Museum und Migration: Konzepte - Kontexte - Kontroversen [1. Aufl.] 9783839418017

Das Thema »Migration« findet zunehmend Eingang in Ausstellungen und Museen: Vielerorts werden Sonderausstellungen gestal

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German Pages 232 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Museum und Migration. Einleitung
Migrationsgeschichte und die nationalstaatliche Perspektive in Archiven und Museen
»Meine Stadt – meine Geschichte«. Ein Werkstattbericht zur Sammlung städtischer Migrationsgeschichte
Perspektiven der Migrationsgeschichte in deutschen Ausstellungen und Museen
Die Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration. Migrationsgeschichte aus NGO-Perspektive
Migrationsgeschichte ausgestellt. Migration ins kollektive österreichische Gedächtnis schreiben
Integration und Community Building in Einwanderungsmuseen und -ausstellungen. Präsentationen, Praktiken und Handlungsmacht
Von Mythen, Masken und Migranten. Acht Ansichten aus Ellis Island
Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration und die ›Immigranten‹ im Kontext der Kolonialgeschichte. Interaktionen und politische Interventionen
Abbildungsnachweise
Autorinnen und Autoren
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Museum und Migration: Konzepte - Kontexte - Kontroversen [1. Aufl.]
 9783839418017

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Regina Wonisch, Thomas Hübel (Hg.) Museum und Migration Konzepte – Kontexte – Kontroversen

Regina Wonisch, Thomas Hübel (Hg.)

Museum und Migration Konzepte – Kontexte – Kontroversen

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile – sofern im Abbildungsverzeichnis nicht anders vermerkt – urheberrechtlich geschützt. Die Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ausstellung »Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration« (2004, Wien Museum Karlsplatz); Station »Herkunft und Rückkehr 1994, Adatepe, Türkei«. Foto: gangart Mit freundlicher Genehmigung der Initiative Minderheiten. Satz: Thomas Hübel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1801-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Regina Wonisch, Thomas Hübel | 7 Museum und Migration. Einleitung

Regina Wonisch | 9 Migrationsgeschichte und die nationalstaatliche Perspektive in Archiven und Museen

Aytaç Eryılmaz | 33 »Meine Stadt – meine Geschichte«. Ein Werkstattbericht zur Sammlung städtischer Migrationsgeschichte

Anja Dauschek | 49 Perspektiven der Migrationsgeschichte in deutschen Ausstellungen und Museen

Dietmar Osses | 69 Die Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration. Migrationsgeschichte aus NGO-Perspektive

Cornelia Kogoj, Gamze Ongan | 89 Migrationsgeschichte ausgestellt. Migration ins kollektive österreichische Gedächtnis schreiben

Christiane Hintermann | 115 Integration und Community Building in Einwanderungsmuseen und -ausstellungen. Präsentationen, Praktiken und Handlungsmacht

Robin Ostow | 139 Von Mythen, Masken und Migranten. Acht Ansichten aus Ellis Island

Joachim Baur | 167

Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration und die ›Immigranten‹ im Kontext der Kolonialgeschichte. Interaktionen und politische Interventionen

Andrea Meza Torres | 193 Abbildungsnachweise | 223 Autorinnen und Autoren | 225

Vorwort R EGINA W ONISCH , T HOMAS H ÜBEL

Die Debatten über ›Gastarbeiter‹, Ausländer und Zuwanderer, über kulturelle Unterschiede und die Schwierigkeiten der Integration haben in den letzten Jahrzehnten die öffentliche Diskussion in Deutschland, der Schweiz und Österreich in besonderem Ausmaß geprägt. Dabei hatten allerdings diejenigen, die das Objekt dieser Debatten waren – die Migrantinnen und Migranten – allzu lange kaum eine Chance, selbst das Wort zu ergreifen. In zunehmendem Maße ist es ihnen aber gelungen, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Sie forderten politische Gleichberechtigung, Chancengleichheit und kulturelle Repräsentation ein. Dabei ging und geht es nicht nur darum, in den ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Nischen oder in Minderheitenmedien präsent zu sein, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dazu gehört auch der Kulturbereich und damit auch das Museums- und Ausstellungswesen. Dieser Sammelband stellt mit den von DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V aus Köln und der Initiative Minderheiten aus Wien zum Thema (Arbeits-)Migration gestalteten Ausstellungen zwei solche von Migrantinnen und Migranten ausgehende Initiativen vor. Parallel zu den Aktivitäten dieser oft unter finanziell schwierigen Bedingungen arbeitenden Pioniere zeichnet sich ein Wandel in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft ab, was sich etwa am Memorandum Museum – Migration – Kultur – Integration ablesen lässt, das 2009 im Rahmen eines Werkstattgespräches des Deutschen Museumsbundes formuliert wurde Dieses Memorandum zielt darauf ab, die Sammlungspolitik von Museen, die Gestaltung von Ausstellungen, die Auswahl von Mitarbeitern, die Zusammensetzung von Gremien und die Bestimmung des Zielpublikums stärker an der Realität eines Einwanderungslandes auszurichten. Damit begreift das Memorandum den Integrationsbegriff, den es im Titel führt, nicht als implizite Forderung nach individueller An-

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passungsleistung der Migranten, sondern als Herausforderung für die Aufnahmegesellschaft, sich auf eine zunehmend heterogene Bevölkerung einzustellen. Neben den migrantischen Aktivisten, ihren Organisationen und Communities sowie den Museen und ihren Experten kommt als dritter wichtiger Akteur auch noch die Politik mit ihren Zielsetzungen in den Bereichen Migration, Integration und Diversität ins Spiel und bestimmt durch die Festlegung von Rahmenbedingungen, in welcher Weise das Thema Migration in Museen und Ausstellungen behandelt wird. Dieser Sammelband zeichnet in exemplarischen Fallanalysen das Zusammenspiel dieser Akteursgruppen nach und untersucht, wie die jeweilige historische und gesellschaftspolitische Entwicklung eines Landes, sich auf das Selbstverständnis von Museen und die den Ausstellungen zugrundeliegenden Erzählmuster auswirkt. Die Fallanalysen zeigen auch, wie die Thematisierung der Migration in Museen immer wieder Gefahr laufen kann, neue Ausschlüsse zu produzieren und über othering oder auch Selbstethnisierung die Wahrnehmung von Differenzen zu verfestigen. Ein Teil der hier publizierten Texte geht auf die Tagung »Museum und Migration« (18.-20. November 2010) zurück, die das Forschungszentrum für historische Minderheiten (FZHM) und das Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) konzipiert und gemeinsam mit dem Österreichischen Museum für Volkskunde in dessen Räumlichkeiten im Wiener Palais Schönborn durchgeführt hat.

Museum und Migration Einleitung R EGINA W ONISCH

Das Thema Migration hat in den letzten Jahren in zunehmendem Maß Eingang in Museen und Ausstellungen gefunden. Dafür gibt es viele Gründe wie die weltweit ansteigenden Migrationsbewegungen, der in den 1980er Jahren einsetzende Globalisierungsdiskurs und die Anerkennung der – angesichts der demographischen Entwicklungen in vielen Staaten nicht länger zu leugnenden – Tatsache, in einem Einwanderungsland zu leben.1 Insbesondere in den städtischen Ballungsräumen kam man nicht umhin, Migration jenseits von Bereicherung oder Bedrohung als zentrales Moment gesellschaftlicher Entwicklung zu betrachten. Und nicht zuletzt haben Zuwanderer begonnen, ihre Migrationsgeschichte zu dokumentieren und deren Repräsentation im Rahmen von Museen einzufordern. Vor diesem Hintergrund begann sich auf internationaler Ebene ein neuer Museumstypus zu etablieren, das Migrationsmuseum.2 Zudem wurden insbesondere in Deutschland vielerorts Ausstellungen zum Thema Migration gestaltet (vgl. den Beitrag von Dietmar Osses). In diesen Museen und Ausstellungen spiegelt sich das breite Spektrum von Migrationsbewegungen wider: Es kann um Einwanderung oder Auswanderung, um Flucht oder Vertreibung gehen. Die Grenzen sind allerdings fließend, denn wo hört Mobilität auf und wo fängt Existenzbedrohung an?

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Diese Einsicht fand ihren gesetzlichen Ausdruck etwa in dem 2005 in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz.

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Einen Überblick über die vielfältigen Initiativen bietet die Website: http://www.migra tionmuseums.org

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Dass der Stellenwert, den das Thema Migration im Museumsbereich einnimmt, nicht zuletzt davon bestimmt wird, inwieweit sich eine Gesellschaft als Einwanderungsland definiert, zeigt der Vergleich mit den USA, Kanada und Australien, wo die nationalen Erzählungen auf einem Einwanderungsmythos beruhen.3 Es verwundert daher nicht, dass Migrationsmuseen, wie das Anacostia Community Museum in Washington oder das Ellis Island Immigration Museum und das Lower East Side Tenement Museum in New York, bereits auf eine langjährige Tradition zurückblicken und in weiten Teilen der Bevölkerung auf positive Resonanz stoßen. Das Bild der »Einheit in der Vielfalt« überdeckt allerdings leicht die Hierarchien innerhalb der Immigrantengruppen und die Frage nach der indigenen Bevölkerung (vgl. die Beiträge von Joachim Baur und Robin Ostow). Mit Blick auf Deutschland ließ sich der Eindruck gewinnen, dass Auswanderermuseen auf deutlich höhere Akzeptanz stoßen als Einwanderermuseen. Während sich die Auswanderermuseen in Bremerhaven4 und Hamburg5 großer Beliebtheit erfreuen, wurde das insbesondere von DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum für die Migration in Deutschland e.V. angestrebte Migrationsmuseum bislang nicht umgesetzt (vgl. den Beitrag von Aytaç Eryılmaz). Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Diskussion um ein Migrationsmuseum erst spät einsetzte und auch bald wieder abflaute, während die Zahl an temporären Ausstellungen zum Thema Migration ständig zunimmt. In Paris bemühte sich eine Historikergruppe jahrelang vergeblich um die Institutionalisierung von Migrationsgeschichte. Schließlich wurde unter Staatspräsident Jacques Chirac der Auftrag zur Errichtung der Cité nationale de lҲhistoire de lҲimmigration erteilt.6 Ironie der Geschichte ist, dass das Museum im Palais de la Porte Dorée untergebracht ist – einem Gebäude, das für die Pariser Kolonialausstellung 1931 erbaut und entsprechend ausgestaltet wurde, die französische Kolonialgeschichte in der Dauerausstellung aber weitgehend ausgeblendet

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Vgl. Joachim Baur: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld: transcript 2009.

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Vgl. Joachim Baur: »Ein Migrationsmuseum der anderen Art. Das Deutsche Auswan-

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Das Auswanderermuseum BallinStadt wurde 2007 in Hamburg/Veddel eröffnet. Es

dererhaus in Bremerhaven«, in: WerkstattGeschichte 42 (2006), S. 97-103. widmet sich jenen Menschen, die zwischen 1850 und 1939 von Hamburg nach Amerika aufbrachen. 6

Gottfried Korff: »Fragen zur Migrationsmusealisierung. Versuch einer Einleitung«, in: Henrike Hampe (Hg.), Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis (= Europäische Ethnologie, Band 5), Münster: LIT Verlag 2005, S. 5-16, hier S. 12.

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bleibt7 (vgl. den Beitrag von Andrea Meza Torres). Dass die Geschichte der Einwanderung trotz des repräsentativen Museums nicht als Teil des nationalen Gedächtnisses begriffen wird, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass weder Staatspräsident Nicolas Sarkozy noch Brice Hortefeux, der Minister für Immigration und nationale Identität, an der Eröffnung im Jahre 2007 teilnahmen.8 In Österreich gab es bislang noch keine Debatte um ein Migrationsmuseum, wobei allerdings anzumerken ist, dass es hierzulande auch kein nationales Geschichtsmuseum gibt.9

F OKUS I MMIGRATION Da derzeit das Thema Immigration am konfliktträchtigsten erscheint, wurde der Fokus dieses Sammelbandes auf museale Repräsentationsformen von Einwanderungsprozessen gelegt.10 Doch selbst bei der Einschränkung auf das Thema Einwanderung stellt sich die Frage nach der zeitlichen und thematischen Eingrenzung. Ist in den aktuellen öffentlichen Debatten in Österreich von Migration die Rede, geht es zumeist um die Arbeitsmigration, die seit den 1960er Jahren mit den Anwerbeabkommen mit Jugoslawien und der Türkei einsetzte. Dass in den meisten Migrationsausstellungen die erste Generation der ›Gastarbeiter‹ im Zentrum steht, liegt nicht zuletzt daran, dass man hier an konkrete Erfahrungen anknüpfen kann. Allerdings wird gerade bei der Arbeitsmigration deutlich, wie sehr die Bilder von Immigranten durch Vorannahmen bestimmt sind. Denn manche Menschen

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Die erste Sonderausstellung des Museums mit dem Titel 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale (2008) behandelte die Einwanderungswelle zur Zeit der Kolonialausstellung von 1931, aber danach wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen.

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http://www.migration-info.de/mub_artikel.php?Id=070801

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Vgl. Dirk Rupnow: »Nation ohne Museum? Diskussionen, Konzepte und Projekte«, in: Dirk Rupnow/Heidemarie Uhl (Hg.), Zeitgeschichte ausstellen. Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen, Wien u.a.: Böhlau 2011, S. 417-463.

10 Wird der Fokus auf die Immigration gerichtet, ist es um so wichtiger, die Aufnahmegesellschaft in ihrer historischen Bedingtheit mitzureflektieren; andernfalls befördert der Blick auf die Immigration ein Bild der Einwanderungsgesellschaft, das sie als festgefügt und integriert zeigt. Vgl. Sandro Mezzadra: »Der Blick der Autonomie«, in: Kölnischer Kunstverein et al. (Hg.): Projekt Migration, Köln: DuMont 2005, S. 794795, hier S. 794.

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werden nie als Migranten wahrgenommen11, während andere – oftmals auf Grund ihrer äußeren Erscheinung oder ihres sozialen Status – es immer bleiben, egal, wie lange sie schon an einem Ort leben oder welche Staatsbürgerschaft sie haben. Der Begriff Migration verweist demnach zumeist auf die ›Anderen‹, auf Menschen in Bewegung, deren Status wirtschaftlich oder politisch prekär ist. Darin unterscheiden sie sich von mobilen Menschen wie etwa Künstlern, Wissenschaftlern oder Managern, die aus beruflichen Gründen Auslandserfahrungen suchen und dadurch in der Regel einen Prestigegewinn verzeichnen.12 Wird der Fokus auf jüngere Formen der Arbeitsmigration gerichtet, geraten andere ökonomisch motivierte Migrationsbewegungen aus dem Blick, wie die Zuwanderung aus den Kronländern zur Zeit der Habsburger Monarchie, die insbesondere für die Stadt Wien sehr prägend war. Dabei handelte es sich zwar um eine Binnenwanderung, aber die Diversität innerhalb des Vielvölkerstaats bedingte, dass die Zuwanderer auf Grund ihrer Sprache, Kleidung, Kultur und Religion vielfach als fremd wahrgenommen wurden. Und es bleiben jene Personengruppen ausgeblendet, die nicht aus wirtschaftlichen, sondern politischen Gründen – sei es der Volksaufstand in Ungarn 1956, die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 oder der Krieg in Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre – nach Österreich kamen. Andere Ausstellungen versuchten, der Unterschiedlichkeit von Migrationsbewegungen Rechnung zu tragen, und fassten daher den zeitlichen und thematischen Rahmen sehr weit, wie etwa die Ausstellung Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Da die Menschheitsgeschichte immer schon eine Migrationsgeschichte war, könnte die Erzählung letztlich auch bei der Besiedelungsgeschichte Mitteleuropas beginnen, wie es etwa dem Konzept der Ausstellung The Peopling of London (1993)13 entsprach. Migration gleichsam als anthropologische Konstante zu begreifen macht zumindest insofern Sinn, als dadurch vermittelt wird, dass Migrationen nichts Außergewöhnliches darstellen. Allerdings müssten die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der je-

11 In Österreich wurden in der breiten Öffentlichkeit Zuwanderer aus der BRD bislang nicht als Migranten betrachtet. Dies mag sich allerdings in der aktuellen Situation ändern, da es sich dabei derzeit um die größte Migrantengruppe handelt. 12 Kerstin Poehls: »Zeigewerke des Zeitgeistes? Migration, ein ›boundary object‹ im Museum«, in: Zeitschrift für Volkskunde 106 (2010) 2, S. 225-246, hier S. 229. 13 Die viel rezipierte Ausstellung The Peopling of London. 15.000 Years of Settlement from Overseas (1993) im Museum of London wird oft als Vorbild für Migrationsausstellungen genannt.

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weiligen Migrationsbewegungen berücksichtigt werden, soll die Darstellung nicht einer Banalisierung Vorschub leisten. Unter dieser Voraussetzung macht die Ausdehnung des zeitlichen Bezugsrahmens deutlich, dass Migration – verstanden als grenzüberschreitende Wanderungsbewegung – zu unterschiedlichen Zeiten etwas anderes bedeutete, entsprachen doch die früheren Herrschaftsgrenzen nicht den aktuellen nationalstaatlich organisierten Grenzregimen. Die Neubestimmung der politischen Landkarte nach dem Nationalitätenprinzip, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte, war die Reaktion auf die Spannungspotentiale, die Vielvölkerstaaten wie der Habsburger Monarchie inhärent waren. Gleichzeitig fixierten die Nationalstaaten die Vorstellung, dass ethnische Zugehörigkeit das entscheidende Differenzkriterium homogener Gesellschaften darstellt. Doch schon damals stimmten die Staatsgrenzen nicht mit den wirtschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Grenzen überein. Sie verwandelten Staatsbürger in Minderheiten auf der einen Seite und Ausländer auf der anderen Seite und eröffneten damit auf signifikante Weise die Willkür der Grenzen, die die Kategorien des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ an Plausibilität einbüßen lässt.

D IFFERENZEN IM V ISIER – Z UR B EDEUTUNG DES AKTUELLEN M IGRATIONSAUSSTELLUNGSBOOMS Dass museale Repräsentationen gewissermaßen von den gesellschaftlichen Rändern her in Frage gestellt werden, ist keine neue Entwicklung. So wurde seit den 1970er Jahren die Repräsentation von Arbeiter- und Frauengeschichte eingefordert. Was diese – lange Zeit marginalisierten – historischen Narrative verbindet, ist der Umstand, dass es zur Arbeiter-, Frauen- und Migrationsgeschichte wenig materielle Überlieferung in den Museen gibt. Die Kuratoren mussten sich also zunächst auf Spurensuche begeben. Unter dem Slogan »Grabe, wo du stehst« sollte der verschütteten Alltags- und Sozialgeschichte auf den Grund gegangen werden, da die repräsentativen historischen Museen vorrangig bürgerliche Kultur und Herrschaftsgeschichte zeigten. Doch auch die sozialkritische Gesellschaftsanalyse hatte ihre blinden Flecken. So wurde ihr von der feministischen Forschung vorgeworfen, die Kategorie Geschlecht gegenüber der Kategorie Klasse als »Nebenwiderspruch« zu behandeln, was sich auch in den musealen Repräsentationen manifestierte. »Frauen ins Museum!« war daher die Forderung, die im Gefolge der sich formierenden Frauenbewegung seit den 1970er Jahren vie-

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lerorts erhoben wurde.14 Der Anspruch war jenem der Arbeiterausstellungen ähnlich: Es galt, Frauen als handelnde Subjekte, als Trägerinnen historischer und kultureller Leistungen sichtbar zu machen. Zudem wurden Alltagserfahrungen von Frauen in den Blick der Öffentlichkeit gerückt, um den Besucherinnen Anknüpfungspunkte für die identitätsstiftende Aneignung der ›eigenen‹ Geschichte zu bieten. Insbesondere in den USA sah sich die Frauenbewegung jedoch bald ihrerseits mit Kritik konfrontiert. Women of color warfen der weißen und mittelständischen Frauenbewegung vor, die Kategorie race bei der Analyse patriarchaler Strukturen vernachlässigt zu haben. Spätestens seit den 1980er Jahren wurde also die Berücksichtigung der Diversität historischer Erfahrungen eingefordert, wobei es insbesondere der Frauenbewegung nicht nur um die Inklusion von Frauen in Museen und Ausstellungen ging, sondern um die Definitionsmacht über das kulturelle Erbe.15 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Bedeutung des aktuellen Booms von Migrationsausstellungen. Sind wir nun bei der dritten Differenzkategorie angekommen, nachdem die Arbeiter- und Frauengeschichte gleichsam in den musealen Kanon aufgenommen worden sind? Oder kommt auch beim Thema Migration die »Kompensationsfunktion«16 des Museums zum Tragen, die immer dann auf den Plan tritt, wenn eine Lebensweise oder Kultur auf Grund gesellschaftlicher Entwicklungen beginnt, obsolet zu werden? Arbeiter- und Industriegeschichte wurden musealisiert, als auf Grund technologischer Innovationen im Produktionssektor die klassische Industriearbeit an Bedeutung verloren hatte. Es ist vielleicht kein Zufall, dass bei den meisten Migrationsausstellungen die erste Generation der ›Gastarbeiter‹ in den Blick genommen wird, nachdem deren Objekte und Erzählungen auf Grund des hohen Alters der Protagonisten vom Verschwinden bedroht sind. Kann also die vermehrte Aufmerksamkeit gegenüber ethnischen Minderheiten als Indikator eines fortschreitenden Assimilierungsprozesses gesehen werden? Oder handelt es sich bei den neuen Migrationsausstellungen um eine Strategie der Ermächtigung, die immer auch mit der Frage nach Sichtbarkeit und Repräsentanz einhergeht? Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass zwar ein gewisser Zusammenhang zwischen Sichtbarkeit und

14 Vgl. Gerlinde Hauer/Roswitha Muttenthaler/Anna Schober/Regina Wonisch: Das inszenierte Geschlecht. Feministische Strategien im Museum, Wien u.a.: Böhlau 1997. 15 Vgl. Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2006. 16 Vgl. Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, London: Institute of Germanic Studies, University of London 1982.

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Macht gegeben ist, das Zu-Sehen-Geben, das Sehen und das Gesehenwerden allerdings auf äußerst komplexen gesellschaftspolitischen und sozialen Prozessen beruht.17 Die Auseinandersetzung mit Differenz und Diversität ist mittlerweile längst in alltägliche gesellschaftliche Debatten, politische Programme und Kulturkonzepte eingeflossen. Dies könnte prinzipiell als Erfolg gewertet werden, würde diese Entwicklung nicht vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kulturalisierung erfolgen. Das bedeutet, dass viele Situationen, Probleme und Herausforderungen heterogener Gesellschaften auf kulturelle Unterschiede zurückgeführt werden. Problematisch sind kulturelle Zuschreibungen vor allem dann, wenn sie, als stabil und unveränderlich verstanden, zur Legitimation von Ausgrenzungsund Diskriminierungspraktiken dienen.18 Doch auch das auf den ersten Blick weltoffene Konzept des Multikulturalismus ersetzt die Pluralität der Interessen durch eine Pluralität der Herkunft und befördert damit letztlich das »Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs«19. Und nicht nur das Soziale, sondern auch das Politische – nämlich Fragen von Zuwanderungs-, Flüchtlingsund Asylpolitik, Grenzregimen und der Definition von Staatsbürgerschaft – droht durch den kulturalistischen Blick auf Migrationsprozesse in den Hintergrund zu treten. Museen und Ausstellungen sind als Teil des Kulturbetriebs besonders herausgefordert, sich einem zu engen Fokus auf den Begriff der Kultur oder Kulturen zu widersetzen. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration im Wien Museum (2004), die sich vor allem den sozialen und politischen Rechten der Migranten sowie ihren Arbeitsbedingungen und ihrem Vereinswesen widmete und es vermied, eine wie auch immer definierte Kultur der Migranten zu thematisieren. Dieser Entscheidung lag die Beobachtung des Philosophen Hakan Gürses zugrunde, wonach die »Rede über Migration« zu

17 Vgl. Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld: transcript 2009. 18 Vgl. Thomas Geisen/Tobias Studer: »Culture Matters! Zur Bedeutung von Kultur im Kontext von Migration«, in: Bettina Gruber/Daniela Rippitsch (Hg.), Migration. Perspektivenwechsel und Bewusstseinswandel als Herausforderung für Stadt und Gesellschaft (= Jahrbuch Friedenskultur 2011), S. 15-33, hier S. 15; vgl. Gerhard Hauck: Kultur. Zur Karriere eines sozialwissenschaftlichen Begriffs, Münster: Westfälisches Dampfboot 2006. 19 Joachim Baur: »Flüchtige Spuren – bewegte Geschichten. Zur Darstellung von Migration in Museen und Ausstellungen«, in: DOMiD (Hg.), Inventur Migration, Tagungsdokumentation, Köln 2009, S. 14-26, hier S. 18.

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einer nicht enden wollenden Rede über Fremdheit, über kulturelle Differenzen, über notwendige, doch unmögliche Integration geworden sei.20 Doch das Bedrohliche ist eigentlich nicht die Differenz, sondern es sind jene Phänomene, bei denen die Grenzen nicht mehr eindeutig zu ziehen sind. Also wenn die Grenze, die uns von ihnen scheidet, in ihrer ganzen Willkür aufgedeckt wird. Dann wären wir nämlich gezwungen, die sichere Distanz externer Beobachter aufzugeben.21 Was bedeutet es nun für Migranten, wenn kulturelle Differenz nicht als Ausgangspunkt, sondern als Endpunkt eines Differenz produzierenden Prozesses gesehen wird, wenn die statische Zuordnung von ethnischen Gruppen zugunsten einer transkulturellen und transnationalen Perspektive verschoben wird? Müsste dann nicht die Kategorie Ethnizität grundsätzlich in Frage gestellt werden? In dem Maße, in dem ganze Menschengruppen ihre traditionellen Herkunftsgebiete verlassen, sich an anderen neu zusammenfinden und die Geschichte ihrer Gruppe neu entwerfen, ist das Ethnos, das in der Ethnographie konstruiert wird, nicht mehr fest umrissen und eindeutig bestimmbar. Für das Festhalten an der Kategorie Ethnizität spricht lediglich, dass damit im Sinne eines »strategischen Essentialismus« ein politisches Subjekt konstituiert werden kann, um einer immer noch mehrheitlich national organisierten Geschichtsvermittlung im Museum entgegenzutreten. Wesentlich dabei ist jedoch, die Kategorie Ethnizität als Setzung und nicht als Wesenheit zu begreifen.

Z UR F RAGE DER I NSTITUTIONALISIERUNG VON M IGRATIONSGESCHICHTE Die klassischen nationalen Gedächtnisorte und -rituale sind für Immigranten zumeist nicht anschlussfähig. Sie haben entweder eine andere Perspektive auf eine durchaus geteilte Vergangenheit (Nationalsozialismus) oder gar keinen Bezug zur Vergangenheit der Mehrheitsgesellschaft. Dagegen bringen sie andere historische Erfahrungen mit, für die es keinen Raum gibt. Signifikant für den Umgang mit marginalisierten Narrativen wie jenen über Migration ist, dass solche Themen zwar relativ rasch in den Kanon temporärer Ausstellungen aufge-

20 Vgl. Hakan Gürses: »Eine Geschichte zwischen Stille und Getöse«, in: Hakan Gürses/Cornelia Kogoj/Silvia Mattl (Hg.), Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration, Wien: Mandelbaum Verlag 2004, S. 24-30, hier S. 25f. 21 Vgl. Homi K. Bhabha: »Globale Ängste«, in: Peter Weibel/Slavoj Žižek (Hg.), Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien: Passagen 1997, S. 19-44, hier S. 31f.

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nommen werden, jedoch nur sehr langsam Eingang in die Dauerausstellungen der Museen finden. Dies zeigt die Entwicklung in Deutschland, trifft aber auch auf Österreich zu, wenngleich unter etwas anderen Vorzeichen, da hier die Auseinandersetzung mit Migration noch nicht in einem vergleichbaren Ausmaß in der Museums- und Ausstellungsszene angekommen ist. Zwei der größten Migrationsausstellungen in Österreich Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien (1996) und Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration (2004) fanden im Historischen Museum der Stadt Wien, dem heutigen Wien Museum22 statt, ohne dass Ausformungen gesellschaftlicher Diversität in signifikanter Weise im Museums- und Ausstellungsbetrieb dieser Institution Berücksichtigung gefunden hätte. Doch das spricht nicht grundsätzlich gegen Migrationsausstellungen. Im Gegenteil, ein Vorteil temporärer Ausstellungen besteht darin, dass sie rascher auf aktuelle Fragestellungen reagieren können und daher auch mehr Mut zu gewagten Thesen, mehr Mut zur kontroversen Positionierungen im Diskurs zu erwarten wäre. Eine Ausstellung, die es sich als erklärtes Ziel gesetzt hat, die Geschichte der Migration in Österreich seit den 1960er Jahren gegen den Strich zu bürsten und gängige Stereotypisierungen und Bilder in Frage zu stellen, war die Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration, die von der Initiative Minderheiten im Wien Museum 2004 mit einem hohen politischen Anspruch realisiert wurde. Die Ausstellung zielte darauf ab, im Museums- und Ausstellungsbereich ein neues Feld der öffentlichen Aushandlung von Geschichtsbildern, Identitätskonstruktionen und politischen Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Migranten zu eröffnen (vgl. die Beiträge von Christiane Hintermann, Cornelia Kogoj und Gamze Ongan).23 Und dennoch, die Bedeutung, die der Auseinandersetzung mit Migrationsbewegungen beigemessen wird, lässt sich daran ablesen, welche Anstrengungen unternommen werden, Migrationsgeschichten tatsächlich dauerhaft in Museen zu verankern. Dabei stellt sich allerdings die Frage, inwieweit es zielführend ist, Migrationsbewegungen in eigens dafür eingerichteten Museen darzustellen. Dafür spricht, dass dies die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas unterstreichen und den individuellen Geschichten der Migranten mehr Anerkennung sichern würde. Ist jedoch das Thema Migration in Spezialmuseen aufgehoben, kann dies letztlich hegemonialen Erzählungen in den nationalen Museen Vorschub leisten, weil sich diese damit ihrer Verantwortung für derarti-

22 Das Historische Museum der Stadt Wien wurde 2003 von der neuen Direktion in Wien Museum umbenannt. 23 Vgl. Cornelia Kogoj: »Geschichten zur Migrationsgeschichte«, in: Gürses/Kogoj/ Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 81-86, hier S. 86.

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ge Fragestellungen enthoben sehen. Als Neugründungen müssten Migrationsmuseen – ohne Zugriff auf die seit Jahrhunderten angelegten Sammlungen etablierter Museen – mit dem Aufbau eigener Bestände beginnen. Allerdings mag es ausgewiesenen Migrationsmuseen leichter als anderen Museen gelingen, Kontakte zu den entsprechenden Bevölkerungsgruppen herzustellen. Die inhaltliche Spezialisierung könnte Migrationsmuseen gewissermaßen zu wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kompetenzzentren für eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Einwanderungsgesellschaft machen. Gegen eigene Migrationsmuseen spricht, dass der Aspekt der Diversität in möglichst vielen Museen Berücksichtigung finden sollte, um so deutlich zu machen, dass kaum ein gesellschaftliches Phänomen nicht mit der Migration von Personen, Waren oder Ideen verknüpft ist. Für die Verankerung des Themas Migration als Querschnittsmaterie könnten die Aktivitäten und konzeptionellen Überlegungen der Steuerungsgruppe rund um das in Planung befindliche Stadtmuseum Stuttgart wegweisend sein. Auf Grund dieser Initiative haben sich mehrere Stadtmuseen zu einem Verbund zusammengeschlossen, um die Sammlung und Musealisierung von Migrationsgeschichten gemeinsam voranzutreiben (vgl. den Beitrag von Anja Dauschek). Was die Form der Institutionalisierung von Migrationsgeschichten betrifft, sind viele Für und Wider abzuwägen, allerdings schließen sich die unterschiedlichen Strategien nicht gegenseitig aus. Prinzipiell geht es darum, Diversität im Hinblick auf Klasse, Geschlecht und Ethnizität als grundlegende Differenzkategorien moderner Gesellschaften in allen Ausstellungs- und Museumskonzepten mitzureflektieren. Aber auch die Fokussierung des Themas Migration in eigenen Ausstellungen oder Museen macht Sinn, da auf diese Weise dem Problemfeld eine höhere Aufmerksamkeit zuteil wird und die Spezialisierung mit einem Zuwachs an Kompetenz einhergehen kann. Doch wie bei anderen partikularen Narrativen, etwa der Frauen- oder Arbeitergeschichte, die bereits in eigenen Museen verankert sind, gilt es der Frage nachzugehen, inwieweit eigene Migrationsmuseen oder -ausstellungen neue Diskursräume eröffnen. Die Forderung, »Unsichtbares sichtbar zu machen« – sei es in Museen, Ausstellungen oder mit Hilfe von Denkmälern –, sollte gegenläufige Inhalte im jeweils herrschenden Gedächtnisdiskurs verankern. Die Befriedigung des Wunsches nach Präsenz kann allerdings auch den Effekt haben, das Unbehagen, das der Marginalisierung von sozialen Gruppen anhaftet, durch einen symbolischen Akt zu entschärfen. Das Bewusstmachen von Abwesenheit kann unter Umständen einen produktiveren Umgang

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mit tabuisierten und verdrängten Themen der Vergangenheit darstellen als der Versuch, gleichsam einen Ersatz zu bieten.24 Bei der Forderung nach der Integration von Migrationsgeschichte in die nationale Erinnerungspolitik wurde vielfach übersehen, dass es für die Berücksichtigung der historischen Erfahrungen und Lebenswelten von Migranten zunächst eines Nachdenkens über das Format der nationalen Geschichte und Kultur bedarf. Schon in der feministischen Museumsdebatte wurde die Position vertreten, dass die eigentliche Brisanz der Auseinandersetzung nicht im Hinzufügen von Museumsinhalten, sondern in der Analyse und Kritik der vorherrschenden Repräsentationspolitik liegt.

M IGRATIONSGESCHICHTE UND V ERORTUNG

ZWISCHEN

E NTGRENZUNG

Bleibt das ›Zentrum‹ fixer Standort der Betrachtung, von dem aus der Blick auf die ›Peripherie‹ der Migranten und Minderheiten gerichtet wird, dann haftet dem Phänomen Migration immer etwas Randständiges an. Doch wie bei der Repräsentation von Arbeiter- oder Frauengeschichte geht es auch bei der Migrationsgeschichte nicht um ein Randthema, sondern um eine zentrale Dimension globalisierter Gesellschaften. Daher versuchten Initiativen wie das Projekt Migration den nationalen Blick zurückzunehmen und die Perspektive der Migration – nicht der Migranten – einzunehmen, um Migration als eine zentrale Kraft gesellschaftlicher Veränderung sichtbar zu machen.25 Einen vergleichbaren Verunsicherungseffekt hinsichtlich vertrauter Strukturen haben Strategien, die die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf das ›Andere‹, auf das Leben und die Kultur von Migranten richten, sondern das stets in Transformation begriffene ›Eigene‹ ins Blickfeld rücken – also darauf, wie sich etwa Politik, Wirtschaft und Kultur insgesamt durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Folge von Migrationsbewegungen wandeln.26 Die Grenze zwischen

24 Vgl. Irit Rogoff: »›Dieses obskure Objekt der Begierde‹. Reflexionen über Verlust, Auslöschung und die Politik des Gedenkens«, in: Jochen Gerz (Hg.), 2146 Steine. Mahnmal gegen Rassismus Saarbrücken, Stuttgart: Hatje 1993, S. 156-165, hier S. 158f. 25 Vgl. Aytaç Eryılmaz/Marion von Osten/Martin Rapp/Kathrin Rhomberg/Regina Römhild: »Vorwort«, in: Kölnischer Kunstverein et al. (Hg.), Projekt Migration, Köln: DuMont 2005, S. 17f. 26 Vgl. K. Poehls: »Zeigewerke des Zeitgeistes?«, S. 226.

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dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ lässt sich auch in Museen befragen, die wie Regionalmuseen gerade die ›eigene‹ Kultur repräsentieren sollen. Kehrt man allerdings den Blick um, eröffnet die Perspektive der Migration auch einen neuen Blick auf das ›Eigene‹. So wurden im Freilichtmuseum Detmold in einer temporären Ausstellung die Auswirkungen von Migrationsströmen auf regionale Bautechniken und -formen rekonstruiert.27 Durch die Dokumentation der vielfältigen Außeneinflüsse verschwammen die Grenzen zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ an einem Ort, der wie die vielen anderen Heimat-, Regional- und Stadtmuseen durch den Wunsch nach Bewahrung von vermeintlich genuinen Besonderheiten des Landstrichs überhaupt erst hervorgebracht wurde. Eingebunden in einen größeren Kontext weist das Thema Migration nicht nur über die Darstellung partikularer Geschichten hinaus, sondern es stellt die national orientierten Museen und damit die Mehrzahl der kulturgeschichtlichen Museen auf den Prüfstand. Denn als bürgerliche Institution des 19. Jahrhunderts hat das Museum maßgeblich zur »Erfindung der Nation«, zur Konstruktion von »Wir-Identitäten« beigetragen, wobei die Identitätskonzepte auf der Abgrenzung zu wie auch immer definierten ›Anderen‹ beruhten. Dabei richtete sich der Blick jedoch nicht nur auf das eigene Territorium, es wurde ein externer Betrachterstandpunkt konstruiert, von dem aus sich die übrige Welt nach Ethnien und Kulturen ordnen ließ. Und letztlich funktionieren auch Stadt- und Regionalmuseen nach demselben Muster wie die repräsentativen Nationalmuseen: Ein wie auch immer definiertes Territorium wird zum Ausgangspunkt für die Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte. Und auch Spezialmuseen wie etwa Technik- oder Kunstgewerbemuseen beziehen sich in ihren Darstellungen oft auf nationale Entwicklungen und herausragende Leistungen einzelner Bürger. Viele politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen lassen sich nicht auf ein Staatsgebiet eingrenzen, doch beim Thema Migration, verstanden als grenzüberschreitende Wanderungsbewegung, wird das offensichtlich. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass Migration in zunehmendem Maße nicht als zielgerichtete Wanderungsbewegung von einem Staat zu einem anderen, sondern als temporäre Bewegung zwischen mehreren Orten erfolgt. »Migration ist nicht als nationale Einwanderungs- und Auswanderungsgeschichte und auch nicht als zweiseitiger Dialog zwischen Einwanderungs- und Herkunftsland,

27 Vgl. LWL-Freilichtmuseum (Hg.): Menschen – Ideen – Migration. Neue Blicke auf Baukultur im Rheinland und in Westfalen-Lippe (= Schriften des LWL-Freilichtmuseums Detmold, Westfälisches Landesmuseum für Volkskunde, Band 5), Essen: Klartext 2010.

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sondern als komplexer transnationaler sozialer Prozess zu lesen«,28 formulierten Martin Rapp und Aytaç Eryılmaz. Der Trend zur Transnationalisierung verstanden als Verdichtung und Verstetigung plurilokaler, grenzübergreifender Sozialund Wirtschaftsräume betrifft immer mehr Menschen. Ihr Alltag unterliegt unterschiedlichen räumlichen Ordnungen: Dazu zählt das Auseinanderfallen von Herkunfts- und Wohnort ebenso wie das Eingebundensein in eine global verflochtene Wirtschafts- und Medienwelt. Und diese vielfältigen Formen von Grenzüberschreitungen befördern die Herausbildung von nicht territorial definierten Identitäten.29 Das heißt nicht, dass damit die nationalstaatlichen Grenzen aufgehoben wären, soziale Abgrenzungen finden nur in anderer Weise statt. Als Reaktion auf diese Entwicklung machen transnationale und transkulturelle Konzepte nicht den Versuch, abgegrenzte Kulturen zu konstruieren, sondern nehmen das ständige gegenseitige Einander-Durchwirken von Lebensweisen in den Blick, für das Migration Motor und Metapher zugleich ist.30 Nach Saskia Sassen gehören die städtischen Metropolen zu jenen Orten, in denen die Nation durch die materiellen und diskursiven Praktiken einer immer größer werdenden Anzahl verschiedenster Akteure zunehmend »entnationalisiert« wird.31 So versuchte etwa eine Studie zu Venedig globale Prozesse in ihrer lokalen Verdichtung zu fokussieren. Dabei geht es gleichermaßen um die Geld-, Macht- und Menschenströme, die sich in Gestalt der imitierten Taschen von Louis Vuitton, der moldawischen Putzfrau, des chinesischen Touristen und des illegalen Einwanderers aus dem Senegal gleichsam in unzähligen Kanälen durch die Stadt ziehen.32

28 Martin Rapp/Aytaç Eryılmaz: Thesen zum Migrationsmuseum. Unveröffentlichter Beitrag zur Tagung »Kulturpolitische Strategien in der Einwanderungsgesellschaft. Zur Konzeption eines Migrationsmuseums in Deutschland«, Köln 2004, zit. nach Joachim Baur: »Ein Migrationsmuseum der anderen Art. Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven«, in: WerkstattGeschichte 42 (2006), S. 97-103, hier S. 102f. 29 Vgl. Sharon J. Macdonald: »Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum«, in: Rosemarie Baier (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M.: Campus 2000, S. 123-148, hier S. 132. 30 Vgl. Joachim Baur: »Migration – Kultur – Integration. Und die Rolle des Museums? Vorläufige Vermessungen eines unwägbaren Terrains«, in: Museumskunde 75 (2010) 1, S. 16. 31 Vgl. Saskia Sassen: »Zuwanderung und Staatsbürgerschaft«, in: Kölnischer Kunstverein et al., Projekt Migration (2005), S. 823-824, hier S. 823. 32 Vgl. Wolfgang Scheppe (Hg.): Migropolis. Venice and the Global Atlas of a Situation, Ostfildern: Hatje Cantz 2009.

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Migrationsbewegungen lassen sich im Rahmen nationaler Geschichtsnarrative nicht adäquat fassen, aber insbesondere in den städtischen Ballungsräumen doch konkret erfahren. So sieht auch der europäische Ethnologe Gottfried Korff im Museumstyp des Stadtmuseums ein großes Potential für eine transkulturelle Geschichtsarbeit. Denn die zunehmende Fremdheit der ›eigenen‹ Lebenswelt und das Eingebettetsein in globale Strukturen lassen sich dort besonders plausibel erfahren, wo der Ort und die Objekte an eigene Erfahrungen anknüpfen.33 Die Repräsentation von Migrationsgeschichten sollte daher ihren Ort zwischen Universalisierung und Partikularisierung finden, wobei es nicht darum geht, die lokal-regionalen, nationalen, europäischen oder globalen Aspekte gesondert abzubilden, sondern sie zu transzendieren beziehungsweise aufzuheben. Die Dialektik dieser Repräsentation verliefe also zwischen den Spannungspolen Entortung/Entgrenzung einerseits sowie räumlicher und zeitlicher Kontextualisierung andererseits.34 Das Thema Migration zielt also nicht nur in die Mitte der Gesellschaft, sondern trifft auch den Kern der Institution Museum. Vor dem Hintergrund der aktuellen Wandlungsprozesse stellt sich die Frage, ob Museen gleichsam zu Relikten einer verschwindenden (nationalen) Ordnung werden oder ob es ihnen gelingt, sich den neuen Anforderungen zu stellen und entsprechende Repräsentationsformen zu entwickeln. Welche Geschichten sollen also wie und für wen erzählt werden?

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Der Kritik, dass das Thema Migration im Museum ungenügend repräsentiert sei, begegnen Kuratoren oftmals mit dem Argument, es gäbe dazu keine adäquate materielle Überlieferung. Da im Zuge von Migrationsbewegungen ein Großteil des persönlichen Besitzes zurückgelassen und ein neues Leben erst aufgebaut werden muss, ist es tatsächlich oft schwierig, das Leben von Migranten anhand von Objekten zu dokumentieren. Ein Exponat, das sehr häufig in Museen und Ausstellungen anzutreffen ist, wenn es um Migration geht, ist der Koffer: einzeln, zu hohen Stapeln aufgehäuft,

33 Vgl. G. Korff: »Fragen zur Migrationsmusealisierung«, S. 13. 34 Vgl. Rainer Ohliger: Die Bundesrepublik braucht ein Migrationsmuseum. Braucht die Bundesrepublik ein Migrationsmuseum? Oder: Vom Nutzen und Nachteil eines Migrationsmuseums für die Gesellschaft, Tagungsbericht, Brühl 2002, S. 8, zit. nach http://www.network-migration.org/MigMuseum/Migrationsmuseum_DoMiT.pdf

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hinter Vitrinenglas auratisch aufgeladen oder zu einem Präsentationselement für Ausstellungsobjekte umgewandelt. Der Koffer ist zum verdichteten Zeichen geworden, wenn es um ein Leben in Zwischenräumen geht – sei es Immigration, Emigration oder Vertreibung und lenkt damit die Aufmerksamkeit vor allem auf den Ortswechsel. Doch das Thema Migration lässt sich nicht auf den Zwischenraum reduzieren, wie es beispielsweise im Auswandererhaus in Bremerhaven der Fall ist, wo die Schiffsreise zur zentralen Erzählung wird.35 Der Kulturwissenschaftler Joachim Baur kann Koffer-Präsentationen aber auch etwas abgewinnen. Denn bleiben die Koffer geschlossen – so seine Argumentation –, haftet ihnen eine gewisse Widerständigkeit an: gegen das Ausstellen, gegen das Hervorzerren und Ausleuchten fremder Objekte und Geschichten.36 Die bloßen Koffer können zwar zu Projektionsflächen für unreflektierte Migrationsbilder werden, doch das Öffnen der Koffer führt tatsächlich zu der schwierigen Frage nach dem Mitgenommenen beziehungsweise Mitgebrachten. Dinge, die längst im Alltagsleben angekommen sind, wie etwa Pizza oder Döner-Kebab, werden im Kontext von Migrationsausstellungen wieder zum Fremden, zum Anderen. Dies mag zwar bewusst machen, dass Kulturen immer von unterschiedlichen äußeren Einflüssen gespeist werden, doch die Verknüpfung bestimmter Objekte mit (ethnischen) Bevölkerungsgruppen kann auch Klischeebilder und Stereotype befördern. Im Rahmen der Ausstellung MigrationsGeschichten in Berlin37 wurde anhand von acht Objektbiographien gezeigt, welche Spuren Migranten seit dem 19. Jahrhundert in der Stadt hinterlassen haben. Basis dieses Projektes waren Interviews mit Zuwanderern und Objekte, mit denen sich die Protagonisten identifizierten: Gegenstände, mit denen sie Erinnerungen an ihre Herkunftsorte oder Erfahrungen in ihrer neuen Lebensumwelt verknüpften, wie Kaffee- und Teeutensilien, Döner-Kebab-Spieße, Kopftücher, T-Shirts, Plastiktaschen. Im Pariser Migrationsmuseum, der Cité nationale de l’histoire de l’immigration, war die Vorgangsweise letztlich ähnlich: Ausgehend von biographischen Erinnerungen der Interviewpartner wurden Objekte, die in den Geschichten vorkamen, hinzugefügt. Durch die unmittelbare Verbindung mit den konkreten Erzählungen

35 Vgl. Joachim Baur: »Ein Migrationsmuseum der anderen Art. Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven«, in: WerkstattGeschichte 42 (2006), S. 97-103. 36 Vgl. J. Baur: »Flüchtige Spuren – bewegte Geschichten«, S. 20. 37 Die Ausstellung MigrationsGeschichten in Berlin wurde vom Museum Europäischer Kulturen im Rahmen des EU-Projekts »Migration, Work and Identity. A European history, told in museums« 2003 gezeigt (http://www.verein-museum-europaeischerkulturen.de/migration.htm).

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wollten die Kuratoren dem klassischen Objektkanon von Koffern, Photoalben und Pässen, die leicht zu Stereotypen gerinnen, entkommen. Doch das Problem bleibt bestehen: Um als ein Objekt einer Migrationsgeschichte erkennbar zu sein, muss es als different wahrgenommen werden und bestätigt auf diese Weise wieder die Alterität des migrantischen Lebenszusammenhangs. Oftmals vermögen Migranten nur die notwendigsten Gebrauchsgegenstände und leicht zu transportierende Erinnerungsstücke mitzunehmen. Falls von den Alltagsobjekten überhaupt etwas erhalten und überliefert werden konnte, handelt es sich zumeist um wenig spektakuläre Dinge. Doch gerade, weil kaum materielle Güter in das neue Leben hinüber gerettet werden können, erhalten sie für die Besitzer oder deren Nachkommen manchmal einen besonderen Wert. Schwierige Begleitumstände von Migrationsbewegungen verleihen den unscheinbarsten Dingen zudem eine besondere Aura. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit derart emotional aufgeladene Objekte geeignet sind, die komplexen Zusammenhänge von Migrationsgeschichten zu transportieren.38 So wurde bei der von der Initiative Minderheiten gestalteten Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration (2004) gegen den anfänglichen Widerstand des Museumsdirektors gänzlich auf dreidimensionale authentische Objekte in der Präsentation verzichtet, um nicht einer Verdinglichung oder Ethnographisierung der Migrationsgeschichten Vorschub zu leisten.39 Indem viele der Ausstellungsmaterialien als Schwarz-Weiß-Kopien präsentiert wurden, sollte die auratische Wirkung von Originaldokumenten unterlaufen und der Blick auf die Inhalte gelenkt werden. Die Ausstellung Crossing Munich. Orte, Bilder und Debatten der Migration in München (2009) verzichtete ebenfalls auf Alltagsobjekte und setzte stattdessen auf die Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Von Wissenschaftlern und Studierenden der Ludwig-Maximilians-Universität München erhobene Materialien zu den Lebensrealitäten von Migranten bildeten die Grundlage für die künstlerischen Arbeiten, die als »Reflexionskatalysatoren« verstanden wurden. »Konstruktionsprozesse lassen sich schließlich nicht ohne weiteres an konkreten Objekten aufzeigen – dazu bedarf es einer narrativen Rahmung, die die Aura von den Objekten selbst auf den Akt der Reflexion über diese verlagert. Die auratische Praxis muss auf die Interpretation übergehen und sich von der Aura

38 Vgl. K. Poehls: »Zeigewerke des Zeitgeistes?«, S. 242. 39 Vgl. Martina Böse: »›Ich entscheide mich dafür, MigrantInnen zu sagen‹. Zur Vermittlung von ›Gegenerzählungen‹ und Repräsentationspolitik in der Ausstellung ›Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration‹«, in: Beatrice Jaschke/Charlotte MartinzTurek/Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia + Kant 2005, S. 120-151, hier S. 125 u. 132.

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des Objekts lösen – was schließlich bedeuten könnte, dass strittige Narrative und kontroverse Auffassungen Gegenstand der Ausstellung werden«,40 formuliert die Kuratorin Kerstin Poehls. Es kann jedoch nicht das Ziel musealer Repräsentationen sein, den Bereich der (materiellen) Kultur völlig auszublenden und grundsätzlich auf Originalobjekte zu verzichten. Die Bedeutung der Dinge besteht allerdings weniger in ihrer Belegfunktion, Erkenntnis fördernd sind sie vor allem dann, wenn sie zum Ausgangspunkt für neue Fragestellungen werden. Die besondere Qualität von polysemen Objekten liegt darin begründet, dass sie je nach Kontextualisierung unterschiedliche Bedeutungen nahe legen und niemals gänzlich auf eine Lesart festgelegt werden können. Interessant sind daher vor allem die Umdeutungen, die die Dinge im Migrationsprozess erfahren. So kann aus dem Herkunftsort Mitgebrachtes, aber auch neu Erworbenes auf Grund der jeweiligen Lebensumstände einen besonderen persönlichen Wert erlangen, verlieren oder verändern. Zu Verschiebungen mag es aber auch durch die Interviewsituation kommen, denn sie bestimmt in hohem Maße mit, was die Befragten von sich preisgeben möchten. Und es stellt sich die Frage, welchen neuerlichen Bedeutungswandel die Gegenstände im Ausstellungskontext erfahren, konkret in einer Migrationsausstellung, die als definierender Rahmen die Wahrnehmung maßgeblich mitbestimmt? Im Umgang mit der materiellen Kultur lässt sich in mehreren Wissenschaftsdisziplinen ein Paradigmenwechsel feststellen. Das Interesse an Dingen nimmt nicht nur im Hinblick auf ihre diskursive Bedeutung zu; es ist ihre Gegenständlichkeit, ihre Widerständigkeit und ihr Eigensinn, die faszinieren. Die Objekte sind präsent und erzeugen in ihrem Umfeld gleichsam einen Überschuss an Dinghaftigkeit, der nicht gänzlich im Dienst des Subjekts aufgeht. Das heißt, dass den Objekten in ihrer Materialität immer ein unsagbarer Rest anhaftet, der sich der Symbolisierung entzieht.41 Die gängige Zuordnung aktives Subjekt versus passives Objekt könnte, folgt man dem Psychoanalytiker August Ruhs, noch in einem weiteren Sinne eine Verschiebung erfahren. Der Mensch konstituiert sich buchstäblich durch das »Gegenständige« des Objekts als Subjekt. Deshalb

40 Kerstin Poehls: »Vom Durchkreuzen der Erwartungen«, in: Kulturrisse 3 (2009), zit. nach: http://kulturrisse.at/ausgaben/032009/kunstpraxen/vom-durchkreuzen-der-erwar tungen 41 Eva Sturm: »3 Geschichten mit Objekten«, in: Karl-Josef Pazzini (Hg.), Unschuldskomödien. Museum & Psychoanalyse, Wien: Turia + Kant 1999 (= Museum zum Quadrat, Band 10), S. 110-130, hier S. 119.

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tragen Gegenstände, die einen Menschen umgeben, auch die Zeichen des Subjektivierungsprozesses in sich.42 Da sich migrantische Kulturen – Kulturen in Bewegung – nicht durch die Anhäufung materieller Zeugnisse auszeichnen, während die museale Objektdokumentation auf Sedimentierung und Materialisierung angewiesen ist, stellt sich die Frage, ob nicht weniger objektbezogene Darstellungsformen der Heterogenität migrantischer Phänomene besser gerecht werden?43 Doch diese Fragen betreffen nicht nur die Repräsentation migrantischer Lebensformen, denn Kulturen sind, egal wie verwurzelt sie scheinen, nie statisch: mehr noch, im Grunde sind Kulturen überhaupt nicht, außer vielleicht in Bewegung – »travelling cultures«, wie James Clifford es nennt.44 Dennoch hat die grundsätzliche Frage nach dem gesellschaftlichen Wert der Dingkultur – insbesondere im Hinblick auf die Geschichtsdarstellung durchaus ihre Berechtigung. Denn nicht alle Kulturen sind gleichermaßen materiell orientiert wie die westeuropäischen Gesellschaften, die den Umgang mit Dingen – nicht zuletzt im Rahmen von Museen und Ausstellungen – als eine Kulturtechnik ausgebildet haben.45 Die Materialität des Museums als Bauwerk verbunden mit der Materialität der Bestände spielte eine entscheidende Rolle für die Verdinglichung von Kulturen. Denn im Unterschied zu beliebig vervielfältigbaren Medien können unteilbare Gegenstände – als Besitztümer – mit einer wie auch immer definierten Community eine untrennbare Verbindung eingehen.46 Doch mit dem Aufkommen der Massenproduktion glich sich die Alltagskultur in den industrialisierten Ländern zunehmend an, so dass über derartige Waren kaum noch nationale oder regionale kulturelle Identitäten herzustellen sind. Und auch Immigranten verwenden in der Mehrzahl ähnliche Alltagsgegenstände wie die übrigen Mitglieder jener Gesellschaftsschichten, der sie angehören. Nicht zuletzt deshalb wird der Blick in musealen Repräsentationen oftmals auf traditionelle Lebensweisen gelenkt, auch wenn diese dem Großteil der Immigranten nicht (mehr)

42 Vgl. August Ruhs: »Die Psychoanalyse geht ins Museum. Oder über das Begehren Bedeutung zu sehen, in: Pazzini, Unschuldskomödien (1999), S. 55-76, hier S. 62. 43 Vgl. Gottfried Korff: »Fragen zur Migrationsmusealisierung. Versuch einer Einleitung«, in: Hampe, Migration und Museum (2005), S. 5-15, hier S. 7. 44 Vgl. J. Baur: »Migration – Kultur – Integration«, S.12-19. 45 Vgl. Michael Fehr: »Überlegungen zu einem ›Migrationsmuseum‹ in der Bundesrepublik«, in: Bernd Wagner (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2009, Essen 2009, S. 265-270, hier S. 269. 46 Vgl. S. Macdonald: »Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten«, S. 128.

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entsprechen. Eine derart exotisierende Repräsentationspraxis ist aber auch in Selbstdarstellungen von Migranten anzutreffen. Dem immateriellen Erbe, wie mündlichen Traditionen und Bräuchen, versucht die UNESCO, zwar seit einigen Jahren zunehmend Rechnung zu tragen. Doch dies führte nur zur Ausweitung des Musealisierungsprozesses, nicht aber zur Reflexion oder Neubewertung der materiellen Überlieferung. Die Verschiebung von einem possessualen zu einem prozessualen Kulturbegriff – wie sie Gottfried Korff vorschlägt – müsste sich auch in den musealen Repräsentationsformen niederschlagen.47

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Auf Grund der mangelnden materiellen Überlieferung – und dies ist eine Parallele zur Arbeiter- und Frauengeschichte – werden für die museale Darstellung von Migrationsgeschichten vielfach lebensgeschichtliche Interviews als historische Quellen herangezogen. Darin ist jedoch nicht nur eine Strategie zu sehen, aus der Not eine Tugend zu machen. Mit individuellen Erinnerungen von Migranten zu arbeiten, bedeutet mehr als bislang vernachlässigte Geschichten zu Gehör zu bringen. Eine besondere Qualität besteht darin, dass die Betroffenen im Erzählen selbst zu Wort kommen: Sie berichten von ihren Erfahrungen, erläutern Objekte und liefern Erinnerungen. Aber auch wenn Migranten ihre Geschichte selbst erzählen, erfährt man nicht, wie es wirklich gewesen ist, sondern wie Vergangenes gegenwärtig erinnert wird. Und in der Regel spiegeln die Erzählungen jene Deutungshorizonte wider, die in den jeweiligen sozialen Kontexten dominant sind. In den konkreten Biographien entfaltet sich jedoch oftmals ein vielfältigeres Bild als in den Zuschreibungen, wie sie in den öffentlichen Diskursen vielfach vorgenommen werden. Zudem beeinflusst das Wissen, dass die Geschichten für eine Ausstellung gedacht sind, unwillkürlich die Narrative. Umso größer ist die Herausforderung, eine Interviewsituation zu schaffen, in der die Gesprächspartner darin bestärkt werden, nicht nur Erfolgsgeschichten zu erzählen, sondern auch der Darstellung von Konflikten, Machtverhältnissen und Ungleichheiten Raum zu geben. Die Arbeit mit Biographien bewegt sich in einem Spannungsfeld von In-BeziehungTreten und Distanz-Herstellen. Es gilt, einerseits die Erzählenden in ihrer subjektiven Erfahrungswelt zu verstehen und andererseits das Erzählte immer auch vor dem Hintergrund vielfältiger historischer Wissensbestände zu hinterfragen

47 Vgl. G. Korff: »Fragen zur Migrationsmusealisierung«, S. 13.

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und zu kontrastieren. Doch auch die Interviewer sind ihrerseits wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Standpunkten verhaftet und bringen Vorannahmen mit, die sich auf die Gesprächsführung auswirken. All dies macht den Umgang mit persönlichen Erinnerungen nicht weniger wertvoll, es bedarf allerdings der Kontextualisierung, um den Konstruktionscharakter deutlich zu machen.48 Die eigentliche Herausforderung besteht allerdings darin, dies auch in der Ausstellung offen zu legen, um das Publikum nicht in die »Zeitzeugen-Falle« tappen zu lassen. Lebensgeschichten vermitteln individuelle Erfahrungen aus einer Nahperspektive – und vielleicht macht gerade das ihre Attraktivität, mehr noch ihre Verführung aus, denn sie erleichtern damit Empathie und emotionale Teilhabe der Rezipienten. So können die persönlichen Erzählungen von Migranten aber auch Gefahr laufen, Nähe zu simulieren, wo in der gesellschaftlichen Realität ein hohes Maß an Distanz besteht. Dies würde allerdings bedeuten, nicht nur dem Erzählten, sondern auch der Erzählsituation vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken, da hier bereits die Auseinandersetzung beginnt. Im Katalog zur Ausstellung Bewegliche Habe. Zur Ethnografie der Migration49 wurden die Erfahrungen in der Feldforschung zum Thema gemacht. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, wie man mit derart persönlichen Materialien im Ausstellungskontext umgeht, auch wenn sie dann letztlich offen bleibt. Die Frage nach dem Konstruktionsprozess der Erzählungen wirft zugleich die Frage nach der Sprecherposition auf. Indem die persönlichen Erinnerungen von Migranten Eingang in Ausstellungen und Museen finden, wird ihren subjektiven Deutungen zwar Gewicht und in gewisser Weise Anerkennung verliehen. Aber bedeutet dies gleichzeitig, dass die Migranten auch die Definitionsmacht über die Geschichtsnarrative haben? Kann von einer gleichberechtigten Teilhabe am kulturellen Erbe gesprochen werden? Sollen Migrationsausstellungen tatsächlich zu einem Perspektivenwechsel einladen, kommt man nicht umhin, Migranten in den Ausstellungsprozess einzubeziehen – allerdings nicht nur als Geschichtenlieferanten, sondern auch als Mitarbeiter an der Ausstellungskonzeption. Dies garantiert zwar nicht, dass die Darstellungen damit authentischer, im Sinne von näher an der ›Wahrheit‹ sind, aber sie könnten mitunter dem vom In-

48 Vgl. Dietmar Osses: »Migration und kulturelle Vielfalt: Eine Herausforderung für die Museen«, in: Museumskunde 75 (2010) 1, S. 36-40, hier S. 38. 49 Ulrike Bretz/Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft (Hg.): Bewegliche Habe. Zur Ethnographie der Migration. Begleitband zur Ausstellung im Haspelturm des Schlosses Hohentübingen vom 14. Februar bis zum 16. März 2003, Tübingen: TVV-Verlag 2003.

