arndt: Plagiatsvorwurf gegen Zaimoglu. 23 Spiegel, Hubert: »Zaimoglu gegen Özdamar. In Leylas Küche«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.06.2006), S. 41. 24 Ebd. 235

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Treibhaus Wohnheim, oder: Kofabulationen Das Wohnheim – das »Wonaym« aus Emine Sevgi Özdamars Roman Die Brücke vom Goldenen Horn25 – erweist sich dieser Lesart zufolge als Treibhaus, in dem die Geschichten gedeihen, sprießen und blühen. Aus dem Fluss der immer wieder vorgetragenen Erlebnisse Einzelner verfestigt sich mit der Zeit ein kollektives Narrativ. Analogien und Ähnlichkeiten gerinnen dabei zum Idealtypus einer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebrachten Geschichte. Die frappante Ähnlichkeit der Erzählungen von Migranten erster Stunde, die weitgehenden Überschneidungen von Topoi und Motiven, ja ganzen Handlungssträngen ihrer Geschichten, trat auch während der Vorbereitung der von Oktober 2005 bis Januar 2006 in Köln gezeigten Ausstellung »Projekt Migration« zutage.26 Offenbar entstehen und kursieren Narrative in einem solchen kollektiven Raum und werden zum Teil auch von denen weitergetragen, die an den geschilderten Ereignissen persönlich nicht beteiligt waren.27 Besonders die Szenen des Abschieds auf dem Bahnhof und der Ankunft in der Fremde, aber auch die Erfahrungen in Wohnheimen und am Arbeitsplatz werden ähnlich erinnert und erzählt. Sie haben sich längst in eine feste Form gefügt, der auch diejenigen folgen, die Selbsterlebtes berichten. So entstehen in einer Pendelbewegung zwischen individuellen und kollektiven Gedächtnissen im Prozess der Überlieferung Geschichten und Geschichte. Für den 1936 in Alexandria geborenen Psychoanalytiker Jacques Hassoun »ist die Geschichte ein Brunnen, aus dem jeder Erzähler wieder seine ureigene Erzählung schöpft.« Überlieferung bedeutet für ihn, »in der Spannung zu

25 Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn, Köln 1998; bes. Kap. »Die langen Korridore des Frauenwonayms«, S. 11-105. Der Roman beginnt mit dem Satz: »In der Stresemannstraße gab es damals, es war das Jahr 1966, einen Brotladen, eine alte Frau verkaufte dort Brot«. 26 Siehe den Katalog zur Ausstellung, Projekt Migration, 2005. Vgl. auch Gogos, Manuel: »Geschichtsbilder und Geschichtsbildner. Das ›Projekt Migration‹ als ›Marsch durch die Institutionen‹«. In: Beheimatung durch Kultur. Kulturorte als Lernorte interkultureller Kompetenz, hg. v. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., Essen 2007, S. 213-217. 27 Zaimoğlu hat im Interview mit der Netzeitung auf ein anderes Beispiel für den Mechanismus der Verfestigung literarischer Topoi hingewiesen: »Sehen Sie sich doch mal die deutsche Nachkriegsliteratur an. In den sechziger und siebziger Jahren sind die Romane voller Nazi-Väter, die sich teilweise mehr als nur ähnlich sind.« Söhler, Maik: Zaimoglu: Faule Aprikosen aus Malatya. 236

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stehen, zugleich ähnlich und auch anders zu sein«, sie ist darum »ein kreativer Akt«.28 Besonders sensibel für das Verhältnis von (subjektiver) Erinnerung und (historischer) Wahrheit sind die Vertreter der oral historyForschung, die ihre Rolle im Prozess des Erinnerns und der Produktion von Erinnerungen kritisch reflektiert haben. Angeregt wurden sie auch von der amerikanischen False-Memory-Debate, in deren Rahmen Therapeuten vorgeworfen worden war, »in ›Kofabulationen‹ (wie das Stichwort heißt) mit den Klienten falsche Erinnerungen [zu] generieren«.29 Entsprechend muss auch die unhintergehbare Mitwirkung des Historikers bei Befragungen mitbedacht werden. Erinnerungen sind eben, so Lutz Niethammer, »keine objektiven Spiegelbilder vergangener Wirklichkeit oder Wahrnehmung. Das Erinnerungsinterview ist vielmehr davon bestimmt, daß die Erinnerungselemente durch zwischenzeitlich erworbene Deutungsmuster oder kommunikationsgerechte Ausformung neu zusammengesetzt und sprachlich aufbereitet werden und daß sie durch Wandlungen in den sozial akzeptierten Werten und durch die soziokulturelle Interaktion im Interview selbst beeinflußt werden.«30 Dieser Befund betrifft die Romane Leyla und Das Leben ist eine Karawanserei gleich doppelt. Zum einen verweist er auf die Interviewsituation zwischen Feridun und Güler Zaimoğlu und die dieser Situation entwachsene Spezifik des Ergebnisses auf den Kassetten, die ja dann einen weiteren Prozess, nämlich den zentralen der literarischen Ausformung durch den Autor, nach sich zieht, so dass, was als zugrundeliegende Wirklichkeit angenommen werden kann, gleich zweifach bearbeitet erscheint. Zum anderen aber weist Niethammers Warnung darauf hin, dass die Parallelen zwischen Emine Sevgi Özdamars und Güler Zaimoğlus Narrativ in der Wahrnehmung und in der Darstellung eben nicht allein auf ein »gemeinsames Erfahrungssubstrat«, ein »ähnliches Reservoir an Erfahrungen und Ereignissen« oder die gemeinsame »kulturelle Matrix aus Aberglauben und Alltagspraktiken« im Sinne der ähnlichen Lebensgeschichte – also des Inhaltes und des Stoffes beider Bücher – zurückzuführen sind, sondern zusätzlich durch die von Niethammer aufgezählten Faktoren. Mit anderen Worten: Nicht nur das Substrat, auch die Blickrichtung und Perspektive darauf, inklusive wertender

28 Gogos, Manuel: »Das Gebot, sich zu erinnern. Jacques Hassouns Psychoanalyse der Überlieferung«. In: Jüdische Allgemeine, Beilage jüdische Literatur (Frühjahr 2003), S. 27. 29 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 267. 30 Lutz Niethammer zitiert nach ebd., S. 270, meine Hervorhebung. 237

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Betonungen, Auslassungen, Anordnungen et cetera ist beiden Lebensgeschichten gemein.31

E i n d r i t te r T e x t , o d e r : G ü l »Wenn zwei Autoren einen Roman schreiben«, so hatte Helge Malchow argumentiert, »der in den 50er und 60er Jahren in der Provinz der Türkei spielt und dann anschließend in Istanbul, wenn darüber hinaus im Mittelpunkt ihrer Bücher eine Frau steht, die von ihrer Kindheit bis zum Erwachsenenalter eine Entwicklung durchläuft und am Ende im Zug nach Deutschland sitzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier auf gemeinsame Erfahrungssubstrate zurückgegriffen wird, relativ groß.« Es ist erstaunlich, dass in der Debatte um den Plagiatsvorwurf niemand auf einen Roman hingewiesen hat, der im Frühjahr 2005, also vor Zaimoğlus Leyla erschienen ist,32 nämlich Die Tochter des Schmieds von Selim Özdoğan. Innerhalb von dessen Werk bedeutete dieser Roman eine radikale Wende, thematisch wie stilistisch.33 Man konnte Özdoğan bis dahin wirklich nicht vorwerfen, auf seinen Exotenbonus gesetzt zu haben. Im Gegenteil grenzte es fast an Selbstverleugnung, wenn das Personal seiner früheren Romane Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist34 oder Nirgendwo & Hormone35 Namen wie Alex, Maria und Paul trug. In seinem dritten Roman Mehr36 schimmerte dann zwar ein türkischer Hintergrund durch, blieb aber ganz unaufdringlich. Für die zur Pose verkommene Migrantenliteratur jedenfalls, die ihre vorgeblich provokante Originalität wie eine Monstranz vor sich her trägt, hatte er bloß

31 Vgl. Gogos, Manuel: Geschichtsbilder und Geschichtsbildner, S. 216: »Anhand der Gegenerzählungen müssen sich zentrale Schreib- und Kanonisierungsstrategien grundsätzlich auf ihre Stichhaltigkeit befragen lassen. Es geht also nicht allein um Inhalte des kulturellen Gedächtnisses; es geht um die Thematisierung der Speicherungsprozesse selbst.« 32 Leyla, damals noch unter dem Arbeitstitel Wildnis, soll, so Zaimoğlu während einer Lesung im März 2005 in Bern, bereits lange vor Erscheinen – und damit vor Erscheinen von Özdoğans Roman – fertig gewesen sein. 33 Vgl. zum Folgenden Pflitsch, Andreas: »Wunschlos unglücklich. Mit dem Roman ›Die Tochter des Schmieds‹ siedelt Selim Özdogan seine Leser nach Anatolien um«. In: Zenith. Zeitschrift für den Orient 6/2 (2005), S. 60. 34 Özdoğan, Selim: Es ist so einsam im Sattel seit das Pferd tot ist, Berlin 1995. 35 Özdoğan, Selim: Nirgendwo & Hormone, Berlin 1996. 36 Özdoğan, Selim: Mehr, Berlin 2001 (1. Aufl. Rütten & Loening 1999). 238

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einen Seitenhieb übrig. »Der böse Kanake aus dem Ghetto«, heißt es in Mehr, sei etwas für Bürgerkinder, die »ihr Leben lang nicht darüber hinwegkamen, wohlbehütet großgeworden zu sein«. Gerne hätten diese sich »aus der Gosse hochgekämpft, aber es hatte ihnen keiner die Gelegenheit gegeben.«37 Es kam also überraschend, dass sich der 1971 geborene, in Köln lebende Özdoğan mit Die Tochter des Schmieds thematisch in die türkische Provinz und dazu noch zeitlich weit zurück in die 1950er und 1960er Jahre begab. Noch irritierender als das Thema des Romans aber ist sein Ton. Wie schon der biedere Titel anklingen lässt, wird hier geradezu aufreizend konventionell, ja altbacken erzählt. Die sprachliche Zurückhaltung Özdoğans, der mit seinen früheren Texten demonstriert hat, wie temporeich und lebhaft bis zur Atemlosigkeit er schreiben kann, gab Rätsel auf. Özdoğan erzählt streng chronologisch die Geschichte von Gül, der Tochter des Schmieds Timur, der das Leben eher zustößt, als dass sie es in der Hand hätte. Es ist anrührend, nie aber sentimental und schon gar nicht larmoyant, wie Özdoğan das wunschlose Unglück Güls in all seiner beklemmenden Konsequenz beschreibt. Als gegen Ende des Romans die Ersten mit einem Arbeitsvertrag wedeln (»In drei Wochen soll es losgehen, nach Deutschland, nach Duisburg«38), und damit die Schleusen der Sehnsucht nach einem vermeintlich besseren Leben geöffnet sind, hat Özdoğan seine Leser längst so sehr in der türkischen Provinz heimisch gemacht, dass auch ihnen dieses Deutschland fremd und unheimlich vorkommen muss. Auf den letzten Seiten des Romans sitzt Gül »mit Emine [!] und vier anderen Frauen« im Zug von Istanbul nach Deutschland »und fährt einem anderen Leben entgegen.«39 In Die Tochter des Schmieds haben wir es also mit einer ganz ähnlichen Anlage und Konstellation zu tun, wie in den Romanen von Özdamar und Zaimoğlu. Würde man sich die Mühe machen, die sich seinerzeit die anonyme Germanistin gemacht hat, man würde sicherlich ähnlich viele und ähnlich frappierende Parallelen zwischen den Werken finden. Die Vaterfiguren von Özdoğan und Zaimoğlu sind sich beispielsweise sehr verwandt. Auch sprachlich entsprechen sich die Texte in ihrer manchmal wie Übersetzungen klingenden, etwas hölzernen Tonlage; es gibt ganz ähnliche Szenen über die Faszination des amerikanischen Kinos als Gegenwelt (Humphrey Bogart wird bei Özdoğan aber korrekt geschrieben!) und vieles mehr. Sigrid Löffler, die offensichtlich mit den früheren Werken Özdoğans nicht viel anfangen kann (und sie als »die übliche phalluspralle 37 Ebd., S. 229. 38 Özdoğan, Selim: Die Tochter des Schmieds, S. 301. 39 Ebd., S. 316. 239

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Jungmänner-Prosa für den Schnellverzehr« abtut) anerkennt, dass der Autor in Die Tochter des Schmieds »seinen großkotzigen Gestus von früher abgelegt« habe, zugunsten eines »schlichten Erzähltons, der seiner einfältigen Heldin gerecht wird, ohne sie zu sentimentalisieren oder zu begönnern«.40 Dennoch fällt ihr Urteil kritisch aus. Özdoğan habe »etliche Kulturhürden überspringen müssen«, denn er erzähle »erstmals von Dingen, die er nicht kennt« und kreise mit seinem Roman um »all das, was man inzwischen aus soziologischen Berichten als traditionelles anatolisches Frauenschicksal zu identifizieren gelernt« habe. Herausgekommen sei, so Löffler, »der passende Roman zur aktuellen Talkshow von Maybritt Maischiansen«.41 Hinter dem, was Sigrid Löffler hier in abwertender Absicht ins Feld führt, steckt ein wahrer Kern. Dass Selim Özdoğan – genauso Feridun Zaimoğlu in Leyla – »etliche Kulturhürden überspringen« musste, um von Dingen zu erzählen, »die er nicht kennt« ist durchaus zutreffend, muss aber nicht als Kritikpunkt verstanden und zum Vorwurf gemacht werden, wie es bei Löffler geschieht, sondern kann mit gleichem Recht als der Versuch einer literarischen Anverwandlung der eigenen (Vor-) Geschichte gelesen werden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Ansätze und Voraussetzungen von Özdoğan und Zaimoğlu grundlegend von denen Özdamars.

L e b e n sg e sc hi c h t e g e s to hl e n ? O d e r : W e m g e hö r t d i e G e s c h i c h t e ? Emine Sevgi Özdamar, so hatte es Volker Weidermann nach seiner Begegnung mit ihr übermittelt, fürchtete, »ihre Lebensgeschichte sei ihr gestohlen worden«. Ob Weidermann hier bewusst doppeldeutig formuliert hat, lässt sich nur vermuten. Mit dem zweifachen Sinn des Wortes »Geschichte« als Historie einerseits und Erzählung andererseits hat er hier die Ebenen miteinander vermischt. Während die Historie als Stoff allen offen steht, ist es die Erzählung und ihre künstlerische Anlage, sind es ihre Sprache, Motive und Topoi, die allein für die Frage nach dem Plagiat relevant sind. Weidermann stellt dann eine wichtige, in der damaligen Debatte aber irreführende Frage: »Wem gehört die Geschichte? Wem gehört diese Geschichte? Wem gehört die türkische 40 Löffler, Sigrid: »Besprechung von Selim Özdogan, Die Tochter des Schmieds«. In: Literaturen 4 (2005), S. 84. 41 Ebd. Wie Sigrid Löffler Özdoğan, so unterstellt Ingo Arend Zaimoğlu Anbiederung an Zeitgeistthemen. Siehe Arend, Ingo: »Durch die Ethno-Brille. Neooriental – Der Streit zwischen Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu ist auch ein Kulturstreit«. In: Freitag (16.06.2006). 240

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Einwanderergeschichte der ersten Generation, die in diesem Frühjahr in Zaimoglus Buch für so außerordentliche Furore gesorgt hatte?«42 Hier bewegt er sich nun ganz außerhalb seines eigentlichen Themas, nämlich den Plagiatsvorwürfen, und wechselt zu grundsätzlicheren Fragen, wie dem Stellenwert der Erinnerungen von Minderheiten im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft. Hubert Spiegel hob in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf dasselbe Problem ab. Er fand es »bemerkenswert«, dass dieser »kuriose Literaturstreit« die Feuilletons zu einem Zeitpunkt beschäftigt, »da die Literatur von Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu und anderen deutsch-türkischen Autoren nach langen Jahren der Dürre endlich den Sprung aus der Wüste der sogenannten Migrantenliteratur ins Gelobte Land des Mainstreams geschafft hat«.43 Als Kernfrage die hinter der Debatte liege, vermutet Spiegel einen Generationenkonflikt: »Aber wem gebührt nun der Lorbeer für dieses Verdienst, der Pionierin oder dem Nachgeborenen? Gebührt er Emine, der Eroberin, oder Feridun, dem Vollender?«44 Offenbar konkurrieren hier nicht bloß Autoren miteinander, sondern Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen. Längst wissen wir, dass auch Clio dichtet, »dass Geschichte eben nicht einfach all das ist, was in der Vergangenheit geschehen ist. Vielmehr verwandelt erst unsere Gegenwart die Vergangenheit in Geschichte, indem sie ihr eine Bedeutung zuschreibt«.45 Diese Zuschreibung von Bedeutung ist zugleich immer auch eine Aufladung mit Sinn. Jörn Rüsen definiert Geschichte, in der er eine kulturunabhängige Universalie sieht,

42 Weidermann, Volker: Streit um den Roman ›Leyla‹. 43 Spiegel, Hubert: Zaimoglu gegen Özdamar. 44 Ebd. Für diese Kategorisierung musste sich Spiegel heftige Kritik gefallen lassen. Vgl. etwa Schütte, Wolfram: »Pioniertat & vollendet. Sevgi Özdamars Romane stellen Zaimoglus ›Leyla‹ in den Schatten«. In: titelMagazin, http://www.titel-forum.de/modules.php?op=modload&name= News&file=article&sid=4892, 10.08.2006: »Es müsste aber ebenso komisch wie schrecklich sein, wenn deutsche Leser [...] nicht auf Anhieb und von der ersten Seite an bemerken würden, wo & warum in der verpufften Kontroverse über ›Leyla‹ und ›Karawanserei‹ Phantasie, Sprachmächtigkeit und künstlerische Originalität wirklich zuhause sind. Vielleicht sieht das sogar der FAZ-Literaturchef Hubert Spiegel ein, der ›Leyla‹ [...] in seiner Erklärungsnot die falsche Großmut eine Präzeptors [sic] literarischer Qualität simulierte, als er Sevgi Özdamar zur ›Pionierin‹ und Zaimoglu zum ›Vollender‹ erklärte«. 45 Bendikowski, Tillmann: »Besprechung von Jörn Rüsen, Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte«. In: Literaturen 5 (2003), S. 86. 241

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gar als »Sinnbildung über Zeiterfahrung«.46 Die Notwendigkeit einer solchen Sinnbildung ist besonders dann gegeben, wenn es darum geht, negative Erfahrungen zu verarbeiten. Für seine Mutter, gab Feridun Zaimoğlu zu Protokoll, sei sein Roman Leyla »eine Art Teufelsaustreibung«47 gewesen, eine Abrechnung, die Ablegung einer schweren Vergangenheit. Das Trauma ist Jörn Rüsen zufolge eine grundlegende Kategorie von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Historische Deutung werde so »zum Abarbeiten von Widersinn«.48 Dies geschehe in der »paradigmatischen mentalen Prozedur«49 des Trauerns, wo eine Vergangenheit, die als Sinnstörung nicht vergehen will, sich verwandle und als zukunftsfähig neu angeeignet werde – nicht zuletzt durch Erzählen. Der Schrecken muss, so Rüsen weiter, »als Erfahrung so durchgearbeitet werden, daß er zur Handlungsmotivation für sein Gegenteil wird, d.h. sich als Schubkraft für Sinnbildung auswirkt«.50 Was Rüsen hier für die Historiographie beschreibt, lässt sich auch auf die Lebensgeschichtsschreibung anwenden. Wenn Güler Zaimoğlu im Roman ihres Sohnes »eine Art Teufelsaustreibung« sieht, wird dies plausibel als Arbeit an der eigenen Lebensgeschichte im Sinne Rüsens. Der Sohn als Autor des Romans bändigt den Stoff und hebt die Sinnbildung auf eine andere Ebene. Er arbeitet den Schrecken als Erfahrung so durch, dass er zur Handlungsmotivation für sein Gegenteil wird, d.h. sich als Schubkraft für Sinnbildung auswirkt – und das heißt: zu einer Gastarbeitergeschichte wird, die Historie und Erzählung zu einem modernen Epos verbindet.

S c h l u s s , o d e r : m i g r i e r e n d e F i k ti o n v s . f i k ti v e M i g r a t i o n Das Narrativ der Gastarbeiter ist eine migrierende Fiktion (Emine und Güler); die Bücher der Nachgeborenen sind fiktive Migrationen (Leyla und Gül). Im Roman Leyla treffen und kreuzen sich beide, da die Stimmen von Feridun und Güler Zaimoğlu im Duett zu vernehmen

46 Rüsen, Jörn: Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte, Berlin 2003, S. 110. 47 Zaimoğlu im Interview mit Maik Söhler: Zaimoglu: Faule Aprikosen aus Malatya. 48 Rüsen, Jörn: Kann gestern besser werden?, S. 41 f. 49 Ebd., S. 42. 50 Ebd., S. 44. 242

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sind.51 Während die einen die eigene Lebensgeschichte ordnen, rekonstruieren die anderen die Geschichte(n) ihrer Vorfahren und damit ihre Herkunft. Die Selbstvergewisserung über die eigene Geschichte und Vorgeschichte scheint für Minderheiten zugleich besonders schwierig und besonders wichtig. »Viele Eltern«, schreiben Aytaç Eryılmaz und Martin Rapp, »tabuisieren ihre Migrationserfahrung regelrecht, oft aus Scham über demütigende Erfahrungen durch die Aufnahmegesellschaft. Ihre Geschichte findet kaum Eingang in die Geschichtsschreibung des Einwanderungslandes, so dass nachfolgende Generationen ihre Familiengeschichte in den großen Erzählungen nicht wieder finden, weder im Geschichtsunterricht der Schule noch in der Populärkultur.«52 In Gesellschaften in der verschiedene, sich teilweise widersprechende Erinnerungskulturen und Geschichtsbilder nebeneinander stehen, konkurriert die – akademischen Konventionen folgende und die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft einnehmende – Historiographie besonders stark mit anderen, oft subkulturellen Formen von Repräsentation (oder auch Konstruktion) der Vergangenheit.53 Die Kunst von Zaimoğlus Leyla und Özdoğans Die Tochter des Schmieds liegt aus diesem Grund m.E. nicht darin, dass sie ihre Geschichten erzählen obwohl, sondern weil sie von Dingen erzählen »die sie nicht kennen« (Sigrid Löffler). Das ist eine fundamental andere Ausgangslage, als die von Emine Sevgi Özdamar. Daraus erklärt sich vielleicht auch die auffällige sprachliche und stilistische Zurückhaltung sowohl bei Özdoğan als auch bei Zaimoğlu, der gegenüber Özdamars Text »wie Experimentalprosa aus der europäischen NachkriegsModerne«54 wirkt.55 Özdamar spielt mit dem Material, dass ihr die eigene

51 Ob Selim Özdoğan ähnlich verfahren ist, also auch ausführliche Interviews als Grundlage genommen hat, muss Spekulation bleiben. Die Danksagungen am Ende seines Romans deuten die Möglichkeit auf jeden Fall an. 52 Eryılmaz, Aytaç/Rapp, Martin: »Geteilte Erinnerung«. In: Projekt Migration, Katalog zur Ausstellung, Köln 2005, S. 578-585, S. 579. 53 Zu vergleichbar gelagerten Fällen aus dem Kontext der libanesischen, der israelischen und der exil-syrischen Literatur siehe Pflitsch, Andreas: »Familienbande. Erinnerungspanoramen in drei nahöstlichen Generationenromanen«. In: Poetry's Voice – Society's Norms. Forms of Interaction Between Middle Eastern Writers and their Societies, hg. v. Andreas Pflitsch/Barbara Winckler, Wiesbaden 2006, S. 281-295. 54 Arend, Ingo: Durch die Ethno-Brille. 55 Entsprechend reichhaltig ist inzwischen die wissenschaftliche Literatur zu ihrem Werk, siehe etwa: Karakuş, Mahmut: »E.S. Özdamars Roman ›Die Brücke vom Goldenen Horn‹: Auf der Suche nach einer verlorenen Generation«. In: Interkulturelle Begegnungen. Festschrift für Şara Sayın, hg. v. 243

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Biographie zur Verfügung stellt,56 Özdoğan und Zaimoğlu betreiben dagegen das eher Vorsicht, Zurückhaltung und Distanz verlangende Geschäft der Archäologie.57 Die Subversion des Vorhandenen bei Özdamar steht einer Affirmation des nicht Vorhandenen, bzw. nicht unmittelbar selbst Erlebten bei den Autoren der ›zweiten Generation‹ gegenüber.58 Die durch Erzählungen vermittelten Erinnerungen Anderer können so ›wahr‹ und ›real‹ werden, wie die Erinnerungen an eigene Erlebnisse. »Das Buch«, hat Selim Özdoğan über Die Tochter des Schmieds formuliert, »spielt hauptsächlich im Anatolien der 50er und 60er Jahre. Das ist eine Phase, die ich aus Erzählungen kenne und die für mich sehr viel bunter ist als Deutschland im gleichen Zeitraum, das ich nur als schwarzweiß-Fernsehbilder kenne.«59 Wir haben es also mit zwei grundverschiedenen Modi des Blicks auf die Geschichte zu tun, die nicht nur in (fruchtbarer) Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich auch ergänzen bzw. potenzieren.60 Der Vorwurf

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Manfred Durzak/Nilüfer Karakuş, Würzburg 2004, S. 37-47; Konuk, Kader: »Taking on German and Turkish History: Emine Sevgi Özdamar's Seltsame Sterne«. In: GegenwartsLiteratur 6 (2007), S. 232-256; Konuk, Kader: »›Identitätssuche ist ein [sic!] private archäologische Graberei‹: Emine Sevgi Özdamars inszeniertes Sprechen«. In: AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, hg. v. Cathy S. Gelbin/Kader Konuk/Peggy Piesche, Königstein 1999, S. 60-74; Oraliş, Meral: »Der Spiegel als Wunschraum oder Das literarische Schreiben als ›Provinz des Fremden‹ bei E. Sevgi Özdamar«. In: Interkulturelle Begegnungen. Festschrift für Şara Sayın, hg. v. Manfred Durzak/Nilüfer Karakuş, Würzburg 2004, S. 49-60. Vgl. dazu Özdamar, Emine Sevgi: »Die Frau, die ich sein sollte«. In: Die Tageszeitung (17.03.2007). Auf die Aktualisierung und Vergegenwärtigung von Vergangenem verweist schon der erste Satz des Prologs von Leyla: »Dies ist eine Geschichte aus der alten Zeit. Es ist aber keine alte Geschichte.« Zaimoğlu, Feridun: Leyla, S. 7. Vgl. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 71: »Während Özdamar einen verfremdeten surrealen Stil verwendet, erzählt Özdoğan realistisch«. Hervorhebung bei Ezli. Zitiert nach Kilic, Emrah: Selim Özdoğan in der Rodeo Bar. Aus diesem Grund wurde auch beim »Projekt Migration« programmatisch die so genannte ›zweite Generation‹ »stark eingebunden um zu gewährleisten, dass eben jenes eigene ›Wissen der Migration‹ zum Tragen kommt. Das ›Stimmrecht‹ der Migranten und ihrer Kinder«, schreibt Manuel Gogos, Mitarbeiter des Projektes, bleibe »im Prozess der (Re-)Konstruktion 244

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des Plagiats, so dürfte deutlich geworden sein, läuft nicht nur juristisch ins Leere, er erweist sich auch als literaturwissenschaftlich unfruchtbar. Gibt man den diesem Vorwurf zugrunde liegenden engen Textbegriff auf und liest die beiden Romane von Özdamar und Zaimoğlu unter weiter gefassten Aspekten von Intertextualität und unter dem Zeichen eines literarischen Generationenkonflikts, so ergeben sich ganz andere und weit fruchtbarere Interpretationsmöglichkeiten, wie Sieglinde Geisel in der Neuen Zürcher Zeitung vorgeführt hat. Im Ergebnis können diese dann durchaus intellektuell brisanter ausfallen, als der vergleichsweise plumpe Vorwurf des Abschreibens. »Wenn man es darauf anlegt«, schreibt Geisel, »kann man Leyla durchaus als eine Travestie von Karawanserei lesen. Die strukturellen Motive erscheinen in neuer Bedeutung, und im Gegensatz zur unsystematischen Auswahl der Versatzstücke hat diese Umdeutung Methode.«61 So macht Geisel in Leyla eine Figur mit Özdamars Vornamen aus:62 »›Sevgi, die Irre‹ lacht auf ›wie ein Hyänenjunges‹, und sie tut im Übrigen das, was die Ich-Figur in Karawanserei auch tut: lustige Geschichten erzählen, herumalbern, ihre Mutter lieben und mit Knaben ringen. Doch in Leyla nimmt sie ein böses Ende. ›Sie ist tot, sagt Selda, doch sie lebt in dem üblen Gerede der Männer und Frauen weiter‹.«63 Da liege, so Geisel, der Gedanke nahe, dass Zaimoğlu »in einem (geradezu klassischen) literarischen Muttermord die Autorin zumindest symbolisch zum Verschwinden bringen wollte«.64 Schaue man sich die beiden Vaterfiguren an, so Geisel weiter, stelle man eine ganze Reihe von Übereinstimmungen fest, dann aber eben auch entscheidende Unterschiede: »Bei Özdamar haben wir es mit einem liebenswürdigen, selbstironischen, melancholischen Versager zu tun; Zaimoglu zeichnet einen engstirnigen, despotischen, fundamentalistischen Familienvater, den alle fürchten – und der sich passgenau in das IslamBild des Westens fügt. Eine solche Verkehrung des Ausgangsmaterials ins ideologische Gegenteil ist ein klassisches Verfahren der politischen Propaganda.«65 Ähnlich argumentiert Ingo Arend und wirft Zaimoğlu

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ihrer Geschichte [...] kulturpolitisch höchst bedeutsam«. Gogos, Manuel: Geschichtsbilder und Geschichtsbildner, S. 214 f. Geisel, Sieglinde: »›Leyla‹ – eine Travestie? Weiterungen im Disput zwischen Feridun Zaimoglu und Emine Sevgi Özdamar«. In: Neue Zürcher Zeitung (24.06.2006). Allerdings heißt schon Leylas Mutter Emine, und neben Sevgi »der Irren« gibt es in Leyla auch eine »Sevgi, die Normale«. Geisel, Sieglinde: ›Leyla‹ – eine Travestie?, die von Geisel zitierte Stelle findet sich in Zaimoğlu, Feridun: Leyla, S. 331. Ebd. Ebd. 245

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»Neoorientalismus – made in Germany« vor, da er in Leyla ein »finsteres Anatolien« zeichne, um sich dem Publikumsgeschmack anzudienen.66 Auch Norbert Mecklenburger macht ein »brennendes Publikumsinteresse an schaurigen Geschichten aus türkischen Familien« aus und unterstellt Zaimoğlu gleichfalls, solche bedienen zu wollen: »Ist die Vermutung so abwegig, an den Trend werde sich ein Autor, der gerade sein Profil umbaut, womöglich gerne anhängen?«67 Ein solcher Verdacht bleibt nicht ohne Konsequenzen für Mecklenburgers Einschätzung der literarischen Qualität des Romans: »Ein literarischer Autor«, schreibt er, »kann dieses Spiel, die Konstruktion von Türken durch Reproduktion von Klischees, Stereotypen, Vorurteilen, mitmachen, dann schreibt er Pseudorealismus, oder er kann sich bemühen, es zu ›unterlaufen, Denk- und Deutungsmuster aufzubrechen, festgefahrene Sichtweisen zu konterkarieren, Widersprüche aufzudecken, mit Zwischentönen zu arbeiten und so die Vielschichtigkeit des Lebens zu erspüren‹. Diesen Kriterien«, schließt Mecklenburg, »genügt Leyla leider nicht.«68 Im Grad ihrer Intentionalität ist wohl auch der augenfälligste Unterschied zwischen den Romanen von Özdoğan und Zaimoğlu auszumachen. In Özdoğans Die Tochter des Schmieds – darin Özdamars Romanen ganz ähnlich – »finden die Ereignisse statt, weil sie stattfinden«.69 Özdoğan geht es »um eine individuelle Lebensgeschichte, die ateleologisch, unkommentiert, ohne den Aufbau einer Metaebene und das heißt ohne einen Identitätsdiskurs auskommt«,70 wohingegen Zaimoğlus Leyla ganz in den Gleisen einer Individuations- und Emanzipationsgeschichte verläuft und sich als Bildungsroman lesen lässt.

66 Arend, Ingo: Durch die Ethno-Brille. 67 Mecklenburger, Norbert: Ein türkischer Literaturskandal in Deutschland? Mecklenburg verweist an dieser Stelle auf die Arbeiten von Necla Kelek, die ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch verlegt werden. 68 Ebd. Mecklenburg zitiert Şenocak, Zafer: »Authentische Türkinnen«. In: Die Tageszeitung (10.06.2006) – Die von Arend, Geisel und Mecklenburg monierte Annäherung an die Erwartungshaltung eines westlichen Publikums zeigt sich zudem an der Schreibung türkischer Eigennamen, die Zaimoğlu nicht in der in der Türkei seit der Umstellung auf das lateinische Alphabet üblichen Form verwendet, sondern in einer auf alle Sonderzeichen verzichtenden, vorgeblich einfacheren Form. 69 Ezli, Özkan: Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik, S. 70. 70 Ebd., S. 71. Im Gegensatz zu Özdamar und Zaimoğlu, die in der 1. Person erzählen, schafft Özdoğan, indem er in der 3. Person erzählt, eine größere Distanz zu seiner Protagonistin. 246

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Im Dreieck der nahe verwandten und sich zugleich auf verschiedenen Ebenen klar voneinander unterscheidenden Romane von Emine Sevgi Özdamar, Selim Özdoğan und Feridun Zaimoğlu bewegt sich die literarische Aufarbeitung der Geschichte der türkischen Arbeitsmigration nach Deutschland. Die verwirrende Vielschichtigkeit dieser Geschichte und die Komplexität der Dialektik von Erinnern und Erzählen, Geschichtsschreibung und Literatur findet in den sich so ähnlichen und doch so unähnlichen Lebensgeschichten von Emine, Leyla und Gül ihre Entsprechung.

Literatur Arend, Ingo: »Durch die Ethno-Brille. Neooriental – Der Streit zwischen Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu ist auch ein Kulturstreit«. In: Freitag (16.06.2006). Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Bendikowski, Tillmann: »Besprechung von Jörn Rüsen, Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte«. In: Literaturen 5 (2003). Breitfeld, Arndt: »Plagiatsvorwurf gegen Zaimoglu. Zwei Romane mit derselben Matrix?«. In: Spiegel-online (08.06.2006). Deutschlandradio: »Kultur heute«, Sendung vom 31.05.2006, http:/www. dradio.de/dif/sendungen/kulturheute/506527, 01.01.2009. Eryılmaz, Aytaç/Rapp, Martin: »Geteilte Erinnerung«. In: Projekt Migration, Katalog zur Ausstellung, Köln 2005, S. 578-585. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 61-73. Gogos, Manuel: »Das Gebot, sich zu erinnern. Jacques Hassouns Psychoanalyse der Überlieferung«. In: Jüdische Allgemeine, Beilage jüdische Literatur (Frühjahr 2003). Gogos, Manuel: »Geschichtsbilder und Geschichtsbildner. Das ›Projekt Migration‹ als ›Marsch durch die Institutionen‹«. In: Beheimatung durch Kultur. Kulturorte als Lernorte interkultureller Kompetenz, hg. v. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., Essen 2007, S. 213-217. Geisel, Sieglinde: »›Leyla‹ – eine Travestie? Weiterungen im Disput zwischen Feridun Zaimoglu und Emine Sevgi Özdamar«. In: Neue Zürcher Zeitung (24.06.2006).

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Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, Frankfurt a.M. 1997. Jergovic, Miljenko: Das Walnusshaus, München 2008. Jessen, Jens: »Starker Mann, zarter Textkörper. Zaimoglu vs. Özdamar«. In: Die Zeit, Nr. 24 (08.06.2006). Karakuş, Mahmut: »E.S. Özdamars Roman ›Die Brücke vom Goldenen Horn‹: Auf der Suche nach einer verlorenen Generation«. In: Interkulturelle Begegnungen. Festschrift für Şara Sayın, hg. v. Manfred Durzak/Nilüfer Karakuş, Würzburg 2004, S. 37-47. Konuk, Kader: »›Identitätssuche ist ein [sic!] private archäologische Graberei‹: Emine Sevgi Özdamars inszeniertes Sprechen«. In: AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, hg. v. Cathy S. Gelbin/Kader Konuk/Peggy Piesche, Königstein 1999, S. 60-74. Konuk, Kader: »Taking on German and Turkish History: Emine Sevgi Özdamar's Seltsame Sterne«. In: GegenwartsLiteratur 6 (2007), S. 232-256. Löffler, Sigrid: »Besprechung von Selim Özdogan, Die Tochter des Schmieds«. In: Literaturen 4 (2005). Mecklenburger, Norbert: »Ein türkischer Literaturskandal in Deutschland?«. In: Literaturkritik.de, Nr. 7 (Juli 2006). Oraliş, Meral: »Der Spiegel als Wunschraum oder Das literarische Schreiben als ›Provinz des Fremden‹ bei E. Sevgi Özdamar«. In: Interkulturelle Begegnungen. Festschrift für Şara Sayın, hg. v. Manfred Durzak/Nilüfer Karakuş, Würzburg 2004, S. 49-60. Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Köln 1992. Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn, Köln 1998. Özdamar, Emine Sevgi: »Die Frau, die ich sein sollte«. In: Die Tageszeitung (17.03.2007). Özdoğan, Selim: Es ist so einsam im Sattel seit das Pferd tot ist, Berlin 1995. Özdoğan, Selim: Nirgendwo & Hormone, Berlin 1996. Özdoğan, Selim: Mehr, Berlin 2001. Özdoğan, Selim: Die Tochter des Schmieds, Berlin 2005. Pflitsch, Andreas: »Wunschlos unglücklich. Mit dem Roman ›Die Tochter des Schmieds‹ siedelt Selim Özdogan seine Leser nach Anatolien um«. In: Zenith. Zeitschrift für den Orient 6/2 (2005). Pflitsch, Andreas: »Familienbande. Erinnerungspanoramen in drei nahöstlichen Generationenromanen«. In: Poetry's Voice – Society's Norms. Forms of Interaction Between Middle Eastern Writers and

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their Societies, hg. v. Andreas Pflitsch/Barbara Winckler, Wiesbaden 2006, S. 281-295. Projekt Migration, Katalog zur Ausstellung, Köln 2005. Rüsen, Jörn: Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte, Berlin 2003. Schütte, Wolfram: »Pioniertat & vollendet. Sevgi Özdamars Romane stellen Zaimoglus ›Leyla‹ in den Schatten«. In: titel-Magazin, http://www.titel-forum.de/modules.php?op=modload&name=News &file=article&sid=4892, 10.08.2006. Şenocak, Zafer: »Authentische Türkinnen«. In: Die Tageszeitung (10.06.2006). Sezgin, Hilal: »Eine Stimme, ein Unschuldsbeweis«. In: Die Zeit, Nr. 26 (22.06.2006). Söhler, Maik: »Zaimoğlu: Faule Aprikosen aus Malatya«. In: Netzeitung.de (14.06.2006). Spiegel, Hubert: »Zaimoglu gegen Özdamar. In Leylas Küche«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.06.2006). Weidermann, Volker: »Streit um den Roman ›Leyla‹: Özdamar gegen Zaimoglu«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (01.06.2006). Zaimoğlu, Feridun: Leyla, Köln 2006.

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W ELTLITERATUR

»D I E E N T R Ü C K U N G G E B I E R T U N G E H E U E R .« INTERVIEW MIT ILIJA TROJANOW ILIJA TROJANOW Ilija Trojanow wurde 1965 in Sofia geboren. Mit sechs Jahren floh er mit seiner Familie über Jugoslawien und Italien nach Deutschland. Einen Großteil seiner Jugend verbrachte er in Kenia, wo sein Vater als Ingenieur arbeitete. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre studierte Trojanow Jura und Ethnologie in München und gründete zwei Verlage, die sich um die Vorstellung afrikanischer Literatur in Deutschland bemühten. 1996 erschien sein erster Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, der die familiären Erfahrungen der Flucht und Asylsuche verarbeitet. Trojanow, der auch mehrere Jahre in Indien lebte, darüber hinaus aber immer wieder auch in Südafrika, Großbritannien und Osteuropa anzutreffen ist, gilt als der »internationalste deutsche Gegenwartsautor«. Er ist ein Virtuose der literarischen Erschließung fremder Kulturen, der – nach zwei faszinierenden Bänden mit Reportagen über eine Gangesfahrt (An den inneren Ufern Indiens, 2003) und eine Pilgerreise nach Mekka (Zu den heiligen Quellen des Islam, 2004) – in seinem bislang erfolgreichsten Buch einen Weltensammler (2006) portraitiert, der ihm ein Jahrhundert voranging: den britischen Kolonialoffizier Richard Burton, der mehr als zwanzig Sprachen lernte, Indien und Afrika durchquerte und durch seine Berichte eine staunende europäische Leserschaft an diesen Expeditionen ins Fremde teilhaben ließ. Wie er selbst auf den Spuren Burtons reiste und in einer Art von Doppelblick die im Zeitalter der Globalisierung näher gerückte und doch rätselhafte Fremde erfuhr, ist Gegenstand von Nomade auf vier Kontinenten (2007). In seinem neuesten Buch, dem Reportagenband Der entfesselte Globus (2008) berichtet Trojanow über seine Erlebnisse als ständig Reisender aus verschiedenen Kontinenten. Seine 2007 bei der Tübinger Poetik-Dozentur gehaltene Vorlesung »Voran ins Gondwanaland« ist zusammen mit Feridun Zaimoğlus Vorlesungen in Ferne Nähe (2008) veröffentlicht. Trojanow erzählt von der Macht der Sprache, von kulturellen und sprachlichen Geographien von gefundenen und erfundenen Landschaften. Das Interview mit ihm wurde per Email geführt, wo sich Trojanow jeweils befand, ist unklar.

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ILIJA TROJANOW

Was hat Schreiben mit Verwandlung zu tun? Alles. Literatur wird auf dem Niveau der Verwandlung erregend, davor ist sie ein Abguss des Eigenen, danach wird sie eine ungewisse Reise ins Unvertraute, das man sich schreibend anverwandelt. Kampfabsage ist ein politisches Buch: Sind es die Romane auch? Das hängt ganz davon ab, wie sie gelesen werden. »Die Welt ist groß und Rettung lauert überall« ist eine spielerische Umkreisung der Themen totalitären Herrschaft und Exil, »Autopol« widmet sich jenen, die außerhalb eines Systems fallen, den Überflüssigen oder Unertragenen und »Der Weltensammler« bringt den imperialen Blick mit seiner Entgegnung und Auflösung zusammen. All das könnte man politisch verstehen. Welche Rolle spielt die Erfahrung (der eigenen Familie) mit einer Diktatur für einen Schriftsteller oder anders gefragt: Ist Emigration/Migration etwas anderes, wenn auch ein Systemwechsel damit verbunden ist? Natürlich, das ist ein entscheidender Unterschied. Nicht nur die Erinnerungen an die Diktatur, sondern auch der Umgang der Epoche nach ihr mit der Diktatur ist stetige Mahnung und Herausforderung. Welche Rolle spielt der Film /wird der Film in Deinem Werk spielen? Eine untergeordnete. Sind Städte wie Mumbai/Bombay noch Städte im europäischen Sinne? Was heißt das für Wahrnehmung, Lebensweise, Kunst und Kultur? Eine wahrlich uferlose Frage – where do I begin …? Schreibst Du Weltliteratur? Oder »deutsche« Literatur? Gibt es da einen Unterschied? Die Sprache muss für den Autor entscheidend sein, nicht aber für den Leser. Der Koreaner oder Brasilianer wird vielleicht gar nicht merken, dass »Der Weltensammler« ursprünglich auf Deutsch verfasst wurde. Die von Dir beschriebenen Räume verändern Deine Schreibweise, wirkt auch der »Schreibraum«, d.h. der Ort, an dem Du schreibst, auf Dein Schreiben?

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»DIE ENTRÜCKUNG GEBIERT UNGEHEUER.« INTERVIEW MIT ILIJA TROJANOW

Nein, überhaupt nicht, da bin ich sehr anspruchslos. Du hast Ethnologie studiert. Deine Reisen und Bücher scheinen dieses Interesse an den Kulturen und Literaturen Asiens oder Afrikas auf eigene Art fortzuführen. Wie hat dieser »Blick aus der Ferne« (Lévi-Strauss) Deine Betrachtung der gegenwärtigen europäischen oder deutschen Gesellschaft verändert? Jeder, der mal längere Zeit in Afrika oder Indien war, kennt das Phänomen, da ihm Deutschland bei seiner Rückkehr merkwürdig vorkommt. Die Entrückung gebiert Ungeheuer. So changiert man zwischen verschiedenen Anpassungen und ist nie entspannt, ein guter Zustand für einen Suchenden. In Deinem sehr erfolgreichen Roman »Der Weltensammler« lässt Du den Diener von Richard Burton Ramji Naukaram sagen, dass er den Respekt vor seinem Herrn verloren habe, weil dieser durch sein Verhalten – einer außerordentlichen Hingabe den Ritualen der anderen Kulturen – nicht nur die Kulturen verstehen, sondern ein Teil von ihnen werden wollte. Gibt es Grenzen der Kultur? Oder anders formuliert: Gibt es Grenzen von Verhaltensweisen? Ja, aber sie sind nicht festgelegt, sie verschieben sich, je nach Epoche und Person. Und der Einzelne, der sich öffnet und aufmacht, weiß vorab nicht, wo sie sich befinden und wird sie unter Umständen nie entdecken. Oder er wird bald schon gegen eine Mauer rennen. Das hängt auch vom Alter, vom Auskommen und von der eigenen Unsicherheit bzw. Sicherheit ab.

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EUROPÄISCHE LITERATUR(EN) IM GLOBALEN KONTEXT. LITERATUREN FÜR EUROPA1 OTTMAR ETTE 1. Innen und außen - Europa als Bewegung

1.1 Die europäische Literatur und ihre außereuropäische Konstruktion In seinen Überlegungen zu jenem zugleich problematischen und schillernden, faszinierenden Verhältnis, das den argentinischen Schriftsteller mit »seiner« Tradition verbindet, sowie zu der seit jeher höchst kontrovers diskutierten Frage, was eine wie auch immer geartete »argentinische« Tradition ausmachen könnte, kam der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges bekanntlich zu einem nur auf den ersten Blick paradoxen Schluss: »¿Cuál es la tradición argentina? Creo que podemos contestar fácilmente y que no hay problema en esta pregunta. Creo que nuestra tradición es toda la cultura occidental, y creo también que tenemos derecho a esta tradición, mayor que el que pueden tener los habitantes de una u otra nación occidental.«2

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Die Grundzüge dieses Beitrags entstanden im Rahmen eines ImpulsVortrags bei der im Mai 2007 von der European Science Foundation in Vadstena (Schweden) ausgerichteten Research Conference zum Thema »Literature for Europe: European Identities and European Literature in a Globalizing World«. »Wie steht es mit der argentinischen Tradition? Ich glaube, die Antwort darauf ist leicht, und die Frage birgt kein Problem. Ich glaube, daß unsere Tradition die gesamte abendländische Kultur ist, und ich glaube auch, daß wir auf diese Tradition ein Recht haben, ein größeres Recht, als es die Angehörigen dieser oder jener abendländischen Nation haben können.«. Borges, Jorge Luis: »El escritor argentino y la tradición«. In: ders.: Discusión, Madrid 1986, S. 135. [Deutsche Übersetzung: Borges, Jorge Luis: »Der argentinische Schriftsteller und die Tradition«. In: ders.: 257

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Und nachdem der Autor der Ficciones die spezifische Kreativität jüdischer Künstler in der abendländischen Kultur und irischer Schriftsteller in der englischen Literatur mit dem Verweis auf ihr Gefühl des eigenen Andersseins begründet hatte, fügte er hinzu: »Creo que los argentinos, los sudamericanos en general, estamos en una situación análoga; podemos manejar todos los temas europeos, manejarlos sin supersticiones, con una irreverencia que puede tener, y ya tiene, consecuencias afortunadas.«3

Borges signalisiert hier das, was man als die »nationale Falle« freiwilliger oder auch erzwungener Zuordnung bezeichnen könnte. Um Argentinier zu sein, dürfe man sich also gerade nicht auf das reduzieren lassen, was gemeinhin als »argentinisch« erachtet werde. Und hintersinnig verwies Borges darauf, dass es im arabischen Buch par excellence, im Koran, auch selbstverständlich keine Kamele gebe – und gerade diese Abwesenheit von Kamelen verdeutliche und belege, dass es sich in der Tat um ein arabisches Werk handele. Ein arabischer Fälscher, ein Tourist oder ein Nationalist hingegen hätten dafür gesorgt, dass es in diesem aussergewöhnlichen Buch vor Kamelen nur so wimmele: »caravanas de camellos en cada página«4. Folglich könne man auch Argentinier sein, ohne sich um das Lokalkolorit – oder das, was von außen dafür gehalten wird – zu kümmern. Fragen wir aus dieser Perspektive heute nach der Existenz einer europäischen Literatur, ja mehr noch: nach einer europäischen Literatur im Vollbesitz ihrer kreativen Kräfte, so scheint es mir entscheidend zu sein, das Oszillieren zwischen einer Außerhalbbefindlichkeit und einer Innerhalbbefindlichkeit als ihren eigentlichen – und später noch genauer zu erläuternden – Charakterzug zu begreifen. Aus einer spezifisch deutschen oder dänischen, einer irischen oder italienischen, einer polnischen oder portugiesischen Perspektive werden wir Europa und seine Literatur(en) zwar gewiss aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrnehmen und fokussieren, nie aber in einer komplexen Gesamtschau erfassen und kritisch

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Gesammelte Werke, Band 5/1 (=Essays), München/Wien 1981, S. 141152, hier S. 150]. »Ich glaube, daß wir Argentinier, wir Südamerikaner, in einer ähnlichen Lage sind. Wir können sämtliche europäische Themen in die Hand nehmen, und zwar ohne abergläubische Hemmungen, auf eine unehrerbietige Weise, die glückliche Folgen zeitigen kann und schon heute zeitigt.« Ebd., S. 136. [Deutsche Übersetzung: Borges, Jorge Luis: Der argentinische Schriftsteller und die Tradition, S. 150]. Ebd., S. 133. 258

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überdenken können. Mit anderen Worten: Um Europa denken und verstehen zu können, benötigen wir unverzichtbar den Blick von außen, der uns davor bewahrt, in unterschiedliche nationalkulturell bedingte Fixierungen zurückzufallen. Um also von einer europäischen Literatur sprechen und deren Spezifik erfassen zu können, ist die Erfahrung von innen und außen zugleich – und damit ganz selbstverständlich auch der Blick auf die europäische Literatur von außereuropäischen Literaturen her – gänzlich unverzichtbar. Die europäische Literatur existiert weder ohne ihr lateinisches Mittelalter5 noch ohne ihre globalen Kontexte. Es gilt also zunächst zu verstehen, dass die Literaturen Europas ohne Außereuropa nicht adäquat beschrieben und begriffen werden können. Daher ist es für Europäer nur dann möglich, europäische Literatur in ihrer Gesamtheit zu begreifen, wenn sie sich in eine gewisse virtuelle Ausserhalbbefindlichkeit versetzen beziehungsweise – mit literarischen wie literaturtheoretischen Mitteln – versetzen lassen. Mit guten Gründen hatte Erich Auerbach in seinen Überlegungen zu einer künftigen Philologie der Weltliteratur bereits 1952 festgehalten: »Und doch wird es immer unbefriedigender, sich nur mit einem Spezialgebiet zu befassen; wer heute etwa ein Provenzalist sein will und nichts anderes beherrscht als die einschlägigen Teile der Linguistik, der Paläographie und der Zeitgeschichte, der ist kaum auch nur noch ein guter Provenzalist.«6

Man könnte daher in Anlehnung an Auerbach und Borges als keineswegs provokant gemeinte Ausgangshypothese formulieren, dass jene, die sich ausschließlich mit europäischer Literatur – oder gar nur einer einzigen Nationalliteratur – beschäftigen, gar nicht wissen können, was europäische Literatur denn eigentlich ist.

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Vgl. das erstmals 1948 erschienene Standardwerk von Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 1948. Auerbach, Erich: »Philologie der Weltliteratur«. In: Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich, Bern 1952, S. 39-50; wieder abgedruckt in Auerbach, Erich: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, hg. v. Fritz Schalk und Gustav Konrad, Bern/München 1967, S. 303. 259

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1.2 Europa in Bewegung, Europa als Bewegung Europa, so scheint mir, lässt sich nicht begreifen, ohne es zugleich in Bewegung7 und als Bewegung8 zu verstehen. Europa stellt sich damit einerseits als ein Konzept dar, dem keine stabile Territorialität eignet, und es weist sich als ein Bewegungs-Raum aus, in dem sich in ständig neuen Konfigurationen Menschen über Grenzen sowie Grenzen über Menschen bewegen. Andererseits und gleichzeitig erweist sich Europa aber auch als ein Begriff, der sich nur als Bewegung verstehen lässt, insofern dieses Bewegungselement ebenso auf der Ebene ständig neuer Grenzziehungen wie auch auf der Ebene unablässiger Expansionsbestrebungen im beweglichen Mittelpunkt einer vektoriellen Konzeption Europas steht. Aus dieser Sichtweise ist die europäische Literatur ebenso zugleich in Bewegung und als Bewegung zu begreifen. Denn einerseits sind die unablässigen Migrationen und Grenzverschiebungen konstitutiv für die Herausbildung einer europäischen Literatur beziehungsweise europäischer Literaturen, die sich zu keinem Zeitpunkt völlig autark innerhalb eines nationalen oder protonationalen Raumes entwickelt haben; und andererseits kann sich eine europäische Literatur im vollgültigen Sinne nur als Bewegung konstituieren, entsteht sie doch erst kraft ihrer vektoriellen Dimension im Geflecht von Wechselwirkungen, die innerhalb der Traditionslinien eines lateinischen Mittelalters gewiss nicht minder stark waren als etwa zu den Hochzeiten einer europäischen République des Lettres. Dass weder die Traditionsstränge des Lateinischen noch die Zirkulationsformen des Wissens im 18. Jahrhundert auf Europa beschränkt blieben, sondern eine wichtige außereuropäische Wirkkraft entfalteten, die nicht ohne Rückwirkungen auf Europa selbst blieb, wird dabei allzu oft übersehen.

1.3 Phasen beschleunigter Globalisierung Betrachten wir die Herausbildung Europas in der Neuzeit, so wird deutlich, dass diese komplexe und zum Teil paradoxe Entstehungsgeschichte undenkbar wäre ohne eine kritische, ebenso längst automatisierte Nationalismen wie Provinzialismen überwindende Reflexion dessen, was man 7 8

Vgl. hierzu Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Vgl. hierzu Ette, Ottmar: »Europa als Bewegung. Zur literarischen Konstruktion eines Faszinosum«. In: Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, hg. v. Dieter Holtmann/Peter Riemer, Münster/Hamburg/Berlin/London 2001, S. 15-44. 260

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seit Beginn der modern times als zumindest vier Phasen beschleunigter Globalisierung (mit ihren unterschiedlich zwischengeschalteten Phasen der Entschleunigung) bezeichnen könnte. Denn Globalisierung – diese Ansicht beginnt sich langsam durchzusetzen9 – ist keineswegs ein Phänomen der Jetztzeit. Vielmehr lassen sich aus der hier gewählten Perspektive in der Neuzeit zumindest vier Hauptphasen beschleunigter Globalisierung unterscheiden, die – wie die aktuelle Phase – bei allen Kontinuitäten durch jeweils sehr spezifische Charakteristika gekennzeichnet werden. Am Beginn der Neuzeit steht als erste Phase beschleunigter Globalisierung die koloniale Expansion Europas, die im Wesentlichen von den iberischen Mächten getragen wurde, 1492 mit der so genannten Entdeckung Amerikas die »Neue Welt« für die Europäer öffnete und bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zu einer enormen, keineswegs auf Amerika beschränkten Expansion europäischer Herrschaft und zu Handelsverbindungen erstmals in einem als global zu bezeichnenden Maßstab führte. Die in dieser ersten Phase zum Ausdruck kommende Asymmetrie europäischaußereuropäischer Beziehungen wurde zum Ausgangspunkt nachfolgender Phasen beschleunigter Globalisierung und prägte die strukturelle Ausbildung asymmetrischer Relationen im militärischen, ökonomischen, politischen, biopolitischen und kulturellen Bereich bis heute. Dabei entsprechen dieser Phase extrem einseitig verlaufende Wege eines Wissenstransfers über die »Neue Welt«, wie sie sich nicht nur im Bordbuch des Columbus, sondern mehr noch in den Briefen und Chroniken spanischer beziehungsweise europäischer Eroberer und Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts, aber auch in den Berichten, Untersuchungen und Spekulationen vieler Missionare niedergeschlagen haben. Die Namen so unterschiedlicher Figuren wie Hernán Cortés und Bernal Díaz del Castillo, Pietro Martire d'Anghiera und Gonzalo Fernández de Oviedo, Garcilaso de la Vega el Inca und José de Acosta, Francisco López de Gómara, Bartolomé de las Casas und Bernardino de Sahagún stehen stellvertretend für einen Transferprozess, der Wissen über die Neue in der Alten Welt zu akkumulieren und für die Ausbildung globaler Herrschafts- und Austauschbeziehungen zu nutzen wusste.10 9

Vgl. hierzu u.a. Osterhammel, Jürgen/Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003; sowie Gruzinski, Serge: Les Quatre Parties du monde. Histoire d'une mondialisation, Paris 2004. 10 Vgl. hierzu stellvertretend die Forschungsarbeiten von Birgit Scharlau, u.a. Scharlau, Birgit (Hg.): Bild – Wort – Schrift. Beiträge zur Lateinamerikasektion des Freiburger Romanistentages, Tübingen 1989; dies.: »Nuevas tendencias en los estudios de crónicas y documentos del 261

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Eine zweite Phase beschleunigter Globalisierung reicht von der Mitte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und kommt insbesondere in den Entdeckungsreisen von Bougainville, Cook oder Lapérouse am deutlichsten zum Ausdruck. Diese zweite Phase ist nicht mehr von den iberischen Mächten, sondern – noch immer im Westen Europas – von Frankreich und England als aufsteigenden Kolonialmächten geprägt, die sich außerhalb Europas in den verschiedensten Regionen der Welt und auf den unterschiedlichsten Ebenen als Konkurrenten feindlich gegenüber stehen. Dabei greift die Entwicklung ihrer Handelssysteme zum Teil auf zuvor bereits existierende regionale und überregionale Handelsverbindungen außereuropäischer Mächte und Völker zurück, die sukzessive in ein komplexer gewordenes weltweites Handelssystem »integriert« werden, das von London, Amsterdam oder Paris aus gesteuert wird. Vornehmlich die Berichte von den Entdeckungs- und Forschungsreisen des 18. Jahrhunderts mit ihren an spezifischen Interessen europäischer Herrschaft und Wissenschaft ausgerichteten neuen Aufbereitungs- und Anordnungsformen des Wissens dokumentieren auf bis heute beeindruckende Weise ein Anschwellen von Wissensströmen, das nicht nur die europazentrischen Wege des Wissens global vervielfachte, sondern auch zu tiefgreifenden epistemologischen Veränderungen in den universalistisch denkenden okzidentalen Wissenschaften führte. Das Ende der Naturgeschichte11 lässt sich ohne diese außereuropäische Dimension nicht denken. In der dritten Phase beschleunigter Globalisierung tritt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu den europäischen Mächten erstmals eine außereuropäische, wenn auch politisch und wirtschaftlich abendländisch geprägte Macht hinzu, die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese dritte Phase steht im Zeichen global geführter neokolonialer Verteilungskämpfe sowie Prozessen abhängiger und ungleicher Modernisierung, die in unterschiedlich starkem Maße die verschiedensten Regionen des Planeten umformen. In Amerika selbst kommt es zur Ausbildung einer kontinentalen Hegemonie der USA, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zusätzlich zur wirtschaftlichen Präponderanz in der Karibik und Lateinamerika weithin sichtbar auch in wiederholten militärischen Interventionen äußert. Im Bereich der lateinamerikanischen Literaturen sind es modernistische Autoren wie der Kubaner José Martí, der Uruguayer José Enrique Rodó oder der Nicaraguaner Rubén Darío, die auf diese período colonial latinoamericano«. In: Revista de crítica literaria latinoamericana 31-32, Lima 1990, S. 365-375; dies. (Hg.): Übersetzen in Lateinamerika, Tübingen 2002. 11 Vgl. Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1978. 262

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dritte Phase beschleunigter Globalisierung mit originellen literarischen Schöpfungen und eigenen Identitätsentwürfen zugunsten eines – freilich unterschiedlich definierten – nuestra América antworten. Dabei verweisen die Korrespondententätigkeiten wie die Zeitschriftengründungen des Kubaners Martí beispielhaft auf das Bestreben, die Richtung des Wissenstransfers zwischen Neuer und Alter Welt umzukehren und die Wege des Wissens im Interesse eines zunehmend als »krisengeschüttelt« und »krank« dargestellten Lateinamerika auf globaler Ebene – gerade auch in der Akzentuierung amerikanisch-europäischer Wechselwirkungen – neu zu gestalten. Die aktuelle und noch unabgeschlossene vierte Phase beschleunigter Globalisierung umfasst die beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sowie den Beginn des 21. Jahrhunderts und wird insbesondere von einer rasch zunehmenden Globalisierung der Finanzmärkte, dem Aufbau neuer den Erdball umspannender Kommunikationssysteme sowie der Überwindung eines antagonistischen, ideologisch motivierten Blocksystems charakterisiert. Wie sehr diesen Entwicklungen militärische Aktionen an die Seite gestellt werden und diese ihrerseits die Funktion einer self-fulfilling prophecy von Huntingtons berüchtigter These vom »Kampf der Kulturen«12 erfüllen, zeichnet sich auch jenseits der angefachten Konfliktlinie Orient-Okzident längst ab. Die Entwicklung computergestützter elektronischer Datenaustauschsysteme erlaubt im Verbund mit ihrer weltweiten Vernetzung eine massenmediale Kommunikation nahezu in Echtzeit, was – im Jetztzeitalter als Netzzeitalter – zu einer veränderten Wahrnehmung globaler politischer oder ökonomischer, vor allem aber auch biopolitischer, kultureller und alltagskultureller Phänomene führt. Dieser Bewusstseinswandel im Rahmen einer nicht mehr nur punktuell verbundenen virtuellen Öffentlichkeit im globalen Maßstab kommt im Diskurs der Globalisierung zum Ausdruck, einer längst nicht mehr nur diskursiven »Verweltgesellschaftung«13, in der sich jedoch bis heute die strukturellen Asymmetrien der vorangehenden Phasen beschleunigter Globalisierung durchpausen. Im Bereich der Literatur entspricht diesen Phänomenen eine an Intensität gewinnende Entwicklung von Literaturen ohne festen Wohnsitz, auf die im weiteren Verlauf zurückzukommen sein wird.

12 Vgl. Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations, New York 1996. 13 Vgl. hierzu auch Albert, Mathias: Zur Politik der Weltgesellschaft. Identität und Recht im Kontext internationaler Vergesellschaftung, Weilerswist 2002. 263

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1.4 Das transversale Ensemble der europäischen Literatur Erich Auerbachs Bemühungen, in unverkennbarem Anschluss an Goethes Prägung eines insbesondere gegen die Nationalliteratur gerichteten Begriffs der Weltliteratur eine Philologie dieser Weltliteratur jenseits kurzsichtiger Nationalismen zu entwickeln, war vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und der Erfahrung der Shoah, welcher der Romanist im Exil nur knapp entging, höchst folgerichtig. Auerbach unterlief das nationalliterarische (und zugleich das nationalistische) Paradigma mit Mimesis genauso konsequent wie Curtius mit Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Der europäischen Literatur entspricht innerhalb einer derartigen Systematik dann allerdings kein Ort und kein Territorium, sondern ein spezifischer Bewegungsraum zwischen dem Nationalund dem Weltliterarischen. Untersuchen wir diesen Zwischenraum vor dem Hintergrund der bereits genannten Aspekte genauer, so bemerken wir, dass in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung drei europäische Sprachen – nämlich das Portugiesische, das Spanische und das Lateinische – weltweit verbreitet wurden, wobei in der zweiten Phase das Englische und das Französische innerhalb veränderter welthistorischer, aber auch kommunikationstechnischer Kontexte hinzukamen. Im Zwischenraum zwischen Nationalliteratur und Weltliteratur haben sich im Verlauf der zurückliegenden Jahrhunderte neben einer noch zumindest bis Ende des 18. Jahrhunderts einflussreich fortbestehenden lateinischen Traditionslinie hispanophone, lusophone, frankophone und anglophone Literaturen weltweit entwickelt, die ein neues Verständnis der europäischen Literatur im globalen Kontext wesentlich mitbestimmen. Denn wie diese Sprachund Literaturräume siedelt sich die europäische Literatur nicht nur im Bewegungsraum zwischen national- und weltliterarischen Entwicklungen an, sondern zeichnet sich als ein komplexes Ensemble globalisierter und nicht-globalisierter Literaturen ab. Zur europäischen Literatur gehören folglich sowohl Literatursprachen, die sich wie das Spanische oder Französische auf mehreren Kontinenten finden, als auch nicht-globalisierte, aber gleichwohl nationale Grenzen überspannende Literaturen wie die deutsche oder nur regional oder gar lokal verbreitete wie etwa die alemannische Literatur oder le boltz, eine selbst nicht allen Lesern in der Schweiz vertraute Literatursprache in Fribourg.14

14 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: »Das Reich der Klänge oder Warum die Schweiz Klang ist«. In: Die Schweiz ist Klang, hg. v. Ottmar Ette/Joseph Jurt/ Yvette Sánchez, Basel 2007, S. 27-41. 264

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Es gilt daher, europäische Literatur als ein so skizziertes Ensemble transkontinentaler und transarealer, aber auch nationaler, regionaler und lokaler Literatursprachen zu begreifen, das sich transversal und vektoriell im Bewegungsraum zwischen National- und Weltliteratur lokalisieren, aber nicht fixieren lässt. Zugleich wird dieses komplexe Ensemble seinerseits von den bereits erwähnten Literaturen ohne festen Wohnsitz gequert, auf die im weiteren Verlauf dieser Überlegungen noch ausführlich zurückzukommen sein wird. Dieses Bild aber wäre unvollständig, bliebe jenes univers concentrationnaire außer Betracht, das – folgen wir Giorgio Agamben – als »nómos der Moderne«15 schlechthin gelten darf und dessen spezifisch literarische Dimension im Anschluss einer notwendigerweise kurzen Analyse zugeführt werden soll.

2 . P r äf i g u r a ti o n e n , K o n f i g u r at i o n e n u n d Postfigurationen des Lagers Das überwiegend in französischer Sprache, der Sprache seines Exils, verfasste literarische Werk des 1923 in Madrid geborenen Schriftstellers Jorge Semprún macht immer wieder in der Erfahrung des Konzentrationslagers – ebenso am autobiographisch fundierten Beispiel von Buchenwald16 wie am Beispiel von Gurs17 – auf die enorme Bedeutung der europäischen Tragödie im Zeichen der nationalsozialistischen Bestialität für die Herausbildung einer vielsprachigen und supranationalen europäischen Kultur aufmerksam. Immer wieder stehen in Semprúns Œuvre Flucht, Vertreibung und Migration im Zentrum. In seinem Theaterstück freilich wird die bewusst europäische Dimension nicht nur im Titel markiert: Semprún konzentriert hier vielmehr in wenigen Szenen die tragische Geschichte Europas im 20. Jahrhundert von einem Konzentrationslager aus, ein Verfahren, wie wir es aus der besten ästhetischen Tradition

15 Vgl. das gleichnamige Kapitel in Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 175-189. 16 Vgl. Semprun, Jorge: L'écriture ou la vie, Paris 2006. 17 Semprúns Theaterstück »GURS: une Tragédie européenne« wurde vom Centro Andaluz de Teatro in Sevilla, dem Kapuzinertheater in Luxemburg und dem Théâtre National de Nice als Auftragsarbeit der Europäischen Theaterkonvention vergeben und in Sevilla 2004 uraufgeführt. Das Werk blieb bislang unveröffentlicht, mir liegt eine Manuskriptfassung vor. Vgl. auch Ette, Ottmar: »Lebensfuge oder Eine Philosophie des ÜberLebenSchreibens. Laudatio für Jorge Semprún«. In: Lendemains 32/126-127, Tübingen 2007, S. 193-207. 265

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der Lagerliteratur kennen.18 Entscheidend für Semprúns Perspektivierung ist, dass sich aus den Konzentrationslagern ein neues, vielsprachiges und vielkulturelles Europa erhebt, das zum Gegenpol jeglichen totalitären Denkens wird und eine neue Politik des (kollektiven) Erinnerns und des Eingedenkens im Zeichen der Diversität entfaltet. Dieses offene, das Andere im Eigenen begreifende und mitumgreifende Verstehen von Europa nicht aus einer bestimmten Territorialität oder gar aus einer bestimmten Leitkultur, sondern vielmehr aus der dynamischen Vektorizität Europas heraus scheint mir von fundamentaler Relevanz für eine neuartige Konzeption einer »Literatur für Europa« zu sein, die nicht länger im Zeichen einer fest umrissenen Identität und einer aufoktroyierten Zugehörigkeit19 steht. Es ist daher mit Blick auf die Frage nach einer Literature for Europe wichtig, in der gebotenen Kürze auf die verschiedenen – wie es auch bei Semprún selbst heißt – Figurationen des Lagers einzugehen, wie sie sich in der europäischen Literatur herausgebildet haben.

2.1 Albert Cohen oder die Präfiguration des Lagers Albert Cohen, der zweifellos zu den herausragenden französischsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört, hat in einem von der Forschung bislang nur selten untersuchten Text20 geradezu paradigmatisch die literarische Präfiguration des Lagers entworfen. Cohen stammte von einer kleinen griechischen Insel im Ionischen Meer und wuchs im venezianischen Dialekt der Juden Korfus auf; er besaß bei der (aus Angst vor fortgesetzten Pogromen erfolgten) Übersiedelung mit seinen Eltern nach Marseille noch einen ottomanischen Pass, bevor er nach seinem Studium in Genf die Schweizer Staatsbürgerschaft erwarb. Sie ermöglichte es ihm, nicht nur problemlos einen Teil seiner Familie in Alexandria zu besuchen und in Genf beim Bureau International du Travail zu arbeiten, sondern auch als französisch schreibender Autor von einem britischen Konsul in Bordeaux als Verfasser von Solal erkannt zu werden, was ihm die Flucht vor den Deutschen und die Einreise nach England 18 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004, insbes. S. 189-225. 19 Vgl. hierzu Maalouf, Amin: Les Identités meurtrières, Paris 1998. 20 Vgl. hierzu die ausführliche Analyse in Ette, Ottmar: »Albert Cohen: ›Jour de mes dix ans‹: Räume und Bewegungen interkultureller Begegnung«. In: Dulce et decorum est philologiam colere. Festschrift für Dietrich Briesemeister zu seinem 65. Geburtstag, hg. v. Sybille Große/Axel Schönberger, Bd. 2, Berlin 1999, S. 1295-1322. 266

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ermöglichte, wonach es ihm gelang, als Diplomat im internationalen Auftrag jenen Reisepass für Staatenlose zu entwerfen und international durchzusetzen, auf den er nicht weniger stolz war als auf die nicht in seiner Muttersprache abgefassten Romane, die er mit jenem Namen unterzeichnete, dem er erst bei seiner Einbürgerung in die Schweiz diskret ein kleines »h« hinzugefügt hatte.21 Ähnlich komplexe »internationalisierte« Lebensläufe finden sich auch bei den Figuren von Cohens Erzählungen, Theaterstücken und Romanen. Dies zeigt sich bereits in Albert Cohens literarischer »Urszene«, die der auf Korfu geborene Schriftsteller 1972 in seinem Buch Ô vous, frères humains gestaltete. Jahrzehnte zuvor, wenige Monate nach Kriegsende 1945, hatte Cohen diese Szene bereits in zwei Teilen in der einflussreichen Exilzeitschrift La France libre unter dem Titel »Jour de mes dix ans«22 publiziert. Der entgegen früherer Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift nicht mit dem Pseudonym »Jean Mahan«, sondern mit dem Autornamen unterzeichnete Text ist in insgesamt siebenunddreißig kurze, jeweils mit einem Titel versehene Abschnitte aufgeteilt, deren erster die Überschrift »Souvenir d'enfance« trägt, was sogleich als »souvenir d'enfance juive«23 konkretisiert wird. Die Erzählerstimme entwirft das Bild eines stellvertretend für viele Juden stehenden Jungen, der sich an seinem zehnten Geburtstag, gerade aus der Schule kommend, neugierig dem Straßenverkäufer eines Universal-Fleckenmittels nähert, von diesem aber als Jude gebrandmarkt und unter Beschimpfungen und Hohngelächter aus der Gemeinschaft der umherstehenden Franzosen vertrieben wird. Nicht von ungefähr besitzt diese Schlüsselszene nicht nur eine individuelle, sondern zugleich eine kollektive Dimension, wie sie auch in Texten anderer Autoren in immer wieder analogen Darstellungen ihren Ausdruck fand und findet.24: Erst im Blick der Anderen, erst in der Beschimpfung wird der juif imaginaire, der imaginäre Jude, »geboren«. Die historischen Hintergründe dieses Ereignisses, das den Kern des zum fünfzigsten Geburtstag Albert Cohens erschienenen »Jour de mes dix ans« bildet, sind in den Text eingeblendet und vermitteln ein antisemitisches Stimmungsbild jenes Marseille, das sich im Jahre 1905 noch immer ganz im Strudel der Dreyfus-Affäre befand. 21 Zur Biographie Cohens vgl. Valbert, Gérard: Albert Cohen, le seigneur, Paris 1990. 22 Cohen, Albert: »Jour de mes dix ans«. In: La France libre (16.07.1945), S. 193-200; (15.08.1945), S. 287-294; eine verkürzte Fassung erschien noch im September desselben Jahres in der Zeitschrift Esprit. 23 Ebd., S. 193. 24 Vgl. etwa Finkielkraut, Alain: Le Juif imaginaire, Paris 1980, S. 10. 267

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Für den völlig unvermittelt aus der Gemeinschaft ausgeschlossenen Jungen beginnt nun eine »Migration«, die nach mehreren Ruhepausen ihr (vorläufiges) Ende erst im letzten Abschnitt der Erzählung im Elternhaus finden wird. Der Annäherung an den Kreis um den Straßenhändler folgt die entgegengesetzte Bewegung, die nun fremdbestimmt ist und den zehnjährigen Jungen aus der Gemeinschaft in die Gesellschaft wirft. Der Junge irrt durch die Straßen Marseilles, folgt als juif errant ihren Mauern, die sich zu einer ersten Klagemauer formieren. Im unmittelbar folgenden Abschnitt »Un camp de concentration en miniature« macht sich das Ich auf den Weg zum Bahnhof, wobei die Züge – wie des Öfteren im Werk Cohens – symbolhaft für jenen Abtransport in die Konzentrationslager stehen, der auch den Juden Marseilles nach der Besetzung der Zone libre durch die Deutschen drohte. Der Ort dieses Konzentrationslagers en miniature ist schließlich der Bahnhofs-Abort, jener locus, auf dem sich der Junge in seiner Verzweiflung einschließt, und der als transitorischer Raum doch denkbar ungeeignet ist, um sich vor der bedrohlich gewordenen Außenwelt zu schützen. Cohens kleiner Text figuriert den Weg des jüdischen Volkes in seiner errance – und präfiguriert das Lager in einer Projektion, die zwischen 1905 und 1945, zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit oszilliert. Der Junge inszeniert mit Hilfe seiner fünf Finger – die für die Fünfzahl von Cohens Romanfiguren stehen – eine erste Aufführung für sich selbst, die den Ort, den »camp de concentration en miniature«, in einen Ort der Selbstreflexion und Kunst verwandelt: Das Ich lässt seine Finger so tanzen, wie der Romancier die Helden seines Romanzyklus immer wieder tanzen lässt. Schon die Präfiguration des Lagers enthält bei Cohen die künstlerische Arbeit als Ausdruck und Mittel eines sich durchsetzenden Überlebenswillens und Überlebenswissens, die sich in der Fiktion ihre eigenen Spiel- und Bewegungsräume schaffen. Freilich bietet der transitorische Innenraum – gleichsam ein präfiguriertes Durchgangslager – nur vorübergehend Schutz: Nachdem der Junge von einer Toilettenfrau vertrieben wird, die über seine lange Aufenthaltsdauer auf dem Bahnhofsabort erbost ist, setzt eine ziellose Bewegung ein, die vom Erzähler historisch überhöht und – wie schon im Falle der »Klagemauer« – in eine kollektive Geschichte überführt und kulturell umkodiert wird. Die Verfahren der Vektorisierung sind hier offenkundig. Aus einer kleinen Geschichte wird Geschichte; und unter dem aktuellen wird ein transhistorischer Geschichtsverlauf kollektiver Verfolgung und Vertreibung sichtbar, der quer durch die Länder Europas verläuft.

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2.2 Emma Kann oder das Schreiben im Lager Die 1914 in Frankfurt am Main geborene Emma Kann, die wenige Monate nach ihrem Abitur als Jüdin im September 1933 Deutschland verließ, sich zunächst in England und ab 1936 in Belgien durchschlug und im Mai 1940 vor dem Einmarsch der Deutschen aus Belgien nach Frankreich floh, wurde noch im Sommer desselben Jahres für etwa vier Wochen im am Fuße der Pyrenäen gelegenen Lager von Gurs interniert, das sie – nicht anders als Hannah Arendt – auf Grund der chaotischen Situation nach der französischen Kapitulation noch rechtzeitig verlassen konnte. Nach ihrer Flucht 1942 aus Frankreich gelangte sie über Casablanca nach Havanna, bevor sie im März 1945 in die Vereinigten Staaten einreisen durfte, wo sie bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1981 überwiegend in New York lebte und – seit 1948 – auf Englisch schrieb. Erst mit der Rückkehr nach Deutschland kehrte sie – wie sie 1986 vermerkte – »wieder zu meiner Muttersprache zurück«25. Emma Kanns Lebensweg ist von ihren zahlreichen lyrischen Arbeiten, die bislang nur ausschnitthaft in wenigen Gedichtbänden veröffentlicht wurden, nicht zu trennen. In ihrem im Jahr ihrer Flucht aus Deutschland verfassten und erst Jahrzehnte später veröffentlichten Gedicht »Heimatlos« fand die Exilsituation erstmals in der Lyrik Emma Kanns ihren literarischen Ausdruck: »Doch zu Hause ist meine Heimat nicht mehr. / Fremd bin ich den Menschen dort. // Fremd bin ich dort und fremd bin ich hier«26. Hier zeichnet sich ein Fremdwerden in einem geradezu planetarischen Maßstab ab: Es gibt keinen Weg, der noch aus dem Exil herausführen könnte. Die Ziellosigkeit der Bewegung des wandernden Ich verweist auf eine Heimatlosigkeit, die zu einer Deterritorialisierung führt, für die – um mit Auerbachs Schlusszitat von Hugo von Sankt Viktor aufzuwarten – »mundus totus exilium est«27. Das Entronnensein ist dem Ich (noch) keineswegs zur Heimat geworden, wohl aber zum Ausgangspunkt einer errance, die in diesem Gedicht in einer abstrakten, austauschbaren Landschaft des Exils erfolgt. Die Bewegung in der Fremde wird in den 1940 im Lager von Gurs verfassten Gedichten zur Fremdbestimmung der Bewegung. Zum Heimatlosen und Ziellosen tritt zeitweilig in diesen Gedichten das 25 Kann, Emma: »Biographische Notizen«. In: Exil 6/1, Frankfurt a.M. 1986, S. 66. Vgl. zur Bedeutung Emma Kanns auch Ette, Ottmar: »›Ein stets sich erneuerndes Buch‹. Warum es an der Zeit ist, Emma Kann zu entdecken«. In: Orientierung 71 (08.04.2007), Zürich 2007, S. 93-96. 26 Kann, Emma: »Heimatlos«. In: Exil 6/1, Frankfurt a.M. 1986, S. 67. 27 Auerbach, Erich: Philologie der Weltliteratur, S. 310. 269

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Willenlose, das das Ich vorantreibt, vor sich her treibt. Die Weite der Welt, wie sie bereits im Gedicht »Heimatlos« erscheint, tritt in einen Gegensatz zur räumlichen Begrenztheit des Lagers: Der Belagerungszustand des Ich führt zur Schaffung von Räumen des Widerstands, die im Körper-Leib des Ich jenseits des Denkens ihren eigentlichen (Zufluchts-) Ort finden: »Dein Name darf nicht ins Gehirn, / Dort schüfe er nur Schmerz.«28 Dem Verlust eines heimatlichen Raumes folgt der Verlust einer gegenüber Vergangenheit wie Zukunft offenen Zeitlichkeit, wie es in dem kurz nach der (durch den Kollaps Frankreichs möglich gewordenen) Flucht aus dem Lager 1940 verfassten und erst 2004 veröffentlichten Gedicht »Frieden Im Krieg« heißt: »Das Gestern starb. Das Morgen starb. / Das Sehn vertrieb das Denken, / Und zwischen Tod und Tod geniesst / Es was die Stunden schenken.«29 Auch das Gedicht mit dem treffenden Titel »Der Vagabund«, das – wie Emma Kann in einem Brief vom 16. Oktober 2003 schrieb – »möglicherweise ganz kurz nach der Entlassung aus Gurs geschrieben«30 wurde, betont in der letzten Strophe das Fehlen von Haus und Heimat, unterstreicht die Wichtigkeit der Landschaft, die das Ich fasziniert, lässt für alle Bewegungen aber wieder ein Ziel erkennen: »Die Freiheit, die mein Geist sich wahrt.«31 Spätestens an dieser Stelle ist die Dialektik der Heimatlosigkeit nach einem Prozess der Deterritorialisierung in das übergegangen, was man mit guten Gründen als ein Schreiben ohne festen Wohnsitz bezeichnen kann. Flucht, Deportation, Internierung, Entlassung und erneute Flucht diesmal nicht nach, sondern aus Frankreich und Europa in die Neue Welt lassen zwischen den Gedichten einen Reiseweg entstehen, der in dem dreistrophigen, auf das Jahr 1942 datierten Gedicht »Auf dem Meer I« die Überfahrt, das Da-Sein des Ich auf dem Schiff als ein Versinken von »Gestern« und »Morgen« begreift, ganz »durch Glück und Unglück treibend« einer Bewegung hingegeben, in der sich bald schon »mein Ich im All verliert«32. Das Treiben auf dem Meer und im All, im Weltraum einer im Grunde nicht bewohnbaren Welt der Anökumene, findet sich auch in dem auf 1941 datierten Gedicht »Wir Lebten Einst Auf Einer Erde« 28 Kann, Emma: »An Jemand Fernes«. In: Exil 6/1, Frankfurt a.M. 1986, S. 69. Dieses Gedicht zählt zu den im Lager von Gurs verfassten Texten. 29 Kann, Emma: »Frieden Im Krieg«. In: Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004, S. 193. 30 Brief von Emma Kann vom 16.10.2003 an Verf. 31 Kann, Emma: »Der Vagabund«. In: Mnemosyne 24, Klagenfurt 1998, S. 15. 32 Kann, Emma: »Auf dem Meer I«. In: Mnemosyne 24, Klagenfurt 1998, S. 18. 270

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wieder, in dem die eine Welt in Stücke gebrochen ist: »Nun treiben wir auf Weltenscherben / Allein des Schicksals Weg entlang.«33 Auch in der in den USA verfassten englischsprachigen Lyrik ist – so der Titel eines auf 1973 datierten Gedichts – »The Land of My Childhood«, »Das Land meiner Kindheit«, ständig vergegenwärtigte Vergangenheit, die in Analogie zum eingangs besprochenen Gedicht »Heimatlos« aber nicht mehr als geographische Einheit, als »Weltscherbe«, sondern in ihrer affektiven Dimension omnipräsent ist: »Hatred and fear are always present, / And one wrong step will set them free.«34 Und dennoch: Das 1981 entstandene Gedicht »Heimkehr zur deutschen Sprache« reflektiert als Sprache über Sprache die soeben erfolgte Heimkehr in die Fremde: »Wenn ich zur deutschen Sprache zurückkehre, / Ist es nicht die Sprache, die ich kannte, / Als ich dies Land verließ.«35 Emma Kanns Schreiben ist der unablässige und beständige Versuch, der Dialektik der Heimatlosigkeit durch alle akkumulierten Bewegungen hindurch zu folgen und ihr einen sprachlichen Ausdruck zu geben, in dem das Überleben, das Entronnensein, zur einzig denkbaren, zur einzig lebbaren, zur einzig schreibbaren Heimat wird.

2.3 Max Aub oder die Listen des Lagers Im Zentrum des gesamten literarischen Schaffens des 1903 in Paris als Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter geborenen Max Aub, der als »boche« 1914 Frankreich fluchtartig mit seiner Familie verlassen musste, nach Valencia übersiedelte, Katalanisch und Spanisch lernte und schon früh das Spanische zu seiner Literatursprache machte, im Bürgerkrieg36 aktiv auf unterschiedlichsten Ebenen für die Spanische Republik eintrat, nach seiner Flucht nach Frankreich zweimal – vom 30. Mai bis 30. November 1940 und vom 6. September bis 24. November

33 Kann, Emma: »Wir Lebten Einst Auf einer Erde...«. In: Exil 6/1, Frankfurt a.M. 1986, S. 70. 34 Kann, Emma: »The Land of My Childhood«. In: Exil 6/1, Frankfurt a.M. 1986, S. 74. 35 Kann, Emma: »Heimkehr zur deutschen Sprache«. In: Exil 6/1, Frankfurt a.M. 1986, S. 75. 36 Zu Max Aubs Aktivitäten im Spanischen Bürgerkrieg und speziell zu seiner Freundschaft mit dem französischen Schriftsteller und Intellektuellen André Malraux vgl. Ette, Ottmar/Figueras, Mercedes/Jurt, Joseph (Hg.): Max Aub – André Malraux. Guerra civil, exilio y literatura – Guerre civile, exil et littérature, Madrid/Frankfurt a.M. 2005. 271

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1941 – im Konzentrationslager von Le Vernet d'Ariège interniert37 und später mit einem Viehtransporter in das algerische Arbeitslager von Djelfa überstellt wurde, bevor ihm 1942 die Flucht über Casablanca nach Mexico (dessen Staatsbürgerschaft er 1955 annahm) glückte, steht ein einziges, vieldeutiges, aber doch letztlich immer an die Erfahrung des Lagers zurückgebundenes Wort: campo. Die Vieldeutigkeit dieses Begriffs,38 in dem sich aus immer wieder neuen Perspektiven die Lagererfahrung reflektiert, eröffnet einen Schreib-Raum, der sich im Lager selbst herausbildet und später das gesamte Schreiben im Exil prägt. Aubs lyrisches Tagebuch Diario de Djelfa unterstreicht nicht nur die Tatsache, dass diese Gedichte im Konzentrationslager von Djelfa auf den Hochflächen des Atlas niedergeschrieben wurden,39 sondern will all seinen Lesern verdeutlichen, dass dieses Schreiben im Lager für den Autor selbst überlebensnotwendig war, hätte er doch sonst nicht den Belastungen dieser Extremsituation standhalten und widerstehen können.40 Max Aubs gesamtes Schreiben lässt sich als ein Schreiben aus der Bewegung, aus der Vektorisierung begreifen, das sich paradoxerweise an jenem Punkt konzentriert, an dem sich das Lager befindet. Er wusste, dass man seinen Antrag auf ein französisches Reisevisum abgelehnt hatte, weil er noch immer gemäß der Listen und Archive des VichyRegimes registriert sei – und dies allein zähle.41 Umgekehrt stehen die Listen des Lagers wie später bei Jorge Semprún, der sich in seiner inversen Bewegung vom Spanischen zum Französischen und in seiner Verbindung zwischen Lager, Literatur und Leben in einer eigentümlichen Nähe zu Aub befindet, für die Herausbildung der möglichen Zukunft eines anderen, nicht länger von brutalen Ausgrenzungen gekennzeichneten vereinigten Europa. Denn schon in Aubs Manuscrito Cuervo konzentrieren sich im Konzentrationslager jene Querungen der Sprachen und Kulturen, in denen sich letztlich auch das Schreiben jenseits der eigenen Muttersprache – beim in Paris geborenen und auf Spanisch schreibenden 37 Zu den genaueren Umständen vgl. Soldevila Durante, Ignacio: El compromiso de la imaginación. Vida y obra de Max Aub, Segorbe 1999, Fundación Max Aub, S. 43. 38 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen, S. 202 f. 39 Vgl. Aub, Max: »Diario de Djelfa«. In ders.: Obras completas. Bd. 1, Obra poética completa. Dirección de la edición Joan Oleza Simó. Edición crítica, estudio introductorio y notas Arcadio López Casanova, Valencia 2001, S. 93. 40 Ebd. 41 Aub, Max: »Carta al Presidente Vicente Auriol«. In: ders.: Hablo como hombre. Edición, introducción y notas de Gonzalo Sobejano, Segorbe 2002, Fundación Max Aub, S. 113. 272

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Aub wie später beim in Madrid geborenen und auf Französisch schreibenden Semprún – reflektiert. Eine der faszinierendsten literarischen Darstellungen, die im 20. Jahrhundert vom Leben und Überleben im Lager entstanden, ist ohne jeden Zweifel der aus der Perspektive des Raben Jacobo verfasste friktionale Text Manuscrito Cuervo. Historia de Jacobo, das Rabenmanuskript, das erstmals 1952 in Aubs eigener (und eigenhändig verfasster) Zeitschrift Sala de espera erschien und in seiner endgültigen Form 1955 vorgelegt wurde.42 In diesem verdichteten Text blitzen menschliche Schicksale kurz auf, bevor sich die Lebenswege wieder im Dunkel einer namenlosen Geschichte auflösen. So werden im Kapitel »Algunos hombres« einige der Konzentrationäre aus der Anonymität gerissen, in die sie der Schrecken von Terror, Verfolgung und Vernichtung im Zeichen der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gestürzt hatte. Zufällig herausgegriffene Karteikarten der im Juni 1940 im südfranzösischen Lager Internierten verweisen auf europäische Schicksals- und Leidenswege, wie sie uns auch in Jorge Semprúns L'écriture ou la vie in der nackten Absurdität von Karteikarten, die über Leben und Tod entscheiden, so oft begegnen. Die Listen des Lagers belichten Leben von Europäern, die aus ihrer Lebensbahn geworfen wurden.43 Gesichter werden der Gesichtslosigkeit entrissen, Schicksale für einen Augen-Blick beleuchtet, bevor sie wieder ins Amorphe, ins Gesichtslose einer Statistik des Faktischen zurückfallen. Die List dieser Liste Aubs besteht darin, nicht nur die Absurdität und Zufälligkeit des totalitären Zugriffs, sondern zugleich die Unabschließbarkeit dieser Liste vor Augen zu führen, könnte dieser Katalog doch jeden, auch den Leser, miteinschließen in einer Bewegung, die – betrachtet man die einzelnen Lebenswege der Internierten – höchst verschiedenartig und diskontinuierlich, insgesamt aber doch linear verläuft. Dem Schriftsteller bleibt – wie dem Benjaminschen Engel – keine Zeit, die Toten zu wecken und das Zerschlagene wieder zusammenzufügen.44 Doch besteht in der Literatur – wie am Ende von Manuscrito Cuervo – die Hoffnung darauf fort, dass es »etwas Anderes« geben muss: etwas, in dem jenseits des Nationalistischen wie des Ideologischen eine nicht länger von Internierungen und Ausgrenzungen geprägte Zukunft Europas aufscheint. 42 Aub, Max: Manuscrito Cuervo. Historia de Jacobo. Introducción, edición y notas de José Antonio Pérez Bowie con un Epílogo de José María NaharroCalderón, Segorbe/Alcalá de Henares 1999, Fundación Max Aub. 43 Vgl. u.a. ebd., S. 271. 44 Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«. In: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt a.M. 1980, S. 697 f. 273

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2.4 Cécile Wajsbrot oder die Postfiguration des Lagers In ihrem 1999 erschienenen Essay Pour la littérature hat die 1954 geborene Cécile Wajsbrot unmissverständlich auf den großen – und lange Zeit in Frankreich so beiläufig übergangenen – Einschnitt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht, jenes »1939 – 1945«45, das den Nationalsozialismus, die Atombombe, die Shoah, die Occupation, die Collaboration und jenes Schweigen der Umstehenden beinhaltet, das Albert Cohen so eindrucksvoll vor Augen führte. Über Jahrzehnte habe man die Augen verschlossen, eine neue Seite aufzuschlagen versucht46 – und, wie Max Aub hinzufügen würde, doch immer noch die alten Listen Vichys weitergeführt. Im Zeichen der »Urszene Vichy« habe in der französischen Literatur die Zeit der Nachforschungen gerade erst begonnen.47 Bereits Henry Rousso hatte in seinem wichtigen Buch über die kollektive Verarbeitung von Occupation und Collaboration in Frankreich vom Vichy-Trauma beziehungsweise vom Vichy-Syndrom gesprochen.48 Auch Silke Segler-Meßner wies in ihrer Studie darauf hin, dass man um die »über 70000 jüdischen Mitbürger, die in den Konzentrationslagern ums Leben kamen, [...] erst Jahrzehnte später offiziell getrauert« habe.49 Geoffrey Hartman habe in seiner Untersuchung diese Verdrängung wiederum als kollektiven Selbstschutz gedeutet, der noch fünfzig Jahre nach den Ereignissen andauere, wobei viele französische Juden diesem Mechanismus bis heute unterlägen.50 Wie sehr sich derartige Verdrängungsmechanismen in das sträfliche Bild eines »Europa ohne Juden«51 einfügen, ist sicherlich nicht nur mit Blick auf die französische oder deutsche Situation zu diskutieren. Für die seit einigen Jahren zwischen Paris und Berlin pendelnde Cécile Wajsbrot ist dabei die Beschäftigung mit jener geschichtlichen Periode von entscheidender Bedeutung, die in den hier vorgestellten Überlegungen zum Ausgangs- und Bezugspunkt einer Traditionslinie wurde, die für die weltweite Entfaltung der Literaturen ohne festen Wohnsitz als fundamental anzusehen ist. Denn was sich im Zeichen der 45 46 47 48

Wajsbrot, Cécile: Pour la littérature, Paris 1999, S. 23. Ebd. Ebd., S. 27. Vgl. Rousso, Henry: Le syndrome de Vichy. De 1944 à nos jours, Paris 1990. 49 Segler-Meßner, Silke: Literatur und Zeugenschaft – Zu Darstellung und Interpretation der Shoah in Frankreich, Stuttgart 2003, S. 75. 50 Ebd. 51 Vgl. Wasserstein, Bernard: Europa ohne Juden. Das europäische Judentum seit 1945. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, Köln 1999. 274

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beiden Weltkriege sowie der Verfolgung und Ermordung der Juden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte, ist bis in die Begrifflichkeiten von Exil und Diaspora hinein für jene Literaturen (und Philologien) prägend, die sich im Kontext der vierten Phase beschleunigter Globalisierung seit der Wende zum 21. Jahrhundert verstärkt herausbildeten. Ein adäquates Verständnis der Literaturen ohne festen Wohnsitz ist ohne die Reflexion der Shoah ebenso wenig vorstellbar wie eine Reduktion der literatures without a fixed abode/littératures sans résidence fixe auf diese Traditions- und Bruchlinie allein. In dem zeitgleich mit ihrem Roman Le Tour du lac52 im Jahre 2004 erschienenen Bändchen Beaune-la-Rolande lässt die Erzählerstimme gleich im ersten Absatz des ersten von insgesamt fünf Teilen keinen Zweifel daran aufkommen, dass die sich anschließende Annäherung an das Thema des Lagers und der Judenverfolgung in Frankreich von unterschiedlichsten Bewegungsfiguren sowie von linearen wie zyklischen Zeitvorstellungen geprägt ist, durchschneiden Autobahn und Landstraße doch eine Jahr für Jahr immer von neuem »monotone, flache, unbarmherzig horizontale Landschaft«53. Die Landschaft wird zur Durchgangslandschaft, zum Ort eines Transits, der im Ferienstau über die Autobahnen nach Süden abrollt. Und doch wird in dieser Durchgangslandschaft gleichsam zwischen den sich abspulenden Zeilen ein anderer Transit spürbar, der auf ein zeitlich immer weiter in die Vergangenheit rückendes Durchgangslager – das wohl schon für die Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs »genutzt« worden war – verweist: Beaune-laRolande. Die Ich-Erzählerin ist in der Ausweglosigkeit ihres Auf-dem-WegeSeins54 zugleich eingesperrt und eingebunden in eine Genealogie, die sie mit ihrer Großmutter verbindet. Sie hat zwar deren Stimme (»la voix«) verloren, begibt sich aber auf deren Weg (»sa voie«55): einen Weg in den »Schatten der Erinnerung«, wie es in Pour la littérature hieß.56 Das imaginäre, von der Großmutter vielleicht niemals ausgesprochene »Voilà«57 enthüllt der Ich-Erzählerin die Verpflichtung, genauer auf das zu sehen, wovon die meisten Anderen ihren Blick wenden,58 vor allem aber der Stimme und dem Weg der Großmutter zu folgen – und dem Weg des nie kennengelernten Großvaters, der unter dem Vichy-Regime 52 53 54 55 56 57 58

Wajsbrot, Cécile: Le Tour du lac, Paris 2004. Wajsbrot, Cécile: Beaune-la-Rolande, Paris 2004, S. 7. Ebd., »sur la route«. Ebd., S. 12. Wajsbrot, Cécile: Pour la littérature, S. 25. Wajsbrot, Cécile: Beaune-la-Rolande, S. 8. Wajsbrot, Cécile: Pour la littérature, S. 23. 275

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durch ein unscheinbares billet vert zunächst einbestellt wurde, um in der Folge abtransportiert, interniert, deportiert und zu Tode gebracht zu werden. Die Suche beginnt, doch die Erzählerin weiß nur, dass ihr Großvater in Auschwitz starb.59 Eine »lange Reise«60 beginnt, die für die IchErzählerin noch immer nicht zu Ende gegangen ist. Bald schon überlagert sich das Konzentrationslager von Beaune-laRolande auf Grund ins Feld geführter topographischer und klimatischer Bedingungen mit dem Vernichtungslager von Auschwitz, ist es doch »ein Stück Mitteleuropa, hundert Kilometer von Paris entfernt transplantiert«61. Auschwitz ist partout et nulle part: Die Postfiguration des Lagers beginnt als raum-zeitliche Überlagerung – denn längst schon ist Auschwitz ubiquitär geworden.62 Der lieu de mémoire, der Gedächtnisort hat sich in der Literatur vervielfacht, ist nicht mehr einfach lokalisierbar, sondern allgegenwärtig. Alles gerät in Bewegung, entzieht sich statischen Zuweisungen, ein für allemal fixierbaren Orten. Kein Wunder also, dass sich das Ich nicht den »sédentaires«, sondern den Deportierten, den Flüchtlingen, den Migranten, den »sans-papiers«63 weitaus näher fühlt. Die Deportation des unbekannten Großvaters, die alljährliche Reise von Großmutter und Enkelin ins Lager von Beaune-la-Rolande, die Reise der Enkelin und Ich-Erzählerin nach Auschwitz, aber auch nach Krakau, Warschau oder Vilnius, die Deportationen, erzwungenen Migrationen und freiwilligen Reisen verbinden sich zu unsteten, diskontinuierlichen Bewegungsfiguren, die – scheute man das Wortspiel nicht – auf eine littérature sans-papiers zusteuern. So verbindet sich die Präfiguration des Lagers, die den zehnjährigen Jungen64 in Albert Cohens Marseille ein Konzentrationslager en miniature durchleben lässt, in der Postfiguration des Lagers mit dem Schicksal von Migranten an der Wende zum 21. Jahrhundert. An dieser Stelle verknüpfen sich die aus der Shoah-Literatur ererbten Bewegungsmuster mit der vektoriellen Imagination einer Literatur, die sich aus einander überlagernden migratorischen Prozessen speist. Das Lager wird in seiner Postfiguration zum Brennspiegel weltweiter Bewegungen, die 59 60 61 62 63 64

Wajsbrot, Cécile: Beaune-la-Rolande, S. 14. Ebd., S. 10. Ebd., S. 21. Ebd., S. 55. Ebd., S. 20. Auch die Mutter der Erzählerin ist zehn Jahre alt, als die französische Polizei sie zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter festzunehmen versucht; doch wie durch ein Wunder bleibt die Restfamilie verschont, die Genealogie der Familie – und damit auch der Erzählerin – bricht nicht ab (vgl. ebd., S. 31 f.). 276

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sich in ihm in Zeit und Raum kreuzen und überschneiden. So wird das univers concentrationnaire zum biopolitischen wie literarischen Paradigma eines Schreibens, das sich in der Dialektik der Heimatlosigkeit, eben darum aber auch in einer zutiefst europäischen Tradition weiß, hatte doch Friedrich Nietzsche unter der Überschrift »Wir Heimatlose« in seiner fröhlichen Wissenschaft die wahren, die guten Europäer mit ihrer Heimatlosigkeit verbunden.65

3. Das Oszillieren zwischen I n n e r - u n d A u ß e r ha l b b e f i n d l i c h k e i t Im Bewegungsraum zwischen National- und Weltliteratur queren die Literaturen ohne festen Wohnsitz die europäische Literatur in höchst signifikanter Weise, zeigen sich hier doch Überschneidungsbereiche, welche die europäische Literatur auf der sprachlichen Ebene nicht nur in globale, nationale, regionale oder lokale literarische Beziehungsgeflechte einbinden, sondern auch translingual mit Sprach-, Kultur- und Literaturräumen vernetzen, die sich wiederum schematisiert auf zumindest vier verschiedenen Niveaus anordnen lassen. Denn das translinguale, mithin verschiedene Sprachen querende Schreiben jenseits der jeweiligen Muttersprache lässt sich sowohl innerhalb Europas, zwischen Europa und seinen »Rändern«, zwischen Europa und Regionen von mittlerer Distanz sowie zwischen Europa und weit entfernten Räumen in sehr unterschiedlichen Ausprägungsformen untersuchen. Aus dieser Perspektive wird es möglich, die europäische Literatur auf eine bislang vernachlässigte Weise aus ihren globalen Kontexten heraus zu verstehen. Gewiss handelt es sich bei translingualen Entwicklungen um Phänomene, die – wie die europäische République des Lettres des 18. Jahrhunderts, aber auch bereits die Schreibpraktiken des lateinischen Mittelalters zeigen – keineswegs ein Privileg des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts sind. Eine translinguale Dimension lässt sich ebenso bei dem in Amsterdam geborenen und auf Französisch schreibenden Cornelius de Pauw beobachten wie bei dem auf Englisch schreibenden Georg Forster oder auch bei Alexander von Humboldt, der sich unterschiedlichster Sprachen bediente, vor allem aber nicht nur ein ausgezeichneter deutscher, sondern auch ein vorzüglicher französischer Schriftsteller war. Die Beispiele ließen sich auf diesem Gebiet leicht 65 Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft (›La Gaya Scienza‹)«. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 3, München/Berlin 1988, S. 630 f. 277

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häufen. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass in der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung das translinguale Schreiben im weltweiten Maßstab, aber gerade auch mit Blick auf und innerhalb von Europa ungeheuer an Fahrt aufgenommen und an Bedeutung hinzugewonnen hat. Will man die europäische Literatur und deren künftige Chancen verstehen, so kann dies nur gelingen, wenn man versucht, ihr spezifisches Verhältnis zu den Literaturen ohne festen Wohnsitz präziser zu beschreiben. Dies soll im Folgenden erneut in vier Schritten auf den vier unterschiedenen Niveaus unternommen werden, wobei es nicht um stabile Zwischenräume, sondern um mobile, oszillierende Bewegungs-Räume gehen wird.