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tegrationsimperativ beherrschten Diskurs andere, unerwartete Positionen entgegensetzen. Vielen Migranten geht es jedoch nicht um die Repräsentation ihrer spezifischen Geschichte, ihr Anliegen ist es vielmehr, nicht permanent im Kontext von Migrationsgeschichten verortet zu werden. Denn die Anerkennung, auf die sie letztlich abzielen, besteht nicht darin, für alle Zeiten als Migranten repräsentiert und damit fixiert zu sein, sondern als gleichberechtigte Bürger eines Staates wahrgenommen zu werden. Dies würde aber auch implizieren, dass die Perspektive der Migration generell in der Geschichtspolitik verankert wird. Eine ähnliche Debatte wurde auch in Bezug auf Frauenausstellungen geführt. Feministinnen lehnten auf Frauen fokussierte Ausstellungen ab, weil – so ihre Argumentation – diese dazu beitragen würden, die Kategorie Geschlecht in erster Linie mit Frauen in Verbindung zu bringen, während bei der Darstellung von Männerdomänen – sei es in Politik, Wirtschaft oder Kultur – Geschlecht nie eine Rolle zu spielen scheint. Die Frage nach dem »Wer spricht?« kann also nicht bei der einfachen Differenz zwischen Minderheits- und Mehrheitsbevölkerung stehen bleiben, sie zielt vielmehr auf die Verortung der Sprecherposition. In der feministischen Theorie wurde dafür der Begriff des »situierten Wissens« geprägt. Darunter wird die Einsicht verstanden, immer nur über ein begrenztes Wissen zu verfügen – ein Wissen, das in einem bestimmten Setting, einem konkreten sozialen und erkenntnistheoretischen Kontext verortet ist.50 Dies wendet sich gegen den körperlosen Blick von nirgendwo, der scheinbare Objektivität für sich in Anspruch nimmt. Es ist unmöglich, die Perspektive eines außen stehenden Betrachters einzunehmen, da das Subjekt der Erzählung – und dies gilt gleichermaßen für Zeitzeugen wie für Historiker – immer schon in die Geschichten eingeschrieben ist. Die Umsetzung des wesentlich radikaleren Konzepts der Kontaktzone, wie es Joachim Baur in Anlehnung an James Clifford vorschlägt, scheint jedoch noch nicht in greifbare Nähe gerückt zu sein.51 Entworfen wird hier das Bild eines Museums, das diejenigen, deren Kultur und Geschichte es sammelt und ausstellt, umfassend und dauerhaft in seine Operationen einbezieht, was notwendigerweise mit einem Konfliktpotential verbunden ist. Statt die Öffentlichkeit von einer scheinbar gesicherten Position aus erziehen wollen, öffnet sich die Institution

50 Vgl. Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Sabine Hark (Hg.), Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 22007, S. 305322, hier S. 317. 51 Vgl. J. Baur: Die Musealisierung der Migration, S. 358f.

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alternativen Perspektiven und Interpretationen. Dabei müsste das Museum ergebnisoffene, verbindliche und wechselseitige Beziehungen mit den Repräsentierten eingehen, ohne die Asymmetrien von Ressourcen und gesellschaftlicher Macht in diesem Verhältnis zu negieren. In welcher Weise sich die Erzählungen dabei verändern würden, ist im Grunde nicht absehbar – nicht zuletzt, da es sich bei den Repräsentierten ebenso wenig um homogene Gruppen handelt.

N EUE E RZÄHLWEISEN ? Wie bei der Darstellung anderer sozialer Gruppen, besteht die Gefahr, dass es bei der Repräsentation von migrantischen Lebensweisen zur Verfestigung gängiger Zuschreibungen und Klischees kommt. Denn der Blick auf die Unterschiede zwischen den Kulturen trägt dazu bei, die ›Anderen‹ erst zu ›Anderen‹ zu machen – ein Prozess, der mit dem englischen Begriff othering trefflich charakterisiert werden kann. Doch werden Phänomene wie Rassismus oder Sexismus zum Thema einer Ausstellung, kommt man nicht umhin, sich innerhalb kategorialer und begrifflicher Bedeutungszusammenhänge zu artikulieren, die eigentlich Gegenstand der Kritik sind. Wenn die (Klischee-)Bilder, von denen man spricht, auch gezeigt werden, läuft die Ausstellung immer auch Gefahr, sie zu wiederholen. Es gilt also bei der Thematisierung der Einwanderungsgesellschaft nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch der visuellen Ebene nach neuen Erzählungen zu suchen, führten doch Museen und Ausstellungen eine neue Verfügung über Körper und Räume ein, die einen gelehrigen Konsum inmitten dessen bewirken sollte, was sonst vielleicht umstrittener öffentlicher Raum gewesen wäre. Müsste das Museum dann anstelle eines Repräsentationsorts nicht eher zu einem Ort der Befragung, der Verhandlung konkurrierender Lebensentwürfe werden? Vielleicht geht es angesichts von Fremdheitserfahrungen und Verunsicherungen nicht so sehr darum, Nähe und Empathie herzustellen, sondern vielmehr der von Peter Sloterdijk ins Treffen geführten Forderung nach einer »Schule des Befremdens« nachzukommen?52 Sharon MacDonald nennt als ein positives Beispiel die Arbeit von Nima Poovaya Smith.53 Sie wurde 1986 in Bradford/West Yorkshire damit beauftragt,

52 Peter Sloterdijk: »Museum. Schule des Befremdens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.03.1989. 53 Vgl. S. Macdonald: »Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum«, S. 136ff.

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eine Kunstsammlung aufzubauen, die den indisch-pakistanischen Subkontinent repräsentiert. Das Ergebnis dieses Prozesses war schließlich 1997 in den Transcultural Galleries in der Cartwright Hall zu besichtigten. Poovaya Smith suchte zwar den Kontakt zu den in Bradford stark vertretenen südasiatischen Bevölkerungsgruppen, war aber – beeinflusst von postkolonialen Theoretikern – weniger an den unterschiedlichen Communities interessiert als an den fließenden kulturellen Grenzen und Identitäten zwischen den sozialen Gruppen. Der Ort Bradford und die Region West Yorkshire standen zwar im Mittelpunkt ihrer Arbeit, aber nicht mit dem Ziel, eine klar umrissene Identität zu konstruieren, sondern die Vielfalt des Ortes zu betonen. Gleichzeitig wurden Themen gewählt, die einen wesentlich weiteren geographischen Raum umspannten. Dieser Zugang sollte sich auch in der Anordnung der Objekte niederschlagen. Die Artefakte wurden nicht nach Kulturen angeordnet und auch nicht in eine übergreifende historische Erzählung eingebettet. Die Besucher mussten sich die Storyline der Ausstellung – im wahrsten Sinne des Wortes – schrittweise erschließen. Denn die Ordnung der Dinge war nicht auf den ersten Blick zu erfassen, hinter jeder Raumecke konnte sich eine neue Perspektive eröffnen. Auf diese Weise sollte das Publikum im Gehen ständig wechselnde Blickwinkel performativ nachvollziehen. Poovaya Smith setzte daher an die Stelle gängiger Ordnungsschemata, wie jenes der Abgrenzung und Klassifizierung, das Prinzip der Beziehung. Dabei sollten allerdings nicht irgendwelche zugrunde liegende Relationen zu Tage gefördert werden, Beziehung wurde als eine Art suggestive, manchmal auch witzige und ironische Zufallsentdeckung begriffen. So konnten diverse Exponate ein Thema umkreisen oder auf Grund formaler Ähnlichkeiten in Verbindung stehen, doch immer galt es, verschiedene Standpunkte und Perspektiven in einen Zusammenhang zu bringen. Die Ausstellungsteile gingen nahtlos ineinander über, so dass die Exponate je nach Standpunkt in unterschiedlichen Beziehungszusammenhängen gesehen werden konnten. Die inhaltliche Neuorientierung sollte sich also auch in den konkreten Präsentationsweisen widerspiegeln. Auch das Projekt Migration suchte nach neuen Repräsentationsformen: Ziel der unterschiedlichen Visualisierungsformen war es, die evidenten Bilder der Migration zu verweigern und stattdessen den Bildfundus der Migration zu befragen, zu erweitern, zu stören, zu irritieren oder einfach offenzulegen. Die Technik der Montage unterschiedlicher Repräsentationskontexte sowie die Verbindung von Kunst und Wissenschaft wurde zum Programm, da weder die dokumentari-

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sche Beweisführung oder die privaten Erinnerungen noch die künstlerischen Arbeiten alleine eine neue Erzählfigur zu etablieren vermögen.54 Versteht man die Institution Museum als heterotopen Ort55, könnten Ausstellungen ausgehend von der Analyse vorherrschender Visualisierungspraktiken ein Experimentierfeld für die Entwicklung neuer Darstellungsformen sein. Denn wie geschieht visuelle Minorisierung und Majorisierung? Wie sind museale Repräsentationen an der Aufrechterhaltung eines visuellen Status quo beteiligt? Aber ebenso wichtig ist die Fragestellung: Wie können minorisierte Existenzweisen und Subjektpositionen anerkennend zur Anschauung gebracht werden, ohne dass durch die Art der Darstellung bestehende Klischeevorstellungen bestätigt werden?56 Dennoch ist bei der musealen Repräsentation von Migrationsgeschichten zu bedenken, dass dem Format Museum – auch wenn Ausstellungen im Zeichen von Emanzipation oder sozialer und kultureller Anerkennung konzipiert werden – ein kolonialer Gedanke zutiefst eingeschrieben ist und daher die Gefahr besteht, Migranten gewissermaßen einer erneuten Kolonialisierung zu unterwerfen. Daran ändern auch die Forderungen nach Partizipation oder aktiver Beteiligung nichts, solange das Museum seiner Struktur nach konventionell, also als repräsentative Institution angelegt ist.57

54 Vgl. Marion von Osten: »Auf der Suche nach einer neuen Erzählung. Reflexionen des Ausstellungsprojekts ›Projekt Migration‹«, in: Nathalie Bayer/Andrea Engl/Sabine Hess/Johannes Moser (Hg.), Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, München: Schreiber 2009, S. 90-93, hier S. 92. 55 Heterotopien sind nach Michel Foucault Orte, die er als Gegenplatzierungen oder Widerlager beschreibt, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind. 56 Vgl. J. Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, S. 35. 57 Vgl. Michael Fehr: »Überlegungen zu einem ›Migrationsmuseum‹ in der Bundesrepublik«, in: Bernd Wagner (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2009, Essen 2009, S. 265-270, hier S. 269.

Migrationsgeschichte und die nationalstaatliche Perspektive in Archiven und Museen A YTAÇ E RYILMAZ

DOMiT, das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei, wurde 1990 von Migrantinnen und Migranten ins Leben gerufen. Der Grund für diese Initiative lag darin, dass die Geschichte der Einwanderer weder in der historischen Wissenschaft noch in Museen und Archiven besondere Aufmerksamkeit erhielt, obwohl sich das Gesicht der Bundesrepublik Deutschland in Folge der Anwerbung und der dauerhaften Niederlassung von Migrantinnen und Migranten seit den 1950er Jahren entscheidend verändert hatte. Bereits 1988 hatten vier Migranten die Idee entwickelt, ein öffentlich zugängliches Archiv über die Migration aus der Türkei zu schaffen. Ursprünglich war geplant, dafür ein europaweites Zentrum zu gründen; später sollte Deutschland den Kern der Konzeption darstellen. Ziel war es, eine Organisation aufzubauen, die das historische Erbe der Einwanderer für zukünftige Generationen bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen sollte. Im September 2003 erfolgte in Köln die Gründung des Vereins Migrationsmuseum in Deutschland, in dem sich Vertreter verschiedener MigrantenCommunities und Wissenschaftler zusammenschlossen. Im Juni 2007 kam es zur Fusion zwischen DOMiT und dem Verein Migrationsmuseum in Deutschland. Beim neuen Verein DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V., handelt es sich nicht mehr um eine Selbstorganisation türkischer Migranten. In der Präambel der Vereinssatzung heißt es: »Der Verein ist ein offenes Forum für Personen mit und ohne Migrationshintergrund, gleich welcher Nationalität oder Staatsangehörigkeit. Die Zusammensetzung der

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Vereinsorgane […] soll die Vielfalt der Einwanderung nach Deutschland angemessen repräsentieren […].«1

S AMMLUNG

VON

M IGRATIONSGESCHICHTEN

Die Sammlungstätigkeit begann zunächst im privaten Umfeld der Vereinsmitglieder und DOMiT-Mitarbeiter. Die Kontakte entstanden meist über persönliche Beziehungen, wobei besonderer Wert darauf gelegt wurde, Vertrauen zu den Leihgeberinnen und Leihgebern aufzubauen. Diese wurden daher ausführlich über das Vorhaben und die Ziele des Vereins informiert. Und es wurde ihnen erklärt, dass jeder einzelne mit seinem ›bescheidenen‹ Beitrag viel zur Aufarbeitung der Migrationsgeschichte leisten könne. Die Entscheidung der Leihgeber, uns Materialien zu überlassen, ist meist sehr stark davon beeinflusst, dass DOMiD Migrationsgeschichte aus der Sicht von Migrantinnen und Migranten darstellt. Daran knüpft sich die Erwartung, dass der Verein keine klischeehaften Bilder von Migranten vermittelt. Die mit der Recherche betrauten Wissenschaftler stammen aus den beforschten Communities und sind mit deren Sprache und Kultur vertraut. Damit ist gewährleistet, dass die befragte Person bei den Interviews die Sprache verwenden kann, die ihr am vertrautesten ist. Im Unterschied dazu zögern Migrantinnen und Migranten oftmals, ihre persönlichen Photos, Dokumente und Erinnerungsstücke kommunalen oder staatlichen Archiven zu übergeben. Auch öffentliche Aufrufe zur Materialsammlung stoßen bei Migranten meist auf eine sehr geringe Resonanz. Ein Grund für diese Zurückhaltung liegt sicherlich darin, dass ›einfache Leute‹ ihr Leben oft nicht als interessant genug für Geschichtsinstitutionen betrachten. Doch auch die langjährige Weigerung, Deutschland als Einwanderungsland zu begreifen, und vielfältige Ausgrenzungserfahrungen tragen dazu bei. Verstärkt wird dies noch durch die häufig klischeehafte Repräsentation von Migranten in den Medien der Mehrheitsgesellschaft, die das Alltagsleben und das Selbstverständnis der Betroffenen nicht angemessen widerspiegeln. Die Sammeltätigkeit wird übrigens noch dadurch erschwert, dass viele Migranten ihre ersten Jahre in Deutschland nur als ein Provisorium oder Zwischenstadium betrachtet haben, weswegen viele interessante Quellen aus dieser Zeit von ihnen gar nicht aufbewahrt wurden.

1

Satzung von DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V., http://www.domid.org/pdf/DOMiD_Vereinssatzung.pdf

M IGRATIONSGESCHICHTE UND DIE NATIONALSTAATLICHE P ERSPEKTIVE | 35

In den letzten zwanzig Jahren wurde von DOMiD eine vielseitige Sammlung von sozial-, kultur- und alltagsgeschichtlichen Zeugnissen zur Geschichte der Einwanderung nach Deutschland zusammengetragen. Die thematischen Schwerpunkte der Sammlung bilden die Migration nach Deutschland, insbesondere die Arbeitsmigration seit 1955, die Ausländerpolitik, der gesellschaftliche Diskurs über Migration, Alltagskultur sowie die kulturelle Produktion der Migranten. Ursprünglich stand – entsprechend dem Vereinsziel – die Migration aus der Türkei im Zentrum des Interesses. Seit 2002, mit dem Beginn der Arbeit an der Ausstellung Projekt Migration, wurde die Sammlung systematisch um Zeugnisse der Migration aus weiteren Anwerbeländern der Bundesrepublik Deutschland und den DDR-Vertragsstaaten erweitert. So ist eine Sammlung zur Geschichte der Einwanderung aus Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Jugoslawien, Marokko, Tunesien, Südkorea, Vietnam, Mosambik und Angola entstanden. Eine Ausweitung auf weitere Migrationsformen und Herkunftsländer wird angestrebt, konnte aber aus finanziellen Gründen bislang nicht realisiert werden. Die Sammlung umfasst vielfältige Objektkategorien wie Photos, dreidimensionale Objekte, Dokumente, Bücher und graue Literatur, Zeitungen, Zeitschriften, Film- und Tondokumente sowie Plakate. Im Einzelnen handelt es sich dabei um: • unterschiedlichste Selbstzeugnisse wie Gedichte, Romane und Erzählungen, • •



• • •

Briefe, Interviews, persönliche Aufzeichnungen und Erinnerungsstücke, ein umfangreiches Bildarchiv zum Thema Migration mit Photos privater Leihgeber ebenso wie professioneller Photographen, Objekte aus der Zeit, als Arbeitsmigranten angeworben wurden, wie medizinische Geräte, Ausstattungsgegenstände und Dokumente der Anwerbestellen, Aufzeichnungen von Mitarbeitern der Anwerbestellen, Transportlisten, Mobiliar aus Arbeiterwohnheimen, typische Dokumente aus dem Anwerbeprozess, seit den 1960er Jahren für ›Gastarbeiter‹ produzierte Ratgeber, Informationsmaterialien, Broschüren, Bildwörterbücher, Lehrfilme in verschiedenen Sprachen, eine umfangreiche Sammlung an grauer Literatur zum öffentlichen Diskurs über die Einwanderung seit den 1950er Jahren, eine Sammlung von Schallplatten und Audiokassetten mit türkischer Musik, die in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland produziert wurden, Zeitungen und Zeitschriften von Migrantenorganisationen, überwiegend in den Herkunftssprachen,

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• Veröffentlichungen aus den Herkunftsländern mit Bezug auf die Auswande-

rung und 2

• schriftliche Materialien von Privatpersonen oder Vereinen.

All diese Materialien stellen eine wichtige Ergänzung zu den behördlichen Quellen dar, weil sie dem klassischen Verwaltungsschriftgut andere Perspektiven und Einblicke in die Lebenswelten von Migranten entgegensetzen. Seit Anfang 2003 werden die Bestände mit Hilfe der Datenbanksoftware FAUST erschlossen. Ein Teil der noch nicht in der Datenbank erfassten Bestände ist über die Aufstellungssystematik oder das alte Datenbanksystem recherchierbar. Wie vielerorts so gibt es auch bei uns mehr Arbeit, als wir mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln leisten können, so dass einige Bereiche der Sammlung mangels Erschließung nur eingeschränkt oder gar nicht zugänglich sind. Manches ist jedoch inzwischen recht bequem nutzbar: So liegen beispielsweise Photos, die häufig nachgefragt werden, zum größten Teil digitalisiert vor und können auch per Email an die Interessenten übermittelt werden. Da der Ausstellungsbereich für DOMiD eine zentrale Rolle spielt, werden auch Dokumente, Flugblätter, Bücher oder Zeitschriften digitalisiert und den Grundsätzen der Museumsdokumentation entsprechend bearbeitet.3 Zu den täglichen Aufgaben von DOMiD gehört auch die Betreuung und Beratung von Personen, die sich privat oder beruflich mit dem Thema Migration befassen. Studenten, Wissenschaftler, Journalisten, Künstler, Filmemacher und Theaterregisseure, aber auch Schüler- und Studentengruppen zählen zu den Nutzern des Archivs.4 Viele Materialien werden vor allem zu Forschungszwecken im wissenschaftlichen Bereich und für Ausstellungen und Publikationen nachgefragt. Dabei ist der Nutzerkreis nicht auf das Bundesgebiet beschränkt, in den letzten Jahren interessieren sich vermehrt Wissenschaftler aus anderen europäischen Ländern und aus den USA für unsere Sammlung.

2

Zum Archiv von DOMiD vgl. Nina Matuszewski: DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. Vortrag auf dem 77. Deutschen Archivtag in Mannheim, September 2007, http://www.domid.org/pdf/Vortrag_Nina_ Archivtag_Mannheim.pdf

3

Vgl. ebd.

4

Um ein Bespiel für die Nutzung des Archivs und die sich daraus ergebenden Resultate zu geben: Anna Kempers vielbeachteter Artikel Familie Türköz wird deutsch aus der Wochenzeitung Die Zeit vom 18. August 2011 geht auf eine Kontaktaufnahme mit dem DOMiD-Archiv zurück.

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Von besonderer Bedeutung für die Erweiterung der Bestände sind Ausstellungsprojekte, in deren Rahmen stets sehr breit gesammelt wird. Infolge der durch die Ausstellungen erreichten Öffentlichkeit kommen mittlerweile vermehrt auch Leihgeber aktiv auf uns zu und überlassen uns Materialien.

P ERSPEKTIVENWECHSEL DURCH AUSSTELLUNGEN Die Ergebnisse der Sammlungstätigkeit präsentierte DOMiD in mehreren Ausstellungen. Die erste, bahnbrechende Ausstellung war Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei, die 1998 in Zusammenarbeit mit dem Ruhrlandmuseum in Essen entstanden ist. Es war das erste Mal, dass ein Museum eine Ausstellung zur Einwanderungsgeschichte gemeinsam – in gleichberechtigter Partnerschaft – mit Einwanderern entwickelt hat. Die Besucherzahlen wiesen einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten aus allen drei Generationen auf, da sie offenbar gleichermaßen stolz auf die erste museale Würdigung ihrer Geschichte waren. Das Besondere dieser Ausstellung liegt darin, dass sie in zwei Sprachen realisiert wurde und zwei unterschiedliche Perspektiven wiedergab. Auch der Katalog ist zweisprachig.5 Die Zusammenarbeit zwischen Ruhrlandmuseum und DOMiT folgte dem Prinzip: gemeinsam mit uns Migranten im Gegensatz zum gewohnten für oder über uns.6 Die Ausstellung dokumentierte die Anwerbung von Arbeitsmigranten aus der Türkei vom Anwerbeabkommen 1961 bis zum Anwerbestopp 1973 und den Prozess der Niederlassung der ersten Generation bis Anfang der 1980er Jahre aus türkischer und aus deutscher Sicht. Dabei richtete sie den Blick insbesondere auf die Anfänge der Migration in die Bundesrepublik, wo heute mehr als zwei Millionen Menschen aus der Türkei leben und arbeiten. Anhand von originalen Einrichtungsgegenständen aus Arbeiterwohnheimen, Dokumenten der türkischen und deutschen Anwerbe-Behörden sowie persönlichen Erinnerungsstücken und Photographien von rund hundert überwiegend privaten Leihgebern veranschaulichte die Ausstellung die Lebens- und Arbeitswelten dieser Migranten.

5

Vgl. Mathilde Jamin/Aytaç Eryılmaz (Hg.): Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Yaban, Silan olur. Türkiye’den Almanya’ya Göçün Tarihi, Essen: Klartext 1998.

6

Vgl. Aytaç Eryılmaz: »Waldrappen auf der Suche nach Dinosaurier-Eiern«, in: Jamin/ Eryılmaz, Fremde Heimat (1998), S. 27-29, hier S. 29.

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Jenseits konventioneller Deutungsmuster ermöglichte es die Ausstellung, die Geschichten und Gefühle der Migranten besser kennen zu lernen. Während die ›deutschen‹ Besucher an einer ›fremden‹ Lebenswelt teilhaben und gleichzeitig die eigene in Vergessenheit geratene Geschichte wiederbeleben konnten, führte die Ausstellung Migranten aus der Türkei die eigenen Erfahrungen oder die ihrer Großeltern und Eltern lebendig vor Augen: Abschied und Trennung von der Heimat, Ankunft in der Fremde, Hoffnungen, erreichte Ziele, Enttäuschungen, Zerrissenheit zwischen Hierbleiben und Zurückwollen. 2001 folgte die Ausstellung 40 Jahre Fremde Heimat – Einwanderung aus der Türkei nach Köln.7 Anlässlich des 40. Jahrestages des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens vom Oktober 1961 zeigte DOMiT im historischen Rathaus der Stadt Köln eine Ausstellung zur Migration aus der Türkei nach Köln. Ab den 1960er Jahren wurde die Stadt zu einem Zentrum der Arbeitsmigration aus der Türkei, da insbesondere die Ford-Werke einen Anziehungspunkt darstellten. Die Weidengasse in der Innenstadt und die Keupstraße in Köln-Mülheim entwickelten sich mit ihren türkischen Läden, Teestuben, Reisebüros, Import-ExportGeschäften und Restaurants zu beliebten Wohngegenden für die ›Gastarbeiter‹. Die Kölner Stadtteile Ehrenfeld, Nippes, Chorweiler, Mülheim und Kalk haben heute einen ähnlich hohen türkischsprachigen Bevölkerungsanteil wie der Berliner Stadtteil Kreuzberg. Die Ausstellung erzählte die Geschichte der Einwanderung aus der Perspektive der sogenannten ›Gastarbeiter‹, ihrer Nachbarn, Freunde und Kollegen. Dabei richtete sie den Blick insbesondere auf die Anfänge der Migration, die Anwerbung von Arbeitern und Arbeiterinnen aus der Türkei, den Niederlassungsprozess der ersten Generation, das Leben in den Wohnheimen, die Arbeit in der Fabrik, die Freizeitgestaltung und das Zusammenleben mit den deutschen Nachbarn. Ziel der Ausstellung war es, mit manchen Mythen aufzuräumen, die sich ›Deutsche‹ von ›Türken‹ machten. Indem ungewöhnliche und überraschende Geschichten, die nicht den gängigen Klischees entsprachen, zur Darstellung gebracht wurden, wollte die Ausstellung zu einem besseren Verständnis zwischen der Mehrheitsgesellschaft und einer Minderheit, die die Bundesrepublik entscheidend mitgeprägt hat, beitragen. Darüber hinaus entstanden die Photoausstellungen So fing es an … und Geteilte Erinnerungen zur Geschichte der Arbeitsmigration in der BRD, die in den letzten Jahren in mehr als vierzig Städten gezeigt wurden.

7

Vgl. DOMiT (Hg.): 40 Jahre Fremde Heimat – Einwanderung aus der Türkei in Köln. 40 Yıl Almanya – Yaban, Sılan olur. Ausstellungskatalog, deutsch-türkisch, Köln: DOMiT 2001.

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Seit 2002 arbeitete der Verein DOMiT gemeinsam mit seinen Projektpartnern – dem Kölnischen Kunstverein, dem Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main und dem Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich – an dem von der Kulturstiftung des Bundes initiierten Projekt Migration. Dieses interdisziplinäre Projekt, das als mehrstufiger und mehrjähriger Prozess konzipiert war, umfasste eine Vielzahl von Forschungsprojekten, Kunstaktionen, Veranstaltungen und Filmprogrammen, die sich aus künstlerischer, wissenschaftlicher und sozialgeschichtlicher Perspektive mit den gesellschaftlichen Veränderungen befassten, die durch Migrationsbewegungen seit den 1950er Jahren ausgelöst worden waren. Die Aktivitäten gipfelten in einer interdisziplinären Ausstellung der Projektpartner, die für mehrere Monate in den Jahren 2005 und 2006 an vier zentralen Orten in Köln zu sehen war. Den aktuellen Anlass bot der 50. Jahrestag des deutsch-italienischen Anwerbevertrages am 20. Dezember 2005. Diese Ausstellung umfasste den Zeitraum der Einwanderung in Deutschland seit Mitte der 1950er Jahre bis zum Ausstellungsjahr 2005 und stellte die Geschichte und Gegenwart der Migration in Deutschland in ihrem internationalen Kontext dar. Es war das erklärte Ziel der Ausstellung, die gesellschaftsverändernden Wirkungen von Migration ins Zentrum zu rücken und damit aus der Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart heraus die Frage nach dem Zukunftspotential von Migrationsbewegungen zu stellen, nach »dem utopischen Moment, den Visionen, die Migration aufwirft. Dazu gehören Fragen einer neu verfassten europäischen Identität, einer postnationalen ›Staatsbürgerschaft‹ […] und generell die Frage nach einem neuen, kosmopolitischen Blick auf die sich um uns und mit uns bewegenden Verhältnisse.«8 Bei allen genannten Ausstellungen wurde nicht nur die Perspektive der Einwanderer dargelegt, sondern auch die ihrer ›deutschen‹ Kollegen, Nachbarn und Freunde, also die Sicht des Aufnahmelandes (in Entsprechung dazu bemühen wir uns, ein Migrationsarchiv aufzubauen und kein Migrantenarchiv). Diese Herangehensweise ist für die Arbeit von DOMiD wegweisend. Wir sprechen deshalb von »geteilten Erinnerungen«. 9 Dieser Denkansatz ermöglicht es uns, entspre-

8

Aytaç Eryılmaz/Marion von Osten/Martin Rapp/Katharina Rhomberg/Regina Römhild: »Vorwort«, in: Kölnischer Kunstverein et al. (Hg.), Projekt Migration, Köln: DuMont 2005, S. 18.

9

Vgl. Aytaç Eryılmaz/Martin Rapp: »Wer spricht? Geteilte Erinnerungen in der Migrationsgesellschaft«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch Kulturpolitik 2009. Thema: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Essen: Klartext 2009, S. 271-279.

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Abbildung 1: Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Yaban, Silan olur. Türkiye’den Almanya’ya Göçün Tarihi, Ruhrlandmuseum Essen 1998

Abbildung 2: Projekt Migration, Köln 2005

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Abbildung 3: Projekt Migration, Köln 2005

Abbildung 4: Geteilte Heimat – Paylaúılan Yurt, 50 Jahre Migration aus der Türkei, Landtag Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2011

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Abbildung 5: Geteilte Heimat – Paylaúılan Yurt, 50 Jahre Migration aus der Türkei, Rathaus zu Köln, 2011

Abbildung 6: Geteilte Heimat – Paylaúılan Yurt, 50 Jahre Migration aus der Türkei, Deutsches Historisches Museum, Berlin 2011

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chend dem doppelten Wortsinn des Begriffs »geteilt« die unterschiedlichen ebenso wie die gemeinsamen Erfahrungen in Bezug auf Migration aufzuzeigen. Geteilte Heimat. 50 Jahre Migration aus der Türkei10 war dementsprechend auch der Titel der zuletzt von DOMiD gestalteten Ausstellung, die anlässlich des 50. Jahrestages des deutsch-türkischen Anwerbeankommens im Jahr 2011 stattfand. Eigentlich handelt es sich dabei um drei parallel in Berlin, Düsseldorf und Köln gezeigte Ausstellungen. Ein zentrales Element in ihnen waren die DreiGenerationen-Porträts11 des Kölner Photographen Guenay Ulutuncok. Sie zeigen Großeltern, Eltern und Kinder an ihren Arbeits- und Bildungsstätten. Zusätzlich wurde aber noch eine Vielzahl von privaten Photos, Dokumenten und Gegenständen präsentiert, die individuelle Geschichten der Migration erzählen und einen Eindruck von der Vielfalt der Zuwanderung vermitteln. Thematisiert wurden so die Anwerbung, die Reise nach Deutschland, der Arbeitsalltag und die ersten Jahre im Wohnheim, die ersten Pläne, in Deutschland zu bleiben, der Kontakt zur alten Heimat, die Lebenswelt der zweiten und dritten Generation, die Situation ethnischer und religiöser Minderheiten wie auch politischer Flüchtlinge aus der Türkei. Zitate von Politikern und Journalisten aus den letzten dreißig Jahren sowie ein ›deutsch-türkischer Stammtisch‹ vermittelten einen Eindruck vom ambivalenten Verhältnis zwischen zugewanderter und angestammter Bevölkerung und eröffneten die Möglichkeit, über das oft konfliktbeladene Thema Migration ins Gespräch zu kommen.

M IGRATIONSGESCHICHTE VOR DEM H INTERGRUND DEMOGRAPHISCHER V ERÄNDERUNGEN Migration ist ein universalgeschichtliches Phänomen – kein historischer Störfall, sondern ein Normalfall. Allerdings wurde die Geschichte der Einwanderung bislang nicht als selbstverständlicher Teil der Geschichte anerkannt. Immer noch wird vielfach eine deutsche Nationalgeschichte geschrieben, ohne die Geschichte der Migration einzubeziehen. So gibt es nach wie vor enorme Lücken in der Geschichte Deutschlands. Ich verwende bewusst den Ausdruck ›Geschichte Deutschlands‹ und nicht ›deutsche Geschichte‹, da das Gesicht des Landes spätestens ab Mitte der 1950er Jahre auch von Migrantinnen und Migranten geprägt

10 Vgl. Aytaç Eryılmaz/Cordula Lissner (Hg.): Geteilte Heimat. 50 Jahre Migration aus der Türkei, Paylaúılan yurt, Essen: Klartext 2011. 11 Vgl. DOMiD (Hg.): 3-Generationen-Porträts. 50 Jahre Migration aus der Türkei, Köln: DOMiD 2011.

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worden ist. Auf Grund der niedrigen Geburtenrate wird der Anteil an Migranten in Deutschland – wie auf dem gesamten europäischen Kontinent – in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiter steigen. Die Migranten bilden in jedem Fall eine wichtige Gruppe in Deutschland, wenn man sich vor Augen hält, dass heute fast jeder fünfte Einwohner und inzwischen ein Drittel der unter Fünfjährigen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben.12 Doch Migranten können nur dann ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln, wenn die Mehrheitsgesellschaft die neue Realität tatsächlich anerkennt. Man kann im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr von einer ›Mononation‹ und ›Monokultur‹ sprechen. Deutschland und auch Europa müssen, um es mit den Worten Ulrich Becks auszudrücken, »aus dem Denkkäfig nationalstaatlicher Kategorien ausbrechen«13. 1945 wurden ca. 13 Millionen Deutsche aus den deutschen Ostgebieten vertrieben. Der Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetztes verpflichtet die Bundesregierung, diverse Einrichtungen wie Archive, Museen und Bibliotheken zu unterstützen, die sich um das Kulturgut und die Geschichte von Vertriebenen deutscher Herkunft kümmern. Das Kulturgut von Millionen Migrantinnen und Migranten blieb hingegen gesetzlich ungeschützt. Heute leben über 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland,14 deren Geschichte oft in Vergessenheit gerät. In der Vernachlässigung dieser Geschichte und der fehlenden Unterstützung seitens des Staatsministeriums für Kultur und Medien manifestiert sich eine Einstellung, die nicht dazu angetan ist, den Migranten Zugehörigkeitsgefühl und Anerkennung zu vermitteln. Außerdem ist noch nicht erkannt worden, wie dringlich es ist, Schritte zur Bewahrung von Migrationsgeschichte zu setzen. Denn wenn nicht rasch mit der Sicherung des historischen Erbes der Zuwanderer begonnen wird, könnten die privaten Sammlungen unwiederbringlich verloren gehen, da die meisten der sogenannten ›Gastarbeiter‹ bereits im Rentenalter sind. Diese Gefahr besteht auch für die Bestände diverser Vereine, Institutionen und Organisationen, die seit mehr als fünfzig Jahren von Migranten geführt werden.15

12 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland: Pressemitteilung Nr. 105 vom 11.03.2008. 13 Jens-Christian Rabe: »Macht das Licht wieder an! Kosmopolitisches Europa: Eine Diskussion im Residenztheater«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2006; vgl. Ulrich Beck/Edgar Grande: Kosmopolitisches Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 14 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland: Pressemitteilung Nr. 105 vom 11.03.2008. 15 Vgl. Aytaç Eryılmaz/Martin Rapp: »Auf dem Weg zu einem Migrationsmuseum: Ein Migrationsmuseum in Deutschland – Thesen und Entwürfe«, in: Dokumentation zur

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D IE NATIONALSTAATLICHE S ICHT M USEEN IN D EUTSCHLAND

DER

ARCHIVE

UND

Was ist die Aufgabe eines Museums? Zu sammeln, zu bewahren und auszustellen. Die Zielsetzung eines Geschichtsmuseums besteht zusätzlich darin, die gesellschaftlichen Veränderungen zu berücksichtigen und diese der Öffentlichkeit zu vermitteln. In Deutschland gibt es 2.500 Archive und etwa 6.500 Museen. Keine dieser Einrichtungen – mit Ausnahme von DOMiD – ist auf das Thema Migration spezialisiert. Zweifellos sind viele Quellen, die sich auf Migration beziehen, im Bundesarchiv sowie in einigen Landes- und Stadtarchiven überliefert. Diese Bestände beschränken sich jedoch auf das Behördenschriftgut. Sozialgeschichtliche Dokumente und Objekte, die unmittelbar mit der Migration in Zusammenhang stehen, wurden in diesen Institutionen bislang kaum gesammelt. Da die bestehenden nationalen Museen gewissermaßen der ›offiziellen Geschichtsauffassung‹ verpflichtet sind, können oder wollen sie diese wichtige Entwicklung der Gesellschaft nicht reflektieren. Und wenn Migrationsgeschichten Berücksichtigung finden, sind sie oftmals sehr einseitig – aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft – dargestellt. In den letzten Jahren konnte man bei Stadtmuseen und -archiven in Deutschland Versuche beobachten, die Migrationsgeschichte in ihre Dauerausstellungen aufzunehmen. DOMiD begrüßt diese Vorhaben, wünschenswert wäre jedoch die aktive Beteiligung der jeweiligen Migrantengruppen. Es stellt sich die Frage, wie kommunale Archive und Museen in Städten wie München, Stuttgart oder Frankfurt – dort haben ca. 30 bis 40 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund16 –, die die Einwanderungsgeschichte bis dato ignorieren konnten, jetzt in Eigenregie, ohne nennenswerte Mitwirkung von Migranten, die lückenhafte Geschichte ergänzen wollen. Um eine reichhaltige und multiperspektivische Überlieferung auf lokaler Ebene zu sichern, begrüßen wir Kooperationsprojekte zwischen Kommunalarchiven oder Stadtmuseen und Migrantenorganisationen. Doch auch in der Personalstruktur von Archiven und Museen müsste der hohe Anteil von Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund seinen Niederschlag finden. Wenn es ein gesellschaftspolitisches Anliegen wäre, diesen Teil der Gesellschaft in der

Fachtagung: Ein Migrationsmuseum in Deutschland. Thesen, Entwürfe und Erfahrungen, Köln 2003, S. 27-31, http://www.domid.org/pdf/Bericht Tagung 2003.pdf 16 Vgl. Ralf E. Ulrich: Bericht zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund, in: Netzwerk Migration in Europa e.V. (Hg.), Migration und Bevölkerung. Newsletter 5 (2007), S. 4-5, http://www.migration-info.de/mub_artikel.php?Id=070507

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historischen Überlieferung zu berücksichtigen, müssten gute Kontakte zu migrantischen Netzwerken als eine wesentliche Zusatzqualifikation bei der Stellenbesetzung gewertet werden.17 An dieser Stelle möchte ich eine konkrete Erfahrung, die DOMiT Anfang der 1990er Jahre gemacht hat, einbringen. Als bekannt wurde, dass DOMiT Materialien über die Einwanderung aus der Türkei sammelt, wandte sich ein Museum in Bonn mit dem Vorschlag an uns, DOMiT die Sammlung abzukaufen. An jeglicher Zusammenarbeit, Mitwirkung oder -gestaltung einer Ausstellung war das Haus leider nicht interessiert. So herrscht bei den meisten öffentlichen Einrichtungen – damals wie heute – der Gedanke vor, dass sich die Geschichte der Einwanderung auch ohne migrantische Beteiligung präsentieren ließe. Die Ausstellungsmacher nutzen Migranten zumeist als Materialquelle, zeigen die Geschichte der Migration jedoch nicht aus deren Perspektive. Das steht in Kontrast zu den Worten des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, der auf dem Deutschen Historikertag 2002 folgende Perspektive entwarf: »Eine Gemeinschaft, auch eine Gesellschaft – und mag sie in sich noch so differenziert sein – konstituiert sich durch gemeinsame Erzählungen, durch eine Geschichte. An dieser Stelle wird deutlich, dass mit Integration etwas viel Schwierigeres gemeint sein könnte, als nur das Erlernen der deutschen Sprache und der Besitz eines deutschen Passes. […] Was bedeutet Geschichte als Quelle für Identifikation und Identität in einer Gesellschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenleben? […] Wahrscheinlich werden sich die Hinzugekommenen auf ihre Weise die Geschichte zu eigen machen, und gemeinsam werden wir einst eine neue, gemeinsame Geschichte erzählen.« 18 Eine Entwicklung in die von Johannes Rau skizzierte Richtung wäre nicht nur ein integrationspolitischer Erfolg. Es ist auch eine demokratiepolitische Forderung, für die Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund auf der Ebene der kulturellen Repräsentanz endlich eine Gleichstellung zu erringen.

17 Vgl. N. Matuszewski: DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. 18 Johannes Rau: Rede zum Historikertag 2002, gehalten in Halle am 10. September 2002, vgl. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Re den/2002/09/20020910_Rede2.html

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B RAUCHT D EUTSCHLAND

EIN

M IGRATIONSMUSEUM ?

Trotz reicher Migrationserfahrungen und vielfältiger Ausstellungsprojekte in den letzten Jahren fehlt in Deutschland bis heute eine angemessene öffentliche Darstellung, eine ›Bühne‹, um die Geschichte der Einwanderung in Deutschland zu erzählen. Dabei könnte ein Migrationsmuseum als Zentrum für Geschichte, Kunst und Kultur der Migration einen Schlüssel zu einer umfassenderen Gesellschaftsgeschichte bieten – jenseits von nationaler Zugehörigkeit und ethnischer Zuschreibung. Eine solche Institution könnte dazu beitragen, das historische Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft sichtbar und erfahrbar zu machen. Denn in der Vision eines Migrationsmuseums liegt nicht nur die kulturpolitische Forderung, die Lebensleistung der Einwanderer, sondern vor allem auch die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Migration anzuerkennen. Damit hätte ein Migrationsmuseum unseres Erachtens eine mehrfache Funktion. Es sollte den Einwanderern Raum für die kulturelle Bearbeitung ihrer eigenen Erinnerung bieten und damit das gegenseitige Verständnis zwischen den Generationen fördern: »Die eigene Vergangenheit und ihre Zeugnisse werden erst dann aufhören, ein Stück Privatleben zu sein, wenn sie erzählt beziehungsweise gesammelt werden. In diesem Zusammenhang ist z.B. ein Koffer aus den 60er Jahren oder das Bahnticket der ersten Reise von Istanbul nach München ungemein wertvoll. Wenn sie in einem Museum ausgestellt werden, verwandeln sie sich in kollektive Gegenstände. Die kollektive Erinnerung der Vergangenheit kann 30 Jahre Einsamkeit der Migranten beenden; sie kann die Schwere der historisch bedingten Geschichtslosigkeit erleichtern […].«19 Zugleich geht es jedoch auch um eine ›Übersetzungsleistung‹, das heißt um die Vermittlung von Informationen und Anschauungsmaterial für die Mehrheitsgesellschaft. Auf diese Weise mag es Besuchern ›deutscher‹ Herkunft gelingen, ihre Erfahrungen mit der Arbeitsmigration und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen zu bearbeiten. Und letztlich steht auch die Sicherung des historischen Gedächtnisses der Einwanderungsgesellschaft in ihrer Gesamtheit auf dem Spiel.20 Die Chance eines zukünftigen Migrationsmuseums liegt darin, der Hybridität kultureller Lebensentwürfe und transnationaler Lebensweisen Raum zu verschaffen. Denn in einer Einwanderungsgesellschaft basieren Identitäten mehr auf He-

19 Sargut ùölçün: »30 Jahre gelobtes Land. Zur türkischen Migration in die Bundesrepublik Deutschland«, in: Die Brücke 73 (1992) 4, S. 40-43, hier S. 43. 20 Vgl. A. Eryılmaz/M. Rapp: »Auf dem Weg zu einem Migrationsmuseum: Ein Migrationsmuseum in Deutschland – Thesen und Entwürfe«.

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terogenität, Grenzüberschreitung und interkulturellem Austausch. Die oftmals im Verborgenen schlummernden Familiengeschichten werden im Museumskontext aus dem sozialen Kontext in die öffentliche Diskussion und in den kulturpolitischen und akademischen Diskurs überführt. Denn solange die Einwanderer für die Geschichte – und für die Gegenwart – ›Fremde‹ bleiben, bleibt ihnen die Geschichte ›fremd‹. Wenn man dagegen die migrantische Lebenswelt beziehungsweise Migrationsprozesse in ein komplexer werdendes Geschichtsbild integriert, verjüngt sich Geschichte gleichsam; Zugehörigkeit wird gestiftet, wodurch gesellschaftliche Partizipation und Initiative gefördert werden.21 Es geht also nicht nur um einen Ort, an dem die Einwanderer und ihre Kinder sich ihre Geschichte vergegenwärtigen können; es geht darum, einen Ort zu schaffen, an dem Deutschland sich als Einwanderungsland entdecken und verstehen lernen kann. »Ein Migrationsmuseum ist kein ritueller Ort kultureller Erinnerung, vielmehr dekonstruiert es historische Selbstvergewisserungen, die überwiegend national orientiert sind. Es macht damit gesellschaftliche Veränderungsprozesse sichtbar und weist zugleich über das Bestehende hinaus.«22 Wie Heribert Prantl es andeutet, muss in Deutschland nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung eine zweite deutsche Einheit stattfinden: »die Vereinigung von Bürgern deutscher und ausländischer Herkunft ohne Abwertung der Neubürger, die sich in Ausdrücken wie ›Papierdeutsche‹ zeigt.«23 Solange diese Vereinigung nicht stattfindet, bleibt die Geschichte Deutschlands unvollständig. Ein Migrationsmuseum kann als ein Medium unter vielen bei der Vervollständigung des Geschichtsbewusstseins wertvolle Dienste leisten. Auch wenn die Diskussion um ein eigenes Migrationsmuseum in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund getreten ist, bleibt es weiterhin ein Anliegen von DOMiD, in Kooperation mit anderen Museumsfachleuten und Wissenschaftlern über die Realisierung eines solchen Museums nachzudenken.

21 Vgl. Aytaç Eryılmaz: Migration, Geschichtsschreibung, Erinnerungskultur und Migrationsmuseum, Vortrag am Symposium »Migration und kulturelle Identitäten«, Madrid, 26./27. April 2007, http://www.domid.org/pdf/Vortrag%20Aytac%20Eryilmaz %20Symposium%20Madrid%202007.pdf 22 Aytaç Eryılmaz/Martin Rapp: »Geteilte Erinnerungen«, in: Kölnischer Kunstverein et al., Projekt Migration (2005), S. 578-585, hier S. 584f. 23 Heribert Prantl: »Almanya, das neue Deutschland. Wie die Türken das Wirtschaftswunder mitgestaltet haben«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22./23.10.2011.

»Meine Stadt – meine Geschichte« Ein Werkstattbericht zur Sammlung städtischer Migrationsgeschichte A NJA D AUSCHEK

Arno Widmann schreibt in seiner Rezension der Ausstellung Merhaba Stuttgart – oder die Geschichte vom Simit und der Brezel, die anlässlich des 50. Jahrestages des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei im LindenMuseum Stuttgart1 stattfand: »Es ist eine kleine Ausstellung. Es gibt keine großen Kunstwerke darin. Sie erzählt Geschichten, wie wir sie in unserer Nachbarschaft hören könnten, wenn wir die Ohren aufsperrten. Wir sehen Gegenstände, die wir schon oft gesehen haben. Hier gleitet unser Blick nicht über sie hinweg. Man hat sie hingelegt, damit wir uns mit ihnen beschäftigen, damit wir aufhören, sie zu übersehen, und endlich beginnen, sie zu lesen.«2

Widmanns zentrale Beobachtung weist darauf hin, dass Objekte, die Migrationsgeschichten erzählen, oft unscheinbare Alltagsobjekte sind, die erst durch die damit verbundenen persönlichen Geschichten Tiefe und Bedeutung erhalten. Sie sind meist klein und haben oft keine ›Hingucker‹-Qualitäten. Dennoch dürfen wir sie nicht übersehen, andernfalls bleiben wichtige Kapitel der Stadt- und Regionalgeschichte Leerstellen in den Museen.

1

Merhaba Stuttgart im Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde 5. Juni bis 18. Dezember 2011. Ein Kooperationsprojekt des Linden-Museums Stuttgart mit dem Stadtmuseum Stuttgart und dem Deutsch-Türkischen Forum Stuttgart.

2

Arno Widmann: »Der andere weite Weg nach Westen«, in: Frankfurter Rundschau, Sonderbeilage Museen vom 18./19.06.2011, S. 16-17, hier S. 16.

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Trotz großer Modernisierungsleistungen im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt unter dem von Hilmar Hoffmann formulierten Ziel »Kultur für alle«3, bilden viele Museen noch nicht die seit Jahrzehnten existierende gesellschaftliche Vielfalt ab – weder in ihren Ausstellungen und ihrem Publikumsprofil noch in den Sammlungen. Obwohl die Museen in den 1980er Jahren die Sozial- und Alltagsgeschichte entdeckten, war die Geschichte der Migration und die Geschichten der Migranten nicht Teil der »Musealisierung des Popularen«.4 Dies kann unter anderem damit erklärt werden, dass die Sammlungen historischer Museen zumeist auf die nationale Geschichte und die nationale Idee des 19. Jahrhunderts bezogen sind – eine Tatsache, die angesichts der Genese von Museumssammlungen nicht verwunderlich ist. Die gesellschaftlichen Veränderungen der Industrialisierung lösten Ende des 19. Jahrhunderts einen ersten Museumsboom aus. Museen entstanden als Orte der Bewahrung und der Identitätsstiftung5 des Bildungsbürgertums. Die Museen waren Rettung vor und Notwehr gegen die Moderne und hatten dabei die Nation als klaren Bezugspunkt.6 Diese Einstellung hat sich auch im 20. Jahrhundert nicht grundlegend verändert – trotz des Postulats der »Kultur für alle«. Hans-Joachim Klein hat Museen nicht zu Unrecht – wenn auch nicht auf das Thema Migrationsgeschichte bezogen – »Züge eines ›autopoetischen Systems‹«7 attestiert. Besonders offensichtlich wird dies in Stadtmuseen als einer speziellen Form von Geschichtsmuseen. Obwohl Städte schon immer durch Zuwanderung geprägt waren – ob durch Binnenmigration vom Land im ausgehenden 19. Jahr-

3 4

Hilmar Hoffmann: Kultur für alle, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1979. Gottfried Korff: »Die Popularisierung des Musealen und die Musealisierung des Popularen«, in: Gottfried Fliedl (Hg.), Museum als soziales Gedächtnis? (= Klagenfurter Beiträge zur bildungswissenschaftlichen Forschung, Band 19), Klagenfurt: Kärntner Druck- u. Verlagsgesellschaft 1988, S. 9-23.

5

Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, London: Institute of Germanic Studies, University of London 1982, S. 7.

6

Odo Marquard: »Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur«, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800 (= Berliner Schriften zur Museumskunde, Band 10), Opladen: Leske u. Budrich 1994, S. 909-920, hier S. 917.

7

Hans-Joachim Klein: »Zur Einführung«, in: Hans-Joachim Klein (Hg.), Vom Präsentieren zum Vermitteln (= Karlsruher Schriften zur Besucherforschung, Band 5), Karlsruhe: Institut für Soziologie, Interfakultatives Institut für Angewandte Kulturwissenschaft 1994, S. 11-22, hier S. 11.

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hundert oder durch die Anwerbung von ›Gastarbeitern‹ nach 1955 – wird das Thema Migrationsgeschichte meist nur am Rande gestreift oder, wenn überhaupt, in Sonderausstellungen behandelt. Zwar stellte Gottfried Korff bereits 2005 fest »… [das] Ortsmuseum [kann] so dazu beitragen, die Gesellschaft als Gesellschaft im Wandel, in Bewegung, in ständiger Transformation zu explizieren, als Gesellschaft, die durch Kulturen im Plural und so durch dauernde Fremdheitserfahrungen, durch dauernde Kontakt- und Kontrasterfahrungen gekennzeichnet ist.«8 Diese Programmatik setzten jedoch nur wenige Museen in ständigen Ausstellungen um. Erwähnenswerte Ausnahmen sind das Historische Museum Frankfurt, das ab 2004 die Dauerausstellung Von Fremden zu Frankfurtern – Zuwanderung und Zusammenleben präsentierte9, und die semipermanente Ausstellung … ein jeder nach seiner Façon. 300 Jahre Zuwanderung nach Friedrichshain-Kreuzberg (April 2005 bis Oktober 2010) des Bezirksmuseums Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin. Eine in die Stadtgeschichte integrierte Geschichte der Migration erzählen nur sehr wenige Stadtmuseen – das Museum Neukölln ist dafür ein Beispiel. Viele Stadtmuseen weisen in ihren Sammlungen im Hinblick auf die Migrationsgeschichte jedoch meist eine Leerstelle auf und sind für die Aufgabe, die Geschichte der Einwanderungsgesellschaft zu dokumentieren, zu überliefern und auszustellen, nur ungenügend gerüstet. Rainer Ohliger und Jan Motte konstatierten zu Recht, dass es im Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft an geteilten Erinnerungen fehlt.10 Das Sammlungsprojekt DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. leistet hier seit 1990 wichtige Arbeit, konnte allerdings das Ziel eines Museums bislang nicht realisieren.11 Aber: die Diskussion um das Thema Migration im Museum ist in Deutschland mit einem Memorandum des Deutschen Museumsbundes 2010 und der Gründung eines Arbeitskreises auf nationaler Verbandsebene angekommen und auch die Jahrestagung des Deutschen

8

Gottfried Korff: »Fragen zur Migrationsmusealisierung«, in: Henrike Hampe (Hg.), Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis, Münster: Lit Verlag 2005, S. 5-16, hier S. 13.

9

Das Historische Museum Frankfurt wird komplett neu konzipiert und umgebaut, so dass alle Ausstellungen 2011 geschlossen wurden.

10 Jan Motte/Rainer Ohliger: »Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Einführende Betrachtungen«, in: Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.), Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft, Essen: Klartext 2004, S. 7-16, hier S. 13. 11 Vgl. http://www.domid.org

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Museumsbundes hat 2012 die Einwanderungsgesellschaft in den Blick genommen.12 In Stadtmuseen wuchs und wächst die Erkenntnis, dass es Handlungsbedarf in vielfacher Hinsicht gibt. Die Zeit drängt, denn die materiellen und auch die immateriellen Zeugnisse der Migration verschwinden, werden sie nicht – wie auch andere Objekte der Alltagskultur – zeitnah gesammelt. Für die erste Generation der ›Gastarbeiter‹ werden die Geschichten und Dinge in Kürze verloren gehen – schon heute sind viele Rentner der ersten Generation in ihr Herkunftsland zurückgekehrt oder haben die Dokumente ihres (Arbeits-)Lebens entsorgt. Angeregt durch die Berliner Tagung »Migration in Museums: Narratives of Diversity in Europe«, die vom 23. bis zum 25. Oktober 2008 vom Netzwerk Migration in Europa e.V. in verschiedenen Berliner Museen organisiert wurde,13 entstand ein Arbeitsverbund von Stadt- und Regionalmuseen, der sich seit Mitte 2009 zu regelmäßigen Arbeitstagungen zum Thema Migrationsgeschichte trifft.14 Aus den Diskussionen dieses Arbeitsverbundes entstand die Idee, im Internet ein virtuelles Museumsdepot zur Migrationsgeschichte der Städte anzulegen. Die Webseite sollte einen zentralen Ort schaffen, wo lokal und regional gesammelte Objekte und die damit verbundenen Lebensgeschichten sichtbar werden. In der Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen stellte sich heraus, dass viele Häuser bereits im Rahmen von Sonderausstellungsprojekten zur jüngeren Migrationsgeschichte, insbesondere zur Arbeitsmigration seit den 1950er Jahren gesammelt hatten. Zudem wurde deutlich, dass auch zu früheren Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert durchaus Objekte vorhanden sind, die aber bei der Inventarisierung bislang noch nicht unter dem Aspekt Migration betrachtet wurden.

12 Vgl. http://www.museumsbund.de/de/fachgruppen_arbeitskreise/migration_ak/ 13 Vgl. http://migrants-moving-history.org 14 Zur ersten Arbeitstagung »Stadt – Migration – Museum« luden das LWL-Industriemuseum Westfalen-Lippe, das Netzwerk Migration in Europa e.V. und das Stadtmuseum Stuttgart im Juni 2009 nach Dortmund ein. Die Folgetagung »Stadtmuseen in der Einwanderungsgesellschaft: Sammlungsstrategien konzipieren und umsetzen« fand im April 2010 auf Einladung des Stadtmuseums Stuttgart in Stuttgart statt. Mitorganisatoren waren das LWL-Industriemuseum und das Netzwerk Migration in Europa e.V. Das dritte Treffen wurde vom Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg unter dem Titel »Stadt – Museum – Migration: Migrationsgeschichte sammeln und ausstellen« vom 27. Februar bis 1. März 2011 in Berlin ausgerichtet.

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WWW . MIGRATIONSGESCHICHTE . DE – W EBSEITE UND S AMMLUNGSPROJEKTE

Das Ziel der Webseite, die im September 2011 online gegangen ist, ist es, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Migrationsgeschichte zu wecken und eine städteübergreifende Sammlungsstrategie zu entwickeln und umzusetzen. Im Mittelpunkt der Webseite steht eine Objektsammlung zur Migration, in der fast jedes Objekt mit einer persönlichen Geschichte verbunden ist. Es bestehen Gliederungsmöglichkeiten nach acht Epochen und neun Themen, per Volltextsuche ist eine Suche nach Ländern, Orten oder Schlagworten vorgesehen. Die acht Epochen – Mittelalter, Frühe Neuzeit, das »lange« 19. Jahrhundert, Erster Weltkrieg, Zwischenkriegszeit, Zweiter Weltkrieg und die Zeitgeschichte von 1945-1989 und ab 1989/90 – markieren nicht nur die wesentlichen historischen Abschnitte, sie erzählen auch jeweils andere Migrationsgeschichten: Land-Stadt-Migrationen in die mittelalterlichen Städte; die Flucht aus religiösen und politischen Gründen und die transatlantische oder binneneuropäische Arbeits- und Siedlungsmigration der frühen Neuzeit; die Massenmigrationen des ›langen‹ 19. Jahrhunderts; Deportationen, Umsiedlungen und Mobilmachung während des Ersten Weltkriegs; Auswanderung, Vertreibung und Exil verfolgter Minderheiten insbesondere der Juden unter dem NS-Regime in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs; Flucht und Vertreibung Deutscher und deutscher Minderheiten als Folge des Krieges und Arbeitsmigration in der Nachkriegszeit; Aussiedlung, Asyl und Arbeitsmigration nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90. Die Sammlung aus der Zeit nach 1945 ist – wenig überraschend – bisher die umfangreichste. Die neun Themen, die die Sammlung strukturieren, basieren auf dem Index SHIC – Social History and Industrial Classification, der vom Hamburger Museum für Arbeit übersetzt und aktualisiert wurde.15 Die Themen sind »Kultur, Sprache, Religion und Tradition«, »Politik und Verwaltung«, »Organisationen, Gemeinschaften und Vereine«, »Bildung«, »Arbeit«, »Freizeit«, »Individuum, Familie, Generation«, »Wohnen« und »Konsum«. Ein sozialhistorischer Ansatzpunkt erschien für den Aufbau einer Sammlung zur Migrationsgeschichte am

15 Museum der Arbeit (Hg.): Social History and Industrial Classification – SHIC. Sozialgeschichtliche und industrielle Klassifikation. Eine thematische Klassifikation für Museumssammlungen. Band 1: Die Klassifikation. Veröffentlicht für die »SHIC Working Party« vom Centre for English Cultural Tradition and Language, University of Sheffield, 1983. Zweite, übersetzte und bearbeitete Auflage einschließlich der Revision 2.1 vom Juni 1996, Hamburg: Museum der Arbeit 1999.

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besten geeignet. Da eine Online-Präsentation von Objekten anderen Voraussetzungen folgt als eine EDV-gestützte Inventarisierung wurden einzelne Kategorien zusammengefasst. Zudem stehen die beschreibenden Texte im Vordergrund. Durch eine Kooperation mit museum-digital16 wird es Museen einfach gemacht, ihre Bestände zur Migrationsgeschichte ins Netz zu stellen.17 Um die Seite kontinuierlich mit Objekten zu füllen, können sich interessierte Museen als Redakteure freischalten lassen und ihre Objekte dann über die Eingabemaske von museum-digital eingeben. Aber auch Privatpersonen können ihre persönlichen Objekte zeigen – sie müssen sich lediglich mit Informationen zu ihrem Objekt an den Webmaster der Seite wenden. Diese Möglichkeit ist für viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wichtig, denn sie wollen die Dinge, die ihre – oft auch schmerzliche, wenn nicht gar traumatische – Migrationserfahrung erzählen (noch) nicht an ein Museum geben, sondern in Privatbesitz behalten. Ergänzt wird die Objektsammlung durch Lernmaterialien zum Thema für Lehrer und Schüler sowie durch Ausstellungsbeschreibungen und -hinweise. Ein wesentlicher Aspekt bei der Erstellung der Webseite war die Erprobung verschiedener Sammlungsstrategien im Vorfeld. Das Pilotprojekt fand in Stuttgart statt, wo das in Planung befindliche Stadtmuseum unter dem Slogan »Meine Stadt – meine Geschichte« 2010 und 2011 verschiedene Sammlungsaktionen durchführte. Der Titel »Meine Stadt – meine Geschichte« zielte dabei bewusst nicht allein auf Bürger mit Migrationshintergrund, sondern wandte sich an alle Interessierten und versuchte die Dichotomie von »Wir« und »Sie«, zu vermeiden. Die Entwicklung der Webseite und die damit verbundenen Sammlungsaktionen in Stuttgart wurden durch die finanzielle Förderung der Robert Bosch Stiftung möglich. Die verschiedenen Sammlungsstrategien stehen im Fokus des folgenden Werkstattberichtes.

2. M IGRATIONSGESCHICHTE S TUTTGART

IM

S TADTMUSEUM

Das Stadtmuseum Stuttgart ist seit 2007 in Planung, die Eröffnung ist derzeit für 2016 vorgesehen. Die neue Institution hat es sich zum Ziel gesetzt, die Migrationsgeschichte der Stadt als einen integrierten Teil der Stadtgeschichte zu erzählen. Stuttgart wurde – ebenso wie andere Städte – schon früh durch Aus- und

16 Vgl. http://www.museum-digital.de 17 Ein herzlicher Dank geht hier an Stefan Rohde-Enslin in Berlin, der museum-digital betreibt.

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Einwanderung geprägt, besonders jedoch durch die Einwanderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als neu zu gründendes Stadtmuseum besteht hier die Chance, gerade die jüngere Stadtgeschichte mit einem ständigen Blick auf die Migration zu erzählen. Denn auch das zukünftige Stuttgarter Publikum hat schon heute zu 40 Prozent einen sogenannten Migrationshintergrund. Eine zentrale Zielgruppe des Museums sind Kinder und Jugendliche, die bereits mehrheitlich in Elternhäusern mit Zuwanderungsgeschichte aufwachsen. Gerade für sie ist es wichtig, dass das Museum die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern als Teil der Stadtgeschichte erzählt. Seit Beginn der Museumsplanung wurden verschiedene Wege erprobt, die Migrationsgeschichte der Stadt zu sammeln und zu dokumentieren. Ziel war und ist es, eine stadthistorische Sammlung aufzubauen und Geschichte(n) zu erzählen, die aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund bedeutsam sind. Partizipation war und ist deshalb geboten. Sammlungsaktionen zur jüngeren Migrationsgeschichte fanden in Zusammenarbeit mit Migrantenkulturvereinen statt, in der Stadtverwaltung selbst, für und während Sonderausstellungsprojekten, im Rahmen von Schulprojekten, in Sprach- und Orientierungskursen sowie mit einem »Sammelstand« in öffentlichen Einrichtungen, bei Stadtfesten und in Firmen. Die in Stuttgart gemachten Erfahrungen – die positiven, aber auch negativen – werden in Form eines Werkstattberichts zusammengefasst und nach Möglichkeit durch die Erfahrungen anderer Stadtmuseen ergänzt. Eingeschränkt waren die Aktivitäten in Stuttgart dadurch, dass die Stadt bisher noch kein Stadtmuseum hatte und daher die Museumsaktivitäten in Ermangelung einer Schausammlung entsprechend erklärungsintensiv waren.

3. S AMMLUNGSSTRATEGIEN 3.1 Sammeln in der eigenen Sammlung Eine wichtige Sammlungsstrategie kann am Beispiel des Stadtmuseums Stuttgart nicht vertiefend vorgestellt werden, dennoch ist sie grundlegend: die Sichtung und Neubewertung der vorhandenen Sammlung unter dem Aspekt der Migrationsgeschichte. Wie interessant und ertragreich dieses Unterfangen sein kann, zeigte die Laborausstellung Neuzugänge – Migrationsgeschichten in Berliner Sammlungen, die im Frühjahr 2011 im Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg zu sehen war. Beteiligt waren neben dem Bezirksmuseum das Stadtmuseum Berlin, das Museum für Islamische Kunst in Berlin, das Werkbundarchiv – Museum der Dinge und das Forschungsprojekt »Experimentierfeld Museologie« an

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der Technischen Universität Berlin. Die Museen zeigten Migrationsobjekte aus ihren Beständen und ergänzten sie um aktuell Gesammeltes. Objekte aus den Beständen wie eine Grundstein-Zeitkapsel von den Hugenotten und ein böhmischer Bierkrug erzählten von frühen Migrationen nach Berlin.18 Auch in der kleinen Sammlung des Stadtmuseums Stuttgart fanden sich schnell Objekte, die noch nicht mit Blick auf ihre Migrationsgeschichte betrachtet worden waren. So zum Beispiel eine Zigarettendose aus dem Besitz von Fritz Wertheimer, der bis 1933 Generalsekretär des Deutschen Auslandsinstituts in Stuttgart war. Die Glasdose mit graviertem Silberdeckel war ihm von seinen Vorstandskollegen 1927 zum 10jährigen Bestehen des Instituts geschenkt worden. In den Besitz des Stadtmuseums kam die Dose über seinen Sohn, der in Brasilien lebte. Dorthin war Wertheimer emigriert, nachdem die Nationalsozialisten ihn auf Grund seiner jüdischen Abstammung 1933 des Amtes enthoben hatten. An dieser Dose gibt es zwei Anknüpfungspunkte für zentrale deutsche Migrationsgeschichten: die erzwungene jüdische Emigration der Zwischenkriegszeit und – in Bezug auf Wertheimers Position als Generalsekretär des Deutschen Auslandsinstituts – die Geschichte der »Auslandsdeutschen«. Das Sammeln in der eigenen Sammlung oder die Überprüfung der Sammlung auf migrationshistorisch aussagekräftige Objekte ist eine lohnende, wenn auch aufwändige Arbeit. Es macht jedenfalls Sinn, das Stichwort Migration in die (EDV-gestützte) Inventarisierung aufzunehmen und neu zu inventarisierende Objekte nach migrationshistorischen Perspektiven zu befragen. 3.2 Migrantenkulturvereine als Quelle In Stuttgart haben sich über 250 Migrantenkulturvereine etabliert, die im Forum der Kulturen eine Dachorganisation haben.19 Über das Forum der Kulturen, den Vorstand und die Zeitschrift Interkultur wurden die Vereine bereits 2008 auf die Aktivitäten des Stadtmuseums aufmerksam gemacht und zur Mitarbeit eingeladen. Die Reaktionen waren zunächst durchaus gemischt und reichten von Begeisterung über Interesse bis hin zu freundlicher, aber deutlicher Skepsis. Das zu gründende Stadtmuseum wurde als städtisches Amt gesehen und damit als Teil einer Behördenstruktur, mit der nicht nur positive Erfahrungen verbunden waren. Eine Vertrauensbasis zu schaffen und die Ernsthaftigkeit und Langfristigkeit des

18 Vgl. http://www.kreuzbergmuseum.de/index.php?id=230 und http://www.lwl.org/LWL/ Kutur/wim/portal/S/hannover/ort/migration/exponat/ausstellungen/sonderausstellungen /2011/NeuZugaenge 19 Vgl. http://www.forum-der-kulturen.de

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Museumsprojektes zu vermitteln, war grundlegend für die Zusammenarbeit. Ein weiteres Projekt ohne dauerhafte Perspektive hätte weder Zustimmung noch Unterstützung gefunden. In Kooperation mit dem Stuttgarter Stadtarchiv wurde eine Studie zur Geschichte der Migrantenkulturvereine beauftragt, die mehrere Ziele verfolgte. Zum Ersten sollte die Geschichte der wichtigsten Vereine dargelegt werden, zum Zweiten sollten lebensgeschichtliche Interviews mit den Vorständen und anderen wichtigen Protagonisten geführt werden, zum Dritten sollte nach möglichen Objekten für die Museumssammlung recherchiert werden und zum Vierten wurden die Vereine ermuntert, ihre Vereinsarchive dem Stadtarchiv zu übergeben.20 Gemeinsam ist den Vereinen, so ein Ergebnis der Studie, ihre Rolle als kulturelle ›Broker‹. Sie und ihre Mitglieder fungieren als Bindeglieder zwischen den Kulturen der Herkunfts- und der Ankunftsgesellschaft, wobei sie sich mehrheitlich eindeutig auf die Ankunftsgesellschaft beziehen. Sie sind interund transkulturelle Akteure und verstehen sich unabhängig von ihrer Gründungsgeschichte heute als Vorreiter in Sachen Integration. Die zeit- und betreuungsintensive Arbeit mit den Vereinen schuf eine langfristige und stabile Vertrauensbasis, die auch anderen Projekten des Stadtmuseums zu Gute kam. Grundsätzlich waren die Vereine daran interessiert, ihre Bestände ins Archiv oder Museum zu geben. Die notwendige Zeit, Kontakte aufzubauen, zu vertiefen und zu pflegen, darf dabei nicht unterschätzt werden. Die Vereinsvorstände arbeiten ehrenamtlich und Termine fanden daher meist am Abend statt. Die Grundlagen der Museums- und Archivarbeit mussten erklärt werden und ein Besuch der Institutionen – der Depots und Magazine – sowie die Präsentation eines Findbuchs waren dabei wesentliche und hilfreiche Maßnahmen. Zu beachten ist bei der Arbeit mit Migrantenkulturvereinen, dass die Ansprechpartner in den Vereinen größtenteils in der Öffentlichkeit bekannte Repräsentanten sind und die Perspektive der Vereine auf Grund ihrer Statuten meist national geprägt ist. 3.3 Jenseits des Archivs: Sammeln in der Stadtverwaltung Stadt- und Landesarchive sind im Prinzip eine wesentliche Quelle für das Thema Migrationsgeschichte, doch die Quellenlage ist zumindest im Hinblick auf die Stadt Stuttgart und die Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert nicht befriedigend. Zwar finden sich für die Zeit ab 1955 Protokolle zu politischen Entwicklungen – wie die Gründung des Ausländerbeirats oder des Internationalen Ausschusses –,

20 Caroline Gritschke: Sammlung und Erforschung städtischer Erinnerungskulturen am Beispiel der Stuttgarter Migrantenkulturvereine. Unveröffentlichtes Manuskript im Auftrag des Stadtmuseums Stuttgart und des Stadtarchivs Stuttgart, Stuttgart 2010.

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Berichte, Statistiken sowie einzelne Dokumente, die von Alltagsproblemen berichten – wie zum Beispiel mehrsprachige Patientenfibeln aus den städtischen Krankenhäusern, die ausländischen Patienten und dem Krankenhauspersonal einfache Übersetzungshilfen boten, oder Badeverordnungen in verschiedenen Sprachen. Es fehlen jedoch persönliche Dokumente oder Vereinsarchive. Auch in Firmenarchiven – und dies gilt selbst für Global Player mit Sitz in Stuttgart wie Daimler oder Bosch – gibt es erstaunlicherweise nur wenige Dokumente oder Abbildungen, die die Veränderungen der Unternehmen durch die Arbeitsmigration belegen.

Abbildung 1: Trikot der Asylanten-Fußballmannschaft »Container Plieningen«, Stuttgart-Plieningen, um 1990

Abgesehen vom Stadtarchiv ergab sich in Stuttgart 2007 mit der Auflösung des Büros der kommunalen Flüchtlingsbeauftragten im Sozialamt eine weitere Sammlungsoption. Neben der behördlichen Überlieferung fanden sich hier wie in anderen Dienststellen des Sozialamtes auch eine Reihe dreidimensionaler Objekte. Dies waren zum Beispiel Photoalben, die von Flüchtlingen und Sozialarbeitern gemeinsam angelegt worden waren, Protestbanner gegen Ausweisungen,

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Einrichtungsgegenstände der Wohncontainer, in denen die Flüchtlinge untergebracht waren, oder auch die T-Shirts der von Asylanten gegründeten Fußballmannschaften. Der Mannschaftsname »Container Plieningen« eines Fußballclubs aus dem Vorort Plieningen zeugt eindrucksvoll von einem durchaus selbstironischen Umgang mit der sehr provisorischen Wohnsituation. Es fand sich aber auch der Prototyp einer Chip-Einkaufskarte des »Stuttgarter Modells«, die Asylbewerbern den selbstbestimmten Einkauf in normalen Supermärkten ermöglichte und das Problem fertig gepackter Lebensmittelpakete mit falschen oder unbeliebten Inhalten löste. Die unerwartete Fülle an Objekten, die jenseits der amtlichen Überlieferung in den Büros des Sozialamtes auftauchte, war überraschend und beeindruckend. Problematisch war die Tatsache, dass bei vielen Objekten persönliche Zuschreibungen und Geschichten fehlten und auch nicht mehr recherchierbar waren. Einige der Objekte, wie zum Beispiel die Fußball-Trikots und Pokale, erzählen dennoch eine anschauliche Geschichte. 3.4 Sammeln im öffentlichen Raum Sammlungsaktionen im öffentlichen Raum bildeten eine wesentliche Grundlage für die Erstellung der Webseite www.migrationsgeschichte.de. Angesichts der Tatsache, dass in Migrantenvereinen nur ein Teil der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte organisiert ist, erschien es wünschenswert, an zentralen öffentlichen Orten auf die Initiative zur Erarbeitung der städtischen Migrationsgeschichte aufmerksam zu machen. Das Heimatmuseum Reutlingen hatte 2009 mit einer Sammelaktion in der Fußgängerzone Reutlingens zur Vorbereitung der Sonderausstellung Auspacken: Dinge und Geschichten von Zuwanderern sehr gute Erfahrungen gemacht. Hier diente ein ansprechend gestalteter Container als EyeCatcher und Ort für Interviews. Gesammelt werden konnten in zehn Wochen rund 400 Objekte, Photos und Dokumente von 100 interessierten Bürgern.21 In Stuttgart wurde an zwei Orten ein Sammlungsstand aufgestellt. Der erste Standort war das Volkshochschulzentrum Treffpunkt Rotebühlplatz, wo der Stand im April 2011 eine Woche aufgebaut war. Inhaltlicher Anknüpfungspunkt war das »Länderfestival Türkei«, das anlässlich 50 Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei stattfand. Ein zweites Mal wurde der Stand für fünf Tage im Juli 2011 beim »Sommerfestival der Kulturen« auf dem Stuttgarter Marktplatz präsentiert. Beide Male wurden Flyer in mehreren Spra-

21 Stadtarchiv beim Kulturamt der Stadt Reutlingen (Hg): Auspacken. Dinge und Geschichten von Zuwanderern. Eine Dokumentation zur Reutlinger Migrationsgeschichte, Reutlingen: Stadtverwaltung 2010, S. 10.

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chen (deutsch, türkisch, russisch) aufgelegt und Objekte als Anschauungsmaterial dargeboten. In der Volkshochschule wurde mit den Besuchern auch ein Clickdummy der Webseite www.migrationsgeschichte.de erprobt. In der Volkshochschule konnte ein breites und eher museumsfernes, aber sehr interessiertes Publikum angesprochen werden, das zudem meist über relativ viel Zeit verfügte. Es waren Mitglieder interkultureller Seniorengruppen, die sich zu Erzählcafés trafen, Lehrer und Teilnehmer von Sprach- und Integrationskursen und das allgemeine Kurspublikum. Beim Sommerfestival war das Publikum deutlich jünger, und viele Interessierte kamen aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte. Bei beiden Anlässen ergaben sich interessante Kontakte, an denen sich weiterführende Interviews anknüpfen ließen. Anders als bei der Reutlinger Sammlungsaktion konnten ohne konkreten Ausstellungsanlass und die damit verbundene Motivation relativ wenige Objekte gesammelt werden.

Abbildung 2: Der Sammelstand »Meine Stadt – meine Geschichte« im Volkshochschulzentrum Treffpunkt Rotebühlplatz, Stuttgart

Auf Grund der bisherigen Erfahrungen mit dem Sammlungsstand wird diese Initiative fortgesetzt, jedoch unter stärkerer Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes der Sammelorte. Ein nächster Sammelanlass wird ein Mitarbeitertag bei der Daimler AG in Stuttgart-Untertürkheim sein. Die Belegschaft war von Anfang an interkulturell geprägt und das Diversity Management des Unternehmens unterstützt die Sammlungsinitiative.

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3.5 Sammeln für Ausstellungen Sammelaktionen für konkrete Sonderausstellungsprojekte mit einem sichtbaren Ergebnis in absehbarer Zeit stellten sich bisher als effektivste Form der Sammlung dar. Im Rahmen von explorativen Interviews zu einem historischen Anlass oder zu einem spezifischen Thema erinnern sich die Gesprächspartner gut an Objekte, Dokumente oder Photos, die für ein Ereignis, einen Prozess oder eine Erinnerung besonders aussagekräftig sind. 2009 und 2010 führten wir im Rahmen der Vorbereitung einer Ausstellung zu den deutsch-griechischen und deutsch-spanischen Anwerbeabkommen von 1960 rund 30 biographische Interviews durch. Unsere Gesprächspartner waren griechisch- und spanischstämmige Stuttgarterinnen und Stuttgarter der ersten ›Gastarbeiter‹-Generation. Die Interviewpartner wurden auf unterschiedliche Weise gefunden: Während sich die Griechische Gemeinde Stuttgart als zentraler Verein der großen griechischstämmigen Bevölkerungsgruppe als Ansprechpunkt hilfreich erwies und sich die Kontakte von dort aus im Schneeballsystem weiterentwickelten, stellte sich die Situation bei den informell organisierten spanischstämmigen Stuttgartern ganz anders dar. Über eine Empfehlung entstand ein Kontakt zur zentralen Figur des informellen Netzwerkes, und die ersten Treffen fanden dementsprechend in verschiedenen spanischen Lokalen statt. Vielen Interviewpartnern war der historische Anlass nicht gegenwärtig, sie entwickelten jedoch im Laufe der Gespräche ein Bewusstsein für ihre Geschichte und ihren Anteil an der Entwicklung der Stadt. Individuelle Biographien und Stadtgeschichte konnten im Kontext der Interviews in reflektierter Weise verknüpft werden. Die Fokussierung auf ein Thema – in diesem Fall die ersten Jahre in einer neuen Heimat – bestimmten jedoch in hohem Maße die Objektauswahl. Zunächst brachten die Interviewpartner Objekte, von denen sie dachten, dass sie vom Museum erwartet werden würden: Koffer, Pässe und andere ›typische‹ Objekte der Migration. Im Laufe der offen geführten Gespräche kamen jedoch zunehmend auch andere Objekte in den Fokus – Gegenstände des privaten religiösen Lebens, Sprachlern-Schallplatten oder auch Dokumente eines wilden Streiks. Die Ausstellung Liebe auf den zweiten Blick, die auf Basis der Interviews entstand und im Stuttgarter Rathaus gezeigt wurde, war selbst wiederum Sammelanlass. Viele Interviewpartner hatten ihre Objekte zunächst nur als Leihgaben für die Sonderausstellung zur Verfügung gestellt, denn die Erinnerung an die eigene Migration war und ist mit vielen, durchaus schwierigen Erinnerungen verbunden. Die Ausstellung als sichtbare Wertschätzung dieser Geschichte und als selbstverständlicher Teil der Stadtgeschichte inspirierte viele Leihgeber, ihre Erinnerungsstücke der Sammlung des Stadtmuseums zu schenken. Auf Grund

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der Ausstellung konnten weitere Interviewpartner gezielt angesprochen werden. Vor dem Interview wurden sie beim Rundgang durch die Ausstellung an Hand der Präsentation angeregt, über eigene mögliche Objekte nachzudenken. Und anders als in der Zeit hektischer Ausstellungsvorbereitungen kurz vor Eröffnung konnten die Interviews während der Ausstellung mit größerer Gelassenheit geführt werden. Dieser Vorteil wurde jedoch durch den Nachteil geschmälert, dass die bereits laufende Ausstellung zu einer ähnlichen Objektauswahl führte und weniger Anreize für Schenkungen bot. Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen des Jahres 1961 bot 2011 die nächste Gelegenheit für eine Sonderausstellung. Merhaba Stuttgart oder die Geschichte vom Simit und der Brezel wurde vom Stadtmuseum Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem Linden-Museum Stuttgart, einem staatlichen Museum für Völkerkunde, und dem Deutsch-Türkischen Forum, einer deutsch-türkischen Bürgerinitiative, entwickelt. Hier waren ebenfalls Interviews die Grundlage für die Wahl der Ausstellungsthemen und bildeten den Anlass für das Sammeln von Objekten. Der Weg zu den Interviewpartnern und die Form der Gespräche gestalteten sich jedoch wiederum anders, denn das türkisch geprägte Stadtleben Stuttgarts ist extrem vielfältig und es wäre nahezu unmöglich gewesen, diese Vielfalt entsprechend abzubilden. Konzeptionelles Ziel war es deshalb, die Ausstellung aus Sicht der dritten und vierten Generation von Stuttgartern mit Zuwanderungsgeschichte zu entwickeln. Um dieses Ziel zu realisieren, wurden Schulklassen als Kooperationspartner angesprochen. Zwei Klassen, eine 7. Realschulklasse und ein Seminarkurs der 12. Klasse eines Wirtschaftsgymnasiums, konnten dafür gewonnen werden. Gewinnbringend war dabei vor allem die Pluralität in den Klassen. Viele (aber nicht alle) Schülerinnen und Schüler kamen aus einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte, wobei die Herkunftsländer der Eltern, Großeltern und in einem Fall der Urgroßeltern vielfältig waren. Zudem führten die Schüler sehr persönliche Gespräche, die vielleicht nicht allen Regeln der empirischen Sozialforschung entsprachen, aber sehr offen und interessiert geführt wurden. Die Schüler wurden zunächst von den Kuratorinnen in die Museumsarbeit und in Interviewtechniken eingeführt und suchten dann in ihrem persönlichen Umfeld mögliche Gesprächspartner – ohne Vorgaben des Museums. Das konnte die eigene Großmutter sein, der türkische Kollege des Vaters, der Imam der örtlichen Moschee oder Freunde von Freunden. So entstanden – sozusagen aus der Mitte der Gesellschaft – über 100 Interviews und sehr persönliche Einblicke in 50 Jahre deutsch-türkische Stadtgeschichte. Die Kuratorinnen trugen weitere Interviews und Recherchen bei und entwickelten gemeinsam mit den Schülern daraus die thematische Struktur der Ausstellung. Auch hier war die Ausstellung ein guter Sammelanlass und führte zu vielen unerwarteten Objekten

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der Migrationsgeschichte, unter anderem einen acht Meter langen Brief eines Türken an seinen Cousin in Deutschland. 3.6 Projekte in Klassenverbänden Die gesellschaftliche Vielfalt in den Klassenverbänden städtischer Schulen macht die Zusammenarbeit mit ihnen zu einem großen Gewinn für die Arbeit zum Thema Migrationsgeschichte. Hier lassen sich Museumsarbeit und (interoder trans-)kulturelle Bildungsarbeit in produktiver Weise verbinden. Denn die Frage, wie die Geschichte(n) unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen in Museen dokumentiert und repräsentiert werden, ist aufs Engste mit dem Museum als einem Ort kultureller Bildungsarbeit verbunden. Eine Projektgruppe mit Schülern der 5. und 6. Klasse einer Hauptschule in Stuttgart-Münster führte gemeinsam mit einer Museumspädagogin ein Sammlungsprojekt gezielt für die Webseite www.migrationsgeschichte.de durch. Nach einer Einführung in das Thema Migrationsgeschichte und die Museumsarbeit – besonders wichtig war hier ein Besuch des Museumsdepots – begannen die Schülerinnen und Schüler in ihren eigenen Familien und in der Nachbarschaft nach Objekten und Geschichten zu suchen. Die gefundenen Objekte – unter anderem ein geschnitztes Besteck, das der Großvater in Mozambique zu schnitzen begann, der Vater mit in die DDR nahm und dort fertigstellte, bevor er von dort nach Stuttgart zog. Jetzt hängt das Besteck als Erinnerungsstück im Wohnzimmer. Für die jungen Sammler war es eine große Herausforderung, Objekte zu suchen. Noch größer war allerdings für die 10 bis 12-Jährigen die Herausforderung, Texte zu den Objekten zu schreiben. Deshalb wurden die Geschichten in Form von Audioclips dokumentiert, die jetzt zusammen mit den Objekten online präsentiert werden. Ein dritter Lernzusammenhang, der als Diskussions- und Sammlungsort genutzt wurde, waren Integrations- und Sprachkurse. Das Stadtmuseum stellte eine Lerneinheit zur lokalen Migrationsgeschichte zusammen und bot diese verschiedenen Kursveranstaltern an. Das Angebot wurde im Rahmen der Stundenkontingente zu kulturellen Themen gerne angenommen. Als Teil des Programms wurden die Teilnehmer gebeten, persönliche Objekte mitzubringen. Da in Sprachkursen Teilnehmer aus unterschiedlichsten Herkunftsländern und verschiedenen Generationen zusammenkommen, waren die Themen und Diskussionen rund um die Objekte immer wieder andere und ermöglichten einerseits Zugang zu Minderheiten und andererseits zu unterschiedlichsten Themen. Sollen aus diesem Kontext interessante Objekte und Geschichten für das Museum gesammelt werden, ist allerdings eine Nachbereitung mit längeren Einzelinterviews notwendig. Festzuhalten ist, dass gerade in den Sprachkursen vielfach hochsensible Themen

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zur Sprache kamen. Dies betraf vor allem Dokumente, die von deutschen Behörden auf Grund von Sprachschwierigkeiten und Unkenntnis der Namensgebung in anderen Kulturen falsch ausgestellt wurden. Dieses häufig anzutreffende Phänomen zeigt zwar interessante Aspekte der Migrationsgeschichte auf, kann jedoch mit Blick auf den Datenschutz der jeweiligen Gesprächspartner nicht in jedem Fall Eingang ins Museum finden.

Abbildung 3: Migrationsgeschichte in einem Sprach- und Integrationskurs

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Die museale Dokumentation der Migrationsgeschichte konfrontiert Stadt- und Regionalmuseen, so Bernhard Tschofen, mit einem »grundlegenden Paradigmenwechsel«22. Zwei wesentliche Konstanten der Museumsarbeit – der traditionell nationale Bezugsrahmen und der Fokus auf einen Ort, eine Stadt oder eine Region – verlieren mit und unter der Perspektive der Migration ihre Relevanz, denn der Alltag der Stadtbewohner ist seit Jahrzehnten polylokal und transkulturell geprägt. Viele Menschen haben mehr als eine Heimat, sind sozusagen ›zwei22 Bernhard Tschofen: »›Auspacken‹ – ein Projekt der Stadt Reutlingen im Kontext der Diskussion um Migration und Museum«, in: Stadtarchiv beim Kulturamt der Stadt Reutlingen, Auspacken (2010), S. 219-228, hier S. 219.

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heimisch‹ oder ›dreiheimisch‹ und pendeln zwischen Ländern und Sprachen: »Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen, sondern überschreiten diese und finden sich ebenso in anderen Kulturen« – so beschreibt Wolfgang Welsch das Konzept der Transkulturalität.23 Dabei gilt diese Beschreibung nicht nur für Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund, sondern ebenso für die Mehrheitsbevölkerung. Sich dies immer wieder ins Gedächtnis zu rufen ist entscheidend, um nicht in der Dokumentation von Objekten zur Migration implizit die Dichotomie von »Wir« und »Sie« fortzuführen oder gar eine einseitige Integrationsgeschichte zu schreiben. Es muss gerade in einem ortsbezogenen Museum immer darum gehen, die Veränderung des Ortes durch die Menschen – egal woher sie kommen – zu dokumentieren und nachvollziehbar zu machen. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die historisch arbeitende Museen an die Grenzen ihrer bisherigen Präsentationsformen bringen kann.24 Über das Rüstzeug für die Sammlung von Migrationsgeschichten verfügen die meisten Stadtmuseen auf Grund ihrer Erfahrung mit der Sammlung von Sozial- und Alltagsgeschichten. Die Grundlage der Dokumentation sind die Geschichten der Menschen und ihre subjektiven Erinnerungen. Das »Eingehen auf die Akteure, ihre erlebten Handlungsspielräume und durchlebten Konflikte« kann auch, so Bernhard Tschofen, vor einer »hegemonialen Folklorisierung der Migrantinnen und Migranten«25 schützen. Dennoch ist eine Reflexion der eigenen Haltung wesentliche Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Migrationsgeschichte. Darüber hinaus sind bei der Sammlung von Dingen und Erzählungen der Migration unserer Erfahrung nach folgende Aspekte wesentlich:

23 Wolfgang Welsch: »Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen«, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.), Migration und kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch 45 (1995), S. 1; vgl. auch Wolfgang Welsch: »Transkulturalität. Lebensformen nach Auflösung der Kulturen«, in: Kurt Luger/Rudi Renger (Hg.), Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien, Wien/St. Johann im Pongau: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag 1994, S. 147-169. 24 So zeigte das Ausstellungsprojekt Crossing Munich 2009 die Perspektive der Migration am Beispiel der Großstadt München vor allem mit künstlerischen Mitteln. Vgl. Natalie Bayer/Andrea Engl/Sabine Hess/Johannes Moser (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, München: Schreiber 2009, vgl. http://crossingmunich.org 25 B. Tschofen: »›Auspacken‹ – ein Projekt der Stadt Reutlingen«, S. 224.

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• Es muss »Basisarbeit« geleistet werden. Historische Museen sind kein Ort, mit

dem sich Bürger mit Migrationshintergrund identifizieren, denn bislang finden sie sich und ihre Geschichten dort nicht wieder. Die Relevanz der Institution Museum und der Museumsarbeit müssen nachvollziehbar erklärt werden, ebenso wie die historische Bedeutung der persönlichen Migrationserfahrung. Historische Jahrestage von Anwerbeabkommen und damit verbundene Ausstellungen sind gute Anlässe, um die Bedeutung von Stadtgeschichte insgesamt und die Bedeutung der eigenen Lebensgeschichte als Teil dieser Geschichte zu verdeutlichen. • Eine verbindliche Vertrauensbasis mit den Communities ist die Grundlage der Arbeit. Dies bedeutet intensive Kontaktpflege durch feste Ansprechpartner im Museum, das heißt, es braucht einen »Kurator für Migrationsgeschichte« oder einen »Community Officer«26, wie ihn manche britische Museen bereits haben. Gerade dieser sensible Themenbereich sollte nicht von externen Werkvertragsnehmern oder zeitlich befristetem Personal übernommen werden. Der Personalaufwand für die Auseinandersetzung mit dem Thema ist nicht zu unterschätzen und es braucht ein Commitment der Institution. • Es bedarf zusätzlicher Kompetenzen. Es ist sinnvoll und manchmal sogar unabdingbar, je nach Herkunftsland der Interviewpartner Personen mit entsprechenden Sprachkompetenzen, aber vor allem auch »kulturelle Übersetzer« zur Unterstützung einzubeziehen. Zum einen vereinfachen Sprachkenntnisse den Zugang zu den Menschen, zum anderen sind sie unabdingbar, um manche Objekte einfach auch nur »lesen« zu können. Ebenso wichtig sind Kenntnis der jeweiligen Geschichte des Herkunftslandes und Wissen über die aktuelle politische Situation. Museen brauchen entweder Personal mit entsprechendem Hintergrundwissen oder aber verlässliche Auskunftspersonen, um Interviewpartnern sinnvolle Fragen stellen und um Objekte in die jeweiligen Kontexte einordnen zu können. Andernfalls ergeht es einem wie dem schwäbischen Metzger, der – für seine Zeit fortschrittlich – in den 1960er Jahren schweinefleischfreie Wurstwaren anbot. Er warb für sein Angebot mit einem Plakat, das seine Tochter in einem türkischen Kostüm zeigte. Dass das Kleidungsstück ein Beschneidungskostüm für Jungen war, hatte ihm niemand gesagt. In der eingangs zitierten Ausstellung Merhaba Stuttgart ist es heute ein ausdrucksstarkes Objekt. • Die anspruchsvollste Aufgabe besteht darin, das richtige Verhältnis von Partizipation und Professionalität zu finden. Auf der einen Seite sind Museen bei

26 Vgl. u.a. die National Museums of Liverpool, zu denen das 2011 eröffnete Liverpool Museum gehört, vgl. http://www.liverpoolmuseums.org.uk/learning/community

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der Dokumentation der Migrationsgeschichte auf Einzelpersonen, Vereine und Organisationen angewiesen. Ohne die Menschen und ihre Erfahrungen können sie die Geschichte nicht erzählen. Auf der anderen Seite liegt die Aufgabe des Kuratierens bei den Museumsmitarbeitern. Selbstreflexion und ein kontinuierliches Hinterfragen des eigenen Tuns sollten immer Teil der professionellen Grundhaltung sein – in Bezug auf das Thema Migrationsgeschichte ist diese Haltung fundamental. Stadtgeschichte unter dem Blickwinkel der Migrationsgeschichte zu erzählen, erfordert einen frischen Blick auf die Stadt, aber auch über die Stadt hinaus, originäre Forschung und neue Sammlungsstrategien. Was wir heute als sammlungswürdig betrachten, wird in einigen Jahrzehnten die Geschichte, das kulturelle Gedächtnis sein. Wir müssen uns also heute fragen: Wessen Gedächtnis wird es sein?

Perspektiven der Migrationsgeschichte in deutschen Ausstellungen und Museen D IETMAR O SSES

»Die Musealisierung der Migration hat Konjunktur.«1 Migration ist in den letzten Jahren als wichtiger Themenbereich in den Museen angekommen. Das zeigen vor allem Museumsgründungen in Nordamerika und Europa, aber auch zahlreiche Sonderausstellungen zu verschiedenen Aspekten der Migration sowie eine breite museumsfachliche Debatte. In Deutschland hat sich bislang kein Migrationsmuseum etablieren können, das sich als Institution der Geschichte der Ein- und Auswanderung widmet. Im Kontext erster richtungsweisender Ausstellungsprojekte zum Thema Migration, der gesellschaftlichen Diskussion um die Anerkennung Deutschlands als »Einwanderungsland« und der politischen Auseinandersetzung um das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz hat sich in Deutschland zwischen 2000 und 2005 eine rege Debatte um ein nationales Migrationsmuseum entwickelt, die jedoch gegenwärtig nicht weiter betrieben wird.2 Von längerfristiger Bedeutung war hingegen die Intensivierung des museumsfachlichen und interdisziplinären Diskurses, der sich in zahlreichen deutschlandweiten und internationalen Tagungen widerspiegelt. So initiierte die Tagung 1

Joachim Baur: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld: transcript 2009, S. 11.

2

Vgl. Aytaç Eryılmaz: »Deutschland braucht ein Migrationsmuseum. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik«, in: Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.), Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen: Klartext 2004, S. 305-319; Michael Fehr: »Überlegungen zu einem ›Migrationsmuseum‹ in der Bundesrepublik«, in: Museumskunde 75 (2010) 1, S. 67-70.

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»Migration in Museums – Narratives of Diversity in Europe«3 einen Austausch von Künstlern und Museumsexperten aus Europa und Übersee. In Dortmund konstituierte sich als Folge der Tagung »Stadt – Museum – Migration«4 ein informelles Netzwerk von Stadt- und Regionalmuseen, das verschiedene Aspekte der Musealisierung von Migrationsgeschichte diskutiert und sich aktuell verstärkt der Sammlungspraxis zuwendet. Der Bundesverband Museumspädagogik widmete unter dem Titel »Das Eigene und das Fremde. Museen und Integration« seine Jahrestagung unterschiedlichen Fragestellungen zur Vermittlung der Themen Migrationsgeschichte, kulturelle Vielfalt und Integration. Und die Fachtagung »Heimat – Museum. Migration & Erinnerung«5 beleuchtete die kulturpolitischen Konsequenzen des Wandels durch Migration im lokalen und regionalen Kontext. Aus dem vom Deutschen Museumsbund initiierten Werkstattgespräch »Museum – Migration – Kultur – Integration« ging schließlich im Frühjahr 2010 die Verabschiedung des gleichnamigen Memorandums6 hervor, das von dreißig Museen sowie den Vorständen des Deutschen Museumsbunds, des Bundesverbands Museumspädagogik und der Museumsvereinigung ICOM Deutschland unterstützt wurde. Zur Umsetzung der Ziele des Memorandums haben sich zahlreiche Museen im Arbeitskreis Migration des Deutschen Museumsbunds zusammengeschlossen. Der praktische Erfahrungs- und Informationsaustausch erfolgt zunehmend auch über Vernetzungsformen im Internet. So erfasst die Datenbank »KulturGut vermitteln – Museum bildet«7 unter anderem spezielle Vermittlungsangebote zur kulturellen Vielfalt und Migrationsgeschichte, während das Internetportal »Mig-

3

Tagung »Migration in Museums – Narratives of Diversity in Europe« in Berlin 2008, veranstaltet vom Netzwerk Migration in Europa e.V., ICOM Europe und dem Centre de Documentations sur les Migrations Humaines (Paris).

4

Tagung »Stadt – Museum – Migration«, Dortmund 2009, veranstaltet vom Stadtmuseum Stuttgart in Gründung, dem LWL-Industriemuseum/Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur Dortmund und dem Netzwerk Migration in Europa e.V.

5

Tagung »Heimat – Museum. Migration & Erinnerung«, Ludwigshafen 2010, veranstaltet von Kultur Rhein-Neckar e.V. und dem Ernst-Bloch-Zentrum.

6

»Memorandum ›Museum – Migration – Kultur – Integration‹«, in: Museumskunde 75 (2010) 1, S. 33-35; vgl. dazu auch die weiteren Beiträge des Themenhefts »Migration« dieser Zeitschrift.

7

Die Datenbank wird betrieben vom Deutschen Museumsbund in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Museumspädagogik und dem Institut für Museumskunde, vgl. http://www.museumbildet.de

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ration ausstellen«8 Ausstellungen zum Thema Migration vernetzt und archiviert. Die Website »Meine Stadt – meine Geschichte. Migrationsgeschichte(n) sammeln und zeigen«9 verknüpft Materialien und Informationen zur Migrationsgeschichte in Deutschland mit einem virtuellen Schaudepot, das ›Migrationsobjekte‹ aus unterschiedlichen Sammlungen deutscher Museen beinhaltet. Als Ergebnis der vielfältigen Diskussionen lassen sich gegenwärtig folgende Tendenzen festhalten: Migration, Integration und kulturelle Vielfalt werden zunehmend als Querschnittthemen erkannt, die alle Sparten und Handlungsfelder der Museen betreffen. Der Begriff Migration umfasst dabei sowohl Zuwanderung als auch Auswanderung ebenso wie Binnenwanderungen. In historischer Perspektive aber auch angesichts aktueller Entwürfe einer transkulturellen Gesellschaft erscheinen alle drei Dimensionen des Begriffs von Bedeutung.10 Integration und kulturelle Vielfalt werden in kulturpolitischen Debatten bisweilen als polarisierende Begriffe verwendet: hier das Konzept der Integration, verstanden als Assimilierung oder Akkulturation, da die kulturelle Vielfalt, missverstanden als ein Multikulti-Konzept der Beliebigkeit. Als Instrument zur Herstellung von Chancengleichheit unter gegenseitiger Anerkennung von Potentialen, Leistungen und Normen im Rahmen des Grundgesetzes erscheint die Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte als grundlegende Voraussetzung für die Partizipation am gesellschaftlichen Leben in Deutschland. Die gleichberechtigte Teilhabe an allen Lebensbereichen wird somit als Hauptziel der Integration formuliert. Integration funktioniert aber nicht als ›Einbahnstraße‹: Gegenseitige Anerkennung setzt das Aushalten von Differenz und Anderssein voraus. Unter dieser Prämisse wird kulturelle Vielfalt zu einem hohen Gut, wobei es im Falle des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Interessen und Ansprüche demokratischer Aushandlungsprozesse bedarf. Das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Migrationserfahrung am gesellschaftlichen Leben ist angesichts des demographischen Wandels in Deutschland jedoch

8

Betreiber dieses Portals (http://www.migration-ausstellen.de) ist der Landschaftsverband Westfalen-Lippe mit seinem LWL-Industriemuseum/Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur.

9

Die Internetpräsenz (http://www.migrationsgeschichte.de) ist eine Kooperation des in Gründung befindlichen Stadtmuseums Stuttgart mit dem Netzwerk Migration in Europa e.V. und dem LWL-Industriemuseum/Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur.

10 Einen Überblick über die Musealisierung der Einwanderung im internationalen Vergleich liefert J. Baur: Musealisierung der Migration.

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nicht nur ein Gebot der Demokratie – es hat auch praktische Relevanz von großer Tragweite.11 Der zunehmend interdisziplinär und international geführte Diskurs über Migration im Museum reflektiert die aus der Museumsarbeit gewonnenen Beispiele und entwickelt auf dieser Grundlage neue Impulse für die Museumspraxis.

1. B EGEGNUNG MIT F REMDEM : M IGRATIONSAUSSTELLUNGEN E NDE DER 1990 ER J AHRE Zwei richtungsweisende Ausstellungsprojekte können heute als Meilensteine der Migrationsausstellungen in Deutschland gelten: Die Wanderausstellung Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde12 und die Ausstellung Fremde Heimat – Yaban, Sılan olur. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Türkiye’den Almanya’ya Göçün Tarihi13. Die beiden Ausstellungen markierten

11 Vgl. Henrike Hampe (Hg.): Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis (= Europäische Ethnologie, Band 5), Münster: Lit Verlag 2005, vgl. auch das Schwerpunktheft zum Thema Migration in: Museumskunde 75 (2010) 1; zuletzt Bernhard Tschofen: »Statt eines Schlussworts: ›Auspacken‹ – ein Projekt der Stadt Reutlingen im Kontext der Diskussion um Migration und Museum«, in: Stadtarchiv beim Kulturamt der Stadt Reutlingen (Hg.), Auspacken. Dinge und Geschichten von Zuwanderern. Eine Dokumentation zur Reutlinger Migrationsgeschichte, Reutlingen: Stadtverwaltung 2010, S. 219-228. 12 Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde. Schlaglichter von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Ausstellung des Museumsdorfes Cloppenburg in Zusammenarbeit mit dem Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart, dem Altonaer Museum-Norddeutschen Landesmuseum, dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig und dem Kulturhistorischen Museum Magdeburg. Vgl. Uwe Meiners/Christoph Reinders-Düselder (Hg.): Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde. Epochale Schlaglichter von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Cloppenburg: Museumsdorf Cloppenburg 1999. 13 Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Yaban, Sılan olur. Türkiye’den Almanya’ya Göçün Tarihi. Ausstellung des Ruhrlandmuseums Essen in Kooperation mit DOMiT – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei, Essen 1998. Vgl. den Katalog: Mathilde Jamin/Aytaç Eryılmaz (Hg.): Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Yaban, Silan olur. Türkiye’den Almanya’ya Göçün Tarihi, Essen: Klartext 1998.

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Ende der 1990er Jahre auf unterschiedliche Weise den Aufbruch der Museen zur Präsentation von Migrationsgeschichte. Die Ausstellung Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde fokussierte die lange Geschichte der Zuwanderung nach Deutschland und Auswanderung aus Deutschland von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Sie folgte dabei im Wesentlichen den Epochen der Migrationsgeschichte, wie sie der Migrationshistoriker Klaus Bade14 entworfen hat. Vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Tendenzen und der in der Bevölkerung zunehmenden Wahrnehmung von Einwanderung als Bedrohung sollte der »Normalfall Migration« in Geschichte und Gegenwart dargestellt werden. Dabei wurde zum einen der Aspekt der Bereicherung durch Mobilität und kulturelle Begegnung betont, ohne die Geschichte von Ausgrenzungen und Verfolgungen auszuklammern. Zum anderen setzte die Ausstellung auf den Perspektivwechsel zwischen Fremdheit und Vertrautheit, indem die Geschichte der Einwanderung nach Deutschland jener der Auswanderung aus Deutschland gegenübergestellt wurde. Erklärtes Ziel war die »kollektive Sensibilisierung eigener Erfahrungen mit Fremden jenseits und diesseits der Grenzen im Rückblick auf die langen Entwicklungen, die unserer Gegenwart vorangegangen sind«15. Projektleiter Christoph Reinders-Düselder setzte auf die Anerkennung von Vielfalt durch den Blick in die Geschichte: »Die Begegnung und das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kultur ist eine Konstante in der Geschichte – und den Besuchern dieser Ausstellung wird deutlich werden, dass die Kultur in Deutschland nicht die Kultur der Deutschen alleine war und ist.«16 Daher wollte die Ausstellung vor allem das ›typische‹ deutsche Museumspublikum erreichen. Mit einer Laufzeit von drei Jahren in sechs Museen konnte die Wanderausstellung auch tatsächlich eine beachtliche Breitenwirkung erzielen.17 Einen anderen Ansatz verfolgte die Ausstellung Fremde Heimat – Yaban, Sılan olur im Ruhrlandmuseum Essen. Sie beschränkte sich auf die Geschichte der Einwanderung aus der Türkei in die Bundesrepublik von den 1960er bis zu den 1980er Jahren. Neu und in diesem Umfang einmalig war die auf Partizipation ausgerichtete Konzeption der Ausstellung. Forschung, Vorbereitung und Rea-

14 Klaus Bade (Hg.): Deutsche im Ausland. Fremde in Deutschland, München: Beck 1992. 15 Christoph Reinders-Düselder: »Einführung«, in: Meiners/Reinders-Düselder, Fremde in Deutschland (1999), S. 16. 16 Ebd., S. 18. 17 Die Ausstellung wurde bei den beteiligten Kooperationspartnern und zuletzt bis Februar 2002 im Kultur- und Stadthistorischen Museum Duisburg gezeigt.

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lisierung der Ausstellung übernahmen das Ruhrlandmuseum Essen und der Verein DOMiT – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei als gleichberechtigte Partner. Durch die Beschränkung auf den kurzen Zeitraum der Einwanderungsgeschichte aus der Türkei vom deutsch-türkischen Anwerbeabkommen 1961 bis zum Anwerbestopp 1973 und das folgende Jahrzehnt, insbesondere aber durch die enge Zusammenarbeit mit der türkischen Migranten-Selbstorganisation DOMiT konnte eine neue Tiefe und Qualität der Forschung und Darstellung erreicht werden. Basierend auf mehr als hundert lebensgeschichtlichen Interviews, objektorientierten Gesprächen und den eigenen Erfahrungen der türkisch- und deutschstämmigen Ausstellungsmacher gelang eine multiperspektivische Geschichtsdarstellung. So brachten die türkischen Interviewpartner, Leihgeber und Ausstellungsmacher ihre kulturellen Kenntnisse und Perspektiven in die Konzeption mit ein. Sie identifizierten und beleuchteten Bedeutungsschichten von Objekten wie dem Transistorradio »Concert Boy«, die sich ohne diese Übersetzungsleistung einem Teil der Besucher nicht erschlossen hätten.18 »Das wichtigste Ergebnis des ständigen Perspektivwechsels, der so zustande kam, ist die Auflösung vieler fester Bilder, die zumindest wir Deutsche, aber wohl auch die Migranten selbst, im Kopf haben«19, bilanzierte Ausstellungsmacherin Mathilde Jamin. Wesentlich für das Konzept der Ausstellung war es, sich gemeinsam über die Geschichte zu verständigen und die Bedeutung von Objekten im Dialog auszuloten. Das war eine wichtige Voraussetzung für die doppelte Perspektive und die – im doppelten Sinne – durchgängige Zweisprachigkeit der Ausstellung. Gleichzeitig war mit der Aufnahme ›eigener‹ Geschichten und Objekte in die Ausstellung für Menschen mit Migrationserfahrung – wie für andere auch – ein zentrales Moment symbolischer Anerkennung und Repräsentanz gegeben.20 Viele der türkischen Einwanderer konnten sich erstmals im Museum als Teil der allgemeinen Geschichte wiederfinden, sahen sich und ihre Geschichte präsentiert, repräsentiert und anerkannt. Die beiden Ausstellungen setzten wichtige Maßstäbe für Migrationsausstellungen in Deutschland. Während die Ausstellung Fremde in Deutschland –

18 Mit dem Kofferradio »Concert Boy« konnte man auch türkischsprachige Sendungen aus der Türkei empfangen. Vgl. Mathilde Jamin: »Deutschland braucht ein Migrationsmuseum«, in: Hampe, Migration und Museum (2005), S. 43-50, hier S. 44f. 19 Mathilde Jamin: »Einführung«, in: Jamin/Eryılmaz, Fremde Heimat (1998), S. 26. 20 Mathilde Jamin: »Migrationsgeschichte im Museum. Erinnerungsorte von Arbeitsmigration – kein Ort der Erinnerung?«, in: Motte/Ohliger, Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft (2004), S. 145-157.

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Deutsche in der Fremde den »Normalfall Migration« seit der Frühen Neuzeit betonte und die doppelte Perspektive von Einwanderung und Auswanderung einnahm, etablierte die Ausstellung Fremde Heimat – Yaban, Sılan olur die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Migranten-Selbstorganisationen und den Einsatz lebensgeschichtlicher Erinnerungen zur multiperspektivischen Erforschung und Darstellung von Geschichte und Objekten.

2. M IGRATIONEN ZWISCHEN F LUCHT UND I NTEGRATION : G ROSSAUSSTELLUNGEN IN DEN J AHREN 2005 UND 2006 In den Jahren 2005 und 2006 lässt sich in Deutschland ein bemerkenswerter Boom an Migrationsausstellungen feststellen: Die beiden nationalen Museen der Bundesrepublik zeigten große Ausstellungen zu verschiedenen Epochen und Aspekten der Migration nach und aus Deutschland und im Zusammenhang mit dem sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes 1945 widmeten sich drei Ausstellungen der Geschichte von Flucht, Vertreibung und Integration. Zudem fand das mehrjährige, von der Bundeskulturstiftung geförderte Projekt Migration mit einer großen Ausstellung in Köln seinen Abschluss. Unter dem Titel Zuwanderungsland Deutschland zeigte das Deutsche Historische Museum in Berlin zeitgleich die beiden Ausstellungen Migrationen 1500200521 und Die Hugenotten22. Das Museum spannte damit den Bogen von einer allgemeinen Darstellung verschiedener Epochen und Aspekte der Migrationsgeschichte zum Fallbeispiel der Hugenotten, die aus Glaubensgründen ihre französische Heimat verließen und sich in einzigartiger Weise in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft der jeweiligen Aufnahmeländer etablierten. Ähnlich wie die Ausstellung Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde machte die Ausstellung Migrationen 1500-2005 die Darstellung der langen Geschichte der Migration nach und aus Deutschland zum Thema. Ziel der Ausstellung war es, »die Geschichte Deutschlands als Zuwanderungsland über das 19. und 20. Jahrhundert zurück deutlicher sichtbar zu machen und die

21 Vgl. Rosemarie Beier-de Haan (Hg.): Zuwanderungsland Deutschland. Migration 1500-2005, Wolfratshausen: Edition Minerva 2005, vgl. http://www.dhm.de/ausstellungen/ zuwanderungsland-deutschland/migrationen 22 Vgl. Sabine Beneke/Hans Ottomeyer (Hg.): Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, Wolfratshausen: Edition Minerva 2005, vgl. http://www.dhm.de/ausstellungen/zu wanderungsland-deutschland/hugenotten

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Kenntnisse über Migrationsprozesse in einem großen Zeitraum von annähernd fünfhundert Jahren zu erweitern.«23 Sie sollte »das Bewusstsein darüber wecken und vertiefen, dass Migration seit Jahrhunderten eine zentrale Dimension deutscher Geschichte ist.«24 Die Ausstellung griff auf die Ergebnisse zahlreicher Migrationsausstellungen sowie auf eigene Forschungen, Exponate und lebensgeschichtliche Interviews zurück. Da im Mittelpunkt der Ausstellung die rechtlichen Rahmenbedingungen und Definitionen der Migranten in Deutschland standen, bildeten Archivalien und Dokumente den Schwerpunkt der Exponate. Darüber hinaus verband die Ausstellung eine objektzentrierte Präsentation mit der Darstellung exemplarischer Lebensgeschichten in biographischen Selbstzeugnissen. Der Länge des dargestellten Zeitraums geschuldet, beschränkte sich die Ausstellung auf die schlaglichtartige Beleuchtung einzelner Aspekte. Die Hugenotten-Ausstellung konzentrierte sich dagegen »auf die bekannteste historische Gruppe von Zuwanderern in protestantische deutsche Länder«25. Sie präsentierte die Hugenotten als Gruppe, an der sich in einzigartiger Weise »der Prozess der Wanderung und der Integration in die Aufnahmegesellschaften über einen entsprechenden Zeitraum«26 aufzeigen ließ. In der abschließenden Ausstellungseinheit zur Historisierung der hugenottischen Einwanderung beleuchtete die Ausstellung einerseits die Mechanismen der Selbsthistorisierung und andererseits die Integration in das offizielle Geschichtsbild der Aufnahmeländer. Ausgewählte Familiengeschichten lieferten zudem biographische Einblicke in die Migrationsgeschichte. Die rechtlichen Sonderstellungen, die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Erfolge sowie die Wege der Integration in die Aufnahmegesellschaften bildeten jedoch den Mittelpunkt der Darstellung. Insgesamt zeigten sich beide Ausstellung deutlich von den institutionellen Vorgaben und den politischen Begleitumständen geprägt. Als Ausstellungen des bedeutendsten nationalen Geschichtsmuseums richteten sie im Jahr des Inkrafttretens des lang diskutierten Zuwanderungsgesetzes den Blick auf die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen von Migration und auf die unterschiedlichen Aspekte der Integration. Dabei lag der Schwerpunkt der Darstel-

23 Rosemarie Beier-de Haan: »Zuwanderungsland Deutschland. Migration 1500-2005. Einführung«, in: dies., Zuwanderungsland Deutschland. Migration 1500-2005 (2005), S. 9-17, hier S. 12. 24 Ebd. 25 Hans Ottomeyer/Sabine Beneke/Rosemarie Beier-de Haan: »Vorwort«, in: Beneke/ Ottomeyer, Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten (2005), S. 7-8, hier S. 7. 26 Ebd.

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lung auf der Geschichte der erfolgreichen Integration der Hugenotten, ohne dass in der Ausstellung Migrationen 1500-2005 der Aspekt der Zwangsmigration und die Herausforderungen der Zuwanderungspolitik für Deutschland und Europa vernachlässigt worden wären. Ähnliche Rahmenbedingungen galten auch für die Ausstellung Flucht, Vertreibung, Integration des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.27 Aus Anlass des sechzigsten Jahrestags des Kriegsendes 1945 zeigte die Ausstellung die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs sowie jene der Aufnahme und Integration in die Gesellschaft in West- und Ostdeutschland. Mit der Konzeption der Ausstellung beschritt das Museum neue Wege. Bewusst setzte die Ausstellung auf die individuellen, »beeindruckende[n] und zugleich erschütternde[n] Geschichten, die in der Vielzahl ihrer unterschiedlichen Erfahrungen eigentlich Geschichte ausmachen«28. Erstmals gab das Haus der Geschichte in einer Ausstellung individuellen Erinnerungen und »Einzelschicksalen« besonderen Raum. So ermöglichten Videostationen mit Zeitzeugeninterviews lebensgeschichtliche Vertiefungen in einzelnen Ausstellungseinheiten. Darüber hinaus zogen sich biographische »Lebenswege« durch die verschiedenen Ausstellungsbereiche. Museumsdirektor Hermann Schäfer betonte dabei die besondere Funktion der Emotionalisierung, die er dem lebensgeschichtlichen Ansatz in der Ausstellung beimaß: »Wirkliche Annäherung an das Chaos und Leid, das mit Flucht und Vertreibung einherging, wird erst möglich, wenn man sich Schicksale vor Augen führt.«29 Die Quellenbasis für die biographischen Darstellungen bildeten die Ergebnisse eines Forschungsprojekts mit 350 lebensgeschichtlichen Erinnerungen, zu denen einzelne vertiefende Interviews geführt wurden. Ähnlich wie bei vorangegangenen Projekten griffen die Kuratoren am Ende der Ausstellung aktuelle Ereignisse und politische Diskussionen auf. Hier wurde ein Einblick in die Konjunktur der wissenschaftlichen und publizistischen Darstellungen von Flucht und Vertreibung der Deutschen in den vergangenen Jahren

27 Finanziert wurde die Ausstellung vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. In Bonn war die Ausstellung vom 3. Dezember 2005 bis zum 17. April 2006 zu sehen, anschließend wurde sie in Leipzig und Berlin gezeigt. 28 Hermann Schäfer: »Zur Ausstellung Flucht, Vertreibung, Integration«, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 3. Dezember 2005 bis 17. April 2006, Bielefeld: Kerber 2005, S. 6-13, hier S. 7. 29 Ebd., S. 7.

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sowie ein Überblick über die Kontroverse um die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen in Deutschland und den europäischen Nachbarstaaten gegeben. Einen anderen konzeptionellen Ansatz für eine Ausstellung zum Thema Flucht und Vertreibung wählte 2005 das Westfälische Industriemuseum – Landesmuseum für Industriekultur (heute LWL-Industriemuseum) in Dortmund. Die Ausstellung Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder30 stellte die Geschichte der Flüchtlinge beziehungsweise Vertriebenen und deren Anteil am Wiederaufbau in der Bundesrepublik Deutschland in den Vordergrund. »Mit der Fokussierung auf Flüchtlinge und Vertriebene beleuchtet ›Aufbau West‹ zum einen die Industriegeschichte Nordrhein-Westfalens in der Nachkriegszeit unter einem sozial- und migrationsgeschichtlichen Blickwinkel. Zum anderen fügt der industriegeschichtliche Ansatz der Ausstellung auch der Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen neue Aspekte hinzu – einer Geschichte, die seit einiger Zeit wieder intensiver diskutiert wird«31, so die Projektleiterin Dagmar Kift. Die Ausstellung zeigte die Geschichte der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen von der Flucht und Ankunft in Westdeutschland bis zu ihrer Integration in das Berufs- und Wirtschaftsleben in den 1950er Jahren. Dabei wurde der Blick auf die wichtigsten Industriezweige in NordrheinWestfalen während des Wiederaufbaus und auf den Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Wirtschaftsleistung gerichtet. Vierzig Lebensgeschichten veranschaulichten die Migrations- und Integrationsgeschichte am biographischen Beispiel. Dabei zeigte die Ausstellung bewusst auch Brüche und Schwierigkeiten bei der Gestaltung des Zusammenlebens von Einheimischen und Hinzugekommenen und beschrieb Integration als wechselseitigen Prozess, nämlich »wie sich die Zuwanderer in ihrer neuen Umgebung einlebten und gemeinsam mit den Einheimischen die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik mitgestalteten.«32 In kleinerem Format, aber mit umso höherer Medienaufmerksamkeit im Vorfeld zeigte das umstrittene Zentrum gegen Vertreibungen im Berliner Kronprinzenpalais 2006 die Ausstellung Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im

30 Vgl. Dagmar Kift (Hg.): Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder, Ausstellungskatalog; Westfälisches Industriemuseum, Zeche Zollern II/IV in Dortmund, 18. September 2005 bis 26. März 2006, Essen: Klartext 2005, vgl. http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Aufbau_West/austellung 31 Dagmar Kift: »Aufbau West in Nordrhein-Westfalen. Eine Industriegeschichte mit Flüchtlingen und Vertriebenen«, in: Kift, Aufbau West (2005), S. 12-21, hier S. 12. 32 Maria Seifert: »Grußwort«, in: Kift, Aufbau West (2005), S. 8-9, hier S. 9.

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Europa des 20. Jahrhunderts33. Thema der Ausstellung waren Verfolgungen und Vertreibungen in Europa – vom Völkermord an den Armeniern 1915 bis zu den gewalttätigen ethnischen Konflikten während des Jugoslawienkriegs 1991-1995. Die Ausstellung umfasste knapp einhundert Jahre Zwangsmigration in ganz Europa, wobei Hintergründe und Verlauf der verschiedenen Verfolgungen und Vertreibungen in den jeweiligen historischen Kontext eingebettet wurden. Erklärtes Ziel der Ausstellung war es, die Opfer der Vergessenheit zu entreißen und ihnen einen Platz in der Geschichte einzuräumen: »Wir wollen ihnen Fürsprecher sein. Alle Opfer von Genozid und Vertreibung brauchen einen Platz im historischen Gedächtnis Europas«34, erklärte die Stiftungsvorsitzende Erika Steinbach bei der Eröffnung. Die Ausstellung stellte die Ereignisgeschichte in den Mittelpunkt und vertiefte verschiedene Aspekte wie »Heimat« oder »Lager« in eigenen thematischen Räumen. Anstelle des von vielen befürchteten deutschen Bezugsraums wählte die Ausstellung eine europäische Perspektive auf ethnische Zugehörigkeiten und berücksichtigte zugleich die jeweiligen nationalstaatlichen Kontexte. Die drei Ausstellungen zu Flucht und Vertreibung zeigten unterschiedliche Ansätze. Während die Ausstellungen Flucht, Vertreibung, Integration und Aufbau West die Frage nach Verlauf und Erfolg der Integration der Zuwanderer in den Vordergrund stellten, ging es in der Ausstellung Erzwungene Wege um den Aspekt der Anerkennung und der Einschreibung in das nationale beziehungsweise europäische Gedächtnis. Deutliche Unterschiede manifestierten sich auch im Umgang mit lebensgeschichtlichen Erinnerungen in den Ausstellungen. Während sie in der Ausstellung Aufbau West eine zentrale Rolle spielten, wurde ihnen in der Ausstellung Flucht, Vertreibung, Integration eher die Funktion der Emotionalisierung und Authentifizierung der Geschichte zugewiesen. In der Ausstellung Erzwungene Wege dienten sie dagegen zur Exemplifizierung ausgewählter Themenbereiche. Eine spätere Epoche der Migrationsgeschichte stand im Mittelpunkt der Ausstellung Projekt Migration35, die 2005 an mehreren Orten in Köln als Abschluss einer mehrjährigen interdisziplinären Zusammenarbeit von vier sehr unterschied-

33 Vgl. Zentrum gegen Vertreibungen (Hg.): Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden: Zentrum gegen Vertreibungen 2006, vgl. http://erzwungenewege.z-g-v.de 34 Erika Steinbach: »Einleitung«, in: Zentrum gegen Vertreibungen, Erzwungene Wege (2006), S. 7-8, hier S. 7. 35 Vgl. Kölnischer Kunstverein et al. (Hg.): Projekt Migration, Köln: DuMont 2005, vgl. auch http://www.projektmigration.de

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lichen Institutionen gezeigt wurde.36 Das an fünf Orten in Köln platzierte Ausstellungsprojekt behandelte die Migration nach Deutschland von 1955 bis 2005. Der zeitliche Rahmen bezog die Geschichte aller staatlich begleiteten Anwerbungen von Arbeitskräften seitens der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, aber auch Flüchtlinge, Asylsuchende und illegale Einwanderer mit ein. Konstitutiv für die Ausstellung war die interdisziplinäre und transnationale Herangehensweise: Die Ausstellung kombinierte künstlerische, historische und sozialwissenschaftliche Zugänge und Präsentationsweisen. Sie folgte keiner chronologischen Einteilung, sondern wählte thematische Einheiten als strukturierendes Element. Ziel der Ausstellung war es, »imaginäre Potentiale künstlerischer Produktion, die Detailgenauigkeit historischer Recherchen und die theoretischen Herausforderungen sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung« zu nutzen, um »zu einer neuen Einschätzung und Bewertung zu kommen: den nationalen Blick umzukehren und Migration selbst als eine zentrale Kraft gesellschaftlicher Veränderung sichtbar zu machen.«37 Im Zentrum stand dabei die Frage nach »dem Zukunftspotential, dem utopischen Moment, den Visionen, die Migration entwirft.«38 Mit dem Anspruch, aus der Synthese von künstlerischem Schaffen, historischen sowie kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen Migrationsgeschichte und Migrationserfahrungen nicht zu rekonstruieren, sondern im Hinblick auf die herrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Deutungshoheiten zu dekonstruieren und neu zu re-präsentieren sowie »das bereits Erzählte und bislang noch Unerzählte als das noch zu Denkende, Zukünftige zu präsentieren«39, beschritt die Ausstellung neue Wege im Umgang mit Geschichte und Gegenwart der Migration in Deutschland. Dementsprechend war die Ausstellungskonzeption und Gestaltung von künstlerischen Zugängen dominiert und widersetzte sich vielfach den üblichen Seh- und Rezeptionsweisen.

36 Vgl. den Aufsatz von Aytaç Eryılmaz in diesem Band. 37 Aytaç Eryılmaz/Marion von Osten/Martin Rapp/Kathrin Rhomberg/Regina Römhild: »Vorwort«, in: Kölnischer Kunstverein et al., Projekt Migration (2005), S. 14-25, hier S. 16f. 38 Ebd., S. 18. 39 Marion von Osten: »Auf der Suche nach einer neuen Erzählung. Reflektionen des Ausstellungsprojekts ›Projekt Migration‹«, in: Natalie Bayer/Andrea Engl/Sabine Hess/Johannes Moser (Hg.), Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, München: Schreiber 2009, S. 90-93, hier S. 93.

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Mitte der 2000er Jahre wurden mit Blick auf das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes sowie die runden Jahrestage des Kriegsendes 1945 und des ersten staatlichen Anwerbeabkommen der BRD mehrere große Ausstellungen zur Migration realisiert, die sich durch unterschiedliche Zugänge, Annäherungsweisen, Konzeptionen und Präsentationsformen auszeichneten und somit in der Zusammenschau einen Referenzrahmen für Migrationsausstellungen in Deutschland darstellen. Sie loteten Möglichkeiten aus und zeigten die Grenzen der verschiedenen Konzeptionen und Darstellungsformen auf. Während die primär historisch und gleichsam enzyklopädisch konzipierten Ausstellungen wie Migrationen 1500-2005 in Berlin, Flucht, Vertreibung, Integration in Bonn oder Aufbau West in Dortmund die Migrationsgeschichte mit neuen Aspekten in die nationale »Meistererzählung« einschrieben, setzten das Projekt Migration, aber auch die Ausstellung Erzwungene Wege auf die Auflösung der nationalen Erzählung und die Etablierung eines neuen transnationalen Blickes – wenn auch mit höchst unterschiedlichen politischen Ansätzen und Darstellungsformen.