3.1 José F.A. Oliver: zwischen Spanien und Deutschland Für José Francisco Agüera Oliver, der 1961 als Kind ein Jahr zuvor aus Andalusien eingewanderter Eltern im Schwarzwald geboren wurde, geht es nicht um die Entscheidung zwischen zwei, sondern zwischen vier Sprachen: »Alemannisch und Andalusisch, Schriftdeutsch und Spanisch.«66 Auch wenn damit ein komplexes Geflecht zwischen zwei regionalen und zwei nationalen Literatursprachen entsteht, wobei unter letzteren wiederum zwischen einer globalisierten und einer nichtglobalisierten zu unterscheiden wäre, so zeichnet sich doch bei diesem Schwarzwälder Dichter mit spanischem Pass derzeit eine zunehmende Bevorzugung des Deutschen ab – auch wenn sich Oliver nicht als poeta alemán, sondern als poeta en alemán verstanden wissen will.67 Die Entscheidung, überwiegend in jener Sprache zu schreiben, in der er – ganz im Sinne Max Aubs oder Hannah Arendts – Abitur machte, bedeutet keine Entscheidung gegen andere Literatursprachen, sondern vielmehr deren Integration in einen translingualen Verbund. So kann das Deutsche von einer doppelten Muttersprache, einem doppelten »Mutterland«68 aus gelebt und erlebt werden, ein Wissen um Sprache,

66 Trebbel, Renate: »›Ich schreibe in der Sprache, in der ich Brot kaufe.‹ BZInterview mit José F.A. Oliver«. In: Badische Zeitung (Freiburg, 07.11.2000). 67 Krauthausen, Ciro: »›Alemania es un poeta turco, griego o español.‹ Entrevista con José F.A. Oliver«. In: El País, Babelia 572 (09.11.2002), Madrid 2002, S. 8. 68 Ebd.: »Mich nähren zwei Sprachen, zwei Seinsweisen, zwei Lebensformen. Ich glaube, daß ich im Grunde zwei Mütter habe... Könnte man hier278

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das sich der Vielsprachigkeit in Europa bewusst ist und bedient. Diese sprachliche Vielbezogenheit, die sich auch in »conceptos en movimiento«69 äußert, schlägt sich in der mobilen Verortung und Verwortung seiner Lyrik nieder.70 Im fernlautmetz wird stets aus dem Wort ein sich verändernder Ort buchstäblich herausgemeißelt. Olivers Lyrik ist eine die Tiefen und Relationen des Wortmaterials auslotende und ausspielende Dichtkunst, die zugleich Klangkunst, lyra im etymologischen Sinne ist, vor allem aber immer wieder die (andere) Sprache unter der Sprache zum Vorschein und zu Gehör bringt. Anagrammatisch werden unter den Worten die Worte des Anderen, der anderen Sprache vernehmbar, überqueren und durchkreuzen die Grenze zwischen Eigenen und Anderen, wobei sie zugleich die immer anderen Orte – und damit eine heterotope Strukturierung – unter den Worten signalisieren. Es geht darum, »nicht zu übersetzen, aber hinein- / zusagen in die andersprache«71. Mit anderen Worten: Im Zentrum steht nicht die interlinguale, sondern die translinguale Ver-Tonung von Literatur. Im Wortfund wird der Wortfundus der anderen (dichterischen, nationalen) Sprachen erweitert und potenziert, so dass das Transnationale hier nicht mehr allein im Translationalen aufgehen kann. Die vektorielle Dimension dieser Lyrik ist evident. Ein Beispiel mag aufzeigen, wie sich in Olivers Lyrik eine europäische Literatur herausbildet, die sich aus Wechselwirkungen zwischen einer regionalen, einer nationalen und einer globalisierten europäischen Literatursprache entfaltet. Wie sehr die Benutzung des Deutschen die Nutzung anderer Sprachen und die Verdichtung eines komplexen translingualen Prozesses bereits beinhaltet, wird in den früheren Gedichtbänden Olivers und insbesondere im Schlussgedicht des dreisprachigen Gedichtbandes Duende deutlich:

für nicht Mutterländer (Matrias) sagen? Ja, Mutterländer, das Wort gefällt mir.« 69 Krauthausen, Ciro: ›Alemania es un poeta turco, griego o español.‹, S. 8. 70 Vgl. etwa das Auftaktgedicht in Oliver, José F.A.: fernlautmetz. Gedichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 9. 71 Ebd., S. 30. 279

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»So war ihm Sang der Ackerfurchen Duende aus der alten Meerin Sanft und leicht ins Du gesagt Zauber November Zypresse Así era para él aquel canto de los surcos Duende volviendo de la vieja mar Sabiendo suavemente darlo a un Tu Magia Noviembre Ciprés Eso warem s Lied us de Feldfuhre Duende us de alte Meerin Sacht un licht ins Du nigsait November Zypress im Zeiche.«72

Die hier nicht zu reproduzierende typographische (und grammatextuelle) Anordnung und Schriftgröße der drei Gedichte auf einander gegenüberliegenden, sich gleichsam reflektierenden73 Seiten suggeriert, dass die kleiner gesetzten spanischen und alemannischen Versionen in die schriftdeutsche Fassung eingeflossen sind, die zentriert auf der Höhe der beiden anderen Varianten auf der geraden Seite platziert ist. In der Tat sind bereits vielfältige translinguale Prozesse ins »Deutsche« eingegangen, wie sie am augenfälligsten in der Geschlechtsumwandlung des Meeres in »Meerin« hervortreten. Es ist aus dieser Perspektive durchaus aufschlussreich, dass Oliver neben der alemannischen Edition seines dreisprachigen Gedichtbandes auch eine mexikanische Fassung herausbrachte, deren Abweichungen hier freilich nicht detailliert untersucht werden können.74 José Olivers Schreiben lässt eine transkulturelle und heterotope, von vielen Orten und Kulturen herkommende und sprechende Lyrik entstehen, die nicht in einem territorialen, wohl aber in einem translingualen Sinne eine Literatur ohne festen Wohnsitz ist – und in 72 Oliver, José F.A.: Duende. Meine Ballade in drei Versionen. Die Ballade vom Duende. La balada del Duende. S Duendelied, Gutach 1997. 73 Das humorvolle Spiel wird im ersten Wort der alemannischen Variation erkennbar, könnte das Wort doch dem Spanischen entnommen sein; doch die – anders als im Kastilischen – oxytonische Betonung auf der letzten Silbe verwandelt es urplötzlich in ein alemannisches Lexem, dem die Funktion eines Scharniers zwischen kastilischer und alemannischer Fassung zukommt. 74 Oliver, José F.A.: La Balada del Duende. Die Ballade vom Duende. Prólogo Elisabeth Siefer. Traducción José F.A. Oliver. Revisión Ricardo Bada. Ediciones El Tucán de Virginia, México 1998, S. 105 ff. (das dreisprachige Duende-Lied). 280

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ihren dreifachen Bezügen zu Paul Celan, Johann Peter Hebel und Federico García Lorca eine zutiefst europäische obendrein.

3.2 Emine Sevgi Özdamar: zwischen der Türkei und Deutschland Es wäre möglich, bezüglich der binneneuropäischen Transversalbeziehungen die Relationen zwischen Literaturen von Staaten, die der Europäischen Union angehören, von jenen zu unterscheiden, die sich zwischen der Literatur eines EU-Landes und der Literatur eines europäischen Nicht-EU-Landes ergeben. Dass bei einer derartigen Unterscheidung keineswegs nur ein politisches Kriterium einem literarischen übergestülpt werden muss, könnte eine Analyse etwa von Wladimir Kaminers Russendisko zeigen, wo translinguale und transkulturelle Phänomene auf höchst unterhaltende und hintersinnige Weise miteinander verschränkt sind. Doch soll an dieser Stelle eher einer Systematik gefolgt werden, welche auf einem zweiten Niveau vermeintlich nicht-europäische »Ränder« Europas ins Zentrum rückt. Das Gesamtwerk der 1946 im türkischen Malatya geborenen Emine Sevgi Özdamar verkörpert wie kaum ein anderes die literarische, zugleich translinguale und transkulturelle Arbeit an den scheinbar so klaren Grenzen Europas. Bereits der Titel ihres auf deutsch 1990 zunächst im Rotbuch Verlag erschienenen ersten Bandes war Programm: Mutterzunge. Nicht weniger programmatisch und provokativ war das incipit des titelgebenden75 Erzähltextes, der einen Zyklus von vier kotextuell wie intratextuell aufs Engste miteinander verzahnten Prosastücken eröffnet: »In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin.«76

In diesem brillanten Auftakt stoßen wir auf eine Vielzahl von Elementen, welche diese Erzählung, aber auch das gesamte Schaffen dieser vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin, die verdientermaßen in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde, prägen. Bereits der erste Satz stellt eine Übersetzung und eine Übersetzungssituation dar, wobei das Possessivpronomen suggeriert, es gehe um ein schlichtes Übersetzen vom Eigenen ins Fremde, die Sprache der Zuhörer oder Leser. Doch die Übersetzerin aus dem Eigenen ins 75 Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge, Berlin 1990; ich zitiere nach dies.: Mutterzunge, Köln 1998. 76 Ebd., S. 9. 281

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Fremde hat sich das Fremde zueigen gemacht und die Sprache der Fremde angeeignet. Denn schon der zweite Satz führt eine nicht mehr nur interlinguale, sondern translinguale Situation vor, die im Drehen der Zunge und der Sprache geradezu körperlich vorgeführt, verkörpert und literarisch in Szene gesetzt wird. Dies impliziert eine nicht mehr nur multikulturelle oder interkulturelle, sondern unverkennbar transkulturelle Kommunikationssituation: Es geht nicht um ein weitgehend berührungsloses Nebeneinanderherleben oder einen Dialog von festgefügten kulturellen Standpunkten aus, sondern um eine komplexe Querung verschiedener Kulturen und damit um weit mehr als die Übersetzung des türkischen Wortes anadili in die deutsche Entsprechung »Muttersprache«. Das Deutsche wird transformiert, wird wortwörtlich um das Lexem »Mutterzunge« erweitert, eine Erweiterung, die selbstverständlich auch die Semantik von »Muttersprache« affiziert. Ein Prozess der Einverleibung des Fremdworts, das im Eigenen sein Fremdes behalten soll, wird in Gang gesetzt – und mit ihm ein lustvolles Spiel mit der Mutterzunge, mit der Muttersprache, die in immer neuen Drehungen und Wendungen erscheint. Dabei wird überdies in der zweiten, unmittelbar anschließenden Erzählung »Großvater Zunge« der Körper des Großvaters präsent: Unter den türkischen Worten der Mutter wird das Arabische des Großvaters sichtbar und hörbar, das durch die Sprachreformen Kemal Atatürks aus dem Sprach- und Schriftkörper des Türkischen möglichst weitgehend verbannt und ausgemerzt werden sollte. Wie im Deutschen sich anagrammatisch das Türkische durchpaust, so lugt unter dem Türkischen das Arabische hervor. Ein Zungenkuss der Sprachen: Une langue peut en cacher une autre. Kein Zweifel: Die entstandene Sprache der Ich-Erzählerin ist als Ergebnis eines vielschichtigen Migrationsprozesses mehr als die Addition ihrer einzelnen Bestandteile. Nicht multikulturelle Aneinanderreihung, sondern transkulturelle Durchdringung und damit die Mobilisierung zuvor voneinander abgegrenzter Räume ist das Ziel. Der sichtbarste Motor dieser Bewegung ist zweifellos die Migration. Emine Sevgi Özdamar, die sich von 1965 bis 1967 erstmals als Arbeiterin in einer Elektrofabrik in Berlin verdingte und nach dem Rechtsputsch von 1971 die Türkei erneut verließ und unter anderem an Ost-Berliner, westdeutschen und französischen Theatern arbeitete,77 machte das Deutsche zu ihrer Literatursprache, um es gleichsam aus der Fassung zu bringen und alle Grenzen – auch jene Europas – in Bewegung zu setzen.

77 Zu Leben und Werk der Autorin vgl. Ackermann, Irmgard: »Emine Sevgi Özdamar«. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. v. Heinz Ludwig Arnolds, (62. Nachlieferung), München 1999. 282

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Gewiss ist diese Thematik schon für Özdamars Romanerstling Das Leben ist eine Karawanserei78, der ihren literarischen Ruhm begründete, grundlegend. Bereits in diesem Roman endet Europa keineswegs am Bosporus, sondern erweist sich als ein Europa in Bewegung und als Bewegung.79 Vielleicht noch stärker aber zeigt sich diese transkulturell gespeiste grenzüberschreitende Vektorisierung, die alle in Szene gesetzten (Teil-) Geschichten erfasst, im zweiten Roman jener Trilogie, die 2006 unter dem Titel Sonne auf halbem Weg in einem umfangreichen Band publiziert wurde.80 So heißt es in Die Brücke vom Goldenen Horn: »Tagsüber ging ich zur europäischen Seite zur Schauspielschule, dann zur Cinemathek, dann zum Restaurant ›Kapitän‹, und dann kam ich zurück zur asiatischen Seite von Istanbul zu meinem Elternhaus wie in ein Hotel. Ich schlief in Asien und fuhr, wenn der Vogel Memisch am Morgen anfing zu singen, wieder nach Europa.«81

Das alltägliche Überschreiten der Grenze zwischen Europa und Asien in einer zwanzigminütigen Schifffahrt, einem buchstäblichen Über-Setzen, lässt eine Choreographie entstehen, die wie mit einem Weberschiffchen zwei scheinbar klar voneinander getrennte Kontinente immer wieder neu zusammenführt und zusammenfügt. Das ständige Oszillieren zwischen einer wechselseitig perspektivierten Innerhalb- und Außerhalbbefindlichkeit führt ein unabschließbares Übersetzen vor, das sich in keinem fixierbaren »Dazwischen« etabliert. Vielmehr wird der Zwischen-Raum zwischen den Kontinenten und Stadtteilen zu einem Bewegungs-Raum, der von einem unablässigen raumzeitlichen Hin und Her erfüllt wird, das die Funktionsweise des ZwischenWeltenSchreibens anschaulich und eindrucksvoll in eine (Stadt-) Landschaft der Theorie übersetzt. Wenige Jahre später wird dieses Bewegungs- und Schreibmodell auf das Berlin Mitte der siebziger Jahre übertragen. Die geteilte, noch immer in unterschiedliche Sektoren zerfallende Stadt ist in Seltsame Sterne starren zur Erde gleichfalls in zwei Teile gespalten, die sich wie Asien und Europa als Ostblock und Westblock, als zwei unterschiedliche, auf den ersten Blick unversöhnlich durch feindliche Systeme und Schussanlagen voneinander getrennte Staaten gegenüberstehen. An die Stelle der 78 Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Köln 1992. 79 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen, S. 241. 80 Özdamar, Emine Sevgi: Sonne auf halbem Weg. Die Istanbul-BerlinTrilogie, Köln 2006. 81 Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn, Köln 1998, S. 221. 283

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Meerenge des Bosporus ist die Berliner Mauer getreten, an jene der Schiffe die Berliner S-Bahn, welche die junge Türkin mit Touristenvisum und ohne festen Wohnsitz in ebenfalls zwanzigminütiger Fahrt von der einen (mit unzähligen Graffiti beschrifteten) Seite der Mauer auf die andere bringt: ein ständiges Hin und Her. In den vektoriell gespeicherten Bewegungen erscheint in der »Istanbul-Berlin-Trilogie« unter der einen die andere Stadt, unter der einen die andere zu querende Parallel- und Gegen-Welt. Dieses In-Ein-Ander-Schreiben der beiden Städte und ihrer jeweiligen Zweiteilung, die durch die Reisebewegungen der Protagonistin immer wieder neu miteinander verflochten werden, lässt sich nicht nur als ein reziprokes transkulturelles Fremd-Schreiben verstehen, innerhalb dessen die eine Stadt nicht ohne die andere und die eine Stadthälfte nicht ohne die jeweils andere bestehen kann. Unter den lokalen Bewegungen scheinen nicht nur translokale, sondern (im Falle Istanbuls) transkontinentale und (im Falle Berlins) transareale Bewegungsmuster auf, die sich auf literarischer Ebene als Formen translokaler Fortschreibung der deutschsprachigen Literatur begreifen lassen. Özdamars ZwischenWeltenSchreiben, das sich mittlerweile neben einem Schreiben in deutscher auch einem Schreiben in türkischer Sprache zuwendet, entfaltet damit ästhetisch höchst wirksame Verfahren, welche die deutsche – und damit auch die europäische – Literatur keineswegs entgrenzen, wohl aber im Bewegungs-Raum von National- und Weltliteratur fortschreiben. Die »Istanbul-Berlin-Trilogie« markiert keine Einbahnstraße der Migration, sondern ein ständiges Oszillieren zwischen einer Innerhalb- und Außerhalbbefindlichkeit, das sich als ZwischenWeltenSchreiben weder aufs Nationale reduzieren lässt noch sich ins Weltliterarische verflüchtigt.

3.3 Sherko Fatah: zwischen Türkei, Iran, Irak und Deutschland Anders als Emine Sevgi Özdamar ist der 1964 im damaligen Ost-Berlin geborene Sherko Fatah wie José Oliver ein Kind der Migration. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines Vaters aus dem kurdischen Teil des Irak – oder dem irakischen Teil Kurdistans – wuchs zunächst in der Hauptstadt der DDR auf, bevor die Familie über Wien in die Bundesrepublik übersiedelte. Nicht nur während seiner (Ost-) Berliner Kindheit, die von längeren Aufenthalten in der väterlichen Heimat begleitet war, sondern auch während seines Studiums der Philosophie und Kunstgeschichte im damaligen West-Berlin blieb Fatah in Kontakt mit dem Irak. Sein Schreiben setzt dies im 2001 erschienenen Debütroman Im

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Grenzland82 als transareale Erweiterung der deutschsprachigen Literatur in Szene. Sherko Fatahs literarische Gradwanderung besteht darin, sich nicht selbst in der Fremdheit, gleichsam »im wilden Kurdistan«, lokalisieren und folklorisieren zu lassen, und zugleich im Text – und damit letztlich im Leser – eine Fremdheit zu erzeugen, die keine im eigentlichen Sinne zu verortende, sondern eine universale ist. Im Grenzland führt uns daher nicht nur in das von Krieg und Gewalt verminte kurdische Dreieck zwischen der Türkei, dem Irak und dem Iran, sondern in verminte, in Grenzsituationen führende und Grenzen verletzende Zonen der conditio humana. Wenn die Erzählerfigur Sherko Fatahs mit guten Gründen jeglicher Idealisierung, Romantisierung und Folklorisierung des Grenzverletzers und Schmugglers, der ständig die tödlichen Minenfelder quert, Grenzen setzt, so beinhaltet dies selbstreferentiell eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber der Figur des Schriftstellers selbst, der nicht anders als Schmuggler des Lebenswissens der Literatur verminte Zonen, unter deren Oberfläche Sprengstoff lagert, zu queren hat. Das »ein paar Tausend Kilometer«83 entfernte Niemandsland, das der Neffe des Schmugglers – offenkundig von Europa aus – per Flugzeug und Sammeltaxi erreicht, wird zum Bewegungs-Raum einer Geschichte, in welcher die Darstellung der Außenwelt, der gebirgigen Landschaft des nördlichen Irak, ebenso eine Darstellung der Innenwelt wie eine Reflexion über die Möglichkeiten des Erzählens innerhalb diskontinuierlich gewordener Raum-ZeitBeziehungen ist. Vieles in diesem eindringlich, ganz körpernah erzählten Roman ist weniger eine Frage des Ankommens als vielmehr eine des Durchkommens. Das Niemandsland ist ein Transitraum, in welchem andere Wege, andere Regeln gelten, die aber urplötzlich ubiquitär werden können: »Im Grunde führte dieser Pfad nicht nur durch das Grenzland. Er war überall, wohin er auch ging.«84 Es geht um kein Ziel, es geht um keine Ankunft: Im Zentrum steht ein Niemandsland als Durchgangsland, das erst durch die Bewegungen, die es queren, als Niemandsland Gestalt an- und (seinen) Raum einnimmt. Die extreme Langsamkeit des Vorwärtskommens auf einem Pfad, den der Mann – schwer beladen mit Schmuggelware – wieder zurückkriechen muss, kontrastiert mit der Schnelligkeit, mit der die Soldaten im Helikopter über das Grenzland hinwegfliegen. Für sie existiert dieser Raum nur schematisch, als ein kartographisch vorhandener und abstrakt 82 Fatah, Sherko: Im Grenzland, Berlin 2003. 83 Ebd., S. 11. 84 Ebd., S. 100. 285

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zu kontrollierender, nicht aber als erfahrbarer und erfahrener Raum. Für den Schmuggler jedoch würde jedes Abweichen vom engen Pfad, der durch vermintes Gelände führt, das Ende in einer jener Detonationen bedeuten, denen so viele andere, die sich im Grenzland bewegen, bereits zum Opfer gefallen sind. Nicht anders sind die Geschichten, die der Schmuggler erzählt und bei denen er stets darauf achten muss, keine diskursiven Tretminen zu berühren. So bemerkt seine Schwester, mit der ihn inzestuöse Phantasien verbinden, die Besonderheit seines Erzählens: »Sein Reden löste sich von ihm, es entrollte sich wie ein schwerer Ballen zu einer langen, langen Stoffbahn. Sie lauschte ihm regungslos und mit beinahe träumerischem Blick, als wäre er einer der Geschichtenerzähler auf den Märkten.«85

Das stoffliche Textgewebe wie die Mündlichkeit erzählter, da überlebter Geschichten weisen auf einen anderen, mit Sprache gestalteten Pfad des Schmugglers: den Pfad einer Stoffbahn, eines Textes, der sich quer durch ein Grenzland der Literatur schlängelt, dieses Grenzland in sich aufnimmt und Informationen aus dieser verbotenen Zone schleust. Es sind Inspektionen und Introspektionen zugleich. Denn der Schmuggler weiß: »Diese Lücken, diese Schlupfgänge zu finden und zu nutzen, das war sein Geschäft und inzwischen wohl auch seine Leidenschaft.«86 Der Schmuggler schmuggelt nicht nur Alkoholika oder Computer: Aus einem Reich der Toten, deren Spuren er ständig kreuzt, schmuggelt er Geschichten, die – wie aus einer anderen Welt kommend, aber dieser nicht ausschließlich angehörend – vom Überleben künden und am Leben halten. Deutschsprachige Geschichten sind es, aus einem Orient jenseits der Orientalisierung und der Exotisierung, der Transformation des Anderen in ein leicht konsumierbares Gut. Zugleich sind diese Geschichten – wie die Geschichte vom Schmuggler selbst – Geschichten eines Nicht-Sesshaften, der gleichwohl auch kein wirklicher Nomade ist: eher ein Pendler im Grenzland. Nicht umsonst verachtet der Schmuggler »den Glauben daran, Land besitzen zu können«87; denn nach »seiner Meinung konnte man es einzäunen, verminen oder bepflanzen, aber nicht besitzen«88. Dies impliziert die Verachtung des Nomaden gegenüber dem Sesshaften, die Geringschätzung all dessen, was allein den Raum, nicht aber die Bewegung wahrnehmen, 85 86 87 88

Ebd., S. 148 f. Ebd., S. 152 f. Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. 286

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wahrhaben will. Sein Besitz, sein »Eigentum« aber ist der Pfad: »Er existierte in seinem Kopf und nirgends sonst.«89 Auch Im Grenzland sind unter den Bewegungen andere Bewegungen, unter den Worten andere Worte und Orte gespeichert, die jederzeit hochgehen, detonieren können. Sherko Fatahs Romandebüt führt eindrucksvoll vor, wie eine Literatur ohne festen Wohnsitz ständige Querungen, ständige Grenzverletzungen begehen muss, um auf der Ebene einer transarealen Vielbezogenheit nicht nur die diegetischen, sondern auch die ästhetischen Parameter der europäischen Literatur zu verändern.

3.4 Yoko Tawada: zwischen Japan und Deutschland Auf einem vierten, die europäische Literatur mit Literaturen ohne festen Wohnsitz verbindenden Niveau, dessen Bezugspunkte in großer räumlicher (und zum Teil auch kultureller) Entfernung liegen, siedelt sich das Schaffen der 1960 in Tokio geborenen und 1979 mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Deutschland gekommenen Yoko Tawada an. In ihrem Text »Die Ohrenzeugin«, der 2002 in ihrem Band Überseezungen erschien, hat die zugleich in Japan publizierende und mit zahlreichen japanischen Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin90 jene Haltungen skizziert, mit Hilfe derer eine Sprache wie das Deutsche vor dem Zugriff »der Anderen«, der Nicht-Muttersprachler, »geschützt« werden soll: »In Deutschland würden die meisten Menschen nicht behaupten, daß die deutsche Sprache von anderen nicht geschrieben werden darf. Aber indirekt geben sie einem immer wieder zu verstehen, daß die Sprache ein Besitztum sein muß. Sie sagen zum Beispiel, daß man eine Fremdsprache nie so gut beherrschen könne wie die Muttersprache. Man bemerkt sofort, daß das Wichtigste für sie die Beherrschung ist. Meiner Meinung nach ist es überflüssig, eine Sprache zu beherrschen. Entweder hat man eine Beziehung zu ihr oder man hat keine. Andere sagen, nur in der Muttersprache könne man authentisch seine Gefühle ausdrücken, in einer Fremdsprache lüge man unwillkürlich. Sie fühlen sich bei ihrer Suche nach dem authentischen Gefühl gestört, wenn sie ihre Sprache auf fremden Zungen sehen.«91

89 Ebd., S. 186. 90 Zu ihrem Gesamtwerk vgl. Kloepfer, Albrecht/Matsunaga, Miho: »Yoko Tawada«. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, (64. Nachlieferung), München 2000. 91 Tawada, Yoko: »Die Ohrenzeugin«. In dies.: Überseezungen, Tübingen 2002, S. 109 f. 287

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Hier werden Ausschlussmechanismen aufgezeigt, die – laut Erzählerstimme – ebenso für Deutschland wie für Japan gelten und das Faktum eines sprachlichen »Mundraubs«, die kreative Aneignung einer Sprache durch fremde, die Fremdsprache im Sinne Özdamars gleichsam »drehende« Zungen, betreffen. Die Authentizität einer gleichsam mit der Muttermilch eingesogenen Muttersprache fungiert zugleich im Sinne einer Autorisierung von Autorschaft – oder im gegenteiligen Falle als Verweigerung des Zugangsrechts zu Autorschaft und »echtem (Sprach-) Gefühl« – durch die selbstverständlich »natürliche« Sprachgemeinschaft. Einem solchen Denken zufolge steht die Nationalliteratur nur den native speakers, den in eine (Literatur-) Sprache Hineingeborenen, offen. Ist auch das »Eigene« längst auf »fremde« Zungen gelangt, ja verlangt man etwa im neuen Ausländerrecht, dass die deutsche Sprache (für nicht wenige als Statthalterin einer »Leitkultur«) auf die Zungen der Fremden gelangen muss, so zielt die muttersprachliche Grenzziehung doch immer noch auf die Markierung des Fremden gerade dann, wenn das »Fremde« zum »Eigenen« werden will und »Ausländer« zu »deutschen Staatsbürgern« zu werden beanspruchen. Selbstverständlich wird hier die Frage nach der Herrschaft über die Sprache und damit nach gesellschaftlich legitimierter (oder eben nicht legitimierter) Autorschaft gestellt. In Rückgriff auf eine Bemerkung von Gertrude Stein betont die Ich-Erzählerin aber folgerichtig: »die Muttersprache macht die Person, die Person hingegen kann in einer Fremdsprache etwas machen.«92 Damit wird das Gesetz des Handelns, des Tuns und Veränderns auf jene ausgeweitet, die sich eine Sprache als Fremde zu eigen machen und sie auf schöpferische Weise weiterentwickeln und transformieren wollen. Ziel ist nicht mehr notwendig und vorrangig eine möglichst perfekte Annäherung an die Zielsprache, sondern im Sinne eines Mit-ihr-etwas-Machens deren Nutzung, ja bewusst angestrebte lexikalische, ortographische, semantische, morphologische oder syntaktische Transformation und Fortschreibung. Traditionelle nationalliterarische Kategorien verstellen bis heute die Einsicht, dass Literaturen weder in territorialer noch in sprachlicher Hinsicht per se an einen festen Wohnsitz gebunden sind. Im von ständigen (Reise-) Bewegungen und häufigen Geschwindigkeitswechseln geprägten Schreiben Tawadas gibt es keinen festen Bezugspunkt, sondern nur unabschließbare Choreographien zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen. Dieser mobile Bereich aber ist Tawadas Reich der Zeichen, ihr Reich der Literatur.

92 Ebd., S. 111. 288

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Auch die Literaturtheorie wird als kreativer Impuls für die Literatur freigesetzt. So überrascht es nicht, dass die promovierte poeta docta erklärt, an Deutschland gefielen ihr besonders die »Geisteswissenschaften an den deutschen Universitäten. Dort gibt es noch einen öffentlichen Raum, in dem man zweckfrei denken und diskutieren kann.«93 Entscheidend freilich ist die Produktivität eines dynamischen, mobilen ZwischenSprachWelten-Bereichs, den Tawadas Texte aufmerksam erkunden, ohne dass die Muttersprache als »natürlich« oder »eigen« und die Fremdsprache als »fremd« und »distant« angesehen und in Szene gesetzt würden. Yoko Tawadas Schreiben verbindet Theorie und Praxis eines Schreibens ohne festen Wohnsitz zwischen Japan und Deutschland – und schafft dabei einen radikal offenen Raum, in das sich das Ich der schreibenden wie das Ich der Lesenden im Reich der Zeichen zwischen den Sprachen immer wieder neu einzuschreiben vermögen. So heißt es vom »Ich« in der deutschen Sprache: »Ein Ich muß kein bestimmtes Geschlecht haben, kein Alter, keinen Status, keine Geschichte, keine Haltung, keinen Charakter. Jeder kann sich einfach ›ich‹ nennen. Dieses Wort besteht nur aus dem, was ich spreche, oder genauer gesagt aus der Tatsache, daß ich überhaupt spreche. Das Wort zeigt nur auf den Sprecher, ohne eine weitere Information über ihn hinzuzufügen. ›Ich‹ wurde zu meinem Lieblingswort. So leicht und leer wie dieses Wort wollte ich mich fühlen. [...] Im Japanischen gibt es auch das Wort ›bin‹, das klingt genau gleich und bedeutet ›eine Flasche‹. Wenn ich mit den beiden Wörtern ›ich bin‹ eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz, und die Flasche ist leer.«94

4 . F ü r e i n e tr an s ar e al e S i c h tw e i se europäischer Literatur Es wäre ein Leichtes, für die hier am Beispiel der deutschsprachigen Literatur entwickelte Unterscheidung zwischen vier Ebenen oder »Reichweiten« BeispielsautorInnen und -texte aus den unterschiedlichsten europäischen Literaturen zu benennen. Greifen wir etwa den französischsprachigen Bereich heraus, so ließen sich hier unschwer Autorinnen und Autoren wie Georges-Arthur Goldschmidt oder Jorge Semprún, Julien Green oder Jonathan Littell, Héctor Bianciotti, Amin Maalouf oder

93 Tawada, Yoko: »Fragebogen«. In: Deutschland, Frankfurt a.M. 1996, S. 54. 94 Tawada, Yoko: »Eine leere Flasche«. In: dies.: Überseezungen, Tübingen 2002, S. 57. 289

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Anna Moï nennen. Sie alle stehen mit ihren schöpferischen Schreibformen für jahrhundertelange Traditionen translingualen Schreibens ein, die sich freilich im Zeichen der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung deutlich intensiviert und inhaltlich wie räumlich erweitert haben. Wollen wir vor dem hier skizzierten Hintergrund nach Existenz und Spezifik einer europäischen Literatur und europäischer Literaturen fragen, so scheinen mir über das bereits Diskutierte und an Beispielen Vorgeführte hinaus vier abschließende Aspekte relevant zu sein. 1. Die europäische Literatur als transversales Ensemble unterschiedlichster globalisierter und nicht-globalisierter Literaturen ist Teil einer hochkomplexen Area, die im Bereich der Literatur insbesondere durch ihre transareale Relationalität charakterisiert wird.95 Dabei gilt es zu begreifen, dass es weniger um die Untersuchung monolingualer, innerhalb einer bestimmten Nationalliteratur angesiedelter Praktiken oder um multilinguale Strukturen als ein additives Nebeneinander unterschiedlicher Literatursprachen, die einen nur geringen Austausch untereinander pflegen, gehen kann, sondern dass interlinguale Übersetzungsformen, vor allem aber translinguale Schreibprozesse im Zentrum von Untersuchungen stehen müssen, die ein neues Verständnis der europäischen Literatur als vielfach hochrückgekoppelter transarealer Gemeinschaft entwickeln und vorantreiben wollen. Denn die europäische Literatur steht – gerade mit Blick auf die »Literaturen für Europa« – nicht nur für ein multilinguales und ein interlinguales, sondern vor allem auch für ein translinguales Schreiben, das wie in den vergangenen Jahrzehnten auch künftig weiter an Relevanz und Signifikanz gewinnen wird. 2. Die Geburtsstunde der nationalen Philologien im 19. Jahrhundert fällt insgesamt nicht nur mit der Konstituierung nationaler oder proto-nationaler Räume und den unterschiedlichsten Formen moderner Nationbildung, sondern im Bereich der Kultur auch mit dem Versuch zusammen, zuvor existierende Formen inter- und translingualen Schreibens – die vom lateinischen Mittelalter bis zur République des Lettres reichen – auszugrenzen und zum Verschwinden zu bringen. So wichtig translinguale Praktiken zuvor auch gewesen sein mochten: Auf der Ebene der Darstellung fielen sie weitgehend nationalliterarischen Bauplänen und Konstruktionen zum Opfer. Selbstverständlich lassen sich weder die Aufklärung noch die Romantik selbst als rein nationalliterarische Entwicklungen verstehen. Und auch der Naturalismus oder die historischen Avantgarden etwa lassen sich nur unzulänglich begreifen, wenn 95 Erste Ansätze zu einer derartigen Sichtweise finden sich in Lehnert, Gertrud: Schnellkurs Europäische Literatur, Köln 2006, S. 9. In diesem Band ist im Übrigen ebenso die Rede von der europäischen Literatur wie von den europäischen Literaturen. 290

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wir sie ausschließlich auf nationalliterarische oder auch nur europäische Größenordnungen reduzieren. Es handelt sich vielmehr um transareale Phänomene, die im Verlauf verschiedener Phasen beschleunigter Globalisierung unverkennbar intensiviert wurden und eine Vielzahl von Wechselwirkungen und Rückwirkungen nach Europa hervorgebracht haben, die sich in der aktuellen Beschleunigungsphase globalisierter Entwicklungen weiter verdichten und komplexifizieren. Lässt sich heute noch – um nur ein Beispiel herauszugreifen – eine Geschichte postmoderner Schreibformen ohne den Argentinier Jorge Luis Borges schreiben? Es wäre zugleich an der Zeit, das vielsprachige Literatur-Archipel Europas transareal von jenen Theoriebildungen her neu zu beleuchten, die etwa in der literarisch höchst produktiven Inselwelt und Insel-Welt der Karibik96 entwickelt wurden. 3. Die Literaturwissenschaften, die sich in ihrer disziplinären Struktur noch immer weitgehend an den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ausrichten, haben bislang jenseits additiver Strukturen keine wirkliche Theorie der europäischen Literatur entwickelt, ja noch nicht einmal deren Fehlen bemerkt. Noch immer basieren unsere Literaturtheorien – ganz im Sinne von Jorge Luis Borges, der diese Ausschnitthaftigkeit für ein Zeichen echten Europäertums zu halten schien – auf der Kenntnis einiger weniger europäischer Literaturen, deren grenzüberschreitende Dynamiken überdies oftmals ausgeblendet werden. Für die Ausarbeitung einer eigentlichen Theorie der europäischen Literatur benötigen wir eine Poetik der Bewegung auf einer die Area Europa wesentlich überschreitenden Grundlage an Kenntnissen. Die Philologien müssen sich daher künftig verstärkt translingual aufstellen. Dies bedeutet keineswegs, dass das Studium nationalliterarischer Entwicklungen entfallen könnte oder sollte. Denn so, wie transdisziplinäre Praktiken stets die Fortführung monodisziplinärer, multidisziplinärer wie interdisziplinärer Strukturen voraussetzen oder die TransArea Studies nicht auf die Fortführung von Area Studies verzichten können, so benötigen auch translinguale Forschungsperspektiven monolingual, multilingual und interlingual orientierte Untersuchungen und Forschungsstrukturen. Nationalliterarische Fragestellungen werden auch künftig höchst relevant, aber eben nicht mehr dominant sein. 4. Wollen wir in kritischer Fortführung von Ansätzen Erich Auerbachs verstehen, dank welcher Wechselwirkungen sich die Literaturen der Welt entwickeln, so werden wir Globalisierungsprozesse nicht länger 96 Vgl. Ette, Ottmar: »Islands, Borders and Vectors: The Fractal World of the Caribbean«. In: Caribbean Interfaces, hg. v. Lieven D'hulst/Jean-Marc Moura/Liesbeth De Bleeker/Nadia Lie, Amsterdam/New York 2007, S. 109-151. 291

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als Einbahnstraße, sondern in ihren komplexen und langfristigen Rückwirkungen auf Europa begreifen müssen. Es wird künftig weniger darum gehen, eine bestimmte Area – wie etwa Lateinamerika – innerhalb ihrer spezifischen territorialen Grenzen zu analysieren, als vielmehr innerhalb einer hemisphärischen Konzeption die europamerikanischen, afrikamerikanischen, arabamerikanischen oder asiamerikanischen Transversalbeziehungen aufzuzeigen.97 Analog hierzu ist die europäische Literatur aus dem Blickwinkel der TransArea Studies zu beleuchten, wobei den wechselseitigen Verschränkungen des Transnationalen und des Translationalen auch weiterhin eine hohe Bedeutung zukommen wird. Gerade die Literaturen ohne festen Wohnsitz, aber auch – im Sinne Jorge Semprúns – die Literaturen der europäischen Tragödie verdeutlichen, in welchem Maße bei der Frage nach der europäischen Literatur eine Beschränkung auf die nationale oder die europäische Ebene obsolet geworden ist. Die europäische Literatur – und die europäischen Literaturen – lassen sich – soviel dürfte deutlich geworden sein – nicht adäquat verstehen, wenn wir ihre globalen Kontexte ausblenden. Wenn Europa aber mehr sein soll als eine wirtschaftliche, politische oder monetäre Union, dann ist die kulturelle Gemeinschaft Europa nur über einen ihrer Kernbereiche, die Literatur – ohne die zentrale Nationbildungsprozesse und Identitätskonfigurationen in Europa gar nicht vorstellbar sind –, zu erschließen und zu begreifen. Denn vielleicht ist die Literatur so etwas wie die Seele Europas. Wichtig dabei ist: Die hier vorgestellten Überlegungen beinhalten nicht allein einen retrospektiven Blick auf die Geschichte und Geschichten der europäischen Literatur, sondern im Sinne von »Literaturen für Europa« auch und gerade eine prospektive, zukunftsgerichtete Vision eines Weltteils in ständiger Bewegung.

97 Vgl. hierzu Braig, Marianne/Ette, Ottmar/Ingenschay, Dieter/Maihold, Günther (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt a.M. 2005; Birle, Peter/Braig, Marianne/Ette, Ottmar/Ingenschay, Dieter (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas, Frankfurt a.M. 2006; Ette, Ottmar/Pannewick, Friederike (Hg.): ArabAmericas. Literary Entanglements of the American Hemisphere and the Arab World, Frankfurt a.M./Madrid 2006; Ette, Ottmar (Hg.): Caribbean(s) on the Move – Archipiélagos literarios del Caribe. A TransArea Symposium, Frankfurt a.M./New York 2008. Weitere Bände sind im Druck bzw. in Vorbereitung. 292

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Literatur Ackermann, Irmgard: »Emine Sevgi Özdamar«. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. v. Heinz Ludwig Arnolds, (62. Nachlieferung), München 1999. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 175-189. Albert, Mathias: Zur Politik der Weltgesellschaft. Identität und Recht im Kontext internationaler Vergesellschaftung, Weilerswist 2002. Aub, Max: »Diario de Djelfa«. In: ders.: Obras completas. Bd. 1, Obra poética completa. Dirección de la edición Joan Oleza Simó. Edición crítica, estudio introductorio y notas Arcadio López Casanova, Valencia 2001. Aub, Max: »Carta al Presidente Vicente Auriol«. In: ders.: Hablo como hombre. Edición, introducción y notas de Gonzalo Sobejano, Segorbe 2002, Fundación Max Aub. Aub, Max: Manuscrito Cuervo. Historia de Jacobo. Introducción, edición y notas de José Antonio Pérez Bowie con un Epílogo de José María Naharro-Calderón, Segorbe/Alcalá de Henares 1999, Fundación Max Aub. Auerbach, Erich: »Philologie der Weltliteratur«. In: Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich, Bern 1952, S. 39-50; wieder abgedruckt in Auerbach, Erich: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, hg. v. Fritz Schalk und Gustav Konrad, Bern/München 1967, S. 301-310. Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«. In: ders.: Gesammelte Schriften., hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt a.M. 1980. Birle, Peter/Braig, Marianne/Ette, Ottmar/Ingenschay, Dieter (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas, Frankfurt a.M. 2006. Borges, Jorge Luis: »El escritor argentino y la tradición«. In: ders.: Discusión, Madrid 1986. [Deutsche Übersetzung: Borges, Jorge Luis: »Der argentinische Schriftsteller und die Tradition«. In: ders.: Gesammelte Werke, Band 5/1 (=Essays), München/Wien 1981, S. 141152.] Braig, Marianne/Ette, Ottmar/Ingenschay, Dieter/Maihold, Günther (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt a.M. 2005.

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EUROPÄISCHE LITERATUR(EN) IM GLOBALEN KONTEXT

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Ö D E L A N D S C H AF T E N

NOMADEN IN DER EIGENEN SPRACHE. B E M E R K U N G E N ZU F R A N Z K A F K A , F E R I D U N ZAIMOĞLU UND DER WELTLITERATUR ALS »LITTÉRATURE MINEURE« UND DIE

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»…le problème n'est pas celui de la liberté, mais celui d'une issue«1 »Quite a long time ago, at a meeting of the French Institute in Madrid, I surprised the audience by coming out with the idea that the future of French literature lay with writers from the Maghreb and Carribean, English Literature with Pakistani and Hindu writers and German literature with Turks. My boutade was greeted with laughter. […] Now the joke is for real.«2

So formulierte der spanische Autor Juan Goytisolo in einer Rezension von Emine Sevgi Özdamars Roman »Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus.« Bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts geht Goytisolo also davon aus, dass die neue deutsche Literatur, die neue französische Literatur und die neue englische Literatur auf eine andere Art »neu« sind, als die neue Literatur der 1950er, der 1960er oder auch der 1920er Jahre es war. Das hat nicht nur mit anderen Themen, mit einer veränderten Ästhetik oder mit anderen Namen zu tun. Die Veränderungen, um die es sich dabei handelt, sind tiefgreifender und umfassender, als es andere Modernisierungsschübe waren. Ganz offensichtlich hat das damit zu tun, dass 1

2

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka – Pour une littérature mineure, Paris 1975. (Deutsche Ausgabe: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt 1976.) Goytisolo, Juan: »Rezension von Emine Sevgi Özdamar, Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus, Köln 1992«. In: Times Literay Supplement (02.12.1994), S. 12. 297

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die nationalstaatliche Einteilung von Literatur nicht mehr überzeugt. Die Vorstellung, dass Literatur und Kultur auf eine ethnische und sprachlich homogene, territorial geschlossene Einheit bezogen sind, ist nicht mehr aktuell. Es ergeben sich daraus verschiedene Fragen. Zunächst ist diese neue Literatur eine »Provokation« der Literaturgeschichte,3 denn die traditionellen nationalen Zuordnungen von Texten zu ihren historischen Kontexten funktionieren nicht mehr. Statt dessen von einer »europäischen Literatur« zu sprechen, wird das Problem nicht lösen, denn weder die deutsch-türkische noch die franko-arabische Literatur ist eine genuin »europäische«; schon gar nicht, wie wir es im Sinne eines »europäischen Realismus« oder etwa einer »europäischen« Literatur der Aufklärung verstehen. Aber auch der in diesem Bereich gerne verwendete Begriff der »Weltliteratur« ist letztlich nicht geeignet, das Phänomen präzise zu bezeichnen; zumal gerade im Deutschen sich damit eine Reihe von wenig passenden Assoziationen verbindet: Goethes Begriff der »Weltliteratur« meint nicht die durch Migration sich auflösende Einheit von Territorium und Kultur, sondern setzt vielmehr auf eine Vorstellung von Dialog und Austausch, die eine Verortung in bestimmten Grenzen und nationalen Einheiten geradezu voraussetzt:4 »Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet. In jedem Besondern, es sei nun historisch, mythologisch, fabelhaft, mehr oder weniger willkürlich ersonnen, wird man durch Nationalität und Persönlichkeit hindurch jenes Allgemeine immer mehr durchleuchten und durchschimmern sehen. […] Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen läßt, bei der Überzeugung jedoch festhält, dass das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, dass es der ganzen Menschheit angehört.«5

3 4

5

Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967. Vgl. dazu Koch, Manfred: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff ›Weltliteratur‹, Tübingen 2002; Birus, Hendrik: »Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung«. In: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hg. v. Manfred Schmeling, Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 1, Würzburg 1995, S. 5-28. Goethe, Johann Wolfgang von: Frankfurter Ausgabe, hg. v. Friedmar Apel/Hendrik Birus et al., Abt. 2, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1986-1999, S. 497. 298

ÖDE LANDSCHAFTEN UND DIE NOMADEN IN DER EIGENEN SPRACHE

Weltliteratur bezeichnet hier einen Kanon von Werken, die kulturelle Differenzen bestehen lassen können; und zwar gerade weil diese keine tiefere Bedeutung besitzen: Die »allgemein menschlichen« Themen sind überall dieselben. Die Homogenität des allgemein Menschlichen überschreibt die kulturellen Differenzen auf eine Weise, die die Unterschiede der Sprachen, der Formen, der Motive und Gestalten am Ende nur als Varianten oder Variationen der immer gleichen Strukturen ausweist. In einem ähnlichen Sinne taucht der Begriff »Weltliteratur« bei Marx und Engels auf: »An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«6

Weltliteratur ist für Marx also globalisierte Literatur, die kulturelle Traditionen aufhebt und Unterschiede nivelliert. Auch Marx und Engels gehen von einer Homogenisierung durch Globalisierung aus. Ökonomie und Literatur unterscheiden sich dabei in der Funktion der Homogenisierung wenig. Für Marx, Engels und für Goethe ist die Literatur der Moderne »Weltliteratur«, oder anders formuliert »Weltliteratur« ist genuin »modern«, weil sie dem »allseitigen Verkehr«, der die Moderne charakterisiert, Rechnung trägt. In diesem Sinne schafft Weltliteratur in erster Linie eine gemeinsame Welt der Lektüre, Kritik und der Zirkulation von Texten. Zu dieser »modernen« Weltliteratur können auch Werke zählen, die vor der literarischen »Globalisierung« entstanden sind, aber die nationalen Grenzen überwindend in diesen Prozess einfließen. Dies gilt z. B. für viele Werke der europäischen Antike. Auch aktuelle Definitionen lehnen sich an diese im 19. Jahrhundert geprägten Vorstellungen von Weltliteratur an; so formuliert David Damrosch:

6

Marx, Karl/Engels, Friedrich: »Das kommunistische Manifest«. In: dies.: Werke, Bd. 4, (unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1959, Berlin/ DDR), Berlin (6. Auflage) 1972, S. 459-493, S. 466. 299

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»I take world literature to encompass all literary works that circulate beyond their culture of origin, either in translation or in their original language (Virgil was long read in Latin in Europe). In its most expansive sense, world literature could include any work that has ever reached beyond its home base […] It is important from the outset to realize that just as there never has been a single set canon of world literature, so too no single way of reading can be appropriate to all texts, or even to any one text at all times. The variability of a work of world literature is one of its constitutive features--one of its greatest strengths when the work is well presented and read well, and its greatest vulnerability when it is mishandled or misappropriated by its newfound foreign friends.«7

Angesichts dieser sehr allgemeinen Feststellungen, die mehr die ökonomische Zirkulation und globale Rezeption von Texten betreffen, ist zu überlegen, ob damit tatsächlich das, was uns heute an »neuen Literaturen« im Sinne von Goytisolo begegnet, angemessen und umfassend beschrieben ist. Zielt die zeitgenössische, nicht national gebundene, latent bzw. manifest vielsprachige Literatur8 der Migration und Diaspora tatsächlich auf Homogenisierung und gilt sie vornehmlich dem »allgemein Menschlichen«? Es scheint so, als sei das Konzept der Weltliteratur, wie das 19. Jahrhundert es uns überliefert, zumindest zu präzisieren, wenn nicht zu korrigieren. Man könnte folglich »Weltliteratur« und »World's Literature« unterscheiden und dabei die Heterogenität dieser »neuen Literaturen« betonen, statt ihre homogenisierende Funktion hervorzuheben. Denn meist geht es hier gerade nicht um das »allgemein Menschliche«, sondern vielmehr um die realen, alltäglichen, vielfältigen Unterschiede, die die Erfahrung eines »allgemein Menschlichen« nicht nur unwahrscheinlich machen, sondern seine Existenz überhaupt in Frage stellen.9 Literatur dient hier eher als Medium der Darstellung und Aushandlung von Kommunikationshindernissen und Missverständnissen im transkulturellen Dialog. Sie ist dabei gerade nicht das Resultat einer vollends globalisierten weltweiten Kommunikation, sondern markiert vielmehr die Brüche und die Übersetzungsfehler. Das Interesse an dem, was allen gemeinsam ist, scheint weniger groß zu sein als das Interesse an der Vielfalt und Heterogenität 7 8 9

Damrosch, David: What is World Literature?, Princeton 2003, S. 4 f. Zur Mehrsprachigkeit vgl. Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg 2007. Vgl. dazu das Konzept des literarischen Feldes und die Internationalisierung der Literatur in: Jurt, Joseph: »Das Konzept des literarischen Feldes und die Internationalisierung der Literatur«. In: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, hg. v. Horst Turk, Göttingen 1998, S. 84-104, bes. S. 103. 300

ÖDE LANDSCHAFTEN UND DIE NOMADEN IN DER EIGENEN SPRACHE

von Lebenswelten.10 Das Goethesche Modell könnte man als die klassizistische Auffassung von Weltliteratur bezeichnen; was wir heute beobachten ist ein eher »sentimentalisches«, das heißt ein historisches oder ethnologisches Schreiben.11 Offenbar scheint hier auch die Dichotomie von »fremd« und »eigen« gar nicht mehr vorrangig. Vielmehr haben wir es mit Formen der Heterogenität zu tun, die es nahe legen, nicht mit Dichotomien zu operieren, sondern etwas eher »ähnlich« oder eher

10 Das Stichwort lautet »defamiliarization by crosscultural juxtaposition«, was als Verdienst der Ethnographie gilt. Aus der writing culture-Debatte wird dabei folgerichtig eine »writing against culture« Debatte (vgl. AbuLughod, Lila: »Writing against Culture«. In: Recapturing Anthropology, hg. v. Richard Gabriel Fox, Santa Fe 1991; deutsche Ausgabe: AbuLughod, Lila: »Gegen Kultur Schreiben«. In: Wechselnde Blicke, hg. v. Ilse Lenz, Opladen 1996, S. 14-46), damit ist das Ziel eines radikal nichtessentialistischen Kulturverständnisses verbunden (vgl. Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 8 ff.). 11 »Ethnologie und Literatur« heißt der erste Sonderband der Zeitschrift KEA (1995), dort bemerkt der Ethnologe Thomas Hauschild in seinem ausführlichen Editorial: »Letztlich ist die beschriebene Entwicklung der Weltliteratur, aus meiner borniert-akademischen Perspektive heraus betrachtet, die Rache einer kleinen Wissenschaft an der großen Welt, denn die Problematik der Ethnologie, das Sprechen in der Rede des Fremden, ist nun zur Problematik der ganzen Welt geworden.« Hauschild, Thomas (Hg.): »Editorial«. In: Ethnologie und Literatur (KEA Sonderband 1), Bremen 1995, S. 1-10, hier S. 4. Er schließt mit der Hoffnung: »Gemeinsam können Ethnologie und Literaturwissenschaft zu dem beitragen, was Optimisten bisweilen schon die neue Kulturanthropologie oder Kulturwissenschaft nennen wollen […]« (Ebd., S. 6). Vier Jahre später erscheint ein weiteres KEA-Heft mit dem Titel »Der teilnehmende Leser. Erkundungen zwischen Ethnologie und Literatur«, siehe Bräunlein, Peter J./Lauser, Andrea (Hg.): KEA – Zeitschrift für Kulturwissenschaften: »›Der teilnehmende Leser‹ Erkundungen zwischen Literatur und Ethnologie«, Nr. 12 (1999). Die Herausgeber greifen direkt die Worte von Hauschild auf und können in dieser Debatte mittlerweile nicht nur auf den New Historicism verweisen – mit dem Greenblattschen Diktum von der »Poetik der Kultur« sind wir bei Lotman, denn daher stammt der Begriff ursprünglich –, sondern auch auf die writing culture-Debatte zurückgreifen; sie beziehen sich auf verschiedene Formen der Annäherung von Literaturwissenschaft und Ethnologie – von beiden Seiten. Bemerkenswert ist, dass der Begriff der »Weltliteratur« 1999 fehlt und durch den der »Migrationsliteratur« ersetzt wird, dass dieser aber – anders als der der »Weltliteratur« – nun viel stärker räumlich konnotiert ist. 301

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»unähnlich« zu finden und statt einer eindeutigen Differenz Abstufungen des Vertrauten zu markieren. Als »World's Literature« – in Abgrenzung zu »Weltliteratur« – in einem engeren Sinne könnte man also solche Texte bezeichnen, die gerade nicht der das 19. Jahrhundert offenbar faszinierenden Homogenisierungstendenz der nichtnational zirkulierenden Güter zuzurechnen sind, sondern vielmehr Texte, die die konkrete, reale, historische Heterogenität ausbreiten und thematisieren. Dabei wird deutlich, dass »Ähnliches« und »nicht Ähnliches« jeweils unabhängig von politischen Grenzen und territorialen Begrenzungen zu finden ist. Grenzziehung selbst wird fast unmöglich, Orientierung prekär. Ich möchte zwei Texte vorstellen, die beide zur modernen »World's Literature« gehören; und zwar nicht nur, weil sie weltweit zirkulieren, sondern weil sie als Bedingung dieser Zirkulationsmöglichkeit nicht das »allgemein Menschliche« postulieren, sondern dessen Verlust thematisieren. Die aporetische oder paradoxe Rolle, die Grenzen und Grenzziehung dabei spielen, zeigt, dass »World's Literature« immer auch auf die eigenen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen reflektiert. Dies kann als einziges inhaltliches bzw. strukturbildendes Merkmal genannt werden, das die formalen Bedingungen von weltweiter Zirkulation und Rezeption ergänzen müsste. Die beiden Texte trennt ein großer zeitlicher Abstand von fast 100 Jahren. Sie entstanden beide in vielsprachigen Kontexten, d.h. im Prag der frühen Moderne und im Kiel der Postmoderne. Die Orte des Geschehens sind historisch und geographisch nicht eindeutig zu fassen und wirken weniger fremd als verzerrt. In Kafkas »Beim Bau der chinesischen Mauer« (1917) wird Grenzziehung als Fiktion vorgestellt; Fiktion nicht im Sinne von »Illusion«, sondern im Sinne einer real erfahrbaren, politisch relevanten, historisch greifbaren Fiktion, die auf paradoxe Weise ihre eigenen Grenzen wieder aufheben muss, um existieren zu können.12 Bei Feridun Zaimoğlu, in seiner Erzählung »Häute« (2003), wird Verortung und Abgrenzung, die Vorstellung von »fremd« und »eigen« ebenfalls als Form einer aporetischer Heuristik vorgeführt.

12 Kafka und die »Weltliteratur« ist selbstverständlich ein viel bearbeitetes Thema, das allerdings meist in einem anderen Sinne abgehandelt wurde; einmal geht es um die Spuren der Weltliteratur bei Kafka (vgl. z. B. Nagel, Bert: Kafka und die Weltliteratur. Zusammenhänge und Wechselwirkungen, München 1983) oder auch Kafkas Wirkung auf die Weltliteratur, z. B. Engel, Manfred/Lamping, Dieter (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur, Göttingen 2006. 302

ÖDE LANDSCHAFTEN UND DIE NOMADEN IN DER EIGENEN SPRACHE

I. »Früher«, so wird ein russischer Emigrant in Stefan Zweigs autobiographischem Text »Die Welt von gestern« zitiert: »Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er auch noch einen Paß dazu […]«13. Zweig beschreibt hier eine neue Grenzerfahrung: Früher seien sie Linien gewesen, die man »ebenso sorglos überschritten (habe) wie den »Meridian in Greenwich«. Heute seien sie von »Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten« in einen »Drahtverhau verwandelt«. Allgemeine Vorstellungen von fremd und vertraut, fern und nah werden durch die Erfahrung von Territorialität ersetzt, genauer durch eine Territorialität, die als Differenz von Mobilität und Restriktion erfahren wird. Die Fremden sind jetzt per se, qua Status, Verbrecher: »Man mußte sich photographieren lassen von rechts von links, im Profil und en face, das Haar so kurz geschnitten, dass man das Ohr sehen konnte, man mußte Fingerabdrücke geben«.14 So beschreibt Zweig die Prozedur, die nötig war, um einen Paß zu bekommen. Der Übertritt von Grenzen verlangt dieselben Prozeduren wie die Identifikation von Verbrechern; oder anders ausgedrückt: Wer unterwegs ist, macht sich verdächtig. Die Angst vor Vermischung, vor schädlichen Elementen, vor der »Unterflutung« durch die Fremden formt einen Diskurs der rassischen und hygienischen Reinheit, der sich nicht nur auf Nationen innerhalb ihrer politischen Grenzen bezieht, sondern auch auf die jeweilige Kultur, auf die Sprache und die Literatur. Die Grenzen sollen einem Bollwerk gleichen, sie schließen ein und aus. Das 20. Jahrhundert ist nicht nur die Zeit der großen Kriege, sondern auch die der Flüchtlinge, der Grenzen und Pässe. Kafkas Text reflektiert auf vielfältige, parabolische Weise die politische Situation während des ersten Weltkriegs und die Folgen von Krieg und Vertreibung. China, das Reich im Osten, wird nicht nur von ihm als ein »Öster-Reich« verstanden.15

13 Vgl. Gerhard, Ute: »Neue Grenzen – andere Erzählungen? Migration und deutschsprachige Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 19-30, hier S. 21; Zweig, Stefan: Die Welt von gestern (1944), Frankfurt a.M. 1994, S. 469. 14 Ebd., S. 471. 15 Vgl. dazu Goebel, Rolf J.: »Constructing Chinese History: Kafka's and Dittmar's Orientalist Discourse«. In: PMLA 108/11 (1993), S. 59-71, vgl. besonders S. 65 f. zum Vergleich von China und dem Wilhelminischen Reich bzw. Österreich. Vgl. auch Goebel, Rolf J.: »Kafka and Postcolonial Critique: ›Der Verschollene‹, ›In der Strafkolonie‹, ›Beim Bau der 303

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»Die chinesische Mauer ist an ihrer nördlichsten Stelle beendet worden«,16 mit diesen Worten setzt der Text ein, um auf den folgenden Seiten nichts anderes zu tun, als genau dies zu widerlegen, das heißt die Vollendung der Mauer als ein vollkommen unmögliches Projekt vorzustellen17 und darüber hinaus den geregelten Bau von Mauern überhaupt, die Vorstellung von Reichen und Grenzen und Kaisern und Untertanen zu destruieren. Der Abschluss des Mauerbaus stellt sich als Illusion heraus, denn es stehen immer nur Bruchstücke, die nie einen Zusammenhang ergeben werden. Zumal die »Nordvölker«, die nomadisierenden Mongolen, die von der Mauer abgehalten werden sollen, schneller reagieren als die Bauarbeiter und Ingenieure. »Diese in öder Gegend verlassen stehenden Mauerteile können immer wieder leicht von den Nomaden zerstört werden, zumal diese damals, geängstigt durch den Mauerbau, mit unbegreiflicher Schnelligkeit wie Heuschrecken ihre Wohnsitze wechselten und deshalb vielleicht einen besseren Überblick über die Baufortschritte hatten als selbst wir, die Erbauer.« (338 f.) Die lückenhafte Mauer ist nicht nur zum Schutze ungeeignet, sondern »der Bau selbst ist in fortwährender Gefahr«, wie der Erzähler konstatiert. Die Grenze wird durch den Bau der Mauer zu einer sensiblen Zone, denn in diesen »öden« Gegenden tut sich erst etwas, seit dort Nomaden und Arbeiter aufeinander treffen. Anders formuliert, ist dieses Territorium erst mit dem unmöglichen Mauerbau überhaupt ein »Ort« geworden, der vermessen, kartographiert, umkämpft und belebt ist. »Öde« wie er vorher war, ist er »unbelebt«, »unbebaut«, im eigentlichen Sinne von »unkultiviert«.18 Kultivierung und Bebauung, d. h. die »Kultur« tritt auf als Differenzierung, als ein Akt, der Unterscheidungen trifft und Bedeutungen schafft. Jetzt wird unterschieden in »eigen« und »fremd«, chinesisch und »nicht-chinesisch«. Kultur, Grenze, Sprache und Kampf funktionieren nach den gleichen Prinzipien.

chinesischen Mauer‹«. In: Franz Kafka, hg. v. James Rolleston, Rochester 2002, S. 187-212. 16 Kafka, Franz: »Beim Bau der chinesischen Mauer«. In: ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente 1, hg. v. Malcolm Pasley, (Kritische Gesamtausgabe hg. von Jürgen Born et al.), Frankfurt 1993, S. 337-357, hier S. 337. Seitenangaben im Folgenden im Fließtext. 17 Vgl. dazu Oberlin, Gerhard: »Die Grenzen der Zivilisation. Franz Kafkas Erzählungen Beim Bau der chinesischen Mauer und Ein altes Blatt«. In: Orbis Litterarum 61/2 (2006), S. 114-132. 18 Vgl. Foucher, Michel: Fronts et Frontières, un tour du monde géopolitique, Paris 1988. Die Frage, ob Grenzen Räume sind, oder solche nur markieren, stellt Foucher in diesem Band. 304

ÖDE LANDSCHAFTEN UND DIE NOMADEN IN DER EIGENEN SPRACHE

Effekte zeigen sich entsprechend weniger, was den Schutz nach außen angeht, sondern an anderer Stelle, das heißt im Inneren: »Jeder Landmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was er hatte und war, ein Leben lang dafür dankte. Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.« (342) Ebenso wie der Nomade als Feind durch die Mauer überhaupt erst als solcher zu identifizieren ist, ist auch das zu schützende Volk bzw. dessen blutsbrüderliche Einheit, ein Effekt des Baus selbst. Die Volksgemeinschaft, die sich wie eine große Familie verwandt wähnt, ist eine imaginäre Gemeinschaft – imaginär wie der Feind und die vollendete Mauer auch. Kafka beschreibt hier die Entstehung einer »Gemeinschaft« im Sinne von Helmuth Plessner als einen totalitären und autoritären Akt. Anders als die politische Gesellschaft lebt sie von der Fiktion der Verwandtschaft, der Doktrin einer tiefen, familienähnlichen, ja »natürlichen« Zusammengehörigkeit. Für die Anhänger der Gemeinschaft ist sie der Abgrenzung – hier der Mauer – vorgängig, für die Leser des Textes zeigt sie sich eindeutig als der Effekt einer Konstruktion.19 Der Erzähler – einer der Ingenieure – fährt weiter fort und berichtet, dass auch der Herrscher selbst, das Zentrum, von dem die Einteilung in Freunde und Feinde auszugehen scheint, imaginär ist. Das Reich ist so groß, dass keiner weiß, wie der Kaiser heißt, ob er lebt, welche Dynastie regiert und wer das Sagen hat. Ebenso wenig wie alle Chinesen wirklich Brüder sind, sind die Nordvölker eine reale Bedrohung. Weder Zentrum noch Peripherie existieren – oder wenigstens nicht so, wie der imaginäre Befehlshaber es zu suggerieren scheint: Das Zentrum ist leer, die Grenze löchrig und die Peripherie auch gar nicht wirklich »draußen«. Der Akt, der Öde und kultiviertes Land trennen sollte, ist nicht nur im Fall des Mauerbaus gescheitert. Das Scheitern scheint vielmehr eine Art Programm der Erzählung zu werden. Was zu Beginn der Geschichte schon fertig sein sollte, stellt sich im Laufe der Erzählung als noch zu realisierendes Projekt heraus. Der Erzähler allerdings beteiligt sich weniger 19 Plessner, Helmuth: »Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Realismus (1924)«. In: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Guenter Dux et al., Bd. 5 (=Macht und menschliche Natur), Frankfurt a.M. 1981, S. 7-78. Das lässt sich natürlich auch ganz anders sehen: im Sinne einer Schaffung der jüdischen Gemeinschaft, wie das Günter Anders etwa tat. Vgl. dazu Greiner, Bernhard: »Hinübergehen in das Bild und Errichten der Grenze«. In: Zeichen lesen/Lese-Zeichen: kultursemiotische Vergleiche von Leseweisen in Deutschland und China, hg. v. Jürgen Wertheimer/Susanne Göße, Tübingen 1999, S. 175-201. 305

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an der Fertigstellung und Erreichung des Ziels, also am Mauerbau und seiner Konzeption, sondern er macht sich auf die Suche nach den Anfängen des Projektes: Er wird vom Ingenieur zum Historiker. Der Schluss, den der Erzähler anhand seinen Überlegungen – »meine Untersuchung ist doch nur eine historische« (346) – allerdings nur ahnt und nicht wirklich ziehen darf – »die Grenzen, die meine Denkfähigkeit mir setzt, sind ja eng genug, das Gebiet aber, das hier zu durchlaufen wäre, ist das Endlose« (ebd.) – grenzt ans Absurde. Eine wirkliche Führung und Planung des Bauprojektes gab es gar nie; wenn überhaupt je etwas vorgesehen war (347 f.), dann war es ein »Teilbau«, ein vollkommen unzweckmäßiges Bauwerk, das zudem noch ohne Anlass und Grund gebaut wurde. Ursache, Grund, Anlass und Zweck fehlen ebenso wie die Planung, die Verantwortlichen und der Kaiser. Das einzige, was das »Projekt« – das im eigentlichen Sinne also gar keines ist – charakterisiert, ist die Masse an Arbeit, an Menschen, an Material und an Unglück, die investiert wird. Jedenfalls führt die »historische« Erforschung der Gründe und Begründungen für diesen Bau ins Nichts. Es verunsichert den Erzähler zudem, dass die »Fundamente« dessen, was er für besonders chinesisch hält, sich bei näherem Hinsehen als diffus und eher fremd, jedenfalls gerade nicht als »historisch« gesichert, erweisen. So soll der Bau der chinesischen Mauer etwas mit dem Turm zu Babel zu tun haben: Wir haben hier nun plötzlich eine mythische statt einer politischen Begründung (343 f.). Die Historie, so gewinnt man den Eindruck, führt ins Bodenlose, in »Dunst und Nebel«, so wie alles Nachdenken ins Grenzen- und Uferlose zu driften scheint (346). Das Fundament, das Zentrum und der Ursprung der eigenen Geschichte und Kultur, ebenso wie der zunächst plausible und umsetzbare Zweck, ein plausibles Ziel, sind durch fremde Mythen, seltsame Geschichten, durch Fabeln und Gerüchte kontaminiert oder sogar ganz verschwunden und leer. Am Ende sind die Nordvölker nicht fremder als die Chinesen selbst. »Kafkas Erzählung inszeniert die Verschiebung von einer Kartographie des Nabels zu einer Kartographie der Außengrenze. Die Identität dessen, was da Heimat heißen soll, Nation und Staat, kann nicht mehr über die von einem Mittelpunkt radial sich ausdehnenden Kraftlinien konstruiert werden.«20 Das dynamische Verhältnis von Zentrum und Peripherie, Inklusion und Exklusion, Restriktion und Mobilität, Dynamik und Stabilität ist ein zentrales Theorem der Kultursemiotik von Jurij Lotman. Jurij Tynjanov, 20 Honold, Alexander: »Kafkas vergleichende Völkerkunde: ›Beim Bau der chinesischen Mauer‹«. In: (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Axel Dunker, Bielefeld 2005, S. 203-219, hier S. 215. 306

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so kann man bei Lotman nachlesen, hat ihn auf »den gesetzmäßigen Zusammenhang aufmerksam (gemacht), der im strukturellen Unterschied zwischen dem Kern eines Systems und seiner Peripherie besteht«.21 Es gäbe hier einen Mechanismus, »aufgrund dessen automatisierte Strukturen des Kerns periodisch durch solche ersetzt werden, die an der Peripherie liegen.«22 Lotman greift das auf und präzisiert: »Die Möglichkeiten, dass sich ein semiotisches System verändert, hängen von der Beziehung ab, die ein Kollektiv […] zu ihm hat. D.h., dass ein bestimmtes semiotisches System nicht als einzig mögliches, sondern als eine unter potentiell vorhandenen Varianten aufgefasst wird. Eine derartige Beziehung ist nur möglich, nachdem man eine bestimmte Sprache mit einer anderen verglichen hat.«23 Lotman spricht hier von einem inneren und einem äußeren »Polyglottismus«.24 Dieser Polyglottismus ist dafür verantwortlich, dass sich Systeme wandeln können und ermöglicht Entwicklung und Modernisierung; dies allerdings gerade nicht im Sinne einer Homogenisierung und Anpassung der Peripherien bzw. durch ein Auffinden des immer Gleichen, sondern durch die Verarbeitung und Transformation von Unterschieden. Bei Lotman dürfte seine an die Peripherie des Sowjetstaats (Estland) angesiedelte Position und bei Kafka durch das Leben in Prag Polyglottismus und polyglotte Kultur eine Alltagserfahrung gewesen sein: »Diese ganze Literatur ist Ansturm gegen die Grenze, und sie hätte sich, wenn nicht der Zionismus dazwischen gekommen wäre, leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala entwickeln können. Ansätze dazu 21 Lotman, Jurij M.: »Dynamische Mechanismen semiotischer Systeme«. In: ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. v. Karl Eimermacher, Kronberg 1974, S. 430-437, hier S. 430; ders.: »Über die Semiosphäre«. In: Zeitschrift für Semiotik 12/4 (1990), S. 287-305; ders.: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture, London 1990. 22 Lotman, Jurij M.: Dynamische Mechanismen semiotischer Systeme, S. 430. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 431. Diese Modellvorstellung einer dynamischen Kulturentwicklung, die sich eher an der Peripherie abspielt als im Zentrum, begegnet uns heute nicht mehr im Kontext semiotischer oder strukturaler Debatten, vielmehr hat sie Eingang gefunden in die Theoriebildung der Kulturwissenschaften oder der cultural studies, dort allerdings unter einem anderen Label. Diese Fragen werden heute dort diskutiert, wo von der Relation von Literaturwissenschaft und Ethnologie die Rede ist, oder anders formuliert, wo es darum geht, den Anteil ethnologischer Methoden und Schreibweisen an der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung zu verorten. Genau an dieser Stelle, so stellen wir nicht ohne gewisse Überraschung fest, treffen wir auch wieder auf die »Weltliteratur«. (Vgl. Fn. 9). 307

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bestehen.«25 So charakterisiert Kafka die Entwicklung deutscher Literatur in Prag. Deuleuze und Guattari haben sie als »littérature mineure« bezeichnet.26 »Wie wird man in der eigenen Sprache Nomade, Fremder27, Zigeuner?«28, fragen sie in ihrem Text über Kafka und gehen davon aus, dass es die »polyglotte« Welt Prags gewesen ist, die für Kafka im Alltäglichen immer auch das Unvertraute erscheinen lässt. Es geht dabei nicht um die Erfahrung einer Differenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen, sondern vielmehr um den irritierenden Befund, dass sich Fremdes und Eigenes nicht ohne Weiteres separieren lässt; jedenfalls nicht im Hinblick auf eine historische Genese aus verschiedenen Ursprüngen. Die Trennung ist nicht eine ursprüngliche, sondern eine nachträgliche – wie die Mauer zwischen den Chinesen und den Nordvölkern. Der Erzähler im »Bau der chinesischen Mauer«, eigentlich mit dem Prozess der handwerklich-architektonischen und historisch-sprachlichen Selbstvergewisserung befasst, wird – je länger er nachdenkt und erzählt – sich selbst und seiner »eignen« Kultur immer fremder. Wie bei einer Überschwemmung der Fluss aus seinem Bett tritt, so verlieren seine Gedanken die Richtung (vgl. 364) und seine Erzählung gerät aus den Fugen, sie beginnt zu nomadisieren. Was mit einer assertorischen Bemerkung, einem klaren Satz und einer Geste der Abschließung begonnen hatte, verliert sich am Ende in der Weite der chinesischen Landschaft und der Endlosigkeit der Gedanken. Eine Reterritorialisierung von Narration und Kultur ist unmöglich. Unklar ist am Ende, auf welcher Seite der halb fertigen Mauer in den endlosen Weiten des Landes und der Gedanken wir uns eigentlich befinden. »Das Problem einer kleinen Literatur, aber auch unser aller Problem: Wie kann man der eigenen Sprache eine Literatur abzwingen, die fähig ist, die Sprache auszugraben und sie freizusetzen auf eine nüchternrevolutionäre Linie?«29 Die »littérature mineure« von Deleuze und Guattari charakterisiert nicht nur die Werke Kafkas, vielmehr handelt es sich um die Skizze einer neuen Literatur unter den Bedingungen einer »Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient«.30 »Wie viele Menschen 25 Kafka, Franz: Tagebücher, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt 1990, S. 878. 26 Vgl. dazu Bhatti, Anil: »Aspekte der Grenzziehung: Postkolonial«. In: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, hg. v. Horst Turk, Göttingen 1998, S. 339-357, hier S. 350. 27 »L'immigré« im Original ist eigentlich der Einwanderer im Sinne der deutschen »Gastarbeiter« oder Migranten. 28 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka – Pour une littérature mineure, S. 28. 29 Ebd. 30 Ebd. S. 24. 308

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leben heutzutage in einer Sprache, die nicht ihre eigene ist?«31 Es stellt sich heraus, dass diese Situation nicht die der Außenseiter ist, sondern eine Form der Produktivität auslöst, die den »ausgetrockneten Wortschatz in der Intensität vibrieren lässt« und zu einem »intensivmaterialen Ausdruck« gelangt.32 Die literarische Produktivität dieses inneren »Polyglottismus« von Lotman wird von Deleuze und Guattari ausgearbeitet zu einer Poetik des Raumes, des Territoriums. Die Poetik der »Deterritorialisierung« und der »Reterritorialisierung«, wie sie es nennen, charakterisiert diese kleinen Literaturen nicht in erster Linie auf der Ebene von Motivik, sondern vielmehr auf allen Ebenen von Sprache, Metaphorik, Narration und Komposition. »Kleine Literaturen« sind Literaturen des Raums, des Territoriums, der Grenze, der Grenzüberschreitungen, der Einschließungen und Durchgänge, der Landkarten, Linien und Schwellen.33 Hier findet die sinnliche, ästhetische Wiederaneignung großer Sprachen statt. Kleine Literaturen sind die eigentlichen Orte literarischer Innovation und markieren daher am Ende keine Außenseiterposition, sondern die Avantgarde. Der Blick zurück auf die klassische Moderne, auf Kafka, zeigte, dass wir es mit der zentralen Rolle des Marginalen zu tun haben, dass die so genannte »Migrantenliteratur« kein Sonderfall der postmodernen Industrienationen darstellt, sondern dass Goytisolo nicht übertrieben hatte mit seinem Hinweis: Die »große« Literatur der Zukunft ist die »littérature mineure«.

II. Die Art und Weise, wie sich Abgrenzung, Grenze, Differenz, Ähnlichkeit, Vertrautheit, Furcht, Sehnsucht und Neugierde ineinander verschränken, die Räume und Territorien, in denen der Text von Feridun Zaimoğlu angesiedelt ist, gleichen denen in Kafkas Text nicht auf den ersten Blick; trotzdem lassen die Erzählungen sich produktiv miteinander lesen. Beide Texte erweisen sich als Formen narrativer »Deterritorialisierung« und »Reterritorialisierung«. Feridun Zaimoğlu ist zweifellos einer der prominentesten deutschtürkischen Autoren. Nach seinem provokativen Debüt mit »KanakSprak« (1995) hat er mit den beiden aktuellen Romanen »Leyla« (2006)

31 Ebd. S. 28. 32 Ebd. 33 Sie sind auf diese Weise auch Agenten des allenthalben ausgerufenen »spatial turn«. 309

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und »Liebesbrand« (2008) einen vollkommen neuen Ton angeschlagen.34 Schon die 2003 in Klagenfurt prämierte Erzählung »Häute« weist allerdings auf diesen anderen Stil hin. Die »Transformation deutscher Kultur in der Folge der Migration« (Yıldız) ist hier nicht mehr die Sache der »Kanaken«, sondern mit diesen Texten liegt jetzt deutschsprachige Literatur vor, die einen neuen literarischen Raum erschließt, der allerdings ebenso wenig in der Türkei liegt, wie Kafkas Mauer in China. Der Raum, in dem sich diese Literatur verortet, ist aber auch nicht die berühmte »Brücke« zwischen Istanbul und Berlin, die man so gerne als Metapher verwendet, wenn man von Einwandererkulturen spricht. Es ist ein Missverständnis, zu glauben, wir hätten es hier mit literarischen Zeugnissen eines »Dazwischen« zu tun. Leslie A. Adelson hat mit ihrem »Manifest gegen das Dazwischen« – »Against Between«35 – dieses Denken und Sprechen vom Dazwischen scharf kritisiert. Es beharre nämlich hartnäckig auf territorialen Vorstellungen von Heimat und Fremde, die in den Texten gerade abgelöst und ersetzt werden. Es geht in allen einschlägigen Texten tatsächlich vielmehr um Orte des Umdenkens, imaginierte Räume, in denen »kulturelle Orientierung radikal neu durchdacht wird.«36 An dieser Stelle ist auch der Zusammenhang mit Kafkas Text zu sehen. Die räumliche Orientierung, die die Erzählung vorgibt zu leisten, ist zugleich im Scheitern und in der narrativen Überwindung des Scheiterns zu suchen. Die fast unheimliche Naivität von Kafkas Erzähler kontrastiert mit der etwas blasierten Hilflosigkeit von Zaimoğlus Protagonisten. Beide Geschichten entwerfen unmögliche Räume und Orte, die als Schauplatz von Erzählungen zunächst ungeeignet erscheinen, weil sie die Orientierung verweigern. Letztlich stellt sich heraus, dass die Erzählung von der Unmöglichkeit der Orientierung ein erzählerisches Experiment ist, das von Deterritorialisierung nicht erzählt, sondern sie als eine Form des ästhetischen Schwindels erfahrbar macht.

34 Vgl. dazu den Beitrag von Yasemin Yıldız in diesem Band. 35 Adelson, Leslie A.: »Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006 [engl. 2001], S. 36-47; vgl. zur Periodisierung türkischer Literatur in Deutschland Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutschtürkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 61-73. 36 Ebd. S. 40. Die deutsch-japanische Autorin Yoko Tawada hat in diesem Zusammenhang nicht von Brücken und dem »Dazwischen« gesprochen, sondern von Schwellen, von Türschwellen, auf denen man stehen bleiben kann, noch nicht im einen Raum und nicht mehr im anderen (vgl. ebd.). 310

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Die Frage, in welchen Räumen, aus welchen Räumen, diese neuen Texte entstehen, wird also eine der wichtigsten Fragen sein, die eine aktuelle Literaturbetrachtung zu klären hat. Es sind im eigentlichen Sinne die imaginäre Räume, »imaginary worlds« von denen Arjun Appadurai spricht. Imaginäre Räume sind dabei nicht die Räume, in denen sich fiktive Geschichten abspielen: »the imagination (is) a social practice«. Wir agieren in imaginären Räumen ebenso häufig und ebenso wirkungsvoll wie in realen. »Imagination is a social fact«, formuliert Appadurai. »It is the key component of the new global order.«37 Literatur ist Teil dieser Imagination, aber nicht in dem Sinne, dass sie uns in erfundene Räume entführt, sondern vielmehr in dem sie erkennbar macht, dass jede Art von Raum, in dem wir uns bewegen einen konstitutiven imaginären Anteil hat. »Häute« spielt in einem Dorf, das in der Türkei oder in Marokko oder in Tunesien – aber eigentlich nirgends so – sein könnte. Es ist eine surreale Welt, die zwar durchaus Zeichen einer irgendwie orientalischen Gegend trägt, aber nirgends wird dies bestätigt. Der Fremde, der dorthin gelangt, kann zwar die Sprache der Einheimischen, ist aber keiner von ihnen; er ist mit den Bräuchen vertraut, aber trotzdem nicht vor Misstrauen und Bedrohung gefeit. Er findet sich intuitiv zurecht, trägt aber nicht die gleiche Tätowierung wie die Bewohner des Dorfes. Obwohl also sprachliche Verständigung möglich ist, gibt es unauslöschliche Zeichen der Differenz: Die gezeichneten, tätowierten Körper erinnern dabei an Kafkas Strafkolonie, aber auch an Roland Barthes unlesbare Gesichter im »Reich der Zeichen«, in Japan. Grenzen jedenfalls sind nicht durch Mauern markiert, es sind auch keine so genannten Sprachbarrieren, die man durch Sprach-Kurse überwinden könnte. Die Überlagerung und Abgrenzung von »fremd« und »einheimisch«, »vertraut« und »unheimlich«, »geborgen« und »gefährlich« ist vollkommen unübersichtlich. Die Räume sind real, surreal und imaginär zugleich. Unklar ist aber nicht nur die Grenze zwischen fremd und vertraut, sondern etwa auch die zwischen modern und traditionell oder auch die zwischen männlich und weiblich. Gleich zu Beginn, muss der »langhaarige« Erzähler fürchten, von den Dorfjungen mit Steinen beworfen zu werden: »Die Kinder hier sind dafür bekannt, dass sie sich am Ortsausgang versammeln und Jagd auf feminin anmutende Fremde 37 Appadurai, Arjun: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economic«. In: ders.: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1995, S. 27-47, hier S. 30. Aus diesem Grund unterscheidet Appadurai auch nicht nach geographischen Räumen, sondern nennt fünf verschiedene globale »spaces«: ethnospaces, technospaces, inancespaces, mediaspaces und ideospaces. 311

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machen.«38 Zu seinem femininen Aussehen gehört aber auch, dass er keine lackierten Fingernägel hat, wie alle Männer im Dorf: Die Zeichen der Geschlechtlichkeit sind also nicht lesbar, weder für jemanden aus einer modernen Metropole noch für einen aus einem traditionellen türkischen Dorf. Wir treffen den Erzähler bei einem Antiquar, also in einem Laden, den man nicht vermuten würde in diesem vollkommen verlorenen Nest. Das Sammeln von alten Alltagsgegenständen kommt uns touristisch vor. Die musealisierende Geste scheint nicht zu einem rustikalen Dorf zu passen; Selbstarchivierung sehen wir als ein Zeichen der Postmoderne, die dort allerdings gerade nicht angekommen scheint. Erstehen will der Reisende ausgerechnet ein Hochzeitslaken mit einem Flecken Entjungferungsblut als »Echtheitssiegel«. Dieses absurde Relikt islamischer Heiratspraktiken – so schließen wir sofort – ist allerdings mit Motiven aus dem alten Testament bestickt und überraschenderweise so teuer, dass der Reisende es nicht erstehen kann. Stattdessen wird ihm die hässliche Tochter des Antiquars angeboten; wobei vollkommen unklar bleibt, ob wir es mit »elementaren Strukturen der Verwandtschaft«39, das heißt mit archaischem Frauentausch, zu tun haben oder vielmehr mit einem auf die Spitze getriebenen Kapitalismus, der Menschen als Waren behandelt und Kinder wie Bettlaken verscherbelt. Am Ende bleibt ungeklärt, ob nicht auch das Bettlaken keineswegs eine »antike« Rarität ist, sondern Blut von dem jungen Mädchen zeigt. »Ich trete aus dem Laden und verlasse mich auf meinen inneren Kompass, der meine Schritte zum Ortsausgang leiten wird, und wie ich mein Glück an solchen Tagen kenne, wird mich kein Stein aus einer Zwille treffen noch ein Hund anfallen.«40 Der Reisende verlässt den Laden, das Dorf, so wie er zuvor das Dorf, den Laden und das Gasthaus betreten hat. Er kommt und geht, wobei dies jedes Mal mit Spannung, ja mit einer gewissen Anspannung, Furcht und mit etwas Risiko verbunden ist. Er ist hier ein Eindringling, obwohl es sich ja um einen gerade für Fremde, für Reisende gedachten Laden handelt: Der grobe versoffene Geliebte der Tochter bringt es auf den Punkt: Die Furcht vor dem Eindringling bezieht sich auf die Frauen und auf die Waren, ebenso wie das Begehren, das sich ebenso in finanzieller wie in sexueller Hinsicht auf ihn richtet. Er ist als typisch moderner Tourist ein Andenken-Käufer und doch zugleich

38 Zaimoğlu, Feridun: »Häute«. In: ders.: Zwölf Gramm Glück. Erzählungen, Köln 2004, S. 105-121, hier S. 105. 39 Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt 1981. 40 Zaimoğlu, Feridun: Häute, S. 121. 312

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auch ein archaischer Mädchenräuber. Der Erzähler überschreitet alle Schwellen und Grenzen unversehrt, aber er nimmt auch nichts mit. Am Ende hat der Leser gemerkt, dass er keine Ahnung hat, wer dieser Reisende ist, weil er keine Ahnung hat, wo dieser Reisende ist. Es ist die räumliche Orientierung, die gestört ist und uns verstört. Der Erzähler hat zwar einen »inneren Kompass«, das beruhigt uns – aber ob die Nadel nach Norden zeigt? Wir können es kaum glauben. »Es geht ja, wie Kafka sagt, nicht um die Freiheit, sondern um einen Ausweg.«41 Der Raum dieser Erzählung bleibt unübersichtlich und die Weite, in die sich der Erzähler verabschiedet, verspricht keine Rettung, birgt aber auch keine Gefahr, verspricht keine Heimkehr, ist aber auch keine Ferne. Nicht um das allgemein Menschliche – etwa die Freiheit – geht es hier, sondern um diesen einen Ausweg.

Literatur Abu-Lughod, Lila: »Writing against Culture«. In: Recapturing Anthropology, hg. v. Richard Gabriel Fox, Santa Fe 1991 (Deutsche Ausgabe: Abu-Lughod, Lila: »Gegen Kultur Schreiben«. In: Wechselnde Blicke, hg. v. Ilse Lenz, Opladen 1996, S. 14-46). Adelson, Leslie A.: »Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006 [engl. 2001], S. 36-47. Appadurai, Arjun: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economic«. In: ders.: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1995, S. 27-47. Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996. Bhatti, Anil: »Aspekte der Grenzziehung: Postkolonial«. In: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, hg. v. Horst Turk, Göttingen 1998, S. 339-357. Birus, Hendrik: »Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung«. In: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hg. v. Manfred Schmeling, Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 1, Würzburg 1995, S. 5-28. Bräunlein, Peter J./Lauser, Andrea (Hg.): KEA - Zeitschrift für Kulturwissenschaften: »›Der teilnehmende Leser‹ Erkundungen zwischen Literatur und Ethnologie«, Nr. 12 (1999).

41 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka – Pour une littérature mineure, S. 16. 313

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Damrosch, David: What is World Literature?, Princeton 2003. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka – Pour une littérature mineure, Paris 1975. (Deutsche Ausgabe: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt 1976.) Engel, Manfred/Lamping, Dieter (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur, Göttingen 2006. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 61-73. Foucher, Michel: Fronts et Frontières, un tour du monde géopolitique, Paris 1988. Gerhard, Ute: »Neue Grenzen – andere Erzählungen? Migration und deutschsprachige Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. In: Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik Sonderband 9, München 2006, S. 19-30. Goebel, Rolf J.: »Constructing Chinese History: Kafka's and Dittmar's Orientalist Discourse«. In: PMLA 108/1 (1993), S. 59-71. Goebel, Rolf J.: »Kafka and Postcolonial Critique: ›Der Verschollene‹, ›In der Strafkolonie‹, ›Beim Bau der chinesischen Mauer‹«. In: Franz Kafka, hg. v. James Rolleston, Rochester 2002, S. 187-212. Goethe, Johann Wolfgang von: Frankfurter Ausgabe, hg. v. Friedmar Apel/Hendrik Birus et al., Abt. 2, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1986-1999. Goytisolo, Juan: »Rezension von Emine Sevgi Özdamar, Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus, Köln 1992«. In: Times Literay Supplement (02.12.1994), S. 12. Greiner, Bernhard: »Hinübergehen in das Bild und Errichten der Grenze«. In: Zeichen lesen/Lese-Zeichen: kultursemiotische Vergleiche von Leseweisen in Deutschland und China, hg. v. Jürgen Wertheimer/Susanne Göße, Tübingen 1999, S. 175-201. Hauschild, Thomas (Hg.): »Editorial«. In: Ethnologie und Literatur (KEA Sonderband 1), Bremen 1995, S. 1-10. Honold, Alexander: »Kafkas vergleichende Völkerkunde: ›Beim Bau der chinesischen Mauer‹«. In: (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Axel Dunker, Bielefeld 2005, S. 203-219. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967. Jurt, Joseph: »Das Konzept des literarischen Feldes und die Internationalisierung der Literatur«. In: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel

314

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EINE

ANALYSE DES WELTLITERARISCHEN ANSPRUCHS: S A D E Q H E D A Y A T S B U F – E K U R (1936) EXEMPLARISCHE

NACIM GHANBARI Wie kaum eine andere Schrift des 20. Jahrhunderts wird noch heute Sadeq Hedayats Buf-e kur (Der Kauz) von Iranerinnen und Iranern als das Werk der persischen literarischen Moderne gelesen, weiterempfohlen und verschenkt. Es scheint, als sei der iranischen Literatur damit die weltliterarische Initiation gelungen. Wie lässt sich die Ausnahmestellung dieser kleinen Schrift in der iranischen Rezeption erklären? Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass sich der Erfolg von Buf-e kur erst verstehen lässt, wenn man Hedayats umfassenden weltliterarischen Anspruch berücksichtigt, der sich in die folgenden einzelnen Komponenten zerlegen lässt.

1 . D i e l a n d e s w e i te M o b i l i t ä t literarischer Texte Im Anschluss an die materielle Definition von »Weltliteratur« als »weltweite Mobilität literarischer Texte«1 ist festzuhalten, dass die iranische Rezeption von Buf-e kur in eine Zeit landesweiter Mobilität literarischer 1

Vgl. Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), München 2005, S. 353. Der Titel meines Aufsatzes ist inspiriert durch die Ersetzung der substantivischen Verwendung von »Weltliteratur« durch die adjektivische, wie sie mir im Ausdruck »weltliterarische Erwartung« aufgefallen ist: »Wenn man diese Anekdote und die in ihr aufgerufenen ›Herrlichkeiten der Weltliteratur‹ liest, stößt man auf eine weltliterarische Erwartung und auf einen Verlust, der in der Gegenwart kaum noch als Verlust empfunden wird – so sehr sind die von Canetti, Steiner und einigen anderen geteilten weltliterarischen Erwartungen dem Vergessen überantwortet worden.« Ebd., S. 12 (Hervorhebungen im Original). Zum konventionellen Begriff von »Weltliteratur« und deren Spaltung in eine extensive und eine kanonische Spielart vgl. ebd., S. 369. 317

NACIM GHANBARI

Texte fällt. Die sozialhistorische Grundlage dafür schafft zum einen die verkehrstechnische Neuerung der Trans-Iranischen Eisenbahn, die 1938 in Betrieb genommen wird, zum anderen die Gründung der ersten iranischen Universität in Teheran im Jahr 1934. Eisenbahn und Universität ermöglichen den inländischen Verkehr von Studentinnen und Studenten und dadurch die Entstehung einer nationalen literarischen Öffentlichkeit. Die inländische Mobilität und die Entstehung eines iranischen Erziehungssystems verdrängen zunehmend den west-östlichen Austausch, dessen Akteure nahezu ausschließlich die Söhne und Töchter der guten Familien sind, die zum Studieren nach Europa geschickt werden.2 Die Rezeption von Buf-e kur fällt noch in eine Zeit, in der landesweite und weltweite Mobilität literarischer Texte zusammenfallen. Als Sohn eines aristokratischen Hauses geht auch Hedayat zum Studium ins Ausland. Seine Reise führt ihn 1925 nach Belgien, wo er zunächst das Ingenieurstudium aufnimmt. Bereits nach einem Jahr bricht er jedoch das Studium ab, reist nach Paris, wo er verschiedene Fächer belegen und einige Jahre verbringen wird, bevor er 1930 nach Teheran zurückkehrt. Hedayats erste Schreibversuche fallen in die Zeit seines Pariser Aufenthalts. Während er sich in Teheran als Schüler des von christlichen Missionaren geleiteten »Collège Saint Louis« in der französischen Sprache üben muss, übt er sich in Paris – als flüchtiger Student – in der persischen Literatur und Sprache.