3. R EGIONAL UND LOKAL – M IGRATIONSAUSSTELLUNGEN VOR O RT In den letzten Jahren ist eine deutliche Zunahme von Ausstellungen zur lokalen oder regionalen Migrationsgeschichte festzustellen. Das Thema ist in den Museen der Städte und Kreise angekommen. Die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen der vergangenen Jahre mögen diese Entwicklung vorangetrieben und beeinflusst haben. Ein wesentlicher Aspekt dabei war die langjährige Debatte über ein Zuwanderungsgesetz und darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. Daneben spielten Fragen nach den Perspektiven der gesellschaftlichen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund sowie die Auseinandersetzung um den Nationalen Integrationsplan und dessen Umsetzung vor Ort eine große Rolle. Schließlich bildeten oftmals die historischen Jahrestage – zu Kriegsende 1945, Wiederaufbau und diversen staatlichen Anwerbeabkommen – Anknüpfungspunkte für regionale Ausstellungsprojekte. Auf Grund der Vielzahl der Ausstellungen einerseits und der recht unterschiedlichen Dokumentation der Projekte anderseits kann an dieser Stelle kein ausreichender Überblick gegeben werden. Einige Beispiele sollen im Folgenden jedoch die wesentlichen erkennbaren Trends verdeutlichen. Viele der rezenteren Migrationsausstellungen zeigen die Geschichte der Zuwanderung und Zuwanderer nach 1945 aus lokaler oder regionaler Perspektive. Oft veranschaulichen sie die Ergebnisse einer Suche nach Spuren der Migration

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und folgen dabei den großen Etappen der nationalen Migrationsgeschichte. So schlossen sich verschiedene Institutionen und Akteure der Geschichtskultur im Oberbergischen Kreise in Nordrhein-Westfalen zu einer Historischen Arbeitsgruppe zusammen und gestalteten die Wanderausstellung Angekommen. Zuwanderung ins Oberbergische nach 194540, die von 2008 bis 2009 in sieben Städten in Kreishäusern, Bildungsstätten, Museen und Bürgerhäusern zu sehen war. Die Ausstellung zeigte die Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen der Nachkriegszeit sowie der angeworbenen ›Gastarbeiter‹, der Spätaussiedler und der Asylsuchenden in der Region. Die Chronologie der Migrationsgeschichte und die lokalen Bezugspunkte wurden durch lebensgeschichtliche Zeugnisse und Exponate vertieft. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die Ausstellung Auspacken. Dinge und Geschichten von Zuwanderern41 2010 im Heimatmuseum Reutlingen. Anlass für das Projekt waren die Heimattage Baden-Württemberg 2009, die unter dem Motto »Kultur schafft Heimat« standen. Die stark objektorientierte Ausstellung präsentierte die Ergebnisse eines umfassenden Sammlungs- und Interviewprojekts: Mehr als einhundert Gesprächspartner stellten ihre Erinnerungen und auch Leihgaben zur Verfügung, die über die Ausstellungsdauer hinaus im Stadtarchiv digital erfasst und bewahrt wurden und somit dauerhaft Eingang in die Stadtgeschichte fanden. Nicht mit dem Ziel, die Stadtgeschichte bloß um eine weitere Facette zu erweitern, sondern mit der Idee, durch die Integration der Selbstzeugnisse und Erinnerungsstücke gleichsam »mit den neuen Kategorien auch die Blickrichtung per se zu ändern«42, war das Ausstellungsprojekt initiiert worden.

40 Vgl. Oberbergischer Kreis, Der Landrat/Kultur und Museumsamt, Schloss Homburg (Hg.): Ankommen. Zuwanderung ins Oberbergische nach 1945, Nümbrecht: Museum Schloss Homburg 2008, vgl. http://www.kreisverwaltung-oberberg.de/cms200/kultur_ tourismus/artikel/2008-05-06_ankommen_titel.shtml 41 Vgl. Stadtarchiv beim Kulturamt der Stadt Reutlingen (Hg.): Auspacken. Dinge und Geschichten von Zuwanderern. Eine Dokumentation zur Reutlinger Migrationsgeschichte, Reutlingen: Stadtverwaltung 2010; sowie Claudia Eisenrieder/Bernhard Tschofen: »Museum und Zuwanderung – Migration und kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die Institutionen des kulturellen Gedächtnisses«, in: Schwäbische Heimat 61 (2010) 2, S. 133-140, vgl. http://www.reutlingen.de/ceasy/modules/cms/main. php5?cPageId=2428&view=publish&item=article&id=1542 42 B. Tschofen, »Statt eines Schlussworts«, S. 224.

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Das im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 realisierte Projekt Fremd(e) im Revier!? Zuwanderung und Fremdsein im Ruhrgebiet43 verband neun Ausstellungen von Stadtarchiven und Bildungsträgern zur Migrationsgeschichte im Ruhrgebiet. Sie zeigten die Ergebnisse einer zweijährigen Recherche in den eigenen Beständen in Verbindung mit aktuellen Photoprojekten und Sammlungsaktionen. Die Ausstellungen stellten die doppelte Perspektive von »fremd sein« und »sich in der Fremde befinden« in den Vordergrund und verfolgten dies anhand unterschiedlichster Themen und Zeiten. Das Spektrum der Präsentationen reichte dabei von Überblicken, die den Zeitraum von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart abdeckten, bis hin zur Fokussierung ausgewählter Migrantengruppen wie der Polen in Recklinghausen-Hochlamark oder Franzosen während der Ruhrbesetzung in Essen. Ähnlich wie bei der Ausstellung Auspacken, die Migration im Zusammenhang mit dem Thema Heimat behandelte, bildete im Ruhrgebiet die Frage nach der regionalen Identität einen wichtigen Referenzrahmen. Mit der vorbereitenden Spurensuche und den Ausstellungen integrierten die Archive neue Perspektiven und Aspekte in die lokalen und regionalen Geschichtsnarrative und zeigten damit, »dass unsere Gesellschaft veränderlich ist.«44 Im Gegensatz zum Reutlinger Projekt ging es im Ruhrgebiet vor allem um die Sichtung und Neubewertung der vorhandenen Bestände – Neuerhebungen, Sammlungs- und Interviewinitiativen waren dort selten.45

43 Vgl. Klaus Wisotzky/Ingrid Wölk (Hg.): Fremd(e) im Revier!? Zuwanderung und Fremdsein im Ruhrgebiet, Essen: Klartext 2010, vgl. auch http://www.ruhr.2010.de/fre mde-im-revier 44 Klaus Wisotzky/Ingrid Wölk: »Vorwort der Herausgeber«, in: Wisotzky/Wölk, Fremd(e) im Revier!? (2010), S. 9-11, hier S. 9. 45 Das Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte, das Stadtarchiv und Stadtmuseum in einer Institution vereint, zeigte im Rahmen seiner Ausstellung Bochum – das Fremde und das Eigene in der abschließenden Abteilung Objekte und lebensgeschichtlichen Erinnerungen von sechs Einwanderern. Vgl. Nina Hennig: »Fremde – Gäste – Gastarbeiter«, in: Wisotzky/Wölk, Fremd(e) im Revier!? (2010), S. 116-119. Die Ausstellung »Die vergessenen Frauen« – Arbeitsmigrantinnen der ersten Generation im Ruhrgebiet der Stadt Dinslaken präsentierte Photographien und Interviews von fünfzehn Frauen, die als »Gastarbeiterinnen der ersten Stunde« ins Ruhrgebiet gekommen waren. Vgl. Margareta Spajic/Yasemin Yadigaroglu: »›Die vergessenen Frauen‹ – Arbeitsmigrantinnen der ersten Generation im Ruhrgebiet«, in: Wisotzky/Wölk, Fremd(e) im Revier!? (2010), S. 308-313.

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Einen eng umgrenzten thematischen Ansatz wählten zwei Ausstellungen, die unabhängig voneinander entstanden und eine ähnliche Thematik mit unterschiedlichen Konzepten präsentierten. Die kulturhistorische Ausstellung Evet. Ja – ich will! Hochzeitskultur und Mode von 1800 bis heute. Eine deutsch-türkische Begegnung46 – erstellt vom Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund in Zusammenarbeit mit dem Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim – zeigte Hochzeitskleidung, Riten und Bräuche aus der Türkei und Deutschland im Vergleich. Der Schwerpunkt lag dabei auf Kostümen des 19. Jahrhunderts und Bräuchen der Gegenwart. Dabei setzte die umfangreiche Ausstellung gleichermaßen auf Befremdung und Begegnung. Das Kultur- und Stadthistorische Museum Duisburg zeigte 2009 eine Ausstellung mit ähnlichem Thema: Heiraten alla Turka. Türkische Hochzeitsbräuche in Duisburg. Dabei knüpfte die stark lokal- und alltagsgeschichtlich konzipierte Ausstellung an die örtliche türkische Brautmoden-Industrie an und stellte türkische Hochzeitsbräuche und Rituale vor. Diese Ausstellungen suchten die Annäherung an die Migrationsgeschichte über ein allgemeines Thema und präsentierten es in seinen besonderen, interkulturellen Ausformungen. Beide Projekte setzten auf die Popularität und Attraktivität des Themas Hochzeit und verankerten es mit unterschiedlichen Schwerpunkten im deutsch-türkischen Kontext. Dabei betonten sie die Bandbreite der Variationen, um national-ethnische Stereotypisierungen zu vermeiden. Doch während die Ausstellung Evet lange kulturhistorische Traditionen und besonders hochwertige Exponate in den Vordergrund rückte und mit der Gegenüberstellung einen Perspektivwechsel anregen wollte, beleuchtete die Ausstellung Heiraten alla Turka neben der individuell-lebensgeschichtlichen Bedeutung des Ereignisses vor allem die unternehmerischen Implikationen: Brautmoden sind die Grundlage eines rasch expandierenden Wirtschaftszweigs in Duisburg mit landesweiter Bedeutung. Wirtschaftlicher Erfolg von Migranten bildete auch den Anknüpfungspunkt der Ausstellung Eiskalte Leidenschaft. Italienische Eismacher im Ruhrgebiet47, die das LWL-Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum 2009 zeigte. Die Ausstellung setzte dabei vor allem auf die Attraktivität des stark positiv besetz-

46 Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund/Reiss-EngelhornMuseum (Hg.): Evet. Ja – ich will. Hochzeitskultur und Mode von 1800 bis heute, Dortmund: Museum für Kunst und Kunstgeschichte/Mannheim: Reiss-EngelhornMuseum 2008. 47 Dietmar Osses/Anne Overbeck (Hg.): Eiskalte Leidenschaft. Italienische Eismacher im Ruhrgebiet, Essen: Klartext 2009.

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ten Themas Eiscafé. Sie präsentierte die Geschichte der italienischen Gelatieri vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart und fokussierte dabei die gängige Form der saisonalen Pendelmigration mit ihren Auswirkungen auf Sprachkompetenz, Familienleben, Bildungsniveau und Geschlechterrollen. Anhand von zeitgenössischen Medienberichten wie auch lebensgeschichtlichen Erinnerungen wurden die Stereotypen ›Einheimische‹ und ›Migranten‹ gegenübergestellt. Die Initiative für die Ausstellung kam aus Kreisen der italienischen Community in Nordrhein-Westfalen. Anlass war unter anderem die Kritik am Ansatz einer vorangegangenen Ausstellung zu italienischen Arbeitsmigranten in der Ruhrgebietsindustrie in den 1950er bis 1970er-Jahren48, die aus Sicht der Kritiker die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolge der italienischen Einwanderer nicht ausreichend gewürdigt und damit ein einseitiges Bild gezeichnet hätte. Die Kritik aufnehmend, wurde das Konzept der Ausstellung gemeinsam mit Italienern im Ruhrgebiet entwickelt. Die Basis der historischen Ausstellung bildeten Exponate von Museen und privaten Leihgebern sowie dreißig lebensgeschichtliche Interviews mit italienischen Eismachern und ihren Familienangehörigen, aber auch mit deutschen Eisdielenbesuchern, die ausschnitthaft in der Ausstellung präsentiert wurden. Die positiv besetzten Aspekte des Themas erleichterten in der Forschungsphase wie in der Ausstellungskonzeption den Zugang zu tieferen Bedeutungsebenen: Intergenerative Aspekte traditioneller Familienbetriebe, Änderungen in den Geschlechterverhältnissen, biographische Brüche und negative Aspekte der Migrationsgeschichte wurden aufgegriffen. Migranten als Kleinunternehmer bildeten auch den Schwerpunkt der Werkstattausstellung Döner, Dienste und Design. Berliner UnternehmerInnen49, die das Museum Europäischer Kulturen in Zusammenarbeit mit dem Nachbarschaftsmuseum e.V. 2009 in Berlin im Rahmen des EU-Projekts »Unternehmenskulturen in europäischen Städten« realisierte. Anlass für die Ausstellung war die gegenwärtige Kluft zwischen den weit verbreiteten gesellschaftlichen Vorurteilen gegen Migranten auf der einen Seite und der – insbesondere im lokalen Umfeld – hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung der von

48 Anke Asfur/Dietmar Osses (Hg.): Neapel – Bochum – Rimini. Arbeiten in Deutschland. Urlaub in Italien. Katalog zur Ausstellung des Westfälischen Industriemuseums Zeche Hannover, Bochum 12. Juli bis 26. Oktober 2003, Essen: Klartext 2003. 49 Rita Klages/Dagmar Neuland-Kitzerow/Elisabeth Tietmeyer (Hg.): Döner, Dienste und Design – Berliner UnternehmerInnen. Dokumentation einer Werkstattausstellung 2009/2010 (= Kleine Schriften der Freunde des Museums Europäischer Kulturen, Band 11), Berlin: Museum Europäischer Kulturen 2010.

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Migranten geführten kleinen und mittelständischen Unternehmen auf der anderen Seite. Die Ausstellung stellte anhand von Photoserien und Exponaten zwanzig von Migranten gegründete Unternehmen vor. Dabei verzichtete die Präsentation bewusst auf die Zuordnung der nationalen Herkunft, um Stereotypisierung zu vermeiden. Begleitet wurde die Ausstellung von dem Schulprojekt »Was machst du später, Yasemin? – Unternehmen Zukunft«. Schüler der Abschlussklasse einer Realschule befragten Selbstständige mit Migrationshintergrund in Berlin-Kreuzberg zu ihrer persönlichen Biographie und der Geschichte des Unternehmens. Diese Erzählungen setzen die Schüler dann im Rahmen von Videoarbeiten in Bezug zu ihren eigenen Geschichten und Zukunftsplänen. Die beiden Ausstellungen stellten Unternehmer mit Migrationshintergrund in den Mittelpunkt und erzählten bewusst auch Erfolgsgeschichten. Die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Migranten wurden zudem durch die Sichtweisen von Einheimischen beziehungsweise jüngeren Generationen gespiegelt und kontrastiert. Einen transnationalen und künstlerischen Ansatz wählte die Ausstellung Crossing Munich. Orte, Bilder und Debatten der Migration50, die das Kulturreferat der Landeshauptstadt München 2009 in Kooperation mit der LudwigMaximilians-Universität München initiierte. Ähnlich wie das Projekt Migration verstand sich auch diese Ausstellung als Verbindung von sozialwissenschaftlicher Forschung und ästhetischer Praxis und wählte daher eine eher künstlerisch gestaltete anstelle einer historisch-narrativen Präsentation: »kursorisch und beispielhaft, wobei sich in den meisten Arbeiten historische und ethnographischgegenwartsbezogene Perspektiven in unterschiedlichen Verhältnissen«51 mischten und gegenseitig hinterfragten. Vierzehn Arbeiten aus den Bereichen »Kultur«, »Ökonomie«, Politik« und »städtischer Raum« spürten Orte und Positionen des »migrantischen Protagonismus« auf und zeigten Formen und Forderungen der Aneignung und Teilhabe. Ziel der Ausstellung war es, die Perspektive der Migration als »zentrales Moment der städtischen Entwicklung« darzustellen und den Aktionen und »Re-Aktionen der hegemonialen Stadtgesellschaft im Umgang mit Migranten«52 entgegenzustellen. Crossing Munich präsentierte sich als Kunstinstallation, die mit lokalem Bezug zur Münchener Stadtgesellschaft nach neuen Formen der Darstellung der »herrschenden Verhältnisse« wie des transnationalen Diskurses suchte und auf Perspektivwechsel und neue Bilder setzte.

50 Vgl. N. Bayer et al.: Crossing Munich, vgl. http://crossingmunich.org 51 Andrea Engl/Sabine Hess: »Crossing Munich. Ein Ausstellungsprojekt aus der Perspektive der Migration«, in: Bayer et al., Crossing Munich (2009), S. 10-15, hier S. 13. 52 Ebd., S. 14.

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Der kursorische Überblick zu den Migrationsausstellungen der letzten Jahre zeigt ein facettenreiches Bild: Viele der kleineren und mittleren Ausstellungsprojekte beziehen sich auf den engen Zeitraum der Nachkriegszeit. Lokal und regional orientierte Ausstellungen nehmen dabei zumeist eine historische, an langfristigen Entwicklungen orientierte Perspektive ein und thematisieren vor allem die Arbeitsmigration seit den 1950er Jahren im jeweiligen lokalen oder regionalen Kontext. Wichtige Ziele der historischen Ausstellungen bestehen im Sichtbarmachen der Zuwanderer und in der gesellschaftlichen Anerkennung durch das Ausstellen ihrer Geschichte als Teil einer gemeinsamen Geschichte. Andere Ausstellungsprojekte wählen einen thematischen Zugang und versuchen allgemeine Themen wie Heirat oder Arbeit aus vielfältigen Perspektiven, einheimischen wie migrantischen, zu beleuchten. Die meisten Projekte verfolgen in der Zusammenarbeit mit Zuwanderern bei der Ausstellungskonzeption und Realisierung partizipative und integrative Ansätze. Bei Ausstellungen und Sammlungen zur Migrationsgeschichte rückt oft die Alltagsgeschichte in den Vordergrund. Viele Ausstellungen nutzen lebensgeschichtliche Erinnerungen von Zuwanderern, um deren Perspektive und Erfahrungen sichtbar zu machen und ihrer Geschichte eine Stimme zu geben. Damit geraten die verschiedenen, interkulturell auch divergierenden Bedeutungsebenen von Objekten zunehmend in den Blick. Das Ausloten unterschiedlicher Deutungen und Bedeutungen erfordert eine enge Zusammenarbeit von Einheimischen und Zugewanderten – und die Bereitschaft aller Seiten zu einem Perspektivwechsel. Damit stellen sich Fragen nach dem Verhältnis von Geschichten und Geschichte einerseits und nach neuen Formen einer multiperspektivischen Erinnerung andererseits. Mit Mitteln der künstlerischen Darstellung wird in einigen Ausstellungen versucht, neue Formen der Annäherung an das Phänomen zu finden und alte Kategorien im Sinne einer transnationalen Perspektive in Frage zu stellen. Die Vielfalt der Ansätze spiegelt die Vielschichtigkeit des Themas wie auch der Thematisierten und Agierenden wider. Vor allem im lokalen und regionalen Raum arbeiten die Ausstellungsmacher oft höchst sensibel in und mit den jeweiligen sozialen Milieus und richten ihre konzeptionellen und expositorischen Ansätze an diesen aus. Die Dynamik der Globalisierung und des demographischen Wandels stellt hohe Anforderungen an die Museen, die sich in zunehmendem Maße auf ein sich veränderndes Publikum einstellen und mit ihm zusammen agieren müssen, um sich als repräsentativ und zukunftsfähig zu erweisen. Die Herausforderung für die Museen besteht in einem Perspektivwechsel, der die ältere und jüngere Geschichte unter neuen Blickwinkeln neu erzählt.

Die Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration Migrationsgeschichte aus NGO-Perspektive C ORNELIA K OGOJ , G AMZE O NGAN

1. I MPULS Der Impuls zu einer Ausstellung über die Arbeitsmigration anlässlich des 40jährigen Jubiläums des 1964 abgeschlossenen Anwerbeabkommens zwischen Österreich und der Türkei kam nicht von offizieller Stelle, sondern von einem, der selbst Arbeitsmigrant war: Cemalettin Efe war 1973 im Kindesalter nach Vorarlberg gekommen. Am Beginn des Katalogs zur Ausstellung Gastarbajteri schreibt er, dass er als Kind »in eine Einsamkeit [verfallen sei], die mehrere Jahre dauern sollte.« Und er meint, dass jeder, der sich »in einem Einwanderungsprozess befunden hat, […] eine ähnliche Phase durchlebt haben«1 dürfte. Seine Kindheit sei vom Leben in Arbeiterbaracken und von sozialer Ghettoisierung geprägt gewesen, vom Gefühl der Abwertung als Mensch zweiter Klasse. Später, als Arbeiter und politischer Mensch habe ihn immer wieder das dichotomische Verhältnis von Diskriminierung und Gleichheit beschäftigt. Sein politisches Engagement zugunsten besserer Lebensbedingungen für eingewanderte Arbeiter und Arbeiterinnen ließ Cemalettin Efe mit der Liste »Demokratie für Alle« in die Vollversammlung der Wiener Arbeiterkammer einziehen. Den ersten Impuls zur Entwicklung seiner Idee gaben ihm ›GastarbeiterAnekdoten‹, tragikomische Erlebnisse und Erfahrungen, die er einer breiten Öf-

1

Cemalettin Efe: »Am Anfang waren die Anekdoten«, in: Hakan Gürses/Cornelia Kogoj/Sylvia Mattl (Hg.), Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration, Wien: Mandelbaum 2004, S. 20-23, hier S. 20.

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fentlichkeit zugänglich machen wollte. Diese Erzählungen und das Anliegen, das Leben der eingewanderten Menschen als gleichermaßen selbstverständlichen wie wesentlichen Teil der Geschichte Österreichs darzustellen, führten schließlich dazu, dass Cemalettin Efe mit der Idee, eine Ausstellung zur Geschichte der Arbeitsmigration durchzuführen, an die Initiative Minderheiten herantrat. Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die 40 Jahre zuvor in ihren Herkunftsländern von der österreichischen Wirtschaft aktiv angeworben worden waren, sowie deren Familien und Nachkommen sollten durch diese Ausstellung jene Anerkennung erhalten, die ihnen über so viele Jahre verwehrt geblieben war.

2. B ETEILIGTE Nun war es an der Initiative Minderheiten – einer kleinen NGO, die für eine minderheitengerechte Gesellschaft eintritt, in der individuelle Lebensentwürfe unabhängig von Merkmalen wie ethnischer, sozialer oder religiöser Zugehörigkeit, sexueller Orientierung und Behinderung als gleichberechtigt und gleichwertig anerkannt sind, und die sich in diesem Sinne als Plattform, Netzwerk und Vermittler für Minderheiten in Österreich versteht –, dieses Vorhaben umzusetzen, was eine große Herausforderung im Hinblick auf Leitung, Koordination und Organisation bedeutete. Trotz zahlreicher offener Fragen zur Finanzierung dieses großen Projekts, aber auch zum Konzept und zum Ausstellungsort war für die Initiative Minderheiten eines von Anfang an klar: Die Geschichte der Arbeitsmigration nach Österreich sollte aus der Sicht ihrer Protagonisten, der Arbeitsmigranten und -migrantinnen, selbst erzählt werden, und diese sollten auch in der Produktion der Ausstellung eine aktive Rolle spielen. Nachdem der mühsame Weg bis zur Sicherstellung der Finanzierung zurückgelegt war,2 lud die Initiative Minderheiten Personen aus den Bereichen Wissenschaft, Aktivismus und Kunst ein, gemeinsam eine historische Ausstellung über die Arbeitsmigration nach Österreich zu konzipieren. Um bereits vorhandenes Wissen und Erfahrungen zu bündeln, wurden insbesondere Personen mit Migra-

2

Die Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration wurde durch folgende Stellen gefördert: Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE); Wien Kultur (MA 7); Wiener Integrationsfonds; Bundeskanzleramt Kunst; Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (BM:BWK); Landesjugendreferat Wien; Arbeiterkammer Wien; Wirtschaftskammer Österreich (WKO); Österreichischer Gewerkschaftsbund (ÖGB); Demokratie für Alle (DFA); Bezirksvorstehung 7. Bezirk; Presseinformationsdienst der Stadt Wien (PID).

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tionsbiographien sowie Einrichtungen von und für Migranten und Migrantinnen angesprochen, die sich seit Jahren praxisorientiert, theoretisch oder künstlerisch mit dem Thema Migration auseinandergesetzt hatten. Diese Form der Vernetzung und des breit angelegten Wissenstransfers aus den Bereichen politische Praxis, Aktivismus, Kunst und Theorie brachte unterschiedliche Blickwinkel in die Recherche, Präsentation und Vermittlung ein. Auch der Ausstellungstitel sollte einen Perspektivenwechsel markieren: Mit dem serbokroatischen Lehnwort »Gastarbajteri« wurden im ehemaligen Jugoslawien die Arbeitskräfte bezeichnet, die seit den 1950er Jahren nach Deutschland und seit 1964 nach Österreich auswanderten. »Engagierte Initiative meets Museum«3, so bringt der Publizist und Historiker Wolfgang Kos, seit 2003 Direktor des Wien Museums, im Ausstellungskatalog die ungewöhnliche Kooperation auf den Punkt. Die Initiative Minderheiten hatte schon zwei Jahre lang an der Ausstellung gearbeitet, ohne dass noch ein Ausstellungsort definitiv feststand, als die Photo- und Filmkünstlerin Lisl Ponger die Verbindung zwischen der kleinen NGO und dem großen Museum herstellte. Der Wunschort der Initiative Minderheiten war zunächst die damals noch im Bau befindliche neue Hauptbücherei am Wiener Gürtel gewesen, die, an der Schnittstelle zwischen Innen- und Außenbezirken gelegen, nach ihrer Eröffnung im Jahr 2003 sehr intensiv von Jugendlichen der sogenannten zweiten und dritten Generation frequentiert werden sollte. Anders als bei repräsentativen Museen wäre hier keine Schwellenangst als Hindernis für das potentielle Ausstellungspublikum zu befürchten gewesen. Nach der Fertigstellung des Gebäudes erwiesen sich die Räume allerdings als zu eng für die eigentliche Ausstellung (in der Hauptbücherei wurde dann immerhin die Kunstausstellung Gastarbajteri – Medien und Migration gezeigt). Für das Angebot des Wien Museums, die Ausstellung in seinen Räumen zu zeigen, sprach das damit zum Ausdruck gebrachte Interesse an dem Thema und die hohe öffentliche und mediale Aufmerksamkeit, die einer Ausstellung im Wien Museum entgegengebracht werden würde. Schlussendlich haben beide – das Wien Museum und die Initiative Minderheiten – das Wagnis einer Zusammenarbeit auf sich genommen, und gemeinsam konnten sie mit der Ausstellung Gastarbajteri einen großen Erfolg erzielen.

3

Wolfgang Kos: »Winken zum Abschied, Winken zum Aufbruch. Vorwort und Dank (›The Making of‹)«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 12-16, hier S. 15.

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3. K ONZEPT Dem Recherchekonzept zur historischen Dokumentation der Arbeitsmigration nach Österreich lagen zahlreiche, teils kontroversiell geführte Diskussionen zugrunde. In einem ersten, von Anna Kowalska erstellten Konzept, das den Diskussionsstand vom Ende des Jahres 2001 festhielt, hieß es: »Im Vordergrund soll die Perspektive der MigrantInnen selbst stehen. Ihre Sicht auf Österreich, ihr Leben und ihre Arbeit soll zentral sein.« Es sollte vermieden werden, die ›offizielle‹ Geschichte der Migration aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft zu reproduzieren und somit die eigentlichen Protagonisten dieser Geschichte auf eine Statistenrolle zu reduzieren. Eine ›Gegenerzählung‹ sollte vielmehr die Lebensrealität der Migranten und Migrantinnen in den Mittelpunkt stellen und zeigen, mit welchen Strategien sie auf die in Österreich vorgefundenen Strukturen reagierten. Zu diesem Zeitpunkt herrschte im Projektteam weitgehende Übereinstimmung in folgenden Grundsätzen: • Die Geschichte der Arbeitsmigration nach Österreich kann nur fragmentarisch

dargestellt werden. Die Vielfalt von Informationen soll Vorrang vor dem Anspruch auf Vollständigkeit haben. Das Thema soll in all seiner Widersprüchlichkeit gezeigt werden. • Die Verfestigung von Klischees sowie folklorisierende und exotisierende Darstellungen sind zu vermeiden. Bestehende Bilder sollen nicht verstärkt, sondern dekonstruiert oder zumindest in Frage gestellt werden. • Die Maxime, die Perspektive der Migranten und Migrantinnen in den Vordergrund zu stellen, leitet die Recherche an, ist allerdings nicht zur Gänze realisierbar. Denn schon die Annahme, man könne von ›den Migranten‹ sprechen, ist trügerisch. Daher sollen das Wissen um diese Unmöglichkeit ebenso wie der Abschied vom Anspruch auf eine neutrale Darstellung und die permanente kritische Hinterfragung der eigenen Arbeit für die Recherche richtungweisend sein. • Die Ausstellung soll keine Geschichte, sondern Geschichten erzählen. Diese sind so zu vermitteln, dass sich aus ihnen nicht nur der Beginn und die Entwicklung der Arbeitsmigration ablesen lassen, sondern auch die Art und Weise, wie die Akteure und Akteurinnen mit der Migration umgegangen sind. Die Geschichte der Arbeitsmigration hat mehrere Komponenten: Dazu gehören neben der Geschichte der Individuen auch die der Herkunfts- und Einwanderungsländer, denn dort sind die Migrationsgründe zu finden. Mehr noch, Migrationsgeschichte beinhaltet auch die Geschichten derer, die von den eingewanderten Arbeitskräften profitieren und die sich deren Situation zunutze ma-

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chen, ebenso wie die Geschichte des Überlebenskampfes der Migranten und Migrantinnen, der sich vielfach als Widerstand gestaltet.

4. O RTE

DER

E RINNERUNG

Als roten Faden, entlang dessen die Geschichten erzählt werden sollten, sowie als Leitmotiv für die Strukturierung des vorhandenen Materials und für die weiterführenden Recherchen einigte man sich auf »Orte der Erinnerung«.4 Diese stehen für Orte, an denen sich die vielfältigen Geschichten der Arbeitsmigration innerhalb bestimmter Zeithorizonte ereignet haben; Orte, die für die Migranten und Migrantinnen von Bedeutung waren oder sind; Orte, an denen in bestimmten Momenten das Leben eine entscheidende Wendung genommen hat, Entschlüsse getroffen oder mitunter auch Dinge passiert sind, über die viel zu lange geschwiegen wurde wie etwa über die entsetzlichen Arbeitsbedingungen, die die Ausstellung am Beispiel einer Fischfabrik dokumentiert. Und es gibt auch Orte, die das Ableben im Einwanderungsland und gleichzeitig einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Arbeitsmigration markieren, wie jene Wiese in WienLiesing, die 2004 für den schließlich erst vier Jahre später eröffneten islamischen Friedhof vorgesehen war. Die Auswahl der Orte und die Rekonstruktion ihrer Geschichten, die anhand der Biographien einzelner Personen erfolgten und auch die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche in Österreich ebenso wie in den Herkunftsländern einbezogen, wurden den Mitgliedern des Rechercheteams überlassen. Somit waren die recherchierenden Personen auch die Autoren und Autorinnen ihrer ›Geschichten‹. Während der – die einzelnen Themenbereiche überschreitenden – Recherche stießen wir auf Orte, die sozusagen auf der Hand lagen, und auch auf solche, die nur in einem Halbsatz eines Interviews oder eines Zeitungsberichts kurz auftauchten. Stand der Ort einmal fest, wurden die weiteren Recherchen von folgenden Fragen angeleitet: Was hat sich mit Bezug auf Arbeitsmigration an diesem Ort abgespielt? Welches Ereignis hat diesen Ort für die Erzählung relevant gemacht? Zu welchem Zeitpunkt oder in welcher Zeitspanne fand dieses Ereignis statt? Wofür stand der Ort vor dem Zeitpunkt des Ereignisses und wofür steht er heute? Im Mittelpunkt der Recherche standen die Krisenmomente, die mit diesen Orten verknüpft waren. So sind elf Stationen entstanden, die im Zeitraum

4

Diese Idee verdankt die Ausstellung Simonetta Ferfoglia von der Künstlergruppe gangart, die gemeinsam mit Heinrich Pichler für die Gestaltung von Gastarbajteri verantwortlich war.

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von 1964 bis 2004 unterschiedliche Themenbereiche widerspiegeln. Dabei wurden weder Erfolgsgeschichten erzählt noch Bilder systematischer Unterdrückung gezeigt. Die Stationen dokumentierten vielmehr, wie die Migrantinnen und Migranten durch das permanente Aushandeln neuer Rahmenbedingungen danach strebten, Normalität herzustellen.

5. G ESELLSCHAFTSPOLITISCHE Z IELE Die Integration einer Gruppe in eine Gemeinschaft erfolgt durch die Ausstattung mit politischen und sozialen Rechten, aber auch durch die Aufnahme in das kollektive Gedächtnis. Im Jahr 2000, als die Initiative Minderheiten mit der Konzeption des Projekts Gastarbajteri begann, war ersteres für Arbeitsmigranten und -migrantinnen in Österreich nicht in vollem Ausmaß, letzteres überhaupt nicht der Fall. Während etwa in anderen westeuropäischen Städten schon seit den 1990er Jahren Migrationsausstellungen stattfanden,5 gab es in Österreich bis auf eine Ausnahme6 aus dem Jahr 1996 keine Initiativen in diese Richtung. Es war an der Zeit, die Geschichte der Arbeitsmigration als Teil der österreichischen Geschichte zu begreifen und diese in das Gedächtnis der Aufnahmegesellschaft einzuschreiben – in diesem konkreten Fall durch eine historische Ausstellung. Die Tatsache, dass Österreich in den 1960er Jahren aktiv Arbeitskräfte aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei angeworben hatte, war insbesondere jungen Menschen nicht mehr bekannt und die wissenschaftliche Aufarbeitung der Arbeitsmigration nur einer kleinen Gruppe zugänglich. Unser Anspruch war es daher, dass diese Geschichte vor allem von denjenigen geschrieben werden sollte, die ihre Protagonisten und Protagonistinnen waren: von den Migrantinnen und Migranten selbst. Diese kamen in den dominan-

5

Die Ausstellung The Peopling of London im Museum of London im Jahr 1993 markierte den Beginn von Migrationsausstellungen, dem eine Ausstellungsserie im Stadtmuseum Amsterdam und Ausstellungen in verschiedenen deutschen Städten folgten wie etwa 40 Jahre Fremde Heimat. Einwanderung aus der Türkei nach Köln (Köln, 2001), Migrationsgeschichte(n) (Berlin, 2003), Geteilte Welten – Einwanderer in Hamburg (Hamburg, 2003). Vgl. Sylvia Mattl/Peter Payer: »Wien: Der lange Weg zur ›multikulturellen Weltstadt‹«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 99104, hier S. 99f.

6

Vgl. Historisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien, Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1996.

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ten öffentlichen Diskursen und medialen Bildern in erster Linie als Objekte der Repräsentation vor, während sie als Subjekte weitgehend marginalisiert blieben. Gastarbajteri sollte daher eine ›Gegengeschichte‹ aus der bislang vernachlässigten Perspektive der Migranten und Migrantinnen produzieren. Ebenso wichtig war das Ziel, den angeworbenen Arbeitsmigranten und -migrantinnen und ihren Familien durch die Ausstellung jene Anerkennung zu vermitteln, die ihnen so lange verwehrt geblieben war. Und nicht zuletzt sollte es in der Ausstellung auch darum gehen, politische Standpunkte zu vertreten und Forderungen zu stellen, wie etwa die Forderung nach einer Änderung des Ausländerbeschäftigungsgesetzes.

6. S TRUKTUR Das Gesamtprojekt Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration setzte sich schließlich aus mehreren Teilen zusammen. Die gleichnamige historisch-dokumentarische Ausstellung wurde vom 22. Jänner bis 11. April 2004 im Sonderausstellungsraum und im Atrium des Wien Museums am Karlsplatz gezeigt.7 Eine weitere Ausstellung, Gastarbajteri – Medien und Migration8, war zeitgleich in der Hauptbücherei am Gürtel zu sehen. Die Ausstellungen waren von einer Filmreihe begleitet, die in Kooperation mit dem Filmarchiv Austria im Metro Kino vom 26. Jänner bis zum 3. Februar 2004 gezeigt wurde.9 Gemeinsam mit der Migrantinnenberatungsstelle Peregrina wurde der Film Gute Arbeit10 produziert. Ein umfangreiches Vermittlungsprogramm, das in Zusammenarbeit mit dem Büro trafo.K gestaltet wurde, sowie eine Reihe von Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen, Lesungen, Buchpräsentationen und zwei Disco-Abende bildeten das weitere Rahmenprogramm. Dazu kam die Begleitpublikation zur Ausstellung.11

7

Kuratorinnen: Sylvia Mattl-Wurm und Cornelia Kogoj; Rechercheleitung: Gamze Ongan; Künstlerische Konzeption: gangart; Autoren und Autorinnen: Arif Akkılıç, Vida Bakondy, Ljubomir Bratiü, Hanna Esezobor, Sylvia Mattl-Wurm, Dilman Murado÷lu, Peter Payer, Thomas Schmidinger und Renée Winter.

8

Kuratorinnen: Martina Böse und Cornelia Kogoj; Künstler und Künstler: ùule Attems, Fatih Aydo÷du, dezentrale medien, Mehmet Emir, Archiv Ali Gedik, Anna Kowalska und Hubert Lobnig.

9

Kuratiert von Robert Buchschwenter.

10 Regie: Karin Macher nach einem Konzept von Sigrid Awart und Ruth Mader. 11 Vgl. Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004).

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6.1 Wien Museum Die historisch-dokumentarische Ausstellung im Wien Museum erzählte anhand einer Timeline und elf chronologisch angeordneter Stationen die Geschichte der Arbeitsmigration nach Österreich. Jede Station nahm einen Ort zum Ausgangspunkt, an dem zu einem bestimmten Zeitpunkt ein für die Migrationsgeschichte wesentliches Ereignis stattfand. • Narmanlı Han in Istanbul markierte den Beginn der vierzigjährigen Geschichte















der Arbeitsmigration nach Österreich und thematisierte die Anwerbung. In diesem Gebäude im historischen Stadtviertel Beyo÷lu wurde 1964 die österreichische Anwerbekommission eröffnet. Die Darstellung der sogenannten Gastarbeiterroute wurde in der Timeline mit dem Jahr 1972 markiert, als der Grenzübergang Spielfeld/Straß für eine mehrspurige Abfertigung ausgebaut wurde. Die Gründung der Gutliü OHG im Jahr 1973 in der Wachaustraße 21 beim Wiener Mexikoplatz, einem Stadtteil, in dessen Nähe viele Zuwanderer Geschäfte eröffnet haben, warf das Thema der selbstständigen Erwerbstätigkeit auf. Die Wohnsituation der Arbeitsmigranten und -migrantinnen wurde am Beispiel der ehemaligen Arbeitersiedlung Walddörfl in Ternitz (Niederösterreich) veranschaulicht, die im Jahr 1979 teilweise abgerissen und mit ›Gastarbeiterfamilien‹ neu besiedelt wurde. Anhand der ehemaligen Fischfabrik C. Warhanek in Wien-Simmering wurde das Thema Arbeit erörtert, wobei der Schwerpunkt auf die oft vernachlässigte Geschichte der Frauenarbeitsmigration gelegt wurde. Der Ägyptische Club, in dem 1987 der Verein der Zeitungskolporteure gegründet wurde und dort ein Büro unterhielt, bildete den Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung mit den prekären Arbeitsverhältnissen von Kolporteuren und ihrem politischen Kampf um soziale Absicherung. Im Jahr 1993 demonstrierten verschiedene Migranten-Gruppen anlässlich des neuen Aufenthaltsgesetzes am Herbert-von-Karajan-Platz in der Wiener Innenstadt. Diese Demonstration war der Ausgangspunkt für das Thema Selbstorganisation und Widerstand. Die Rückkehr des ersten Pensionisten im Jahr 1994 nach Adatepe, einem kleinen Dorf in der Marmara-Region der Türkei, stellte einen weiteren Meilenstein in der Migrationsgeschichte dar. Das Thema Herkunft und Rückkehr wurde am Beispiel von Adatepe aufgearbeitet, aus dem über die Hälfte der Bewohner und Bewohnerinnen nach Österreich emigrierten.

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• Die Lokalszene, die sich am zentral gelegenen Wiener Naschmarkt um das

Jahr 1995 etabliert hatte und seither zum urbanen Flair der Großstadt wesentlich beigetrug, stand für das Thema Migration und Gastronomie. • Rechtliche und polizeiliche Regulierungsbestrebungen für Aufenthalt und Einreise, wie sie auch manche Medien forderten, wurden in Zusammenhang mit dem neuen Sitz der Fremdenpolizei dargestellt. Die Behörde übersiedelte im Jahr 2002 in das Gebäude des Schubhaftgefängnisses am Hernalser Gürtel. • Eine Wiese in Wien-Liesing, auf der 2004 ein islamischer Friedhof entstehen sollte, markierte in der Timeline einen neuen Abschnitt in der Geschichte der vermeintlich Fremden, die in Anlehnung an die berühmte Formulierung Georg Simmels heute kommen und – trotz mehrheitlich entgegengesetzter Bestrebungen der Aufnahmegesellschaft – morgen bleiben.12 Eine großformatige Photographie, die den ausgewählten Ort in seinem gegenwärtigen Erscheinungsbild zeigte, sowie die Nennung des mit dem Ort verknüpften konkreten Ereignisses und der betreffenden Jahreszahl schufen für das Publikum den Einstieg in die jeweilige Ausstellungsstation und in deren Thematik. Ein auf biographischen Interviews und Archivaufnahmen basierendes Video führte in das Thema ein, das dann auf einer Stellwand mit Dokumenten und Photographien vertieft wurde. Die Ausstellung bestand aus einer Kombination von biographischen Interviews und Materialien aus Privatbeständen (wie etwa Photographien, Ausweise und Briefe) sowie aus Dokumenten, die die strukturellen Bedingungen veranschaulichten (Gesetzestexte, Verordnungen und administrative Anweisungen, wie zum Beispiel der offizielle Briefverkehr zwischen der Österreichischen Wirtschaftskammer und der Anwerbestelle in Istanbul). Dieses konzeptionelle Narrativ war wichtig, um die Ausstellung nicht auf Einzelschicksale zu reduzieren, sondern die Strukturen und historischen Kontexte zu zeigen, die dem bei der Anwerbung angestrebten Rotationsprinzip zugrunde lagen. Im Zentrum der Ausstellung standen also die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf die Menschen. Auf der Timeline, die auch auf der gestalterischen Ebene als strukturierendes Element diente, wurden relevante gesetzliche und politische Rahmenbedingungen eingezeichnet sowie wichtige Ereignisse und statistische Daten vermerkt. Ebenfalls markiert wurden Ereignisse, die die Entwicklung der Arbeitsmigration

12 Vgl. Georg Simmel: »Exkurs über den Fremden«, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (= Gesamtausgabe, Band 11), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 764-771, hier S. 764.

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in den jeweiligen Herkunftsländern beeinflussten, sowie Reaktionen der Migranten und Migrantinnen auf die politischen Verhältnisse (Vereinsgründungen, Selbstorganisationen, Publikationen, politische Forderungen etc.). Insbesondere die im Ausstellungsteam vertretenen Aktivisten und Aktivistinnen mit Migrationsbiographien ermöglichten den Zugang zu Informationen über Selbstorganisationen und deren Aktivitäten, die oftmals keinen Platz in der ›offiziellen‹ Geschichtsdarstellung haben.

Abbildung 1: Ansicht der Ausstellung Gastarbajteri, Wien Museum 2004

6.2 Hauptbücherei am Gürtel Im zweiten Ausstellungsteil Medien und Migration in der Hauptbücherei am Gürtel waren künstlerische Arbeiten zu sehen, die sich mit der medialen Repräsentation des Themas Migration befassten. Ihre Platzierung in der Bibliothek ermöglichte allen Bibliotheksnutzern eine unmittelbare Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten. Thematisch widmeten sie sich zum einen der vielfältigen Nutzung verschiedener Kommunikationsmittel zur Aufrechterhaltung von transnationalen Kontakten, zum anderen verdeutlichten sie, welche Bedeutung Massenmedien für Migranten und Migrantinnen bei der Herstellung von Öffentlichkeit haben.

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Mehmet Emir und Anna Kowalska befassten sich in ihren Arbeiten mit transnationalen Kommunikationsmitteln. Das Künstlerkollektiv dezentrale medien, das damals bereits seit mehreren Jahren mit jungen Migranten und Migrantinnen arbeitete, präsentierte Videos, in denen Jugendliche ihre Lebensumstände thematisierten. Eine ganz andere Aneignung von Öffentlichkeit zeigte Hubert Lobnigs Arbeit Der Sammler Šivomir. Die sprachliche Konstruktion von nationaler Zugehörigkeit und Ideologie stand im Brennpunkt von Fatih Aydo÷dus Soundarbeit. ùule Attems wiederum setzte sich in ihrer Installation mit der Erfahrung von Fremdheit und deren Repräsentation in Briefen auseinander. Und das private Zeitungsarchiv des kurdischen Vorarlbergers Ali Gedik zeigte ca. 500 Zeitungsausschnitte aus österreichischen und türkischen Printmedien, die im Zeitraum von 1984 bis 1993 gesammelt worden waren.13 Auf die Arbeiten von Mehmet Emir und Ali Gedik soll weiter unten näher eingegangen werden.

7. S CHWERPUNKTE 7.1 Wo alles begann: Anwerbestelle Narmanlı Han Die erste von elf Stationen der Ausstellung war thematisch in Istanbul angesiedelt: Narmanlı Han – so heißt das historische Gebäude aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Istanbuler Jugendstilviertel Beyo÷lu – markiert symbolisch den Beginn der in der Ausstellung erzählten Geschichte: Hier war in den 1960er Jahren die österreichische Anwerbekommission untergebracht. Im Jahr 1964, nach der Unterzeichnung des Abkommens über die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte und deren Beschäftigung in Österreich zwischen der Republik Österreich und der türkischen Republik, nahm Türkiye´de Görevli Avusturya øúçi Alma Komisyonu (die österreichische Anwerbekommission in der Türkei) im zweiten Stock dieses Gebäudes ihre Arbeit auf. Schon seit 1962 konnten Arbeitskräfte aus der Türkei durch eine Überbrückungsvereinbarung über die Österreichische Außenhandelsstelle in Istanbul angeworben werden. Doch erst die Einrichtung einer aktiven Anwerbekommission vor Ort machte die gezielte Rekrutierung sowie die Kontrolle und Regulierung der Arbeitsmigration aus der Türkei möglich. Aus Einsparungsgründen wurden im August 1968 die Kommissionen in Istanbul und Belgrad aufgelassen. Die Anwerbung sollte über die Österreichische

13 Vgl. Martina Böse/Cornelia Kogoj: »Transnationale Medien und Kommunikation«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 105-111, hier S. 105f.

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Außenhandelsstelle abgewickelt werden. Die Entscheidung wurde jedoch 1969 auf Grund der Einwände des türkischen Arbeitsministeriums und des steigenden Bedarfs an Arbeitskräften rückgängig gemacht und es wurden in Narmanlı Han wieder zwei kleine Räume gemietet. 1970 übersiedelte die Kommission in ein von der deutschen Verbindungsstelle zur Anwerbung verlassenes Haus in Serçe Sokak, einer Handwerkergasse im Hafenviertel Karaköy, die in unmittelbarer Nähe des türkischen Arbeitsamtes lag. Auch hier ließ die Infrastruktur zu wünschen übrig. Es gab kein Wartegelände für die etwa 400 täglich vorsprechenden Bewerber und Bewerberinnen und keine ›Sammelstelle‹ für diejenigen, die zur Abfahrt bereit waren. In den Werkstätten von Serçe Sokak etablierten sich Photographen, Übersetzer und ›Vermittler‹, die gegen Bezahlung die notwendigen Formalitäten erledigten oder es zumindest vorgaben. Die Schilderungen von Zeitzeugen, die das Geschehen um die Anwerbung sowohl in Narmanlı Han, als auch später in Serçe Sokak beobachtet haben, sprechen von einem enormen Zulauf zum ›Tor zum goldenen Westen‹. Der lange und aufreibende bürokratische Weg war der Eintrittspreis. Bis zur endgültigen Schließung im Jahre 1993 war die Anwerbekommission noch an zwei weiteren Orten angesiedelt.

Abbildung 2: Anwerbeverträge mit der Türkei aus dem Jahr 1964 und mit Jugoslawien aus dem Jahr 1966 (Gastarbajteri, Wien Museum 2004)

Zum Zeitpunkt der Ausstellung im Jahre 2004 wohnten in dem mittlerweile 170 Jahre alten Haus nur mehr eine alte Frau mit ihren fünfzig Katzen und der damals 98-jährige Hausmeister Reúit ùahin, der für das einleitende Video inter-

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viewt wurde. Die Räume der österreichischen Anwerbekommission standen leer. Auf Grund eines Rechtsstreits zwischen den Hauseigentümern und dem Amt für Denkmalschutz war die Zukunft des mittlerweile einsturzgefährdeten Hauses ungewiss. Die Aufgabe der Anwerbekommission bestand in der Beschaffung türkischer Arbeitskräfte in Zusammenarbeit mit den nationalen Arbeitsmarktbehörden. Nach Einlangen des Firmenauftrags aus Wien beauftragte die Anwerbekommission ihrerseits das türkische Arbeitsamt, innerhalb von zwei Wochen Arbeitskräfte vorzuschlagen. Dieses suchte mögliche Kandidaten und Kandidatinnen aus den langen Listen arbeitsloser Personen nach bestimmten Kriterien wie Alter, berufliche Qualifikation und Gesundheit aus und schickte diese zur Anwerbekommission nach Istanbul. Die Kommission stellte ihrerseits fest, ob die Bewerber und Bewerberinnen die Voraussetzungen für die Beschäftigung in Österreich erfüllten, insbesondere ob ihre berufliche und gesundheitliche Eignung für den angebotenen Arbeitsplatz wirklich gegeben war. Bei den fachlichen Eignungstests waren oft Kommissions- oder Firmenvertreter anwesend. Ein Teil der Gesundheitsuntersuchungen wurde von einer türkischen Behörde durchgeführt, die Kosten trugen der Arbeiter oder die Arbeiterin. Die abschließende Stuhl- und Eignungsuntersuchung nahmen Ärzte der Kommission vor und bei Tauglichkeit wurde ein Infektionsfreiheitsschein ausgestellt. Während des gesamten Ablaufs kam jeder Arbeiter fünfmal in die Kommission. Die Kommission war ebenso zuständig für die Organisation und Regelung der Reisen der Angeworbenen nach Österreich. Zur Zeit der sogenannten Frühjahrsanwerbung – wenn von Unternehmen eilige Forderungen wie etwa »Schickt uns 500 Arbeiter!« eintrafen – ist in den Unterlagen der Kommission, die sich im Archiv der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) befinden, von »enormer Verwaltungsarbeit« die Rede. Konkret bedeutete dies, dass Verträge übersetzt, Züge der Österreichischen Bundesbahnen bestellt, Plätze reserviert, Transportlisten erstellt, Reiseverpflegung organisiert, Briefe an Schaffner geschrieben werden mussten etc. Der Transport der abfahrbereiten Arbeiter und Arbeiterinnen wurde nach der Gruppengröße organisiert. Ab 70 Personen wurden bei der türkischen Bahnverwaltung eigene Waggons bestellt. Zur Zeit der Frühjahrsanwerbung zwischen März und Mai wurden ›Sonderzüge‹ organisiert. Die Bahnfahrt dauerte zwei volle Tage. Vertreter der von der Wirtschaftskammer gegründeten Arbeitsgemeinschaft für die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte und der Firmen holten die Arbeiter am Wiener Südbahnhof ab. Die Weiterfahrt in die Bundesländer organisierte die Arbeitsgemeinschaft in Kooperation mit einem Reisebüro.

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Auch die Entsendeländer zeigten Interesse an der Regulierung der Arbeitsmigration. Es ging vor allem um die gezielte Reduzierung der Arbeitslosenzahlen und um die Steigerung des Devisenvolumens durch die Arbeitsmigranten und -migrantinnen. Sie kritisierten die Praktiken der Anwerbeländer – vor allem die niedrigen Lohnkosten der Firmen oder illegale Anwerbungen – und drohten mit der Einstellung der Vermittlung von Arbeitskräften. Die sogenannte namentliche Anwerbung, bei der Verwandte und Bekannte der schon in Österreich beschäftigten Arbeitskräfte ins Land geholt wurden, wurde je nach innenpolitischer Lage immer wieder eingeschränkt oder aufgehoben. Auch die Selbstanwerbung der Firmen, bei der alle Kosten die Arbeitnehmer trugen, war nicht sehr gern gesehen. 7.2 Herkunft und Rückkehr: Adatepe Adatepe ist ein kleiner Ort in der westtürkischen Provinz Adapazarı, der in den 1940er Jahren besiedelt und 1949 als Gemeinde anerkannt wurde. Nach mehreren Überschwemmungen in den 1950er Jahren brach in Adatepe eine Sumpffieberepidemie aus. Die Folgen waren eine massive Verarmung der Bauern und Landflucht. Als 1964 ein Vertreter der österreichischen Baufirma Kallinger nach Adatepe kam, um Arbeitskräfte anzuwerben, ergriffen die Männer und Frauen die Chance, durch Beschäftigung im Ausland eine Existenz für ihre Familien aufzubauen. Von den rund 3.000 Einwohnern, die heute in Adatepe registriert sind, leben zwei Drittel im Ausland, ein Drittel davon in Wien und Umgebung. Somit ist in Adatepe keine einzige Person anzutreffen, die keine Verbindung zu Österreich hat. Entweder haben sie selbst in Österreich gearbeitet, oder sie haben dort Familienangehörige und Verwandte. Ihre Erzählungen über Österreich sind ambivalent: in ihnen drücken sich einerseits Zufriedenheit über die finanziellen Errungenschaften und einen gesicherten Lebensabend, aber auch Enttäuschung und schmerzvolle Erfahrungen aus. Die Spuren der Migration sind in Adatepe allgegenwärtig: nicht nur in den Erinnerungen derer, die schon dort waren, oder in den Vorstellungen derer, die noch nie in Österreich waren, sondern auch in der Ökonomie, in der Architektur und im Alltag.14

14 Vgl. Dilman Murado÷lu/Gamze Ongan: »Herkunft und Rückkehr 1994. Adatepe, Türkei«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 143-145.

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Abbildung 3: Station Herkunft und Rückkehr 1994, Adatepe, Türkei (Gastarbajteri, Wien Museum 2004)

Die Haupteinnahmequellen der Bevölkerung sind der Mais- und Haselnussanbau, sowie deren Verarbeitung. Der Haselnussexport in die Niederlande, nach Deutschland, Großbritannien und Österreich beläuft sich auf 1,5 Millionen USDollar pro Jahr. Die Weiterverarbeitungsanlagen sowie die Tankstelle und einige Kleinbetriebe wurden größtenteils aus den Ersparnissen der nach Österreich Migrierten finanziert. Im Dorf gibt es zwei Lebensmittelläden, eine Bäckerei, eine Grundschule, vier Moscheen und eine Krankenstation. Die meisten der alten Häuser wurden abgerissen, an deren Stelle neue ein- bis zweistöckige Einfamilienhäuser gebaut und mit in Österreich erworbenen Alltagsgegenständen ausgestattet. Leer stehende Häuser, die nur in den Urlaubsmonaten bewohnt sind, erinnern an die Abwesenden. Abbildung 4: Haus in Sinano÷lu, dem Nachbardorf Adatepes, das nur im Sommer bewohnt ist, weil die Besitzer in Wien leben (Gastarbajteri, Wien Museum 2004)

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Der erste Migrant, der als Pensionist nach Adatepe zurückkehrte, war Nuri Çetin. Er hatte 30 Jahre in Österreich gearbeitet, bevor er sich 1994 wieder in Adatepe niederließ. Zur Zeit der Ausstellung war er 79 Jahre alt. Er lebte in dem Haus, das er 1981 mit seinen Söhnen in vier Wochen gebaut hatte und das bis zu seiner Rückkehr leer stand. Er war einer der ersten Emigranten aus der Provinz Adapazari und der erste aus Adatepe, der 1964 von der Baufirma Kallinger vor Ort angeworben wurde. Ende 1970 holte er seine Frau und seine Kinder nach Wien. Bis zur Pension war er als Bau- und Metallarbeiter beschäftigt. Drei seiner Söhne sind ebenfalls Maurer geworden. Bis auf eine Tochter leben alle Kinder, Enkel und Urenkel – etwa 90 Personen – in Wien. 7.3 »Ein Fahrrad und einen Seidenrock habe ich mir gekauft damals«: Kärntner Arbeiter und Arbeiterinnen in der Schweiz Um die Tatsache zu illustrieren, dass Österreich in den 1950er und 1960er Jahren und bereits davor ebenfalls ein Auswanderungsland war, und somit auch den transnationalen Charakter von Migration sichtbar zu machen, wurde der Station Adatepe das Kapitel Kärntner ArbeiterInnen in der Schweiz15 hinzugefügt. Die günstige Wirtschaftsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg löste auch in der Schweiz eine starke Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften aus. Diese wurden anfangs in den Nachbarländern rekrutiert, insbesondere in Italien, aber auch in Österreich. Die Menschen fanden einen Arbeitsplatz in der Landwirtschaft, in der Industrie und in der Baubranche. Wie in Österreich und Deutschland basierte die schweizerische Ausländerpolitik in der Nachkriegszeit ebenfalls auf dem Rotationsprinzip, allerdings nur bis etwa in die Mitte der 1960er Jahre.16 Bereits 1956 schloss die Schweiz mit der Republik Österreich die »Vereinbarung über den Austausch von Gastarbeitnehmern (Stagiaires)« ab. Dies war eine Reaktion auf einen Prozess, der schon Ende der 1940er Jahre eingesetzt hatte: die Arbeitsmigration von Kärntnern und Steirern in die Schweiz. Denn die Bundesländer Kärnten und Steiermark gehörten zu den strukturschwächsten Gebieten innerhalb Österreichs.

15 Vgl. http://gastarbajteri.at/im/107105950479/107459990277/107157360667 16 Vgl. Bundesamt für Migration (Hg.): Migrationsbericht 2010, S. 8f., zit. nach http:// www.bfm.admin.ch/content/dam/data/migration/berichte/migration/migrationsbericht -2010-d.pdf

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Die meisten Arbeitskräfte wurden durch Zeitungsannoncen in der Kleinen Zeitung angeworben, später kamen sie durch Mundpropaganda. In der Ausstellung wurde dieses Kapitel anhand der aus etwa 1.500 Einwohnern17 bestehenden zweisprachigen Südkärntner Gemeinde Globasnitz/Globasnica gezeigt, von der aus in den 1950er und 1960er Jahren rund 125 junge Menschen in die Schweiz migriert sind. Insbesondere für Frauen eröffnete die Arbeit in der Schweiz die Möglichkeit eines eigenen Verdienstes. Für den Großteil war diese Übersiedlung nur von kurzer, saisonaler Dauer, doch einige sind geblieben. Sie arbeiteten neben den italienischen und jugoslawischen ›Gastarbeitnehmern‹ vor allem in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe, im Kraftwerks- und Tunnelbau. Analogien zu den Arbeitsmigranten und -migrantinnen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien liegen auf der Hand. Materialien wie Stellenanzeigen in der Kleinen Zeitung, der Gesetzestext der österreichisch-schweizerischen Vereinbarung sowie private Photographien von Schweizer Auswanderern bildeten den Kern dieses Kapitels. Gezeigt wurden vor allem Photographien, auf denen die Ausgewanderten im Urlaub in ihrem Herkunftsort beim alljährlichen Raclette-Essen, einem Schweizer Nationalgericht, mit den daheim gebliebenen Verwandten zu sehen sind, oder bei einem Empfang beim Bürgermeister. Der Blick auf den Herkunftsort – ähnlich wie im Falle Adatepes – zeigt deutlich die Bedeutung dieser Auswanderung für die wirtschaftsschwache Gemeinde im Kärntner Grenzgebiet. Erst mit dem Bau einer Filterfabrik im Jahr 1972 ist ein Rückgang der Auswanderung zu beobachten. 7.4 »Mein Vater und ich« von Mehmet Emir Mehmet Emirs Vater Hıdır Emir kam 1964 als einer der ersten ›Gastarbeiter‹ aus der Türkei nach Österreich. Er arbeitete über 30 Jahre bei einer Asphaltfirma in Strebersdorf am Rande von Wien und wohnte in einer der betriebseigenen Arbeiterbaracken. Jedes Jahr fuhr er für zwei Monate in die Türkei. Von seiner Arbeit erzählte er der Familie fast nichts, außer dass es sich um eine »leichte Arbeit«18 handelte. Auch über seine Wohnsituation sprach er nicht. Als Hobbyphotograph nahm er nicht nur seine damaligen Kollegen sowie Hochzeiten und andere Feste auf, sondern ließ sich auch selbst von einem Kollegen photographieren. Gut gekleidet posiert er dabei vor dem Belvedere, am Süd-

17 Vgl. http://www.statistik.at/blickgem/blick1/g20807.pdf 18 Mehmet Emir: »Mein Vater und ich. Fotoausstellung«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 158-159, hier S. 158.

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bahnhof und immer wieder vor Rosensträuchern und schuf so Selbst-Inszenierungen für die Daheimgebliebenen. Die sorgfältig ausgewählten Bildhintergründe und seine stolze Pose erinnern an Studioaufnahmen. Die Photographie wird zum wichtigsten Kommunikationsmittel zwischen ihm und seiner Familie.

Abbildungen 5 und 6: Hıdır Emir im Schweizergarten

Der Sohn wird Anfang der 1980er Jahre nach Österreich geholt. Er wird Bauarbeiter wie sein Vater. Die Bilder, die er von den Photographien seines Vaters kennt, stimmen mit der Wirklichkeit, die er in Österreich vorfindet, kaum überein. Auch er beginnt zu photographieren und interpretiert seine Lebenswelt ganz anders als sein Vater. So haben seine Aufnahmen nichts mit den Photographien seines Vaters »voller Blumen und Paläste«19 zu tun. Im Rahmen der Ausstellung Gastarbajteri wurden die Arbeiten von Vater und Sohn einander stark vergrößert im Foyer der Hauptbücherei gegenübergestellt. Sie zeigten – zeitversetzt – zwei ganz unterschiedliche Darstellungsweisen von Migrationsrealitäten.

19 Ebd., S. 158; vgl. auch das jüngst erschienene Buch: Mehmet Emir: Ich bin immer noch in Wien. Briefe an Mama und Papa in der Türkei, Wien: Sonderzahl Verlag 2012.

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Abbildungen 7 und 8: Ansicht der Ausstellungsstation »Mein Vater und ich« (Gastarbajteri, Hauptbücherei 2004)

7.5 Das Archiv von Ali Gedik Das zwischen 1984 und 1993 angelegte private Archiv von Ali Gedik mit mehr als 500 Dokumenten wurde ebenfalls zum ersten Mal im Rahmen der Ausstellung Gastarbajteri in den Räumlichkeiten der Hauptbücherei einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

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Ali Gedik, der 1976 aus der Türkei nach Vorarlberg kam, setzte sich schon früh für unterschiedliche Anliegen von in Österreich lebenden und arbeitenden Migranten und Migrantinnen ein. Im Fokus seines politischen Engagements standen sowohl die Bekämpfung der Wohnungsnot und die Einforderung von politischen Mitspracherechten als auch der Kampf gegen die Verfolgung von Kurden in der Türkei. Die in der Ausstellung gezeigten, über Jahre hindurch von Ali Gedik gesammelten Zeitungsausschnitte dokumentieren einen Zeitraum, in dem in Österreich das ›Ausländerthema‹ zu einem medialen Ereignis geworden ist. Berichte zur Einführung eines Visums für türkische Staatsbürger im Jahr 1988 sind hier ebenso nachzulesen wie die Forderung der Wirtschaft nach mehr ausländischen Arbeitskräften. Medial vertreten sind sowohl Diskussionen auf Vorarlberger Landesebene über die Begrenzung der ›Gastarbeiterzahlen‹ als auch das von Journalisten erteilte Eigenlob zu Fortschritten des Landes in der schulischen Integration von ›Gastarbeiterkindern‹. Beispiele für die zumeist stereotypisierende Darstellung von ›Ausländerkriminalität‹ wechseln einander ab mit Berichten über Flüchtlingsschicksale und Rechtsextremismus.20 Neben einer Auswahl von Zeitungsartikeln zum Thema Migration liegt der Fokus des Archivs auf der Politik und der Rezeption von Ali Gediks eigenem politischem Engagement. Durch die subjektive Schwerpunktsetzung gewährt dieses Archiv einen Einblick in die Mediennutzung von Ali Gedik und dessen politische Tätigkeitsfelder, aber auch in den medialen Diskurs der damaligen Zeit: österreichische Innenpolitik aus der Sicht eines Migranten. Das Archiv von Ali Gedik war nach Ablauf der Ausstellung Gastarbajteri in Wien zwischen Juni und Oktober 2004 auch im Rahmen der Ausstellung ... lange Zeit in Österreich – 40 Jahre Arbeitsmigration im Jüdischen Museum Hohenems zu sehen, wo vor allem die Vorarlberger Migrationsgeschichte thematisiert wurde.21 Der Ausstellungstitel entsprach übrigens dem Arbeitstitel, den Gastarbajteri zunächst getragen hatte.

8. E XPONATE Einen Großteil des Wissens über die Abwicklung der Anwerbung sowie die entsprechenden Dokumente für die Ausstellung verdanken wir einem Karton, den

20 Vgl. Martina Böse: »Das Archiv von Ali Gedik«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 160-161. 21 Vgl. http://www.jm-hohenems.at/index.php?id=3030&lang=0&highlighted=Ali%20Gedik

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Siegfried Pflegerl, Leiter der österreichischen Anwerbekommission in Istanbul von 1964 bis zur Schließung 1993, dem Archiv der Bundeswirtschaftskammer Österreich überlassen hatte. Aus diesem Archiv stammen auch die Korrespondenz zwischen der Arbeitsgemeinschaft für ausländische Arbeitskräfte in Wien, den österreichischen Anwerbestellen in Istanbul und Belgrad und den österreichischen Unternehmen sowie Arbeitsverträge, Interventionen und Beschwerdebriefe angeworbener Arbeiter und Arbeiterinnen. Die in der Station Adatepe ausgestellten persönlichen Dokumente und Photos erhielten wir von Familie Çetin und Familie Yi÷it, deren Angehörige wir in Adatepe und in Wien trafen und die uns auch die dazugehörigen Lebensgeschichten erzählten. Auch andere Bewohner und Bewohnerinnen von Adatepe, die einen Bezug zu Österreich hatten, stellten uns Unterlagen zur Verfügung. Die Materialien für die Station Fischfabrik C. Warhanek stammten ebenfalls zum Großteil aus privaten Photoalben und Sammlungen. Eine weitere Quelle für Exponate – insbesondere zu gesetzlichen Regulierungsbestrebungen der Migration sowie zur Selbstorganisation und zum Widerstand von Migranten – waren einschlägige Beratungseinrichtungen und Selbstorganisationen wie ATIGF (Föderation der Arbeiter und Jugendlichen aus der Türkei in Österreich) oder der Demokratische Frauenbund aus der Türkei in Vorarlberg. Für historische Photographien und die Berichterstattung über die Anfänge der Arbeitsmigration nach Österreich griffen wir auf türkische und österreichische Zeitungsarchive sowie auf das ORF-Archiv zurück. Weitere Exponate stammen aus unterschiedlichen öffentlichen und privaten Archiven.22 Bei der Auswahl der Ausstellungsexponate wurde bewusst darauf geachtet, fetischisierende Objekte zu vermeiden. Die Verantwortlichen setzten vor allem auf Dokumente, Photos und Zeitungsausschnitte. Diese wurden nach Ablauf der Ausstellung an die einzelnen Leihgeber zurückgegeben; zuvor wurden sie elektronisch gesichert und befinden sich nun zusammen mit den Videos im Archiv der Initiative Minderheiten. Ein Teil davon ist über die Website einer breiten Öffentlichkeit zugänglich (www.gastarbajteri.at).

22 Österreichisches Staatsarchiv, insbesondere Allgemeines Verwaltungsarchiv und Archiv der Republik Österreich; Wiener Stadt- und Landesarchiv; Archive der Magistrate der Stadt Wien; Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung; Photoarchiv des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB); Archiv der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB); Zentralarbeitsinspektorat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA), Photoarchiv von Didi Sattmann und Archive anderer Einzelpersonen.

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9. F OLGEN »Es sind nach 40 Jahren die ersten Bilder. Wir kennen sie nicht alle. Und ein Gespenst geht um in Wien. Das Gespenst des Stolzes, sich selbst zu sehen«, so Vlatka Frketiü in einem Artikel über Gastarbajteri.23 Auch Einträge in den Besucherbüchern zur Ausstellung zeugen von Emotionen, die durch die visuelle Konfrontation mit der eigenen Geschichte oder der Geschichte der Familie entstanden: »Ich als Gastarbeiterkind, bin stolz auf meine Eltern und Großeltern, die vieles geleistet haben!« oder »Danke, dass Sie uns Möglichkeit gegeben haben, auch von uns etwas zu zeigen!« Auch Trauer kommt auf: »Die ganze Ausstellung hat mich sehr traurig gemacht […]. Die Wahrheit ist manchmal sehr schwer zu ertragen!« Dazu kommt das Bedürfnis, die persönliche Geschichte in die Ausstellung einzuschreiben: »Am 7.1.73 bin ich nach Wien gekommen mit 2 Naylonsackerl und 80.000 jugosl. Dinar aus Rijeka am Südbahnhof und dort gefragt für Unterkunft und Arbeit. Erste Nacht bei Nonnen im 9. Bezirk, dann 6 Uhr früh Arbeitsamt, diese öffnen aber um 8 Uhr, gefroren […].« Die Ausstellung im Wien Museum wurde von 24.556 Besuchern gesehen. Über 400 Schulklassen nahmen an dem Vermittlungsprogramm teil. Den Gästebüchern ist zu entnehmen, dass unter den Besuchern viele Migranten und Migrantinnen der sogenannten ersten Generation und deren Nachkommen waren. »Nachdem ich die Ausstellung ›Gastarbajteri‹ im Wien Museum am Karlsplatz im Jahre 2004 gesehen hatte, war ich von dem Thema so sehr begeistert, dass ich mich immer intensiver damit beschäftigte«, schreibt Hasan Özer im Vorwort seiner 2010 an der Universität Wien abgeschlossenen Diplomarbeit Türkische ›Gastarbeiter‹ in Österreich. Historische, rechtspolitische und soziokulturelle Aspekte ihres Positionswandels in Österreich. Zum Zeitpunkt der Ausstellung war Özer ein Schüler von 17 Jahren, einer von 5.500 Schülern, die am Vermittlungsangebot teilnahmen. Die Ausstellung erfuhr ein sehr breites mediales Echo. So gut wie alle nationalen Medien nahmen sie zum Anlass, die Geschichte der Arbeitsmigration nach Österreich zumindest für eine kurze Zeit ausführlich zu thematisieren. Sehr häufig besprochen wurden die Station Narmanlı Han, in der der Prozess der Anwerbung dargestellt wurde, und die Station Fischfabrik C. Warhanek, die sich der Frauenarbeitsmigration widmete. Die mit Abstand größte Aufmerksamkeit erfuhr aber die Station Adatepe, war es doch bei dieser ›Geschichte‹ am einfachsten, die Menschen hinter den Strukturen zu erkennen. Auch die Interviewanfragen konzentrierten sich – entgegen der Ausstellungsintention, biographische Er-

23 Vlatka Frketiü: »Ene mene muh, contacted bist du«, in: Malmoe 19 (2004), S. 7.

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zählungen zu vermeiden und stattdessen Strukturen aufzuzeigen – auf ›Einzelschicksale‹. Als die Stadt Wien der Gemeinde Adatepe einen Krankenwagen schenkte, fuhr anlässlich der Übergabe des Autos ein ORF-Team nach Adatepe und gestaltete eine Radiosendung in der Hörfunkreihe Diagonal. Dabei wurden die von der Ausstellung am Beispiel der Fremdenpolizei thematisierten Regulierungsbestrebungen größtenteils ausgeblendet. Einzig ein nicht-österreichisches Medium, die Neue Zürcher Zeitung, wies in ihrer Berichterstattung auf die restriktive Fremdengesetzgebung Österreichs hin.

Abbildung 9: Schüler in einem Vermittlungsgespräch (Gastarbajteri, Wien Museum 2004)

Der Erfolg der Ausstellung schlug sich nicht nur in den Besucherzahlen und dem medialen Echo nieder, sondern auch in mehreren wissenschaftlichen Arbeiten über Gastarbajteri,24 sowie in thematisch ähnlichen Ausstellungen, von denen 24 Vgl. Martina Böse/Brigitta Busch: »The political potential of multi-accentuality in the exhibition title ›gastarbajteri‹«, in: Journal of Language and Politics 6 (2007) 3, S. 437-457; Martina Böse: »Perspektiven für den dritten Sektor im kulturellen Feld am Beispiel der Ausstellung gastarbajteri‹, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 31 (2006) 3, S. 69-81; Martina Böse: »Ich entscheide mich dafür, ›MigrantInnen‹ zu sagen. Zur Vermittlung von ›Gegenerzählungen‹ und Repräsentationspolitik in der

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nur einige erwähnt seien. Das Forschungszentrum für historische Minderheiten arbeitet derzeit an einer Ausstellung zum Thema Migration, die anlässlich der Bezirksfestwochen 2012 im Bezirksmuseum Margareten gezeigt werden soll und den Fokus auf den 5. Wiener Gemeindebezirk legt. Zudem war im Jahr 2011 in der Galerie Stephanie Hollenstein in Lustenau die Ausstellung Migrationen in der Geschichte Lustenaus.25 Am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien der Universität Klagenfurt wird die weibliche Arbeitsmigration nach Kärnten erforscht.26 Seit der Ausstellung Gastarbajteri wird die Initiative Minderheiten immer wieder zu Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen eingeladen sowie als Beraterin und als Kooperationspartnerin bei Migrationsausstellungen angefragt, so auch bei dem Ausstellungsprojekt Migration on Tour des Demokratiezentrums Wien, einer Wanderausstellung zum Thema Migration für Schulen.27 Was in einzelnen Stationen der Ausstellung Gastarbajteri bereits begonnen wurde – nämlich auf die Perspektiven der Herkunftsländer von Migranten und Migrantinnen einzugehen – wurde für das unmittelbare Nachfolgeprojekt Viel Glück! Migration Heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul, das von der Initiative Minderheiten in Kooperation mit mehreren ProjektpartnerInnen28 im Jahr 2010 realisiert worden ist, zum grundlegenden Konzept. Dieses Projekt thematisierte die Verschränkung der Perspektiven der jeweiligen Einwanderungs- mit jenen der Auswanderungsländer und die Interessen der einzelnen Nationalstaaten im Bezug auf eine europäische Migrationspolitik. Neben einer Buchpublikation29

Ausstellung ›Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration‹«, in: schnittpunkt/Beatrice Jaschke/Charlotte Martinz-Turek/Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia + Kant 2005 (= schnittpunkt – ausstellungstheorie & praxis, Band 1), S. 120-151. 25 Vgl. den Katalog zur Ausstellung: Marktgemeinde Lustenau (Hg.): Migrationen in der Geschichte Lustenaus, Lustenau: Historisches Archiv der Marktgemeinde Lustenau 2011. 26 Vgl. http://dastandard.at/1319183932601/Gastarbeiterinnen-Auf-sich-alleine-gestellt 27 Vgl. http://www.migrationontour.at 28 In Kooperation mit der ERSTE Stiftung, der Akademie der bildenden Künste, der Wienbibliothek, der Zeitschrift juridicum, der Künstlergruppe gangart, Queer Zagreb, dem Goethe Institut Kroatien, Peregrina, dem Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) und dem Mandelbaum Verlag. 29 Vida Bakondy/Simonetta Ferfoglia/Jasmina Jankoviü/Cornelia Kogoj/Gamze Ongan/ Heinrich Pichler/Ruby Sircar/Reneé Winter für die Initiative Minderheiten (Hg), Viel Glück! Migration Heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul, Wien: Mandelbaum 2010.

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entstanden zwei Ausstellungen Living Across. Spaces of Migration an der Akademie der bildenden Künste Wien und die Musikausstellung Grenzpegel. Kreativität und Kontroversen migrantischer Musikszenen in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus. Mit der schwarz-blauen Koalition im Jahr 2000, die auf Grund der Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs einem Tabubruch in der österreichischen Nachkriegsgeschichte gleichkam, intensivierte sich die öffentliche Debatte über Chancengleichheit und Repräsentation von Migranten und Migrantinnen. Die Entstehung des Projekts Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration fällt in diese zivilgesellschaftlich äußerst engagierte Zeit. Durch einen Perspektivenwechsel in der Erzählung produzierte die Ausstellung nicht nur ›neues‹ Wissen über die Geschichte der (Arbeits-)Migration in Österreich, sondern wirkte auch als Empowerment – insbesondere für Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund. Rückblickend lässt sich jedoch sagen, dass der größte Gewinn von Gastarbajteri in der – wenn auch reichlich späten – symbolischen Anerkennung der Arbeitsmigranten und -migrantinnen als selbstverständlicher Teil der österreichischen Geschichte lag.

Migrationsgeschichte ausgestellt Migration ins kollektive österreichische Gedächtnis schreiben C HRISTIANE H INTERMANN

1. M IGRATIONSGESCHICHTE AUSSTELLEN Ö STERREICH : EINE E INLEITUNG

IN

Trotz der medialen Dauerpräsenz des Themas Migration in Österreich während der letzten 20 Jahre kann nicht davon gesprochen werden, dass die österreichische Migrationsgeschichte im historischen Bewusstsein der Bevölkerung und im kulturellen (nationalen) Gedächtnis verankert wäre. Vielmehr spielen Migrationsgeschichten kaum eine Rolle in der österreichischen Gedächtnis- und Erinnerungspolitik und sind kein selbstverständlicher Bestandteil der dominanten historischen Erzählungen der Nachkriegszeit. Dies gilt insbesondere für die Arbeitsmigration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die aktuellen migrationsund diversitätspolitischen Debatten kreisen zumeist um das Integrationsparadigma und fokussieren auf vermeintliche Defizite und Differenzen von Migranten; Migrationsgeschichte und deren Anerkennung ist hingegen kein Thema. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Stellenwert Migrationsgesellschaften ihren Migrationsgeschichten einräumen, steckt nicht nur in Österreich, sondern generell in Europa erst in den Kinderschuhen. Ein empirischer Beleg für diese allgemeine Beobachtung ist die geringe Aufmerksamkeit, die Museen – von Sharon Macdonald als »kulturelle Schlüsselorte unserer Zeit«1 bezeichnet – dem Thema Migration bisher entgegenge-

1

Sharon Macdonald: »Introduction«, in: Sharon MacDonald/Gordon Fyfe (Hg.), Theorizing Museums. Representing identity and diversity in a changing world, Oxford: Blackwell Publishers 2006, S. 1-18, hier S. 2.

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bracht haben. Die Dauerausstellungen der historischen Museen in Österreich sind nach wie vor zum überwiegenden Teil »migrationsfreie« Zonen.2 Die Tatsache, dass zwei der drei hier thematisierten Ausstellungen in Museen gezeigt wurden, steht nicht in Widerspruch zu diesem Befund. Demgegenüber stehen Zahlen aus der Bevölkerungsstatistik, wonach mehr als 1,5 Millionen Einwohner dieses Landes einen sogenannten Migrationshintergrund aufweisen, also entweder selbst im Ausland geboren sind oder als Kinder ausländischer Staatsbürgerinnen in Österreich zur Welt gekommen sind. Dies entspricht einem Anteil von rund 19% an der gesamten Wohnbevölkerung; in Wien liegt der entsprechende Prozentsatz bei fast 40%.3 Die fehlende Anerkennung und die Marginalisierung der österreichischen Migrationsgeschichten, sei es in Museen und Ausstellungen, in der Ausgestaltung der öffentlichen Erinnerungslandschaft oder lange Zeit auch in Schulbüchern,4 bedeutet gleichzeitig den Ausschluss eines großen Teils der Bevölkerung aus der Erfahrungs-, Erlebnisund Erinnerungsgemeinschaft der Mehrheitsbevölkerung. Was jedoch in Österreich – wie auch in anderen europäischen Ländern – im letzten Jahrzehnt zugenommen hat, ist die Organisation von speziellen und spezialisierten Ausstellungen rund um den Themenbereich Migration, oft mit einer

2

Österreich verfügt über kein eigenes Nationalmuseum. Seit den 1990er Jahren gibt es zwar immer wieder Debatten zur Errichtung eines sogenannten Hauses der Geschichte, das sich vor allem der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts widmen sollte. Nach wie vor besteht jedoch keine Einigung darüber, wo (in Wien) ein derartiges Museum untergebracht werden könnte und was warum ausgestellt werden sollte. Im jüngsten Regierungsübereinkommen für die Periode 2008-2013 ist dazu lapidar festgehalten, dass »[d]ie Planungen und weiteren Arbeiten zur Umsetzung des Hauses der Geschichte, wie vorgesehen, zügig weitergeführt [werden]« (für die XXIV. Gesetzgebungsperiode, S. 234, http://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId=32966). Vgl. für eine Zusammenfassung der Entwicklungen und Diskussionen jüngst z.B. Emma Bentz/Marlies Raffler: »National Museums in Austria«, in: Peter Aronsson/Gabriella Elbenius (Hg.), Building National Museums in Europe 1750-2010 (= EuNaMus Report, Band 1), Linköping: Linköping University Electronic Press 2011, S. 21-46.

3

Vgl. Statistik Austria: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoel

4

Vgl. Christiane Hintermann: »›Beneficial‹, ›problematic‹ and ›different‹: Repre-

kerungsstruktur/bevoelkerung_nach_migrationshintergrund/index.html sentations of Immigration and Immigrants in Austrian Textbooks«, in: Christiane Hintermann/Christina Johansson (Hg.), Migration and Memory. Representations of Migration in Europe since 1960 (= Studies in European History and Public Spheres, Band 3), Innsbruck/Wien/Bozen: Studien Verlag 2010, S. 61-78.

M IGRATIONSGESCHICHTE AUSGESTELLT | 117

lokalen oder regionalen Ausrichtung. Viele dieser Ausstellungen können weniger als Manifestation des kulturellen (nationalen) Gedächtnisses interpretiert werden, sondern eher als Ausdruck erinnerungskultureller Aktivitäten, anhand derer die offizielle Geschichtsschreibung hinterfragt wird oder der Versuch unternommen wird, Gegennarrative zu etablieren oder neue und andere Perspektiven auf die dominanten Erzählungen anzubieten. Cornelia Kogoj, eine der Kuratorinnen der Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration macht das deutlich, wenn sie im Begleitband zur Ausstellung und im Hinblick auf die Geschichte der sogenannten Gastarbeitermigration schreibt: »Trotz einer mittlerweile 40-jährigen Migrationserfahrung gibt es bisher so gut wie keinen institutionalisierten Diskurs darüber. Es ist daher an der Zeit, diese Geschichte öffentlich zu machen, sie auch als Teil der österreichischen Geschichte zu betrachten und an ihrer Repräsentation zu arbeiten.«5 Die erste große explizite Immigrationsausstellung in Österreich wurde unter dem Titel WIR. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien 1996 im damaligen Historischen Museum der Stadt Wien (heute: Wien Museum) als 217. Sonderausstellung des Museums gezeigt. Inspiriert von der Ausstellung The Peopling of London, die 1993 im Museum of London6 zu sehen war, bestand das Ziel der Wiener Ausstellung darin, »die Fragen zu erörtern, woher wir Wiener kommen, welche Bedeutung Zuwanderung für die Geschichte sowie Gegenwart Wiens hat und wie Zuwanderer in der Vergangenheit aufgenommen worden sind beziehungsweise in der Gegenwart aufgenommen werden.«7 Mit ihrem breit angelegten Fokus, die Immigrationsgeschichte Wiens von der Antike bis in die Gegenwart nachzuzeichnen, unterschied sich die Ausstellung deutlich von vielen nachfolgenden, die sich entweder auf Migrationsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert konzentrierten oder ausschließlich die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick nahmen. Eine inhaltliche Übereinstimmung mit den hier be-

5

Cornelia Kogoj: »Geschichten zur Migrationsgeschichte«, in: Hakan Gürses/Cornelia Kogoj/Silvia Mattl (Hg.), Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration, Wien: Mandelbaum 2004, S. 81-86, hier S. 81.

6

Diese Ausstellung reichte zeitlich zurück bis 15.000 v. Chr. und wird z.B. von Mary Stevens als »landmark in the representation of immigration in U.K. museums« bezeichnet. Vgl. Mary Stevens: »›It depends how far back you go …‹ Comparing the Representation of Migration in the Heritage Sector in France and the U.K.«, in: Hintermann/Johansson, Migration and Memory (2010), S. 145-161, hier S. 149.

7

Günther Düriegl: »Vorwort und Dank«, in: Historisches Museum der Stadt Wien (Hg.), WIR. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien, Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1996 (keine Seitenangabe).

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sprochenen Ausstellungen besteht darin, dass Österreich als Einwanderungsland dargestellt wird und Wien als eine Stadt, die seit Jahrhunderten durch Immigration und ethnische Vielfalt geprägt ist, sowie in der Repräsentation von Immigranten als positivem Faktor für die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung Österreichs und seiner Hauptstadt. Der folgende Text basiert auf den Ergebnissen eines Forschungsprojektes, das sich mit dem Zusammenhang von Migration und Erinnerung in europäischen Migrationsgesellschaften beschäftigte. Im Mittelpunkt des Projektes stand die Frage, wie die jüngere österreichische Einwanderungsgeschichte in Schulbüchern und Migrationsausstellungen erzählt, (re)konstruiert und verhandelt wird.8 In diesem Zusammenhang wurden auch jene drei Migrationsausstellungen untersucht, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen: Migration. Eine Zeitreise nach Europa9, Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration10 und Migration in Bildern11. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Museen und Ausstellungen kann auf unterschiedliche Fragestellungen fokussiert sein. Dies sind erstens Aspekte, die der eigentlichen Ausstellungseröffnung vorangehen, wie Fragen nach Zielen, Ideen, Strategien und Storylines, zweitens die tatsächliche Ausstellungsgestaltung und drittens die Rezeption einer Ausstellung sowie die Publikumsreaktionen.12 In diesem Beitrag stehen die beiden erstgenannten Aspekte im Vordergrund. Nach einem kurzen Abriss der Entstehungsgeschichten der drei Ausstellungen werden deren Ziele, Inhalte und Repräsentationsstrategien thematisiert. Im Anschluss wird die Frage diskutiert, wer die Erzähler der österreichischen Migrationsgeschichten in den Ausstellungen waren. Mit anderen Worten, es geht in diesem Beitrag um folgende Fragen: Wer spricht in Migrationsausstellungen in Österreich? Wer spricht worüber? Wer spricht über wen? Wer und wessen Geschichte/n sind sichtbar und anerkannt? Wer hat die Macht und wer nimmt sich die Macht zur Selbst- und Fremddarstellung? Diese Fragen, die unter ande-

8

Vgl. C. Hintermann/C. Johansson: Migration and Memory.

9

Vgl. http://www.museum-steyr.at/index.php?m=16&p=3

10 Vgl. http://www.gastarbajteri.at 11 Vgl. http://www.migrationsbilder.at 12 Für den letzten Aspekt vgl. Richard Sandell: Museums, Prejudice and the Reframing of Difference, London/New York: Routledge 2007. Sandell untersucht die Publikumsreaktionen auf Ausstellungen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Vorurteile zu bekämpfen.

M IGRATIONSGESCHICHTE AUSGESTELLT | 119

ren von Stuart Hall13 und Gayatri Spivak14 in unterschiedlichen Kontexten theoretisiert wurden, sind nach wie vor essentiell, wenn es um Re-Präsentation und Anerkennung in der Migrationsgesellschaft geht, und grundlegend für die Auseinandersetzung mit Erinnerungs- und Gedächtnispolitiken sowie deren Praktiken.

2. D REI M IGRATIONSAUSSTELLUNGEN

IM

V ERGLEICH 15

Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen drei Migrationsausstellungen, die zwischen 2003 und 2006 in Österreich gezeigt wurden und sich in einigen wesentlichen Punkten, wie Entstehungsgeschichte, Ausstellungsdesign oder Umsetzungsstrategien deutlich voneinander unterscheiden, obwohl zum Teil ähnliche oder idente Ziele verfolgt wurden. Die drei Ausstellungen wurden aus mehreren Gründen für die Analyse ausgewählt, die wichtigsten davon seien kurz erwähnt: Migration. Eine Zeitreise nach Europa war die erste große Migrationsausstellung in Österreich abgesehen von der bereits erwähnten Ausstellung im Wien Museum 1996. Zudem ist sie eine der wenigen Migrationsausstellungen in Österreich, die von einem Museum initiiert wurden. Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration ist aus anderen Gründen von besonderem analytischem Interesse. Die Ausstellung basierte auf einer Idee eines türkischen Immigranten in Österreich und wurde im Endeffekt als Kooperationsprojekt einer NGO und dem wichtigsten historischen Museum in Wien realisiert. Der Fokus der Ausstellung lag ausschließlich auf der Arbeitsmigration nach Österreich seit den 1960er Jahren – ein signifikanter Unterschied zu vielen anderen Ausstellungen in diesem Bereich. Die dritte Ausstellung – Migration in Bildern – wurde vor allem deshalb in die Auswahl mit aufgenommen, weil sie als Wanderausstellung und als

13 Vgl. Stuart Hall (Hg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, Los Angeles/London: Sage 1997. 14 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant 2007. 15 Die Analyse basiert auf unterschiedlichem Material, das im Zusammenhang mit den drei Ausstellungen produziert wurde, allen voran Ausstellungskonzepte, Protokolle von Teamsitzungen, Begleitpublikationen zu den Ausstellungen, Photos der Ausstellungen selbst, sowie Audioaufnahmen und Videos, die in den Ausstellungen zu hören und zu sehen waren. Zusätzlich wurde eine Reihe von Leitfadeninterviews mit Kuratoren, organisatorischen Verantwortlichen für die Ausstellungen sowie dem Direktor des Wien Museums geführt.

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integraler Bestandteil eines EQUAL-Projektes16 und nicht als Ausstellungsprojekt per se konzipiert wurde. Die Entstehungsgeschichten der drei Projekte unterscheiden sich ganz wesentlich voneinander. Die Gastarbajteri-Ausstellung und Migration in Bildern können als Bottom-up-Initiativen beschrieben werden. Beide wurden von NGOs getragen und organisiert, die über keine Erfahrung im Ausstellungs- und Museumsbereich verfügten: die in Wien ansässige Initiative Minderheiten17 und das Zentrum für MigrantInnen in Tirol (ZeMiT)18. Migration. Eine Zeitreise nach Europa war im Unterschied dazu in einem Museum verankert und wurde von einem Historiker mit ausgewiesener Ausstellungsexpertise kuratiert. Die Ausstellung war Teil des EU-Projektes »Migration, Work, Identity«, das im Rahmen des Culture 2000-Programms der Europäischen Kommission gefördert wurde, und an dem insgesamt sieben europäische Arbeitsweltmuseen beteiligt waren. Das Museum Arbeitswelt Steyr in Oberösterreich war der österreichische Partner, die Initiative für das Projekt ging vom Museum of Work in Norrköping in Schweden aus.19 Jeder Projektpartner – mit Ausnahme des Museums in Katalonien – organisierte eine eigene länder- oder regionsspezifische Ausstellung. Darüber hinaus wurde die Wanderausstellung, Crossing Border, gemeinsam entwickelt und in allen beteiligten Museen gezeigt.

16 EQUAL war eine Gemeinschaftsinitiative zwischen den Jahren 2000 und 2008, die vom Europäischen Sozialfonds und den Mitgliedsstaaten finanziert wurde. Ziel und Auftrag war, Diskriminierungen am Arbeitsmarkt aufzuzeigen und zu verringern. Vgl. http://ec.europa.eu/employment_social/equal/index_en.cfm 17 Die Initiative Minderheiten ist eine Nicht-Regierungs- und Non-Profit-Organisation und versteht sich als Plattform für Minderheiten. Die Initiative Minderheiten »tritt für eine minderheitengerechte Gesellschaft [ein], in der individuelle Lebensentwürfe unabhängig von Merkmalen wie ethnischer, sozialer oder religiöser Zugehörigkeit, sexueller Orientierung und Behinderung als gleichberechtigt und gleichwertig anerkannt sind.« http://minderheiten.at//index.php?option=com_content&task=view&id=8&Itemid=15 18 Das Zentrum für MigrantInnen in Tirol besteht seit 1985. Der gemeinnützige Verein leistet seither Beratung für Migrantinnen und Migranten in rechtlichen und sozialen Belangen und war und ist Partner in vielen nationalen und internationalen Projekten. Vgl. http://www.zemit.at 19 Die anderen Partner waren: Arbeitsmuseum Kopenhagen, People’s History Museum in Manchester, Museum der Arbeit in Hamburg, vier Museumsorganisationen in Berlin (Verein Nachbarschaftsmuseum e.V., Deutsches Technikmuseum, Museumspädagogischer Dienst Berlin und Museum Europäischer Kulturen in Berlin) und Museum der Wissenschaft und der Technik von Katalonien in Terrassa.

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Migration. Eine Zeitreise nach Europa wurde im Museum Arbeitswelt Steyr von April 2003 bis Herbst 2004 gezeigt, mit der Konzeption wurde jedoch bereits im Jahr 2000 begonnen. Die wichtigste Zielgruppe des Museums – unabhängig von der konkreten Ausstellung – sind Schulklassen aus ganz Österreich – eine Tatsache, die für die didaktische Aufbereitung und die Kommunikation der Inhalte von Bedeutung ist. Schüler und Schülerinnen machten dann auch den Großteil der rund 45.000 Besucher und Besucherinnen der Ausstellung aus. Die Gastarbajteri-Ausstellung durchlief eine noch längere Vorbereitungsphase. Es war ebenfalls im Jahr 2000, als Cemalettin Efe mit der Idee an die Initiative Minderheiten herantrat, die Geschichte der sogenannten Gastarbeitermigration nach Österreich in einer Ausstellung darzustellen.20 Da niemand im ursprünglichen Team über Ausstellungserfahrung verfügte, war anfangs nur an eine kleine Ausstellung mit Schautafeln gedacht. Im anschließenden Diskussionsprozess, in den Wissenschaftler, Aktivisten aus der ›Migrantenszene‹ und schließlich auch das Team von gangart – die später für die künstlerische Konzeption und Gestaltung der Ausstellung verantwortlich zeichneten – eingebunden waren, wurde jedoch bald klar, dass eines der erklärten Ziele der Ausstellung, nämlich Gegennarrative zum herrschenden öffentlichen Diskurs zum Thema Migration in Österreich zu etablieren, nur erreicht werden könne, wenn es gelinge, mit der Ausstellung öffentliches Interesse zu wecken. Damit kam der Frage nach dem Ausstellungsort eine zentrale Bedeutung zu. Dass die Gastarbajteri-Ausstellung letztendlich als Kooperation zwischen der Initiative Minderheiten und dem Wien Museum von Jänner bis April 2004 gezeigt wurde, war ein Zufall; ein glücklicher Zufall, darin stimmen Initiative Minderheiten und Wolfgang Kos, der Direktor des Wien Museums, überein. »Das heißt, auf einer allgemeinen Ebene war sehr schnell klar, das ist eine Win-win-Situation für alle.«21 Die Initiative Minderheiten hatte die Möglichkeit, ihre Ausstellung an einem zentralen und erinnerungspolitisch bedeutsamen Ort im Stadtzentrum zu zeigen, und konnte darüber hinaus auf die gesamte Infrastruktur des Museums zurückgreifen. Auf der anderen Seite hatten das Museum und der damals neu bestellte Direktor, der mit dem Versprechen angetreten war, das Museum zu modernisieren und neu zu positionieren, eine Ausstellung zur Hand, die sich deutlich von der bisherigen kuratorischen Praxis abhob und wenig zusätzliche Vorbereitungszeit benötigte. Die Entstehungsgeschichte der Ausstellung Migration in Bildern ist wieder ein ganz andere. Sie war Teil des zweijährigen EQUAL-Projektes »Join In«, das

20 Vgl. Cemalettin Efe: »Am Anfang waren die Anekdoten«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 20-23. 21 Interview mit Wolfgang Kos, 17. Juni 2008.

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vom Zentrum für MigrantInnen in Tirol gemeinsam mit Partnern in Deutschland, Frankreich und der Slowakei durchgeführt wurde und sich schwerpunktmäßig mit der Integration und Reintegration von jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt beschäftigte.22 Während sowohl die Gastarbajteri-Ausstellung als auch Migration. Eine Zeitreise nach Europa die österreichische Migrationsgeschichte in den Mittelpunkt stellten, setzte Migration in Bildern einen regionalen Fokus auf das Bundesland Tirol. Eines der Ziele des EQUAL-Projektes bestand darin, den Themenbereich Migration, Integration und Diversität von der Hauptstadt in kleinere Tiroler Gemeinden zu tragen und auf diese Weise die Bevölkerung zu sensibilisieren. Dementsprechend wurde Migration in Bildern als Wanderausstellung organisiert und diente einem ganz bestimmten Zweck – ihre Aufgabe innerhalb des Gesamtprojektes bestand darin, als Türöffner in den Gemeinden zu fungieren. Ein weiterer Unterschied zu den beiden anderen Ausstellungen besteht darin, dass Migration in Bildern nie in einem Museum gezeigt wurde. Die Vernissage fand in Innsbruck in einem Haus der Begegnung der Diözese statt. Auf ihrem Weg durch Tirol wurden Schulen, Universitäten und auch der öffentliche Raum bespielt, wo unter anderem eine mongolische Jurte als Eye-Catcher diente und auch Irritationen hervorrief. Die Jurte war nicht nur Ausstellungsobjekt, sondern auch Ausstellungsort und ein Raum, in dem diverse Aktivitäten des EQUAL-Projektes stattfanden. Verglichen mit den beiden anderen Ausstellungen hatte Migration in Bildern eine relativ kurze Vorbereitungsphase von nur fünf Monaten und war auch erheblich kleiner als die beiden anderen. 2.1 Welche Geschichten wurden erzählt? Die einer Ausstellung zugrunde liegenden Prozesse werden selten offengelegt. Neben praktischen Aspekten (»Was ist mit den finanziellen Mitteln, die zur Verfügung stehen, überhaupt machbar?« oder »Welche Ausstellungsstücke sind vorhanden?«), die bei der Organisation von Ausstellungen eine wichtige Rolle spielen, sind sowohl das Storyboard als auch die konkrete Gestaltung immer ein Resultat von Ein- und Ausschlussprozessen. Anhand welcher Geschichte/n ein Thema (re)präsentiert wird, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Verhandlungen der beteiligten Personen und Institutionen. Im Folgenden beschäftige ich mich damit, welche Inhalte die Ausstellungsmacher in den drei Fallbeispielen gewählt haben, um die österreichische Migrationsgeschichte darzustellen und

22 Vgl. http://www.join-in.at

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welche Ziele damit verfolgt wurden. Ergänzt wird die Analyse durch eine vergleichende Betrachtung der Repräsentationsstrategien. 2.1.1 Ziele und Ansprüche Lücken in der nationalen und regionalen Geschichtsschreibung zu füllen, war eines der wichtigsten Ziele aller drei Ausstellungsprojekte. Darüber hinaus ging es den Organisatoren und Kuratoren vor allem darum, österreichische Migrationsgeschichte ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben und ein Bewusstsein für marginalisierte Geschichten zu schaffen. Damit einhergehen sollte eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit, Medien und der verantwortlichen Politiker sowie die Verankerung der Tatsache, dass Migration nach und aus Österreich nichts Neues ist, sondern eine lange Geschichte hat, »dass das eine Geschichte ist, von der wir immer gelebt haben und die ja für die Entwicklung dessen, was Österreich heute darstellt, unverzichtbar war und ist.«23 In der Gastarbajteri-Ausstellung wurde besonders viel Wert darauf gelegt, Migrationen nach Österreich nicht als außergewöhnliche Ereignisse darzustellen, sondern als Normalität, wie Cornelia Kogoj, die Kuratorin von Seiten der Initiative Minderheiten im Interview betont: »[…] dass Migration einfach wirklich die absolute Normalität ist«.24 Migration als selbstverständlichen Teil der Lebensrealität vieler Menschen anzuerkennen, kann im österreichischen Kontext als Gegennarrativ per se interpretiert werden und ist eng verknüpft mit einer weiteren wichtigen Intention des Projektes; nämlich Narrative zu (re)präsentieren, die den dominanten politischen und medialen Diskurs zu Einwanderung und Immigranten in Österreich hinterfragen und konterkarieren; einen Diskurs, der stark geprägt ist von Bedrohungsmetaphern, diskriminierender Berichterstattung sowie paternalistischen Einstellungen und der Darstellung von Migranten als hilflose Opfer und ohne Subjektstatus. Es ging darum, »eine andere Erzählform, eine andere Sprache [zu] finden für dieses Thema« 25 und »stereotype Erzählweisen zu dekonstruieren«26. Dies geht Hand in Hand mit einem weiteren zentralen Topos in der Gastarbajteri-Ausstellung – der Repräsentation von Immigranten und Immigrantinnen als aktive, als handelnde Subjekte, die zwar auf Grund struktureller Rahmenbedingungen in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt sind, diesen aber nichtsdestotrotz so weit wie möglich nutzen. Die Selbstorganisation

23 Interview mit Udo Wiesinger, 8. Mai 2008. 24 Interview mit Cornelia Kogoj, 29. Juli 2008. 25 Ebd. 26 C. Kogoj: »Geschichten zur Migrationsgeschichte«, S. 84.

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in Vereinen, Forderungen nach mehr sozialer und politischer Gleichstellung oder die Organisation von Widerstand gegen diskriminierende gesetzliche Bestimmungen sowie rassistische und fremdenfeindliche Polizeieinsätze stehen in der Ausstellung beispielhaft für derartige Interventionen auf struktureller und gesellschaftspolitischer Ebene. Alle drei Ausstellungen richteten sich grundsätzlich an ein breites Publikum, wobei ein besonderer Fokus darauf gelegt wurde, Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen, vor allem durch Spezialangebote und Kommunikationsprogramme für Schulklassen. Dies gilt insbesondere für das Museum Arbeitswelt Steyr. Immigranten und deren Nachkommen waren ebenfalls eine spezielle Zielgruppe. Vor allem in der Gastarbajteri-Ausstellung wurde versucht, Personen der sogenannten ersten Generation anzusprechen. Ihnen sollte das Gefühl vermittelt werden, »dass man sie würdigt mit dieser Ausstellung. Das war uns wichtig.«27 Darüber hinaus sollten auch deren Kinder und Enkelkinder erreicht werden, damit diese ein Verständnis für die Migrationsgeschichten und -erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern entwickeln können. 2.1.2 Storylines und Umsetzungsstrategien Die ›lange‹ österreichische Migrationsgeschichte stand im Zentrum der Ausstellung Migration. Eine Zeitreise nach Europa. »Österreich ist ein Zuwanderungsland«28, das war laut Kurator Michael John, das Hauptnarrativ, das in und mit der Ausstellung im Museum Arbeitswelt Steyr vermittelt und argumentiert werden sollte. Damit stellten sich die Ausstellungsmacher bewusst gegen das »damalige österreichische politische Narrativ«29. Sie sahen in der Realisierung der Ausstellung daher einen »Akt der Gegenöffentlichkeit«30. Um diese lange österreichische Migrationsgeschichte darzustellen, wurde der Fokus der Ausstellung

27 Interview mit Cornelia Kogoj, 29. Juli 2008. 28 Interview mit Michael John, 24. Juni 2008. 29 Ebd. Mit »damals« bezieht sich Michael John auf das Jahr 2000, als sowohl die Vorbereitungsarbeiten zur Ausstellung in Steyr als auch zur Gastarbajteri-Ausstellung begannen. 2000 war das erste Jahr der Koalitionsregierung zwischen der Österreichischen Volkspartei und der Freiheitlichen Partei Österreich. Die FPÖ hat seit Mitte der 1980er Jahre immer wieder gegen Einwanderung und Immigranten agitiert und (zum Teil sehr erfolgreich) Wahlkämpfe mit klar rassistischen und fremdenfeindlichen Parolen und Inhalten geführt. Eines ihrer stärksten politischen Leitmotive ist die Festlegung, dass Österreich kein Einwanderungsland sei. 30 Interview mit Michael John, 24. Juni 2008.

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nicht nur auf die Nachkriegsmigration gerichtet. Die Erzählung reichte bis ins 19. Jahrhundert zurück und schloss nicht nur Immigrationen, sondern auch Emigrationen in die Betrachtung ein. Die Darstellung der verschiedenen Migrationsphasen und -prozesse erfolgte in chronologischer Reihenfolge und begann mit den Bevölkerungsbewegungen zur Zeit der Österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Zwischenkriegszeit wurde an Hand der Zuwanderung italienischer Ziegelarbeiter nach Steyr – dem Standort des Museums – und der Überseewanderung von Österreichern in die USA dargestellt. Für die Zeit des Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegsperiode wurden Zwangsmigrationen und Zwangsarbeit zum einen, sowie Displaced Persons und die Flucht und Vertreibung von »Volksdeutschen« zum anderen thematisiert. Es wurde versucht, die unterschiedlichen Migrationsphasen einigermaßen gleich zu gewichten. Rein flächenmäßig war der größte Teil der insgesamt rund 800 m² großen Ausstellungsräume der sogenannten Gastarbeitermigration und neueren Entwicklungen seit 1989 gewidmet. Dies ergab sich vor allem aus der Größe der Ausstellungsobjekte und -installationen, wie zum Beispiel der zwei ausgestellten Ford Transits (vgl. Abbildung 1). Demgegenüber konzentrierte sich die Gastarbajteri-Ausstellung auf ein Segment der jüngeren österreichischen Migrationsgeschichte – die sogenannte Gastarbeitermigration aus der Türkei und dem früheren Jugoslawien. Dieser Fokus war – so Cornelia Kogoj im Interview – von Anfang an klar, ebenso wie die meisten Themen, die in der Ausstellung berücksichtigt werden sollten: Anwerbung, Arbeit in Österreich, Wohnen und Lebensbedingungen, Selbstorganisation und selbstständige Beschäftigung. Die tatsächliche Auswahl der Themen wurde, wie die gesamte Ausstellung generell, stark von den beteiligten Personen beeinflusst. Dies mag trivial klingen, war jedoch von entscheidender Bedeutung für das gesamte Projekt, wie an Hand eines Beispiels verdeutlicht werden kann: Die stärkere Repräsentation türkischer Migranten und der türkischen Migrationsgeschichte in der Ausstellung im Vergleich zur Migration aus dem früheren Jugoslawien ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass es nicht gelungen ist, im früheren Jugoslawien einen ebenso engagierten Mitarbeiter zu finden wie in Istanbul. Dies führte schließlich dazu, dass sowohl die Geschichte der Anwerbung in den 1960er Jahren als auch die Geschichte der Rückkehr der »ersten pensionierten Gastarbeiter« in ihre Herkunftsgebiete an Hand türkischer Beispiele erzählt wurde. Ein wichtiges Rechercheprinzip war, nicht eine lineare Geschichte zu erzählen, und schon gar nicht, »die ›offizielle‹ Geschichte der Migration, wie sie von

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der Mehrheitsbevölkerung wahrgenommen wird«31. Vielmehr ging es den Mitarbeitern darum, eine Vielfalt an Perspektiven und Informationen anzubieten, Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen und damit auch darauf hinzuweisen, dass es nicht die eine Geschichte, sondern »höchstens Geschichten«32 gibt, hinter denen einzelne Individuen, aber auch die Geschichten der Herkunfts- und Einwanderungsländer stehen. Gastarbajteri war nicht chronologisch angelegt. Die Geschichten wurden an Hand von Orten erzählt, und jeder Ort stand für ein Thema. In Narmanlı Han in Istanbul war das erste österreichische Anwerbebüro in der Türkei untergebracht. Am Beispiel der Fischfabrik Warhanek wurde das generell unterrepräsentierte Thema der weiblichen Arbeitsmigration nach Österreich dargestellt. Adatepe – ein kleiner Ort in der Marmararegion in der Türkei – stand für Herkunft und Remigration. Insgesamt wurden elf Orte ausgewählt, die elf wichtige Themen im Leben von Migranten repräsentierten. Die Zeitspanne der Darstellungen reichte von 1964, als das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei abgeschlossen wurde, bis 2004, als der erste islamische Friedhof in Wien hätte eröffnet werden sollen.33 Im Zentrum der Ausstellung Migration in Bildern stand ebenfalls die Arbeitsmigration aus dem früheren Jugoslawien und der Türkei, was auch vor dem Hintergrund des Schwerpunktes des gesamten EQUAL-Projektes zu sehen ist. Für die Verantwortlichen war jedoch klar, dass der Themenbereich Flucht und Asyl ebenso in die Ausstellung aufgenommen werden müsse, wie aus einigen Interviewpassagen hervorgeht: »Das war eine bewusste Entscheidung. Wir haben gesagt, das muss Teil sein, auch gegen den Willen des Subventionsgebers.«34 Dabei wurden Flucht und Asyl nicht nur als aktuelle Phänomene interpretiert, sondern in einen größeren historischen Kontext gestellt, und zum Beispiel an Hand der Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen 1956 gezeigt, dass – ganz entgegen dem Mythos vom offenen Asylland Österreich und der helfenden Nation – Flüchtlinge auch damals nicht nur freundlich empfangen wurden. Die Auswahl der Themen erfolgte sowohl top-down als auch bottom-up: Einige Aspekte waren bereits im Konzept festgelegt, andere entwickelten sich aus der Beteiligung bestimmter Personen. Nicht zuletzt waren es auch pragmatische Entscheidungen, die das Aussehen der Ausstellung bestimmten. Gerhard Hetfleisch,

31 Gamze Ongan: »Orte wiedererkennen«, in: Gürses/Kogoj/Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 87-92, hier S. 87. 32 Ebd., S. 88. 33 Aus unterschiedlichen Gründen dauerte es letztendlich bis zum Herbst 2008, dass der Islamische Friedhof tatsächlich eröffnet werden konnte. 34 Interview mit Stephan Blasnig, Armin Brugger und Gerhard Hetfleisch, 19. Juni 2008.

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der Geschäftsführer von ZeMiT fasst es im Interview so zusammen: »Man schaut, was ist möglich, was kommt rein und was ist sinnvoll. Aus diesem Mix hat sich das dann ergeben.«35 Migration in Bildern war, wie erwähnt, die einzige der drei Ausstellungen mit einem regionalen Schwerpunkt. Die meisten der behandelten Themen bezogen sich auf die Situation in Tirol, wurden aber in den größeren österreichischen Kontext eingebettet. Ein Aspekt, der nur in dieser Ausstellung thematisiert wurde, war die Beziehung zwischen Tourismus und Migration. Mit mehr als 40 Millionen Übernachtungen im Jahr 2010 ist die Tiroler Tourismusindustrie stark von der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte, viele von ihnen Saisonarbeitskräfte, abhängig. Beide, Arbeitsmigranten und Touristen, werden von der ›einheimischen‹ Bevölkerung als ›Fremde‹ wahrgenommen und auch so bezeichnet; als ›Fremde‹, die kommen, aber nicht bleiben sollen. Diese Vorstellung wird in der Ausstellung durch Objekte und im Begleittext unter anderem so kommentiert und diskutiert: »Während der Saison sind sie herzlich als Arbeitskräfte willkommen, aber danach sollen sie wieder das Weite suchen, und nicht die sozialen Errungenschaften in Österreich ›genießen‹ (Schmarotzer?). Hier ist es ähnlich wie mit den ›Fremden‹, nach dem heutigen Jargon ›Touristen‹. Diese sollen ihr Geld da lassen und dann wieder das Weite suchen.«36 In der tatsächlichen Umsetzung der Projekte verfolgten die Ausstellungsteams sehr unterschiedliche Philosophien. Besonders deutlich sind die Unterschiede zwischen der Gastarbajteri-Ausstellung auf der einen Seite und Migration. Eine Zeitreise nach Europa auf der anderen Seite. Während sich das Team der Initiative Minderheiten strikt dagegen entschieden hat, emotionalisierende Objekte auszustellen – was jedoch nicht heißt, dass auf Emotionalisierung verzichtet wurde – und stattdessen auf private und offizielle Dokumente vertraute, stimmte der Kurator der Ausstellung im Museum Arbeitswelt Steyr mit dieser Repräsentationsstrategie überhaupt nicht überein und setzte auf emotionalisierende und auffallende Ausstellungsobjekte. Er begründete diese Entscheidung im Interview so: »Wenn ich will, dass meine Information ankommt, dann muss ich emotionalisieren. Das geht einmal im Regelfall […] wenn Gruppen kommen, oder wenn einmal ein größerer Besucherandrang ist […], erreicht man Massenwirksamkeit nur über größere Sujets. […] Ich will ja, dass da viele Leute hinkommen, und da brauch ich natürlich auch Objekte in einer beeindruckenden Form.«37 Entsprechend dieser Argumentation wurde in der Ausstellung eine Rei-

35 Ebd. 36 ZeMiT: Reader zur Ausstellung Migration in Bildern, Kap. 15. 37 Interview mit Michael John, 24. Juni 2008.

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Abbildung 1: Ford Transit (Migration. Eine Zeitreise nach Europa, Museum Arbeitswelt Steyr 2003)

Abbildung 2: Flüchtlingsschiff (Migration. Eine Zeitreise nach Europa, Museum Arbeitswelt Steyr 2003)

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he großer und auf auffälliger Objekte gezeigt, wie Eisenbahngleise, die generell Mobilität symbolisieren sollten, zwei Ford-Transit – quasi die Versinnbildlichung eines ›Gastarbeiter‹-Autos zum Transport unterschiedlicher Güter zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland – oder Plakatwände mit emotionalisierenden Motiven, wie die Abbildung eines Schiffes mit albanischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Italien (vgl. Abbildungen 1 und 2). Die Ausstellung von Objekten war ein umstrittenes »und immer wiederkehrende[s]«38 Thema zwischen der Initiative Minderheiten und dem Wien Museum. Während von Seiten der Museumsverantwortlichen die Integration von dreidimensionalen Objekten in die Ausstellung gewünscht war, setzte sich die Initiative Minderheiten im Endeffekt mit ihrer Ablehnung der Zurschaustellung von Emotionen und der Emotionalisierung über Objekte durch. Sowohl in den Ausstellungskonzepten als auch im Interview mit einer der Kuratorinnen offenbart sich das Bemühen, nur nicht essentialistisch zu sein und keine stereotypen Darstellungen zu perpetuieren. Eine »Angst«, die laut Hakan Gürses in »der nahezu unmöglichen Lösung der gestellten Frage [begründet ist], wie ein Thema, voll in Beschlag genommen von Voyeurismus und Exhibitionismus, in einer Exhibition darzustellen sei.«39 Trotz des Anspruchs, die ›Gastarbeiter‹-Migration möglichst nüchtern und sachlich darzustellen – und damit auch eine Gegenposition zur Repräsentation im öffentlichen Diskurs einzunehmen –, wurde auch in der Gastarbajteri-Ausstellung mit Emotionalisierung gearbeitet – sei es über Briefe, in denen Migranten über ihre Lebenssituation, Erwartungen und Enttäuschungen berichten, sei es über Interviewmitschnitte mit Migranten oder auch im Zusammenhang mit den Bildungs- und Vermittlungsprogrammen. Migration in Bildern verwendete eine Reihe unterschiedlicher Medien, wie Wandtafeln, dreidimensionale Objekte, Multimediapräsentationen und Skulpturen mit dem Ziel, das Thema Migration nicht nur auf kognitiver Ebene zu vermitteln, sondern unterschiedliche Wahrnehmungsebenen anzusprechen, und damit die Ausstellung auch »erlebbarer« zu machen.40 Emotionalisierung war auch in dieser Ausstellung ein Thema. Eine der Strategien, die diesbezüglich verfolgt wurden, bestand darin, zu individualisieren, individuelle Geschichten zu erzählen. Ein Beispiel dafür ist ein Film zum Thema Flucht und Arbeit, der auf Erzählungen von fünf Flüchtlingen basiert und deren Versuchen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Erkennbar ist im Film nur die Silhouette eines Schauspie-

38 Interview mit Cornelia Kogoj, 29. Juli 2008. 39 Hakan Gürses: »Eine Geschichte zwischen Stille und Getöse«, in: Gürses/Kogoj/ Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 24-27, hier S. 25. 40 Interview mit Stephan Blasnig, Armin Brugger und Gerhard Hetfleisch, 19. Juni 2008.

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lers, der die Probleme darstellt, mit denen Flüchtlinge und Asylwerber auf der Suche nach Arbeit konfrontiert sind. Im Hintergrund erscheint ein Text, der meist nur schwer zu sehen ist, manchmal fehlt der Text überhaupt. Dies steht zum einen »für den schwierigen Zugang zu den Geschichten der Flüchtlinge […]«, die Abwesenheit des Textes soll »die Angst der Flüchtlinge« symbolisieren, »sich zu äußern«.41 Schmerzhafte Erfahrungen, die Flüchtlinge in dieser Situation machen, wurden in der Installation zusätzlich durch einen um das Fernsehgerät gelegten Stacheldraht versinnbildlicht (vgl. Abbildung 3). Ein vielleicht auch emotionalisierendes Objekt der ganz anderen Art war das sogenannte Motzmonster, eine kleine Figur aus Papiermaché, die gemeinsam mit Jugendlichen aus Migrationsfamilien gestaltet wurde und darstellen soll, was die Jugendlichen im Alltag »blockiert, was sie nervt und verärgert«42. Hier hatten sie die Gelegenheit zu »motzen«, ihren Unmut kundzutun. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verantwortlichen der Ausstellung Migration in Bildern, die unterschiedlichen Ansätze, die von der Gastarbajteri-Ausstellung und von Migration. Eine Zeitreise nach Europa im Hinblick auf die Verwendung von Objekten verfolgt wurden, kombinierten: Zum einen wurden auch großformatige Objekte in die Ausstellung integriert, wie die bereits erwähnte mongolische Jurte oder der Tunnel, durch den man hindurchgehen konnte, und der die Entwicklung der rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für Migration und Migranten in Österreich seit den 1960er Jahren widerspiegelte (vgl. Abbildung 4). Je nachdem, ob die rechtlichen Regelungen restriktiver oder liberaler gestaltet wurden, vergrößerter oder verkleinerter sich auch der zur Verfügung stehende Raum im Tunnel. Zum anderen wurden mit diesen Exponaten jedoch sehr sachlich und nüchtern Informationen vermittelt. So wurde zum Beispiel auf einer Tunnelinnenseite der Verlauf des österreichischen Wirtschaftswachstums abgebildet und auf der gegenüberliegenden Seite die Entwicklung der Beschäftigung unselbstständig erwerbstätiger Migranten in Tirol nachgezeichnet. 2.2 Wer sind die Erzähler der österreichischen Migrationsgeschichte? Wer hat die Deutungshoheit über vergangene und zeitgenössische Ereignisse? Wer ist mit der Repräsentationsautorität ausgestattet? Wer hat die Darstellungsmacht und wer bedient sich dieser Macht zur Selbst- und Fremddarstellung? Diese Fragen stellen sich im Zusammenhang mit jeder Ausstellung, sind jedoch

41 ZeMiT: Reader zur Ausstellung Migration in Bildern, Kap. 16. 42 Ebd.

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Abbildung 3: Videoinstallation (Wanderausstellung Migration in Bildern 2006)

Abbildung 4: Tunnelinstallation (Wanderausstellung Migration in Bildern 2006)

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im Kontext von Migrationsausstellungen noch bedeutsamer, da Migranten im Allgemeinen nicht mit der gleichen Darstellungs- und Deutungsmacht ausgestattet sind wie Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung. Die Integration von Migranten und ihrer Standpunkte wurde demzufolge auch in den analysierten Ausstellungskonzepten als wichtiges Ziel definiert. Bei der Umsetzung dieses Anspruchs treten jedoch zum Teil deutliche Unterschiede zu Tage, sowohl was die Zusammensetzung der Ausstellungsteams betrifft als auch die Sichtbarkeit migrantischer Perspektiven. Besonders betont wurde dieser Aspekt in der Gastarbajteri-Ausstellung, für deren Team »[d]ie Maxime, die Perspektive der MigrantInnen in den Vordergrund zu stellen«43, richtungsweisend für die gesamte Recherchearbeit war. Die Organisatoren der Ausstellung Migration. Eine Zeitreise nach Europa verweisen in ihrer Begleitpublikation zur Ausstellung darauf, dass »Migranten […] in der Regel von der Partizipation an kulturellen Aktivitäten ausgeschlossen [sind]. Weder als Objekt noch als Subjekt standen sie bislang im Fokus der Museen. Dem sollte etwas entgegengesetzt werden.«44 Auch im Reader zur Ausstellung Migration in Bildern wird die Beteiligung von Migranten an der Ausstellung hervorgehoben, wenn die Autoren schreiben, dass »Erfahrungen und Geschichten […] von MigrantInnen selbst erzählt« werden und sich »Jugendliche und junge Erwachsene« mit Migrationsbiographien »in die Ausstellung aktiv eingebracht, Inhalte beigesteuert und Exponate gestaltet«45 haben. In diesem Zusammenhang sind zwei Fragen von zentraler Bedeutung, die im Folgenden und am Beispiel der drei hier behandelten Fallstudien aufgeworfen und kurz beantwortet werden sollen: 1) Waren Immigranten (beziehungsweise Österreicher mit Migrationsbiographien generell) Teil des Ausstellungsteams? 2) Waren Immigranten (beziehungsweise Österreicher mit Migrationsbiographien generell) und ihre Perspektiven in den Ausstellungen selbst sichtbar und hörbar? Beide Fragen müssen ausstellungsspezifisch beantwortet werden. Vor allem die Gastarbajteri-Ausstellung, aber auch Migration in Bildern wurden von einem gemischten Team von Migranten und autochthonen Österreichern organisiert, während Migration. Eine Zeitreise nach Europa ohne die aktive Beteiligung von Migranten oder Migrantenvereinen realisiert wurde. Auch das Team vom Museum Arbeitswelt Steyr versuchte Migrantenvereine in die Ausstellungsarbeit zu integrieren, was ihnen jedoch, so Michael John, nicht gelungen ist: »Das hat deswegen nicht funktioniert, weil die Migrantenorganisationen nicht in

43 G. Ongan: »Orte wiedererkennen«, S. 88. 44 Michael John/Manfred Lindorfer: »editorial«, in: kursiv 1/2 (2003), S. 2. 45 ZeMiT: Reader zur Ausstellung Migration in Bildern, S. 3.

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der Lage waren – zumindest hier in Oberösterreich – sozusagen miteinander einen Beitrag zu leisten.«46 Seiner Einschätzung nach waren es vor allem zwei Faktoren, die dafür verantwortlich waren. Zum einen verfügten die Vereine nicht über genügend aktive Mitglieder, um den Anforderungen eines derart großen EU-Projektes zu entsprechen, um zum Beispiel Deadlines einhalten zu können; zum anderen reichten die finanziellen Mittel, die für das Ausstellungsprojekt vorhanden waren, nicht aus, um hier von Seiten der Organisatoren zusätzliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.47 Um die Problematik dieser NichtRepräsentation von Migranten im Ausstellungsteam zumindest abzuschwächen, unternahm Michael John vor der Realisierungsphase zwei virtuelle Führungen durch die Ausstellungsräumlichkeiten, an denen insgesamt fast 50 Migranten, die in der Region leben, teilnahmen. Auf Basis dieser Begehungen und der Ideen beziehungsweise der Kritik, die von Seiten der Migranten eingebracht wurden, kam es laut Michael John auch tatsächlich zu Veränderungen in der Ausstellungsgestaltung.48 Migration in Bildern wurde im Kern von Mitarbeitern der NGO ZeMiT getragen und einem externen Kurator, der bereits über Erfahrung im Ausstellungsbereich verfügte. Um eine größere Anzahl von Personen zu aktivieren und in das Projekt zu integrieren, wurde zu Projektbeginn ein sogenanntes Get-Together organisiert, an dem rund 20 Personen teilnahmen. Letztlich bestand das Team aus Immigranten, Menschen mit Migrationshintergrund und autochthonen Österreichern; Studenten waren ebenso daran beteiligt wie Mitarbeiter einer anderen NGO in Tirol und Künstler. Darüber hinaus wurden Beiträge von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationsbiographien in die Ausstellung integriert, die an anderen Teilen des EQUAL-Projektes »Join In« beteiligt waren. Nachdem Migration in Bildern als Wanderausstellung konzipiert war, bestand eine der grundlegenden Ideen darin, auch Leute und Geschichten aus den jeweiligen (ländlichen) Gemeinden, in denen die Ausstellung Station machte, in die Gestaltung mit einzubeziehen und die Präsentation so an lokale oder regionale Verhältnisse anzupassen. Die Umsetzung dieses Konzepts gestaltete sich – so die Organisatoren im Interview – ausgesprochen schwierig. So sei es in den Regionen kaum gelungen, außer Schulen auch noch andere Stakeholder anzusprechen, geschweige denn zur Mitarbeit an der Ausstellung zu aktivieren, was unter anderem daran liegen mag, dass Multiplikatoren sowie professionelle Historiker oder

46 Interview mit Michael John, 24. Juni 2008. 47 Ebd. 48 Ebd.

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auch Amateurhistoriker im ländlichen Raum generell nicht besonders zahlreich vertreten sind, und unter Migranten noch seltener.49 Dass Immigranten Teil des Teams und auch in verantwortlichen Positionen vertreten sein müssen, war für die Verantwortlichen der Gastarbajteri-Ausstellung – so Cornelia Kogoj im Interview – selbstverständlich. »Also, das war schon klar. Dass es nicht sozusagen die weißen Österreicher sind, die die Geschichte schreiben. […] Das war schon ein wichtiger Anspruch.«50 Tatsächlich wurde die Ausstellung auch von einem sehr gemischten Team autochthoner Österreicher und Immigranten organisiert, die Leiterin der Recherchegruppe etwa war eine Immigrantin aus der Türkei. Wissenschaftler waren in die Arbeit integriert, Aktivisten aus der »Migranten- und Anti-Rassismus-Szene« sowie das Stadtmuseum und dessen Mitarbeiter in unterschiedlichen Bereichen und Positionen. Wessen Stimmen waren tatsächlich in den Ausstellungen zu hören? Wessen Perspektiven waren sichtbar und vernehmbar? Der von allen drei Ausstellungsteams formulierte Anspruch, migrantische Perspektiven besonders zu berücksichtigen, wurde nicht in allen Fällen gleichermaßen eingelöst, sowohl in Hinblick auf deren generelle Sichtbarkeit als auch die eingesetzten Repräsentationsstrategien. Die häufigste Form der Einbeziehung bestand in der Wiedergabe von Interviews mit Immigranten (und deren Nachkommen), im Falle von Migration. Eine Zeitreise nach Europa auch mit Emigranten. Alle drei Ausstellungen vertrauten auf Interviews, um Migrationsgeschichten zu erzählen und Informationen und Wissen zu vermitteln, aber auch um Authentizität zu erzielen und zu emotionalisieren. In der tatsächlichen Umsetzung unterschieden sich die Ausstellungen jedoch zum Teil deutlich voneinander. Ein Aspekt sei hier hervorgehoben. Während sowohl in der Ausstellung Migration in Bildern als auch in der Gastarbajteri-Ausstellung darauf Bedacht genommen wurde, vor allem den ›Durchschnittsmigranten‹ zu Wort kommen zu lassen, wurde in der Ausstellung Migration. Eine Zeitreise nach Europa eine sogenannte Stage of Fame mit dem Untertitel »Prominente Migranten aus dem In- und Ausland« konzipiert. Basierend auf der Überlegung, dass sich mit Testimonials bekannter Migranten »Botschaften« besser transportieren lassen, kamen in diesem Ausstellungsbereich nach Österreich eingewanderte Sportler oder erfolgreiche Geschäftsleute zu Wort, ebenso wie österreichische Emigranten, darunter Arnold Schwarzenegger, der wahrscheinlich berühmteste österreichische Auswanderer.