2 . D i e A r t i k u l a t i o n v o n Rü c k st ä n d i g k e i t Die erste Arbeit, die Hedayat 1927 in Paris abschließt, ist ein Pamphlet mit dem Titel Fawayedeh gyah-khari (Über den Nutzen vegetarischer Ernährung).3 Diese erste Publikation – ein Büchlein – erscheint in 2

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Reza Schah sieht das Ziel der Gründung einer iranischen Universität explizit in der Einschränkung, wenn nicht gar Verdrängung des Auslandsstudiums, vgl. Ansari, Ali M.: Modern Iran Since 1921. The Pahlavis and After, London 2003, S. 62 f. Als Beispiel für die sozialkritisch polemische Auseinandersetzung mit den ins Ausland gehenden Studentinnen und Studenten der iranischen Oberschicht vgl. Al-e Ahmad, Jalal: Plagued by the West (Gharbzadegi), aus dem Persischen übersetzt von Paul Sprachmann, Delmar/New York 1982 [1962], S. 92-95. Für eine ausführliche Untersuchung zur Modernisierung des iranischen Erziehungssystems im Zusammenhang mit dem iranischen Nationalismus vgl. Menashri, David: Education and the Making of Modern Iran, Ithaca 1992. Hedayat, Sadeq: Fawayedeh gyah-khari, Teheran 2536 [1306]. Ich zitiere nach der Ausgabe, die im Djawidan-Verlag erschienen ist. Die auffällige, 318

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Berlin.4 Noch bevor Hedayat anfängt, seinen eigenen weltliterarischen Anspruch zu formulieren, setzt er in Paris eine eschatologisch gefärbte Modernisierungstheorie auf, in der sich die Menschheit von der barbarischen Notwendigkeit der »blutigen Mahlzeit« ab- und der vegetarischen Ernährung zuwendet.5 Im letzten Abschnitt des Pamphlets entwirft er das Bild einer globalen vegetarischen Bewegung, die bereits »England, Frankreich, Deutschland, Amerika und die skandinavischen Länder« erreicht habe und nun vor den Toren »Asiens« stehe.6 Erst vor dem Hintergrund dieser diätetisch ausgerichteten Modernisierungstheorie und der Einübung in deren Phrasen lernt Hedayat, Rückständigkeit zu artikulieren.7 Zurück in Teheran beschäftigt Hedayat kaum noch die diätetische Primitivität Asiens, sondern zunehmend die literarische Rückständigkeit Irans. Die Rückständigkeitsphrasen bleiben dieselben, auch wenn sie sich inhaltlich nicht mehr auf die Ernährung, sondern auf die Literatur beziehen. Literatur und Ernährung verknüpft Hedayat aber insofern, als er sich

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5 6 7

von der islamischen Zeitrechnung abweichende Jahresangabe dieser späteren Auflage der Schrift ergab sich durch die neue iranische Zeitrechnung, die Mohammad-Reza Schah eingeführt hatte, um nicht zuletzt bezüglich der Zeitrechnung die Islamisierung Irans rückgängig zu machen. Hier und im Folgenden wird in der eckigen Klammer das Jahr der Ersterscheinung nach der gängigen islamischen Zeitrechnung angegeben. Zu den verlegerischen und buchhändlerischen Tätigkeiten von Iranern in Berlin in den 1920er Jahren und deren finanzielle Unterstützung durch das deutsche Auswärtige Amt vgl. Ghahari, Keivandokht: Nationalismus und Modernismus in Iran in der Periode zwischen dem Zerfall der QagarenDynastie und der Machtfestigung Reza Schahs. Eine Untersuchung über die intellektuellen Kreise um die Zeitschriften Kaweh, Iransahr und Ayandeh, Berlin 2001, S. 45-90. Vgl. Hedayat, Sadeq: Fawayedeh gyah-khari, S. 79 (soweit nicht anders angegeben, stammt die Übersetzung von der Verfasserin). Vgl. ebd. Zum eschatologischen Grundzug vegetarischer Bewegungen vgl. Feerhow, Friedrich: Diät und seelische Entwicklung (Fleischkost oder Pflanzenkost). Eine Studie über die körperliche und geistige Bedeutung des Vegetarismus, Berlin 1922. Während Hedayat den Vegetarismus als West-Import ansieht, der Asien noch nicht durchdrungen hat, sieht im Gegenzug der Westen den Vegetarismus als Ost-Import an, vgl. hierzu Stuart, Tristram: The Bloodless Revolution. A Cultural History of Vegetarianism from 1600 to Modern Times, New York/London 2007 [2006]. Zu einer diätetisch begründeten Kulturtheorie vgl. Därmann, Iris/Lemke, Harald (Hg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Bielefeld 2008. 319

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zu Beginn seiner Karriere als moderner und modernisierender Schriftsteller damit auseinandersetzt, welche Schriften zu empfehlen und welche zu meiden seien. Er spricht seine Empfehlungen vor dem Hintergrund mangelhafter iranischer Übersetzungen aus und fordert in Zeitschriften die bessere Kenntnis von Fremdsprachen und die Förderung von Übersetzungen: »Was die iranische Literatur dringend benötigt, sind Übersetzungen alter und neuer Meisterwerke [schah-kar] aus dem Ausland, denn einer der wichtigsten Gründe für den Mangel der gegenwärtigen intellektuellen und literarischen Entwicklung, verglichen mit den zivilisierten Ländern, ist der fehlende Kontakt mit den Gedanken, Traditionen und Methoden der Literatur der heutigen Welt; und so wie uns nichts anderes übrig bleibt, als in wissenschaftlicher, künstlerischer und technischer Hinsicht von der zivilisierten Welt zu lernen, bleibt uns auch in intellektueller und literarischer Hinsicht kein anderer Weg; und deshalb benötigen wir möglichst genaue Übersetzungen der literarischen Werke der Welt … doch zu übersetzen ist keine leichte Arbeit, und es ist unerlässlich, dass der Übersetzer zwei Sprachen beherrscht.«8

Ein Blick auf die Liste der Schriften, die Hedayat selbst übersetzt hat, zeigt deutlich, dass eine solche Auswahl der Weltliteratur zunächst willkürlich zustande kommt, da sie sich an Hedayats Lieblingsbüchern und Lieblingsautoren anlehnt. Auf dieser Liste stehen neben Franz Kafkas Verwandlung eine Novelle Arthur Schnitzlers, ein japanisches Märchen und eine Schrift Jean Paul Sartres. Hedayat konnte nur aus dem Französischen übersetzen und übersetzte also auch Kafka und Schnitzler aus zweiter Hand. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Hedayat »die gegenwärtige intellektuelle und literarische Entwicklung« seines Landes für rückständig erklärte. Aber wie stand es mit der vergangenen intellektuellen und literarischen Entwicklung? Hedayat war wie auch seine Zeitgenossen von der weltliterarischen Geltung vergangener persischer Dichtung fest überzeugt. Die höfische Lyrik von Hafez, Sa-adi und Chajjam gehörte und gehört noch immer zum literarischen Kanon – dem Dichter Ferdosi hatte Reza Schah 1934 ein Mausoleum errichtet, um dem neuen iranischen Nationalismus ein Denkmal zu setzen. Die Verherrlichung Ferdosis als eines Dichters, der in seinen Gedichten arabische Wörter so

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Hedayat zitiert nach Arinpour, Yahya: Zendegi wa asar-e Hedayat, Teheran 1385 [1380], S. 72. Es ist bemerkenswert, dass Hedayat an dieser Stelle nicht von der persischen, sondern von der iranischen Literatur spricht. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels hat bereits die Umbenennung Persiens in »Iran« stattgefunden. 320

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weit wie möglich zu vermeiden versuchte, war Teil eines nationbuilding-Prozesses, der seinen Höhepunkt 1937 in der Änderung des Landesnamens von »Persien« in »Iran« erreichte.9 So wie Hedayat im Fall der europäischen Autoren eine unsystematische Liste übersetzter Schriften zusammenstellt, wobei er von jedem Autor seiner Wahl meist nur eine kleine Schrift übersetzt, wählt er auch aus der Fülle der persischen höfischen Dichtung lediglich einen Hofdichter, den er in eine Reihe mit »Lukrez, Epikur, Goethe, Shakespeare und Schopenhauer« stellt: Chajjam.10

3. Der Import von Verfahren der F o l k l o r i s i e r u n g u n d d e r L i t e r ar i s i e r u n g Hedayat gibt zwei Jahre vor seiner nächsten Reise den Band Taranehaye Chajjam (Die Lieder Chajjams) heraus. In einem Vorwort, das in die Abschnitte »Chajjam, der Philosoph« und »Chajjam, der Dichter« unterteilt ist, beschreibt er zunächst die unterschiedlichen Quellen und Materialkonvolute, in denen sich mutmaßliche Schriften Chajjams befinden. Anschließend legt er sein editorisches Programm dar, das darin besteht, aus den disparaten Schriften die Lehre Chajjams zu extrahieren. Obwohl Hedayat seinen Leserinnen und Lesern eine solche letztlich schuldig bleibt, führt er mit diesem Band exemplarisch vor, wie die weltliterarische Umschrift der persischen Literaturgeschichte aussehen könnte. Die Umschrift beginnt mit dem Titel des Bandes: »Die Lieder Chajjams«. Hedayat wählt die Bezeichnung »Lied« (persisch: taraneh) und vermeidet damit die philologisch konventionelle Bezeichnung »Vierzeiler« (arabisch: roba-jat), aus deren Vielzahl sich das Werk Chajjams vorwiegend zusammensetzt. Das Wort »Vierzeiler« taucht im Vorwort des Bandes als kleinste poetische Einheit auf, in der Chajjam – so Hedayat – zu dichten vermochte. Ein Lied in Hedayats Sinn aber ist die thematische Bündelung mehrerer Vierzeiler. Hedayat wählt für Chajjams »Lieder« passende Titel, unter die er eine Gruppe von je neun bis zweiundzwanzig Vierzeilern rubriziert. Über einhundert Vierzeiler teilt er auf diese Weise in acht Lieder auf. Im Vorwort hat Hedayat die topische Redundanz von Chajjams Vierzeilern hervorgehoben. Er ersetzt nun mit den Liedern die alten (kanonischen) Topoi durch neue Topoi wie etwa »Lebensleid« und »Geheimnis des Lebens«. Die Überführung der Schriften eines 9

Vgl. Kashani-Sabet, Firoozeh: Frontier Fictions. Shaping the Iranian Nation 1804-1946, Princeton/New Jersey 1999, S. 220 f. 10 Vgl. Hedayat, Sadeq: Taraneha-ye Chajjam, Teheran 2536 [1313], S. 21. 321

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persischen Hofdichters in Weltliteratur gelingt in diesem Fall durch die Übersetzung des einen Kanons in einen anderen und besteht darin, bewährte Topoi durch neue (moderne) zu überschreiben. Für das Programm der weltliterarischen Umschrift der persischen Literaturgeschichte sind zwei weitere Handgriffe Hedayats erwähnenswert: Der erste Handgriff betrifft wiederum die Titelgebung des Bandes. Im Einklang mit dem Narrativ der iranischen Literaturgeschichtsschreibung, das die persische Dichtung – wie oben angedeutet – mit der Vermeidung arabischer Wörter durch Ferdosi und dessen Verwendung eines überwiegend persischen Wortschatzes im schah-nameh beginnen lässt, steht im Zentrum von Hedayats Projekt die Tilgung des arabischen Wortes robajat durch das persische taraneh. Der zweite versteckte Handgriff besteht darin, dass Hedayat mit der Wahl des Wortes »Lied« (taraneh) an das Konzept einer mündlichen literarischen Form anzuschließen versucht, das dem iranischen Publikum zum Zeitpunkt der Publikation der »Lieder Chajjams« unbekannt sein dürfte: das Konzept des romantischen Liedes und dessen Verzweigungen in Volkslied und Kunstlied. Hedayats Überführung von Chajjams Vierzeilern in eine neu sortierte Sammlung von Liedern findet etwa zeitgleich zu seiner Auseinandersetzung mit der iranischen Folklore statt. Ein Jahr zuvor hat er die Schrift Neirangestan veröffentlicht, in der er im Anschluss an seine Lektüre von Edward Tylors Primitive Culture (1871) zum ersten Mal eine Sammlung altpersischer Bräuche, Feste, Redewendungen und altpersischen Aberglaubens präsentiert.11 Das Studium der geistesgeschichtlichen Wurzeln der europäischen Volkskunde und Ethnologie mündet in das aktive Sammeln und Aufschreiben von persischen Liedern, wie sie bei der Verrichtung von unterschiedlichen alltäglichen Aufgaben gesungen und aufgesagt werden.12 Im Lied verbinden sich somit beide Stränge von

11 Vgl. Hedayat, Sadeq: Neirangestan, Teheran 2536 [1312]; Hedayat, Djahangir (Hg.): Sadeq Hedayat. Farhang-e amiane-yeh mardom-e Iran (Neirangestan, Usaneh, Taraneha, Asar-e tahghighi wa asar-e tschap naschodeh), Teheran 1385 [1378]. 12 Hedayat gilt inzwischen als der erste – wenn auch verhinderte – iranische Ethnologe. In der Tat entwickelte er in der Zeit seines Teheraner Aufenthalts nicht allein schriftstellerischen, sondern zudem wissenschaftlichen Ehrgeiz: »Obgleich er durch seine wissenschaftlichen Studien zum ersten Ethnologen und zum ersten Kenner und Übersetzer mittelpersischer Literatur in Iran wurde, blieb ihm eine Professur an der Teheraner Universität versagt.« Krawulsky, Dorothea: »Nachwort: Über Sadeq Hedayat und sein Werk«. In: Hedayat, Sadeq: Die Reise zum Imam. Kurzgeschichten und Satiren. Aus dem Persischen von Dorothea Krawulsky in Zusammenarbeit mit Farideh Mohammadian, Berlin 1997, S. 217-223, hier S. 221. 322

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Hedayats Schriften: die volkskundlichen und die literarischen. Indem er die volkskundliche Theorie des Liedes – vermutlich eine Lesefrucht seines Pariser Aufenthalts – nach Teheran importiert und auf Chajjams Vierzeiler anwendet, importiert er zugleich den gesamten Komplex der so genannten »viktorianischen Kontroversen«, die sich in der Formel »[d]ie mündliche Literatur als fremde oder verfremdete (i.e. primitive) Initiation in die überlieferte schriftliche Literatur« zusammenfassen lassen.13 Nach Hedayats Programm soll – analog zu dieser Formel – das Lied die weltliterarische Initiation in die persische höfische Lyrik ermöglichen. Erst durch den Umweg über die mündliche Literatur kann persische Lyrik Weltliteratur werden. Während Hedayat in »Die Lieder Chajjams« eine im Westen theoretisierte mündliche literarische Form auf die überlieferte persische Literatur überträgt, wendet er in Wagh wagh sahab (Die Quietschpuppe) eine im Iran populäre mündliche literarische Form auf einige westliche Topoi literarischer Produktion und Selbstauslegung an. Als ein solcher Topos gilt in Wagh wagh sahab etwa »Die Rache des Künstlers« (entegham-e artist) oder der Freudianismus (freudism). Bei der mündlichen literarischen Form handelt es sich um ghazieh, die wider Erwarten in Hedayats folkloristischen Schriften nicht auftaucht. Während Hedayat in diesen Schriften eine Liste der unterschiedlichen literarischen Formen wie etwa matal, afsaneh und taraneh aufstellt, finden sich darin keine Einträge zur ghazieh. Die theoretische Unbestimmtheit der ghazieh in Hedayats Schriften entspricht ihrer Überbestimmtheit in der persischen Alltagssprache, in der ghazieh sowohl »Geschichte« und »Anekdote« als auch »Axiom« (im Sinne eines mathematischen Axioms etwa) bedeuten kann. Während matal, afsaneh und taraneh mit »Redewendung«, »Märchen« und »Lied« relativ eindeutig übersetzt werden können, ist eine ad hocÜbersetzung von ghazieh weitaus schwieriger. In der Reihe der mündlichen literarischen Formen stellt ghazieh eine lyrisch geschrumpfte Form dar. In Wagh wagh sahab besteht jede einzelne ghazieh aus mehreren Zeilen, wobei je zwei Zeilen sich reimen. Die lyrische Form ist insofern 13 Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven, S. 372 (Hervorhebungen im Original). Vgl. hierzu auch: »Ein institutioneller und meist ritueller Ursprung der Literatur wurde durch den Vergleich mit der zeitgenössischen Ethnographie und Ethnologie gesucht: ein Ursprung des Dramas oder bestimmter Dramengenres (z. B. der griechischen Tragödie, Komödie, Epik), ein Ursprung der Lyrik (im Rhythmus, in der Ballade, im Rundgesang), ein Ursprung der Narrative (in der Mythologie).« Ebd. Dieses Argument findet sich ebenfalls bei Hedayat, was dafür spricht, seine Schriften in die Untersuchung der »viktorianischen Kontroversen« mit einzubeziehen, vgl. Hedayat, Sadeq: Farhang-e amiane, S. 207. 323

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geschrumpft, als sich neben dem Endreim weder rhythmische noch kompositorische Regeln finden lassen. Wagh wagh sahab erscheint im selben Jahr wie Taraneha-ye Chajjam. In beiden Schriften überkreuzen sich zwei mündliche literarische Formen: Lied und ghazieh. Während das Lied im Projekt einer weltliterarischen Konditionierung eingesetzt wird, wird ghazieh zur Domestikation europäischen Schrift- und Kulturguts eingesetzt: Freud und der rachsüchtige artist werden zunächst aufgelistet, bevor ihre Worte und Taten als ghazieh in einfache Reime überführt werden.

4 . D i e w e l tl i t e r a r i s c h e R o u t e Paris–Teheran–Bombay Die ersten Stationen von Hedayats weltliterarischer Karriere lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Hedayats Projekt der Modernisierung der persischen Literatur verdankt sich der Route Teheran-Paris. Erst durch die frühe Konfrontation mit der französischen Sprache in der Missionarsschule »Collège Saint Louis« und das darauf folgende Auslandsstudium in Paris entwickelt er Methoden zur weltliterarischen Umschrift der persischen Poesie. Zurück in Teheran bleibt er seinen Pariser Studien insofern verpflichtet, als er diese Umschrift durch die Anwendung neuer Verfahren der Folklorisierung und der Literarisierung auf die persische schriftliche Überlieferung durchzuführen beabsichtigt. Dieses Projekt soll im Rahmen einer ordentlichen Professur an der neu gegründeten Teheraner Universität institutionalisiert werden. Da aber Hedayat die Professur versagt bleibt, tritt er eine Reise an. Die Route Teheran-Paris wird erweitert. 1936 reist Hedayat nach Bombay, wo er fünfzig Exemplare seiner Erzählung Buf-e kur in hektographierter Handschrift veröffentlicht. Er versieht diese Exemplare, die er – zurück in Teheran – ausschließlich an Freunde verschenkt, mit dem Vermerk, dass Druck und Vertrieb des Buchs im Iran verboten seien. Zu Beginn der Rezeptionsgeschichte von Buf-e kur steht die durchgestrichene Adresse an das iranische Publikum; Buf-e kur erscheint im Privatdruck und wird zunächst nur in Hedayats cercle intime gelesen. Erst 1941, nach der Abdankung Reza Schahs, erscheint die Erzählung in der Zeitschrift Iran als Fortsetzungsgeschichte und wird dadurch einer größeren literarischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ihre weltliterarische Popularisierung jedoch verdankt sie den Übersetzern Roger Lescot und D. P. Costello. Lescots französische Übersetzung erscheint 1953 in Paris; Costellos englische Übersetzung 1957 in London und New York. Die Tatsache, dass Costello die

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französische Übersetzung als Vorlage benutzt, sorgt dafür, dass bereits der erste amerikanische Rezensent von Buf-e kur den Verdacht äußert, dass diese Erzählung nur unter der Bedingung ihrer Französisierung um die Welt gehen kann: »It is susceptible to adoption by the coterie readers: […] they may easily find their newest frisson in this macabre Iranian sensibility, heightened by the author's romantic suicide in – how appropriate! – Paris. In the morbid, exhausted, depressing, anguished, frightful story itself, they may be overpowered by the oil lamp smell of Poe and Baudelaire, and in the filigree, arabesque, and inlay of the prose, a Scheherazade orientalism. Then, too, the book's covers tout it as an ›existentialist‹ novel, and Hed[a]yat's friendship with Sartre is remarked. Indeed, even the sober reader of this American edition cannot avoid the troubling feeling that he is reading something translated from French. Unhappily, he is right. This version was drawn from a French translation, which perhaps accounts for the inadequacies of the style, and particularly the destruction of the central metaphor which gave the book its title.«14

Mit der zentralen Metapher des Buches spielt der Rezensent auf die Wendung buf-e kur an, deren wörtliche Übersetzung durch Lescot als chouette aveugle dem englischen blind owl und zuletzt der deutschen blinden Eule als Vorlage diente. Als Metapher jedoch bezeichnet buf-e kur den idiotischen Einsiedler. Im Einklang mit der persischen Metapher ist buf-e kur daher als Kauz zu übersetzen.15 Es zeigt sich, dass sich die persische Metapher gerade ins Deutsche mühelos übersetzen lässt: Während man sich für englische und französische Übersetzungen zwischen der wörtlichen und der metaphorischen Bedeutung zu entscheiden hat,16 14 Archer, William Kay: »The Terrible Awareness of Time«. In: Hedayat's ›The Blind Owl‹. Forty Years After, hg. v. Michael C. Hillmann, Austin 1978 [1958], S. 12 ff., hier S. 13. 15 Auf dem deutschsprachigen Büchermarkt existieren bislang ausschließlich Übersetzungen, die allein der wörtlichen Bedeutung von Buf-e kur gerecht werden, vgl. Hedayat, Sadegh: Die blinde Eule, aus dem Persischen übersetzt von Heschmat Moayyad/Otto H. Kegel/Ulrich Riemerschmidt, Genf/ Hamburg 1960; Hedajat, Sadek: Die blinde Eule. Roman, aus dem Französischen übersetzt von Gerd Henniger, bearbeitet von Bozorg Alavi, Berlin 1981; Hedayat, Sadeq: Die blinde Eule. Roman, aus dem Persischen von Bahman Nirumand, Frankfurt a.M. 1997 [1990]. Es ist bemerkenswert, dass in den beiden jüngsten Übersetzungen der Titel »Die blinde Eule« um die Gattungsbezeichnung »Roman« erweitert wird, die im Original nicht vorhanden ist. 16 In den englischsprachigen Beiträgen wird die metaphorische Bedeutung selten erwähnt: »Hedayat turned from the evils of society to self-analysis in 325

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enthält das deutsche Wort »Kauz« sowohl einen Teil der wörtlichen als auch die metaphorische Bedeutung. In der Publikations- und Übersetzungsgeschichte von Hedayats Der Kauz – so meine Übersetzung des Titels der Erzählung – erscheint Teheran als Zentrum des literarischen Geschehens. Teheran besetzt insofern das Zentrum, als es mit Paris (New York) und Bombay über einen westlichen und einen östlichen Rand verfügt. Während die Route TeheranParis allein die Linie der Modernisierung des Ostens durch den Westen vorgibt, spannt die Route Paris-Teheran-Bombay eine weltliterarische Karte, welche die Zirkulation literarischer Texte und Topoi erst ermöglicht.

5 . D i e w e l tl i t e r a r i s c h e U m sc h r i f t Hedayats Der Kauz lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen, von denen der zweite doppelt so umfangreich wie der erste ist. Zwischen beiden Teilen befindet sich als Scharnier eine einzelne, von den beiden anderen Passagen abgesetzte Seite; eine einzelne abgesetzte Seite am Ende beschließt die Erzählung.17 Im ersten Teil schildert der Erzähler seine räumliche und soziale Isolation. Er lebt und arbeitet lediglich innerhalb der vier Wände seines Zimmers, in einem »Haus außerhalb der Stadt«.18 Seine Arbeit besteht darin, Schreibetuis zu bemalen: »Das Eigenartige, Unglaubliche ist nur, daß das Motiv meiner Bilder von Anfang an dasselbe geblieben ist, daß es immer dieselbe Form angenommen hat« (12). Das wiederkehrende Motiv besteht in einer Zypresse, einem darunter sitzenden Greis und einem Mädchen, das sich zu dem Greis hinunter beugt, um ihm eine Winde (Kletterpflanze) zu reichen. Die Betonung des immergleichen Motivs stellt den literarischen Kommentar zu einer Beobachtung dar, die Hedayat im Zusammenhang mit der persischen höfischen Dichtung gemacht hatte: die topische Redundanz jeder Form persischer Literatur. Der Erzähler wird diese Szene eines Tages aus einem one book, Buf-e Kur (›The Recluse‹) which means literally ›blind owl‹ …« Kamshad, Hassan: »Hysterical Self-Analysis«. In: Hedayat's ›The Blind Owl‹. Forty Years After, hg. v. Michael C. Hillmann, Austin 1978, S. 1526, hier S. 15. 17 Die abgesetzten Seiten fehlen in den meisten deutschen Übersetzungen, vgl. hierzu das Original: Hedayat, Sadeq: Buf-e kur, Teheran 1351 [1315], S. 45 f.; 115 f. 18 Hedayat, Sadeq: Die blinde Eule, Roman. Aus dem Persischen von Bahman Nirumand, Frankfurt a.M. 1997 [1990], S. 11 (Seitenangaben im Folgenden im Fließtext). 326

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Loch in der Wand seines Zimmers heraus beobachten; der Anblick des Mädchens wird von ihm Besitz ergreifen. »[Z]wei Monate und vier Tage« (19) nach der ersten Begegnung wird er das Mädchen wieder sehen, das sich in sein Bett legen wird. Der Erzähler wird versuchen, das Mädchen zu zeichnen und währenddessen bemerken, dass es bereits tot ist. Er wird seinen Leichnam zerstückeln, in einen Koffer legen und diesen auf einem Friedhof vergraben. Damit endet der erste Teil der Erzählung. Dieser erste Teil gibt einige wenige Hinweise, die dem Leser helfen, den Standpunkt des Erzählers räumlich und historisch – zunächst vage – zu verorten. So heißt es vom Zeitpunkt seiner Begegnung mit dem Mädchen: »Es war […] genau am dreizehnten Tag nach Noruz« (13). Der Noruz ist das persische Neujahrsfest und der dreizehnte Tag nach Noruz ist der Tag, an dem die Perser ihre Häuser – zwecks Geistervertreibung – verlassen müssen. Der Erzähler muss sich also in Persien befinden, obwohl er – als buf-e kur – gegen die Regeln des Neujahrsfestes verstößt, indem er am dreizehnten Tag sein Haus nicht verlässt, sondern sich seiner Arbeit widmet. Einzelne Hinweise auf die Kleidung der Figuren zeigen an, dass es sich um das Persien nach der Islamisierung handelt. Die Münzen, die im ersten Teil der Erzählung im Umlauf sind, verengen die erzählte Zeit auf die Periode zwischen 1800 und 1930.19 Der Friedhof, zu dem der Erzähler fährt, verweist auf die zerstörte Stadt Rey, deren Ruinen sich in der Nähe von Teheran befinden. Die Erzählerfigur dieses ersten Teils lebt also zwischen 1800 und 1930, in der Nähe von Rey oder Teheran. Im zweiten Teil hat sich der Ort des Erzählers verändert: »Ich weiß nicht, wo ich mich in diesem Augenblick befinde, weiß nicht, ob dieses Stück Himmel über meinem Kopf, ob diese Handbreit Boden, auf dem ich sitze, zu Neischabur gehört, zu Balch oder zu Benares.« (55) Der Satz »Ich weiß nicht, wo ich mich in diesem Augenblick befinde«, die Unbestimmtheit des Ortes, wird bereits im darauf folgenden Satz eingeschränkt. Unbestimmt ist dann nur noch, ob sich der Erzähler in Neischabur, Balch oder Benares aufhält. Die periphere Angabe im ersten Teil (»außerhalb der Stadt«) weicht im zweiten der imaginären Linie Neischabur-Balch-Benares. Es ist aufschlussreich, welche Information eine deutsche Übersetzung ihren Lesern nach der Aufzählung dieser Städte zukommen lässt. In einer Fußnote heißt es: »Iranische Kulturzentren. Balch oder Baktra wird als Geburtsort Zoroasters und des Kyros betrachtet. Es wurde 1223 von Dschingis Khan zerstört. Die Ruinen befinden sich im heutigen Afghanistan. Nischapur in der östlichen Provinz 19 Zur Bestimmung der erzählten Zeit vgl. Daniel, Elton: »History as a Theme of The Blind Owl«. In: Hedayat's ›The Blind Owl‹. Forty Years After, hg. v. Michael C. Hillmann, Austin 1978, S. 76-86, hier S. 80. 327

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Chorassan ist die Geburtsstadt von Chajjam.«20 Unausgesprochen wird Benares ebenfalls in die Reihe »[i]ranische[r] Kulturzentren« aufgenommen.21 Diese Anmerkung paraphrasierend kann man sagen: Unabhängig davon, von welchem Ort der Erzähler von Der Kauz spricht – er spricht immer von einem iranischen Kulturzentrum aus. Der feste Standpunkt des ersten Erzählers löst sich zugunsten einer Linie auf. Von Neischabur über Balch bis nach Benares, zugleich zwei nationale Grenzen (Iran/Afghanistan und Afghanistan/Indien) überschreitend, erstreckt sich die weltliterarische Karte. Die Linie Iran-Indien ist im ersten Teil als Exportroute präsent. Der Erzähler berichtet, wie sich die von ihm bemalten Schreibetuis selbst in Indien verkaufen lassen. Im zweiten Teil wird die Exportlinie Iran-Indien um verwandtschaftliche Bande erweitert. Das mörderische Figurenspiel vom ersten Teil wird im zweiten in ein eheliches Unglück übersetzt, das für die untreue Ehefrau tödlich ausgeht. In einer frühen Erzählung Arusak-e posht-e pardeh (Die Puppe hinter dem Vorhang) entwirft Hedayat eine Konstellation, welche die Figurenkonstellation aus Der Kauz vorwegnimmt.22 Im Einklang mit den meisten 20 Hedajat, Sadek: Die blinde Eule, Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Henniger, bearbeitet von Bozorg Alavi, Berlin 1981, S. 59 f. 21 Die Aufnahme von Benares (=Varanasi=Kashi) in die Reihe iranischer Kulturzentren lässt sich durch den indischen Import persischer Administrationstechniken rechtfertigen, vgl. Blake, Stephen P.: »The PatrimonialBureaucratic Empire of the Mughals«. In: The State in India 1000-1700, hg. v. Hermann Kulke, Delhi 1995, S. 278-303, hier S. 285. Zum Status von Benares als Zentrum administrativer (und in diesem Sinn erst persischer) Gelehrsamkeit vgl. Cohn, Bernard S.: »Political Systems in Eighteenth-Century India: The Banaras Region«. In: ders.: An Anthropologist among the Historians and Other Essays, Delhi 1987, S. 483-499, hier S. 486. In welchem Maß sich die Konstruktion des persischen weltliterarischen Anspruchs einer vergangenen Überlegenheit in administrativen Techniken verdankt, geht daraus hervor, dass es ausgerechnet Schreibetuis sind, die der Erzähler in Der Kauz bemalt und exportiert. Zur Bedeutung der Schreibetuis wird in einer deutschen Übersetzung angemerkt: »Schreibetui – Qalamdân – ist ein schmaler Kasten, meistens aus Papiermaché, in dem das Tintenfaß und andere Schreibutensilien verwahrt werden. Die Oberfläche wird mit pflanzlichen Motiven, mit Landschaften und Szenen im persischen Miniaturstil dekoriert. Schräg in den Gürtel gesteckt, ist es ein Zeichen von Bildung und Intelligenz. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts wurden Minister ohne Portefeuille Minister ohne Qalamdân – Schreibetui – genannt.« Hedajat, Sadek: Die blinde Eule, S. 11. 22 Vgl. Katouzian, Homa: »Women in Hedayat's fiction«. In: ders. (Hg.): Sadeq Hedayat. His work and his wondrous world, London/New York 2008, S. 81-91, hier S. 81 f. 328

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Erzählungen dieser frühen Phase – und im Gegensatz zu Der Kauz – ist auch Arusak-e posht-e pardeh im personalen Erzählstil gehalten. Ähnlich dem Erzähler aus Der Kauz ist auch der Held dieser Erzählung ein Außenseiter, der sich für eine marginalisierte Existenz entschieden hat. Im Gegensatz zu Der Kauz aber hat die Marginalisierung in dieser frühen Erzählung einen sozialhistorischen Kern: Mehrdad – wir erfahren lediglich den Vornamen des Helden – ist einer jener iranischen Söhne aus gutem Hause, die von ihren Eltern zum Studium nach Paris geschickt wurden: »Neun Monate hatte Mehrdad am Gymnasium von Le Havre zugebracht, um seine Französischkenntnisse zu vervollkommnen. Wie ein verlorenes Schaf, das man von seiner Herde getrennt hat, brach er brav und ängstlich, am Tag, als er in Paris von seinen Kameraden Abschied nahm[,] nach Le Havre auf.«23 Ähnlich dem Erzähler aus Der Kauz, den plötzlich durch Zufall der Anblick eines Mädchens ergreift, wird auch Mehrdad in Le Havre plötzlich ergriffen: »Wie er so vor sich hinschlenderte und nach da und dort blickte, machte er vor dem Schaufenster eines größeren Geschäftes Halt. Er schaute hinein. Seine Augen fielen auf eine Schaufensterpuppe mit blondem Haar […]. Im blauen Schein der Lampen erschien ihm die Puppe mit ihrem pistaziengrünen Kleid in einem ganz besonderen Licht, und er blieb wie gebannt stehen, versunken in ihren Anblick. Nein, das war keine Puppe, das war eine Frau oder besser noch, ein Engel, der ihn da anlächelte.«24

Es handelt sich hier vielleicht sogar um eine Szene der Wiedererkennung. Es ist kein Zufall, dass die Puppe ausgerechnet ein pistaziengrünes Kleid trägt; in der Fremde erkennt der Student am Leib der blonden Puppe die Farbe der heimischen Frucht. Er kauft die Puppe zu einem hohen Preis. »Fünf Jahre nach diesem Ereignis traf Mehrdad mit drei Koffern, von denen einer ungewöhnlich groß war und wie ein Sarg aussah, in Teheran ein.«25 Im Haus der Eltern angekommen, befrachtet mit der Puppe, sieht er sich seiner Verlobten gegenüber. Was nun beginnt, ist die Konkurrenz zwischen Puppe und Verlobter, die anfängt, sich an die Puppe zu assimilieren: »Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihr und der Puppe erleichterte die Sache. Lange Stunden verglich Derakhshandeh alle Einzelheiten ihres Körpers mit denen der Puppe und verwandte alle

23 Hedayat, Sadeq: »Die Schaufensterpuppe hinter dem Vorhang«. In: ders.: Die Reise zum Imam. Kurzgeschichten und Satiren. Aus dem Persischen von Dorothea Krawulsky in Zusammenarbeit mit Farideh Mohammadian, Berlin 1997, S. 135-152, hier S. 136. 24 Ebd., S. 139 f. 25 Ebd., S. 147. 329

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Mühe darauf, sich ganz der Puppe anzugleichen. […] Ganz allmählich begann sie, die Aufmerksamkeit von Mehrdad zu erregen.«26 Die Assimilation der iranischen Verlobten an die blonde Puppe endet in einer Szene der Verwechslung, die zur Tötung der Verlobten durch Mehrdad führt. Die Erzählung Arusak-e posht-e pardeh wird als Vorlage für Der Kauz angesehen, da in beiden Texten zwei Motive auf ähnliche Weise verknüpft werden: die scheinbar unbeabsichtigte Tötung der geliebten Frau und die Konkurrenz von zwei Weiblichkeitsbildern. »The statue compares with the ethereal woman, and Derakhshandeh, with the harlot, who is killed in the end by the narrator's kitchen knife. […] It is clear that in the narrator's eyes women are either angels or harlots.«27 In dieser Deutung mündet der Vergleich zwischen Der Kauz und der frühen Erzählung in den Topos von der imaginativen Spaltung der Frau in Heilige und Hure. Der Topos erscheint als ein fixer Punkt, von dem aus sich Hedayats Erzählungen neu organisieren lassen. Ich werde dagegen im Folgenden zeigen, dass die Parallellektüre der beiden Erzählungen nicht die Evidenz eines Topos bestätigt, sondern den exemplarischen Fall der weltliterarischen Umschrift heimischer Literatur. Arusak-e posht-e pardeh erscheint in Teheran zu einem Zeitpunkt, an dem die literarische Öffentlichkeit des Landes an das Thema weiblicher Konkurrenz bereits mit Nachdruck herangeführt wurde. Es handelt sich dabei um die Konkurrenz zwischen den europäischen und den iranischen Frauen, die dadurch zustande kommt, dass die aus Europa zurückkehrenden Söhne dazu tendieren, Europäerinnen zu ehelichen. Das Heiratsverhalten dieser Rückkehrer wird zunächst in der persischsprachigen Zeitschrift Iransahr, die ab 1922 in Berlin erscheint, thematisiert und erst nach mehreren Anläufen als Politikum lanciert.28 In diesem Zusammenhang dient der Verweis auf die Europäerinnen meist dazu, die überkommenen iranischen (islamischen) Praktiken der Eheschließung anzuprangern; die Kritik am Heiratsverhalten der Rückkehrer erweist sich zunächst als ein Aspekt dieser allgemeinen Kritik.29 Während in der Diskussion ab 1924 teilweise rassistische Phrasen ausgetauscht werden, in 26 Ebd., S. 149 f. 27 Katouzian, Homa: Women in Hedayat's fiction, S. 84. 28 Vgl. Ghahari, Keivandokht: »Wenn die Ehe die Nation gefährdet: Die Diskussion über die Eheschließung iranischer Männer mit europäischen Frauen in der persischsprachigen Zeitschrift Iransahr (1922-1927)«. In: Querelles privées et contestations publiques: la rôle de la presse dans la formation de l'opinion publique au Proche Orient, hg. v. Christoph Herzog/Raoul Motika/Michael Ursinus, Istanbul 2002, S. 247-258. 29 Vgl. ebd., S. 247. 330

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denen von der Verunreinigung des iranischen Volks durch das Blut der Europäerinnen die Rede ist, scheinen sich die Leserbriefe zunehmend auf die soziale Situation der iranischen Frauen und deren mangelnde Bildung zu beziehen. Der Blick wendet sich also ab von den Europäerinnen und richtet sich auf die Iranerinnen. Der Schlüsseltext für diesen Wechsel der Perspektive ist vielleicht der unter dem Pseudonym Awareh (Heimatloser) in Iransahr veröffentlichte Artikel Namzad-e man (Meine Verlobte).30 Die Verlobte erscheint darin durch ihren provisorischen Status als Halbtote, der nicht zu entkommen sei. Der »Heimatlose«, der aus Europa das Wissen um die Wichtigkeit der Ehe und um den Bildungsstand der Mutter für die Erziehung der Kinder mitbringt, sieht sich trotz der eigenen Modernisierung gefesselt an die rückständige Verlobte.31 Erst durch die Kenntnis dieser Diskussion, die in den 1920er Jahren stattfand und deren Elemente sich noch 1962 in Jalal Al-e Ahmads Gharbzadegi nachlesen lassen,32 gewinnt Hedayats Arusak-e posht-e pardeh einen Resonanzraum. Derakhshandeh, die Strahlende, erscheint vor diesem Hintergrund als persistierende Figur, der – darin allen iranischen Verlobten ähnlich – nicht zu entkommen ist. Die Erzählung ist im zweiten Teil (nach Mehrdads Rückkehr aus Europa) durch eine Doppelbewegung gekennzeichnet: durch den plastischen Verfall der Puppe und die zunehmende Attraktivität der Verlobten. Schließlich ist es auch die Verlobte, die der Erzählung ihren Namen gibt: »Derakhshandeh nannte die Modellpuppe spöttisch: ›Die Schaufensterpuppe hinter dem Vorhang.‹«33

30 Vgl. ebd., S. 252-257. 31 Vgl. ebd., S. 257. Der Horror vor der rückständigen Verlobten, den sowohl der anonyme Heimatlose als auch der Austauschstudent empfindet, lässt sich mit dem Horror eines anderen literarischen Assimilanten vergleichen: »Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine kleine halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick; das erkenne nur ich und ich kann es nicht ertragen«. Kafka, Franz: »Ein Bericht für eine Akademie [1917]«. In: ders.: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Nach der Kritischen Ausgabe herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 2002, S. 234-245, hier S. 245. Zu Kafkas »Bericht für eine Akademie« als Assimilationsrichtlinie vgl. Schüttpelz, Erhard: »Eine Berichtigung für eine Akademie«. In: Kafkas Institutionen, hg. v. Arne Höcker/Oliver Simons, Bielefeld 2007, S. 91-118. 32 Vgl. Al-e Ahmad, Jalal: Plagued by the West (Gharbzadegi), S. 94 f. 33 Hedayat, Sadeq: Die Schaufensterpuppe hinter dem Vorhang, S. 149. 331

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Die wartende Verlobte ist nur eine der zahlreichen weiblichen Figuren, von denen Hedayats Texte erzählen. Und ähnlich wie in Arusak-e posht-e pardeh, wo die Verlobte um die Gunst Mehrdads mit der stummen Puppe konkurriert, konkurrieren auch in diesen Erzählungen Frauen miteinander: In Abji Khanom (Die Schwester) etwa sind es zwei Schwestern, von denen die Ältere sich aus Gram über die geglückte Hochzeit der Jüngeren das Leben nimmt. In Zani ke mardash ra gom kard (Die Frau, die ihren Mann verlor) macht sich eine verlassene Ehefrau auf die Suche nach dem Ehemann, den sie schließlich bei einer neuen Ehefrau findet.34 Diese Erzählungen schreiben vom häuslichen Unglück, das zuallererst Nebenfrauen, unverheiratet gebliebene Schwestern und Ehefrauen, die vergeblich versuchen, schwanger zu werden, betrifft: »Es gibt im Leben Wunden, die wie die Lepra, langsam, in der Einsamkeit an der Seele zehren. Diese Qualen kann man niemandem mitteilen.« (7) Diese häufig zitierten Anfangssätze von Der Kauz treffen zunächst auf das Unglück dieser Frauen zu. Entgegen der Feststellung von der unmöglichen Mitteilbarkeit dieser Qualen, hat Hedayat sie – den Hass, die Eifersucht und den Neid – in den frühen Erzählungen in allen Schattierungen und Mischverhältnissen beschrieben. Ich lese Der Kauz vor dem Hintergrund dieser frühen Berichte alten Leids. Ausgehend von der Beobachtung, dass der zweite Teil der Erzählung alle Motive des ersten aufnimmt, variiert und neu zusammen setzt, stellt sich die Frage nach Motiven, die in einer solchen Übersetzung und Fortentwicklung nicht aufgehen. Es gibt im zweiten Teil nur eine Figur, die neu hinzu kommt, die dem Dreieck, das aus einem Mädchen, einem Greis und einem voyeuristischen Erzähler besteht, hinzugefügt wird. Ich organisiere meine Lektüre um diesen Neuankömmling: die Amme. »Nun aber zu meinem Leben im Haus: Mir sind meine Amme und eine Dirne von Weib geblieben. Nandjun, Mütterchen, ist auch ihre Amme. Meine Frau und ich sind nämlich nicht nur nahe Verwandte, Nandjun hat uns beide gestillt.

34 Vgl. hierzu folgende Übersetzungen aus dem Persischen: Hedayat, Sadeq: »Die Frau, die ihren Mann verlor«. In: ders.: Die Reise zum Imam. Kurzgeschichten und Satiren, aus dem Persischen von Dorothea Krawulsky in Zusammenarbeit mit Farideh Mohammadian, Berlin 1997, S. 75-104; Hedayat, Sadeq: »The Spinster«. In: Ehsan Yarshater (Hg.): Sadeq Hedayat: An Anthology, Boulder 1979, S. 137-144. In der englischen Übersetzung von »Abji Khanom« geht die Schwester (abji als Anrede der Schwester durch die übrigen Geschwister, khanom als Anrede der Frau und in diesem Fall als Anrede der älteren Schwester durch die jüngeren Geschwister) verloren. Die englische Übersetzung liefert aber insofern eine soziale Deutung der älteren Schwester, als diese ehelos gedacht wird. 332

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Eigentlich war die Mutter meiner Frau auch meine Mutter. Meine wahren Eltern habe ich nie gesehen. […] Über meine Eltern habe ich unterschiedliche Geschichten gehört; eine davon hat mir Nandjun erzählt. Ich denke, ihre Version müßte am ehesten der Wahrheit entsprechen.« (62 f.)

Alles, was der Leser über die Herkunft des Erzählers erfährt, wird durch die Amme vermittelt. Die Amme, »Vertraute« eines buf-e kur und »Zeugin« (74) seines körperlichen und geistigen Verfalls, motiviert die Vorstellungen und Fantasien des Erzählers. Ihre Geschichten und seine Vorstellungen gehen ineinander über: »Ich kann mir Bugam Dasi, meine Mutter, gut vorstellen […]; ich kann mir vorstellen, wie […]. Ich vermute, daß […].« (64 f.) Die Amme erzählt ihrem bettlägerigen Patienten zunächst Ammenmärchen (vgl. 76), und versorgt ihn erst allmählich mit Neuigkeiten über seine Ehefrau. Es scheint, als würden erst ihre Beobachtungen die Tagträume des Erzählers beflügeln. Immer dann, wenn seine fantastischen Vorstellungen zu versiegen drohen, werden ihre Einwürfe eingeschaltet: »Meine Amme hat mir etwas Fürchterliches erzählt. Sie schwor beim Propheten und bei allen Heiligen, sie habe beobachtet, wie der alte Trödler nachts in das Zimmer meiner Frau gegangen sei, und sie, meine Amme, habe selbst durch die Tür gehört, wie die Dirne zu dem Alten gesagt habe: ›Leg den Schal ab!‹ Das ist unvorstellbar!« (123) Nicht nur an dieser Stelle stehen der Ausruf über die Unvorstellbarkeit der Vorgänge im Haus und die Gerüchte der Amme am Anfang erotischer Abschweifungen: »Aber Nandjun hatte nicht nur mir von dem Vorfall berichtet, sondern auch andern. Mit einem dreckigen Bettler! Meine Amme erzählte auch, daß das Bett meiner Frau voller Läuse sei. Sie habe ins Bad gehen müssen. Wie mag wohl ihr Schatten auf der verschwitzten Wand des Badehauses aussehen?« (125) Die Amme erzählt nicht allein von einzelnen Gerüchten und Neuigkeiten über die untreue Ehefrau, sondern überwiegend von ihrer eigenen Verwandtschaft und den Belangen ihres eigenen Hauses: »Obwohl Nandjun wußte, daß der Rauch der Wasserpfeife für mich schädlich war, beharrte sie darauf, in meinem Zimmer zu rauchen. […] Während sie rauchte, erzählte sie von ihrer Familie, von ihrer Schwiegertochter und von ihrem Sohn. Sie erzählte so ausführlich und detailliert, daß ich zum Komplizen ihres hemmungslosen Vergnügens wurde. Es war absurd: Ohne jeglichen Grund mußte ich oft an die Verwandtschaft meiner Amme denken. […] [Die Amme] nutzte […] meine Krankheit aus, um mir ihr Herz auszuschütten. Sie erzählte von ihren Familiensorgen, von ihren Vergnügungen und Zwistigkeiten und offenbarte mir ihre einfache, boshafte, armselig-erbärmliche Seele. Von Gram erfüllt, redete sie über ihre Schwiegertochter, als sei sie ihre

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Nebenbuhlerin, als habe sie ihren Sohn um einen Teil seiner Liebe und sinnlichen Begierden gebracht.« (93-100)

Es gehört zu den wichtigsten Unterschieden zu den übrigen Erzählungen, dass in Der Kauz die »Familiensorgen«, »Vergnügungen« und »Zwistigkeiten« der Amme nicht wiedergegeben werden. Sie fristen ein erzählerisch virtuelles Dasein und existieren allein in Form indirekter Anspielungen. Während sich Hedayat in den übrigen Erzählungen in der kunstvollen Wiedergabe idiomatischer Sprechweisen übte und möglichst viele Zungenschläge zu sammeln schien, entscheidet er sich in Der Kauz für einen distanzierten Blick. Die Verschiebung von der personalen Erzählperspektive der frühen Erzählungen hin zu der für Hedayat ungewöhnlichen Ich-Perspektive lässt sich vielleicht mit der Distanzierung von der Idiomatik erklären. Obwohl die Sorgen der Amme nicht direkt wiedergegeben werden und sie dadurch als literarische Figur ausgehöhlt wird, sind es ihre Anweisungen, welche die Blickrichtung des Erzählers kontrollieren und die Beobachterposition vorgeben: »Nandjun war gekommen, um das Zimmer zu fegen. Das Frühstück hatte sie mir in das Zimmer oben hingestellt. Ich ging hinauf, setzte mich ans Fenster. Von dort aus konnte man den alten Trödler nicht sehen. Aber aus dem linken Flügel erblickte ich den Schlächter.« (109) Am Ende ist selbst die scheinbar unbeabsichtigte Erdolchung der untreuen Ehefrau durch den Erzähler auf einen ihrer »gelegentlich[en]« Winke zurückzuführen: »Meine Amme brachte mir Eselsmilch, Honig und Fladenbrot; auch ein Messer mit Knochengriff hatte sie mir auf das Tablett gelegt. Sie sagte, sie habe es im Gerümpel des Trödlers entdeckt und gekauft. Dann zog sie die Augenbrauen hoch und sagte: ›So etwas kann man gelegentlich brauchen.‹« (138) Abschließend lassen sich folgende Elemente angeben, deren Zusammenspiel es dem Autor erst ermöglicht, seinen weltliterarischen Anspruch zu formulieren: Noch vor aller literarischen Produktion muss dieser über eine Modernisierungstheorie verfügen, die ihm die Artikulation von Rückständigkeit erlaubt. Die Feststellung literarischer Rückständigkeit führt einerseits dazu, einzelne fremde Texte zu übersetzen und diese willkürliche Auswahl dann zu Meisterwerken zu erklären, und andererseits zur Bereinigung oder Umcodierung der eigenen Literaturgeschichte. In diesem Zusammenhang werden häufig verschiedene Literarisierungsverfahren ausgetauscht. Auf der Ebene der einzelnen Texte besteht die stilistische Umschrift regionaler Literatur in Weltliteratur darin, idiomatische – und damit schwer übersetzbare – Sprechweisen zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund ist der weltliterarische Erfolg von Hedayats Der Kauz damit zu erklären, dass er durch die Verschiebung der 334

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Erzählperspektive vom personalen Stil zur Ich-Perspektive die Idiomatik seiner Figuren lediglich indirekt wiedergibt. Erst diese stilistische Verschiebung bewirkt eine Distanzierung, die Der Kauz übersetzbar macht, ohne dass die Erzählung die Berührung zu Hedayats übrigen idiomatischen Erzählungen verliert. Die inhaltliche Umschrift regionaler Literatur in Weltliteratur besteht im Fall von Der Kauz in der Doppelung aller narrativen Bestandteile. Das betrifft zunächst einzelne Figuren und materielle Angaben: »›Twos‹ appear virtually everywhere in Buf-e kur: two parts, two brothers of confused identities, two women, two flies, two coins, two months.«35 Das betrifft aber auch die Doppelung der Rede als üble Nachrede, was die Figur der Amme verdeutlicht. Das betrifft schließlich den Umfang der Erzählung, wenn der zweite Teil den ersten verzweifacht. Hedayat löst seinen weltliterarischen Anspruch im Verfahren der Doppelung ein, das sich durch alle narrativen Ebenen von Der Kauz zieht und sich bis hin zu den einzelnen literarischen und wissenschaftlichen Übungen Hedayats verfolgen lässt: französisch und persisch, neupersisch und altpersisch (als Neuauflage von Ferdosis Übungen in Arabisch und Persisch), schließlich literarische Meisterwerke und mündliche Folklore.