49 Interview mit Stephan Blasnig, Armin Brugger und Gerhard Hetfleisch, 19. Juni 2008. 50 Interview mit Cornelia Kogoj, 29. Juli 2008.

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Eine solche Stage of Fame wollten die Verantwortlichen der GastarbajteriAusstellung explizit vermeiden. Ihr Ziel war es, weder besondere Erfolgsgeschichten zu erzählen, noch ›Opfer-Geschichten‹ hervorzuheben, sondern »das Streben nach der Herstellung der Normalität durch ein laufendes Verhandeln neuer Rahmenbedingungen«51 zu dokumentieren. Jedes Thema und damit jede Station in der Ausstellung wurde mit einem Film eingeleitet, in dem Migranten von ihrem Leben, ihrer Migrationsgeschichte und ihren Aktivitäten erzählen. So wurde zum Beispiel das Thema der selbstständigen Erwerbstätigkeit von Immigranten und die Entwicklung von ethnischen Ökonomien unter anderem durch Interviews mit einem Unternehmer aus dem früheren Jugoslawien sowie dem Geschäftsführer einer türkischen Bäckerei in Wien repräsentiert. Interviews mit Immigrantinnen, die bei einer österreichischen Fischfabrik beschäftigt gewesen sind, dokumentierten die Bedeutung der Arbeitsmigration von Frauen nach Österreich. Ein türkischer Einwanderer, der in den frühen 1970er Jahren nach Österreich gekommen ist und nach wie vor mit seiner Familie hier lebt, stand mit seinen Erzählungen über die zum Teil unzumutbare Wohnsituation von Arbeitsmigranten und deren Familien für die Erfahrungen vieler in diesem Bereich.

3. ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Einem europäischen Trend folgend wurden auch in Österreich in den letzten zehn Jahren mehrere historische Migrationsausstellungen organisiert; drei wurden in diesem Beitrag unter zentralen Aspekten vergleichend analysiert. Dabei wurden insbesondere drei Punkte herausgearbeitet, in denen sich die Ausstellungen zum Teil paradigmatisch voneinander unterschieden. Besonderes Augenmerk wurde zum einen auf die Akteure dieser erinnerungspolitischen Aktivitäten gelegt, zum anderen wurde nach den jeweiligen Erzählungen und den Repräsentationsstrategien gefragt. Abschließend werden die diesbezüglichen Ergebnisse kurz zusammengefasst und die Diskussion um zwei Faktoren erweitert, die über die Fallanalysen hinaus generelle Fragen im Hinblick auf die Repräsentation von Migrationsthemen in Museen und spezialisierten Ausstellungen aufwerfen. In Österreich sind vor allem zwei Akteursgruppen aktiv an der Ausstellung von Migrationsgeschichte beteiligt: Nicht-Regierungsorganisationen und Museen. In Bezug auf Museen muss hier jedoch eingeschränkt werden, dass es nicht – wie angenommen werden könnte – die historischen Museen sind, die eine Vorreiterrolle in diesem Bereich übernehmen, sondern kleine lokale Museen oder

51 G. Ongan: »Orte wiedererkennen«, S. 90.

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Spezialmuseen wie das Museum Arbeitswelt Steyr. Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass es nicht immer die Museen selbst sind, die eine Migrationsausstellung initiieren. Die Analyse hat gezeigt, dass die Frage, wer in die Planung, Organisation und Realisierung einer Migrationsausstellung involviert ist, wer also die Deutungsmacht für sich in Anspruch nimmt, einer der wichtigsten Faktoren für Ziele, Inhalte und vor allem Repräsentationsstrategien ist. Ob eine NGO oder ein Museum für die Organisation verantwortlich ist oder ob Immigranten konstitutiver Bestandteil des Teams sind, ist von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung. Vor diesem Hintergrund ist die Gastarbajteri-Ausstellung von besonderem analytischem Interesse, da hier zwei »Welten« aufeinandertrafen, die zum Beispiel im Hinblick auf Organisations- oder Kommunikationskultur nicht unterschiedlicher hätten sein können: eine basisdemokratisch ausgerichtete NGO wie die Initiative Minderheiten und eine etablierte Kulturinstitution mit klaren Hierarchien und Zuständigkeiten wie das Wien Museum. Der Museumsdirektor brachte diese Begegnung mit den Worten »Engagierte Initiative meets Museum«52 auf den Punkt. Die hier diskutierten Auffassungsunterschiede im Hinblick auf die Verwendung emotionalisierender Objekte ist nur ein Beispiel für die schwierigen Aushandlungsprozesse zwischen den Vertretern der beiden Organisationen. Die drei Ausstellungen fokussierten unterschiedliche Aspekte der österreichischen Migrationsgeschichte. Während sich die Gastarbajteri-Ausstellung auf die Darstellung der sogenannten Gastarbeitermigration spezialisierte, beschäftige sich Migration in Bildern allgemeiner mit der Nachkriegsmigrationsgeschichte und Migration. Eine Zeitreise nach Europa spannte den Bogen bis ins 19. Jahrhundert. Ein wesentlicher Unterschied – vor allem zwischen der GastarbajteriAusstellung und Migration. Eine Zeitreise nach Europa – bezieht sich darauf, ob und welche Immigranten in den Ausstellungen sichtbar waren. Während in allen Konzepten einhellig betont wird, wie wichtig die Integration migrantischer Perspektiven ist, lassen sich – wie in der Analyse gezeigt wurde – in der Umsetzung dieses Anspruches paradigmatische Unterschiede erkennen, die mit den Begrifflichkeiten »Normalität« versus »Stage of Fame« zusammengefasst werden können. Gemeinsam war allen drei Ausstellungen das Ziel, die österreichische Migrationsgeschichte ins kollektive Gedächtnis des Landes einzuschreiben und damit auch die Museumspraxis, die Sammlungs- und Ausstellungspolitiken zu verändern. Fast zehn Jahre nachdem zwei der drei besprochenen Ausstellungen ge-

52 Wolfgang Kos: »Winken zum Abschied, Winken zum Aufbruch«, in: Gürses/Kogoj/ Mattl, Gastarbajteri (2004), S. 12-16, hier S. 15.

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zeigt wurden, hat sich jedoch am pessimistischen Befund, dass Migrationen noch nicht ihren Weg in die Dauerausstellungen der österreichischen Museen gefunden haben, wenig geändert. In Bezug auf die Gastarbajteri-Ausstellung sind die Vertreter der beiden involvierten Organisationen beispielsweise unterschiedlicher Meinung über die Nachhaltigkeit der Ausstellung im Wien Museum. Während Wolfgang Kos im Interview davon spricht, dass die Kooperation wie ein »Seminar für das Museum«53 gewesen sei, zeigte sich Cornelia Kogoj enttäuscht über die – aus Sicht der Initiative Minderheiten – marginalen Effekte der Ausstellung im Museum. Der nationalen Kulturpolitik war und ist das Thema Migration offensichtlich kein bedeutendes Anliegen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass alle drei der in diesem Beitrag besprochenen Ausstellungen nicht ohne finanzielle Mittel der Europäischen Union hätten verwirklicht werden können. Und darauf deuten unter anderem die Erfahrungen der Initiative Minderheiten hin, die im Rahmen eines Nachfolgeprojektes zur Gastarbajteri-Ausstellung erneut versucht haben, österreichisches Geld für die Finanzierung ihres Projektes zu lukrieren. Dies ist zwar insofern gelungen, als neben anderen Aktivitäten zwei Ausstellungen realisiert werden konnten, die sich künstlerisch mit dem Thema Migration auseinandersetzten. Die ursprünglich geplante dokumentarische und historische Ausstellung Viel Glück! konnte jedoch auf Grund fehlender finanzieller Ressourcen nicht umgesetzt werden.

53 Interview mit Wolfgang Kos, 17. Juni 2008.

Integration und Community Building in Einwanderungsmuseen und -ausstellungen Präsentationen, Praktiken und Handlungsmacht R OBIN O STOW

E INWANDERUNGSMUSEEN , E INWANDERUNGSKONTROLLE UND D IVERSITY M ANAGEMENT In einer Zeit, in der der Ruf nach Immigrationsbeschränkungen in vielen Ländern immer lauter wird, bleibt die Antwort der Einwanderungsmuseen nicht aus: Sie demonstrieren Wertschätzung gegenüber den Immigranten; sie streichen nationale Traditionen von Toleranz und Gastfreundschaft heraus, aber auch Erscheinungsformen von Nativismus oder Xenophobie. Sie geben dem Diversity Management in der Öffentlichkeit Gesicht und Gestalt und widmen sich komplexen Fragestellungen zu den Themen Zugehörigkeit und Migration. Joachim Baur zeigt, wie drei Einwanderungsmuseen in den USA, Kanada und Australien heroische Immigrationsgeschichten mit Bildern von langen Schiffsreisen und Grenzübertritten erzählen.1 Die Immigranten werden dabei als Helden des 21. Jahrhunderts dargestellt, die mühselige Reisen auf sich nehmen, Hindernisse überwinden und sich erfolgreich an eine neue Umgebung anpassen. Ausstellungen zum Thema Immigration zeigen auch, wie die Neuankömmlinge nach Passieren der Grenzkontrollen von Communities oder Nationen aufgenommen – oder in manchen Fällen auch nicht aufgenommen – werden. Anhand von Beispielen aus den USA, Kanada, Australien, Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland versucht dieser Beitrag herauszuarbeiten, dass Im-

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Vgl. Joachim Baur: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld: transcript 2009.

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migrationsmuseen und -ausstellungen in ihren Präsentationstechniken und Praktiken rund um das Thema Einwanderung eine große Bandbreite an Modellen für Integration und Community Building aufweisen. Vereinigte Staaten von Amerika Das Ellis Island Immigration Museum im Hafen von New York, das 1990 eröffnet wurde, ist das größte seiner Art und eine Ikone unter den Einwanderungsmuseen der USA.2 Es wurde in jenem Gebäude eingerichtet, in dem in den Jahren von 1892 bis 1924 mehr als zwölf Millionen Einwanderer – größtenteils aus Süd- und Osteuropa – kontrolliert und zur Einreise zugelassen, zuweilen jedoch auch angehalten oder deportiert wurden. Es ist zu einer Pilgerstätte für die hundert Millionen Amerikaner geworden, die ihre Familiengeschichte zu dieser Insel zurückverfolgen können. Die einzelnen Teilausstellungen bringen sehr eindrucksvoll die Gebäudestruktur selbst zur Geltung: In der großen Halle (»Great Hall« beziehungsweise »Registry Room«) wurden die Personalien der Einwanderer geprüft. In den angrenzenden kleinen Räumen macht die Ausstellung Through America’s Gate deutlich, wie die Einwanderung erlebt wurde, und zeigt die Lebensbedingungen jener, die auf der Insel aus medizinischen oder politischen Gründen festgehalten wurden. Die Ausstellung Treasures From Home zeigt die von den Einwanderern in Koffern mitgebrachten Schätze aus der Heimat. Ein weiterer Ausstellungsbereich thematisiert die Geschichte der Insel und des Gebäudes. Vom anderen Ende der Abfertigungshalle (»Great Hall«) geht es zu zehn weitläufigen Räumen, wo unter dem Titel Peak Immigration Years: 1880-1924 anhand von vergrößerten Photos und Texten die umfassendere Geschichte erzählt wird, wie die Immigranten in Europa zunächst Opfer von Verfolgung und Armut waren, dann den Atlantik auf dem Zwischendeck überquerten und sich bei ihrer Ankunft oft dem Misstrauen und den Feindseligkeiten der im Land geborenen Amerikaner ausgesetzt sahen. Die Ausstellung erläutert, wie sich die Einwanderer, nachdem sie Ellis Island passiert hatten, in ethnischen Enklaven niederließen, die sich zu florierenden Communities entwickeln sollten, und wie sie buchstäblich die Stadt New York aufbauten. Die ethnischen Communities erfahren Wertschätzung für die soziale und politische Unterstützung, die sie den Zuwanderern zukommen ließen, und ebenso für die neue hybride

2

Joachim Baur erwähnt die Errichtung des New Americans Museum in San Diego (derzeit geschlossen) und des Angel Island Museum in San Francisco Bay. Auch in kleineren Orten finden sich Immigrationsmuseen. Vgl. J. Baur: Die Musealisierung der Migration, S. 197.

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Kultur, die aus ihnen erwuchs. Die Ausstellung Peak Immigration Years stellt zudem die Opposition nativistischer Gruppen gegenüber der Zuwanderung dar und schildert, wie – langsam und unter beidseitigem Zögern – die Immigranten den Gewerkschaften beigetreten sind und um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen gekämpft haben. Das Museum erzählt eine Geschichte darüber, wie die Einwanderer sich selbst und die Gesellschaft um sich herum veränderten: Sie halfen mit, New York aufzubauen, schlossen sich zu Organisationen zusammen, durch die sie sich integrierten und wirtschaftliche Erfolge erzielten, trugen dazu bei, die Gesellschaft gerechter zu machen – und wurden zu US-Amerikanern.

Abbildung 1: Streik von New Yorker Arbeitern aus der Bekleidungsindustrie im Jahr 1913 (Peak Immigration Years, Ellis Island Immigration Museum)

Das 1988 gegründete und 1994 in der heutigen Form eröffnete Lower East Side Tenement Museum widmet sich der Niederlassung amerikanischer Immigranten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Seine Lage an der New Yorker Lower East Side in einem Gebäude, in dem viele Immigranten gelebt haben, macht es zu einem weiteren In-situ-Museum und außerdem zu einem Museum darüber, wie man in den Vereinigten Staaten ›zu Hause‹ ist. Sechs der zehn Wohnungen des Gebäudes wurden restauriert und in jenen Zustand zurückversetzt, den sie zu verschiedenen Zeitpunkten in den sieben Jahrzehnten – von 1863 bis 1935 –

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aufwiesen, als Zuwandererfamilien darin wohnten. Hier wandern die Besucher nicht einzeln durch das Museum, sondern werden in Gruppen durch Teile des Gebäudes geführt. Die Titel, unter denen diese Führungen laufen – »Getting By« oder »Piecing it Together« – spiegeln den anti-heroischen Zugang des Museums zum Leben der Einwanderer wider.3 Die Museumsführer erläutern, unter welchen Bedingungen in diesem Gebäude gelebt wurde und wie sich diese im Lauf der Jahre veränderten; mit Hilfe von Objekten und faksimilierten Dokumenten erzählen sie die Geschichte ausgewählter Mieterfamilien. Die detailreichen Erzählungen sind weder geschönt noch nostalgisch.

Abbildung 2: Küche der Familie Baldizzi (Lower East Side Tenement Museum)

Die Besucher erfahren, wie sich Nathalie Gumpertz abmühte, vier kleine Kinder aufzuziehen, nachdem ihr Ehemann während der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre verschwunden war. Die Wohnung der Familie Rogarshevsky präsentiert sich in dem Zustand, in dem sie sich während der Schiwa, der jüdischen Trauer3

Joachim Baur vertritt eine gegensätzliche Sicht. Seine Recherchen haben drei Jahre vor meinen eigenen stattgefunden; inzwischen hat sich die Ausstellung geändert. Vgl. Joachim Baur: »Commemorating Immigration in the Immigrant Society: Narratives of Transformation at Ellis Island and the Lower East Side Tenement Museum«, in: Mareike König/Rainer Ohliger (Hg.), Enlarging European Memory. Migration Movements in Historical Perspective, Ostfildern: Thorbecke 2006, S. 137-146.

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periode, für Abraham Rogarshevsky befand, der 1918 an Tuberkulose starb. Der Text erklärt auch die Bedeutung, die der »landsmanschaft« – der Vereinigung jüdischer Einwanderer aus einer bestimmten Stadt – bei der Unterstützung der Familie Rogarshevsky während dieser schwierigen Zeit zukam. In einer Tonbandaufnahme erinnert sich eine andere ehemalige Hausbewohnerin, Josephine Baldizzi (1926-1998), daran, wie sie in den 1930er Jahren in diesen Räumen aufwuchs. Sie erzählt, wie ihre Mutter sie im Abwaschbecken der Küche gewaschen hat, und beschreibt die Familie beim Essen, Kartenspielen und Musikhören am Sonntagnachmittag. Das Museum zeigt also, wie Immigranten durch ihre Arbeit zu Amerikanern wurden – aber ebenso durch ihr Zusammenleben, ihr gemeinsames Heranwachsen, die Trauer um ihre Toten und das Leben als Nachbarn. Kanada Das 1999 gegründete Canadian Museum of Immigration at Pier 21 liegt wie das Ellis Island Museum an der Atlantikküste, und zwar am Pier 21 in Halifax Harbor. Von 1928 bis 1971 haben 1,5 Millionen »neue Kanadier« – wie die Immigranten in Kanada jetzt genannt werden – das Land über diese Anlegestelle betreten, an der sich auch jene Kanadier einschifften, die im Zweiten Weltkrieg in Europa kämpften. Im Gegensatz zu Ellis Island haben sich fast keine der Einwanderer, die am Pier 21 einreisten, in der Region um Halifax niedergelassen. Der hintere Teil des Abfertigungszentrums war eine Eisenbahnstation. Die Immigranten wurden sofort in Züge verladen, die nach Westen fuhren. Am Pier 21 wird das Thema Immigration vor allem durch Texte, vergrößerte Photos und Dokumente sowie einen erlebnisorientierten holographischen Film in einer Schiffsinstallation und eine simulierte Fahrt in einem nachgebauten Eisenbahnwaggon vermittelt. Bei dem großen mittleren Raum handelt es sich um die Halle, in der die Neuankömmlinge abgefertigt wurden. Sie enthält Bankreihen wie jene, auf denen die Immigranten Platz nehmen konnten, während sie auf die Zollabfertigung und die Passkontrolle warteten. Ein Schalter repräsentiert jene Stelle, wo kanadische Beamte die Einwanderungspapiere überprüften und abstempelten. Heute kann der Museumsbesucher den Grenzübertritt nachspielen, indem er einem ehrenamtlichen Museumsmitarbeiter, der einen Beamten darstellt, einen ›Pass‹

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vorweist. Jedem Museumsbesucher wird dabei die Einreise nach Kanada gestattet.4 Eine der zentralen Installationen hat die Form eines Schiffs, das die Besucher über einen Steg betreten können. Danach gelangen sie in einen großen Saal, in dem im Stundentakt Oceans of Hope, ein holographischer Film von fünfundzwanzig Minuten Dauer, vorgeführt wird.5 Darin verkörpern Schauspieler Soldaten und Immigranten, die den Pier 21 passiert haben. Alle Immigranten – ukrainische und italienische Bauern, jüdische Holocaust-Überlebende, baltische Flüchtlinge und britische Kriegsbräute – sind durch ihren übertrieben fremdartigen Akzent und ihr emotionales Verhalten auf stereotype Weise markiert. Die Kanadier am Pier – Einwanderungsbeamte sowie Kranken- und Ordensschwestern – übernehmen Helferrollen. Sie sind ruhig, freundlich und kompetent. Beim Verlassen der Schiffsinstallation gelangt der Besucher zu einem Bereich, in dem die Themen Freundlichkeit, Gastfreundschaft und ehrenamtliches Engagement in Halifax, verankert in den religiösen Einrichtungen und den zivilgesellschaftlichen Organisationen, weitergeführt werden. Kinderwagen, ein kindgerechter Tisch und Stühle, die von vergrößerten Photos der damaligen Kinderbetreuungsstation umgeben sind, illustrieren, wie kanadische Freiwillige – darunter viele Frauen aus der Umgebung – den einreisenden Müttern, während diese auf die Abfertigung warteten, bei der Versorgung ihrer Kinder halfen. Eine Vitrine zeigt eine der kleinen Taschen – »ditty bags« genannt –, die die Einwanderer erhielten. Darin finden sich Zahnbürste, Kamm, Seife, Bibel, Kinderspielzeug und andere Gebrauchsgegenstände, die für die Weiterreise notwendig waren. Die von der United Church zur Verfügung gestellten »ditty bags« demonstrieren, wie gut Kanada für seine Einwohner vom Augenblick ihrer Ankunft an gesorgt hat. Die letzte Installation der ständigen Ausstellung, erarbeitet in Zusammenarbeit mit der Canadian Broadcasting Corporation, ist ein nachgebauter Eisenbahnwaggon, den zu betreten der Besucher aufgefordert wird. Durch die Fenster sieht er die kanadische Landschaft vorbeiziehen, während er eine Fünf-MinutenReise durch das Land – von Küste zu Küste – unternimmt. In einigen Abteilen kann man auf Bänken Platz nehmen und über Monitore und Kopfhörer ›wirklichen‹ Immigranten zusehen und zuhören, wie sie über ihre Erfahrungen berich-

4

Im Gegensatz dazu werden in den Immigrationsmuseen in Adelaide und Melbourne die Besucher eingeladen, als Beobachter an simulierten Immigrationsinterviews teilzunehmen, bei denen viele Einwanderungskandidaten abgewiesen werden.

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Michael Lemieux/Victor Pilon: Oceans of Hope. Film, 25 Minuten, Halifax: Pier 21, 2001.

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ten. Ihre Erzählungen betonen meist, wie aufgeregt und ängstlich sie bei der Landung waren – ein Echo des holographischen Films –, wie hart die ersten Jahre waren, wie behaglich und glücklich sie sich jetzt fühlen und wie nett die Kanadier sind. In den letzten Jahren hat das Canadian Museum of Immigration at Pier 21 Programme entwickelt, die sich sowohl individuell an die Neuankömmlinge richten, als auch die nicht-europäischen Immigrantengruppen, seien es neue oder alteingesessene, zu erreichen suchen. Heute beschäftigt das Museum »neue Kanadier« – meist im Museumscafé auf Basis von Sechs-Monats-Verträgen – und gibt ihnen einen Tag pro Woche zum Besuch von Englischkursen frei. Das Museum ermuntert seine Besucher auch dazu, auf ihre eigenen Immigrationserfahrungen zurückzugreifen und ihre Erinnerungen an das Museumsarchiv weiterzugeben. Die neu Eingewanderten werden einbezogen, indem sie aufgefordert werden, ihre Biographien zu dieser nationalen Sammlung beizusteuern. Das Canadian Museum of Immigration at Pier 21 stellt somit weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene eine Geschichte von Transformationen dar. Es zeigt vielmehr die schon im Land geborenen Kanadier, wie sie ihre Heimat verteidigen und im Zweiten Weltkrieg das besetzte Europa befreien und wie sie die neu Zugewanderten entweder individuell oder durch ehrenamtliche Organisationen bereitwillig aufnehmen. Auf der anderen Seite veranschaulicht das Museum, wie die Immigranten durch Besiedelung eines Landes, das als weitgehend unbevölkert angesehen wird, und durch das, was Baur den »Diskurs der Dankbarkeit«6 bezeichnet, zu Kanadiern werden. Das Museum leistet auch selbst einen Beitrag zur Integration der »neuen Kanadier«, indem es ihnen Wertschätzung entgegenbringt, ihre Lebensgeschichten aufzeichnet und sammelt sowie einige der kürzlich Eingewanderten dadurch unterstützt, dass es sie im Museumsshop beschäftigt. Australien Australien hat zwei bedeutende Immigrationsmuseen. Als erstes großes Immigrationsmuseum der Welt wurde 1986 das Migration Museum in Adelaide eröffnet, 1998 folgte das Immigration Museum in Melbourne. Viv Szekeres, von 1987 bis 2008 Direktorin des Migration Museum, erläutert, dass beide Museen ihre Entstehung einer Spielart des Multikulturalismus verdanken, wie sie in Australien in den 1980er Jahren verbreitet war. Demgemäß könnten Szekeres zufolge »ethnische Gruppen‚ ›die für sie charakteristischen zentralen Werte, ihre Spra-

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J. Baur: Die Musealisierung der Migration, S. 242.

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che, Familientradition und Religion innerhalb eines Rahmens gemeinsamer Werte‹ bewahren, wobei davon ausgegangen wird, dass die anglo-australische Gruppe den dominanten Beitrag leistet.«7

Abbildung 3: Photoinstallation mit dem Titel »Kuol Baak: Dinka tribesman, child soldier, refugee, South Australien« (Migration Museum in Adelaide)

Ein Hauptziel dieses Migrationsmuseums ist es, »das Bewusstsein für die kulturellen Traditionen zu verstärken, die […] zur reichen kulturellen Diversität des Staates beitragen.«8 Eine große Vitrine zeigt kulinarischen Multikulturalismus – die ausgewogene Cuisine, die sich auf verschiedene Zutaten und Techniken 7

Viv Szekeres: »The Role of Culture-Specific Museums«. Vortrag auf der CAMA Conference of Australian Museum: Collecting and Presenting Australia, Canberra 21.24. November 1990. Unveröffentliches Manuskript, 1990.

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Viv Szekeres: »Representing Diversity and Challenging Racism: the Migration Museum«, in: Richard Sandell (Hg.), Museums, Society, Inequality, London: Routledge 2002, S. 142-152, hier S. 142.

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stützt, welche die Immigranten mitgebracht haben. Die Dauerausstellung gibt zudem einen breiten historischen Überblick über die Einwanderung nach Australien und zeigt Biographien kürzlich eingewanderter Immigranten und Flüchtlinge. Einer davon ist Kuol Baak aus der afrikanischen Ethnie der Dinka, der als Kindersoldat im Sudan diente. Nachdem er aus humanitären Gründen 2003 in Australien aufgenommen worden war, erwarb er einen akademischen Grad auf dem Gebiet der Regional- und Städteplanung und heiratete eine in Australien geborene Frau. Er leistet seinen Beitrag zum Multikulturalismus, indem er andere sudanesische Flüchtlinge in Adelaide die Dinkasprache lehrt. In ähnlicher Weise zeigt das Immigration Museum in Melbourne die Einwanderungsgeschichte Australiens und präsentiert die Lebensgeschichten einzelner Immigranten, die ihre Kultur mit in die neue Heimat bringen. Über diese Präsentation der Immigranten und ihrer kulturellen Artefakte hinaus unterhalten beide Museen »community access galleries«, in denen die EinwandererCommunities Wechselausstellungen über ihr kulturelles Erbe und darüber veranstalten, wie sie ihre eigene Kultur in Australien bewahren. Die Forum Gallery des Migration Museum war Schauplatz solcher Ausstellungen der jüdischen, griechischen, schottischen und kambodschanischen sowie vieler anderer Einwanderer-Communities in Adelaide. Die Community Access Gallery des Immigration Museum hat Ausstellungen veranstaltet, die etwa von kurdischen, karibischen, palästinensischen und Fidschi-Communities kuratiert wurden.9 Alle diese Ausstellungen sind Koproduktionen der betreffenden Museen und der Communities. Vorschläge zu solchen Community-Ausstellungen im Immigration Museum werden von einem Komitee geprüft, das die Legitimität der Sponsorgruppe bewertet ebenso wie die Botschaft der Ausstellung, die vorgeschlagenen Präsentationsstrategien und Ausstellungsobjekte. Die Communities werden ermutigt, sich mehr auf die Darstellung ihrer eigenen Kultur zu konzentrieren und weniger auf die politische Situation, die die Immigration ausgelöst hat, oder auf Gruppenmitglieder, die in Australien Erfolg hatten. Die Botschaft der Ausstellung soll positiv sein und Dankbarkeit ausdrücken.10 Der Katalog der Kurdenausstellung erklärt:

9

Survival of a Culture: Kurds in Australia (2010), Callaloo: the Caribbean Mix in Victoria (2009-2010), Handing on the Key: Palestinians in Australia (2009), Talanoa: Stories of the Fiji Community (2009) u.a.

10 Persönliche Mitteilung von Maria Tence, Community Exhibition Manager, Immigration Museum, 20. März 2009.

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»Am Ende des Ersten Weltkriegs teilten die Alliierten und die Türkei Kurdistan unter dem Irak, dem Iran, Syrien und der Türkei auf. Wir Kurden haben nie die Teilung unseres traditionellen Landes akzeptiert, und seitdem hat es Konflikte und Gewalt gegeben. [...] Als kurdische Australier sind wir frei, unsere alte Kultur in einer neuen Heimat zu pflegen. Und wir genießen den Frieden und die Harmonie, die wir in Australien gefunden haben.«11

In ähnlicher Weise heißt es im Katalog der palästinensischen Ausstellung: »Viele Palästinenser haben ihr Vaterland mit Schlüsseln in der Tasche verlassen. […] Diese wurden zu einem Symbol der Hoffnung, dass die Palästinenser eines Tages in das Land ihres Volkes zurückkehren würden. […] Sie symbolisieren auch das Recht künftiger Generationen, ihre eigenen Türen zu öffnen. Das Leben in einer toleranten und multikulturellen Gesellschaft gibt den Palästinensern die Freiheit, ihr kulturelles Erbe zu pflegen und […] zu wählen, wie dieses Erbe erhalten wird.«12

Viv Szekeres beschreibt einen monatelangen Verhandlungsprozess rund um eine Ausstellung der Forum Gallery über die Einwanderung aus den schottischen Highlands: »Die Sicht auf die Vergangenheit seitens der [Scottish Highlands] Society hat sich gewandelt. Neben den wohlhabenden keltischen ›Pionieren‹ erhalten nun auch die Aborigenes Anerkennung dafür, dass sie – vor der Ankunft der weißen Siedler – das Land besiedelt haben. Außerdem herrscht Einigkeit darüber, dass es zusätzlich zu den wenigen wohlhabenden Kelten eine ganze Menge armer Bauern gab, ebenso wie neue Immigranten aus Südeuropa und dem Mittleren Osten, die später ankamen. […] Was dabei geschah, ist, dass die Geschichte einer Gruppe zwischen den Mitgliedern der Gruppe ausverhandelt wurde vor dem Hintergrund der Position des Museums, wie sie der Kurator vorsichtig formuliert hatte.«13

11 Immigration Museum: Survival of a Culture: Kurds in Australia, Melbourne: Museum of Victoria 2010, S. 2. 12 Immigration Museum: Handing on the Key: Palestinians in Australia, Melbourne: Museum of Victoria 2009, S. 2. 13 Viv Szekeres: »Bridging Cultures: What do We Really Mean?«, in: Museums Australia Magazine 13 (2005) 4, S. 11-12, hier S. 12 (Hervorhebung durch die Verfasserin, R.O.)

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In den Immigrationsmuseen Australiens erzählen die Dauerausstellungen heroische Geschichten großräumiger Immigration und individuelle Lebensgeschichten. In den »community access galleries« jedoch wirken die Museumsmitarbeiter aktiv daran mit, wie sich die Einwanderer-Communities definieren, wie sie ihre Narrative gestalten und wie sie ihre Kulturen präsentieren. Die Geschichte jeder Gruppe wird mit der Storyline des Museums in Einklang gebracht. Die Museen integrieren Immigranten, indem sie das Haus für sie öffnen und sie anleiten, ihre Kultur und die Erfahrungen, die sie im Zuge der Immigration gemacht haben, im Rahmen der Geschichte und Ideologie Australiens zu erzählen und darzustellen. Frankreich Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration, die 2007 in Paris eröffnet wurde, ist Europas einziges Immigrationsmuseum, das den Status eines Nationalmuseums genießt. Es wurde in dem Gebäude eingerichtet, das 1931 Schauplatz der internationalen Kolonialausstellung war, und widmet sich der Immigration nach Frankreich seit dem späten 19. Jahrhundert. Ein großer Teil der Dauerausstellung besteht aus Photos, die den Beitrag dokumentieren, den die Immigranten als Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder zur französischen Gesellschaft geleistet haben. Ein Photo von Bruno Serralongue, das in einem der großen zentralen Räume des Museums hängt, zeigt illegale Einwanderer, die Sans-Papiers, bei einer Demonstration für ihre Legalisierung. Besonders auffällig ist jedoch der breite Raum, der Installationen von Künstlern zukommt, seien sie Immigranten oder nicht. Thomas Mailänders Les voitures cathédrales (2004) verschmilzt die Autos der Immigranten – sauber, farbenfroh und vollgepackt mit Dingen, die Sommer und Ferien suggerieren – mit Kathedralen, einem zentralen Element von Frankreichs architektonischem Erbe. Patrick Zachmanns Portraits de maliennes (2003) fügt Bilder von Immigrantinnen aus Mali und deren Kleidung zu einem Kunstwerk zusammen. Barthélemy Toguo, ein in Kamerun geborener Künstler, baut in Climbing Down (2004) aus Stockbetten und Plastiktaschen eine Art Jakobsleiter, die Himmel und Erde verbindet. In diesem Museum ermöglicht die Kunst einen visuellen Dialog zwischen Immigranten und Besuchern; außerdem werden die Immigranten dadurch integriert, dass ihre Kunst und die Bilder, die sie zeigen, in einem Nationalmuseum präsentiert werden. Auf diese Weise macht das Museum sie zu einem Teil von Frankreichs kulturellem Erbe. Die ausgestellten Arbeiten treffen aber auch Aussagen über das Recht auf Einbürgerung in Frankreich und darüber, wie man durch Teilnahme an den politischen Konflikten und an der Kulturproduktion Frankreichs – Mode mit eingeschlossen – Franzose wird.

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Im Oktober 2010 ist die Cité nationale de l’histoire de l’immigration von der Sans-Papiers-Bewegung mit Unterstützung des Gewerkschaftsbundes Confédération Générale du Travail besetzt worden. Das Museumspersonal hat die ungebetenen Gäste beherbergt und Veranstaltungen organisiert, um einer breiteren französischen Öffentlichkeit deren Botschaft zu übermitteln. Dabei war zu beobachten, wie sich die üblichen Beziehungen im Hinblick auf die Handlungsmacht von Immigrationsmuseen umkehren. Eine Live-Performance zur aktuellen Migrationsgeschichte wurde von den Migranten, den Sans-Papiers, initiiert. Mit Hilfe der Museumsmitarbeiter benutzten sie das Museum als Bühne für die Darstellung ihrer Kämpfe. Unter dem Druck des Immigrationsministeriums ließ die Museumsleitung die Cité von den meisten der Besetzer räumen; sie äußerte Bedenken wegen mangelnder Sauberkeit und behauptete, dass die Besetzer den Zugang von Besuchern zu den Museumsausstellungen behinderten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehrere hundert Sans-Papiers legalisiert worden; manche der Sans-Papiers kamen zurück, um das Museum nochmals zu besetzen, bevor die Besetzung 2011 endete. Dieser relativ kleine Vorfall, der in einem Museum stattfand und in Paris Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Kampfes wurde, gewinnt in der Rückschau eine neue Dimension, wenn man ihn vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings und der im September 2011 in New York einsetzenden Occupy-Bewegung sieht. Großbritannien Das, was in Großbritannien einem Einwanderungsmuseum am nächsten kommt, ist das Museum 19 Princelet Street. Dieses baufällige und unterfinanzierte Gebäude beherbergt die wohl bemerkenswerteste Ausstellung, die London zum Thema Immigration aufzuweisen hat. In Spitalfields, in der Londoner East Side, steht ein Stadtpalais aus der georgianischen Zeit. Ursprünglich im Besitz von wohlhabenden Hugenottenflüchtlingen wurde es später in kleinere Einheiten unterteilt, um Wohnungen und Werkstätten für irische Immigranten bereitzustellen, die im 19. Jahrhundert wegen der Hungersnot Irland verlassen hatten. Später wurde es von jüdischen Einwanderern aus Osteuropa bewohnt, die im Hinterhof eine Synagoge errichteten. In jüngerer Zeit haben bengalische Flüchtlinge hier Unterkunft gefunden. Das Museum wurde von einem eingewanderten bengalischen Aktivisten, einem in der Tschechoslowakei geborenen Rabbiner und einem Hugenotten aus Südafrika begründet.14 Das Gebäude ist in einem verfalle-

14 Tassaduq Ahmed (1923-2002) kam 1952 als politischer Flüchtling aus dem damaligen Ostpakistan nach Großbritannien. In London betrieb er erfolgreich ein Restaurant, war

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nen und heruntergekommenen Zustand geblieben. Die ständige Ausstellung, Suitcases and Sanctuary (2000), besteht aus einer Serie von Installationen, die von muslimischen und jüdischen Schulkindern aus der Umgebung stammen. Dabei hat jede Gruppe, angeleitet durch ihre Geschichte- und Kunstlehrer, die Geschichte der jeweils anderen bearbeitet. Die Installationen schließen ein Video ein, das bengalische Kinder zeigt, die ein hebräisches Lied über die Freundschaft (»Hine ma tov uma naim« / »Wie schön ist es, wenn Brüder zusammen leben in Eintracht«, Psalm 133) singen, und ein Video derselben Kinder in SchtetlKostümen, die einen jüdischen Witz über Antisemitismus erzählen. Eine andere Installation zeigt Briefe, geschrieben von Kindern, die sich vorstellten, sie wären als Hugenottenflüchtlinge gerade in London angekommen. Im Obergeschoss finden sich drei Installationen zeitgenössischer Künstler, die nach Großbritannien eingewandert sind. Aber das Objekt, das im Zentrum der Ausstellung steht, ist das Haus selbst und seine Geschichte. In 19 Princelet Street gibt es keine lineare Immigrationserzählung. Dem Museum geht es vielmehr darum, dass sich der Besucher die Erfahrungen der Einwanderung durch die Identifikation mit Immigranten und marginalisierten Gruppen vorstellt. Der Rückgriff auf Arbeiten von Schulkindern macht klar, dass diese Art von Imagination und empathischer Identifikation eine Lernerfahrung bildet und darauf vorbereitet, Bürger zu sein. Die Rolle des Spiels und der Kunst steht im Vordergrund, wenn es darum geht, eine Brücke zum Anderen zu bauen.15 In diesem Museum hat die Immigration ganz buchstäblich das Gebäude geformt, das zu verschiedenen Zeiten als Wohnung, als Arbeitsstätte, als Haus des Gebets, als Zentrum einer Community und als Schauplatz des Kampfes der Juden des Londoner East End gegen den Faschismus während der 1940er Jahre gedient hat. Errichtet in Zusammenarbeit von Londoner Immigranten verschiedener ethnischer Gruppen, lädt dieses Museum die Besucher in ein Gebäude ein,

mit Prince Charles befreundet und wurde zu einem der führenden bengalischen Aktivisten in Großbritannien. Er förderte Projekte im Bereich Bildung und Multikulturalismus, um Kontakte zwischen der Bangladesch-Community und der britischen Gesellschaft zu vertiefen. Rabbi Hugo Gryn (1930-1996) war einer der maßgeblichen Rabbiner des Reformjudentums in London. Er bemühte sich um den interreligiösen Dialog zwischen Christen, Juden und Muslimen. Peter Minet begründete einen gemeinnützigen Stiftungsfonds, der in London Projekte in den Bereichen Bildung, Religion und Umwelt unterstützt. 15 Zu den Berührungspunkten zwischen Kunst, Trauma und Bildung vgl. Ernst van Alphen: »Playing the Holocaust«, in: Norman Kleeblatt (Hg.), Mirroring evil: Nazi imagery, recent art, New York: Jewish Museum 1997, S. 66-83.

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das vielen Immigranten Heimat war; nun werden dort künstlerische Arbeiten gezeigt, die von Immigranten und Menschen aus der Nachbarschaft produziert wurden und die sich thematisch der Identifikation mit Immigrations- und Flüchtlingserfahrungen widmen. Die meisten der Schulkinder, die die Installationen in der Ausstellung Suitcases and Sanctuary geschaffen haben, gehören jetzt zusammen mit ihren Familien zu den 300 ehrenamtlichen Mitarbeitern des Museums.16

Abbildung 4: Suitcases and Sanctuary (19 Princelet Street)

Eine ältere Institution, die Ben Uri Gallery: The London Jewish Museum of Art, wurde 1915 von Lazar Berman begründet, einem in Litauen geborenen jüdischen Designer und Kunsthandwerker. Ihr Ziel war es, eine Sammlung von Werken jüdischer Künstler anzulegen und den eingewanderten sowie den in Großbritannien geborenen jüdischen Künstlern, die damals keinen Zugang zu den etablierten Kunstgalerien hatten, einen Treffpunkt und einen Raum zur Ausstellung ihrer Werke zur Verfügung zu stellen. In den 1970er Jahren, als jüdische Künstler in der breiteren Londoner Kunstszene Fuß fassen konnten, verlor diese Galerie an Bedeutung. Nach einem Neustart 2001 ist sie gegenwärtig im St. John’s Wood,

16 Das Museum 19 Princelet Street hat große finanzielle Probleme und ist auf den Einsatz Freiwilliger aus den zahlreichen Immigrantengemeinden, einschließlich Flüchtlingen, angewiesen.

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einem Bezirk in der Londoner City, angesiedelt. Heute besteht ihre Aufgabe darin, jüdische Kunst zu präsentieren, eingewanderte Künstler, seien sie Juden oder nicht, bei ihrer Integration zu unterstützen und – insbesondere zu neuen Einwanderer-Communities – Brücken zu bauen.17

Abbildung 5: Praktikum von Studentinnen des Northwood College in der Ben Uri Gallery, Sommer 2009

Neben der Durchführung von Ausstellungen hat die Ben Uri Gallery eine Reihe von Zusatzprogrammen entwickelt. Sie stellt die Kunst jüdischer Immigranten an Schulen vor und bildet eingewanderte Künstler als Kunsttherapeuten für Senioren (Immigranten und Nichtimmigranten) und für traumatisierte Flüchtlinge aus. Auf diese Weise unterstützt sie die Künstler dabei, ihren Unterhalt zu verdienen, und fördert außerdem die Solidarität zwischen den Communities. Als ich die Ben Uri Gallery im Juli 2009 besuchte, war sie gerade Gastgeberin für eine 8. Klasse, also für 14-Jährige, der viele Immigranten aus Südasien angehörten. Während dieser Woche, die sie im Museum verbrachten, machten sich die Gäste mit der Ausstellung vertraut und entwickelten Marketing-Strategien für eine migrantische Kunstgalerie. Dieses Museum nimmt davon Abstand, Ausstellungen über Immigranten zu machen, und stellt stattdessen deren Kunst aus. Es unterstützt eingewanderte Künstler und fördert durch den Einsatz von Kunst die

17 Die Ausstellungen der letzten Jahre sind abrufbar unter: http://benuri.org.uk/Past.htm

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Integration von Einwanderern, Senioren und Schulkindern in die britische Gesellschaft. Das Museum of London hat im Juni 2010 eine neue ständige Ausstellung eröffnet. Ihr Ziel ist es, London als Kreuzungspunkt darzustellen, an dem Gruppen von Menschen schon in vorrömischer Zeit angekommen sind und den sie verlassen haben, und nicht als Hauptstadt einer Inselfestung. Dieser Zugang rückt die Geschichte der Migration, die in die Stadt hinein und aus der Stadt heraus führt, vom Rand in das Zentrum der Stadtgeschichte. Die neue Ausstellung erzählt die Geschichte der Region, die zu London wurde, von den prähistorischen Anfängen bis ins Jahr 2005. Kernthemen sind Sozialgeschichte, Migration und Umweltveränderungen, die in der Dynamik von Handel und Kapitalismus miteinander verknüpft sind. Zwei wichtige Wechselausstellungen, die von diesem Museum veranstaltet wurden, dienten als erste Schritte auf dem Weg zu dieser narrativen Rekonfiguration. The Peopling of London: 15.000 Years of Settlement from Overseas (1993) stellte eine Reihe der wichtigsten Migrationen vor – wie etwa die Ankunft der römischen Legionen – und endete mit der Installation The World in a City, die die Diversität des heutigen London veranschaulicht. Belonging: Voices of London’s Refugees (2006) präsentierte die Stimmen von Flüchtlingen aus fünfzehn Communities mittels Interviews, Photos, Objekten, Kunst und Film. Im Brennpunkt standen persönliche Geschichten, bei denen es darum ging, warum sie nach London gekommen sind, welchen Herausforderungen sie sich stellen mussten, welche Hindernisse sie zu überwinden hatten und welche Beiträge sie für die Stadt leisteten. Teile der Präsentation Peopling wurden in die neue ständige Ausstellung aufgenommen, und eine Online-Version von Voices ist über die Website des Museums zugänglich.18 In diesem Museum werden die Geschichten der früheren Immigranten – zum Beispiel Juden, hugenottische Flüchtlinge und Iren – illustriert und die Konflikte rund um die Immigration direkt angesprochen. Die Ausstellung thematisiert die diskriminierende Besteuerung, die Ermordung und Vertreibung der Juden im späten Mittelalter. Sie zeigt die Bestrebungen, jüdische Einwanderer im Londoner East End zu anglisieren, ebenso wie die Spannungen innerhalb dieser Einwanderergruppe. Einer der Texte lautet: »Das jüdische East End war ein Mikrokosmos von London selbst mit allen seinen Spaltungen entlang von Klassenzugehörigkeit und Herkunft.« Die Hauptausstellungen zur Immigration im Museum of London sind jedoch jene, welche die jüngere postkoloniale Immigration und die sie begleitenden, noch nicht gelösten Konflikte erforschen. Die Ausstellung

18 Vgl. die Archivseite des Museums: http://www.museumoflondon.org.uk/Exploreonline/Past/OldArchiveExhibitions/Default.htm

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endet mit einem Paar bestickter indischer Pantoffel und der Skulptur eines goldenen Phönix, der sich über einem Wunschbrunnen – mit Münzen auf dem Boden – niedergelassen hat. Die Installation wurde unter der Leitung der Künstlerin Hale Man von Mitgliedern der chinesischen Community in London geschaffen, die sich zur True Heart Theatre Group zusammengefunden haben.19

Abbildung 6: Goldener Phönix (Museum of London)

19 Das 2006 gegründete True Heart Theatre ist eine Institution der chinesischen Community mit Sitz in London. Unter der Leitung von professionellen Theaterleuten, Tanz- und Theater-Therapeuten sowie Sozialarbeitern ist es auf Theaterpädagogik und Playback-Theater spezialisiert. Beim Playback-Theater handelt es sich um ein Improvisationstheater, bei dem Geschichten, die die Zuschauer erzählen, dann szenisch umgesetzt werden, vgl. http://www.trueheart.org.uk

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Der Text erklärt, dass der Phönix – der mythische Vogel, der aus den Flammen wiedergeboren wird – Hoffnung, Wiedergeburt und Stärke symbolisiert, und fordert die Besucher auf, sich etwas zu wünschen. Die Installation vereinigt chinesische Traditionen, die vielfache Wiedergeburt Londons, das große Feuer von 1666 und Londons gegenwärtige Identität als multikulturelle Stadt und Weltfinanzzentrum. Die Stimme am Schluss ist die von Nelson Mandela (2005): »Es gibt keine Stadt wie London. Es ist eine wunderbar vielfältige und offene Stadt, die für hunderte verschiedene Nationalitäten aus der ganzen Welt zur Heimat geworden ist.« Im Museum of London werden Immigranten von prähistorischen Zeiten an als zentral für die Geschichte und Identität der Stadt dargestellt. Ihre Integration ist kein Thema; sie ist Teil der Dynamik Londons, seiner zahlreichen sozialen Konflikte ebenso wie seines Reichtums. Bundesrepublik Deutschland Während das Museum of London seine Dauerausstellung so reorganisiert hat, dass die Immigration im Vordergrund steht, ist der Umgang mit diesem Thema in Deutschland nach wie vor problematisch. Rosmarie Beier-de Haan, leitende Kuratorin am Deutschen Historischen Museum, betont, dass Deutschland nie ein Konzept von »Immigration« entwickelt hat, obwohl die Migration nach Deutschland historisch weit zurückreicht und »die immensen Zuwanderungsströme aus Osteuropa […] Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum zweitwichtigsten Zuwanderungsland weltweit«20 nach den USA machten. Beier-de Haan weist darauf hin, dass Deutsche sogar das Wort »Einwanderung« vermeiden. Sie ziehen es vor, von »Zuwanderung« zu sprechen, was zwar auch auf Immigration Bezug nimmt, allerdings »gegenüber dem Begriff ›Einwanderung‹ immer noch die Vorstellung einer letztlich nicht endgültigen Niederlassung beinhaltet«.21 Und die verschiedenen Kategorien der Zuwanderung suggerieren eher Unterschiede als Ähnlichkeiten in den Erfahrungen der verschiedenen Gruppen. Vor allem Migranten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik Deutschland kamen, wurden in folgende Kategorien eingeteilt: Vertriebene, das heißt Deutsche, die aus dem heutigen Polen und der heutigen Tschechischen Republik vertrieben wurden; Gastarbeiter, die vorübergehend als Arbeitskräfte aufgenommen wurden; Übersiedler, Deutsche aus der DDR; Aussiedler, Personen

20 Rosmarie Beier-de Haan: »Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005«, in: dies., (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migration 1500-2005, Wolfratshausen: Edition Minerva 2005, S. 9-17, hier S. 11. 21 Ebd., S. 9.

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deutscher Abstammung aus Osteuropa; Spätaussiedler, Personen deutscher Abstammung aus Osteuropa und der ehemaligen UdSSR und ihrer Nachfolgestaaten nach 1989; Asylbewerber, die meist aus nichteuropäischen Ländern kommen, und Kontingentflüchtlinge, darunter vietnamesische Boat People und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Debatten und Diskussionen rund um das Thema Migration drehen sich meist um den Status von Gastarbeitern und Asylsuchenden, die in Deutschland geblieben sind und hier Familien gegründet haben. Sie haben zu Deutschlands neuem Zuwanderungsgesetz geführt.22 Und sie resultierten auch in zwei größeren Ausstellungen, die beide Ende 2005 gezeigt wurden, eine in Berlin, die andere in Köln. Der Anlass war der fünfzigste Jahrestag des ersten bilateralen Anwerbeabkommens der Bundesrepublik Deutschland, das im Dezember 1955 mit Italien geschlossen wurde. Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005 Die im Deutschen Historischen Museum, einem Bundesmuseum in der wiedervereinigten Hauptstadt Berlin (man hatte den Begriff Nationalmuseum vermieden), veranstaltete Ausstellung Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005 zeigte die Geschichte der Migration und die Rolle der Migranten in der deutschen Geschichte in langfristiger Perspektive und nach dem Top-downPrinzip. Präsentiert wurde eine konventionelle chronologische Sammlung von Bildern zu Migrationen und Migranten. Sie umfasste Stiche und später Photos von Migranten, Dokumente und Plakate, die die Regierungspolitik sowie den Status der Migranten und ihre Beschäftigung vermittelten. Das Museum zeigte dabei vor allem geschichtsträchtige Objekte – von Christoph Stölzl, dem Gründungsdirektor des Museums, »Zeitzeugen« genannt. Die zugehörigen Texte

22 »Das seit 1913 im Grundsatz bis Ende 1999 gültige Staatsangehörigkeitsgesetz kannte – abgesehen von der Einbürgerung – nur den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nach dem ius sanguinis, also nach dem Abstammungsprinzip. Seit der Gesetzesreform gilt nun in Einschränkungen auch das ius soli, wonach der Geburtsort über die Staatsangehörigkeit entscheidet.« Frauke Miera: »Staatsangehörigkeit«, in: Beier-de Haan, Zuwanderungsland Deutschland (2005), S. 272. Deutschland sah sich bis vor Kurzem nicht als Einwanderungsland – trotz der Tatsache, dass sich zwischen 1945 und 2004 rund 20 Millionen Neuankömmlinge im Land niedergelassen hatten. Mit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen neuen Zuwanderungsgesetz wandelte sich Deutschland – wie es der Rat für Migration formulierte – von einem informellen zu einem formellen Einwanderungsland, was die Einbürgerung von Ausländern erleichterte.

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identifizierten diese Artefakte, kommentierten sie aber auch oft und/oder kontextualisierten ihre Botschaften. Mit einem »offenen Migrationsbegriff«23 wollte die Ausstellung »das Bewusstsein dafür vertiefen, dass Zuwanderung nach Deutschland […] eine lange und in vielen Aspekten wenig bekannte Geschichte hat.«24 Sie zeigte, wie sehr Europa in den letzten fünf Jahrhunderten in Bewegung war – im Gegensatz zu der »Sicht der Sesshaften auf die Geschichte«25, die vielen weit verbreiteten Ideen über die Bevölkerung Deutschlands zu Grunde liegt. Die große Zahl von Migrationswellen und Migrantenkategorien – einschließlich religiöser Gruppen, spezifischer Berufsgruppen und ungelernter Arbeiter, die aus den Armutsgebieten im Osten flüchteten – wurde dazu verwendet, Migration zu pluralisieren und zu normalisieren. Gleichzeitig wurde die Vorstellung einer universellen Immigrationserfahrung angefochten, die eine der gängigsten Metaphern in Immigrationsmuseen angloamerikanischer Länder ist.26 Die Ausstellung unterstrich zudem die Unverzichtbarkeit von Zuwanderern und thematisierte, wie diese zuweilen aktiv – oft auch unter Zwang – rekrutiert wurden, um Deutschlands Modernisierung voranzutreiben und die Produktion während des Krieges aufrecht zu halten. Migranten wurden in dieser Ausstellung aus deutscher Sicht gezeigt. Die Stimmen der Migranten selbst blieben in auffallender Weise ungehört. Einen Schwerpunkt der Ausstellung bildeten Kontrolle und Administration der Migration, die durch offizielle Abkommen, Dekrete, Verordnungen und Registrierungen veranschaulicht wurden. Die Migranten wurden bei der Einwanderung, bei der Arbeit, in öffentlichen Räumen und mit ihren Familien gezeigt: Meist gehen sie alltäglichen Tätigkeiten nach, die einen Beitrag zur Entwicklung Deutschlands leisten. Am Beginn der Ausstellung standen zwei Prunkpokale, die 1578 von niederländischen Glaubensflüchtlingen dem Rat der Stadt Wesel geschenkt worden waren, und eine Kirchenordnung der reformierten Kirche der Niederlande, die protestantische Flüchtlinge aus den Niederlanden in die Weseler Flücht-

23 Hans Ottomeyer/Rosmarie Beier-de Haan/Sabine Beneke: »Vorwort«, in: Beier-de Haan, Zuwanderungsland Deutschland. Migration 1500-2005 (2005), S. 6-7, hier S. 6. 24 Ebd., S. 6. 25 Vgl. Liisa Malkki: »National Geographic: The Rooting of Peoples and the Territorialization of National Identity among Scholars and Refugees«, in: Cultural Anthropology 7 (1992) 1, S. 24-44, hier S. 31. Malkki bezieht sich hier auf Deleuze und Guattari, denen zufolge Geschichte »immer nur aus der Sicht der Sesshaften« geschrieben wird. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1997, S. 39. 26 Vgl. J. Baur: Die Musealisierung der Migration.

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lingsgemeinde gebracht hatten. Diese Objekte zählten zu den vielen Artefakten, die die kulturellen Beiträge der Migranten dokumentierten. Photos von landwirtschaftlichen Saisonarbeitern in den östlichen Landesteilen – in den Jahren 1890 bis 1996 – demonstrierten, wie Migranten zur Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln beigetragen haben. Die Ausstellung erläuterte auch die nach rassischen Grundsätzen organisierte Siedlungspolitik des »Dritten Reiches« in den 1930er und 1940er Jahren.

Abbildung 7: Werbeblatt für Wohnheimbetten (Zuwanderungsland Deutschland, Migrationen 1500-2005)

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Bei einigen Exponaten suggeriert die Farbigkeit ein Wohlbefinden, das in den Begleittexten jedoch konterkariert wird. Ein Plakat in den Farben Rot, Gelb, Blau, Grün und Weiß, das Wohnheimbetten für einen freundlich aussehenden ›Gastarbeiter‹ bewirbt, steht den Vorschriften gegenüber, die bei M.A.N. (Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg) in den Schlafsälen der italienischen Arbeiter an der Wand hingen: »Es ist streng verboten, die Möbel zu verrücken. […] Es ist nicht erlaubt, angezogen im Bett zu liegen. […] Es ist nicht erlaubt, Fotografien oder Zeitungsausschnitte auf den Mauern oder Möbeln der Zimmer anzuheften.«27

Abbildung 8: Im Katalog mit der Legende versehen: »Das erste türkische Baby, das nach dem neuen Staatsbürgerrecht die doppelte Staatsangehörigkeit besitzt«

Die Ausstellung hatte ein Happy End: Den Schluss bildeten ein Plakat aus dem Jahre 1995, das zu einer Demonstration in Berlin gegen die Abschiebung von Asylsuchenden aufruft, eine Broschüre zum neuen Zuwanderungsgesetz von 2005 und ein Photo lächelnder Eltern mit dem ersten »türkischen« Baby, das im Jahr 2000 nach dem neuen Staatsbürgerrecht die doppelte Staatsangehörigkeit

27 Hausordnung für italienische Bewohner eines Barackenlagers der Firma M.A.N., in: Beier-de Haan, Zuwanderungsland Deutschland. Migration 1500-2005 (2005), S. 261.

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erhielt. Dieses Bild vermittelte mehr an Großzügigkeit als das unglücklich gewählte Adjektiv »türkisch« in der Legende. Étienne Balibar weist darauf hin, dass das Bild der reproduktiven Familie häufig die Idee der Nation vermittelt.28 Die drei Personen auf diesem Photo bilden eine Einheit, die in die Nation integriert werden kann. Im Gegensatz etwa zu einem einzelnen jungen Mann, der ein Terrorist sein könnte, sieht diese Familiengruppe harmlos aus – und sie stellt eine Variante der heiligen Dreieinigkeit im christlichen Sinne dar. Die Ausstellung enthielt keinerlei Darstellung von Unruhen oder Streiks: Die Zuwanderung verläuft vielmehr in geordneten und von der Regierung geregelten Bahnen. Integration wird durch das neue Zuwanderungsgesetz des Jahres 2005 und durch das Baby, der Protest gegen die Regierungspolitik wird durch eine Demonstration von ›Einheimischen‹ visualisiert. Migranten in Deutschland werden politisch passiv gesehen: Ihre Integration ist Sache der Regierung und der deutschen Zivilgesellschaft. Projekt Migration Konzentrierte sich die Ausstellung in Berlin auf die ordnungsgemäß ablaufende Migration, die zu Einbürgerung und höheren Geburtenzahlen (die Deutschland dringend benötigt) führt, fand parallel dazu im westlichen Teil des Landes, wo viele ›Gastarbeiter‹ in der Schwerindustrie arbeiteten, das Projekt Migration statt: Die Kölner Ausstellung zeigte eine Palette von 120 Exponaten und Performances rund um die Nachkriegsmigration, wobei die Arbeitsmigration in die DDR mit eingeschlossen war. Die Ausstellung verdankte sich einer auf vier Jahre verteilten Subvention in der Höhe von fünf Millionen Euro durch die Bundeskulturstiftung an die vier Kooperationspartner: Kölnischer Kunstverein, DOMiT, das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main und das Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Viele der Ausstellungsobjekte wurden von ›Gastarbeitern‹ und ihren Kindern eingebracht; große Teile der Ausstellung, organisiert von Wissenschaftern, Künstlern und Sozialaktivisten, hatten die Funktion, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zu visualisieren.29

28 Vgl. Étienne Balibar: »The Nation-Form. Geschichte und Ideologie«, in: Étienne Balibar/Immanuel Wallerstein (Hg.), Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin: Argument-Verlag 1992, S. 107-140, hier S. 123-126. 29 Vgl. Barbara Wolbert: »Weightless Monuments: Stories of Labor Migration to Germany as Materialized in the Exhibit ›Projekt Migration‹ (2005-2006)«, in: Philippe Despoix/Christine Bernier (Hg.), Arts de mémoire. Matériaux, médias, mythologie.

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Während die Ausstellung in Berlin in den offiziellen Rahmen einer Präsentation der Geschichte Deutschlands durch die Bundesrepublik eingebunden war, gab es für die Ausstellungen in Köln mehrere Schauplätze.30 Projekt Migration sollte auf die Ausstellung in der Bundeshauptstadt antworten – durch eine Bottom-upSicht auf die Arbeitsmigration in die beiden deutschen Staaten und seit 1990 in das wiedervereinigte Deutschland. Das Ergebnis war eine Ausstellung ohne Happy End. Teile dieses Projektes dokumentierten das Alltagsleben der ›Gastarbeiter‹, zum Beispiel die Sammlung von siebzehn billigen Töpfen und Pfannen sowie kleinere Schriftstücke (Pässe, Lohnabrechnungen und Bestätigungen für Überweisungen an Familienmitglieder, die in der Heimat geblieben sind). Barbara Wolbert argumentiert, dass derartige Artefakte die Jahre der schwierigen Anfänge in der BRD beschreiben, jedoch auch als Hindernisse für eine Identifizierung mit den ›Gastarbeitern‹ fungieren und othering sowie Stereotypenbildung begünstigen.31 Vor allem aber wird durch die Betonung des Themas Armut außer Acht gelassen, dass viele ›Gastarbeiter‹ mittlerweile in Deutschland erfolgreich gewesen sind. Und die Präsentation alter Gegenstände, die aus dem Kontext des Alltagslebens gerissen werden, suggeriert eher die Abwesenheit als die Integration der Menschen, die sie benutzt haben. Für die Autorin dieses Aufsatzes erinnert die Sammlung von Töpfen, Pfannen und Schreibmaschinen aus einer nunmehr vergangenen Welt an Installationen zum Thema Holocaust, wie sie sich in manchen europäischen Museen finden. Dieser Bezug suggeriert, dass die ›Gastarbeiter‹ – so wie die europäischen Juden – durch den Rassismus in Deutschland zum Verschwinden gebracht wurden.32 Im Projekt Migration wurden ›Gastarbeiter‹ oft inmitten von Schachteln, Koffern und Trödelkram gezeigt. Wolbert stellt – im Rahmen ihrer Analyse von

Colloque international Max et Iris Stern, Montréal: Musée d’art contemporaine de Montréal 2007, S. 161-182. 30 Darunter: Kölnischer Kunstverein, Rudolfplatz/Hohentor, Crowne Plaza, Friesenplatz/Hohenzollernring, Hohenzollernbrücke am Dom. 31 Vgl. B. Wolbert: »Weightless Monuments: Stories of Labor Migration to Germany as Materialized in the Exhibit ›Projekt Migration‹ (2005-2006)«, S. 171-172. 32 Ruth Mandel und Joyce Marie Mushaben führen aus, dass sich Türken der älteren Generation mit Juden identifizieren, die jüngeren dagegen mit Schwarzen. Vgl. Ruth Mandel: Cosmopolitan Anxieties: Turkish Challenges to Citizenship and Belonging in Germany, Durham/London: Duke University Press 2008; Joyce Marie Mushaben: The Changing Faces of Citizenship: Integration and Mobilization among Ethnic Minorities in Germany, New York/Oxford: Berghahn Books 2008.