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35 Yavari, Houra: »The Blind Owl. Present in the past or the story of a dream«. In: Sadeq Hedayat. His work and his wondrous world, hg. v. Homa Katouzian, London/New York 2008, S. 44-58, hier S. 51. 335

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W E L T L I T E R A T U R I N D E R P E R S P EK T I V E E I N E R L O N G U E D U R É E I: D I E F Ü N F Z E I T S C H I C H T E N D E R G L O B A L I S I ER U N G ERHARD SCHÜTTPELZ Der Begriff der »Weltliteratur« ist um 1800 wie in der Gegenwart von der Absicht geprägt, eine Auswahl von Texten, Traditionen und Gattungen aus den schriftlichen Überlieferungen zu begründen. Diese Fassung des Begriffs führt in ihrer Durchführung zu unauflösbaren Schwierigkeiten, denn ein Begriff, der nur oder vor allem die Kanonisierung als Ausgangspunkt und Zielpunkt aufweist, sollte eher Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein als deren Grundlage. Wie gewinnt man einen Begriff der »Weltliteratur«, der sich nicht in der Aufgabe einer Kanonisierung von Texten oder Textgruppen erschöpft oder – sobald es um seine Historisierung geht – im Kreise der eigenen Begriffsgeschichte dreht? Das ist die Frage, die Thomas Geider und mich seit einigen Jahren umtreibt, und wir sind nach und nach zu der Auffassung gelangt, dass ein angemessener Begriff der Weltliteratur nur durch eine neue Synthese aus den Grundbestandteilen entstehen kann, also aus der Frage nach einer (weltweiten) »Welt« und ihrer »Literatur« und ihrer Zusammensetzung zur »Weltliteratur«. Fernand Braudel stand bei seiner historischen Erforschung der »Weltwirtschaft« vor dem Problem der Doppeldeutigkeit eines analogen »Welt«-Kompositums: »Weltwirtschaft« – das können die Wirtschaftsaktivitäten der gesamten Welt sein, die »weltweite Wirtschaft« oder »économie mondiale«. »Weltwirtschaft« lässt sich aber auch verstehen als jener Teil-Ausschnitt der Wirtschaftsaktivitäten, der eine »weltumspannende Wirtschaft« und insbesondere den zuerst interkontinentalen und später weltweiten Handel hervorgebracht und hierdurch die weltweite Produktion und Konsumtion umgestaltet hat.1 Diese »Weltwirtschaft« nannte Braudel »économie monde«, und seine Globalisierungsgeschichte konzentrierte sich darauf, die mühevolle Herausbildung der »weltumspannenden Wirtschaft« zwischen 1500 und 1800 darzustellen und hierzu – und zwar notwendig selektiv – die verschiedenen 1

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Wirtschaftsformen, aber auch die politischen, sozialen, militärischen und kulturellen Entwicklungen der gesamten Welt heranzuziehen, die in eine weltweite Distribution, Produktion und Konsumtion Eingang gefunden haben. Mir scheint es, als könne man den Begriff der »Weltliteratur« ganz parallel zum braudel'schen Unternehmen aufbauen, also nicht durch eine Selektion von Texten und deren nur historisch nachvollziehbare Begründung, sondern durch eine doppelt gestufte Selektivität des Begriffs, die jeder Textauswahl als Filter vorgeschaltet bleibt: Wie ist eine »weltumspannende Literatur« entstanden, und wie haben die verschiedenen Literaturformen der gesamten Welt an der Herausbildung dieser »weltumspannenden Literatur« mitgewirkt? Um es mit Braudels terminologischer Klärung der »Weltwirtschaft« zu sagen: »Weltliteratur« ist im Folgenden keine »littérature mondiale«, sondern eine »littérature monde«. Und die Geschichte der Weltliteratur bleibt ein Teilausschnitt der Weltgeschichte, aber nur in dieser Hinsicht. Die Herstellung dieser Hinsicht bleibt eine Aufgabe der Historiker und der Literaturwissenschaft, auch wenn es niemanden in den Nationalphilologien und in der Komparatistik gibt, der sich für sie zuständig erklärt. Das entsprechende Forschungsprogramm kann ich an dieser Stelle nur skizzieren. Trotzdem glaube ich, dass man auch durch einen kurzen Abriss einen Einblick gewinnen kann, wie ein solcher universalhistorischer Begriff der »Weltliteratur« aussehen könnte. Dementsprechend werde ich die Grundmuster des Begriffs vorstellen: Was ist jeweils eine »Welt« oder ein weltweiter Zusammenhang gewesen? Was ist in diesem Zusammenhang die jeweilige »Literatur«? Und durch welche Formen von »Migration« zeichnet sich die Zusammensetzung zur »Weltliteratur« jeweils aus? Es handelt sich um eine universalhistorische Fragestellung, und daher kann sie auch nur historisch beantwortet werden, was zugleich bedeutet, dass es aufgrund des gegenwärtigen Forschungsstandes große Lücken der Darstellung geben kann. Es beunruhigt mich daher auch nicht, dass die Antwort auf die drei großen Fragen – nach der »Welt«, »Literatur« und »Weltliteratur« – historisch ganz verschieden ausfallen wird, je nachdem, mit welchem Zeitmaßstab man es zu tun hat – zehntausend Jahre, fünfhundert Jahre, einhundert Jahre oder zwanzig Jahre. Die Einheit des universalhistorischen Begriffs der »Weltliteratur« wird in den drei gestellten Fragen liegen – also in der einheitlichen Fragestellung – nicht in den Antworten, denn diese Antworten müssen mit der ganzen Heterogenität der Welt zurechtkommen. Zuerst zur »Welt«, anders gesagt, zu den Zeitschichten, Rhythmen und Räumen der weltweiten Mobilisierung von Personen, Zeichen und Dingen, auch »Globalisierung« genannt: 340

FÜNF ZEITSCHICHTEN DER GLOBALISIERUNG

1. Die Erste Globalisierung war die weltweite Ausbreitung der Menschheit, und sie erfolgte, soweit der wissenschaftliche Konsens heute, in mehreren Schüben »Out of Africa«, aus Ostafrika. Im engeren Sinne geht es daher um das »Out of Africa« des Homo sapiens und Homo sapiens sapiens, von Afrika aus nach Asien und Eurasien, über Indonesien bis Australien und auf alle melanesischen und polynesischen Inseln, und über die sibirische Landbrücke nach Amerika und Südamerika. Diese Ausbreitung mit all ihren Migrationen war die Erste Globalisierung, und daher wird man fragen wollen, was die Menschheit schon gemeinsam hatte, als sie aus Afrika aufbrach, um sich weltweit zu zerstreuen. Sprache, Werkzeuggebrauch, Verwandtschaftsstrukturen, Kunst, Totenbestattung und alle elementaren Fertigkeiten der Wildbeuterwelt – diese kulturellen Errungenschaften und die Arbitrarität ihrer sozialen Gestaltung waren jedenfalls schon im Gepäck und die Voraussetzungen dieser Ersten Globalisierung und weltweiten Migration.2 Die Kulturgeschichte der Welt kommt daher seit der wissenschaftlichen Bestätigung der ersten »Out of Africa«-Hypothesen um einen initialen »Afrozentrismus« der Betrachtung nicht mehr aus, der in der Geschichtsschreibung als eine archäologische Überraschung entstanden ist, und dessen genauere Fassung vermutlich noch mehrere Jahrzehnte Diskussion verlangt. 2. Nachdem sich die Menschheit weltweit ausgebreitet hatte und dabei ganz verschiedene Kollektive mit Tieren, Pflanzen und Krankheitserregern eingegangen war – Kollektive, die sich historisch fortlaufend durch die Umwelt einerseits, und die menschlichen Bemühungen andererseits änderten, die verschiedenen Reiche der organischen Wesen: Keime, Krankheitserreger, Pilze, Pflanzen, Tiere, zu kontrollieren und zu sozialisieren –, entstehen nach und nach aus den WildbeuterVoraussetzungen kleinere und größere Verflechtungen, ökonomische, religiöse, politische und militärische Verflechtungen auf der Basis landwirtschaftlicher Sesshaftigkeit,3 allesamt vorübergehend und mit ständigen Überlappungen. Diese Verflechtungen sind keine »Kulturkreise«, weil sie durch keine politischen Grenzen abgeschlossen werden konnten, sie sind durch eine unaufhörliche Widersprüchlichkeit verschiedener Hierarchien und Legitimationsformen gekennzeichnet, und sie gehen in der Sichtweise einer »longue durée« durch Zyklen des Aufstiegs und Verfalls, der Verdichtung und Verlagerung oder einer Zerstreuung durch ökologische Erschöpfung, die aber durch die »brownsche Bewegung« des Mikro-Austauschs, durch das Gewimmel der vielen kleinen 2 3

Antweiler, Christoph: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen, Darmstadt 2007. Diamond, Jared: Guns, Germs and Steel. The Fate of Human Societies, New York 1997. 341

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alltäglichen Tauschprozesse zum Teil aufgefangen werden konnte.4 Das Vokabular für diese größeren regionalen Verflechtungen ist unklar und muss auch unklar bleiben, denn je nachdem, wie man den Akzent setzt, nennt man sie »Reiche« – und setzt den Akzent damit auf die politische Ordnung und Zentralisierung, die aber gar nicht entscheidend sein musste und oft auch gar nicht sein konnte, – man nennt sie »Zivilisationen« – zielt also auf die kulturelle oder religiöse Prägung, vielleicht sogar auf einen stilistischen Zusammenhalt, der sich bei genauerem Hinsehen meist in »Familienähnlichkeiten« auflöst –, man nennt sie »Handelsnetze«, und damit kommt man den Bedingungen des Austauschs oft am nächsten, erfasst aber die territoriale Basis des Zusammenlebens nicht mehr mit, oder man nennt sie »Teilweltsysteme«, wenn man sie als Vorläufer des späteren »Weltsystems« im Sinne Wallersteins oder Andre Gunder Franks betrachtet.5 Keine dieser Benennungen ist falsch, aber die Verlegenheit der Benennung bleibt unausweichlich. Ich selber würde für die verschiedenen »Teilweltsysteme«, egal wie groß oder klein – aber auch das verweist unweigerlich auf eine bestimmte Vorgeschichte – das Wort der »Ökumene« bevorzugen,6 das einmal ein solches Teilsystem bezeichnete, nämlich die Welt des hellenistischen Einzugsbereichs. Wichtiger als die Benennung der »Ökumene« ist die Grundvorstellung einer ständigen Überlappung und »Vielschichtigkeit« verschiedener Formen und Ausbreitungen von »Ökumene« (vgl. Abbildung 1 auf S. 356). Wie bereits betont, geht es im betreffenden Zeitraum – also von den Anfängen bis um 1500 – nicht um »Kulturkreise«, sondern um verschiedene Verdichtungen des Austauschs, und die Übergänge geschahen ganz konkret durch die Routen, auf denen die Mobilität von Personen, Zeichen und Dingen stattfand. Migration ist auf diesen Routen ein Normalfall gewesen, und sie geschah meist innerhalb der sich überlappenden Routen und Zentren der »Ökumenen«, war aber dabei auf keinen Fall gesicherter oder weniger »fremd«, weniger befremdend als in der Moderne, weil sie auf die prinzipiell immer unsicheren Transportwege und die brüchige Sozialisation in einer gemeinsamen Ökumene angewiesen war – 4 5 6

Horden, Peregrine/Purcell, Nicholas: The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, Oxford 2000. Frank, Andre Gunder/Gills, B.K. (Hg.): The World System: Five Hundred Years or Five Thousand?, London 1993. Hier folge ich William H. McNeill, der dieses Wort – gegen die Bezeichnungen als »Weltsystem« – ins Spiel gebracht hat, allerdings nur für den weitesten Zusammenhang der gesamten eurasiatischen Erstreckung und »Ökumene«. Vgl. McNeill/William H.: The Changing Shape of World History (1994), www.hartford-hwp.com/archives/10/041.html, 27.11.2007. – Ich bevorzuge die Rede von »Ökumenen« (im Plural). 342

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etwa durch gemeinsame Transaktionsformen oder Tauschmittel (wie auf der Seidenstraße), durch eine gemeinsame Sprache und insbesondere eine gemeinsame Sprachausbildung7 (wie im Hellenismus oder in sprachlichen Verflechtungen der Latinitas oder Arrabiya), durch eine gemeinsame Verwaltungsausbildung (wie im chinesischen Reich), eine gemeinsame Religion oder eine gemeinsame inter-religiöse »Befriedung« der Handelswege,8 aber eventuell auch durch eine gemeinsame militärische Ausbildung (wie im römischen Reich) oder eine vorausgegangene militärisch-terroristische »Erschließung«, die neue Routen des Austauschs hinterlassen hatte (etwa durch die eurasiatischen Nomadenexpansionen, die christlichen Kreuzzüge oder die arabische Unterwerfung des afrikanischen »Sudan«). 3. Eine angemessene Darstellung der nächsten Zeitschicht oder räumlichen Anordnung der »Globalisierung« wäre ebenso vielschichtig, obwohl es sich nur um 300 bis 400 Jahre handelt – es handelt sich um die »europäische Globalisierung« seit dem 15. Jahrhundert. Sie ist erst hinterrücks aus den früheren Ökumenen oder Teilweltsystemen hervorgetreten, sie ist zuerst auf dem Rücken anderer Teilweltsysteme entstanden und gewachsen, insbesondere der asiatischen – und auch zwischen 1500 und 1750 war sie den asiatischen Reichen und Verflechtungen erst einmal jahrhundertelang eher unterlegen als überlegen. Auch die Formen des Austauschs der frühen europäischen Globalisierung überschnitten sich – zumindest in den Welten Afrikas und Asiens – mit durchaus vergleichbaren interkontinentalen Verflechtungen, Erwartungen und Wünschen.9 Aber die europäische Globalisierung führte durch die

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Zur Sprachgeschichte der weltweiten Ausbreitung der Menschheit und ihrer post-agrikulturellen Verflechtungen vgl. die spekulative »minimalistische« Rekonstruktion durch Renfrew, Colin: »World Languages and human dispersals: a minimalist view«. In: Transition to Modernity. Essays on power, wealth and belief, hg. v. John A. Hall/I.C. Jarvie, Cambridge 1992, S. 11-68. – Zur Entwicklung hegemonialer Schriftsprachen innerhalb der verschiedenen weltweiten »Ökumenen« und »Reiche« vgl. Ostler, Nicholas: Empires of the Word. A Language History of the World, London 2005. – Zu den linguistischen Konsequenzen der Sprachausbildung in verschiedenen Ökumenen vgl. Versteegh, Kees: »Latinitas, Hellenismos, Arabiyya«. In: Historiographia Linguistica 13 (1986), S. 425-448. Diesen Punkt betont McNeill/William H.: The Changing Shape of World History. Vgl. den Versuch einer Zusammenfassung dieser Gemeinsamkeiten durch Bayly, Christopher A.: »›Archaic‹ and ›modern‹ Globalization in the Eurasian and African Arena, c. 1750-1850«. In: Globalization in World History, hg. v. Anthony G. Hopkins, London 2002, S. 47-73. 343

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Verknüpfung der zuerst unterworfenen und bereisten Küstenregionen, insbesondere durch den weltweiten Viereckshandel zwischen Europa und Asien, Amerika und Afrika, und insbesondere durch eine einmalige epidemiologische Überlegenheit der Europäer auf dem amerikanischen Kontinent10 – zu einer zunehmenden Verlagerung der Machtkonzentration nach Europa und in die Entstehung neuer Formen der Machtkonzentration, politischer Imperien, militärischer Aufrüstung und kapitalistischer Spekulation. Zentral für diese Machtverlagerung ist innerhalb Europas der von Fernand Braudel diagnostizierte Wechsel vom mediterranen zum nordatlantischen Weltsystem.11 Diesen Wechsel erwähne ich auch deshalb, weil er – so scheint es mir zumindest – große Folgen für den modernen Literaturbegriff, aber auch für die späteren Formen der Migration haben sollte. 4. Der Höhepunkt der territorialen Landnahmen, die aus der weltweiten »europäischen Globalisierung« mit ihren militärischen, ideologischen, ökonomischen und politischen Verflechtungen hervorgingen, war die Epoche des Imperialismus, insbesondere zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg.12 Es war, wie auch die heutige Forschung herausstellt, die Periode der – proportional gesehen – stärksten Mobilität von Personen (von interkontinentalen Migrationen), von Dingen (oder Waren und Artefakten)13 und, wie mir scheint, auch die Periode, in der die nachhaltigste symbolische – oder kulturelle – Mobilität der Moderne stattgefunden hat. Die interkontinentalen Migrationsströme geschahen vor allem, aber nicht nur im Rahmen der neuen Imperien, und dabei dehnten sie auch ältere, nicht-europäische Teilweltsysteme auf neue Weise aus, insbesondere asiatische und auch ostafrikanische;14 und die Verbreitung von Dingen und Techniken führte zu Formen der »Kreolisierung«, die in abgewandelter Form auch für unsere Gegenwart prägend geblieben sind. So 10 Crosby, Alfred W.: Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900-1900, Cambridge 1986; Diamond, Jared: Guns, Germs and Steel. The Fate of Human Societies. 11 Braudel, Fernand: Le temps du monde. 12 Zu seinen Voraussetzungen und Folgen vgl. Osterhammel, Jürgen: »Europamodelle und imperiale Kontexte«. In: Journal of Modern European History 2 (2004), S. 157-181; Bayly, Christopher A.: The Birth of the Modern World, 1780-1914. Global Connections and Comparisons, Oxford 2004. 13 Vgl. Osterhammel, Jürgen/Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung, München 2003. 14 Zur weltweiten Migrationsgeschichte des zweiten Jahrtausends vgl. Hoerder, Dirk: Cultures in Contact: World Migration in the Second Millenium, Durham 2002. 344

FÜNF ZEITSCHICHTEN DER GLOBALISIERUNG

geht etwa die weltweite Populärmusik von heute auf die Periode vor dem Ersten Weltkrieg, auf eine afrikanisch-amerikanisch-europäische Interferenz zurück, deren Folgen wir immer noch austragen, und die sowohl der ihr vorausliegenden europäischen als auch der afrikanischen Musik unverständlich gewesen wäre, und erst in mehreren Schritten weltweit verbreitet werden konnte. Und nicht nur die heutige Populärmusik, sondern auch die heutige Kunst mitsamt ihrem Kunstbegriff ist ein Globalisierungseffekt, und zwar insbesondere der imperialistischen Periode. 5. Von hier aus ist es nur ein Katzensprung in die Gegenwart, also in den gegenwärtigen »Globalisierungsschub«, der dem imperialistischen »Globalisierungsschub« ohne weiteres Paroli bieten kann, auch weil er bestimmte Eigenarten der älteren Weltsysteme wieder aufgreift und sie umgestaltet, insbesondere den eurasiatischen Gürtel von sich überlappenden Zentrierungen, eine Verflechtung der pazifischen Ränder, die transatlantischen Achsen und Korridore, eine Rückkehr der ältesten Frage chinesischer Überlegenheit mit ihren ostasiatischen Varianten,15 die angelsächsischen Post-Siedler-Kolonien und ihre weiterhin bestehende Hegemonie für die kulturelle Homogenisierung von Globalisierungseliten, usw. – Ich lasse diese uns geläufigen Aspekte so stehen – aber nicht ohne an die Warnung der Historiker zu erinnern, dass die gegenwärtige Beschleunigung der weltweiten Mobilität von Personen, Dingen und Medien auch rückgängig gemacht werden kann, was bereits einmal durch die Entflechtungen in der Periode zwischen den Weltkriegen in großem Maßstab geschehen ist,16 und durch neue Formen des Protektionismus und der ökologischen Erschöpfung jederzeit geschehen kann, aber auch durch die uns geläufigen Versuche geschieht, die weltweite Migration von Personen juristisch, diplomatisch und gewaltsam aufzuhalten. Es geht, um dies zu verallgemeinern, in keiner der hier kurz skizzierten Zeitschichten um irreversible Prozesse, bestehende Verflechtungen und Verdichtungen konnten in allen fünf »Zeitschichten« der Globalisierung entflochten oder sogar ganz gekappt werden, und können es auch heute. Eine weitere Warnung ist angebracht, und zwar was die Heuristik angeht. Die fünf »Zeitschichten« stellen keine evolutionistischen »Stufen« oder »Schritte« dar, sondern einen jeweils anders gelagerten Prozess, durch den jeweils neue Formen der weltweiten Mobilität geschaffen 15 Diese Frage wird in der Universalgeschichte mittlerweile neu aufgeworfen, aber mit eher provisorischen Überlegungen, vgl. etwa Hobson, John M.: The Eastern Origins of Western Civilisation, Cambridge 2004. – Eine Revision, die den Maßstäben einer braudelschen Geschichtsschreibung Genüge tun könnte, steht noch aus. 16 Vgl. Osterhammel, Jürgen/Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. 345

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und durchgesetzt wurden. Der erste Prozess – die weltweite Ausbreitung der Menschheit – ist noch nicht abgeschlossen, als bereits die Verflechtung von Zivilisationen oder »Reichen« in Gang ist, er kommt – wenn man ihn rein geographisch betrachtet – sogar erst mit den internationalen Antarktis-Stationen zum (vorläufigen) Abschluss. Die weltweite Konkurrenz der früheren Teilweltsysteme (insbesondere der europäischen, indischen und chinesischen) wird erst im 18. und 19. Jahrhundert endgültig auf »imperialistische« Weise entschieden, und diese Entscheidung bricht dann innerhalb von wenigen Generationen, also eigentlich im selben historischen Atemzug wieder auseinander. Diese ineinander verwickelten Prozesse lassen sich daher nirgendwo zu »Stufen« hochrechnen, gleichwohl hat jeder der fünf Prozesse weltweite Folgen, und zwar damals und heute. Mir geht es um die Betrachtung der irreduziblen »weltumspannenden« Effekte dieser fünf »Zeitschichten«, die in einen zukünftigen Begriff der »Weltliteratur«, der jeweiligen »Welt« und ihrer »Literatur« aufgenommen werden sollten. Einige dieser Effekte scheinen mir Folgende: Die Bewegung »Out of Africa« und erste weltweite Ausbreitung der Menschheit stellt zumindest die eine Frage, was die Menschheit gemeinsam hatte, als sie aus Afrika aufbrach, und was aus diesem gemeinsamen Erbe geworden ist. Dieses gemeinsame Erbe lässt sich keineswegs umstandslos mit einem biologischen Erbe der Menschheit verrechnen, denn aufgrund der langen Zeit, die der Migration »Out of Africa« vorausgeht, handelt es sich um kulturelle Erfindungen und Errungenschaften, die – wie auch immer dies zukünftige Prähistoriker, Linguisten und Archäologen rekonstruieren werden – einer frühen »Ökumene« der Menschheit zugeordnet werden können. Was ist das literarische Erbe dieser Zeit? Gibt es überhaupt ein gemeinsames Erbe der ersten Ausbreitung, oder nur eines von späteren Konvergenzen? Wenn man diese Frage unentschieden lässt und vermutlich auch unentschieden lassen muss, also die Frage von gemeinsamer Herkunft oder späterer Konvergenz bewusst offen lässt, bleibt dennoch ein unausweichlicher gemeinsamer Fokus für Spekulationen übrig: Es geht um die Wildbeuter dieser Welt, und es geht um jene Zeit, in der sich die Menschen als Wildbeuter weltweit ausgebreitet haben.17 Was das

17 Vgl. hier Guenther, Mathias: »From Totemism to Shamanism: HunterGatherer Contributions to World Mythology and Spirituality«. In: The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers, hg. v. Richard B. Lee/Richard Daly, Cambridge 1999, S. 426-433. – Thomas Geider weist mich auf die Pionierforschungen Wim van Binsbergens hin, der neuerdings 346

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gemeinsame literarische Erbe der Wildbeuter-Welten angeht, kann man ebenso empirisch wie spekulativ fragen, »was davon« etwa im »MotifIndex« der Folkloristen angekommen ist, also in einem Buch, in einem Nachschlagewerk, aber auch in der durch dieses Nachschlagewerk erfassten Literatur: in Oralliteratur und in jeder Literatur. Es handelt sich um »Motive« oder um »Plot-Elemente«, die man weltweit nachweisen kann, und es handelt sich vor allem um die ersten Seiten des »MotifIndex«,18 die unter der Rubrik »Magie« verhandelt werden. Wenn man diese Fragestellung anders fasst, könnte man auch sagen, es handelt sich um das gemeinsame Erbe der langen Wildbeuter-Vergangenheit, anders gesagt: der Wildbeuter-Gegenwart, gegenüber der unsere Zeit nur ein Prozent oder ein Promille darstellt. Das wäre ein solides – und zwar ein kulturelles und weltumspannendes – Fundament, und es würde in alles hineinragen, was wir • an Magie und Metamorphosen, aber auch • an Formulierungen der Ätiologie und Kosmogonie, und • in der Einheit von Initiation und Reise-Erzählungen – von »Liminalität« und »Passagen« – quer zu allen Sprachen und literarischen Überlieferungen auf Anhieb verstehen und dabei kulturell notwendig missverstehen,19 ob es sich um Ovids Metamorphosen, um indianische, australische und südafrikanische Überlieferungen oder um Harry Potters Hexereien und Joseph Campbells mythologische Drehbuch-Vorlagen für Hollywood20 handelt. Auf jeden Fall können wir auch die neueste weltweit rezipierte Literatur – siehe Harry Potter – ohne dieses Erbe weder verstehen noch interpretieren, und daher kann man die Frage nach einer literarischen »Out of Africa«-Grundschicht, so

auf teilweise spekulative Weise ehrgeizige Synthesen für die »afrozentrischen« Voraussetzungen der (folkloristischen) Weltliteratur aufstellt. 18 Aarne, Antti/Thompson, Stith: Motif-Index of folk-literature: A classification of narrative elements in folktales, ballads, myths, fables, mediaeval romances, exempla, fabliaux, jest-books and local legends, Helsinki 19321934. 19 Dieses Verhältnis zwischen Verstehen auf Anhieb und notwendigem Missverständnis, und die daraus resultierende spontane Erfindungskraft der universalen Überlieferung wurde niemals besser auf den Punkt gebracht als durch Bohannan, Laura: »Miching Mallecho, that means Witchcraft (1956)«. In: Magic, Witchcraft and Curing, hg. v. John Middleton, New York 1967, S. 43-54. 20 Vogler, Christopher: The Writer's Journey: Mythic Structure for Writers, Studio City 1998. 347

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spekulativ sie sich vermutlich noch lange ausnehmen wird, weder vermeiden noch durch eine biologische Universalisierung ersetzen. Das Erbe der früheren und späteren »Zivilisationen«, »Reiche«, »Ökumenen« und »Teilweltsysteme« – alle diese Ausdrücke sind, wie bereits vermerkt, mit Vorsicht zu genießen – ist gegenüber der Ersten Globalisierungsschicht einerseits heterogener, andererseits philologisch einfacher zu erarbeiten: Es handelt sich in den meisten, aber keineswegs in allen betreffenden Verflechtungen auch um eine wechselseitige Mobilität von Schriftstücken, von Handelsrouten und von Personen, die schriftlich sozialisiert oder auf eine entsprechende schriftliche Ökumene angewiesen waren. »Ökumene« und »Welt« waren fluktuierende Schätzwerte: die jeweils größte gemeinsam erfahrbare, bereisbare und vom Hörensagen bekannte Welt war immer eine Mischung aus verschiedenen Garantien und Legitimationen eines gemeinsamen Zusammenlebens. Die Form dieser vielschichtigen Ökumenen lässt sich daher nicht weltweit vereinfachen, trotzdem kann man für die verschiedensten dieser »Reiche«, Handelsnetze und »Zivilisationen« festhalten: Schriftlichkeit, das Leben in Städten und zwischen Städten und Migrationsbereitschaft bilden in diesen »Teilweltsystemen« zwischen 500 vor und 1500 nach unserer Zeitrechnung eine Einheit. Man sollte daher nicht davon ausgehen, dass Migration und Weltliteratur erst heute oder seit dem 19. Jahrhundert zusammenkommen, sondern eher von diesen früheren »Teilweltsystemen« ausgehen, wenn man einen Zusammenhang zwischen Migration, Schrift und literarischer Überlieferung zu bestimmen versucht, der jenseits oder diesseits der modernen Kategorisierung von Nationalismus und Internationalismus liegt (vgl. Abbildung 1 auf S. 356). Es handelt sich in der Schriftlichkeit dieser Zeiten – und der jeweiligen Möglichkeit einer Abfassung sakraler oder profaner Literaturen – um sehr kleine mobile Eliten, und die Grundlagen der Mobilität waren entsprechende kommerzielle, religiöse, politische und militärische Verflechtungen. Innerhalb der Eliten fiel die Erstreckung der schriftlichen Verständigung und Zirkulation einerseits, und das Potential einer entsprechenden Migration meistens zusammen, und auch wo diese Migration in die Provinz, ins Exil, in die Verbannung oder über die Grenzen führte, blieb sie vom Leitbild eines städtischen Austauschs geprägt. Was die Formen der literarischen Mobilität angeht, könnte man daher die ganze Epoche zwischen 500 vor und 1500 nach unserer Zeitrechnung als Einheit behandeln – und das hat etwa Karl Bertau in seiner Geschichte der literarischen Überlieferungen der drei Monotheismen

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rund um das Mittelmeer21 unternommen, und ließe sich durch Vergleiche mit den interkontinentalen arabischen und persischen Verflechtungen, mit dem Indischen Ozean und den ostasiatischen Reichen weiter ausbauen. Man vergleiche etwa Bertaus Charakterisierung des »phönizischen Mittelmeers«, aber nur als Beispiel für einen solchen Zusammenhang von Städten, Schriftlichkeit und Migrationsbereitschaft, der sich vermutlich weltweit – soweit damalige schriftliche und städtische Welten reichten – übertragen ließe. In der folgenden Zusammenfassung geht es um die Zeit von 600 bis 300 vor unserer Zeitrechnung, und es geht um eine ganze Reihe von Schriften, Städten, Diasporen und Migrationen, die in der europäischen Überlieferung kanonische Geltung erlangt haben. Auch die weltweit gebräuchlichste Schrift verdankt ihre Durchsetzung weniger einer politischen, militärischen oder ideologischen Konzentration als einer mediterranen Migrationsgemeinschaft: »Nach der Zerstörung der phönizischen Stadtstaaten im Ostmittelmeer verlagern die größten Seefahrer der Frühzeit, die Afrika umschifften und die Azoren erreichten, ihr Zentrum nach Karthago. Sie bilden den Staat der Punier aus, der das Westmittelmeer beherrscht. Jüdische Religion lebt nach der ersten Tempelzerstörung namentlich in der Diaspora. 458 wurde nach dem Ende des Exils im Auftrag des Perserkönigs die Tora unter Esra für den zweiten Tempel aufgezeichnet und an der Südgrenze des persisch eroberten Ägyptens in Elefantine eine jüdische Soldaten-Kolonie installiert. Dort ist der Gottes-Name Jahu (Jahwe) bezeugt. Die von Frömmigkeit geprägte griechische Literatur bleibt, trotz einer kultnahen Dramen-Kultur, ohne schriftliches Kultgesetz. Es entsteht die große Begriffsphilosophie des Sokrates, Plato, Aristoteles. Durch die Eroberungen Alexanders breitet sich die griechische Kultur-Schriftlichkeit im ganzen Ostmittelmeer und bis an den Indus aus. Die unterworfenen Hochkulturen Persiens und Ägyptens prägen eigenständige Diadochen-Staaten und eine hellenistische Weltkultur.«22

Was wird aus diesen zivilisatorischen Bedingungen durch ihre Eskalation innerhalb der »europäischen Globalisierung« und insbesondere ihrer kulturellen Umprägung im Wechsel zum nordatlantischen Weltsystem? Zum einen gibt es ganz materielle Umstellungen, die für spätere Entwicklungen bestimmend bleiben: der Buchdruck wird in China und Korea erfunden, aber in seiner alphabetischen Abwandlung weltweit ausgebreitet. Eine weltweite Mobilität literarischer Texte wird durch die Ausbreitung

21 Bertau, Karl: Schrift – Macht – Heiligkeit: in den Literaturen des jüdischchristlich-muslimischen Mittelalters, Berlin/New York 2005. 22 Ebd., S. 106. 349

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der »europäischen Globalisierung« also ganz materiell geschaffen, und sie ist keineswegs einseitig: denn ebenso wie die europäischen Texte jetzt weltweit zirkulieren konnten, konnten auch nicht-europäische und auch erst verschriftlichte Texte – also ein vormals mündliches Ausagieren, eine entsprechende »Performance« – jetzt schriftlich niedergelegt, gedruckt und weltweit verbreitet werden. Man kann daher sagen, dass hier spätestens eine »Weltliteratur« im Sinne einer weltumspannenden Verflechtung, einer »littérature monde« ganz materiell zu greifen war: Es gab Schriftstücke und gedruckte Texte, die – egal in wie geringer Auflage oder korrumpierter Gestalt und Übersetzung – quer durch die Welt transportiert werden konnten. Man kann daher ganz empirisch – also philologisch – hinschauen und fragen: Was war diese »Weltliteratur«, die seit 1500 durch die europäische Globalisierung und durch die weltweite Ausbreitung des Buchdrucks entstanden ist? Wann wurden etwa Beispieltexte von außereuropäischen Sprachen gedruckt und dann wieder verschickt, wann wurde was übersetzt und wie? Wann entstanden entsprechende Grammatiken? Welche Erzählmuster oder narrativen »Motive« wanderten in der dritten Globalisierung interkontinental durch die Welt?23 Diese philologische Betrachtung werde ich hier nicht weiter ausführen, denn zumindest ihr Prinzip lässt sich klar angeben. Aber einen zweiten Punkt werde ich hier ansprechen, der sehr viel kontroverser bleiben muss, auch wenn er im Grunde seit dem 18. Jahrhundert immer wieder diskutiert worden ist. Der moderne Literaturbegriff entsteht aus einem Bruch mit der antiken Überlieferung und ihrer rhetorischen Erziehungsform, die aus mehreren alten mediterranen Teilweltsystemen hervorgegangen war – nämlich aus dem Hellenismus und dessen »Kreolisierung« durch das Römische Reich und spätere Latinisierungen. Der moderne Literaturbegriff zerstört die technische Einheit von literarischer Produktion und Rezeption, die in der rhetorisch-poetischen Tradition von der Antike bis in das 18. Jahrhundert vorausgesetzt war,24 und diese Auflösung entsteht in der Epoche des Wechsels vom mediterranen zum nordatlantischen Weltsystem. Wenn man diese beiden Umbrüche vergleicht – vom klassizistisch-romanischen zum nordeuropäischen Literaturbegriff, von

23 Vgl. Gruzinski, Serge: Les quatre parties du monde: histoire d'une mondialisation, Paris 2004. – Zur Wanderung von Motiven etwa: Flores, Jorge: »Distant Wonders: The Strange and the Marvelous between Mughal India and Habsburg Iberia in the Early Seventeenth Century«. In: Comparative Studies in Society and History 49 (2007), S. 553-581. 24 Fumaroli, Marc: L'Âge de l'éloquence: rhétorique et ›res literaria‹ de la Renaissance au seuil de l'époque classique, Paris 1980. 350

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der mediterranen Imperienbildung zur nordatlantischen Entfesselung des Welthandels – stellt sich durchaus die Frage einer Korrelation. Zweifelsohne geht die Verschiebung der europäischen Machtzentren vom Süden Europas in den Nordwesten mit einer philosophischen und literarischen Verschiebung – mit einer Verschiebung der philosophischen und poetologischen Dominanz25 – in den Nordwesten Europas einher. Aus dieser teils kommerziellen und machtpolitischen, teils ideologischen Verschiebung ist der moderne Literaturbegriff entstanden. Was sind seine Grundlagen, wenn man die damalige nordatlantische Globalisierung als Voraussetzung mitbedenkt? Der moderne Literaturbegriff des 18. Jahrhunderts setzt bereits ein medienhistorisches Narrativ voraus, das einen globalisierten »Great Divide« zwischen Analphabeten und Schriftsozialisierten beinhaltet. Und dieser »Great Divide« ist – bis heute, muss man zum Leidwesen der wissenschaftlichen Arbeit sagen – ein multipler medialer Bruch durch die ganze Welt: Er trennt konzeptuell nicht nur Schriftlose und Schriftsozialisierte, sondern auch den Buchdruck von allen Handschriften, und die alphabetischen Literaturen von anderen Schriften. Richard Bauman und Charles Briggs haben einige der entscheidenden Weggabelungen benannt:26 Die Trennung von mündlichen und schriftlichen Kulturen schafft die Hybride der »Oralliteratur«, und diese wird in der nordatlantischen Welt bereits im 17. Jahrhundert zu jener »Folklore« gemacht, die seitdem immer auch als eine Konfrontation innerhalb des multiplen »Great Divide« verstanden wird. Aber diese Konfrontation geschieht nicht mehr – wie etwa bei den Spaniern in Mittelamerika oder den Portugiesen in Westafrika27 – unter dem Vorzeichen des Teufels, der die Heiden und potentiell auch die heimische Landbevölkerung beherrscht, sondern unter den Vorzeichen einer säkularisierenden Betrachtung, die früheren Gläubigen keineswegs eingeleuchtet hätte. »Folklore« besteht jetzt aus Ammenmärchen und abergläubischen Sitten und mündlich überlieferten Gebräuchen, die aber nicht mehr (zwingend) zur Strafverfolgung oder zur Inquisition aufrufen, sondern zur Aufklärung der unmündigen Mündlichkeit und zu einer Verschriftlichung, die sie »als literarische Überlieferung der Vergangenheit« rechtfertigt und nostalgisiert. 25 Vgl. die kartographische Darstellung dieses Wechsels durch: Holenstein, Elmar: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004. 26 Bauman, Richard/Briggs, Charles L.: Voices of Modernity. Language Ideologies and the Politics of Inequality, Cambridge 2003. 27 Vgl. Pietz, William: »The Problem of the Fetish«, Teil 1 in: Res 9 (1985), S. 5-17; Teil 2 in: Res 13 (1987), S. 23-45; Teil 3a in: Res 16 (1988), S. 105-123. 351

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Diese kategoriale Einteilung und ihre globale Ausweitung gehen dem modernen Literaturbegriff voraus und bleiben in ihm wirksam. Das scheint auf mehrere unumstößliche Hierarchien zwischen Weltbewohnern, zwischen ihren Medien und ihren Literaturen hinauszulaufen – und diese Hierarchien diagnostizieren auch Bauman und Briggs in ihrem Buch. Aber man sollte die Entwicklung des »nordatlantischen« Literaturbegriffs näher betrachten, und dann stößt man darauf, dass wir Nachgeborenen nicht nur die Erben dieser Hierarchien sind, sondern auch die Erben ihrer ständigen Umkehrungen. Im 18. Jahrhundert und insbesondere im nordeuropäischen Dreieck von Frankreich, Großbritannien und Deutschland, also zwischen Paris, der schottischen Aufklärung und der deutschen Bildungsrevolution mit ihren baltischen Rändern,28 im Zentrum der damaligen Kolonialmächte und an ihren privilegierten Peripherien hat sich der moderne Literaturbegriff herausgebildet, in dem jede literarische Hierarchie durch eine Umkehrung beantwortet werden konnte: Die schwächere Seite konnte zur stärkeren Seite erklärt werden, und zwar aufgrund ihrer Schwäche, der Humor29 gegenüber dem Erhabenen, der Roman gegenüber der Lyrik, die Oralliteratur gegenüber der schriftlichen Überlieferung, die Peripherie gegenüber den Zentren, das Authentische gegenüber dem Gekonnten und das Dokumentarische gegenüber der Fiktion. Ohne diese poetologische Umwertung – die antiklassizistische Umkehrbarkeit aller literarischen Hierarchien – ist weder die literarische Moderne noch die weltweite Ausbreitung des Literaturbegriffs zu verstehen, und sie ist – egal wie man dieses Faktum sozialhistorisch einordnen will – im Kontext der nordeuropäischen und nordatlantischen Globalisierung entstanden. Der weltliterarische und literaturtheoretische Horizont des 18. Jahrhunderts entsteht im Rahmen dieser antiklassizistischen Wende und ihrer bereits existierenden globalen Verflechtungen.30 Die literarische Ordnung und die große literarische Unruhe und Unordnung des imperialistischen Zeitalters ist eine direkte Folge dieser 28 Johann Gottfried Herders literarische und literaturtheoretische Reise von 1769 durchquerte diesen gesamten baltischen bis atlantisch-französischen Raum (Schottland ausgenommen, das aber in Gestalt von Ossian die Reise begleitete): Herder, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahr 1769, Stuttgart 1976. 29 Vgl. den Artikel »Humor«, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1996. 30 Vgl. etwa die vorbildliche ökologiehistorische und literaturhistorische Studie von Richard Grove zur Verbindung von Inselutopien, Botanischen Gärten und tropischer Plantagenwirtschaft: Grove, Richard H.: Green imperialism. Colonial expansion, tropical island Edens and the origins of environmentalism, 1600-1860, Cambridge 1995. 352

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Umwertung. Im langen 19. Jahrhundert und dessen Folgen wurde der moderne Literaturbegriff einerseits weltweit durchgesetzt, auch und insbesondere durch die Globalisierung des Anspruchs auf Nationalstaaten und Nationalliteratur. Nationalliteratur ist – wie bereits Benedict Anderson mit seinen »Imagined Communities« festgehalten hat31 – ein Globalisierungseffekt, der die Kolonien der Imperien oft zeitgleich mit den europäischen revolutionären Nachrichten erreichte. Und als Pendant findet man im 19. Jahrhundert die weltweite Durchsetzung des Romans als immer neues Genre des Buchdrucks, und zwar in einer offensichtlichen Konjunktion mit den modernen Institutionen und Organisationen32 – Nationalstaat, Imperialismus, Buchmarkt, Journalismus –, aber auch in jener ästhetischen Opposition, die für die Moderne ebenso kennzeichnend wird: Antinationalismus, Antiimperialismus, Antijournalismus, Antikommerzialität – Werte, die durch eine internationale Bohème und politische Gruppierungen im Transfer derselben Institutionen verbreitet wurden. Andererseits – und dies schließt an die anderen »Zeitschichten« der Globalisierung an – handelt es sich in der Epoche des Imperialismus um den Höhepunkt der systematischen Dokumentation und wissenschaftlichen Herstellung von weltweiter »Oralliteratur« oder »Folklore«,33 und diese Herstellung setzt einen mehrfachen Bruch mit der eurozentrischen Globalisierung voraus, etwa durch die Adoption der indischen Grammatik für die komparativen Grammatiken seit 1800, aber auch durch das Postulat fremder »modes of thought«, die weder als geläufige Spielart der Irrationalität verworfen noch als europäische Rationalität begriffen werden konnten. Eine Beurteilung fällt schwer, aber nach einer längeren philologischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Protagonisten des Imperialismus scheint es mir, als seien die Angehörigen des Globalisierungsschubs um 1900 durch diesen sehr viel tiefgreifender verunsichert worden, auch was die Literatur und den Literaturbegriff angeht, als die Angehörigen der Gegenwart. Die literarischen und kulturwissenschaftlichen Grundlagenkrisen des Imperialismus, aus denen 31 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. 32 Vgl. Bayly, Christopher A.: The Birth of the Modern World. 33 Man kann sich etwa fragen, ob das weltweite komparatistische Projekt des Vergleichs von Religionen und Überlieferungen (»Folklore«) seit der viktorianischen Zeit jemals wieder dieselbe Intensität und interkontinentale Kennerschaft erlangt hat. Vgl. etwa die Expertise der Autoren der Encyclopedia of Religion and Ethics, hg. v. James Hastings, New York 1908-1927, mit der Expertise späterer religionswissenschaftlicher und/oder folkloristischer Nachschlagewerke. 353

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auch die moderne Ethnologie hervorgegangen ist, sind bis heute nicht bewältigt. Und im Gegenzug scheint es mir, als sei der Literaturbegriff seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eher wieder geschrumpft, nicht nur im Problembewusstsein der Literaturwissenschaftler und Literaturtheoretiker, sondern auch und vor allem in buchhändlerischer Hinsicht. Unter dem Strich der Verlagskataloge haben sich für die heute als »Weltliteratur« oder »Neue Weltliteratur« vermarktete Textwelt nur bestimmte europäische und präviktorianische Gattungen in einer bestimmten postmodernen Fassung durchgesetzt: Lyrik, lyrisches Epos, Essays, Dramen und insbesondere Romane. Zweifelsohne werden auch Schriften und Überlieferungen aus den ersten vier Zeitschichten der Globalisierung im Buchhandel als Literatur und »Weltliteratur« kategorisiert, etwa Märchen und Mythen aus verschiedensten Quellen, das Gilgamesch-Epos, oder der Affenroman von Wu Ch'êng'ên, der das Resultat eines jahrhundertelangen Transfers zwischen zwei Welt-Ökumenen darstellt.34 Aber wenn man sich heute als SchriftstellerIn vornehmen würde, zur aktuellen »Neuen Weltliteratur« zu rechnen, also – wie dies Elke Sturm-Trigonakis genannt hat – als »global player« in die heutige Ökumene des Buchdrucks einzutreten,35 dann kann man dies nur in ganz bestimmten Genres tun, deren Gattungsunterscheidungen heute sehr viel unzerbrechlicher erscheinen als im frühen 20. Jahrhundert – oder in der Welt von Wu Ch'êng'ên. Auch das ist zweifelsohne ein Globalisierungseffekt, der durch den Buchhandel momentan kaum zurückgenommen werden kann, er muss die literarische Vielfalt im Übrigen nicht behindern, die Frage bleibt, ob nicht zumindest die Literaturwissenschaften konträr zu diesem Leitbild einer »Neuen Weltliteratur« vorgehen müssen, um Fragen der Weltliteratur zu verhandeln. 34 Wu Ch'êng'ên: Monkey, (Übersetzung von Arthur Waley), London 1942. Ein Trickster-Roman und die vollendete Abbildung einer (indischen) buddhistischen Himmelshierarchie auf eine (chinesische) imperiale Bürokratie – und das Resultat einer jahrhundertelangen Konjunktion zwischen staatlicher Bürokratie, Buchdruck und buddhistischen Klostergründungen in China. Vgl. Strickman, Michael: »India in the Chinese Looking-Glass«. In: The Silk Route and the Diamond Path. Esoteric Buddhist Art on the Trans-Himalayan Trade Routes, hg. v. Deborah Klimburg-Salter, Los Angeles 1982, S. 52-63. – Zur Mediengeschichte dieser Literatur: Tsien Tsuen-Hsuin: »Paper and Printing«. In: Science and Civilisation in China, hg. v. Joseph Needham, Bd. 5 (=Chemistry and Chemical Technology), Teil 1, Cambridge 1985. 35 Sturm-Trigonakis, Elke: Global Playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg 2007. 354

FÜNF ZEITSCHICHTEN DER GLOBALISIERUNG

Ich komme nach dieser zweifelsohne etwas brachialen Synopse zu einer kurzen Rückschau, und beschränke mich hier auf die Frage des Zusammenspiels von Migration und Weltliteratur. Der Ausdruck der »Migration« orientiert sich an den Reiserouten und den kulturellen und sozialen Grenzen von Personen, aber er bleibt an Mobilisierungen von Dingen und Zeichen gebunden, die sich bereits zu Gewohnheiten verfestigt haben: an die Ausbreitung von Sprachen und Schriftsprachen, an Handelswege und Handelsnetze, an koloniale und imperiale Institutionen, an Missionierungsbemühungen und ihre Pilgerzentren oder Stationen, und für die Moderne nicht zu vergessen: an die weltweit agierenden Institutionen der universitären Wissenschaften, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert als zentrale Agentinnen des literarischen Austauschs und der Literaturkonstitution aufgetreten sind. »Weltliteratur« schließt eine Beobachtung der Herausbildung und des Scheiterns des Literaturbegriffs und der institutionellen Literaturwissenschaften ein. »Migration« bedeutet in den fünf Zeitschichten jeweils Verschiedenes, und daher kann man meiner kurzen Synopse durchaus vorwerfen, dass dieses Wort in eine Reihe von Homonymen zerfällt: In der »Ersten Globalisierung«, der weltweiten Ausbreitung der Menschheit, hat man es noch fast mit einem biologischen Begriff der »Migration« (und zwar der »Population« des Homo Sapiens sapiens) zu tun. Auf den jeweiligen Kontinenten hingegen ist der »Nomadismus« von Wildbeutern und später auch von Hirten-»Nomaden« – egal ob sie ein bestimmtes Gelände zyklisch durchstreifen oder sich in historischen Flucht- und Angriffsbewegungen verlagern – von der Art, dass zumindest ein moderner Begriff von »Migration« hier nichts zu suchen hat. Auch für die zweite Zeitschicht, das Leben und die Reisen und Ortswechsel in einer jeweiligen »Ökumene«, in den Städten und den mannigfaltigen Peripherien eines Reiches, eines Handelskorridors, einer Zivilisation oder einer schriftlichen Verständigungsgemeinschaft, kann man sich fragen, ob »Migration« der richtige Ausdruck ist. Hier bleibt festzuhalten, dass für die entsprechenden städtisch-schriftlichen Eliten ein notwendiger Zusammenhang von literarischer Überlieferung und Migrationsbereitschaft vorliegt – die Grundlage einer kosmopolitischen Existenz –, die uns gerade deshalb interessieren muss, weil sie den modernen Institutionen der Migration widerspricht. Nicht umsonst wird von den unterschiedlichsten neueren Reiseschriftstellern Herodot als literarischer Prototyp des Kosmopoliten bemüht, um den Fallstricken der nationalliterarischen Überlieferung, aber auch der internationalen Ordnung aus Staaten und überstaatlichen Organisationen zu entkommen.

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Abbildung 1: Circuits of the 13-th Century World System

Quelle: Hoerder, Dirk: Cultures in Contact: World Migration in the Second Millenium, Durham 2002, S. 29. Die kolonialen und imperialistischen Migrationen, die Migrationen im Rahmen von Kolonialstaaten und Imperien36 stehen uns einerseits nahe, weil wir ihre politischen und kulturellen Folgen weiterhin austragen müssen – und diese Folgen bilden den Stoff der verschiedenen antiimperialistischen und postkolonialen Literatur- und Theoriebewegungen, die das Feld der Weltliteratur seit der Zeit zwischen den Weltkriegen uminterpretiert haben. Dabei sind uns allerdings zahlreiche Formen der Migration und ihrer Weltliteratur, die der imperialistischen Epoche und ihrem Anti-Imperialismus angehörten, bereits fremd geworden, und dazu gehören vor allem die Protagonisten und Agenten der Oralliteratur zwischen 1850 und 1950, die in ihrer damaligen wissenschaftlichen »Ökumene« – auf das Ganze der imperialistischen Welt gesehen – vermutlich das ehrgeizigste weltliterarische Programm in die Tat umgesetzt haben, das jemals als Programm postuliert und in großen Teilen auch verwirklicht wurde. Verweisen lässt sich hier etwa auf die nordamerikanische Oralliteratur zwischen 1880 und 1930, in ihrer Personal-Union von Linguistik, Kulturanthropologie und Folkloristik. Die meisten ihrer wissenschaftlichen Protagonisten waren Emigranten (oft aus deutschsprachigen Ländern) der ersten und zweiten Generation; und die Leute, deren

36 Eine neue Synopse der weltweiten Migrationen des letzten Jahrtausends gibt Hoerder, Dirk: Cultures in Contact. 356

FÜNF ZEITSCHICHTEN DER GLOBALISIERUNG

Überlieferungen sie verschriftlichten, waren fast immer Vertriebene, Flüchtlinge, Deportierte oder die Überlebenden eines Genozid. Ein ganzer Kontinent der Oralliteratur wurde auf diese Weise in der Begegnung höchst konträrer Migrationen geschaffen, und zwar in Fortführung entsprechender Programme Wilhelm von Humboldts, der nach einem durch das Sanskrit ausgelösten grammatischen und sprachtheoretischen Bruch ein entsprechendes Amerika-Programm initiiert hatte, das durch die Boas-Schule noch einmal bis zur stetigen grammatischen und anthropologischen Grundlagenkrise getrieben wurde.37 Und die hierdurch geschaffene Oralliteratur wurde Teil der weltweiten Zirkulation des Buchdrucks und der Bibliotheken, und war zugleich lokale »invention of tradition«, die seitdem von den Nachfahren der Deportierten in neue Formen des kulturellen Widerstands umgesetzt wird. Es wäre für die Diskussion des Zusammenhangs von Migration und Weltliteratur schädlich, wenn solche kontinentalen und interkontinentalen Paradigmen aus dem Begriff der »Weltliteratur« wieder verschwinden würden, weil einer anderen homogenisierten Form der weltweiten literarischen Zirkulation der buchhändlerische Vorzug im »Global Playing« gegeben wird. Analoges gilt für viele andere Austauschformen von Welt, Literatur und Migration in den vergangenen und weiterhin in unserer Literatur gegenwärtigen Zeitschichten der Weltliteratur.

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37 Vgl. zur Kontinuität dieser amerikanistischen Forschung Darnell, Regna: Invisible Genealogies. A History of Americanist Anthropology, Lincoln 2001. 357

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Abbildungsnachweis für Abbildung 1 auf S. 356: Abu-Lughod, Janet L.: Before European Hegemony, The World System A:D: 1250-1350, New York 1989, S. 34.

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W E L T L I T E R A T U R I N D E R P E R S P EK T I V E E I N E R L O N G U E D U R É E II: D I E Ö K U M E N E D E S S W A H I L I S P R A C H I G E N O ST A F R I K A THOMAS GEIDER

In der Entwicklung eines universalhistorischen Begriffs von Weltliteratur, wie ihn Erhard Schüttpelz im vorhergegangenen Artikel vorschlägt, besteht die Aufgabe darin, die über die Welt verbreiteten Ökumenen demographisch, linguistisch und kulturgeschichtlich zu identifizieren und an literarische Materie anzubinden – an Sprachformen, Hauptwerke, Exemplarisches, stoffliche und ästhetische Elemente, individuelle und kollektive Akteure, Linien der Kommunikation, Orte der Vermittlung und Vermarktung in vorkapitalistischer wie kapitalistischer Zeit, Strukturen des Kolonialismus und der Missionierung, denen gemeinsam ist, dass sie Sprach- und Kulturgrenzen übergreifen und aus heutiger Sicht das Potential haben, auch Menschen außerhalb dieser Ökumenen zu erreichen. Eine Typologie der möglichen und bereits festgestellten Ökumenen (Beispiel: mediterranes Zentrum) konnte bisher noch nicht ausgearbeitet werden. Es fehlt noch an genügend Fallstudien, deren Zahl und Qualität erst eine weitere Theorien- und Methodenentwicklung erlaubt. Ein typologisches Kriterium liegt bereits vor, wenn eine Ökumene im Braudelschen Sinne über maritime Austauschrouten und Umschlagplätze definiert wird und damit vermittels funktionierender Kommunikationskanäle Räume unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Literaturen verbunden werden. Eine Ökumene, auf die sich der vorliegende Beitrag konzentriert, ist der swahili-sprachige Raum, der sich über 1200 Jahre zuerst im maritimen Milieu der Küstenräume von Ostafrika über Arabien bis Indien aufbaute und seit 200 Jahren weit in das ostafrikanische Festland hinein ausbreitet. Das Swahili, eine Bantusprache mit deutlichen Einflüssen aus den orientalischen Sprachräumen, ist hier eine ethnisch identifizierte Sprache für etwa 0,7 Million Küsten- und Inselbewohner und eine Lingua Franca und Nationalsprache für weitere 50 Millionen Erstund Zweitsprachensprecher in Süd-Somalia, Kenya, Tanzania, NordMozambique bis hin nach Ost-Kongo (Ex-Zaïre) auf der westlichen und den Komoren auf der östlichen Seite. Durch den etwa 70 Jahre 361

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währenden britischen Kolonialismus (1895-1964) und die postkolonialen Verbindungen nach Europa und Amerika sind ferner englische Sprach- und Literatureinflüsse von nachhaltiger Bedeutung. Sie und die orientalischen Einflüsse zeigen sich auf der Ebene der Alltagsdetails insbesondere in der großen Zahl der Lehnwörter, die das Swahili in bestimmten semantischen Domänen adaptiert hat.1 Auch die Portugiesenzeit (1498-1728) hat Spuren in Lexemen hinterlassen, nicht aber in der Literatur. Die deutsche Kolonialzeit (1895-1918) hat offensichtlich dazu beigetragen, im Bereich der Literatur eine Sachliteratur ins Leben zu rufen.2 Die Erforschung der kontinentalen und transkontinentalen Kulturgeschichte des swahili-sprachigen Raums weist eine solide Grundlage auf.3 Gleiches gilt für die Swahili-Literaturgeschichte,4 deren Gesamtbild

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DIE ÖKUMENE DES SWAHILI-SPRACHIGEN OSTAFRIKA

allerdings bei einigen Gattungen der Oral-, Sach- und Internetliteratur noch verdichtet werden muss. Die swahili-sprachige Ökumene schließt sich geographisch und kulturhistorisch an den relativ neu beforschten Komplex des Indischen Ozeans an, dessen Autoren allerdings eine Perspektive in Richtung Indien, Südostasien und China hervorheben, Ostafrika durchaus dabei erwähnen, aber nicht wirklich substantiell anschließen.5 Der in der Afrika-Forschung schon früh publizierte Vorschlag eines integrierten Forschungsprogramms6 ist hier womöglich zu lokal publiziert worden, als dass er weiterführende Aufmerksamkeit erfahren hätte. Bei aller wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Orientierung der ›Indian Ocean Studies‹ ist hier bisher noch kein integrativer literaturgeschichtlicher Ansatz entwickelt worden. Als einzigen Bereich hat Sheldon Pollock die »Sanskrit ecumene«7 beschrieben, für die er für den

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Zeitraum 1000-1500 durch die Verschriftlichung (»Vernacularization«) weiterer indischer Sprachen einen Niedergang analysieren muss;8 dem steht für das Swahili seit dem 19. Jahrhundert ein Aufstieg gegenüber. Der vorliegende Artikel zum Swahili-Literatursystem soll hierzu einige Grundelemente beisteuern und dabei zugleich an der seit den 1990er Jahren verstärkt wieder aufkommenden Diskussion um die Gestalt der Weltliteratur teilnehmen. Der Artikel stößt dabei an die die Problematik, dass Afrikas Literaturen seit der ersten Formulierung des Weltliteraturkonzepts durch Goethe 1827 wider besseres damaliges Wissen einen Ausschluss erfahren mussten,9 der bis heute erst sehr langsam durch gegenläufige Verfahren aufgehoben wird. Seit den 1960er Jahren werden immerhin die europhonen Schriftliteraturen berücksichtigt,10 aber die afrophonen Literaturen und besonders Afrikas Oralliteraturen sind immer noch nicht in zufrieden stellender Weise ins Auge gefasst worden.11 Hier ist die afrikanistische Philologie gefragt, die ihre Wissensressourcen endlich auch in dieser Diskussion zur Geltung bringen sollte, damit die Weltliteraturtheorie eine tatsächliche Weltweite entwickeln kann und Afrikas Literaturen die im Globalisierungszeitalter erforderliche panoramische Blickerweiterung, postkoloniale Aufwertung und literaturgeographische Anschlussfähigkeit erfahren.