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Vlassis Caniaris’ Installation Interior aus dem Jahr 1974 – fest, dass diese Form der Präsentation bei vielen Deutschen die Identifikation von ›Gastarbeitern‹ mit billigem Plunder verstärke, statt ihr entgegenzuwirken. In ähnlicher Weise betont Wolbert die zahlreichen Photos von Autos: manchmal neben ihren stolzen Besitzern, manchmal vollgepackt mit Konsumgütern – offenkundig für den Transport zurück in die Türkei – und manchmal nach einem Zusammenstoß. Die Photos in dieser Ausstellung bieten einen entschiedenen Kontrast zu Les voitures cathédrales (Thomas Mailänder, 2004) in der Cité nationale de l’histoire de l’immigration. In der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts, mit ihrem hochentwickelten Umweltbewusstsein, werden ›Gastarbeiter‹ gezeigt, wie sie Massenprodukte, mit denen unser Planet mittlerweile überschwemmt ist, herstellen, kaufen und weiterverbreiten. Die zahlreichen Bilder billiger Wagen der Marke Ford lassen nicht vermuten, dass heute 20 Prozent der türkischen Autobesitzer einen Mercedes fahren (verglichen mit 7,6 Prozent von Mercedes-Besitzern in der gesamten Bevölkerung).33 Im Gegensatz zu dem Eindruck, den die Wohnheimbetten für ›Gastarbeiter‹ auf dem farbenfrohen Werbeplakat im Deutschen Historischen Museum erweckten (vgl. Abbildung 7), warf die Ausstellung Projekt Migration ein Schlaglicht auf das Alltagselend vieler ›Gastarbeiter‹ und Asylsuchender. Vor allem aber thematisierte die Ausstellung, wie Migranten aktiv gegen ihre Erniedrigung und Ausbeutung ankämpfen. Ein Plakat, wie jenes, das ›Gastarbeiter‹ beim Streik bei Pierburg in Neuss 1973 zeigt, war eines von mehreren Exponaten, die den organisierten Kampf von Migranten gegen Unterdrückung belegen. Einige Photos der Ausstellung porträtierten die unternehmerischen Aktivitäten der vielen als ›Gastarbeiter‹ nach Deutschland gekommenen Zuwanderer. Nach Joyce Marie Mushaben gibt es heute in Deutschland 5.800 türkische Kleinund Mittelbetriebe, die 24.000 Arbeitsplätze bereitstellen.34 Die Ausstellung zeigte auch Kinder von ›Gastarbeitern‹, die in den 1990er Jahren ein Programm von Radio Emigrek, der Migrantenradiostation in Hamburg, gestalteten. Die Ausstellung endete mit einem Abschnitt über die Überwachung der europäischen Grenzen, über illegale Migranten und die Unsicherheit, in der sie leben. Diese in der Illegalität lebenden Personen sind überall und nirgends zugleich, und das macht die Einwanderungsgrenze von heute aus. Projekt Migration rückte die Zurückweisung der in der Bundesrepublik lebenden Migranten in den Vordergrund.

33 Vgl. Barbara Wolbert: »›Studio of Realism‹: On the Need for Art in Exhibitions on Migration History«, in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 11 (2010) 2, Art. 34, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1002345 34 Vgl. J. Mushaben: The Changing Faces of Citizenship, S. 244.

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Die Ausstellung schenkte dem neuen Zuwanderungsgesetz nur geringe Aufmerksamkeit, zeigte aber ›Gastarbeiter‹, wie sie Unternehmen führen, Kunst produzieren und Sendungen über ihre Kultur gestalten. Mushaben argumentiert, dass – während es von deutscher Seite vielfach verabsäumt wurde, die ›Gastarbeiter‹ zu integrieren – sich viele dieser ›Gastarbeiter‹ durch informelle Citizenship-Praktiken selbst integriert haben.35

G ESCHICHTEN UND P RAKTIKEN DER I NTEGRATION I MMIGRATIONSMUSEEN : M USEALISIERUNG UND H ANDLUNGSMACHT

IN

Von Adelaide nach Berlin – Immigrationsmuseen und -ausstellungen bieten ein weites Spektrum an Narrativen und Praktiken rund um die Integration von Immigranten. Bilder über die Beiträge, die die Immigranten durch ihre Arbeitsleistung zum nationalen Gemeinwohl leisten, sind zu Standardkomponenten von Immigrationsausstellungen geworden. Sie erkennen die Bedeutung migrantischer Arbeit im modernen Industrialisierungsprozess und – in vielen Fällen – auch beim Nationbuilding an. Photos von streikenden Immigranten, die sich oft gemeinsam mit inländischen Arbeitern im politischen Kampf engagieren, beziehen die Neuankömmlinge in nationale Geschichtserzählungen ein. Arbeit und Streik – beides transformiert sowohl die Immigranten als auch das Land, das sie aufgenommen hat. Diese Geschichten finden sich in den Ausstellungen des Ellis Island Immigration Museum, im Migration Museum in Adelaide, im Immigration Museum in Melbourne, im Museum of London, in der Cité nationale de l’histoire de l’immigration und im Projekt Migration. Das Lower East Side Tenement Museum zeigt, wie Immigranten auch ganz einfach dadurch zu US-Amerikanern wurden, dass sie sich in Vierteln niederließen, wo sie ihre Kinder aufzogen, die Sonntagnachmittage der Erholung widmeten und die Familien in Krisenzeiten durch ihre Communities unterstützt wurden. In den Immigrationsmuseen in Kanada und Australien wird Integration mit Dankbarkeit verknüpft, die die Einwanderer – in Kanada als Individuen, in Australien als Communities – ausdrücken. In Kanada werden die Lebensgeschichten und Erinnerungen der Einwanderer in das Museumsarchiv aufgenommen, wo sie als Quellen für künftige Ausstellungen dienen. In Adelaide und Melbourne ermutigen die Museen die Immigranten, Australier zu werden, indem sie ihre Kul-

35 Vgl. ebd. und Saskia Sassen: »The Repositioning of Citizenship and Alienage: Emergent Subjects and Spaces for Politics«, in: Globalizations 2 (2005) 1, S. 79-94.

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tur bewahren und sie – nach Umformung und Anpassung an das nationale Narrativ Australiens und an seine Ideologie eines harmonischen multikulturellen Zusammenlebens – in die nationale Kultur einbringen. Jenseits des Atlantiks, in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, fällt auf, dass Kunst als wichtiges Integrationsmedium fungiert. Im Museum of London, in der Cité nationale de lҲhistoire de lҲimmigration, in 19 Princelet Street und in der Ausstellung Projekt Migration bringt die von den Immigranten produzierte Kunst deren Stimmen und Erfahrungen in die Öffentlichkeit und bereichert so das nationale kulturelle Erbe. Thomas Mailänders Photos von Autos und anderen Besitztümern von Immigranten ebenso wie die künstlerischen Arbeiten Patrick Zachmanns, die auf von Immigranten selbst aufgenommenen Photos basieren, schreiben die Migranten in die ›französische Ästhetik‹ ein und verleihen ihnen und ihren Lebenswelten einen künstlerischen Status. Im Museum of London haben Hale Man und das True Heart Theatre mit dem Goldenen Phönix eine Hommage an ihre neue Stadt geschaffen; der Phönix soll die Strahlkraft, Widerstandsfähigkeit, Prosperität und die Ambitionen Londons widerspiegeln. Und in 19 Princelet Street ermöglichen künstlerische Aktivitäten Schulkindern aus Migrantenfamilien und Museumsbesuchern die Identifikation mit anderen Immigranten und Flüchtlingen. Indem die beiden großen Ausstellungen in Berlin und Köln nur sehr wenige Beispiele für Integration zeigen, deuten sie an, warum Deutschland noch immer kein nationales Einwanderungsmuseum besitzt. Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005 stellt Immigranten nicht als Mitglieder von Communities oder als politische Subjekte dar. Stattdessen erscheint deren Status als Resultat der Regierungspolitik, die zuweilen von im Land geborenen Deutschen bekämpft wird. Integration bedeutet hier formelle Staatsbürgerschaft, die von oben verliehen wird. Die Ausstellung Projekt Migration konzentriert sich hingegen auf den Kampf um politische Mitsprache und soziale Integration in einem von politischer Ausgrenzung geprägten Kontext. Heute beschäftigen Immigrationsmuseen oft Einwanderer als Mitarbeiter. Die Immigrationsmuseen in Australien haben für die Communities der Einwanderer Räume geschaffen, in denen diese sich selbst darstellen können – gemäß den Richtlinien des Museums und unter Supervision von Museumskuratoren. Diese Museen integrieren die Immigranten, indem sie sie dabei unterstützen, ihre Communities zu charakterisieren und deren Geschichte – im Rahmen des australischen Narrativs – zu erzählen. 19 Princelet Street ist von allen hier erwähnten Museen das kleinste und das finanziell am schlechtesten abgesicherte. Es wird gemeinsam von Migranten und Nichtmigranten geführt. Von drei Aktivisten mit Migrationshintergrund eingerichtet, hat dieses Museum eine neue Community

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von Menschen aus der Nachbarschaft geschaffen, die unterschiedlichen Ethnien angehören – eine Gemeinschaft, die sich rund um ein Gebäude bildete, in dem ihre gemeinsame Geschichte eine feste Gestalt angenommen hat. Dieses Integrationsmodell stützt sich auf Schulkinder mit Migrationshintergrund, die sich unter Anleitung ihrer Lehrer auf einfallsreiche Weise an Museumsbesucher und Nachbarn wenden. In ähnlicher Weise stellt die Ben Uri Gallery Netzwerke zum Austausch für unterschiedliche Gruppen bereit, die Immigranten zum Lernen, zur Produktion und Präsentation von Kunst nutzen und die es ihnen auch ermöglichen, ihre Fähigkeiten in Schulen, Flüchtlings- und Altersheimen sowie in Museen therapeutisch einzusetzen. Das eindrücklichste Beispiel für ein Immigrationsmuseum als Ort für die Handlungsmacht von Immigranten lieferte die Cité nationale de l’histoire de l’immigration in Paris, wo Immigranten ein Gebäude besetzten, das ihrer Präsentation gewidmet ist und das sie mit Unterstützung des Museumspersonals mehrere Wochen lang als Bühne für ihren Kampf um Integration nutzten. In der Cité waren die Immigranten zu dieser Zeit nicht länger Objekte der Ausstellung und des staatlichen Paternalismus. Sie waren politische Akteure, die die Ressourcen des Museums für ihren Kampf um soziale Gerechtigkeit in Anspruch nahmen. In den Demokratien des 21. Jahrhunderts beginnen die Einwanderungsmuseen über die Präsentation der Einwanderung hinauszugehen. Sie schaffen aktiv neue Communities und experimentieren mit neuen Modellen von Partizipation und Integration. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elfriede Pokorny

Ich danke dem Social Sciences and Humanities Research Council of Canada für die Unterstützung der Forschung, auf der dieser Beitrag basiert. Dank gebührt ebenso den zahlreichen Museumsmitarbeitern, die mir ihre Expertise zur Verfügung stellten und mich unterstützten. Bedanken möchte ich mich auch bei Elfriede Pokorny für ihre kenntnisreiche und nuancierte Übersetzung und bei meinem Art Director Herbert Lappe. Dennoch trägt die Autorin selbstverständlich die volle Verantwortung für den Inhalt dieses Textes.

Von Mythen, Masken und Migranten Acht Ansichten aus Ellis Island J OACHIM B AUR

Eine Postkarte: Acht Ansichten aus Ellis Island. Einblicke in die Ausstellung, Ausblicke auf das Museumsgebäude und seine Umgebung. Ein Querschnitt dessen, was dort zu sehen ist. Gedacht als Gruß an die Lieben zu Hause, als Souvenir zur persönlichen Erinnerung, als touristischer Leistungsnachweis »Da gewesen, abgehakt!« Ich nutze die Ansichtskarte hier anders. Ich nehme sie als Landkarte, um das weite Terrain des Museums zu ergründen, seinen Inszenierungen nachzugehen und seine Bedeutungen zu dechiffrieren.

Abbildung 1: Postkarte: Acht Ansichten aus Ellis Island

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Acht Ansichten aus Ellis Island: Ich jage entlang dieser Bilder in schnellen Schritten und harten Schnitten durchs Ellis Island Immigration Museum. Keine Überblicksführung also, sondern eine Tour de Force mit Seitenblicken hier und da, etwas kurzatmig vielleicht, ganz sicher fragmentarisch.1 Meine Beobachtungen bleiben dabei bewusst nah am Fall, am Geschehen und am Gesehenen, doch wird an der einen oder anderen Stelle gewiss auch über diesen Einzelfall Hinausweisendes aufscheinen. Acht Ansichten aus Ellis Island: Gedacht auch als Illustration dessen, was eine am Detail interessierte Analyse von Museumsproduktionen und -inszenierungen leisten kann; wenn’s gelingt, vielleicht sogar im Sinne eines Plädoyers. Bevor ich so recht beginne, einige wenige Worte zum Ellis Island Immigration Museum im Ganzen: Das Museum wurde im Herbst 1990 nach Jahren der durchaus kontroversen Planungen eröffnet und ist bis heute das größte Einwanderungsmuseum weltweit. Im aufwändig renovierten Hauptgebäude einer ehemaligen Einwanderer-Kontrollstation, auf einer Insel in unmittelbarer Nähe der Freiheitsstatue, erstreckt es sich über eine Fläche von ca. 9.000 m2. Die Initiative zur Renovierung der seit den fünfziger Jahren brachliegenden Gebäude und der Umwandlung in ein Museum entwickelte sich Anfang der achtziger Jahre im Umfeld der Planungen zum hundertjährigen Jubiläum der Freiheitsstatue im Jahre 1986. In finanz- wie in geschichtspolitischer Hinsicht war das Projekt symptomatisch für die Agenda der Reagan-Administration. Zum einen war Ellis Island ganz im Zeichen neoliberaler Ausgabenpolitik das erste staatliche Museumsprojekt in den USA, das ohne Einsatz öffentlicher Gelder realisiert wurde und sich ganz auf Spenden von Privatpersonen und Werbeetats von Unternehmen stützte. Zum anderen sollte es – zumindest in der Lesart seines Initiators – an den Stolz inzwischen etablierter Einwanderer europäischer Herkunft appellieren, die nicht zuletzt als ethnic vote an Einfluss gewonnen hatten, und zugleich Ansprüche an die neueren Einwanderer aus dem Süden formulieren, sich nach dem (angeblichen) Beispiel der Ellis-Island-Einwanderer schnell und problemlos zu integrieren. In der Ausgestaltung des Museums waren jedoch Kuratoren und Migrationshistoriker maßgeblich, die diese einfache patriotische Version eher zu kontern versuchten. Im Museum, das vom U.S. National Park Service institutionell getragen wird, wird im Wesentlichen die Geschichte Ellis Islands

1

Für eine ausführliche Darstellung, eingebettet in eine Diskussion der poetics und politics von Einwanderungsmuseen in den USA, Kanada und Australien, vgl. Joachim Baur: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld: transcript 2009. Der vorliegende Text ist ein in Teilen überarbeiteter und ergänzter Auszug aus diesem Buch.

V ON M YTHEN, M ASKEN UND M IGRANTEN | 169

und der Einwanderung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert thematisiert. Eine der Ausstellungen, The Peopling of America genannt, behandelt indes die lange Geschichte der Migration in die USA und schlägt den Bogen von der Situation vor der Kolonisierung Amerikas über die Zwangsmigration afrikanischer Sklaven und die großen Wellen im 19. und 20. Jahrhundert bis heute.2

1. Z UR P RODUKTION

EINES › AUTHENTISCHEN ‹

O RTS

Wie schon im Namen angezeigt, ist der spezifische Ort Ellis Island von größter Bedeutung für die Präsentation von Geschichte im Ellis Island Immigration Museum. Dieser Ort wurde allerdings nicht einfach vorgefunden, sondern im Prozess der Musealisierung als ›authentischer Ort‹ erst produziert. Dabei lässt sich insbesondere zeigen, wie im Zuge der Restaurierung bestimmte historische Schichten und mögliche Geschichten verdrängt wurden.

Abbildung 2: Das Ellis Island Immigration Museum, New York

2

Vgl. Ivan Chermayeff/Fred Wasserman/Mary J. Shapiro: Ellis Island. An Illustrated History of the Immigrant Experience, New York: Maxwell Macmillan International 1991 (Katalog der Dauerausstellung); Luke Desforges/Joanne Maddern: »Front Doors to Freedom, Portal to the Past. History at the Ellis Island Immigration Museum, New York«, in: Social & Cultural Geography 5 (2004) 3, S. 437-457; Erica Rand: The Ellis Island Snow Globe, Durham/London: Duke University Press 2005; Nancy L. Green: »A French Ellis Island? Museums, Memory and History in France and the United States«, in: History Workshop Journal 63 (2007) 1, S. 239-253.

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Mit Beginn des Museumsprojekts standen auf Ellis Island über dreißig Gebäude, die verschiedene Phasen in der Geschichte der Insel und den Wandel ihrer Funktionen reflektierten. Frühzeitig konzentrierten sich die Planungen allerdings ganz auf die Nordseite der Insel mit dem ehemaligen Hauptgebäude, wo die Masse der Immigranten durchgeschleust wurde, als Kernstück. Begründet wurde die Wahl mit der herausragenden historischen und architektonischen Signifikanz sowie mit dem Umstand, dass es sich um das »most emotion packed building«3 handle. Mit dieser Entscheidung geriet der ehemalige Krankenhaus- und Psychiatrie-Komplex auf der Südseite der Insel weitgehend aus dem Blick. Das heißt, sie blieben physisch sichtbar, doch die Aspekte, die sich mit den Gebäuden verbinden ließen – etwa die Pathologisierung kultureller Devianz oder der Diskurs um Einwanderer als Träger ansteckender Krankheiten4 –, traten in den Hintergrund. Auf der Nordseite, der Museumsseite also, wurde zugleich gründlich umgestaltet. In den 1930er und 40er Jahren war angrenzend an das Hauptgebäude eine größere Fläche mit Zäunen und Wachtürmen umgrenzt worden, um einen Freibereich für die wachsende Zahl der Internierten zu schaffen. Diese Anlage verwies nun sinnfällig auf die Rolle Ellis Islands als Internierungslager und Abschiebegefängnis. Im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurden sie restlos entfernt. Ein weiteres Baudenkmal, das unter anderem für die Praxis der Internierung steht, ereilte ein anderes Schicksal. Das Baggage & Dormitory Building, in direkter Nachbarschaft des Hauptgebäudes gelegen, war 1909 erbaut worden, um Schlafgelegenheiten für Einwanderer bereitzustellen, bei deren Abfertigung sich Komplikationen ergaben. Zudem und verstärkt nach Ende der Phase der Massenimmigration wurde das Gebäude als Internierungs- und Abschiebelager genutzt. In frühen Konzepten war noch vorgesehen, hier die Geschichte der Schlafsäle mit den Aspekten Internierung und Deportation zu thematisieren, doch im Verlauf der Planungen rutschte dies auf der Prioritätenliste immer weiter nach hinten und das Gebäude verfiel weiter. Noch heute, im Sommer 2011, steht das Gebäude als Ruine neben dem prächtigen Hauptgebäude. Das so erfolgte Styling der Insel bedeutet nicht, dass Aspekte wie Internierung, Abschiebung, Krankheit und Quarantäne im Museum gänzlich unthema-

3

F. Ross Holland: Briefing of Polish American American Leadership and Press, 11.07.1984, in: Ellis Island Immigration Museum Archives, MetaForm Research Collection, New Box 93, File »Foundation«.

4

Vgl. Alan M. Kraut: Silent Travelers. Germs, Genes, and the »Immigrant Menace«, New York: Basic Books 1994; Barbara Lüthi: Invading Bodies. Medizin und Immigration in den USA 1880-1920, Frankfurt a.M.: Campus 2009.

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tisiert gelassen wurden. Doch mit der Konzentration auf das Hauptgebäude wurde eine Vorentscheidung über die Präsentation getroffen, indem statt der zahlreichen historischen Facetten, die sich an Ellis Island zeigen ließen – »the entire continuum of history«5, wie es in einem der früheren Konzepte hieß –, in baulicher Gestalt nahezu ausschließlich die Geschichte der Einwanderung aufgerufen und der Blick auf die relativ reibungslose Seite des administrativen Vorgangs privilegiert wurde.6 In der Produktion des Ortes setzte sich also – gerade unter dem Glaubwürdigkeit erheischenden Rubrum der Authentizität – eine EntKomplizierung und Ein-Dimensionalisierung der Geschichte Ellis Islands durch. In der Restaurierung wurde Ellis Island erst zu dem gemacht, was es sein musste, um als ikonischer Erinnerungsort der Einwanderungsgesellschaft wirksam zu werden.

2. I NKLUSIVE S CHWIERIGKEITEN Ich komme zum zweiten Bild und damit zu einigen Aspekten in der Konzeption der permanenten Ausstellung. Gegen die Bedenken einiger Kritiker, dass ein Einwanderungsmuseum am historischen Ort Ellis Island nur ein »white man’s museum«7 werden könne, setzten die Ausstellungsmacher früh auf das Prinzip einer möglichst breiten Re-Präsentation. Das Museum sollte – ganz im Geiste der New Museology – die Ausschlüsse älterer Geschichtsdarstellungen vermeiden und stattdessen möglichst vielfältige historische Erfahrungen in seine Präsentation einbeziehen. Zentral war dabei die Annahme, dass das Museum dann für eine Vielzahl von Besuchern relevant würde, wenn es Anschlüsse an deren ›eigene‹ Geschichte bieten würde, wobei diese Geschichte mit identitätspolitischem Einschlag als Teil einer kollektiven Geschichte der jeweiligen ethnischen

5

National Park Service: Statue of Liberty-Ellis Island. Interpretive Prospectus, Harpers Ferry: National Park Service 1984, S. 29.

6

Vgl. Joanne Maddern: »The ›Isle of Home‹ is Always on Your Mind. Subjectivity and Space at Ellis Island Immigration Museum«, in: Tim Coles/Dallen J. Timothy (Hg.), Tourism, Diasporas and Space, London/New York: Routledge 2004, S. 153-171, hier S. 160f.

7

Zit. nach F. Ross Holland: Idealists, Scoundrels, and the Lady. An Insider’s View of the Statue Liberty-Ellis Island, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 1993, S. 184.

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Gruppe gedacht wurde. Inclusiveness wurde so zum Zentralbegriff der Ausstellungsproduktion.8 Die Herstellung der erwünschten kulturellen Vielfalt sollte über zwei Wege erfolgen: zum einen über eine spezielle Überblicksausstellung, die Ellis Island in den Kontext der Einwanderung nach Amerika von 1600 bis heute einbettete; wesentlicher aber durch Hervorhebung der diversity zu Zeiten der Ellis-IslandEinwanderung selbst und damit in allen Teilen des Museums. Dieser Anspruch einer umfassenden Inklusion stand allerdings vor nicht geringen Schwierigkeiten, wie im Folgenden am Beispiel der Re-Präsentation von African Americans illustriert werden soll. Das Problem lag auf der Hand: Die historische Einwanderung über Ellis Island in den Jahren 1892-1924 war ganz überwiegend europäisch und weiß geprägt.9 Damit verwies auch ein Großteil des vorhandenen Materials für die Ausstellungen – Objekte, Bilder, Geschichten – auf diese europäisch konnotierte Geschichte, was durch das aktive Interesse etwa von polnisch- oder italienisch-stämmigen Amerikanern noch verstärkt wurde. In dieser Situation erwies es sich gewissermaßen als historiographischer Glücksfall, dass unter den 12 Millionen Ellis-Island-Immigranten auch etwa 300.000, also 2,5 Prozent, karibische Einwanderer waren, die gleichsam stellvertretend für Black America stehen sollten. Allein, diese ›Vorzeige-Schwarzen‹ zeigten sich nicht. Trotz zahlreicher, gezielter Aufrufe der Ausstellungsmacher, dem Projekt Objekte zur Verfügung zu stellen, blieb die Resonanz dieser Gruppe äußerst schwach. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein, doch verweisen sie nicht zuletzt auf das spannungsvolle Verhältnis von African Americans zum Narrativ der Einwanderung und auf die Sorge, dass in der Betonung dieses Narrativs die Sklaverei als zentraler identi-

8

Social inclusion und inclusiveness als Zentralbegriffe der New Museology behandeln etwa Eilean Hooper-Greenhill (Hg.), Cultural Diversity. Developing Museum Audiences in Britain, London: Leicester University Press 1997; Robert R. Janes/Gerald T. Conaty (Hg.), Looking Reality in the Eye. Museums and Social Responsibility, Calgary: University of Calgary Press 2005; Richard Sandell: Museums, Prejudice and the Reframing of Difference, London u.a.: Routledge 2007.

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Dass es sich bei den Begriffen weiß/schwarz nicht um Wesenheiten, sondern um historisch kontingente, veränderliche Zuschreibungen handelt, wurde in den letzten Jahren durch Arbeiten aus den Whiteness Studies aufgezeigt und sei hier stets mitreflektiert. Vgl. etwa Richard Dyer: White, London: Routledge 1997; Ruth Frankenberg: Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism, Durham: Duke University Press 1997; Alf Lüdtke/Stefan Mörchen: »Die Farbe ›Weiß‹. Race in der Geschichtswissenschaft«, in: WerkstattGeschichte 14 (2005) 39, S. 3-6.

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tätskonstituierender Komplex schwarzer Amerikaner tendenziell überschrieben werde. So kommentierte der damalige Bürgermeister von Atlanta Andrew Young stellvertretend: »No one in the black community is really excited about the Statue of Liberty. We came here on slave ships, not via Ellis Island.«10 Die zurückhaltende Reaktion auf die Sammlungsinitiative kann insofern als passiver Widerstand gegen die Inkorporation der ganz anderen Migration des Sklavenhandels in ein übergreifendes Einwanderer-Narrativ gewertet werden.

Abbildung 3: Photographie im Ausstellungsbereich Family Album

Die Ausstellungsmacher hielten ungeachtet dessen an ihrer Strategie der Inklusion fest und versuchten nun, die dürftige Objektlage kreativ zu bewältigen. Aufschlussreich ist eine interne Aktennotiz. Ein Besucher hatte bemängelt, dass an einer Wand mit Photographien von Einwanderern verschiedener Herkunft die

10 Zit. nach Rudolph J. Vecoli: »The Lady and the Huddled Masses. The Statue of Liberty as a Symbol of Immigration«, in: Wilton S. Dillon/Neil G. Kotler (Hg.), The Statue of Liberty Revisited. Making a Universal Symbol, Washington/London: Smithsonian Institution Press 1994, S. 39-69, hier S. 68.

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Bilder eines karibischen Vaters und seiner Tochter so weit voneinander entfernt gezeigt wurden, dass der familiäre Zusammenhang kaum mehr zu entdecken war. Der zuständige Kurator reflektierte zunächst nochmals die intensiven, doch weitgehend erfolglosen Bemühungen, an Objekte schwarzer Einwanderer zu gelangen. In Bezug auf die Photos merkte er schließlich an: »I don’t know the specific photograph, but would not find it hard to believe that [we] may have stretched things a bit for the purpose of being inclusive rather than exclusive.«11 Die Notiz macht deutlich, wie die Kuratoren, ganz im Gegensatz zu Vorwürfen der intentionalen Verengung auf das Segment der europäischen Einwanderer, fast krampfhaft versuchten, eine möglichst breite Re-Präsentation zu erreichen. Zunächst hatten sie sich mit großem Einsatz um den Ausgleich des Ungleichgewichts und die Stärkung unterrepräsentierter Gruppen auf der Ebene der Objekte bemüht. Als die Realität des Sammelns das Konzept jedoch nachgerade konterkarierte, versuchten sie, gleichsam als ultima ratio in der Rettung des Inklusionsprinzips, durch geschickte Verteilung ihres spärlichen Bestandes eine prekäre Balance auf der Ebene der Ausstellung. Der schwierige Vorgang der Sammlung macht aber auch deutlich, dass die Produktion der Ausstellung, mithin am ›authentischen‹ Ort, keine voluntaristische Setzung sein konnte, sondern immer schon mit vorgängigen Konnotationen und widerständigen gesellschaftlichen Deutungen kollidierte.

3. C HARAKTERMASKEN Wie schlägt sich dies nun in den tatsächlichen Ausstellungen nieder? Im ersten Stock des Museums befindet sich ein kleines, lichtdurchflutetes Atrium. An den Wänden hängen großformatige Photographien. Zu sehen sind, der Kontext lässt keinen Zweifel, Einwanderer, die dramatis personae der musealen Erzählung. Besonders eindrucksvoll sind die Porträts, die sich deutlich gegen Vorstellungen der Migranten als gesichtslose Masse stellen: ein Mann mit schmalem Oberlippenbart, das Gesicht von einem weißen Turban gerahmt; eine Frau um die dreißig, mit weißem Kopftuch und Perlenkette; ein anderer Mann mit Schnauzer und stechendem Blick… Der Ausdruck fast aller ist ernst (oder müde? oder gelassen?), der Blick geht zumeist leicht am Photographen vorbei, in eine leere Ferne.

11 Handschriftliche Notiz Gary [Roth] an Diana [Pardue], 16. August 1991 (bezugnehmend auf einen Brief von C. Matthews Hurley II an Lee A. Iacocca, 8. August 1991), in: Ellis Island Immigration Museum Archives, Cadwallader/Roth Court Hearings, Box 3.

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Und doch sind es unverkennbar individuelle Gesichter. Wer sind diese Menschen? Abbildung 4: Bildunterschrift in der Ausstellung: »Algerian immigrant, Ellis Island, Augustus F. Sherman Collection«

Die Textlabels geben Auskunft: »Algerian immigrant, Ellis Island«, »Ruthenian immigrant, Ellis Island«, »Romanian immigrant, Ellis Island« etc. Nahezu alle nennen zur Charakterisierung der Abgebildeten einzig die Nationalität. Nicht den Namen, nichts zu ihrem Alter, ihrem Beruf, den Gründen ihrer Migration, kurz: ihrer individuellen Geschichte. Die Texte fixieren die Bedeutung der Bilder in spezifischer Weise: Die Personalisierung, die in den Porträts nahegelegt ist, verkehrt sich in ihr Gegenteil. In der standardisierten Bezeichnung werden das Individuum und seine spezifische Biographie zum Verschwinden gebracht.12 Die so kategorisierten Immigranten sind nicht tatsächlich Individuen, sondern Exemplare eines bestimmten Typs, Repräsentanten von Nationen und ethnischen Gruppen, und die Galerie der Einwanderer gerät zur gallery of nations.13 Was ich sehe, sind Schein-Individuen, Charaktermasken kultureller Vielfalt. Nun wäre es verkürzt, die reduzierte und reduzierende Form der Bezeichnung allein den Ausstellungsmachern anzulasten, sie etwa verantwortlich zu machen für das Fehlen von Informationen, die schlicht nicht überliefert sind. »Expository agency«, die erste Person Singular des ausstellerischen Sprechakts, ist nach Mieke Bal immer mehr als die Intention und Praxis einzelner Kurato12 Vgl. Gisela Welz: »The ›Grand Narrative‹ of Immigration. Managing Ethnicity in a Museum Context«, in: Regina Bendix/Herman Roodenburg (Hg.), Managing Ethnicity. Perspectives from Folklore Studies, History and Anthropology, Amsterdam: Het Spinhuis 2000, S. 61-75, hier S. 71. 13 Zur Tradition der gallery of nations als Organisationsprinzip von Büchern und später von ethnographischen Ausstellungen vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1998, S. 37f.

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ren.14 Sie sind Teil einer langen Kette, die das Ausstellen in einer bestimmten Weise ermöglicht, und Teil dieser Kette ist auch die Beschaffenheit des vorhandenen Materials und seine Tradition. Die Photographien der EinwandererGalerie gehören zu den prominentesten und langlebigsten der ganzen Ellis Island-Geschichte und sind als solche fest im amerikanischen Bildgedächtnis verankert.15 Und sie sind untrennbar verbunden mit den Bedingungen ihrer Entstehung. Aufgenommen wurden die meisten der ausgestellten Bilder von Lewis W. Hine und Augustus F. Sherman. Hine war einer der profiliertesten Dokumentarphotographen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, »America’s exemplary documentarian«, dessen Bilder ursprünglich im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit sozialreformerischer Kampagnen entstanden und gesehen wurden.16 Anders als Hine war Augustus F. Sherman Hobbyphotograph, im Hauptberuf dagegen Beamter der amerikanischen Einwanderungsbehörde und von 1892 bis 1925 auf Ellis Island stationiert. Seine photographische Leidenschaft für Einwanderer resultierte weniger aus vertiefter ideologischer Überzeugung denn alltäglicher Gelegenheit. Dabei entwickelte er ein besonderes Interesse sowohl für außergewöhnliche Motive, wie Zwerge und Riesen, als auch für Dinge, die er für in ungewöhnlichem Ausmaß typisch (und vom Verschwinden bedroht) hielt.17 Aus diesem Grund ließ er Einwanderer für die Aufnahmen regelmäßig Trachten an-

14 Vgl. Mieke Bal: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, New York/London: Routledge 1996, S. 8 und 16f. 15 Vgl. G. Welz: »The ›Grand Narrative‹ of Immigration«, S. 71. 16 Vgl. Maren Stange: Symbols of Ideal Life. Social Documentary Photography in America 1890-1950, Cambridge: Cambridge University Press 1989; Dirk Hoerder: »Lewis W. Hine. Sozialdokumentarische Fotografie und Gesellschaftskritik«, in: Englisch-Amerikanische Studien 9 (1987) 3-4, S. 416-435. 17 August C. Bolino: The Ellis Island Source Book, Washington D.C.: Kensington Historical Press 1990, S. 105. Zur langen Tradition der Zurschaustellung solcher, als ›Freaks‹ definierter Menschen vgl. Susan Stewart: On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1984, S. 109: »Often referred to as a ›freak of nature‹, the freak, it must be emphasized, is a freak of culture. His or her anomalous status is articulated by the process of the spectacle as it distances the viewer, and thereby it ›normalizes‹ the viewer as much as it marks the freak as an abberration.« In dieser Funktion sei der ›Freak‹ aufs Engste mit dem kulturell Anderen verknüpft. Im Blick auf das Andere, das als Anderes in diesem ver-andernden Blick erst entsteht, liegt auch die innere Stringenz von Shermans disparater Motivwahl.

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ziehen und verstärkte damit zielgerichtet die typisierende Konstruktion seiner Bilder.18 Wie verhält sich nun das Museum zu dieser Geschichte seiner Geschichtsdokumente? Ein Raumtext zu einem der beiden Photographen liefert Hintergründe: »Augustus F. Sherman Augustus F. Sherman, a U.S. Immigration Service employee on Ellis Island from 1892 to 1925, was also an amateur photographer. Sherman generally asked immigrants to pose for the camera dressed in their native costumes. His collection of over 135 images provides an extraordinary record of the many nationalities who came to the United States during the peak years of immigration. While Sherman was stationed on Ellis Island, his photographs were framed and hung in the main building. Today, Sherman’s work is once again on display, both here in the second-floor atrium and throughout the other exhibits.«

Der Text bezieht sich vorbehaltlos positiv auf die Arbeit und die aus ihr resultierenden Aufnahmen Shermans. Mit dem Verweis auf die als Rückgewinnung und Rückbesinnung konnotierte Wiederaufnahme früheren Zeigens stellt sich das Museum in affirmative Kontinuität zu der Kontrollstation, wodurch – als doppelter Effekt – seiner Präsentation Authentizität und den Bildern kuratorische Autorität verliehen wird. Darüber hinaus unterstreichen sowohl der Hinweis auf Shermans Status als Amateurphotograph als auch die Bezeichnung des Bestandes als »extraordinary record« dessen dokumentarische Wahrhaftigkeit. Die spezifische Inszenierung der Immigranten in den Bildern wird erwähnt, allerdings nicht problematisiert, sondern vielmehr als Garantie für die so veranschaulichte Vielfalt an Nationalitäten genommen. In dieser Logik folgerichtig ist, dass das Vorliegen zusätzlicher Informationen kein Auswahlkriterium für die Bilder gewesen zu sein scheint. Zahlreiche Aufnahmen, bei denen zumindest die Namen der Abgebildeten dokumentiert sind,19 wurden so nicht berücksichtigt oder der Name wurde, wie im Fall des schlicht als »Danish Immigrant« präsentierten Peter Meyer, als Signifikant des Individuums gar getilgt. Das Museum übernimmt nicht allein die auf problematische Weise fragmentarisch überlieferte Informationen, sondern schreibt – etwa über das vereinheitlichende Weglassen an sich bekannter Personennamen – aktiv den ent-individualisierenden Blick fort. Sowohl die Photographen in der Produktion als auch

18 Vgl. Peter Mesenhöller: Augustus F. Sherman. Ellis Island Portraits 1905-1920, New York: Aperture 2005. 19 Vgl. ebd.

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das Museum in der Re-Produktion der Bilder verstehen, so lässt sich schließen, die Welt als unterteilt in verschiedene Nationen, Völker und Volksgruppen und kulturelle Differenz als Korrelat dieser Aufteilung. Diese Vermessung der Immigranten entlang ethnisch-nationaler Linien setzt sich in anderen Teilen des Museums fort. Eine Vitrine etwa zeigt sechs Paar Kinderschuhe und auch hier sind die Objekte standardisiert als »Greek, Italian, Albanian, Chinese, Czech, Austrian« bezeichnet, stehen mithin nicht für ihre vormaligen Träger, sondern metonymisch für die Herkunftsgruppe. Mit Akhil Gupta und James Ferguson wäre gegen diese ethnisierende Praxis für eine Umkehrung des Blicks zu plädieren: kulturelle Differenz nicht als Ausgangs-, sondern als Endpunkt. In den Fokus kommen damit nicht als bestehend angenommene separate Gruppen, sondern ein »difference-producing set of relations«, die Bedingungen und Mechanismen der Konstruktion von Differenz.20 So gesehen etabliert das Museum mit seinen auf Nationalität fixierten Betextungen Ethnizität erst als vorrangiges Identitätslabel und Differenzkriterium. Soziale und ökonomische Aspekte etwa treten demgegenüber in den Hintergrund.

4. R ETROSPEKTIVE I NTEGRATION Zum vierten Bild. In diesen Präsentationen zentral ist die Inszenierung kultureller Vielfalt, die eben wesentlich als ethnisch-nationale Vielfalt verstanden wird.21 Dabei zeigen sich an verschiedenen Stellen die Untiefen einer solchen gleich-gültigen Repräsentation, etwa wenn im bunten Nebeneinander die konkreten Migrationshintergründe verschwimmen oder über die Einreihung von People of Color die fundamentale Dimension der (sozial konstruierten) Kategorie race kurzerhand in eine leichter integrierbare Facette ethnisch-kultureller Vielfalt umgedeutet wird.

20 Vgl. Akhil Gupta/James Ferguson: »Beyond ›Culture‹. Space, Identity, and the Politics of Difference«, in: Cultural Anthropology 7 (1992) 1, S. 6-23, hier S. 16. 21 Dass Kultur und entsprechend kulturelle Vielfalt weitaus facettenreicher und widersprüchlicher gefasst werden könnte, wird nicht erst mit Blick auf Raymond Williams’ klassische Definition von Kultur als (in einer von drei Dimensionen des Begriffs) »a particular way of life, whether of a people, a period or a group« deutlich. Raymond Williams: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, Oxford/New York: Oxford University Press 1976, S. 80, vgl. auch Tony Bennett/Lawrence Grossberg/Meaghan Morris (Hg.), New Keywords. A Revised Vocabulary of Culture and Society, Malden/Oxford: Blackwell 2006. S. 63-69.

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Gleichermaßen kurios und symptomatisch wird dieser Ansatz, wenn im bedingungslosen Bemühen um Inklusion selbst die Opfer rassistischer Ausgrenzung nachträglich zu Immigranten befördert werden. Ein Bild inmitten der besprochenen Einwanderer-Galerie zeigt, laut Label, eine »Gypsy family from Serbia«. Zu sehen sind ein zufrieden lächelnder Mann im weißen Hemd, sitzend, vor ihm auf dem Boden zwei Jungen, wohl seine Söhne. Neben ihm steht eine Frau mit Kopftuch und bunten Kleidern, ein kleines Kind auf dem Arm. Die Frau strahlt übers ganze Gesicht – ein Genrebild des stereotypen ›lustigen Zigeuners‹. Das Bild muss aufgenommen worden sein, bevor den Leuten die Nachricht von ihrer Abschiebung bekannt gegeben wurde. Während die abgebildeten Personen also umgehend aus dem Land entfernt wurden, zirkulierten ihre Bilder in der Folge nicht unbeträchtlich: Die schnelle Abschiebung der Roma wurde zum Aufhänger einer Medien-Kampagne, in der sich der Direktor der Kontrollstation, William Williams, mit positiver Resonanz seiner kompromisslosen Haltung gegenüber ›unerwünschten Einwanderern‹ rühmte. Die Sunday Times etwa würdigte Williams anlässlich seines Ausscheidens aus dem Amt 1905 mit einer ganzen Seite, die unter der Überschrift »Four Years of Progress at Ellis Island« neben einem Porträt des Commissioners einige Errungenschaften seiner Amtszeit im Bild dokumentierte. Zu diesen gehört auch eine Photographie eben jener Roma-Gruppe mit der Unterschrift »Hungarian Gypsies all of whom were deported…« Die museale Präsentation vermerkt jedoch nichts von einer Deportation und nichts von der rassistischen Kampagne. Ein pikantes Detail dabei ist, dass das Benutzerverzeichnis der New York Public Library, wo die Unterlagen archiviert sind, eindeutig dokumentiert, dass die Kuratoren der Ausstellung dieses Konvolut eingesehen haben und von der medienwirksamen Deportation der Roma mithin gewusst haben müssen. Statt diesen Sachverhalt deutlich zu machen, impliziert die Präsentation jedoch ganz selbstverständlich und ebenso falsch, dass es sich um glückliche Einwanderer, gar glückliche Neu-Amerikaner handelt. Diese gleich-gültige Inklusion, die weder qualitative Differenzen unterschiedlicher Einwanderungs- und Einwanderer-Erfahrungen kennen will (und im Extrem selbst Abgeschobene retrospektiv integriert), noch die Frage nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen zwischen den Re-Präsentierten stellt, setzt sich im Großen in der Ausstellung The Peopling of America mit unterschiedlichen Migrationsbewegungen fort. Ergebnis ist ein umfassendes, aber harmonisiertes Bild, in dem Konflikte durch scheinbare Gemeinsamkeit überdeckt sind.

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Abbildung 5: Bildunterschrift in der Ausstellung: »Gypsy family from Serbia«

5. AUSGESTELLTE G EMEINSCHAFT Treasures from Home ist die Ausstellung im Ellis Island Immigration Museum, die sich als einzige ganz auf Objekte stützt. In wenigen Vitrinen drängen sich über Tausend der unterschiedlichsten Objekte, die Einwanderer mit nach Amerika brachten: Trachten, Musikinstrumente, Pässe, Bibeln und Ikonen, seltsam geformte Pfeifen, ein Hufeisen, eine Streichholzschachtel… Die Ansammlung, in besonderem Maße in der Vitrine »Family Life«, erscheint dabei merkwürdig. Der Grund mag sein, dass die Beschriftungen, analog zu den erwähnten Porträts, wieder eine nationale Perspektive in den Vordergrund rücken, indem sie als primäre Information das jeweilige Herkunftsland angeben. Bedeutsame regionale,

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lokale oder andere Differenzen werden damit zugunsten einer Norm der Nation ausgeklammert und den individuellen Dingen eine strenge Ordnung oktroyiert. Im Gegenzug (und mit Blick auf den amerikanischen Kontext) werden sie damit zu »ethnically marked objects«22 gemacht. Stutzig macht auch, dass nicht wirklich etwas über die Dinge zu erfahren ist, nur, wie erwähnt, das Herkunftsland, der Name des Besitzers und ein Datum, in seltenen Fällen ergänzt um einen knappen Satz der Beschreibung. Nichts über den kulturellen Kontext, in dem sie ursprünglich benutzt oder in den USA weitergenutzt wurden, ob oder wie sie in neuer Umgebung ihre Bedeutung behielten, verloren oder veränderten, und zwar obwohl durchaus Hintergründe zu einzelnen Dingen bekannt waren.23 Schließlich ist es die Ordnung innerhalb der Vitrinen, die verwirrt: eine Kokosnuss neben einem Teppichklopfer, »Russia« neben »West Guyana«, »1880« neben »1924« – alles in allem eine wilde Mischung isolierter Kuriositäten, Exotika aus einer anderen Zeit und Welt. Die entscheidende Bedeutung erschließt sich allerdings erst, wenn man einen Schritt zurücktritt, nicht mit Blick in die Vitrine, sondern auf die Vitrine als Ganze. Das Fehlen von Hintergrundinformationen zu den Dingen wird in dieser Perspektive unbedeutend. Die Objekte sind aufgehoben in einem neuen Kontext, mitsamt ihrer Differenzen kollektiv transformiert in ein größeres Ganzes, wo sie – wie verschieden sie auch sein mögen – alle ihren Platz finden. Unity in diversity – E Pluribus Unum: Die Schaukästen sind perfekte Metaphern für ein säuberlich geordnetes und harmonisches multikulturelles Amerika. An anderer Stelle ist diese Inszenierung kultureller Vielfalt noch explizit und im Wortsinn von der Symbolik der Nation überformt. Die »Flag of Faces«, ein prominent platziertes, etwa drei Meter hohes und fünf Meter breites DesignElement, zeigt von der einen Seite betrachtet, hunderte Porträts heute lebender Amerikanerinnen und Amerikaner, eine Zusammenstellung, die trotz der Schwarzweißphotographien ganz offensichtlich ›bunt‹ ist.24 Im Vorbeigehen verwandeln diese sich in die Stars and Stripes der amerikanischen Flagge. Die

22 Vgl. Susan Hegeman: »Shopping for Identities. ›A Nation of Nations‹ and the Weak Ethnicity of Objects«, in: Public Culture 3 (1991) 2, S. 71-92, hier S. 73 (im Zusammenhang mit einer anderen Migrationsausstellung). 23 Vgl. I. Chermayeff/F. Wasserman/M. Shapiro: Ellis Island, S. 164-207. 24 Die Bilder wurden 1989 im Auftrag der Kuratoren vom New Yorker Photographen Pablo Delano zum großen Teil an der Freiheitsstatue aufgenommen. Für eine Beschreibung des Projekts und eine Auswahl der Photographien vgl. Pablo Delano: Faces of America. Photographs, Washington/London: Smithsonian Institution Press 1992.

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Abbildung 6: Vitrine »Family Life« in der Ausstellung Treasures from Home

Individualität der Gesichter – und übertragen: der Geschichten – wird darin unsichtbar. Die Migranten sind fest im nationalen Rahmen gefasst, in dem sie bei aller Vielfalt im Einzelnen aufgehoben und vereinheitlicht sind.

6. K OLLEKTIVE T RANSFORMATIONEN Anders als in der gleichsam überhistorischen Momentaufnahme von Treasures from Home regiert in der Ausstellung Through America’s Gate die Sequentialität der Geschichte. Damit wandeln sich notwendig die Modalitäten der Wahrnehmung: Während das dortige Objekt-Panorama in toto visuell verfügbar ist und der panoramatische Blick eine »Ablösung des Betrachters von sich selbst«25 befördert, erzwingt die räumliche Taktung hier das genaue Gegenteil. Der »walking learner«26 ist ganz bei sich, um sich die Geschichte Schritt für Schritt zu erschließen, sich in ihr zu ergehen. Diese ver-körperte Praxis des »organized

25 Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Insel 1981, S. 14. 26 M. Bal: Double Exposures, S. 18.

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walking« bezieht die Betrachter, die nun eben mehr sind als Betrachter – nämlich »minds on legs«27 – ganz anders, totaler, in die Dramaturgie der Präsentation ein. Thema der Ausstellung ist der Kontrollprozess auf Ellis Island. Die Perspektive ist emphatisch die der einfachen Immigranten, ihr Erleben steht im Mittelpunkt. Der kritische Impuls dabei ist der Versuch, die Individuen nicht als passive Erdulder ihrer Geschichte zu zeigen oder sie in der Konzentration auf ›die große Politik‹ ganz aus den Augen zu verlieren. Entsprechend gibt auch der Weg der Immigranten durch Ellis Island die Struktur der Ausstellungen vor. Aufeinander folgende Räume behandeln einzelne Schritte wie »Arrival«, »Medical Inspection«, »Legal Inspection« oder »Free to Land«. Drei Aspekte sind dabei bemerkenswert: Erstens führt die in der Dramaturgie angelegte Einfühlung in die historischen Immigranten zu einer nur randständigen Thematisierung der politischen Hintergründe, die überhaupt erst zur Einrichtung der Immigration Station führten, und zur Vernachlässigung der Kritik an den Mechanismen und Techniken der Kontrolle. Die Durchführung von standardisierten Intelligenztests oder die Abweisung alleinstehender Frauen und potentieller Sozialfälle etwa wird – aus der Perspektive der mit den Regelungen Konfrontierten konsequent – als gegeben beschrieben. Es werden individuelle, auch widerständige Formen des Umgangs geschildert,28 die Einrichtungen an sich jedoch nicht hinterfragt. Der Ausschluss Unerwünschter erscheint so als prinzipiell natürlicher Vorgang. Verlängert wird diese isolierte ›Perspektive von unten‹ mit Blick auf die Beamten der Einwanderungsbehörde, deren Arbeit über sorgfältig abgewogene Oral-History-Zitate charakterisiert wird. Die Folge ist Personalisierung, Individualisierung und damit Trivialisierung der bürokratischen Maschine, die Ellis Island auch war.29 Zweitens folgt das Narrativ der Ausstellungen automatisch dem Weg und Schicksal der glücklichen Immigranten. Kritische Aspekte, wie medizinische und rechtliche Auslese, werden angesprochen, der Plot insgesamt ist jedoch gestaltet als Drama schwerer Prüfungen und Härten bei schlussendlich erfolgreicher Überwindung. Die Fälle Internierter, Deportierter oder Rückwanderer, die an verschiedenen Stellen präsentiert werden, erscheinen demgegenüber als Ge-

27 Beide Zitate bei Tony Bennett: The Birth of the Museum. History, Politics, Theory, London/New York: Routledge 1995, S. 6 und S. 179-186. 28 Vgl. Michael Wallace: Mickey Mouse History and Other Essays on American Memory, Philadelphia: Temple University Press 1996, S. 65. 29 Vgl. Judith Smith: »Celebrating Immigration History at Ellis Island«, in: American Quarterly 44 (1992) 1, S. 82-100, hier S. 90f.

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schichten bedauernswerter Ausnahmen entlang des Weges der gewöhnlichen Immigranten zum Train Ticket Office. Gestützt wird dieser Eindruck durch die Auszüge aus den Oral-History-Interviews, bei denen es sich nicht im eigentlichen Sinne um Erzählungen von Einwanderern, sondern von ehemaligen Einwanderern handelt, die vom weitgehend positiven Fortgang ihrer Lebensgeschichte her gefärbt sind. Stimmen von Deportierten oder Rückwanderern sind – im Wortsinn – nicht zu hören.

Abbildung 7: Ausstellungsansicht Through America’s Gate

Drittens suggeriert das lineare Narrativ der Ausstellung eine gemeinsame Erfahrung aller Einwanderer und trägt so dazu bei, eine »imagined community«30 der Immigranten zu konstruieren. Was mit Blick auf den formalen Kontrollprozess noch vertretbar erscheint, wird spätestens in der Darstellung des weiteren Kontexts problematisch. Die zehn Räume der Ausstellung Peak Immigration Years, die als zehn aufeinanderfolgende Phasen durchschritten werden, produzieren die

30 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso 1991 (2. erweiterte Auflage).

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idealtypische Chronologie einer »universal immigrant experience«31. Entwickelt wird die Geschichte dabei als leitmotivische Abstraktion einer repräsentativen Einwandererpersönlichkeit aus der Vielzahl der Einwandererschicksale. An die Stelle vieler einzelner Immigranten tritt ein ›ideeller Gesamtmigrant‹. Dabei vereinigt diese Figur gleichsam eine doppelte Transformation in sich: die Transformation der vielen in ein Kollektiv der Einwanderer und deren kollektive Transformation in ›neue Amerikaner‹. Während mit Treasures from Home also, wie gezeigt, die USA als harmonische multikulturelle Nation ins Bild gesetzt ist, re-präsentieren die beiden hier skizzierten Ausstellungen die prozessuale Dimension der Konstruktion. Im Verfolg des Weges durch die Kontrollstation und in die amerikanische Gesellschaft, der »universal immigrant experience«, vollzieht der Besucher dabei nicht nur die Transformation der Einwanderer nach, sondern schreibt sich selbst performativ in die narrative Konstruktion des ideellen Gesamtmigranten, der Einwanderernation, ein. Beide Aspekte – kollektive Transformation und Einschreibung ins Narrativ – sind zugespitzt in dem Umstand, dass die Kontrollstation und das Museum auf einer Insel liegen, einem Flecken Erde gleichsam zwischen den Welten – noch nicht auf dem amerikanischen Festland und nicht mehr jenseits des Ozeans. Immigranten damals und Besucher heute halten sich hier nur wenige Stunden auf. Befördert wird so eine Vorstellung von Immigration als Ereignis und mehr noch eine Vorstellung der ereignishaften Amerikanisierung. Das Bild, das unwillkürlich entsteht, ist das eines Knotenpunktes oder gar Trichters: Aus zahlreichen Ländern kommen die Menschen nach Ellis Island, und wenn sie die Insel wieder verlassen, so will es scheinen, sind sie wundersam transformiert in neue (Bindestrich-)Amerikaner. Das in den Ausstellungen an manchen Stellen mühsam versuchte Nachzeichnen des langfristigen Immigrationsprozesses, die Widerständigkeit von Traditionen gegen einfache Assimilation sowie die möglichen Varianten der Bildung komplexer Identitäten, tritt gegenüber dieser assoziativen Ahnung in den Hintergrund. Ellis Island wird zum Schauplatz eines rite de passage, und das Museum aktualisiert durch Narrativ und Ort einen Gründungsmythos der amerikanischen Gesellschaft: »Basismodell der amerikanischen Ideologie, einer Art weltlicher Religion, ist die Transformation als eine säkularisierte

31 So eine Kuratorin, zit. nach Gisela Welz: Inszenierungen kultureller Vielfalt, Frankfurt a.M./New York/Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 182.

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Form des Wiedergeburtsmythos, der in spontaner Metamorphose den Amerikaner als neuen Menschen schafft.«32

7. G RIECHISCHE P OLYVALENZEN Zumindest mit einem Beispiel sei ein Stück weit von meiner Lesart Ellis Islands abgesehen und die Analyse zum forschungspraktisch schwierigen Terrain der Besucherrezeption geöffnet. Angedeutet sei dabei nur, dass sich auch im Migrationsmuseum angesichts polyvalenter Bilder die Ansichten der Kuratoren nicht immer mit denen von Besuchern decken. Diese Photographie zeigt eine Gruppe von Einwanderern, genauer: griechischen Einwanderern, im Westen der USA um 1910. Auf dem Bild, das Verwandten in die Heimat geschickt wurde, präsentieren sie demonstrativ Revolver und Whisky-Flaschen. Die Kuratoren deuteten die Aufnahme als Ausdruck des Stolzes über das Erreichte, den neuen Wohlstand im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und vor allem als Versuch, sich selbst als waschechte WildwestAmerikaner zu inszenieren. Daheim Gebliebenen sollte so eine erfolgreiche Karriere und Integration in der neuen Welt signalisiert werden. Aus diesem Blickwinkel wurde die Photographie in die Ausstellung aufgenommen. Mitglieder der griechischen Community sahen die Dinge nach Eröffnung jedoch ganz anders und liefen Sturm. Die Photographie diffamiere Griechen pauschal als Trinker und Ganoven und müsse entfernt werden. Ein Vertreter etwa schrieb: »The picture not only stereotypes the Greek as an unsavory character, but also contributes to the distorted perceptions of bigots who view it. Greeks made it in America through diligence, hard work and education. Very, very few of them became bandits or outlaws. We ask that this picture be immediately removed from the exhibit and that a more representa33

tive photograph of the Greek experience in America be substituted in its place.«

Wichtiger als der Ausgang der Affäre – das Bild hängt noch heute – ist hier die Grundkonstellation. Das Beispiel verweist auf die unterschiedlichen Perspekti-

32 Volker Bischoff/Marino Mania: »Melting Pot-Mythen als Szenarien amerikanischer Identität zur Zeit der New Immigration«, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 513-536, hier S. 535. 33 James S. Scofield an Diana Pardue, 7. August 1991, in: Ellis Island Immigration Museum Archives.

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ven von Repräsentierenden und Repräsentierten, die in diesem Fall in Konflikt kamen. Vielleicht ließe sich von der Differenz zwischen einem kalten und heißen Blick auf das Objekt sprechen. Der kalte Blick der Kuratoren ist ein distanzierter Blick. Er sieht das Objekt als Illustration historischer Umstände und Ereignisse. Er nimmt unterschiedliche Standpunkte ein, zieht verschiedene Facetten in Betracht und kann von mancher Besonderheit absehen.

Abbildung 8: Bildunterschrift in der Ausstellung: »Greek miners in Clear Greek, Utah pose for a photograph to send to relatives in Crete, ca. 1915. The bottles and guns were presumably signs of affluence.«

Für die übergeordnete Aussage der Ellis-Island-Ausstellung war es etwa gleichgültig, ob es sich bei den Einwanderern im Bild um Griechen, Italiener oder Polen handelte. Der heiße Blick kann und will diesen Sicherheitsabstand nicht halten. Die Dinge kommen ganz nahe, an die Stelle von Abstraktion tritt Identifikation, unmittelbare Betroffenheit. Die Wahrnehmung wird dadurch nachhaltig gefärbt. Das Beispiel verweist also auf so zentrale Fragen wie das Spannungsverhältnis von Distanz und Betroffenheit im Museum, die Frage »Wer spricht?« (Wer spricht über wen?, aber auch: Wer spricht für wen? – Die Briefeschreiber selbst

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stellten sich ja als ›Repräsentanten‹ der griechisch-stämmigen Amerikaner vor), aber auch auf das Bedürfnis nach Darstellung von Erfolgsgeschichten (gerade auch bei Communites) oder das leidige Wunschbild unverzerrter Re-Präsentation.

8. Ü BER

DIE

G RENZEN

DES

M USEUMS

Museen sind – selbst wenn sie auf einer Insel liegen – nicht von ihrer Umgebung zu trennen. Für sie gilt, was James Young in Bezug auf Denkmale feststellt, dass sie stets inmitten ihrer jeweiligen Geographie und in Bezug zu anderen signifikanten Orten ihrer Nachbarschaft zu sehen sind, als Teil einer bedeutungsstiftenden topographischen Matrix.34 In besonderem Maße trifft dieser Befund auf die Topographie der Erinnerung im Hafen von New York zu, die in kaum zu steigernder Weise symbolisch verdichtet ist. Zu beobachten ist dabei ein Phänomen, das Owen Dwyer als »symbolic accretion« beschreibt.35 »Symbolischer Zuwachs« entsteht, wenn kommemorative Elemente zu einem bereits bestehenden Denkmal hinzugefügt werden und damit sowohl zu dessen Verstärkung als Gedenkort wie zu thematischer Ausweitung oder Veränderung beitragen. Mit diesem Konzept lässt sich sinnvoll die Dynamik der Erinnerungslandschaft um Ellis Island beschreiben. In Stichworten: Das Zentrum der verdichteten Erinnerungslandschaft ist zweifellos die Statue of Liberty, die seit 1886 mitunter wechselnde Aspekte, doch stets zuvorderst individuelle Freiheit und die unbegrenzten Möglichkeiten der Vereinigten Staaten von Amerika symbolisierte.36 Dieser geographisch und in der Wirkung am nächsten liegt Ellis Island. Die Verbindungen sind so vielfältig, dass nachgerade von einem Doppelmonument gesprochen werden kann: Die beiden Ort liegen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt, sie sind administrativ zusammengefasst und der Besuch des einen ist auf Grund der Fährverbindung nicht möglich ohne den Besuch des anderen. Das Gedenken an die Einwanderung ist

34 Vgl. James E. Young: The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning, New Haven/London: Yale University Press 1993, S. 7. 35 Vgl. Owen J. Dwyer: »Symbolic Accretion and Commemoration«, in: Social & Cultural Geography 5 (2004) 3, S. 419-435. 36 Vgl. R.J. Vecoli: The Lady and the Huddled Masses; Juan F. Perea: »The Statue of Liberty. Notes from Behind the Gilded Door«, in: ders. (Hg.), Immigrants Out! The New Nativism and the Anti-Immigrant Impulse in the United States, New York/ London: New York University Press 1997, S. 44-58.