Status of Sanskrit. Contributions to the History of the Sanskrit Language (=Brill's Indological Library 13), hg. v. Jan E. M. Houben, Leiden/New York/Köln 1996, S. 199. 8 Ebd.; ders.: »The Cosmopolitan Vernacular«. In: Journal of Asian Studies 57/1 (1998), S. 6-37. 9 Geider, Thomas: »Afrika im Umkreis der frühen Weltliteraturdiskussion: Goethe und Henri Grégoire«. In: Revue de Littérature Comparée 79/2 (2005), S. 241-260. 10 Geider, Thomas: »Janheinz Jahn als Vermittler afrikanischer Literatur in den deutschen Sprachraum und die Weltliteratur«. In: 60 Jahre Institut für Ethnologie und Afrikastudien (=Mainzer Beiträge zur Afrikaforschung 14), hg. v. Anna-Maria Brandstetter/Carola Lentz, Köln 2006, S. 141-161. 11 Die europhonen, afrophononen und oralen Literaturen werden nachfolgend alle zusammen als ›afrikanische Literaturen‹ bezeichnet. Der Begriff ›Swahili-Literatur‹ schließt die ethnisch markierte ›Swahili-Literatur‹ ein wie auch die seit Anfang des 20. Jahrhunderts entstehende ›Literatur in Swahili‹, deren Produzenten Swahili als Zweitsprache oder nicht-ethnische Erstsprache benutzen, und zwar sowohl oral als auch gedruckt und im Manuskript. 364

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M ö g l i c h k e i t e n d e s E i n sc hl u s se s af r i k an i s c h e r L i t e r a t u r e n i n d i e W e l tl i te r a tu r d i s k u s s i o n Weltliteratur ist definierbar als die »Literatur, die über jegliche sprachlichen, konfessionellen und politischen Grenzen hinweg allen Menschen gehört, die den Menschen gleich welcher Herkunft etwas zu sagen hat, die sich besonderen Belangen öffnet und doch alle Welt etwas angeht«12 – man möchte ergänzen: die über die Geschichte hinweg Bestand hat (selbst wenn sie zwischenzeitlich vergessen wird) und Fertilitätskraft besitzt, eine weitergehende Literaturproduktion zu inspirieren. In den literaturwissenschaftlichen Lexika zeigen sich für das Konzept ›Weltliteratur‹ im Wesentlichen drei Auffassungen.13 Sie alle sollten für Afrikas Literaturen diskutiert werden: 1. Weltliteratur als Summation: Weltliteratur ist hier die Summe aller in der Welt hergestellten Literatur. Bei allem, was überhaupt je denkbar ist, und angesichts eines jährlichen Ausstoßes von 96.000 Neuerscheinungen alleine in Deutschland (2007),14 gilt diese Auffassung letztlich jedoch als unproduktiv. Sie hat allerdings den Vorteil, dass die wertende Kanonproblematik, die im interkulturellen Kritikerfeld besonders problematisch ist, keine Rolle spielt. Eine Umsetzung dieser Auffassung ist letztlich nur über Literaturlexika denkbar, die zwangsläufig jedoch auch begrenzt sind und Literaturwerke und Autoren alphabetisch und ohne Bezug zueinander auflisten. Andererseits lebt die Idee der Weltliteratur vom Zuwachs, von der fortschreitenden Neuentdeckung und neuen Zuordnung von literarischen Titeln. Die echte Weltliteratur lebt von der Vielfalt aller geographischen Längen und Breiten, deren erste Anhaltspunkte die einander exotischen Autorennamen, Werktitel, Schreibweisen, Schriftsysteme, Gattungsbegriffe und Stimmen sind. Die Weltliteratur lebt vom Aroma der Namen, die als Summe zusammenkommen und dabei als einzelne erkennbar bleiben. Mit der menschlichen Produktion muss diese Summe immer größer werden. Sie bleibt deswegen nur durch fortlaufend differenzierte qualitative Diskussion handhabbar. Legt man 12 Manger, Klaus: »Weltliteratur«. In: Fischer Lexikon Literatur 3, hg. v. Ulfert Ricklefs, Frankfurt 1996, S. 1999. 13 Koppen, Erwin: »Weltliteratur«. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 4, hg. v. Klaus Kanzog/Achim Masser, Berlin/New York 1984, S. 815-827; Koppen 1984; Schöning, Udo: »Weltliteratur«. In: DITL (Dictionnaire International des Termes Littéraires), hg. v. Jean-Marie Grassin, o.D., Limoges [2003], www.ditl.info/arttest/art16436.php, 22.08.2006; Birus, Hendrik: »Weltliteratur«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3, hg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin/New York 2003, S. 825 ff. 14 Vgl. www.boersenverein.de, 01.01.2009. 365

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diesem Summenkonzept das UNO- und UNESCO-Prinzip der idealerweise egalitären Staaten zugrunde, so müsste ungeachtet der quantitativen und qualitativen Produktion von Literatur eine jede national, ethnisch und sprachlich definierte Einheit das Recht auf Beachtung, Teilnahme und Diskussion haben. Wenn der extensive Weltliteraturbegriff also nicht praktisch funktionieren kann, kann er dies ethisch und auf geographische Weltweite im Diversitätsdiskurs tun. 2. Weltliteratur als Selektion: Mit den national gegründeten Literatur- und Weltliteraturgeschichtsschreibungen des 19. Jahrhunderts, die den Geniekult des 18. Jahrhunderts fortschreiben, gelten die literarischen Meisterwerke als Weltliteratur. Bemerkenswerterweise sind es nicht nur Werke, sondern auch ihre Autoren, die zur Weltliteratur gehören. Über die Notwendigkeit einer Auswahl für die Bildungssysteme des bürgerlichen Europa und Amerika sind hier Kanones entstanden, die grundsätzlich die Problematik der Inklusion und Exklusion aufweisen. Da Literatur sich lange auf die »belles-lettres« bezog und logozentrisch (Derrida) konzipiert war (und z. T. immer noch ist), wurden die mündlichen Literaturen des eigenen ›einfachen‹ Volks aus dem Weltliteraturkonzept ausgeschlossen, solange sie nicht verschriftet waren (wie z. B. Grimms Kinder- und Hausmärchen). Eine Barriere für die Oralliteraturen der außereuropäischen »Naturvölker« war zudem das evolutionistische Hierarchisierungssystem, das selbst Schrifttexte aus Außereuropa nur untergeordnet in die Diskussion brachte. Ein Versuch stellte hier ab 1912 z. B. die Reihe Die Märchen der Weltliteratur dar, nach der außereuopäische Oralliteratur durch die Buchgestalt ein rezipierbarer Gegenstand wurde.15 Die Kanon-Auffassung von Weltliteratur ist bei weitem nicht ad acta gelegt worden, sondern bleibt als Stifterin von Ordnung in der Unübersichtlichkeit der literarischen Produktion bestehen. Afrikanische Intellektuelle schließen sich der Kanonidee an, wenn sie auf der Zimbabwe International Book Fair 1999 die Initiative Africa's 100 Best Books of the 20th Century starten, die 2002 eine Liste von 100 Werken erstellt hatte, darunter nur sechs afrikasprachliche Titel (hierunter für das Swahili Shaaban bin Roberts Epos vom 2. Weltkrieg Utenzi wa Vita vya Uhuru, 1967 [1942-1944, Epos vom Freiheitskrieg]) und keine Textedition zur Oralliteratur. Die literarische Welt wird mit der Kanon-Auffassung weiterhin operieren, und es bleibt dem individuellen Forscher überlassen, sich an den Formierungen zu beteiligen, sie kritisch zu begleiten oder zu ignorieren. Versteht man Kindlers Neues Literatur-Lexikon16 als einen Kanon 15 Meinhof, Carl (Hg.): Afrikanische Märchen. (Die Märchen der Weltliteratur), Jena 1917 mit vier Swahili-Märchen. 16 Jens, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literatur-Lexikon 1-20, (2. erw. Aufl.), München 1988-1992. 366

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der Weltliteratur, so sind bei ca. 18.000 beschriebenen Werken nur 166 afrikanische Literaturtitel zählbar, was die Frage aufkommen lässt, in welcher Weise afrikanische Literatur und darin besonders die Oralliteratur eine adäquate Chance auf Repräsentation in den Foren der Weltliteratur hat. Eine Möglichkeit bietet die dritte Auffassung: 3. Weltliteratur als Kommunikation: Diese Auffassung ist die ursprünglich von Goethe gemeinte, wenn er Weltliteratur im Vokabular des Freihandels als einen diskursiven Raum verstand, in dem »die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden [sollten], gesellschaftlich zu wirken.«17 International kommuniziert werden zwischen Autoren, Kritikern, Wissenschaftlern, Lehrern und Literaturliebhabern hierbei nicht allein Werke, sondern auf einer Teilebene darunter auch literarische Elemente, Haltungen, Übersetzungen, Sprachinterferenzen, Interpretationen, zugrunde liegende Lektüren, explizite und implizite Interessen, Einflussgrößen und Kritikerdiskurse. Hier kann sich die Oralliteratur, auch wenn sie noch nicht per Text verfestigt ist, sondern nur beobachtet oder teilbeschrieben wurde, wiederfinden. Da hierüber endlose Gespräche zu führen sind, werden auch hier fixierte Anhaltspunkte notwendig, wie sie sich in erster Linie in Überblicken, Lehrbüchern und Literaturlexika manifestieren.18 Obwohl diese Auffassung von Weltliteratur die älteste ist, ist sie zur Zeit die neueste und in ihrer grundsätzlichen Offenheit die herausforderndste. Da für die afrikanischen Oralliteraturen kaum eine vor 1850 datierbare absolute Geschichtsschreibung möglich ist, kann für sie nur über eine topologische ›Geschichtsschreibung‹ nachgedacht werden, die ihre Historizität aus dem Konzept der ›longue durée‹19 und ihren Imaginationsraum aus dem von Erhard Schüttpelz dargestellten historischen Schichtungsmodell bezieht. Seine Periodisierung muss dabei zunächst für jede untersuchte Ökumene spezifisch bleiben, bis schließlich einmal ein welthistorisches Gesamtmodell formulierbar wird.

17 Goethe 1828 in Strich, Fritz: Goethe und die Weltliteratur, Bern 1946, S. 399. 18 Vgl. Etiemble, René: »Faut-il réviser la notion de ›Weltliteratur‹?«. In: Actes du IVe Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée, Fribourg 1964, hg. v. François Jost, Den Haag/Paris 1966, S. 5-16. 19 Braudel, Fernand: »Geschichte und Sozialwissenschaften – Die ›longue durée‹«. In: Geschichte und Soziologie, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Köln 1972 [1958], S. 189-215. 367

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D i e S c h i c h tu n g e n der swahili-sprachigen Literatur

1. Die Aufbrüche des Homo sapiens und die Bantuwanderungen Wie weltweit alle Menschen stammen auch die heutigen swahilisprachigen Ostafrikaner von den Vertretern des frühsten Homo sapiens ab. Ihr Weg vom Rift Valley an die Küste gehört mit 500-700 km zu den kürzesten Strecken der vor etwa 100.000 Jahren einsetzenden Menschheitswanderung. Direkte Verbindungen zwischen den Fundorten und den ab 800 n. Chr. datierten Fundorten der ersten ›Swahili‹ lassen sich nicht nachweisen, sind aber auch nicht sonderlich relevant. Man muss davon ausgehen, dass sich streifende Gruppen von Menschen immer wieder begegneten und miteinander austauschten. Vage fassbar werden die Vorfahren der Swahili-sprachigen als Angehörige einer Bantusprache erst durch die von der Bantuistik und Archäologie durch Lexikostatistik und Siedlungsfunde rekonstruierte Bantuwanderung, die hypothetisch um 1000 v. Chr. im Grenzraum von Kamerun und Nigeria ihren Anfang nahm, um den zentralafrikanischen Regenwald herum führte und östlich und südöstlich davon Zwischenstationen besiedelte, von wo subsequent neue Wanderungswege an die Küste führten, an der Bantusprecher im 1. Jahrtausend unserer Zeit mit unterwegs gewonnenen Kenntnissen des Feldbaus und der Eisengewinnung ankamen.20 Im Zuge weiterer regionaler Migrationen bildeten sich die heute in Kenya und Tanzania gesprochenen etwa 150 Bantusprachen (und etwa 50 kuschitischen und nilotischen Sprachen) aus. Aus den insgesamt über 500 heute gesprochenen und seit Ende des 19. Jahrhunderts erst dokumentierten Bantusprachen hat Malcolm Guthrie anhand von 28 Testsprachen ein Proto-Bantu rekonstruiert, das die Migranten z. T. wohl schon vor ihrem Aufbruch aus Westafrika kannten und sprechend mit sich führten. Vier der rekonstruierten Begriffe beziehen sich auf die Oralliteratur, die hypothetisch also vor mehr als 3000 Jahren den Feldbauern bekannt war: *-GÀNÒ ›Erzählung‹ (tale), *-GÒMÀ ›Trommel‹ und *-BÍNÀ ›Tanz mit Lied‹ mit

20 Vansina, Jan: »Bantu: Dispersion and Settlement«. In: Encyclopedia of Africa South of the Sahara 1, hg. v. John Middleton, New York 1997, S. 156160; Phillipson, David: »Die Wanderungen der Bantu-Völker«. In: Spektrum der Wissenschaften, Dossier 2000/1 (=Die Evolution der Sprachen), S. 88-93. 368

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*-YÉMB- ›singen‹.21 Das heutige Swahili bildet hierunter die Lexeme ngano, ngoma und ku-imba (wie es bei ihnen nicht, wohl aber bei ihren Pokomo-Nachbarn noch ku-vina ›tanzen‹ gibt). Textliche und sonstige Belege zu diesen Oralliteraturbegriffen wurden Europäern erst ab etwa 1860 bekannt. Eine wichtige Rekonstruktion ist auch die Proto-BantuWurzel *-DÍMÒ ›spirit‹,22 der für einen späteren Sprachstand die Gemein-Bantuform *-dímu ›Geist‹ entspricht. Durch grammatische Zuordnungen zu verschiedenen durchnummerierbaren Nominalklassen bildet diese Wurzel in den einzelnen Bantusprachen verschiedene Wortfelder, die im Swahili so zu listen sind: mzimu 3/4 ›Ahnen-, Totengeist‹, wazimu 14, ›Irrsinn, wahnhafte Halluzinationen‹ (die diese bei Nichtrespekt hervorrufen) und zimwi 5/6 ›Oger‹ (mythischer Menschenfresser). Tatsächlich ist dies der Begriff, mit dem heute noch Swahili-Erzähler ›Ogermärchen‹ erzählen, die erstmals um 1900 von dem Kolonialdolmetscher Carl Velten (1907) dokumentiert wurden. Die auch unter den Swahili-Nachbarethnien bekannten Geschichten, die man sich nach heutiger Beobachtung auf den Matten vor den Häusern nach Einbruch der Dunkelheit erzählt (die Tageszeit ist tabuisiert), berichten zumeist von Defiziten (Kinder-, Nahrungsmangel) und Konflikten (ältester Sohn vs. Vater, Brüder vs. jüngster Bruder, Tochter vs. Mutter, Mann vs. Frau), die die Menschen in den Geschichten dazu führen, ihr Heimatdorf zu verlassen, um eine Lösung außerhalb zu finden. Dort geraten sie an einen Oger, mit dem sie sich unter Lebensgefahr erfolgreich auseinandersetzen, um anschließend als reiche, erfahrene und geläuterte Personen wieder nach Hause zurückzukehren. Ihre Reise gleicht einer Initiation mit den Schritten Ablösung – liminaler Zwischenraum – Wiedereingliederung. Tatsächlich dienen Ahnengeister den Familien als ›unsichtbare Polizei‹ (John Mbiti), die dann Krankheiten und Unglück senden, wenn sich die Menschen individueller oder kollektiver Verfehlungen schuldig machen. In divinatorischen Selbstbefragungen entdecken sie die Quelle des Unglücks, leiten Verbesserungen ein und söhnen sich rituell wieder untereinander und mit den Ahnen aus. Der Oger, über seinen Begriff und sein Handeln als spielerisch-fiktiver Agent der Ahnen markiert, handelt ähnlich: Er ist bei einem Defizit, das auf ein menschliches Versagen zurückgeht, zur Stelle und stellt fiktiv den übermächtigen die übermächtige Autorität dar, die es zu durchschauen und mit allen physischen Kräften zu überwinden und schließlich zu töten gilt. Wenn das gelingt, haben die Märchenhelden Reichtum und Reife erlangt 21 Guthrie, Malcolm: Comparative Bantu. An Introduction to the Comparative Linguistics and Prehistory of the Bantu Languages 2, Farnborough 1971, S. 17-20. 22 Ebd., S. 17. 369

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und sich ohne Schuldgefühle gegenüber den Ältesten von einem einengenden Familiensystem individuell emanzipiert, dem sie sich bald als mündige Erwachsene wieder zuordnen können. Ogergeschichten sind auf diese Weise Entwicklungsgeschichten, deren Logik und Moral bei jedem Erzähl- und Hörvorgang unbewusst und in erzählerischen Bildern weiter eingeübt wird. Sie werden oft drastisch, manchmal wie Thriller erzählt, die je nach Plot die Autorität aber auch lächerlich machen.23 In ihren Grundstrukturen sind sich Ogermärchen in Afrika und oft darüber hinaus erstaunlich gleich, während es der Erzählforschung wesentlich auch um die ökotypischen Eigenheiten und Motive geht.24 Das Tageszeittabu, die Verwendung von Formeln, Liedern, archaischen Ausdrücken, Ideophonen und anderen Onomatopoetika lassen die Erzählungen so primär aussehen, wie man sich die Tage der frühen Bantu-Wanderschaft im heute noch mit Tieren und Geistern imaginierten Naturraum vorstellt. Ogerund Monsterfiguren sind mit ihren zugrunde liegenden Mustern weltweit in die Literatur, Filme und Computerspiele eingegangen.25 Ihr Interpretationsspektrum kann sich dann erweitern, wenn man die anzestralistischen Deutungen der Bantu-Völker in die komparatistische Betrachtung miteinbezieht. Obwohl die Swahili- und anderen Bantu-Tradenten an eine kulturspezifische Vorstellungswelt gebunden sind, sind sie doch Teil einer menschheitsgültigen Archetypik, die nur sehr schwer oder gar nicht zufrieden stellend datierbar ist. Auf dieser Ebene ist Oralliteratur jedenfalls Teil der Weltliteratur. Wie die Ogermotive lassen sich auch Trickstermotive ordnen, Lautmalerei erfassen und Erzählstile

23 Vgl. Geider, Thomas: »Die Figur des Oger in der traditionellen Literatur und Lebenswelt der Pokomo in Ost-Kenya, 1-2«. In: Wortkunst und Dokumentartexte in afrikanischen Sprachen 1, Köln 1990; ders.: »Remarks on Three Swahili Ogre Tales as Narrated by Binti Amira Msellem Said from Mombasa«. In: Swahili Language and Society: Notes and News 9 (1992), S. 49-59. 24 Geider, Thomas: »Oger«. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 10, hg. v. Rolf-Wilhelm Brednich, Berlin/New York 2002, S. 235-249. 25 Foust, R. E.: »Monstrous Image: Theory of Fantasy Antagonists«. In: Genre 13 (1980), S. 441-453; Bouloumié, Arlette: »The Ogre in Literature«. In: Companion to Literary Myths, Heroes and Archetypes, hg. v. Pierre Brunel, London/New York 1992, S. 912-924; Faulstich, Werner: »Von Trollen, Zauberern, der Macht und anderen wundersamen Abenteuern. Kleine Einführung in interaktive Computer-Märchen«. In: Medienkulturen, hg. v. Werner Faulstich, München 2000, S. 145-170; Hurst, Matthias: »Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und der Individuation«. In: Wirkendes Wort 52/2 (2002), S. 257-275. 370

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analysieren. Für den weltweiten Vergleich und damit Zuordnung eines weltliterarischen Status hält die Folkloristik Motivindizes und Enzyklopädien bereit.

2. Frühe orientalische Literaturkontakte (ca. 900-1800) Die im 1. Jahrtausend unserer Zeit an der Ostküste ansässig werdenden Bantu-Einwanderer müssen zeitgleich in Kontakt mit Seefahrern aus dem Raum des Roten Meeres (mit Anschluss über Alexandria bis zum Mittelmeer), Arabiens, Persiens und Indiens gekommen sein, die die Ostküste auf der Suche nach Luxusgütern wie Elfenbein, Schildkrötenpanzern, Edelsteine u.a.m. bis nach »Rhapta« befuhren (das uneinheitlich bei Dar es Salaam, der Insel Pemba oder im Lamu-Archipel lokalisiert wird). Quelle hierfür ist der um 50 n. Chr. verfasste Seefahrerbericht Periplus des Erythräischen Meeres, der aus der Feder eines anonymen griechischägyptischen Fernhändlers stammt und über Seestrecken, Häfen, Güter und Austauschverhältnisse berichtet.26 Angaben über eine dort angetroffene Literatur werden nicht gemacht, jedoch immerhin frühe Kontakte zum Orient und zum Mittelmeer belegt.27 Dass diese Kontakte später Muslime waren, geht aus archäologisch für 1104 n. Chr. dokumentierten arabischen Moscheeinschriften in Barawa und Zanzibar hervor.28 Glossound Ethnonyme der damaligen Bantu-Einwohner bleiben unbekannt, bis 1331 bei Ibn Battuta zum ersten Mal das Ethnonym sawahil für ›Küstenbewohner‹ genannt wird.29 Das historische Szenario ist, dass arabische Seefahrer über den Wintermonsun von Norden nach Süden fuhren, sich in Ostafrika einige Monate aufhielten, bis sie über den Sommermonsun wieder in die umgekehrte Richtung fahren konnten. Dabei bildete sie nach und nach die städtische Swahili-Bevölkerung heraus, die aus den Bantu-sprachigen Landbevölkerungen in Kontakt mit kuschitischen Nomaden und Wildbeutern und arabischen Seefahrern als eigene dritte Größe erwuchs. Das Arabische wurde dabei bereits in der zweiten Generation zugunsten des Swahili aufgegeben. 26 Casson, Lionel: The ›Periplus Maris Erythraei‹. Text with Introduction, Translation, and Commentary, Princeton 1989. 27 Horton, Mark: »The Swahili Corridor«. In: Scientific American 257/3, (1987), S. 76-84. 28 Freeman-Grenville, G. S. P./Martin, B. G.: »A Preliminary Handlist of the Arabic Inscriptions of the Eastern African Coast« [1973]. In: The Swahili Coast, 2nd to 19th Centuries, hg. v. G. S. P. Freeman-Grenville, London 1988, S. 99. 29 Nurse, Derek/Spear, Thomas: The Swahili, S. 59. 371

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Die Araber brachten hierbei ihre in verschiedene Gattungen untergliederte Dichtkunst mit, deren strenge Reim- und Versstrukturen ebenfalls swahilisiert wurden.30 Mit dem Datum 1728 steht das älteste zur Zeit bekannte Swahili-Epos fest, das wechselweise den Titel Utenzi wa Tambuka (Das Epos von Tabuk) oder Chuo cha Herekali (Das Buch des Herkal) trägt. In 1150 vierzeiligen Versen mit je acht Silben und verseigenen Reimen in den ersten drei Zeilen und einem das Gedicht in Gänze durchlaufenden Auslautvokal in der vierten Zeile erzählt das halb singend, halb sprechend rezitierte Gedicht vom Kampf des oströmischen Kaisers Heraklios gegen den Propheten Mohammed und den fortwährenden muslimischen Kämpfen gegen das Reich Byzanz in der Zeit von 628 bis 1453; der Schlachort Tabuk ist dabei offensichtlich nicht historisch. Das Epos hält sich eng an eine nicht näher datierbare arabische Vorlage, die der Swahili-Dichter Mwengo bin Athmani an einzelnen Stellen (z. B. bei Naturbezügen) an das ostafrikanische Küstenmilieu anpasste.31 Weltliterarische Bedeutung hat dieses Werk wohl darin, dass es die immer wieder aktualisierte Konfrontation zwischen Islam und Christentum thematisiert (für die heutige Zeit ist das konkret nicht der Fall) und hiermit gleichzeitig auch die Jihad-Bemühungen um die Aufrechterhaltung des richtigen Glaubens in der eigenen Religionsgemeinschaft anspricht. Literaturgeographisch zeigt sich der Stoff dieser Dichtung auch im Kayawar-Epos der zentralsudanischen Kanuri, das allerdings stärker vom arabischen Modell abweicht und deutlich mehr Lokalismen aufweist. Dies wird damit zu erklären sein, dass die Swahili-Redaktion eine Schriftbasis hat (wenngleich mündlich vorgetragen wurde und das Manuskript nur eine Funktion als Kompositionspartitur und Aide-mémoire hatte), während die Kanuri-Redaktion auf dem rein mündlichen Vortrag und Gedächtnisvermögen der stets blinden Kayawar-Epensänger beruht, deren Kampf gegen die Ungläubigen sich auch auf die mythische Schicht

30 Shariff, Ibrahim Noor: Tungo Zetu. Msingi wa Mashairi na Tungo Nyinginezo, Trenton/N.J. 1988; Abdulaziz, Mohamed H.: »The Influence of the Qasida on the Development of Swahili Rhymed and Metred Verse«. In: Qasida Poetry in Islamic Asia and Africa, Bd. 1 (=Classical Traditions and Modern Meanings), Studies in Arabic Literature 20/1, hg. v. Stefan Sperl/C. Schackle, Leiden/New York/Köln 1996, S. 411-428. 31 Paret, Rudi: »Die arabische Quelle der Suaheli-Dichtung ›Chuo cha Herkal‹ (Das Buch von Herkal)«. In: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 17 (1926/1927), S. 241-249; Abel, Martin: »Die arabische Vorlage des Suaheli-Epos Chuo cha Herkal. Ein Beitrag zur Kenntnis der legendären Maghazi-Literatur«. In: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen (Beiheft 8), Berlin 1938. 372

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der riesenhaften Kanuri-Vorbevölkerung der Sao erstreckt.32 Die weitere Verbreitung dieses Epos im afrikanisch-islamischen Raum (z. B. gibt es auch eine Hausa-Redaktion) festzustellen, ist Desiderat. Da das Swahili-Epos in all seiner Komplexität 1728 nicht aus dem Stand heraus komponiert worden sein kann, muss es hierzu Vorformen bereits früher gegeben haben. Die arabisch geprägte Swahili-Dichtung ist dabei bis etwa 1800 fast nur als religiöse Dichtung erkennbar, was vielleicht damit zusammenhängt, dass bei der Tropenfeuchte und Termitengefahr auf Papiere mit derartigem Inhalt besonders geachtet wurde. Durchgehende Themen über die Jahrhunderte sind Mohammeds Leben, seine Himmelfahrt mit Höllenschilderungen (die Dante beeindruckten), das Jüngste Gericht, die Wiederauferstehung, Schöpfung und Fall des Menschen, die Nichtigkeit alles Weltlichen, aber auch arabo-afrikanische Kosmologie und Sozialmoral.33 Bedeutsam ist, dass es zu dieser zugleich schriftlichen und mündlichen Literatur auch eine indigene philologische Kultur und Vorstellungen von Besitz und Kopierrecht gibt.34 Für die Zeit nach 1800 fallen auch säkularisierte Themenbearbeitungen auf wie z. B. die Sozialsatiren und Kriegsdichtungen des Muyaka bin Haji (17761840) aus Mombasa und die Dichtung zum Eheleben der Mwana Kupona für ihre Tochter.35 Mit der Gewalteskalation der britischen und deutschen Kolonialkräfte gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in der Utenzi-Dichtung der zuvor eher religiös-metaphysische Kampf zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu einem säkularen Kampf 32 Karta, Yaganami: »The Kayawar: A Kanuri Islamic Epic«. Ph. D. Thesis, Department of Languages and Linguistics, Nigeria 1993; ders.: »Kanuri and Islamic Elements in the Kayawar«. In: Frankfurter Afrikanistische Blätter 6 (1994), S. 87-95; ders.: »Wakar Tabuka, the Kayawar and Utenzi wa Tambuka: A Comparison of Three Popular African Islamic Epic Traditions«. In: Annals of Borno 15/16 (1998/1999), S. 20-27. 33 Knappert, Jan: Four Centuries of Swahili Verse. A Literary History and Anthology; ders.: »The Canon of Swahili Literature«. In: Middle East Studies and Libraries. A Felicitation Volume for Professor J. D. Pearson, hg. v. B. C. Bloomfield, London 1980, S. 85-102. 34 Knappert, Jan: »The Appreciation of Swahili Poetry«. In: Kiswahili 44/2 (1974), S. 19-29. 35 Werner, Alice: »The Utendi wa Mwana Kupona«. In: Varia Africana 1 (=Harvard African Studies 1), hg. v. Oric Bates Cambridge, Mass. 1917, S. 147-181; zum Artikel »Chuo cha Herkal« mit deutscher Inhaltsangabe und weiterer Sekundärliteratur siehe Zwernemann, Jürgen: »Chuo cha Herkal«. In: KLL (=Kindlers Literatur-Lexikon), hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, 3. Aufl., Stuttgart (erscheint 2009); Geider, Thomas: Artikel »Muyaka bin Haji Al-Ghassanyi« und »Kupona binti Msham, Mwana«. In: KLL, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, 3. Aufl., Stuttgart (erscheint 2009). 373

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zwischen Gut und Böse. Die Idiomatik und Topik der Gedichte setzt sich aus den Sprachpositionen der Aufständischen einerseits, Kolonialoffiziere andererseits und der Dichter dazwischen zusammen.36 Die SwahiliDichtung stieß bereits um 1850 auf großes Interesse bei europäischen Swahilisten, Kolonialakteuren und Missionaren, die archivierte und lokal kopierte Manuskripte mit einer Hochphase in den 1950-1960er Jahren (Unabhängigkeitswerdung Ostafrikas) bis heute edieren. Sie und die anderen Afrikanisten haben wohl nicht immer Texte von weltliterarischem Rang publiziert (Kanon-Auffassung), aber in dem vom Europa des 19. Jahrhunderts ausgehenden Engagement für andere als die eigenen Literaturen sind sie an einem weltliterarischen Prozess beteiligt. An der Editionsarbeit sind seit den 1950er Jahren auch Swahili-Gelehrte und Wissenschaftler beteiligt, die zumeist aus der Motivation der Bewahrung von durch die Moderne gefährdeter Kultur, von Sprachpflege und zur Behauptung der ethnischen Identität handeln. Ein hochrangiges Gemeinschaftsprojekt der letzten Jahre ist die Herausgabe des frühen säkularen Fumo Liyongo-Epos, das z. T. in archaischem Swahili die Herrschergestalt des Liyongo und die interethnischen Beziehungen der Vorkolonialzeit im Gebiet der Tana River-Mündung thematisiert. Mit DFG-Mitteln wurde hier unter der Koordinatorin Gudrun Miehe ein monatelanger Dialog mit acht der führenden Swahili-Dichter und Gelehrten geführt, um weit zerstreut vorliegende Episodenmanuskripte in einer Edition zu vereinen. Die Edition zeigt dabei, dass nicht nur die Mündlichkeit Varianten erzeugt, sondern auch die Manuskript-Literalität.37 Der weltliterarisch zu sehende Status dieser Epos-Edition resultiert nicht nur aus der nachkolonialen Philologengruppe, sondern auch aus dem produktiven Irrtum von Ruth Finnegan, die Afrika die Existenz einer Epik absprach,38 was sofort einen Boom an Gegenforschung auslöste. John Johnson kartierte bald einen »African Epic Belt«, aus dem er die Swahili-Epik als zu theologisch und literal tradiert ausschloss.39 Spätestens die Liyongo Fumo-Epik zeigt

36 Vgl. Miehe,Gudrun/Bromber, Katrin/Khamis, Said/Grosserhode, Ralf (Hg.): Kala Shairi. German East Africa in Swahili Poems (=Archiv afrikanistischer Manuskripte 6), Köln 2002. 37 Liyongo Working Group: Liyongo Songs. Poems Attributed to Fumo Liyongo (Archiv Afrikanischer Manuskripte 7), Köln 2004. 38 Finnegan, Ruth: Oral Literature in Africa, Oxford 1970, S. 333. 39 Johnson, John William (Hg.): The Epic of Son-Jara. A West African Tradition. Analytical Study and Translation by John William Johnson (Text von Fa-Digi Sisòkò. Transcribed and translated with the assistance of Charles S. Bird, Cheick Oumar Mara, Checkna Mohamed Singaré, Ibrahim Kalilou Tèra, and Bourama Soumaoro), Bloomington 1986, S. 58-62. 374

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jedoch, dass eine Manuskript-Kultur auch eine Kultur der Oralität sein kann und zum Kern afrikanischer Epik gehört.

3. Die orientalische Moderne und frühe britische Missionszeit (1820-1890) Durch die Verlegung des Regierungssitzes von Sultan Sayyid Said von Oman nach Zanzibar in den 1820er Jahren wurde Zanzibar ein regionales Machtzentrum, das auf französische, britische, amerikanische und deutsche Kaufleute und Handelshäuser große Anziehung ausübte. Zugleich intensivierten sich die Handelsbeziehungen zu Ägypten, das nach der Eröffnung des Suezkanals 1869 noch interessanter wurde, und zu Indien, dessen Bankiers auf einen sich lukrativ entwickelnden Markt aufmerksam wurden. Grundlage der Ökonomie waren seit etwa 1770 stark in Europa nachgefragte Produkte wie Elfenbein und Kautschuk, die im Inneren Ostafrikas gewonnen werden konnten, und Gewürze, die auf Plantagen in Zanzibar angebaut wurden. Zu diesem Zweck wurden vielhundertköpfige Karawanen, von indischen und arabischen Geldern finanziert, bis in den östlichen Kongo ausgesandt, die mit den Exportgütern und unterwegs versklavten Menschen zurückkamen, die diese tragen mussten, um dann nach Arabien weiterverkauft zu werden.40 Auf diese Region wurden auch deutsche und britische Missionare aufmerksam, die Möglichkeiten Fuß zu fassen darin sahen, befreite Sklaven in Rabai, Freretown, Lutindi, Zanzibar und anderen Orten anzusiedeln und für das Christentum und die europäische Zivilisation zu gewinnen. Dabei fuhren die Missionare einen Kurs des Auskommens mit den zanzibarischen Herrschern, die stark an den neuen europäischen Erfindungen, der englischen Sprache und manchen Wissensbereichen interessiert waren. Mit dem Personenverkehr der Herrscher wurde auch die Immigration sonstiger Passagiere aus Arabien und Indien angekurbelt, die als Händler, Handwerker und Plantagenbesitzer ihr neues Auskommen in Ostafrika suchten. Um den Handel zu sichern, traten bald auch britische und deutsche Kolonialagenten hinzu, die in den 1880er Jahren so genannte Schutzverträge aushandeln konnten, die Zanzibar und Tanganyika

40 Sheriff, Abdul: Slaves, Spices and Ivory in Zanzibar. Integration of an East African Commercial Empire into the World Economy, 1770-1873 (Eastern African Studies), London 1987. 375

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(Deutsch-Ostafrika) unter die militärisch übermächtigen Kolonialnationen England und Deutschland zwangen.41 Für die Swahili-Sprache bedeuteten diese Kulturkontakte mehr als je zuvor eine massive Übernahme von Lehnwörtern aus arabischen Sprachvarietäten, indischen Sprachen42 und erstmals aus dem Englischen, z. B. stima ›Dampfschiff‹, bichboi ›betrügerischer Fremdenführer‹ oder picha ›Foto‹.43 Hierzu gehören auch Gattungsbegriffe der literarischen Prosa wie kisa ›kurze Geschichte‹, hadithi ›Erzählung‹, hekaya ›Erzählung von etwas Außergewöhnlichem‹ und kioja ›erstaunliche bzw. erschreckende Erzählung‹, die mit ihren Signifikaten die bantu-sprachige Terminologie masimulizi ›Erzählung‹ und ngano ›Erzählung, Märchen‹ erweiterten.44 Wie heute noch erkennbar geht es hierbei um eine Abstufung von Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit des Erzählten, die bei islamischen Klerikern erwünscht bzw. unerwünscht ist.45 Die Gattung der ›Zaubermärchen‹ mit ihren furchterregenden Monstern, fliegenden Körben, sprechenden Tieren, nachlaufenden und sich zusammensetzenden Kürbisschnitzeln und den impliziten Botschaften wurden vielfach abgelöst durch realistische Geschichten um dieselben Personenkonstellationen, nur dass die Handlungen fast tatsächlich so geschehen könnten und die Geschichten oft mit einer expliziten Lehre enden, die der islamischen Weltdeutung nicht widersprechen. Ab etwa dieser Zeit kann der zimwiOger der Bantutradition in ein und derselben Erzählung auch durch den jini-Geist des arabischen Volksglaubens abgelöst werden, der nicht nur ein einfaches Synonym bzw. islamisch akzeptierter Subsumtionsbegriff

41 Gray, J. M.: Zanzibar and the Coastal Belt, 1840-1884, Pouwels, Randall L.: Horn and Crescent. Cultural Change and Traditional Islam on the East African Coast, 800-1900. 42 Lodhi, Abdulaziz Y.: Oriental Influences in Swahili. A Study in Language and Culture Contacts (=Orientalia et Africana Gothoburgensia 15), Göteborg 2000, S. xiii, S. 257. 43 Geider, Thomas: »Lehnwort- und Neologismenforschung«. In: SwahiliHandbuch (=Afrikawissenschaftliche Lehrbücher 7), hg. v. Gudrun Miehe/Wilhelm J. G. Möhlig, Köln 1995, S. 330. 44 S. Rollins, Jack D.: A History of Swahili Prose 1 (=From Earliest Times to the End of the Nineteenth Century), Leiden 1983. Die Bedeutungen der Lexeme sind bei Rollins auf Englisch ausgedrückt und sehr differenziert in der Diskussion verschiedener lexikographischer Quellen. 45 Vgl. Bonebakker, Seeger A.: »Nihil obstat in Storytelling?«. In: The Thousand and One Nights in Arabic Literature and Society (Giorgio Levi Della Vida Conferences 12), hg. v. Richard G. Hovannisian/Georges Sabagh, Cambridge 1997, S. 56-77 (mit der Darstellung koranischer Ansichten zum fiktionalen Erzählen). 376

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ist, sondern auch neue Erzählmotive mit sich brachte wie z. B. die Verfolgung des Opfers durch sich ausdehnende Arme.46 Märchensammlungen vom Ende des 19. Jahrhunderts sind Steere,47 Büttner48 und Velten.49 Inge Hofmann50 stellt für 26 Erzählungen darin eine Entlehnung aus Geschichten aus 1001 Nacht, Abu Nuwas, dem Pañcatantra, Kalila wa Dimna und dem Sukasaptati (Papageienbuch) fest, für die sie einen mündlichen Vermittlungsweg annimmt. Wie bei den Lehnwörtern sind Varianten- und Motiventlehnungen von außerhalb Afrikas relativ eindeutig erkennbar, während innerafrikanische Entlehnungen zumeist schwer nachweisbar sind. Das Mittel der Inlanderschließung waren die Karawanen, die wochenlang bis nach West-Tanzania und Kongo unterwegs waren und an bestimmten Orten rasteten, die sich bald zu Märkten auswuchsen, die wiederum zu Magneten für ihr Umland wurden. Die Träger- und Händlersprache war Swahili, das im Inland auf rasante Verbreitung stieß.51 Mit ihr kam es zum Austausch von Erfahrungen und Ideen,52 die zu einer bestimmten literarischen Verdichtung des Raums führten und Swahili-orientalische Ideen weit in das Landesinnere diffundierten. Die Gattung habari ›Nachricht, Bericht‹ erlebte ihre Gründung. Nach ersten genealogischen Ortsdokumenten auf Arabisch schrieb man nun im 19. Jahrhundert an jedem wichtigen Ort eine Chronik auf Swahili, um Herrschaftsansprüche geltend zu machen.53 Eine literarische Innovation stellten ›Reiseberichte‹ (ebenfalls habari genannt) dar, für die sich Carl 46 Velten, Carl: Prosa und Poesie der Suaheli, Berlin 1907, S. 98 f.; Werner, Alice: Myths and Legends of the Bantu, London 1933, S. 251; Geider, Thomas: Die Figur des Oger in der traditionellen Literatur und Lebenswelt der Pokomo in Ost-Kenya 1, S. 297; ders.: Remarks on Three Swahili Ogre Tales as Narrated by Binti Amira Msellem Said from Mombasa, S. 56 f. 47 Steere, Edward: Swahili Tales, As Told by Natives of Zanzibar, London 1870. 48 Büttner, Carl Gotthilf: Anthologie aus der Suaheli-Litteratur 1-2, Berlin 1894. 49 Velten, Carl: Märchen und Erzählungen der Suaheli (=Lehrbücher des Seminars für Orientalische Sprachen 18), Stuttgart/Berlin 1898; ders.: Märchen und Erzählungen der Suaheli, Stuttgart/Berlin 1898; ders.: Prosa und Poesie der Suaheli. 50 Hofmann, Inge: »Zur Herkunft einiger Swahili-Erzählungen«. In: Afrika und Übersee 53 (1969), S. 1-37. 51 Struck, Bernhard: »Die Einheitssprache Deutsch-Ostafrikas«. In: Koloniale Rundschau 11/4 (1921), S. 164-196. 52 Ranger, Terence: »The Movement of Ideas, 1850-1939«. In: A History of Tanzania, hg. v. I. N. Kimambo/A. J. Temu, Nairobi 1969, S. 161-188. 53 Geider, Thomas: The Paper Memory of East Africa. 377

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Velten54 interessierte, nachdem er 1893 den Karawanenführer Sleman bin Mwenyi Chande in Dar es Salaam von einer Inlandreise hatte erzählen hören. Bald hatte er einige Erzähler zusammen, die ihm gegen ein ›Bakschisch‹ entweder diktierten oder Berichte niederschrieben, die die angetroffenen Inlandbevölkerungen unter merkantilen Gesichtspunkten ethnographisch beschrieben; Leitmotive waren hier Warenaustauschverhältnisse für Elfenbein und Eisenwaren, die Anbauprodukte und Bekleidungsarten der Menschen, die Launen und Sprechweisen bestimmter Chefs – alles Informationen, mit denen man sich über das Inland austauschte und vielleicht neue Mitstreiter für die nächste Karawane anheuern wollte. Ein besonderer Bericht ist Safari yangu ya Russia na ya Sibirien (Meine Reise nach Rußland und Sibirien) des Komorianers Selim bin Abakari, der 1896 als Diener seinen Herrn Dr. Bumiller und Hermann von Wissmann auf einer Touristen- und Jagdreise begleitete. Die Route ging von Berlin über Moskau, Omsk, Semipalatatinsk, die russischchinesische Grenze, Taschkent, Samarkand nach Baku und zurück nach Berlin. Selim beschrieb hierbei Eigenheiten der russischen, tartarischen, kalmückischen und kirgisischen Kulturen.55 Als erkannter Muslim wurde er zu einer religiösen Ansprache aufgefordert, an einem anderen Ort wurde er wegen seiner Hautfarbe für einen Geist gehalten.56 Dieser erste afrikasprachliche Bericht eines afrikanischen Reisenden in Asien erfuhr in neuerer Zeit verschiedene Übersetzungen: ins Englische (1965), Tschechische (1969), Französische (1994 und 2003), Komorische (1994) und Russische (1997). Bemerkenswert ist die Rückschau des tschechischen Übersetzers Luboš Kropácek, der diesen Text im unmittelbaren Zeitbezug auswählte: »The straightforward narration of troubles experienced by an attentive black African traveller with the dull bureaucracy of the tsarist Russia was inevitably understood by Czech readers – at a time after the Soviet invasion of the country, when any critical remark against the

54 Velten, Carl: Safari za Wasuaheli, Göttingen 1901; ders.: Schilderungen der Suaheli von Expeditionen v. Wissmanns, Dr. Bumillers, Graf v. Götzens und Anderer. Aus dem Munde von Suahelinegern gesammelt und übersetzt, Göttingen 1901. 55 Velten, Carl: Schilderungen der Suaheli von Expeditionen v. Wissmanns, S. 277-308; ders.: Safari za Wasuaheli, S. 253-282. 56 Geider, Thomas: »Early Swahili Travelogues«. In: Sokomoko. Popular Culture in East Africa (Matatu 9), hg. v. Werner Graebner, Amsterdam/Atlanta 1992, S. 37. 378

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occupants was immediately suppressed – as a pleasantly piquant piece of reading«57. Im Rahmen der britischen Zanzibar-Mission wurden ab 1867 erstmals Übersetzungen aus der englischen Literatur in das Swahili eingeführt.58 Den Beginn machte der Bischof Edward Steere mit Hadithi za Kiingereza,59 der für seine Schüler Shakespeares Stücke The Taming of the Shrew, The Merchant of Venice, King Lear und Timon of Athens in der Prosa-Nacherzählung nach Charles Lamb 1807 herausgab. 1889 wurde Paul Bunyan's The Pilgrim' s Progress anonym unter dem Titel Msafiri (Der Reisende) herausgegeben, dem Isabel Hofmeyer60 bei Übersetzungen in mehr als 77 afrikanische Sprachen, fußend auf Vorüberlegungen von Albert Gérard,61 einen maßgeblichen Einfluss in der Entstehung von afrikanischer Romanliteratur im Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zuschreibt. 1889 erscheinen mit Charles Kingsley's Mashujaa: Hadithi za Wayonani (Helden: Geschichten der Griechen) Auszüge aus Werken der griechischen Klassik. 1890 folgt die Sammlung Hadithi za Esopo (Fabeln von Äsop), die bis in die heutige Zeit Neuauflagen erfährt. Während Äsop damals als Grieche galt, wird er heute in afrozentristischer Perspektive als afrikanischer Sklave in Griechenland markiert. Die afrikanische Oralliteratur, die zeitgleich von Missionaren und den ersten Kolonialbeamten aufgezeichnet wurde, ging nicht in die Schulbuchliteratur ein, sondern musste im Rahmen der kolonialen Mission aus der europäischen Literatur stammen, die bereits damals dort als Weltliteratur galt.

57 Kropá¦ek, Luboš:. »Fifty Years of Swahili Studies in Prague«. In: Archív Orientálni 62 (1994), S. 367. 58 Die auch im nächsten Abschnitt folgende Nennung von beispielhaften Titeln von Swahili-Übersetzungen europäischer Literatur würde das unten angeführte Literaturverzeichnis sprengen. Ihr bibliographischer Nachweis und kritisch-literaturgeschichtliche Anmerkungen seien daher bei mir zu entnehmen (Geider, Thomas: »A Survey of World Literature Translated into Swahili«. In: Beyond the Language Question – The Production, Mediation and Reception of Creative Writing in African Languages, Köln 2008). Nach Abschluss dieses Artikels ist Alamin M. Mazrui, bekannt geworden, der einen Teil dieser Titel ebenfalls diskutiert (Mazrui, Alamin M.: Swahili beyond the Boundaries. Literature, Language, and Identity, Athen 2007). 59 Steere, Edward: Hadithi za Kiingereza, Zanzibar 1867 (›Englische Geschichten‹). 60 Hofmeyr, Isabel: The Portable Bunyan. A Transnational History of ›The Pilgrim's Progress‹, Princeton/Oxford 2004. 61 Gérard, Albert: African Language Literatures. 379

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4. Die europäische Kolonialzeit (1885-1918 bzw. 1963/64) Die Kolonialzeit in Deutsch-Ostafrika dauerte von 1885 bis 1918 (ab dann war Tanganyika britisch), die britische Kolonialzeit in Tanzania und Kenya von 1890 bis 1963/64. Auf dem Festland breitete sich Swahili rapide über die Regierung, Schulen, den Handel, die Ansiedlung von Europäern, die Mission, Plantagen und besonders auf Baustellen von Eisenbahn, Wegen und Brücken aus.62 Eine wichtige Maßnahme im deutschen System war 1907 die Ablösung der arabischen Swahili-Schrift durch die lateinische Schrift.63 Deutsche Literatur wurde nicht für Ostafrika übersetzt. Man präferierte stattdessen die Aufzeichnung von Oralliteratur in Swahili und den anderen einheimischen Sprachen, in denen die afrikanistische Philologie eine große handwerkliche Fertigkeit entwickelte. In der relativ kurzen Zeit des Kolonialismus kamen diese Aufnahmen allerdings kaum den Ostafrikanern zugute; sie blieben in den Bibliotheken liegen, aus denen sie heute wieder nach Ostafrika rückgeführt werden müssten. Für den weltliterarischen Prozess ist der britische Einfluss ab etwa 1925 entscheidender. Zu dieser Zeit wurde das koloniale Schulsystem reformiert und die Standardisierung des Swahili vorbereitet (die 1930 abgeschlossen wurde). Hierzu initiierte das Department of Education in Dar es Salaam die swahili-sprachige Monatszeitschrift Mambo Leo (etwa: Modernes Leben), die Nachrichten aus England (Königshaus, Militär, Stadtleben usw.) und Artikel zur Gesundheitspflege, Technik, modernen Landwirtschaft und Veterinärmedizin brachte. Höher noch war die Beteiligung ostafrikanischer Autoren, die Nachrichten aus den Provinzen einlieferten und vor allen Dingen die Gattung Auto-Ethnographie ins Leben riefen, die nach der Einführung der »Indirect Rule« neben der Kulturbewahrung und gegenseitigen Kulturvermittlung die eminent wichtige Aufgabe hatte, die ethnischen Gruppen zu identifizieren und voneinander abzugrenzen. Da hierbei die Herleitung der Herrschaftsansprüche von Chief-Familien eine große Rolle spielte, gehören hierzu immer auch kurze Biographien.64 Schnell und zahlreich veröffentlichte Leserbriefe machten diese Zeitschrift mit einer Auflage von 6-8000 monatlichen Exemplaren zu einem frühen interaktiven Medium in Ostafrika. Literarische Innovationen waren der Essay (insha), eine moderne shairiDichtung zu Tagesthemen und Bildwerbung. Im Gefolge der mündlichen Rätselspiele wurde in der Juli-Nummer 1925 von Mambo Leo das 62 Struck, Bernhard: Die Einheitssprache Deutsch-Ostafrikas, S. 176. 63 Ebd., S. 174. 64 Zur Gattungsentwicklung siehe Geider, Thomas: The Paper Memory of East Africa. 380

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Kreuzworträtsel eingeführt,65 nachdem es gerade erst 1913 in New York erfunden worden war, 1922 mit Pearson's Magazine England erreichte, mit der Berliner Morgenpost vom 30. November 1924 Deutschland, und Russland und The Times die Textsorte erst 1926 bzw. 1930 abdruckten66 – in einer Situation der Sprachstandardisierung und des Ausbaus der Moderne sicherlich eine sehr brauchbare Gattung des Wortspiels. Bereits zeitgenössisch wurde geurteilt, dass 1925 das Jahr sei, in dem die »modern period« der Swahili-Literature begonnen habe,67 was die spätere Literaturgeschichtsschreibung als »transition from the Oriental to the Western cultural hemisphere« bezeichnete.68 In diesem publizistischen Milieu wurde – wieder unter Verzicht auf die einheimische Oralliteratur – Weltliteratur in das Swahili übersetzt. Zuerst wurden die Titel in Mambo Leo serialisiert. Hierzu gehören z. B. Hadithi ya Hiawatha (1927; Henry Wadsworth Longfellow, The Song of Hiawatha, 1855); Rider Haggard, Mashimo ya Mfalme Sulemani (1929; King Solomon's Mines, 1885); Rudyard Kipling, Hadithi za Maugli, mtoto aliyelelewa na mbwa mwitu (1929; The Jungle Books, 1894/1895); Robert Louis Stevenson, Kisiwa chenye hazima (1929; Treasure Island, 1883). – Ab 1930 erschienen die Titel selbständig bei Sheldon Press, London, zum Teil in der Reihe Masimulizi ya Mambo Leo (Erzählungen aus Mambo Leo). Einige Titel sind: Hadithi ya Robinson Kruso (1930; Daniel Defoe, The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, 1719); Jonathan Swift, Safari za Gulliver (1932; Lemuel Gulliver, Travels into Several Remote Nations of the World, 1726); Lewis Carroll, Elisi katika nchi ya ajabu (1940; Alice's Adventures in Wonderland, 1865). In ihrer verkürzenden Nacherzählung sind dies eher Titel der Jugendliteratur, die schließlich in das Schulcurriculum gelangten,69 als Titel der Erwachsenenlektüre, die sie ursprünglich darstellten. Eine Sonderrolle spielt David Edward, Hadithi za Esopo (1937-1942; Äsops Erzählungen, 3 Bände), der seine Übersetzungen mit christlich gefärbter Moral aufstockte; wie Äsop kam es ihm nicht auf Helden an, sondern auf

65 Mpelembe, Raphael: »Namna Mpya ya Tambo«. In: Mambo Leo 3/30 (1925), S. 131-134. 66 Geider, Thomas: A Survey of World Literature Translated into Swahili. 67 Hellier, Canon A. B.: »Swahili Prose Literature«. In: Bantu Studies 14 (1940), S. 255. 68 Ohly, Rajmund: Swahili – The Diagram of Crises (=Beiträge zur Afrikanistik 15), Wien 1982, S. 74. 69 Harries, Lyndon: »Translating Classical Literature into Swahili«. In: Swahili 40/1 (1970), S. 28-31. 381

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die Tugenden der Zurückhaltung, Klugheit, Mäßigung und Vorausschau, die auch die Tugenden der bäuerlichen Swahili sind.70 Ab 1945 erschienen in Dar es Salaam französische Autoren, ohne dass hierfür bis jetzt die Bedingungen bekannt geworden sind: Molière, Tabibu asiyependa ngwana (1945; Le Médecin malgré lui, 1666), Mchuuzi mwungwana (1948; Le Bourgeois Gentilhomme, 1670) und Mnafiki (195-?; Le Malade imaginaire, 1673); Voltaire, Hadithi ya Zadiq (1950; Zadig, ou La Destinée, 1748) und Hadithi za Kandidi (195-?; Candide ou l'Optimisme, 1759); dazu Carlo Collodi und Serfaina Eros Bella, Mambo yaliyompata Pinokyo. Hadithi ya mwanasesere (1957; Le avventure di Pionocchio. Storia di un burattino, 1883). Als Ausdruck der Swahili-Identität gelten in hohem Maße die Erzählungen von Tausend und eine Nacht, von denen 34 Geschichten in Mazungumzo ya Alfu-Lela-Ulela (1929, 2 Bände) erschienen, übersetzt von Edwin Brenn (einem Ostafrikaner) und Frederic Johnson (dem Lexikographen und Sekretär des Swahili-Kommittees) unter offensichtlicher Vorlage von Richard Burtons The Arabian Nights' Entertainments (18851888). Bemerkenswert ist, dass keine dieser Erzählungen für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert für die Swahili-Literatur nachweisbar ist, auch nicht in intertextuellen Motivbeziehungen zu anderen Märchen, Chroniken und der Dichtung. Auffällig hingegen ist, dass Steere 1001-Nacht-Erzählungen bietet, die seine Gewährsleute ihm mündlich auf Swahili, aber sehr nah am Text von gedruckten arabischen Vorlagen diktierten.71 Zumeist aus Kairo stammende Drucke dieser Art, die nur eine oder wenige dieser Geschichten enthalten, haben vor 1835 im Arabischen nicht existiert, so dass dieses Jahr hypothetisch als Terminus post quem für die Kenntnis von 1001 Nacht-Geschichten im swahili-sprachigen Ostafrika gelten kann.72 Selbst wenn eine Geschichte in der einen oder anderen Variante vor 1835 dort doch im Umlauf gewesen sein sollte, ist es doch die koloniale Ausgabe von 1929, die Swahili-Lesern qua Titel ein Bewusstsein von einem 1001 Nacht (Alfu Lela U Lela) genannten Korpus gegeben hat. In mehreren Nachdrucken ist die Sammlung bis in die jüngere Zeit eine Schullektüre gewesen, die kaum an einem älteren Schüler der letzten 6-7 Generationen vorbeigegangen sein kann. In der zweimonatlich erscheinenden Desktop-publishing-Zeitschrift Jua (Sonne) des 70 White, P. F.: »Diva: the Swahili Aesop«. In: Tanzania Notes and Records 73 (1974), S. 58. 71 Steere, Edward: Swahili Tales, S. ix, S. xi; Hofmann, Inge: Zur Herkunft einiger Swahili-Erzählungen, S. 3. 72 Geider, Thomas: »Alfu Lela Ulela: The ›Thousand and One Nights‹ in Swahili-speaking East Africa«. In: The Arabian Nights in Transnational Perspective, hg. v. Ulrich Marzolph, Detroit 2007, S. 186 f. 382

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Kölner Swahili-Lektors Adam Hassan sind 1996-2000 neue, von ihm besorgte, dem aktuellen Küsten-Swahili näher stehende Übersetzungen erschienen, die gerade unter Swahili in der europäisch-amerikanischen Diaspora einen außerordentlichen Zuspruch erfuhren. Sie lesen darin nicht nur für vermisst gehaltene Geschichten ihre Jugend, sondern auch völlig neu hinzukommende 1001 Nacht-Geschichten, die Adam auf der Grundlage Copyright-freier Billignachdrucke aus dem Kaufhausbuchhandel übersetzte. Seine Übersetzungen erreichten Tanzania, wo sie 2004 im Verlag Mkuki na Nyota, Dar es Salaam, neu verlegt und vom Erziehungsministerium auf ihre Tauglichkeit für das Schulcurriculum überprüft wurden.73 So wie das arabische 1001 Nacht-Werk durch Gallands Übersetzung ab 1704 erst in die europäische und dann in die Weltliteratur gelangte, so waren es auch europäische Rahmenbedingungen, die 1001 Nacht im Swahili-Sprachraum konstituierten.

5. Die Zeit der Unabhängigkeit ab 1964 bis heute Durch die Ujamaa-Politik der Selbstgenügsamkeit und Eigenständigkeit und die mit ihr einhergehende Swahili-Sprachpolitik nach 1964 ist in Tanzania eine reiche Swahili-Literatur entstanden.74 Am Vortag der dafür von Julius Nyerere formulierten Arusha-Deklaration vom 5.2.1967 musste der Bildungspolitiker Samuel Mushi allerdings auf der Tanzania Books Week in Dar es Salaam auch eine Lanze für Literaturübersetzungen brechen: »… we cannot disregard books written by foreigners completely. We cannot disregard books showing us the problems of other nations or books based on foreign cultures. To do that would mean to insulate ourselves from the rest of the world, and this would greatly hamper our general progress. We can learn a great deal from the experiences of our friends provided we are careful to sort out just what is suitable for our particular circumstances. Some of the problems facing us in our nation-building endeavours are, after all, universal problems, and it would be unwise if we decided to be both blind and deaf when faced with solutions tested successfully in foreign countries.«75

73 Ebd., S. 194 ff. 74 Bertoncini, Elena Zúbková: Outline of Swahili Literature. Prose, Fiction and Drama, Reihe 17 (=Nisaba – Religious Texts Translation), Leiden/New York/Kopenhagen/Köln 1989. 75 Mushi, Samuel S.: »The Role of Swahili Books in Nation-Building Endeavours«. In: Swahili 38/1 (1968), S. 7. 383

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Die politisch wichtigste Übersetzung war Julius Nyerere's Wiedergabe von Shakespeare's Julius Caesar, welches 1963 unter dem Titel Julius Caezar erschien. Der Lehrer Nyerere, der Shakespeare erst aus Vergnügen übersetzte und dann zum Beweis, dass Swahili dazu fähig sei, die Stücke des großen Autoren wiederzugeben, revidierte wenig später, als er Staatspräsident war, die Fassung unter dem Titel Juliasi Kaizari. Der Knackpunkt der verbesserten Übersetzung war die afrikanisierte Wiedergabe der Namen, um dadurch das lokale Theaterspiel akzeptabler zu machen: Caezar wurde zu Kaizari, Brutus zu Buruto, Cicero zu Sisero, Calpurnia zu Kapunia usw. Selbst das Frontispiz des Buches zeichnet einen Cäsaren, dessen Züge irgendwie klassisch-antik nachempfunden sind, zugleich aber einen annähernd nordafrikanischen oder somaliähnlichen Typus in Gesichts- und Haarschnitt zeigen.76 Als zweite Übersetzung publizierte Nyerere Shakespeare's The Merchant of Venice unter dem Titel Mabepari wa Venisi (1969). Durch das politische Bündnis Tanzanias mit der Sowjetunion wurden nun auch russische Autoren in das Swahili übersetzt. Die Übersetzer waren zumeist Tanzanianer, die in Moskau studierten. Beispiele sind: • Aleksandr Pushkin, Masimulizi ya Belkin (1967; Povesti pokojnogo Ivana Petrovi¦a Belkina, 1831; Die Erzählungen von Belkin). • Maxim Gorki, Mama (1970; Übs. Badr Said Badr, Mat', 1907; Mutter). • Nikolai V. Gogol, Mkaguzi Mkuu wa Serikali (1979; Übs. Chirston Mwakasaka, Revizor, 1836; Der Revisor). Über die DDR-Verbindung wurden übersetzt: Erich Kastner (sic), Emil na Wapelelezi (1975; Übs. William Frank, Emil und die Detektive, 1929). • Bertolt Brecht, Mtu mzuri wa Setzuan (1980; Übs. Abedi Shepardson und Hassan Marshad, Der gute Mensch von Sezuan, 1942).



Auch afrikanische Autoren, die heute zur Weltliteratur zählen, wurden aus dem Englischen in das Swahili übersetzt; Beispiele aus Nigeria sind: • Chinua Achebe, Hamkani si shwari tena (1972; Übs. M. M. Adam; No Longer at Ease, 1960); Shujaa Okonkwo (1973; Übs. Clement Ndulute, Things Fall Apart, 1958); Mwakilishi wa watu (1977; Douglas Kavugha, A Man of the People, 1966); Mshale wa Mungu (1978; Übs. Hafid Shamte, Arrow of God, 1964).

76 Shakespeare, William: Juliasi Kaizari, (Revised Edition, übersetzt von Julius Nyerere), Dar-es-Salaam/Nairobi/Lusaka/Addis Ababa 1969. 384

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Cyprian Ekwensi, Tafrija ya Usiku (1966; Übs. Titus Echessa, An African Night's Entertainment, 1962). Wole Soyinka, Masaibu ya Ndugu Jero (1974; Übs. A. S. Yahya; The Trials of Brother Jero, 1973).

Auch die Werke von Ngugi wa Thiong'o (James Ngugi) wurden – bevor er sich entschied, nur noch auf Swahili oder Gikuyu zu schreiben – aus dem Englischen in das Swahili übersetzt:



Ngugi wa Thiong'o (James Ngugi), Mtawa Mweusi (1970; unbekannter Übersetzer, The Black Hermit, 1968); Usilie mpenzi wangu (1971; Übs. John Ndeti Somba; Weep Not, Child, 1964); Njia Panda (1974; Übs. John Ndeti; The River Between, 1965); Kesho wakati kama huu (1976; Übs. S. D. Kiango; This Time Tomorrow, 1970); Shetani msalabani (1982; Übs. Clement M. Kabugi; Gikuyu: Caitaani mutharaba-ini, 1980; Devil on the Cross, 1982); (mit Gicere Mugo) Mzalendo Kimathi (1978; Übs. Raphael Kahaso; The Trial of Dedan Kimathi, 1976).

Die Übersetzung all dieser Werke in das Swahili spiegelt deutlich die historischen Phasen Missionierung, Kolonialisierung, Unabhängigkeit und doch politische Blockzugehörigkeit sowie im Rahmen der Dekolonisierung die Afrikanisierung des literarischen und schulischen Lebens wider. Die neuste Literaturgeschichtsschreibung müsste berücksichtigen, dass Swahili-Literatur auch in der westlichen Diaspora und im Internet geschrieben wird.

Ein lokaler Swahili-Roman und seine w e l tl i t e r a r i sc h e n V e r k n ü p f u n g e n Bei all diesen Übersetzungen bleibt schließlich die Frage offen, welche Meisterwerke aus dem Swahili in andere Sprachen übersetzt wurden, und damit die Schwelle überschritten haben, in die Weltliteraturdiskussion zu gelangen. Ein Beispiel ist der 660-seitige, zweibändige Roman Aniceti Kitereza, Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka Ntulanalwo na Bulihwali,77 deren Titel einfach vier Namen aufzählt (Herr M. und Frau B., [Sohn] Nt. und [Tochter] B.).

77 Kitereza, Aniceti: Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka Ntulanalwo na Bulihwali 1-2, Dar es Salaam 1980. 385

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Der Autor: Aniceti Kitereza78 wurde 1896 in Sukuma-Land (ZentralTanzania) geboren, das damals zu Deutsch-Ostafrika gehörte. Sein Vater Malinduma war Mitglied des Herrscherklans Silanga auf der Insel Ukerewe im Victoria-See, die er mit seiner Familie aus innergesellschaftlichen politischen Gründen verlassen musste. Als er 1901 starb, kehrten Kitereza und seine Mutter aus dem Exil nach Ukerewe zurück, wo sie am neu geordneten Herrscherhof lebten. Ab 1905 besuchte Kitereza die Missionsschule der Weißen Väter in Kagunguli (Ukerewe), 1909 wechselte er auf das Seminar Lubya bei Bukoba (auf dem Festland) über. Hier lernte er Deutsch, Französisch, Latein und Griechisch, dazu autodidaktisch Englisch. Über die Bibliotheken der Missionsstationen hatte er Zugang zur westlichen Literatur. Was er dort zu lesen bekam, bleibt unbekannt. 1919 trat Kitereza als Katechet und Lehrer in den Dienst der Mission in Kagunguli. Im selben Jahr heiratete er Anna Katura, mit der er verbunden war, bis sie ein Jahr vor ihm verstarb. 1920-1939 arbeitete er für einen italienischen Kaufmann in Musoma, ab 1940 als Sekretär und Übersetzer auf der Missionsstation Kagunguli. Nebenher betrieb er die Dokumentation von Kerewe-Traditionen. Zu dieser Zeit hatte er Kontakt mit dem kanadischen Pater Almas Simard (1907-1954), der ihn dazu ermutigte, seine ethnographischen Aufzeichnungen leserfreundlicher zu schreiben. 1945 hatte Kitereza sie in Romanform auf Kerewe fertig gestellt. Er fand jedoch keinen Verleger, da für diese Sprache (1987 ca. 100.000 Sprecher) das Buch zu geringe Marktchancen haben würde. Ein Versuch von Pater Simard, 1954 das Buch zu übersetzen und in Kanada herauszugeben scheiterte. 1968-1969 riet das amerikanische Ethnologenehepaar Hartwig Kitereza zur Übersetzung des Romans in das Swahili, das damals zur Nationalsprache Tanzanias erklärt wurde, was Kitereza trotz Polyarthritis in den Händen bewerkstelligte. Über das Tanzania Publishing House wurde das Buch in der Volksrepublik China gedruckt. Erste Vorabkopien des Buches erreichten Ukerewe, nachdem Kitereza gerade wenige Tage zuvor am 20. April 1981 als kinderloser und verarmter Witwer in Kagunguli verstorben war. Der Roman erzählt von einem Ehepaar, das zunächst lange kinderlos bleibt, wodurch Myombekere von den Familien gedrängt wird, die Ehe aufzulösen (Kitereza erfuhr diese Problematik insofern am eigenen Leib, 78 Die Darstellung folgt Hartwig, Charlotte M./Gerald, W.: »Aniceti Kitereza: A Kerebe Novelist«. In: Research in African Literatures 3 (1972), S. 162170; Mulokozi, M. M.: »Rezension: A. Kitereza: Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka, Dar es Salaam 1980«. In: Kiswahili 51/1 und 52/2 (1985), S. 207-215; Möhlig, Wilhelm J. G.: »Nachwort des Übersetzers«. In: Aniceti Kitereza: Die Kinder der Regenmacher. Eine afrikanische Familiensaga, Wuppertal 1991, S. 311-314. 386

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als seine vier Kinder alle jung verstarben). In ihre Herkunftsfamilie zurückgeholt kämpft Myombekere (»Familiengründer«) um seine Frau Bugonoka (»Überraschendes Ereignis«), der er weiter in Liebe zugetan ist. Schließlich bemühen sich beide, Bugonokas Unfruchtbarkeit mit einer komplizierten Heilbehandlung zu überwinden. Letzten Endes wird die Frau schwanger, und der Leser nimmt teil an den Problemen und Ängsten der fortschreitenden Schwangerschaft, bis schließlich der Sohn Ntulanalwo (»Ich bin stets vom Tod umfangen«) geboren wird. Obwohl für Kerewe-Männer absolut tabu, werden in Kapitel 16 ausführlich die Vorgänge bei einer Geburt geschildert. Mit diesem Hauptthema verwandt ist die Nacherzählung einer alten Mythe in Kapitel 13, die davon berichtet, wie die Männer und Frauen aus ihren jeweiligen Reichen zusammenzogen und Familien begründeten. Im zweiten Band wird die erfolgreiche Entwicklung der Sippe in den Personen Myombekeres und Ntulanalwos weitergeschildert. Die Familie muss sich mit zahlreichen Problemen auseinandersetzen, die sie aber auf der Grundlage des Wertesystems der Kerewe meistern. Die Tochter Bulihwali (»Wann wird das Leid enden?«) bleibt eine wenig ausgestaltete Nebenfigur, an der schließlich die Schwachheit des hohen Alters dargestellt wird. Dieser existentielle Rahmen, der von unmittelbarem Belang für jede Kerewe-Person ist, bietet in seinen prall und detailliert erzählten Handlungen Einblicke in das Denken und Handeln dieses bäuerlich lebenden Volkes, in seine Praktiken und Riten im Lebenszyklus zwischen Geburt und Tod, bei diversen Krankheiten und im Lebenserwerb, beim Tauschhandel und bei Festen. Europäische Leser haben hier bisweilen mit der epischen Breite und dem langsamem Handlungsfortgang zu kämpfen.79 Anhand der Interaktionen der Figuren kommen Werte und Benimmregeln zum Ausdruck – im Verhältnis der Geschlechter zueinander, in den verwandtschaftlichen und schwägerschaftlichen Beziehungen, unter Nachbarn und Freunden, gegenüber dem König und den Autoritäten. Entsprechenden Raum bekommt die Reflexion abstrakter ethischer Prinzipien wie Menschenwürde, Achtung vor Älteren und vor dem Gast, Gerechtigkeit bei Vergehen, Leistungsprinzipien und Schamhaftigkeit. Der christliche Autor scheut auch vor Schilderungen traditioneller Glaubensvorstellungen nicht zurück. So sind Gott als Quelle allen Kindersegens, die Ahnen, gute und böse Geister, die menschliche Lebenskraft, aber auch Magie und Hexerei, Wahrsagerei, Heilen und Regenmachen immer wieder Thema. Die großen Botschaften des Romans sind, dass existentielle Schwierigkeiten und ihre Meisterung den Menschen schlechthin ausmachen, dass Tod 79 Zum Beispiel Hettche, Thomas:. »Eins, zwei, drei, Hirsebrei. Aniceti Kiterezas afrikanische Familiensaga«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 281 (03.12.1993), S. 34. 387

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und Leben untrennbar Zwillinge sind und dass Leben und Unsterblichkeit durch Nachwuchs zu gewinnen sind. Zur Sprachlichkeit: Stilistisch ist das Werk, für das Kitereza offenbar kein schriftliterarisches Modell hatte, stark am mündlichen Erzählen und seinen typischen Konstruktionen orientiert. Etwa ein Drittel des gesamten Textes besteht aus der mündlichen Rede der Figuren. Immer wieder werden, stellenweise sogar überfrachtet, Sprichwörter und Metaphern eingesetzt, gelegentlich auch Lobpreislieder. Da Kitereza das Swahili selber als Fremdsprache benutzte, scheinen an einzelnen Textstellen palimpsesthaft Kerewe-Sprechstrukturen durch. Interjektionen und Lautmalereien frischen den Text auf. Vielfach werden KereweLexeme eingesetzt, die in einem eigenen Glossar am Ende des Buches erklärt werden. Oft spricht Kitereza seine Leser unmittelbar an: »Hört zu!« Zur Analyse des Werkes mit den Radien Einzelliteratur – Nationalliteratur – Weltliteratur lässt sich Folgendes sagen: 1. Kitereza erkannte, dass bedeutendes Wissen um die vorkoloniale Ukerewe-Kultur im Verschwinden begriffen war. Wäre er ohne Missionsausbildung gewesen, hätte er sich dem Verlust vielleicht durch Initiativen im Bereich traditioneller Jugendinitiation, Performance und Memoriervermögen entgegenstellen können. Seine Initiative hätte ausschließlich Auswirkungen auf die Kerewe-Gesellschaft gehabt. 2. Die katholische Missionsausbildung vermittelte ihm die Techniken zu forschen und zu schreiben, d.h. Oralität in der Schrift zu fixieren und damit autonom für jedweden potentiellen Leser zu machen. Er schrieb Bücher und andere Dokumente, die lokale Manuskripte blieben.80 In seinem Ansatz entsprach Kitereza einheimischen Ethnographen in den verschiedensten Regionen Tanganyikas der 1920-1930er Jahre, deren Gemeinsames die Wahrnehmung vom Verlust der eigenen traditionellen Kultur, der Impuls, sie per Schrift zu bewahren und der Kontakt zu europäischen Ratgebern der Kolonialadministration oder Mission waren.81 3. Als individuelle Besonderheit riet der kanadische Pater Simard Kitereza zur Wahl einer erzählerischen statt berichtenden Gestaltung, um dadurch insbesondere die Jugend des Landes zum Lesen zu bewegen.82 Ein Modell der ostafrikanischen Auto-Ethnographen der Zeit war die Darstellung der jeweiligen Kultur nach dem Modell des Lebenszyklus zwischen Geburt und Tod, das Kitereza durch die Entscheidung für eine Familiensaga organischer umsetzen konnte. 80 Vgl. Zimon, Henryk: »Geschichte des Herrscher-Klans Abasiranga auf der Insel Bukerebe (Tanzania) bis 1895«. In: Anthropos 66 (1971), S. 338. 81 Vgl. Geider, Thomas: The Paper Memory of East Africa, S. 270 ff. 82 Hartwig, Charlotte M./Gerald, W.: Aniceti Kitereza, S. 165. 388

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4. Kitereza schrieb in seiner Muttersprache Kerewe, deren Marktfähigkeit für ihn offensichtlich kein Problem darstellte. Es kam auf das bloße Schreiben an. Dass diese Sprache in der Vermarktbarkeit problematisch sein würde, erkannte er erst 1945 nach Abschluss des Schreibens. 5. Pater Simard versucht 1954, das Manuskript in das Französische zu übersetzen und in Kanada zu publizieren.83 Er verstarb dort während eines Heimaturlaubs, und Kiterezas Manuskript ging in das African Document Centre der Weißen Väter von Montreal ein.84 Das Buch wurde ›deplaziert‹ und war für einheimische und wissenschaftliche Interessenten für Jahre verschollen. Weitere Kopien des Manuskripts gingen an Personen verloren, die versprochen hatten, sich um eine Publikation zu kümmern, ohne Rückmeldung zu geben. Die einzige Kopie blieb bei Pater Van Der Wee in Montreal unter Verschluss.85 6. Da die Kerewe-Drucklegung angesichts der Swahili-Sprachpolitik Tanzanias immer unwahrscheinlicher erschien, wurde Kitereza davon überzeugt, das Buch auf Swahili umzuschreiben. Als 72-jähriger mit rheumatischen Fingern schloss Kitereza diese Arbeit nach 15 Monaten ab. Sie wurde beim Verlag Heinemann (Sitze in Nairobi und Dar es Salaam) eingereicht, der sie in der sich zum Kanon für afrikanische Literatur entwickelnden »African Writers Series« veröffentlichen wollte. Eine Gutachterkopie ging an den Swahili-Philologen J. W. T. Allen, der eine (teilweise ?) englische Übersetzung des Romans anfertigte.86 Der Druck stellte sich in der Kalkulation als zu teuer heraus.87 Offensichtlich schrieben die Hartwigs ihren Artikel 1972, um auf die Notwendigkeit des Publizierens aufmerksam zu machen. 7. 1975 ging eine zweite Kopie an Walter Bgoya, General Manager des Tanzania Publishing House in Dar es Salaam. Hier fiel die Entscheidung, das Buch tatsächlich zu verlegen. Kitereza bekam einen Vorschuss und stand bis zur Herstellung des Druckmanuskripts für sachliche Nachfragen zur Verfügung.88 83 Ebd. 84 Schulz, Hermann: »Der Enkel des Regenmachers. Afrikanische Literatur und die Entdeckung des Aniceti Kitereza, Tanzania«. Rundfunkmanuskript, Westdeutscher Rundfunk, Sendedatum 16.01.1991, S. 12. 85 Hartwig, Charlotte M./Gerald, W.: Aniceti Kitereza, S. 165. 86 Mulokozi, M. M.: Rezension: A. Kitereza: Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka, Dar es Salaam 1980, S. 209. 87 Hartwig, Charlotte M./Gerald, W.: Aniceti Kitereza, S. 166. 88 Siehe Mulokozi, M. M.: Rezension: A. Kitereza: Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka, Dar es Salaam 1980, S. 209, der damals Verlagsmitarbeiter war. 389

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8. 1980 ging das Buch aufgrund der diplomatischen Beziehungen Tanzanias in der Volksrepublik China in den Druck. 1981 erreichten erste Vorabkopien Dar es Salaam. Während sie auf dem Postamt zur Abholung bereitstanden, verstarb Kitereza am 20. April 1981, ohne das gedruckte Buch gesehen zu haben.89 9. 1982 wurde Kiterezas Buch im Rahmen des Noma Award, des prestigereichsten afrikanischen Literaturpreises (von Japans Großverlag Kodansha nach dessen Gründer Seiji Noma gestiftet und von einer hochkarätigen japanisch-afrikanischen Jury besetzt), die »Special Commendation« des Jahres ausgesprochen.90 10. 1986 erfuhr Hermann Schulz, als Missionarssohn in Tanzania geboren und Leiter des Peter Hammer Verlags in Wuppertal, durch einen englischen Zeitungsartikel von Kiterezas Swahili-Romanwerk. Über Walter Bgoya erhielt er ein Exemplar, das in der Rheinischen Mission in Wuppertal als »unvergleichlich« und »Schlüssel zum Verstehen Afrikas« eingeschätzt wurde. Nach 30 Monaten Suche nach einem Übersetzer wurde 1988 ein Übersetzervertrag mit Wilhelm Möhlig, Professor für Afrikanistik an der Universität Köln abgeschlossen. 1990 reiste Schulz nach Ukerewe und besuchte das Dorf, in dem Kitereza gelebt hatte, holte weitere Informationen und Anschauungen ein, die in die Buchwerbung eingingen, und klärte Rechtliches zur deutschen Übersetzung.91 11. 1991 erschien der erste der zwei Kitereza-Bände in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Kinder der Regenmacher. Eine afrikanische Familiensaga. Roman; der zweite Band kam 1993 als Der Schlangentöter. Ntulanalwo und Bulihwali heraus. Übersetzer ist Wilhelm Möhlig. Nicht eine Satz-zu-Satz-Übersetzung machte er zum Maßstab, sondern eine Übersetzung, die aus der linguistischen Textstruktur heraus erst episodenähnliche Sinn-Abschnitte identifizierte und von da aus, mitunter dem Original abweichend, die für deutsche Leser flüssig zu lesende Satzfolge bestimmte.92 Das ökonomisch erfolgreiche Buch wurde in verschiedenen Aufmachungen verlegt, u.a. auch als Lizenzausgabe im stärker weltliterarisch profilierten Unionsverlag, Zürich.

89 Ebd., S. 214. 90 »The winning titles, together with the books selected for ›Special Commendation‹ or ›Honorable Mention‹, present a remarkable picture of the intellectual vigour of the continent, and the strength and vitality of publishing in Africa, despite the adverse conditions in which writers and publishers too often work.«, vgl. www.nomaaward.org, 01.01.2009. 91 Schulz, Hermann: Der Enkel des Regenmachers. Afrikanische Literatur und die Entdeckung des Aniceti Kitereza, Tanzania, S. 3 f. 92 Möhlig, Wilhelm J. G.: Nachwort des Übersetzers, S. 325. 390

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12. 1996 erschien der erste Band in französischer Übersetzung als Les Enfants du faiseur de pluie, 1999 der zweite als Le Tueur de serpents. Als Übersetzer aus dem Swahili zeichnet Simon Baguma Mweze in Kooperation mit Olivier Barlet. Die Übersetzung nach Episoden legt die Vermutung nahe, dass sich die Übersetzung eng an Möhlig anlehnt anstatt an Kitereza selber. Auch die Buchtitel entsprechen der deutschen Übersetzung (die der Hammer-Verlag festgelegt hat93). Die französische Fassung wird in der weltweit ausgelegten »UNESCO Collection of Representative Works« geführt.94 13. 2002 erschien die auf den Kerewe-Originaltext zurückgehende englische Übersetzung Mr. Myombekere and His Wife Bugonoka. Their Son Ntulanalwo and Daughter Bulihwali: The Story of an Ancient African Community. Übersetzer ist der 1938 auf Ukerewe geborene Literaturwissenschaftler Gabriel Ruhumbika, der nach Professuren in Dar es Salaam und Virginia seit 1992 Comparative Literature in Athens, Georgia, lehrt. 14. 2008 erschien Die Enkel der Regenmacher als Hörbuch in der Reihe »Afrika erzählt« im Steinbach Verlag Schwäbisch-Hall. Die Leserin auf drei CDs von ca. 300 Minuten Länge ist die in Deutschland bekannte Eva Mattes. Das Buch erfährt so an anderer Stelle in der Welt eine neue Oralisierung per Übersetzung. Ausgehend vom Inhalt beschreibt der Roman das Leben einer dörflichen Lokalgesellschaft in Ostafrika, dessen Autor in seinem Leben nie nennenswert gereist ist und als Adressaten seine Landsleute und deren Nachkommen im Sinn hatte. Durch den Kontakt mit den französischen Weißen Vätern wurde er zu einer sich auch international ausdrückenden Forscher- und Autorenpersönlichkeit. Mission und Kolonialismus bergen durch ihre personelle und institutionelle Transkontinentalität bereits per se bestimmte Dimensionen von Weltliteratur. Nicht alles was unter solchen Rahmenbedingungen entstanden ist, ist jedoch gleich Weltliteratur. Hier müssen in erster Linie die Qualität eines Werkes und die weitere Rezeption des Werkes Kriterium sein. Die Chancen auf Internationalität wurden durch die Übersetzung in das Swahili, das 1968 als Sprache einer afrikanischen Dekolonialisierung gesteigerte Aufmerksamkeit erhielt und über gut qualifizierte nationale und internationale Vermittler verfügte, erhöht. Zunächst war es Tanzania, das sich dieses Werk, stellvertretend für ähnliche Lokalsituationen und Lebensproblematiken im Land, als Nationalliteratur auf die Fahne schrieb. Durch die Swahili-Sprache ist es über Tanzania hinaus als Stück einer Regionalliteratur mit wiederum 93 Ebd. p. K. 94 Collection UNESCO d'œuvres représentatives/UNESCO Collection of Representative Works 1948-2000, Paris 2000, S. 37. 391

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ähnlicher postkolonialer und ruraler Problematik auch in den swahilisprachigen Nachbarländern wahrnehmbar (wo ich es 1981 in Nairobi im Haushalt einer Familie von Küsten-Swahili-Intellektuellen kennenlernte). Die Übersetzung in drei weit gelesene Literatursprachen (in aufsteigender Leserzahl: Deutsch, Französisch, Englisch) gibt dem Werk die Grundlage für eine potentiell weltliterarische Wahrnehmung, die durch die Noma- und UNESCO-Ehrungen punktuell gefördert wird.95 Die Etikettierung »Familiensaga« weist dem Werk ein weltliterarisches Paradigma zu: die weltweit realisierte Gattung erfährt hierin eine Variante aus Afrika, Ostafrika, Tanzania, Ukerewe. Das alle Menschen prinzipiell berührende Thema ist das universale Thema der Nachkommenschaft und Familie in einer konsolidierten, aber immer durch Tod, Krankheit und Kulturverlust gefährdeten Gemeinschaft. Auch der Autor weist eine als weltliterarisch anzusehende Disposition auf: eine bäuerliche Einfachheit, die überall auf der Welt verstanden wird, einen Bildungsgang in Mission und Kolonialismus, die auch in anderen Räumen der Welt Gültigkeit haben und eine individuelle biographische Dramatik, die Aufmerksamkeit und allgemein-menschliche Empathie hervorruft. Dem Verlagswesen, Kulturbetrieb, der Literaturkritik und Literaturwissenschaft obliegt es, diese weltliterarische Potentialität weiter auszubauen (oder fallen zu lassen).

S c hl u s s Eine Weltliteratur ist tatsächlich mit der Entstehung des Homo sapiens denkbar, aber über annähernd 100.000 Jahre nicht belegbar. Die größte Annäherungsmöglichkeit an die literarischen Grundlagen aller Menschen stellen die derzeitig verstärkt aufkommenden Ausführungen von Genomforschern, Paläoanthropologen, Neuroanatomen, Evolutionspsychologen und neo-darwinistischen Literaturwissenschaftlern dar, deren Ergebnisse noch eine kleinphasige Aktualisierung der Forschungsstände verlangen.96 Im gleichermaßen hypothetischen, aber bereits literaturhistorisch einzuordnenden Zeitraum blitzt durch die Proto-Sprachenrekonstruktion der Bantu-Sprachen eine 2-3 Jahrtausende vor heutiger Zeit liegende Dimension von afrikanischer Oralliteratur auf, die auf die Ökumene des 95 Die deutsche und französische Übersetzung werden außerdem im Index Translationum der UNESCO gelistet (siehe http://portal.unesco.org, 01.01.2009). 96 Z.B. McNeil, Lynda D.: »Homo Inventans: The Evolution of Narrativity«. In: Language and Communication 16 (1996), S. 331-360; Carroll, Joseph: Literary Darwinism: Evolution, Human Nature, and Literature, New York 2004. 392

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swahili-sprachigen Ostafrika anwendbar auf. Mit schriftlichen Textbelegen in der Swahili-Sprache wird dieser literarische Raum erst ab dem frühen 18. Jahrhundert greifbar. Die literarische Ökumene ist hier auf den afrikanischen Festlandraum und die ethnohistorisch wirksamen Überseeverbindungen nach Arabien, Persien und Indien bezogen, der das mediterrane Weltsystem nur äußerst punktuell (Periplus des Erythräischen Meeres) und literarisch wirkungslos berührt hat. Weltliterarisch weitere und fortan prägende Literaturpotentiale erhält die swahilisprachige Ökumene ab 1860 durch den missionarisch und kolonial eingeführten Anschluss an das atlantische Weltsystem, das über 100 Jahre noch im 19. Jahrhundert durch die z. T. ebenfalls atlantisch generierte Modernisierung des orientalischen Weltsystems zu einem afrikanischasiatisch-europäischen Literatursystem vervollständigt wurde.97 Auch weltökonomisch-politisch betrachtet hat für Swahili die Globalisierung (utandawazi) nicht 1990 begonnen, sondern bereits um 1850. Neuere literarische Rückanbindungen an afrikanische und neuste arabische Ressourcen (Swahili-Diaspora in den Golfstaaten, z. T. neuerer Islamisierungsschub ab den 1980er Jahren) wären zur Vervollständigung des Bildes einer weiteren Beobachtung auszusetzen. Gemäß den drei in Afrika tragbaren Auffassungen von Weltliteratur (Summation, Selektion, Kommunikation) ist die swahili-sprachige Ökumene über folgende literarische Gegenstandsbereiche an der Weltliteraturdiskussion beteiligt: 1. Themen, Motive und andere formale und inhaltlicher Versatzstücke der Oral- und daran angebundenen Schriftliteratur, 2. lokale afrikanische Adaptionen von weltliterarisch bereits eindeutig kanonisierten Werken und Autoren (ohne Zweifel z. B. Shakespeare) und 3. die Erörterung der Karrieren einzelner auf Swahili geschriebener Werke in Bezug auf ihre Autorenviten, Vermittlungswege und außerafrikanischen Texte und Rezeptionsbedingungen, insbesondere wenn hieran indizienhaft globale Instanzen (UNESCO, Literaturpreise, Festivals, Internet usw.) beteiligt sind.

97 Mazrui, Ali A./Bakari, Mohamed: The Triple Heritage in East African Literature, »triple heritage«. 393

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DIE ÖKUMENE DES SWAHILI-SPRACHIGEN OSTAFRIKA

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THOMAS GEIDER

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DIE ÖKUMENE DES SWAHILI-SPRACHIGEN OSTAFRIKA

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AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Ottmar Ette, geb. 1956, hat seit 1995 den Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam inne. 1990 Promotion an der Universität Freiburg i.Br., 1995 Habilitation an der Katholischen Universität Eichstätt. Mehrfach Gastdozenturen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas sowie in den USA.. 2004-2005 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Mitantragssteller des DFG-Graduiertenkollegs »lebensformen + lebenswissen«. Ottmar Ette ist Mitbegründer des ForLaBB (Forschungsverbund Lateinamerika Berlin-Brandenburg) und Mitherausgeber der elektronischen Zeitschrift »HiN – Alexander von Humboldt im Netz«, sowie Mitherausgeber der Zeitschrift »Iberoamericana«. Auswahlbibliographie: Literatur in Bewegung, Velbrück 2001; ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004; ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005; Caribbean(s) on the Move – Archipiélagos literarios del Caribe. A TransArea Symposium, Frankfurt a.M./New York 2008. Özkan Ezli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz. Im Exzellenzcluster ist er Leiter des Projekts »Narrative Diaspora in der deutsch-türkischen Literatur und im deutsch-türkischen Film: Eine andere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte«. Er promovierte zum Thema »Kultursubjekte und Subjektkulturen in Autobiographien und Reisebeschreibungen: Kulturanalytische Problematisierungen westeuropäischer, türkischer und arabischer Texte der Moderne«. Weitere Publikationen: »Grenzenlose Psyche oder die Kollektivautobiographie Mottenkugeln von ÝÀliya MamdÙΫ. In: Vom Individuum zur Person, Querelles Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, hg. v. Claudia Ulbrich u.a., Göttingen 2005, S. 205-222; »Von der Identitätskrise zu einer ethnografischen Poetik: Migration in deutsch-türkischen Literatur«. In: Literatur und Migration, text + kritik Sonderband (2006), S. 61-73; »Lejeune and Foucault or: A name with no identity«. In: Autobiographical Themes in Turkish Literature, hg. v. Sagster, Börte, Würzburg 2007, S. 43-50; »Transcultural Movements in Contemporary

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WIDER DEN KULTURENZWANG

German(-Turkish) Literature«. In: Asiatische Studien 62/4 (2008), S. 1135-1146. Thomas Geider ist außerplanmäßiger Professor für Afrikanistik an der Universität Frankfurt a.M. und zur Zeit an der Universität Leipzig tätig. Er promovierte in Köln zum Thema »Die Figur des Oger in der traditionellen Literatur und Lebenswelt der Pokomo in Ost-Kenya«, Köln 1990. Seine ebenfalls auf Feldforschung beruhende Habilitationsschrift trägt den Titel »Motivforschung in Volkserzählungen der Kanuri (TschadseeRegion)«, Köln 2003. Seit zehn Jahren gilt sein Forschungsschwerpunkt der Integration der afrikanischen Literaturen und Oraturen in die Weltliteraturdiskussion. Hierzu liegen Aufsatzpublikationen zur Beziehung Goethes und Henri Grégoires, zur Vermittlerarbeit von Janheinz Jahn (1952-73) und zur Übersetzung weltliterarischer Werke in das/aus dem Swahili vor. In Vorbereitung befindet sich das Buch »Weltliteratur Kapitel Afrika«. Nacim Ghanbari ist akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz. Sie promovierte zum Thema »Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte (1850-1926)«. Ausgewählte Publikationen: »Kafka. Die Hausordnung«. In: Kafkas Institutionen, hg. v. Arne Höcker/Oliver Simons, Bielefeld 2007, S. 17-31; gemeinsam mit Patrick Eiden, Tobias Weber und Martin Zillinger: Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod, Frankfurt a.M. 2006. Thomas Hauschild, geboren 1951, ist Professor für Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist Mitherausgeber der »Zeitschrift für Kulturwissenschaften«. Promotion über »Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen«, Habilitation über »Studien zum religiösen Diskurs in Süditalien: eine lukanische Hagiographie«. Er war 2004/2005 Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, 2006/2007 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Auswahlbibliographie: Macht und Magie in Italien, Gifkendorf 2002; Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1995; Ritual und Gewalt. Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 2008. Jörg Hüttermann ist Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Angestellter im Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Im Jahre 1998 promovierte er an der

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Ausgewählte Publikationen: Das Minarett – Zur politischen Kultur des Konflikts um islamische Symbole, Weinheim/München 2006; Islamische Mystik – Ein ›gemachtes Milieu‹ im Kontext von Modernität und Globalität, Würzburg 2002; »Der avancierende Fremde: Unsicherheitserfahrungen und Konflikte in einem ethnisch polarisierten und sozialräumlich benachteiligten Stadtteil«. In: Zeitschrift für Soziologie 29 (2000), S. 275-293. Dorothee Kimmich ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Sie promovierte zum Thema »Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge«. Ihre Habilitation trägt den Titel »Wirklichkeit als Konstruktion oder Wie oft war die Geschichte schon zu Ende? Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Keller, Stendhal und Flaubert«. Weitere Publikationen: »Lebendige Dinge in der klassischen Moderne: Wahrnehmung, Erinnerung und Ästhetik in der ›fluiden Welt‹ – dans un ›monde fluide‹«. In: Cahiers d'Études Germanisques 48 (2005), S. 133-145; gemeinsam mit Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, Darmstadt 2006; gemeinsam mit Wolfgang Matzat: Der gepflegte Umgang. Interkulturelle Aspekte der Höflichkeit und Sprache, Bielefeld 2008. Philipp Ostrowicz, geb. 1975, ist wissenschaftlicher Angestellter am Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Derzeit schreibt er an seiner Dissertation zum Thema »Schreibweisen der Unschärfe«. Er ist Mitglied des interdisziplinären Forschungsclusters »Tysklandsprojektet« (Deutschlandprojekt) der Syddansk Universitet (Dänemark). Ausgewählte Publikationen: Die Poetik des Möglichen. Das Verhältnis von »historischer Realität« und »literarischer Wirklichkeit« in Marcel Beyers Roman »Flughunde«, Stuttgart 2005; »Gedanken zur deutschen Kultur – Alltagskultur und die Kanon-Debatte«. In: Querschnitt 4 (2004) S. 13-24. Andreas Pflitsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und Lehrbeauftragter für Arabische Literatur an der Freien Universität Berlin. 2008/09 vertritt er die Professur für Arabistik an der Universität Bamberg. Er promovierte zum Thema »Zweierlei Barbarei. Überlegungen zu Kultur, Moderne und Authentizität im Dreieck zwischen Europa, Russland und arabischem Nahen Osten.« Ausgewählte Publikationen: Gegenwelten. Zur Literaturtheorie Idwar al-Kharrats, Wiesbaden 2000; Crisis and Memory in Islamic Societies (hg. mit Angelika Neuwirth), Würzburg 2001; Mythos Orient. Eine Entdeckungsreise, Freiburg 2003; Arabische Literatur, postmodern

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WIDER DEN KULTURENZWANG

(hg. mit Angelika Neuwirth und Barbara Winckler), München 2004 (engl. Übers. London 2009); Poetry's Voice, Society's Norms (hg. mit Barbara Winckler), Wiesbaden 2006; 1968 – Kurzer Sommer, lange Wirkung (hg. mit Manuel Gogos), München 2008. Valentin Rauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz im SFB 485 »Norm und Symbol« und leitet ein Projekt im Excellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« zum Thema »Bindestrich-Identitäten«. Ausgewählte Publikationen: Die öffentliche Dimension der Integration. Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland, Bielefeld 2008 (Promotionsthema); »Symbols in Action: Willy Brandt's Kneefall at the Warsaw Memorial«. In: Social Performance, hg. v. Jeffrey C. Alexander et al., Cambridge 2006, S. 257-282; gemeinsam mit Klaus Eder und Oliver Schmidtke: Die Einhegung des Anderen. Türkische, polnische und russlanddeutsche Einwanderer in Deutschland, Wiesbaden 2004. Erhard Schüttpelz ist Professor für Medientheorie an der Universität Siegen. Er promovierte an der Universität Bonn zum Thema »Figuren der Rede. Zur Theorie der rhetorischen Figur«, Berlin 1996, und habilitierte an der Universität Konstanz über »Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960)«, München 2005. Weitere Publikationen: Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen vom Tsu'ti'kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, Berlin 2007 (hrsg. mit Cora Bender und Thomas Hensel), Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a.M. 2008 (hrsg. mit Georg Kneer und Marcus Schroer), Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne, Bielefeld 2009 (hrsg. mit Marcus Hahn). Levent Tezcan, geb. 1961, ist Assistent Professor an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Tilburg in den Niederlanden. Ausgewählte Publikationen: »Religiöse Strategien der ›machbaren‹ Gesellschaft. Verwaltete Religion und islamistische Utopie in der Türkei«, Bielefeld 2003; »Kultur, Gouvernementalität der Religion und der Integrationsdiskurs«. In: Konfliktfeld Islam in Europa, Sonderheft der Zeitschrift Soziale Welt, hg. v. Wohlrab-Sahr/Tezcan, (2007), S. 51-74. Stefanie Ulrich, geb. 1980, studiert an der Universität Tübingen Neuere deutsche Literatur und schreibt zurzeit ihre Magisterarbeit über Feridun Zaimoğlu. Sie ist als wissenschaftliche Hilfskraft im Exzellenzcluster der Universität Konstanz tätig.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Annette Werberger, wissenschaftliche Assistentin am Slavischen Seminar der Universität Tübingen. Doktorarbeit zu Osip Mandel'štam und dem Russischen Akmeismus. Habilitationsprojekt zu Kulturalisierungsprozessen in den Jüdischen Literaturen Ostmitteleuropas. Publikationen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, u.a. zu Primitivismus und Moderne, Symbolismus (Belyj, Mallarmé), zu An-skij, Achmatova, Celan, George, B. Schulz, D. Vogel und Lotman. Aktuelle Projekte zum transnationalen Raum Ostgaliziens und Weltliteratur. Yasemin Yıldız ist Assistant Professor of German an der University of Illinois. Ihre Dissertation »Beyond the Mother Tongue: Configurations of Multilingualism in Twentieth-Century German Literature« beschäftigte sich mit Kafka, Adorno, Tawada und Zaimoğlu. Neben einem Buch zu literarischer Mehrsprachigkeit arbeitet sie derzeit an einem neuen Projekt zur Figur der ›muslimischen Frau‹ in zeitgenössischen literarischen und medialen Diskursen. Ausgewählte Publikationen: »Keine Adresse in Deutschland? Adressierung als politische Strategie«. In: AufBrüche: Migrantinnen, Schwarze und jüdische Frauen im deutschsprachigen kulturellen Diskurs, hg. v. Cathy Gelbin, Kader Konuk und Peggy Piesche, Königstein 2000, S. 224-236; »Political Trauma and Literal Translation: Emine Sevgi Özdamar's ›Mutterzunge‹«. In: Gegenwartsliteratur 7 (2008), S. 248-270. Martin Zillinger, geb. 1973, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg »Medienumbrüche«, Universität Siegen; zurzeit Feldforschung zu Medien und religiösen Öffentlichkeiten unter marokkanischen MigrantInnen in Brüssel. Zuvor 17 Monate Feldforschung zu Sufi-Bruderschaften und Heiligenkulten in Zentral-Marokko. Veröffentlichungen zu Magie und Sozialstruktur in Marokko, Religion und Folklore im transnationalen Raum, sowie (mit Th. Hauschild und S. Kottmann) Universalismus und kulturellem Relativismus im Mittelmeerraum. Arbeitsgebiete: Religionsethnologie, Medienethnologie, Ethnologie des Mittelmeerraums, Migrationsforschung, Islam.

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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Juli 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft Juni 2009, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5

Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Mai 2009, 472 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9

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2009-04-16 14-13-23 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02cc207786248232|(S.

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3) ANZ987.p 207786248240

Kultur- und Medientheorie Marcus S. Kleiner Im Widerstreit vereint Kulturelle Globalisierung als Geschichte der Grenzen Juni 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-652-6

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Juli 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Wladimir Velminski (Hg.) Sendungen Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht Juni 2009, ca. 212 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1113-7

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Kultur- und Medientheorie Natalia Borissova, Susi K. Frank, Andreas Kraft (Hg.) Zwischen Apokalypse und Alltag Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts Juni 2009, ca. 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1045-1

Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn« Februar 2009, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1120-5

Lutz Ellrich, Harun Maye, Arno Meteling Die Unsichtbarkeit des Politischen Theorie und Geschichte medialer Latenz Juni 2009, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-969-5

Marijana Erstic, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Körper in Bewegung Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde Juni 2009, 358 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1099-4

Daniel Gethmann, Susanne Hauser (Hg.) Kulturtechnik Entwerfen Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science Mai 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-901-5

Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht April 2009, 326 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0

Florian Hartling Der digitale Autor Autorschaft im Zeitalter des Internets April 2009, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1090-1

Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts Januar 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-803-2

Sonja Neef (Hg.) An Bord der Bauhaus Zur Heimatlosigkeit der Moderne März 2009, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1104-5

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Karin Harrasser, Helmut Lethen, Elisabeth Timm (Hg.)

Sehnsucht nach Evidenz Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2009 Mai 2009, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1039-0 ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008) und Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

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