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so vom amerikanischen Symbol der Freiheit nicht mehr zu trennen. Damit konnotieren sich die beiden Denkmale gegenseitig: Ellis Island verstärkt die Wahrnehmung der Freiheitsstatue als Mother of Exiles, als Ikone der Immigration. Im Gegenzug überträgt sich eine Sicht von Migration als individuelles Streben nach Freiheit auf Ellis Island. Um das Doppelmonument von Freiheitsstatue und Ellis Island arrangiert sich eine Reihe weiterer Gedenkorte. Der »symbolische Zuwachs« hält an und je dichter das symbolische Kräftefeld wird, desto stärker scheint seine Anziehungskraft. Battery Park an der Südspitze Manhattans, von wo die Fähre zu den beiden Sehenswürdigkeiten ablegt, ist der Standort von über zwanzig Denkmalen – für den Zweiten Weltkrieg, den Korea- und den Vietnamkrieg, für die ersten Siedler der Stadt, für berühmte Entdecker und Erfinder. Die meisten orientieren sich auf die Freiheitsstatue hin, doch etliche beziehen Ellis Island als Referenzpunkt explizit mit ein. Bemerkenswert ist des Weiteren die Relation zu einem anderen Museum an der Südspitze Manhattans. Das Museum of Jewish Heritage stellt sich bewusst und im Wortsinn vor den Hintergrund von Freiheitsstatue und Ellis Island. Die Dauerausstellung des Museums, die auf drei Ebenen jüdisches Leben in der Diaspora, dessen Zerstörung in der Shoa und den Neuanfang nach 1945 in Israel und den USA zeigt, endet in einem Raum, dessen Panoramafenster den Blick auf die beiden Wahrzeichen für Freiheit und Pluralismus freigeben. Im gleichen Zug gewinnt deren Symbolik im Kontrast zu den Verbrechen der Shoa enorm an symbolischer Strahlkraft. Seit den Anschlägen des 11. September 2001 liegt Ellis Island zudem in unmittelbarer Nachbarschaft eines weiteren Nationaldenkmals: der gewaltsam veränderten Skyline Manhattans mit der Leerstelle der fehlenden Twin Towers. Dieser derzeit wohl mächtigste Erinnerungsort der USA steht im öffentlichen Diskurs für das Leid einer nationalen Schicksalsgemeinschaft und wird als Mahnung für die Notwendigkeit des Kampfs um westliche, amerikanische Werte herangezogen. Auch hier werden Verbindungen nach Ellis Island gezogen. In geradezu paradigmatischer Weise findet sich dies in der Ansprache George W. Bushs anlässlich des ersten Jahrestags der Anschläge.37 Der Präsident hielt die sendungsbewusste Rede an die Nation auf Ellis Island, mit der Freiheitsstatue im Rücken. Der Konnex zu Ellis Island verlief dabei, wie zu erwarten, nicht über dessen historische Funktion der Internierung und Deportation unerwünschter oder politisch suspekter Einwanderer, sondern über das mythisierte Bild als Verkörperung des sicheren Hafens für die Unterdrückten dieser Erde.

37 Vgl. New York Times vom 12.09.2002, S. B8.

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Die Stichworte zeigen, wie eng Ellis Island in eine hochgradig verdichtete Erinnerungslandschaft eingebunden ist und wie sehr Ellis Island – und auch das Ellis Island Immigration Museum – darin patriotisch aufgeladen werden. Dieser Umstand verweist nicht zuletzt auf ein museologisch interessantes Phänomen, namentlich die begrenzte Gestaltungsmacht der Ausstellungsmacher, die eine solch einseitige Lesart in ihrer Konzeption eigentlich zu verhindern suchten.38 Das Zusammenspiel mit den anderen Erinnerungsorten und der patriotische Diskurs, der sich um diese rankt, ist jedoch von innen her nicht zu kontrollieren und prägt dennoch das Bild Ellis Islands in entscheidender Weise. Eine letzte Beobachtung zum Ort des Ellis Island Immigration Museum, nun weniger zur symbolischen, denn sozialen Dimension der Landschaft und damit zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart der Migration. Ellis Island ist ein reines Touristenziel. Durch seine Lage, aber auch durch die Wahrnehmung der New Yorker ist es komplett von der sozialen Wirklichkeit der Stadt abgelöst. Auch in diesem Sinne ist Ellis Island eine Insel. Besucher treffen erst zurück in Manhattan wieder auf die zeitgenössischen Realitäten von Migration: Illegalisierte Senegalesen verkaufen gefälschte Rolex-Uhren, Mexikaner T-Shirts und Pakistanis heiße »Pretzels«. Man sieht es an den Reaktionen der Touristen: Das Museum und die schöne alte Geschichte der Einwanderung sind an dieser Stelle schon wieder sehr weit weg.

E XIT

THROUGH THE GIFTSHOP

Regina Bendix erwähnt in ihrem Aufsatz After Identity en passant das Phänomen, dass bestimmte Wissensbestände und Redensarten, wenn sie in der Welt der Erwachsenen vordergründig ausrangiert wurden, auf die Kinderspielplätze wandern.39 Dort können sie sich, wie der krude Kolonialismus des Cowboy-undIndianer-Spiels, noch eine Weile halten – dann in ihrer spielerischen Harmlosigkeit zur Kenntlichkeit entstellt. Ein ähnliches Phänomen scheint auch das Museum zu kennen, nur dass der Spielplatz hier der Museumsshop ist. In diesem Sinn steht am Schluss meiner Lektüre des Ellis Island Immigration Museum – anstelle

38 Vgl. Joachim Baur: »Ellis Island, Inc.: The Making of an American Site of Memory«, in: Hans-Jürgen Grabbe/Sabine Schindler (Hg.), The Merits of Memory. Concepts, Contexts, Debates, Heidelberg: Winter 2008, S. 185-196. 39 Vgl. Regina Bendix: »After Identity. Post-Ethnicity in Europe and America«, in: dies./Roodenburg, Managing Ethnicity, S. 77-95, hier S. 82.

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eines Fazits – ein kurzer Blick auf zwei Artikel von diesem musealen Nebenschauplatz.

Abbildung 9: Wimpel aus dem Museumsshop des Ellis Island Immigration Museum

Der erste ist ein dreieckiger Wimpel. In seinem Zentrum zeigt er eine Abbildung der Einwanderer-Kontrollstation auf blauem Grund, daneben in Gelb die Aufschrift »Ellis Island«. Das Bild ist an den Rändern des sich nach rechts hin verjüngenden Objekts eingerahmt von Nationalflaggen, die schließlich im StarSpangled Banner zusammenlaufen. Die Bildsymbolik des Wimpels schlägt eine Deutung von Migrationsgeschichte vor, die von der des Museums nicht weit entfernt ist. Einige Aspekte: Die Einwanderer – Individuen und/oder Gruppen – sind symbolisiert durch Nationalflaggen, heißt: einzig charakterisiert und unterschieden durch ihre Nationalität, die als klar abgegrenzt erscheint. Weder gibt es innerhalb der vom Flaggenfeld definierten Einheiten Ungleichmäßigkeiten, noch Übergänge oder Mischformen. Mit ›ihren‹ Farben vertreten sind neben Immigranten zahlreicher europäischer Staaten auch solche außereuropäischer Länder – eine bunte Mischung, die in einheitlicher Form eine möglichst große Breite repräsentiert. Diese verbinden sich nun – in der westlichen Tradition von links nach rechts gelesen – in der amerikanischen Flagge, gehen unterschiedslos ein in die amerikanische Nation, wobei die so erzeugte Spitze des Objekts dynamisch nach vorn weist. Das Bild im Zentrum des Wimpels verweist auf die Deutung Ellis Islands als Ort dieser kollektiven Transformation. Ein zweites Objekt zeigt wieder eher Zustand denn Prozess und gibt Auskunft über das ›Innenleben‹ der so vorgestellten Einwanderernation: Ein Regal inmitten des Shops enthält eine Vielzahl von Tassen. Aufgedruckt ist neben dem standardisierten Schriftzug »Ellis Island, USA« je ein weiterer, der in den verschiedensten Varianten zu haben ist: »Spanish American«, »Welsh American«, »German American« etc. Ergänzt ist die Schrift jeweils um die entsprechenden zwei, sich überkreuzenden Fahnen. Demonstrativ betonen die Tassen dabei ihre

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Verschiedenheit – und sind von den oberflächlichen Labels abgesehen doch alle gleich. In ihrer harmonischen Gesamtheit sind sie ideale Verkörperungen eines »weichen Multikulturalismus«40, der Verschiedenheit in der Form von »surface ethnicity«41 feiert, weitergehende Differenzen (etwa im Hinblick auf race, Klasse und Geschlecht) aus Angst vor zentrifugalen Tendenzen und zum Wohle der Einheit der Nation ausblendet und unterdrückt. Mit solchen symbolischen Operationen, die die Projektion unterschiedlichster Geschichten auf den MetaErinnerungsort Ellis Island befördern, fundiert das Ellis Island Immigration Museum die nationale Meistererzählung der Einwanderung und konsolidiert so die »Vorstellung von Gemeinschaft« unter den Bedingungen der Multikultur. Ich breche hier ab. Das Ellis Island Immigration Museum mag in dieser kurzen Tour ein wenig näher gerückt, ein paar über den Einzelfall hinausweisende Aspekte mögen deutlich geworden sein: etwa die Implikationen der Ver-Ortung von Migrationsgeschichte, die Paradoxien des Sammelns, die Gewichtungen von Besonderem und Allgemeinem in der Re-Präsentation, die geschichtspolitischen Dimensionen der Musealisierung von Migrationsgeschichte, das spannende Verhältnis von Migration und Nation, die Tücken der Metapher, die immer virulente Frage »Wer spricht?« und die selten eindeutig zu beantwortende, wo ein Museum eigentlich beginnt und endet. Zum Schluss nur eines noch: Die Ansichtskarte, die hier den Aufhänger und Rahmen stellte, ist dann – man mag es bereits vermuten – doch zu schön, um wahr zu sein. Sie stammt nicht aus dem Museumsshop, sondern prosaischer von Photoshop.

40 Zum Konzept des soft multiculturalism vgl. Gary Gerstle: American Crucible. Race and Nation in the Twentieth Century, Princeton: Princeton University Press 2001. 41 Ebd., S. 81.

Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration und die ›Immigranten‹ im Kontext der Kolonialgeschichte Interaktionen und politische Interventionen A NDREA M EZA T ORRES

In diesem Artikel möchte ich die Cité nationale de l’histoire de l’immigration in Paris – ein Projekt zur Musealisierung der ›Migration‹ – aus der Perspektive der europäischen Kolonialgeschichte kontextualisieren. Diese Perspektive erscheint mir deshalb fruchtbar, weil die im Oktober 2007 eröffnete Cité nationale im Palais des Colonies an der Porte Dorée in Paris angesiedelt wurde und dieses Palais speziell für die Kolonialausstellung des Jahres 1931 errichtet wurde. Ich werde außerdem die ständige Ausstellung der Cité nationale, die den Titel Repères trägt, beschreiben und einen Blick darauf werfen, wie aus der Innensicht der Kuratoren Repräsentationen von ›Migration‹ entstehen. Den Schluss bilden meine Überlegungen zur Frage, in welchem Ausmaß ›Immigranten‹, die ich mit Rámon Grosfoguel besser als »colonial/racial subjects of empire«1 bezeichnen möchte, an der Gestaltung solcher Orte teilhaben und in die Museen eingreifen können. Im Zuge dessen analysiere ich die Rolle des Körpers als die eines wesentlichen Ortes der Wissensproduktion, von dem aus Bedeutungen und Praktiken subver1

Den Begriff »colonial/racial subjects of empire« habe ich von Grosfoguel übernommen. Damit bezeichnet er »Subjekte, die sich als Teil einer langen Kolonialgeschichte im Inneren des Imperiums befinden […]. Es gibt eine lange Geschichte der Rassialisierung und Inferiorisierung gegenüber den ›colonial/racial subjects of empire‹, welche die gegenwärtigen Machtbeziehungen durchdringt, konstituiert und determiniert.« Ramón Grosfoguel: »Latin@s and decolonization of the US empire in the 21st century«, in: Social Science Information 47 (2008) 4, S. 605-622, hier S. 608.

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tiert werden können. Ziel dieses Artikels ist es, in den Repräsentationen von ›Migration‹, wie sie im geopolitischen Kontext der Europäisierung auftauchen, koloniale Machtbeziehungen2 aufzuspüren und diese näher zu beschreiben.

D IE C ITÉ NATIONALE DE L ’ HISTOIRE DE L ’ IMMIGRATION K ONTEXT DER K OLONIALGESCHICHTE

IM

Um das ehemalige Palais des Colonies, heute Palais de la Porte Dorée genannt, und die ständige Migrationsausstellung Repères3 der Cité nationale de l’histoire de l’immigration im Kontext der Kolonialgeschichte zu verankern, schicke ich drei Kurzbeschreibungen voraus: die eines Archivs in Sevilla, die eines Museums in Amsterdam und die einer Kolonialausstellung im belgischen Tervuren. Anhand dieser drei Schauplätze, welche von westlicher Zivilisation und Kolonialisierung Zeugnis ablegen und die Errichtung des Palais des Colonies in Paris beeinflusst haben, zeichne ich eine Genealogie der Kolonialisierung nach. Diese Museen und Archive sind am Schnittpunkt von Kunst, Geschichte, Nationsbildung und kolonialer Expansion Europas angesiedelt, da sie umfangreiche Sammlungen historischer Dokumente, ethnographischer Objekte und Kunstwerke besitzen, die in Zusammenhang mit dem Kolonialismus stehen. Die Genealogie Sevilla – Amsterdam – Trevuren gibt einen Eindruck davon, wie vor der Pariser Kolonialausstellung von 1931 die inneren und äußeren Grenzen Europas und europäischer Nationen repräsentiert wurden. Für die Herausbildung der Moderne sind die Kolonialgeschichte Spaniens und die Nationsbildung der Niederlande wesentlich. Ohne diese erste Moderne, die Enrique Dussel vor allem in Spanien ansiedelt, ist die Kolonialgeschichte der Mächte des ›Nordens‹ (Frankreich, England, Deutschland) und die zweite Moderne nicht zu verstehen. Dennoch findet dieser Teil der europäischen Geschichte oft nicht die entsprechende Berücksich-

2

»Ein Teil des eurozentrischen Mythos besteht darin, dass wir in einem ›postkolonialen‹ Zeitalter leben und dass die Welt und im Besonderen die metropolitanen Zentren nicht dekolonialisiert zu werden brauchen. Diese konventionelle Definition reduziert Kolonialität auf das Vorhandensein einer Kolonialverwaltung. Wie aber das Werk von Aníbal Quijano […] über die ›Kolonialität der Macht‹ gezeigt hat, leben wir immer noch in einer kolonialen Welt und müssen daher aufhören, koloniale Beziehungen in diesen engen Bahnen zu denken, wenn wir den noch unrealisierten Traum des 20. Jahrhunderts von der Dekolonialisierung verwirklichen wollen.« Ebd., S. 607.

3

Repères bedeutet Markierungspunkte, Bezugspunkte oder Referenzen.

D IE C ITÉ NATIONALE UND DIE ›I MMIGRANTEN ‹ | 195

tigung – ebenso wenig wie die Nationswerdung der Niederlande und Belgiens.4 Eine chronologische Schilderung der Errichtung der genannten Gebäude kann zudem auch den Blick dafür schärfen, wie Bilder von Europa – samt der die Europäische Union prägenden Trennlinie zwischen Nord und Süd – entstehen. Denn auch heute noch sind diese Archive und Museen untrennbar mit den Prozessen der ›Migration‹ und den Diskursen darüber verbunden. Im Folgenden möchte ich also aufzeigen, wie die Repräsentationen Europas, der europäischen Nationen, der ›Migration‹ und der Kolonialgeschichte miteinander verknüpft sind. Mein erstes Beispiel ist ein Archiv, das im 18. Jahrhundert in Sevilla entstanden ist, das Archivo General de Indias.5 Dieses Archiv sammelte Dokumente über die sogenannten Indias, also die Kolonien, die das spanische Weltreich auf dem amerikanischen Kontinent zu jener Zeit besaß. Das Archiv wurde 1785 in der Casa lonja de mercaderes eingerichtet, die 1646 fertiggestellt worden war, um das Handelshaus, die Casa de contratación, zu beherbergen, das als Zentrum für den Handel mit Waren und Sklaven aus Las Indias diente. Errichtet in Andalusien, einer Region im heutigen Südspanien, in der bis zu ihrer Vertreibung im Jahr 1492 – als die koloniale Expansion in Amerika einsetzte – Juden und Araber lebten, stellt das Archivo General de Indias ein Monument für diese Periode der transatlantischen Geschichte dar. Im Jahr 1781, also in einer Periode des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs des spanischen Weltreichs, entwickelte König Karl III. von Spanien den Plan, das Archivo General de Indias in der Casa de contratación einzurichten. Das Handelszentrum war 1717 von Sevilla in die Hafenstadt Cádiz verlegt worden, so dass das Gebäude der Casa lonja de mercaderes seither leer stand. 1785 befahl König Karl III., »[…] dass [in diesem Gebäude] aus dem ganzen Lande sämtliche Erlasse, regierungsamtliche Unterlagen und Akten des Hofes, Karten und architektonische Zeichnungen, die mit der spanischen Eroberung Amerikas zu tun hatten, zusammengetragen und in diesem Gebäude aufbewahrt werden sollten. Unter einem Dach versammelt, haben sechsundachtzig Millionen handgeschriebene Seiten, unter ihnen das Vorratsverzeichnis eines der Schiffe

4

Vgl. Enrique Dussel: »Beyond Eurocentrism: The World-System and the Limits of Modernity«, in: Fredric Jameson/Masao Myoshi (Hg.), The Cultures of Globalization, Durham u.a.: Duke University Press 1998, S. 3-31, hier S. 9ff.

5

Vgl. http://www.mcu.es/archivos/MC/AGI/Presentacion/Edificio.html

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des Kolumbus, das Generalarchiv für Westindien zu einer der weltweit größten Fundgru6

ben der Wissenschaft werden lassen.«

Das Archivo General de Indias sammelte alle Informationen über die Kolonialbesitzungen des spanischen Imperiums und zielte, um Kritikern der Zeit entgegenzutreten, auf eine positive Darstellung der Kolonialisierung. So entstand ein Bild, in dem mehreres gleichzeitig repräsentiert war: erstens die territorialen und religiösen Grenzen des spanischen Reiches, zweitens seine Besitzungen jenseits des Atlantiks und drittens ein Konzept von Europa, das durch dessen Überlegenheit gegenüber den überseeischen Kolonialbesitzungen charakterisiert war. Das Archivo General de Indias dokumentiert den komplexen Prozess von Eroberung, Vertreibung, Beherrschung und Versklavung, der im Jahr 1492 begann, dem Jahr der Eroberung des amerikanischen Kontinents. Der folgende Absatz beschreibt diesen Zusammenhang: »Das Jahr 1492 ist für das Verständnis des gegenwärtigen Systems ausschlaggebend. In diesem Jahr eroberte das christliche spanische Königreich das islamische Spanien zurück und vertrieb Juden und Araber von der spanischen Halbinsel, während es gleichzeitig den amerikanischen Kontinent ›entdeckte‹ und die ›indigenous peoples‹ kolonialisierte. Diese ›innere‹ und ›äußere‹ Eroberung von Territorien und von Menschen schuf nicht nur eine internationale Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie, sondern zog auch die inneren und äußeren imaginierten Grenzen Europas in Hinblick auf die globale rassische/ethnische Hierarchie des Weltsystems, indem sie Bevölkerungen mit europäischem Ursprung gegenüber anderen privilegierte. Juden und Araber wurden zu subalternen inneren ›Anderen‹ innerhalb Europas, während ›indigenous people‹ zu den externen ›Anderen‹ 7

Europas wurden.«

Das Archivo General de Indias repräsentiert diesen Gründungsakt, indem es das ›Andere‹, das sich in den Kolonialbesitzungen manifestiert, in einem Gebäude zusammenfasst, das so zum Symbol für das katholische Weltreich wurde. Trotz-

6

Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen, Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 55. (amerikanische Erstausgabe: Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror and Heroism in Colonial Africa. Boston, New York: Mifflin 1998).

7

Ramón Grosfoguel/Eric Mielants: »The Long-Durée Entanglement Between Islamophobia and Racism in the Modern/Colonial Capitalist/Patriarcal World System. An Introduction«, in: Human Architecture. Journal of the Sociology of Self-knowledge 5 (2006) 1, S. 1-12, hier S. 2.

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dem markiert seine Gründung 1785 – paradoxerweise – das Ende einer Ära in der Geschichte des Kolonialismus. Als das Archivo General de Indias am Ende des 18. Jahrhunderts eingerichtet wurde, hatte sich das Zentrum des ökonomischen Weltsystems bereits nach Amsterdam in den Niederlanden verlagert, ein Prozess, dessen Anfänge ins 17. Jahrhundert zurückreichen8 (die heutigen Niederlande waren im 16. Jahrhundert noch eine Provinz des spanischen Imperiums). Ein Blick auf die andere Seite des Atlantiks zeigt, dass das Archivo General de Indias nicht einmal drei Jahrzehnte vor der Unabhängigkeit Mexikos (1810) entstanden ist. Heute beeindruckt das Archivo General de Indias durch seine Lage zwischen der Kathedrale und dem Schloss in Sevilla. Nach 1972 Schauplatz von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, dient es gegenwärtig als historisches Archiv, frequentiert von Forschern, von denen viele aus Ländern wie Kolumbien, Peru, Mexiko, Kuba and Argentinien kommen, die einst zu den Kolonialgebieten von Las Indias gehörten. Wenn heute Forscher aus Lateinamerika in diesem Archiv arbeiten, dann ist ihre körperliche Präsenz Teil einer Anordnung und einer Präsentation, die sich nicht von der Kolonialgeschichte loslösen lassen. Mein zweites Beispiel ist ein Kolonialarchiv bzw. -museum, dessen Inhalte und dessen Standort ebenfalls auf die inneren wie auch die äußeren Grenzen eines Weltreichs verweisen wie auch auf die Grenzen Europas, wie ich es oben beschrieben habe: das Tropenmuseum in Amsterdam, entstanden zwischen 1864 und 1871.9 Das Tropenmuseum legt Zeugnis davon ab, dass sich das Zentrum des Weltsystems im 17. Jahrhundert von Spanien und Portugal in die Niederlande verlagert hat. Allerdings wird dieser Transfer, der die Kartographie der Macht nach Norden verschoben hat, oft nicht ausreichend thematisiert. Ebenso wenig wird beachtet, dass René Descartes Wissen aus Spaniens Jesuitenkollegien nach Amsterdam transferierte und so die Grundlagen für ein ›universales‹ Denken legte, ohne jedoch seine jesuitischen Quellen zu nennen.10 Die Vernachlässigung

8

Vgl. Ramón Grosfoguel: »Vers une décolonization des ›uni-versalismes‹ occidentaux: le ›pluri-versalisme décolonial‹, d’Aimé Césaire aux zapatistes«, in: Nicolas Bancel et al. (Hg.), Ruptures Postcoloniales. Les nouveaux visages de la société française, Paris: La Découverte 2010, S. 119-138, hier S. 123.

9

Vgl. http://www.tropenmuseum.nl/-/5853

10 Enrique Dussel schreibt: »In allen Momenten des ›cartesianischen Arguments‹ kann man den Einfluss seiner [Descartes’] Studien bei den Jesuiten beobachten.« Enrique Dussel zeichnet im Detail unter anderem den Einfluss der Werke des spanischen Jesuiten Francisco Suárez auf Descartes nach wie auch den der Methodendiskussion in den Jesuitenkollegs, die sich von Spanien aus in den Norden Europas ausbreiteten.

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dieses Wissenstransfers und dieses Kontexts sind Teil einer schrittweisen Marginalisierung ehemaliger Großreiche wie Spanien und Portugal, die zusammen mit Italien geopolitisch zum ›Süden Europas‹11 wurden. In steigendem Ausmaß wird – bis zum heutigen Tag – dieser ›Süden‹ zur strategischen Grenze in der Austragung von Konflikten im Zentrum der Europäischen Union.12

Abbildung 1: Jan Vermeer: Die Lautenspielerin, um 1664

René Descartes trat im Alter von zehn Jahren in das Jesuitenkolleg im westfranzösischen La Flèche ein und blieb dort acht Jahre lang. Es war dies der einzige Ort, an dem Descartes eine formale Ausbildung in Philosophie erhielt. Vgl. Enrique Dussel: Anti-Cartesian meditations: On the origin of the philosophical anti-discourse of modernity, S. 7, http://enriquedussel.com/txt/Anti-Cartesianmeditations.pdf 11 Vgl. ebd., S. 1-3. 12 Vgl. Walter D. Mignolo: »El giro gnoseológico decolonial: la contribución de Aimé Césaire a la geopolítica y la corpo-política del conocimiento«, in: Carlos Prieto des Campo (Hg.), Aimé Césaire, Discurso sobre el colonialismo, Madrid: Editorial Akal 2006, S. 197-221, hier S. 204.

D IE C ITÉ NATIONALE UND DIE ›I MMIGRANTEN ‹ | 199

Abbildung 2: Hendrik van der Burch: Die Kartenspieler, um 166013

Das Tropenmuseum in Amsterdam ist Ausdruck einer ethnographischen Sammel- und Repräsentationspraxis, die in Verbindung zur Ego-Politik des Wissens und zum ›universalen‹ Denken steht.14 Da mit Enrique Dussel das cartesianische

13 Große, an der Wand hängende Landkarten tauchen in zahlreichen niederländischen Gemälden des 16. Jahrhunderts auf wie etwa die Europakarte in Vermeers Lautenspielerin. Diese Karten und auch zahlreiche aus fernen Ländern stammende Gebrauchsgegenstände (z.B. aus China, Amerika und der Türkei) machen diese Gemälde zu Zeugnissen früher Globalisierung. Hendrik van der Burchs Gemälde Die Kartenspieler weist zudem darauf hin, dass die Niederlande auch intensiv am Sklavenhandel beteiligt waren. 14 Ego-Politik des Wissens lässt sich mit Grosfoguel so definieren: »Die ›Egopolitik‹ in der Philosophie des Westens gab immer dem Mythos eines nicht örtlich gebundenen ›Ichs‹ den Vorzug. Der Sprechende ist immer vom epistemologischen Standort seiner Ethnie, Rasse, seines Geschlechts und seiner Sexualität abgekoppelt. Indem sie den

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»ego cogito« auf der kolonialen Expansion (»ego conquiro«) beruht, bleibt die epistemische Gewalt des Kolonialismus weiterhin aufrecht und wird fortgesetzt. Eine weitere Analogie zwischen Tropenmuseum und Archivo General de Indias besteht darin, dass das Tropenmuseum zu einer Zeit gegründet wurde, als sich das Zentrum des Weltsystems bereits weiter verlagert hatte: von den Niederlanden nach Frankreich, Deutschland und England.15 Die Idee zu einem Tropenmuseum kam erst auf, nachdem dieser Prozess bereits abgeschlossen war. Die Gründung dieses Gedächtnisortes diente also der Erinnerung an die vergangenen imperialen Zeiten. Heute zeigt sich das Tropenmuseum in neuem Gewand; es ist ein interaktives, mit Hightech ausgestattetes Museum, das mittlerweile allerdings ein wenig veraltet aussieht. Die kolonialen Sammlungen werden durch Kunstausstellungen ergänzt (es gibt auch ein Theater in der Mitte des Museums) und mit den in der Dauerausstellung behandelten Themen ›Migration‹ und ›Sklavenhandel‹ in Verbindung gebracht. Nun zu meinem dritten Beispiel, der Kolonialausstellung im Palais des Colonies im belgischen Tervuren (1897), die als Inspiration für die französische Kolonialausstellung und den Bau des Palais des Colonies in Paris dienen sollte. Ein Großteil des Konzepts der französischen Ausstellung, die drei Jahrzehnte später im Jahr 1931 stattfand, beruht auf dem belgischen Vorbild. Um diese Ausstellung besser verstehen zu können, sollte sie in ihrem historischen Kontext betrachtet werden: Nachdem Belgien 1830 die Unabhängigkeit von den Niederlanden erlangt hatte, wurde Leopold I. von Sachsen-Coburg der erste König Belgiens (1831-1865). Ihm folgte 1865 sein Sohn, Leopold II., nach (1865-1909); dieser trachtete danach, Kolonien in Übersee zu erwerben, doch zunächst ohne

epistemologischen Standort der Ethnie, Rasse, des Geschlechts und der Sexualität vom Sprechenden abkoppeln, können die westliche Philosophie und die Wissenschaften den Mythos vom einzig wahren Universalwissen schaffen, das den Sprechenden und seinen geopolitischen und körperpolitischen epistemologischen Standort innerhalb der Strukturen der kolonialen Macht/des kolonialen Wissens, von denen aus er sich äußert, überdeckt d.h. verbirgt.« Rámon Grosfoguel: »Die Dekolonisation der politischen Ökonomie und der postkolonialen Studien«, in: Manuela Boatcă/Willfried Spohn (Hg.), Globale, multiple und postkoloniale Moderne (= Zentrum und Peripherie, Band 7), München/Mering: Rainer Hampp Verlag 2010, S. 309-338, hier S. 312; vgl. auch R. Grosfoguel: »Vers une décolonization des ›uni-versalismes‹ occidentaux«, S. 123. 15 Vgl. R. Grosfoguel: »Vers une décolonization des ›uni-versalismes‹ occidentaux«, S. 124.

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Erfolg.16 Erst auf der Berliner Konferenz (1884-1885) erhielt er schließlich den Kongo zugesprochen – was eine der grausamsten Kolonialisierungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach sich zog. Der Kolonialisierungsprozess ging sehr rasch vor sich, wobei sich auch hier ein Wissenstransfer von Süd nach Nord – diesmal von Spanien nach Belgien – feststellen lässt. In seinem Buch Schatten über dem Kongo berichtet Adam Hochschild, dass König Leopold II. im Jahr 1862 – fast zeitgleich mit der Gründung des Tropenmuseums – einen Monat in Sevilla verbrachte, wo er sich im Archivo General de Indias mit der Eroberung Amerikas durch Spanien beschäftigte, die Dokumente studierte und sich über die im Zuge der Kolonialisierung erzielten Einkünfte und die dabei angewandten Methoden informierte.17 Das zeigt, wie frühere – in Las Indias angewandte – Strategien, auf Grund der umfassenden Dokumentation im Archivo General de Indias für einen neuen Kontext, den Kongo, genutzt werden konnten. Die Archivmaterialien gaben Leopold vor allem Auskunft darüber, wie man durch Eroberung eines fremden Territoriums ein Vermögen machen konnte. An einen Freund schrieb er aus Sevilla: »Ich bin hier sehr eifrig damit beschäftigt, die Westindischen Archive zu durchforsten und den Gewinn zu berechnen, den Spanien aus seinen Kolonien gezogen hat und bis heute zieht.«18 Im Jahr 1897, auf dem Höhepunkt der durch Leopold II. vorangetriebenen Kolonialisierung, die zugleich den Höhepunkt der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeutete, fand die Kolonialausstellung über den Kongo im Palais des Colonies in Tervuren statt. Sie war die Hauptattraktion der Weltausstellung in Belgien. Die Kolonialausstellung zeigte ein kongolesisches Dorf mit 300 Kongolesen, Tieren, Pflanzen und ethnographischen Objekten Seite an Seite mit technischen Innovationen wie der Monorail genannten Straßenbahn und einem Kino.19 Ermöglicht wurde dies durch die Zusammenarbeit mit Carl Hagenbeck, der seine ›Völkerschauen‹ um 1875 in Hamburg zu zeigen begonnen hatte.20

16 Vgl. A. Hochschild: Schatten über dem Kongo, S. 54ff. 17 Vgl. ebd., S. 54f. 18 Zitiert nach: ebd., S. 55. 19 Vgl. Bärbel Küster: »Zwischen Ästhetik, Politik und Ethnographie: die Präsentation des Belgischen Kongo auf der Weltausstellung Brüssel-Tervuren 1897«, in: Cordula Grewe (Hg.), Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, S. 95-118, hier S. 95. 20 Vgl. Hilke Thode-Arora: »Hagenbeck et les tournées européennes: l’élaboration du zoo humain«, in: Nicolas Bancel et al. (Hg.), Zoos humains. Au temps des exhibitions humaines, Paris: Éditions La Découverte 2004, S. 81-89.

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›Völkerschauen‹ nahmen wegen ihres großen Erfolgs auf den Welt- und Kolonialausstellungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Platz ein. Die Gegenüberstellung von Technologie, die den Westen repräsentierte, und Kultur/Natur, die durch die rassialisierten ›Untertanen‹ aus den Kolonien verkörpert wurde, verdankte sich unter anderem auch den Weltausstellungen seit 1851 und trug dazu bei, den Rassismus zu verstärken und die Kolonialisierung zu legitimieren. Die Ausstellung von 1897 wurde insgesamt als ›Kunstwerk‹ wahrgenommen, da sie von berühmten belgischen Designern und Architekten des Art Nouveau gestaltet worden war. Die Kolonialausstellung sollte schließlich dem Musée royal de l’Afrique centrale in Tervuren den Weg bereiten, der ersten wissenschaftlichen Institution für die Ethnographie des Kongo. Damit kann die Kolonialausstellung als eine Mischung aus Kunst, Design, Ethnographie, Museologie, Politik und Propaganda für den Kolonialismus betrachtet werden. Drei Jahrzehnte später, auf der Pariser Kolonialausstellung 1931, wird sich diese Verknüpfung in noch verfeinerter Form präsentieren.21 Das Bestreben Leopolds I. die wirtschaftliche Entwicklung durch Kolonialbesitzungen voranzutreiben, ist ein Beispiel dafür, wie eng der Kolonialismus mit der Entstehung der europäischen Staaten verwoben ist. Allerdings nahm sein Sohn Leopold II. den Kongo zunächst als Privatmann in Besitz, nachdem ihm das belgische Parlament dies im Jahre 1885 genehmigt hatte. Erst 1908 wurde die Verwaltung des Kongo auf den belgischen Staat übertragen. Die Geschichte, wie sich Leopold II. von früheren Imperien inspirieren ließ und welche Auswirkungen der belgische Kolonialismus auf den afrikanischen Kontinent hatte, ist in Adam Hochschilds detailreich recherchiertem Buch Schatten über dem Kongo rekonstruiert worden.22 In jüngerer Zeit trug der Roman El sueño del Celta (2010, dt.: Der Traum des Kelten, 2011) des peruanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa dazu bei, die Brutalität der Kolonialisierung des Kongo unter Leopold II. dem drohenden Vergessen zu entreißen.23 Die

21 Zur Kolonialausstellung in Tervuren vgl. B. Küster: Zwischen Ästhetik, Politik und Ethnographie. 22 Hochschild zufolge ist die Erzählung Heart of Darkness, in der Joseph Conrad schildert, was er im Kongo erlebt hat, oft aus dem historischen Zusammenhang gerissen und nur als literarisches Werk interpretiert worden. Vgl. A. Hochschild: Schatten über dem Kongo, S. 200-213. 23 Noch vor Hochschild hat W.G. Sebald einen kurzen Abschnitt seines Buches Die Ringe des Saturn (1995) den Gräueltaten der belgischen Kolonialverwaltung im Kongo gewidmet, wie sie Joseph Conrad in Heart of Darkness (1899) beschrieben und wenig später der britische Diplomat Roger Casement in einer Denkschrift angeprangert hatte.

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geringe Aufmerksamkeit gegenüber diesem Kapitel der Geschichte, wie sie vor diesen Publikationen herrschte, mag mit dem Herunterspielen der Bedeutung früherer europäischer Imperien zusammenhängen. Als ich das Musée royal de l’Afrique centrale in Tervuren im November 2009 besuchte, konnte ich feststellen, dass die Hauptausstellung nicht frei von dem Rassismus war, der einst auch die Darstellung der Kolonie geprägt hatte. Dies äußerte sich in der Klassifizierung der Menschen, ihrer Beschreibung und ihrer Präsentation, die sich nicht von jener der Tiere oder Pflanzen unterschied, und darin, dass die Schauräume – für Menschen, Fauna und Flora – einfach aufeinander folgten. Gezeigt wurde auch eine ungeheure Zahl von Objekten – insbesondere Masken –, die man den Kongolesen geraubt hatte. Die kolonialen Unterschiede und Machtverhältnisse (die »color line« im Sinne von W.E.B. Du Bois) fanden auch im Verhältnis zwischen den Kuratoren und den Repräsentierten ihre Fortsetzung. Damit kommt zum Ausdruck, was Quijano als »Kolonialität der Macht«24 bezeichnet hat, nämlich die Verlängerung der kolonialen Machtverhältnisse über das Ende der Kolonialverwaltungen hinaus. Mit der Kolonialausstellung 1931 kopierte das französische Imperium die Kongo-Ausstellung in Belgien und transferierte damit eine spezifische Art und Weise, solche kolonialen Repräsentationen zu gestalten, in eine neue Metropole. Das französische Projekt führte zu einer wesentlich umfangreicheren Ausstellung, welche die inneren und äußeren Grenzen des französischen Imperiums – in einem vom Thema Handel geprägten Kontext – markierte. Die Ausstellung stand für den inneren Zusammenhalt und die Homogenität Frankreichs, jedoch auch für den Eroberungsgeist und die vielfältigen Kolonialbesitzungen mit ihrer rassialisierten Bevölkerung, die die Grenzen und die Ausdehnung des französischen Imperiums sichtbar machte. Die Kolonialausstellung in Paris nahm die Innovationen des belgischen Projekts wieder auf, sah sich aber im Unterschied zur Kongo-Ausstellung, die sich auf eine Kolonie beschränkte, welche einem Privatmann, König Leopold II., gehörte, vor der Herausforderung, eine Vielzahl von Kolonien in den in Afrika, Asien und im Mittleren Osten eroberten Territorien vorzustellen; das Palais des Colonies war ähnlich wie das Archivo General de Indias vor die Aufgabe gestellt, diese Vielfalt von Differenzen – allerdings in mehr als einem Kontinent – zu zeigen. Darüber hinaus gibt es eine weitere Ähnlichkeit: Wie die Casa lonja de mercaderes hatte die Pariser Kolonialausstellung

24 Vgl. Aníbal Quijano: »Colonialidad del poder y clasificació social«, in: Santiago Castro-Gómez/Ramón Grosfoguel (Hg.), El giro decolonial. Reflexiones para una diversidad epistémica más allá del capitalismo global, Bogotá: Siglo del Hombre Editores 2007, S. 93-126.

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eine Funktion für den Handel mit den kolonialen Gütern. Beide Orte wurden nach einer Phase des Leerstands zu Archiven, in denen die Besitztümer aus der Fremde, seien es nun Objekte oder Menschen, gezeigt wurden. Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration ist nicht nur ein Archiv der ›Migration‹, sondern auch eines von kolonialen Subjekten innerhalb des französischen Territoriums und führt in dieser Hinsicht das Konzept des Archivo General de Indias fort. Paradoxerweise hatte 1929/30, drei Jahre vor der Kolonialausstellung in Paris, eine Weltausstellung in Barcelona stattgefunden. Parallel waren die ehemaligen Kolonien und nunmehr unabhängigen Staaten des amerikanischen Kontinents eingeladen, sich auf der Partnerausstellung, der Iberoamerikanischen Ausstellung in Sevilla, zu präsentieren. Die Fassadengestaltung der Pavillons von Peru, Kolumbien, Mexiko und anderer Staaten zeichnete sich dadurch aus, dass die Unabhängigkeitskriege und die Prozesse der Nationsbildung mit Hilfe der Ikonographie von »indigenous peoples« repräsentiert wurden. Auf diese Weise demonstrierten die unabhängig gewordenen Nationen, dass kreolische Eliten die Macht über Territorien, Wirtschaft und Verwaltung übernommen hatten. Dagegen stellte Frankreich 1931 nicht nur seine kolonialen Territorialbesitzungen und Handelsunternehmungen zur Schau, sondern auch die »colonial/racial subjects of empire«. Die Pariser Ausstellung 1931 zeigte Menschen aus den Kolonien in Nachbildungen ihres ›natürlichen Lebensraums‹. Der Logik früherer Welt- und Kolonialausstellungen folgend, zeigte die Kolonialausstellung von 1931 eine Gegenüberstellung von ›westlichen‹ technischen Innovationen und ›traditionellen‹ Objekten (Tempel, Häuser, Menschen). Erstere standen für die Größe westlicher Zivilisation, letztere für die als ›primitiv‹ bezeichneten Völker. Parallel zur Unterscheidung zwischen ›modern‹ und ›primitiv‹ kam noch die Unterscheidung von Stadt und Land, die ebenfalls die Idee der Moderne verherrlichte und damit auch »la plus grande France«, also Frankreich samt seinen Überseeterritorien.25 Im Gegensatz zu Spanien hatte in Frankreich seit der Französischen Revolution ein erfolgreicher Prozess des inneren Kolonialismus stattgefunden. In den Worten Quijanos: »In Frankreich […] wurden soziale und politische Beziehungen durch die Französische Revolution demokratisiert, und ein ›innerer‹ Kolonialismus führte zu einer weitgehenden, allerdings nicht vollständigen ›Französisierung‹ aller Menschen innerhalb des französischen Territoriums.«26 Aber die

25 Vgl. Herman Lebovics: »Les zoos de l’Exposition coloniale internationale de Paris en 1931«, in: Bancel et al., Zoos humains (2004), S. 371f. 26 Aníbal Quijano: »Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America«, in: International Sociology 15 (2000) 2, S. 215-232, hier S. 224.

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Abbildung 3: Peruanischer Pavillon, errichtet von Manuel Piqueras Cotoli für die Iberoamerikanische Ausstellung in Sevilla 1929/30

Abbildung 4: Kolumbianischer Pavillon, errichtet von José Granados für die Iberoamerikanische Ausstellung in Sevilla 1929/30

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Abbildung 5: Mexikanischer Pavillon, errichtet von Manuel Amabilis für die Iberoamerikanische Ausstellung in Sevilla 1929/30

Demokratisierung blieb auf das französische Territorium beschränkt und sie inkludierte nicht die rassialisierten Subjekte, so dass eine Grenze gezogen wurde zwischen denen, die innerhalb des französischen Territoriums lebten, und denen, die außerhalb blieben. Später wird diese Linie auch innerhalb des französischen Territoriums sichtbar werden. Die Kolonialausstellung sollte somit innere (nationale) und äußere (imperiale) Homogenisierungsprozesse verstärken – wozu auch das Design beitrug. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Gebäude des Palais des Colonies an der Porte Dorée, zu dessen Gestaltung Pariser Avantgarde-Zirkel viel beitrugen. So lieferte der Bildhauer Alfred Janniot den Entwurf für die steinerne Fassade des Gebäudes, bei der Avantgarde-Techniken und koloniale Darstellungen auf problemati-

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sche Weise verknüpft wurden – genau wie im Fall der belgischen KongoAusstellung. Janniot unterschied sich darin von Avantgarde-Künstlern wie Picasso, der – obwohl er als ›weißer Mann‹ in der Welt westlicher Kunst und Ästhetik etabliert war – anonyme Werke aus Afrika in die europäische Kunst ›einführte‹ und damit die westliche Kunstszene für außereuropäische Einflüsse öffnete. Im Gegensatz dazu schuf Janniot karikaturhafte und groteske Darstellungen der rassialisierten ›Anderen‹. Während Pariser Surrealisten wie Paul Éluard, André Breton, Louis Aragon und Yves Tanguy eine anti-kolonialistische (politische) Einstellung vertraten und sich offen für einen Boykott der Kolonialausstellung einsetzten,27 entwickelte Janniot Techniken zur Repräsentation des ›Andersseins‹, um eine koloniale Ästhetik zu schaffen. Dies bewirkte eine Spaltung in der Kunst, nämlich zwischen Avantgarde und Art Déco.28 Aber der Riss ging tiefer: Auf der einen Seite motivierten Schriftsteller wie Alejo Carpentier außerhalb von Paris lebende Avantgarde-Künstler dazu, emanzipatorische, nationale Bildwelten für Kuba zu schaffen29, oder sie regten wie im Fall des kolumbianischen Bildhauers Rómulo Rozo ihre Kollegen dazu an, die Idee einer kolumbianischen Nation auf der Grundlage der Chibcha-Tradition und des Symbols der Muttergöttin Bachué zu visualisieren.30 Auf der anderen Seite schufen Künstler wie Janniot Bilder, die den rassistischen Kolonialstrukturen entsprachen. Janniots Werk – und das gilt auch für die Gestalter der Kongo-Ausstellung – diente der Inferiorisierung der kolonialisierten Völker und ihrer ›Ästhetisierung‹ innerhalb der Repräsentationsstrukturen der Kolonialmacht. Die Brüche, die hier ausgehend vom Beispiel des Palais des Colonies innerhalb des Imperiums (Avantgarde und Art Déco) und im transatlantischen Kontext (nationale Bildwerke auf dem ameri-

27 Vgl. H. Lebovics: »Les zoos de l’Exposition coloniale internationale de Paris en 1931«, S. 368; Maureen Murphy: Un palais pour une cité. Du musée des colonies à la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, Paris: Réunion des musées nationaux 2007, S. 21. 28 Nicht nur die Steinfassade, sondern auch die Wandfresken im Inneren von Pierre Ducos de la Haille und die Salons im Art Déco-Stil von Louis Bouquet zeigten eine Komplizenschaft zwischen künstlerischem Schaffen und Kolonialismus. Vgl. M. Murphy: Un palais pour une cité, S. 33-37. 29 Vgl. Andrea Meza Torres: Der Körper des Kubanischen Balletts als Projektionsfläche. Die Konstruktion des »Kubanischen« im Spannungsfeld von Gender und Rassismus. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 2006. 30 Vgl. Ana María Gómez-Londoño: Die Erfindung einer Muisca-Tradition im kulturellen Modernisierungsprozess in Kolumbien (1924-1935). Unveröffentlichte Dissertation, Berlin 2011.

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kanischen Kontinent) aufgezeigt worden sind, prägen noch immer die aktuelle Debatten rund um die Politik von Multikulturalismus und ›Migration‹ innerhalb und außerhalb Europas – Debatten, in denen die »colonial/racial subjects of empire« nicht als solche bezeichnet werden, sondern als ›Immigranten‹.

Abbildung 6: Palais des Colonies, heute Palais de la Porte Dorée genannt, mit jenem Teil des Reliefs von Alfred Janniot, der die französischen Kolonien in Afrika darstellt

Die vielen Umgestaltungen, die das Palais de Colonies in Paris bis heute erfuhr, spiegeln auch die politischen Veränderungen wider. Es beherbergte das Musée permanent des Colonies (1931) und schon bald, nämlich 1935, das Musée de la France d’Outre-mer. Im Jahr 1961 wurde das Museum im Zuge der Dekolonisierung zum Musée des Arts africains et océaniens (ab 1990 Musée national des Arts d’Afrique et d’Océanie), das sich auf Kunst, Surrealismus und Avantgarde konzentrierte.31 Im Jahr 2004 fiel die Entscheidung, dass das Palais das Projekt der Cité nationale de l’histoire de l’immigration beherbergen sollte. Kunstge-

31 Vgl. M. Murphy: Un palais pour une cité, S. 41-49.

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genstände und andere Objekte aus Afrika und Ozeanien waren – unter der Kategorie »Arts premiers« – in das Musée du quai Branly transferiert worden, und somit stand das Palais des Colonies leer – abgesehen vom tropischen Aquarium, in dem Fische und Krokodile noch immer auf ›koloniale‹ Art präsentiert werden. Das Gebäude mit seinen Dekorationen und Fresken – von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt – blieb erhalten und wartete gleichsam auf die Ankunft des Themas ›Migration‹, womit die komplexe Verschränkung der Kolonialgeschichte mit ihrem künstlerischen und ethnographischen Erbe eine neue Stufe erreichte. Wenn im Rahmen dieses Museums nun von ›Migration‹ die Rede ist, dann bedeutet dies, dass lebende Menschen (in Form von Bildern und Biographien) repräsentiert werden zu einer Zeit, in der die Nationen eine ›Krise der Repräsentation‹ durchleben. Das Thema ›Migration‹ wird verknüpft mit einer neuen Darstellung Europas und seines die europäischen Grenzen markierenden ›Anderen‹. Da sich die globale Ordnung verändert hat, wird das Projekt der Cité nationale de l’histoire de l’immigration nun im Rahmen eines Europäisierungsprozesses realisiert, wodurch die ›Migration‹ aus dem unmittelbaren Kontext des Kolonialismus herausgelöst und in die sogenannte ›postkoloniale Ära‹ eingebettet wird. Die Machtverhältnisse haben sich auf einer globalen Ebene ebenso verschoben wie der Platz Frankreichs in der neuen Weltordnung: die ›Immigranten‹ stehen nun im Mittelpunkt von Debatten, die um Themen wie die inneren Grenzen ›multikultureller Nationen‹, die Europäische Union, Governance-Diskurse (z.B. über Sicherheit) und internationale Entwicklung kreisen.32 Betrachtet man die »Kolonialität der Macht«33 und den »Rassismus« (die »color line«) als die Organisationsprinzipien dafür, wie Repräsentationen in Museen gestaltet werden, so kann man bemerken, dass die – beispielsweise in Frankreich – von Vertretern der ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft kuratierten Ausstellungen zu einer Musealisierung diverser Gruppen gemäß einer »Ego-Politik des Wissens« führen. Unter »Ego-Politik des Wissens« ist der Mythos eines nicht-situierten Egos zu verstehen, wodurch die kolonialen Machtstrukturen verborgen werden, in de-

32 Vgl. Aderanti Adepoju/Femke van Noorloos/Annelies Zoomers: »Europe’s Migration Agreements with Migrant-Sending Countries in the Global South: A Critical Review«, in: International Migration 48 (2009) 3, S. 42-75. 33 »Der Begriff ›Kolonialität der Macht‹ bezieht sich auf einen wesentlichen Strukturierungsprozess im modernen/kolonialen Weltsystem, der periphere Standorte in der internationalen Arbeitsteilung aus der Dritten Welt in die rassisch-ethnische Hierarchie der Weltmetropolen einordnet.« R. Grosfoguel: »Die Dekolonisation der politischen Ökonomie und der postkolonialen Studien«, S. 319.

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nen das Subjekt verortet ist und von denen aus es sich äußert. Ausgehend von einer Perspektive des »Nullpunkts«34 wird ›Migration‹ durch folgende Bilder neu geordnet: die jüdische und afrikanische Diaspora (Holocaust und Sklaverei), der ›Süden‹ Europas (ehemalige Gastarbeiter aus Spanien, Portugal, Italien), der ›Osten‹ Europas (die früheren kommunistischen Länder), »colonial/racial subjects of empire« (die Kolonialvölker des französischen Imperiums: Algerien, die Antillen oder Mali) oder die kolonialen Subjekte anderer Imperien (z.B. Afroamerikaner oder politische Flüchtlinge aus Lateinamerika) und, in jüngster Zeit, ›Muslime‹ als Zielobjekte der Integration (Kolonialsierung).35 Nur ›nichtrassialisierte imperiale Subjekte‹ sind von der Präsenz in der permanenten Ausstellung des französischen Migrationsmuseum Repères ausgenommen.36 Dies wirft die Frage auf: Von welchem Standpunkt aus wird ›Migration‹ dargestellt? Wie können wir das Organisationsprinzip der Repräsentationen lokalisieren? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zur »Nullpunkt«-Perspektive zurückkehren,37 die mit Descartes’ Forderung nach einem universalen Wissen auftaucht.38 Die Trennung der Seele vom Körper führt nach Descartes zu einem

34 Vgl. Santiago Castro-Gómez: »Decolonizar la universidad. La hybris del punto cero y el diálogo de saberes«, in: Castro-Gómez/Grosfoguel, El giro decolonial (2007), S. 79-91. 35 Ich setze diese museale Organisation von Bildern in Bezug zu den von Grosfoguel aufgestellten Kategorien von Immigranten als »colonial/racial subjects of empire«, »koloniale Immigranten‹ und »Immigranten«. Vgl. Ramón Grosfoguel, »Race and Ethnicity or Racialized Ethnicities? Identities within Global Coloniality«, in: Ethnicities 4 (2004) 3, S. 315-336. 36 Themen wie die deutsch-französischen Beziehungen sind in der Cité nationale nur in temporären Ausstellungen behandelt worden. Außerdem haben solche Kooperationen wie jene zwischen der Cité nationale und dem Deutschen Historischen Museum im Rahmen der Ausstellung Fremde? Bilder von den »Anderen« in Deutschland und Frankreich seit 1871, die Aufgabe, neue Bilder zu Europa beziehungsweise zur Europäischen Union zu schaffen, welche parallel zu den Bildern über Migration beziehungsweise über die »colonial/racial subjects« entstehen. Auch die Ausstellung über die Immigration von Polen nach Frankreich aus dem Jahr 2011 muss im Kontext der Europäisierung betrachtet werden. 37 Vgl. S. Castro-Gómez: »Decolonizar la universidad«, S. 79-91. 38 Die vom kolumbianischen Philosophen Castro-Gomez kritisierte »Nullpunkt«-Perspektive meint mit Nullpunkt den »Standpunkt, der sich versteckt und verbirgt, weil [...] er sich selbst als etwas ohne Standpunkt darstellt. Es ist diese ›göttliche Perspektive‹, die ihre lokale und besondere Sichtweise hinter einem abstrakten Universalis-

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rationalen, objektiven Wissen, das körperlos und ortlos ist. Aber wenn wir Descartes einen Körper, ein Geschlecht und eine geopolitische Position zuweisen – und damit die Möglichkeit, dieses Wissen überhaupt zu produzieren –, dann sehen wir den Körper eines weißen Mannes, der im Zentrum des Weltsystems, in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, Wissen produziert. Aus dieser speziellen Position heraus artikulierte er jenes Wissen, das den Anspruch erhebt, ›universal‹ zu sein.39 Wenn wir die Cité nationale de l’histoire de l’immigration aus dieser Perspektive betrachten, dann ist das Ordnungsprinzip ebenfalls ›weiß‹ und um einen Mythos von Moderne und Universalismus zentriert, der vom historischen Ort der Französischen Revolution aus spricht (und damit 200 Jahre ›Migration‹ in Frankreich musealisiert) und die Geschichte Spaniens, Portugals und der Niederlande zum Verschwinden bringt. Dieses Organisationsprinzip ist eine Verbindung von Nationalismus (»la France des Hexagons«), Imperialismus (die Nation, insofern sie mit dem Imperium verknüpft ist) und Rassismus (als Organisationsprinzip innerhalb des Kolonialreiches und heute auch innerhalb des nationalen Territoriums). Wenn man den Mythos der Moderne und das Auftauchen des Rassismus (als Institution) mit dem Kolonialismus seit 1492 sowie dem Beginn des Kapitalismus und des Sklavenhandels ansetzt,40 lässt sich erkennen, dass Moderne, Kolonialismus, Kapitalismus und Rassismus historisch einen Transfer vom Süden in den Norden Europas durchmachten. Die Matrix, die die Bilder der ›Migration‹ in der Cité nationale organisiert, ist eine im französischen Territorium verankerte Machtstruktur, die die Geschichte dieses Transfers auslöscht. Sie stellt die nordeuropäische Achse (Frankreich, England, Deutschland) in den Mittelpunkt des Narrativs. Das koloniale Vokabular der Vergangenheit ist durch ›Migration‹ ersetzt worden, wobei im europäischen wie auch im nordamerikanischen Kontext Diskurse über ›Migration‹ mit einer Lokalisierung und Zentrierung des Wissens in der nördlichen Hemisphäre verbunden sind. Nach diesem historischen Rückblick werde ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes zeigen, wie ›Migration‹ in der Ausstellung Repères der Cité nationale repräsentiert wird. Diese Dauerausstellung befindet sich im zweiten Geschoss des Palais des Colonies, also hinter der kolonialen Ikonographie des Gebäudes.

mus verbirgt.« R. Grosfoguel: »Die Dekolonisation der politischen Ökonomie und der postkolonialen Studien«, S. 313; R. Grosfoguel: »Vers une décolonization des ›universalismes‹ occidentaux«, S. 123. 39 R. Grosfoguel: »Vers une décolonization des ›uni-versalismes‹ occidentaux«, S. 123. 40 Vgl. A. Quijano: »Colonialidad del poder y clasificació social«.

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Das Projekt der Cité nationale de l’histoire de l’immigration in Paris setzt sich zum Ziel, 200 Jahre Migrationsgeschichte in Frankreich darzustellen und dabei den Beiträgen, die ›Immigranten‹ zur französischen Nation geleistet haben, Wertschätzung entgegenzubringen und Anerkennung zu zollen. Historiker hatten die Initiative für das Projekt ergriffen, indem sie ein Migrationsarchiv für Paris vorschlugen und Material für eine chronologische Präsentation des Themas sammelten. Der erste Impuls kann aber auch im »Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus« des Jahres 1983 (»Marche pour l’égalité et contre le racisme« oder auch »Marche des Beurs«) gesehen werden,41 bei dem der Wunsch von Aktivisten und ›Immigranten‹ deutlich wurde, besser in Öffentlichkeit vertreten zu sein. Im Jahr 1984 fand die Ausstellung Les enfants de l’immigration im Centre George Pompidou statt, in der das Thema der ›Migration‹ im Kontext der Kunst und der Frage der ›Integration‹ museal behandelt wurde. In diesem Zusammenhang verdient das Archiv Génériques Erwähnung, das Materialien zu Immigrantenorganisationen gesammelt und aufbewahrt hat. Trotz der Zusammenarbeit mit der Cité nationale hat Génériques beim Aufbau des Museums nur eine marginale Rolle gespielt. Das Archiv durfte eine befristete Ausstellung gestalten, wollte aber nicht aktiv in die Erarbeitung der Dauerausstellung Repères eingebunden werden. Die Leitung von Génériques ging davon aus, dass eine Zusammenarbeit Konflikte produzieren würde, und nahm deshalb davon Abstand. Aber auch die Leitung der – mittlerweile bereits aufgelösten – Organisation für die Vermittlung türkischer Kultur ELELE hatte im Rahmen eines Interviews berichtet, von der Zusammenarbeit mit der Cité nationale de l’histoire de l’immigration enttäuscht gewesen zu sein. Dies zeigt, wie sich das Projekt der Cité nationale de l’histoire de l’immigration von den Impulsen sozialer Bewegungen, die ›von unten‹ wirken, distanziert hat. Das Projekt hat sich aber auch von den ursprünglichen Vorstellungen der Historiker entfernt, wie bei der Eröffnung des Museums im Oktober 2007 deutlich wurde. Die von den Historikern favorisierte Chronologie in der Dauerausstellung Repères wurde zugunsten eines interdisziplinären Zugangs zurückgestellt. Gleichzeitig wurden von den Immigranten-Communities selbst gestaltete Präsentationen im Saal Marie Curie gezeigt, einem kleinen Saal für Wechselausstellungen, der auch als Zugang zur Médiathèque Abdelmalek Sayad

41 Vgl. Sadri Khiari: La contre-révolution coloniale en France. De de Gaulle à Sarkozy, Paris: La fabrique éditions 2009, S. 105-139.

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dient. Wer welchen Platz im Museum besetzen kann, ist auch Ausdruck einer unterschiedlichen Wertschätzung. Dass Repères, die permanente Ausstellung der Cité nationale de l’histoire de l’immigration, keine historisch-chronologische Struktur aufweist, ist darin begründet, dass das Thema des Museums, die ›Migration‹, nicht aus einer einzigen Perspektive dargestellt werden kann. Je nachdem, welchen disziplinären Zugang oder geopolitischen Standpunkt man wählt, kann das Phänomen der ›Migration‹ verschieden gesehen, definiert und politisch bearbeitet werden. Während meiner Feldforschungen 2010 habe ich mit mehreren Vertretern verschiedener Abteilungen dieser Institution gesprochen und in diesen Interviews die verschiedenen Konzepte und Methoden zur Musealisierung der ›Migration‹ kennen gelernt: Historiker, Kunsthistoriker, Anthropologen, Sozialarbeiter, Aktivisten und Pädagogen bedienten sich ihrer jeweiligen Wissensformen und steuerten dementsprechend verschiedene Arten von Objekten zur Ausstellung bei. Daher koexistieren in Repères unterschiedliche Möglichkeiten, Migration zu definieren und zu repräsentieren – und diese verschiedenen Herangehensweisen stehen ständig zur Diskussion. Ein Beispiel ist die Arbeit der Historiker in der Cité nationale de l’histoire de l’immigration, die ›Migration‹ als juristische und administrative Kategorie begreifen. Ihrem Konzept zufolge sollte sich eine historische Sammlung auf Immigranten konzentrieren, die den juristischen Status von Ausländern in Frankreich haben (»étrangers juridiques«). Sie wählten für die Dauerausstellung daher hauptsächlich historische Materialien aus, die sich auf juristische Aspekte im Alltagsleben der ›Immigranten‹ bezogen. Presseartikel, Ausweispapiere, Gesetze und Gesetzesentwürfe, Aufenthaltsgenehmigungen, die den Rechtsstatus der ›Immigranten‹ zeigen, wurden auf zehn Tische verteilt und dort in chronologischer Reihenfolge angeordnet. Jeder Tisch präsentiert nun neben Photographien eine Auswahl von Dokumenten, die einem Thema beziehungsweise einer Abteilung der Ausstellung zugeordnet sind. Es handelt sich dabei um: »auswandern«, »dem Staat gegenüber«, »Aufnahme im feindseligen Frankreich«, »hier und dort«, »Wohnorte«, »in der Arbeit«, »sich in Frankreich verwurzeln«, »Sport«, »Religionen«, »Kulturen«. In einem Interview berichtete die Historikerin Marianne Amar, wie die ursprüngliche Idee einer chronologischen (historischen) Erzählung durch diese zehn Themen ersetzt wurde, mit denen die Historiker nicht glücklich waren. Die Entscheidung wäre von der Museumsdirektion, der Kunstabteilung und dem Gestalter der Ausstellung getroffen worden. Ein anderer Zugang manifestiert sich in der Arbeit des Anthropologen Fabrice Grognet, der Objekte von ›Immigranten‹ sammelte und Interviews mit ihnen führte. Die von Grognet ausgewählten persönlichen Objekte und Biographien

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(Videos) werden in der Ausstellung in säulenartigen Glaskästen gezeigt. Diese Säulen stehen neben den Geschichts-Tischen und den Kunstobjekten, die an den Wänden arrangiert sind; auch sie sind entsprechend den zehn Themen und Abteilungen gruppiert. In einem Interview erklärte Grognet, dass er Gesprächspartner ausgesucht hatte, die sich selbst als ›Immigranten‹ bezeichneten und die dem Museum ausdrücklich Objekte und damit Teile ihrer Biographien überlassen wollten.42 Selbst wenn sie französische Staatsbürger waren, basierten Grognets Kriterien auf der Selbstdefinition. Darin besteht ein signifikanter Unterschied zu der juristischen Definition von ›Migranten‹, die die Historiker vorgenommen haben und die sich auch in ihrer Auswahl der Objekte widerspiegelt.

Abbildung 7: Tischvitrine mit historischen Dokumenten (Repères, Cité nationale de l’histoire de l’immigration)

Ein drittes Beispiel ist die Arbeit der Kunstabteilung, die die Kunstwerke für die Dauerausstellung auswählte. Diese Abteilung stützte sich auf andere Kriterien als die Historiker und Anthropologen des Museums. Im Gegensatz zu Grognet spielten für die Kunstabteilung Selbstdefinitionen von Künstlern als ›Immigranten‹ oder Bezüge zu ihren Biographien und ihrer Herkunft keine Rolle. Die Auswahl der Kunstwerke – (künstlerische und dokumentarische) Photographien, Plastiken, Filme und Installationen – kreist um die ästhetische Relevanz der Arbeiten. Isabelle Rénard, Kunsthistorikerin an der Kunstabteilung der Cité nationale de l’histoire de l’immigration, erklärte mir, dass Werke von Künstlern mit ›Migrationshintergrund‹ vom Museum nicht für die Dauerausstellung angekauft

42 Interview mit Fabrice Grognet, Anthropologe, Cité nationale de l’histoire de l’immigration, Paris, 5. März 2010.

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wurden, wenn diese Werke keinen thematischen Bezug zur ›Migration‹ aufwiesen.43 Auf der anderen Seite kamen Werke auch von Nichtimmigranten in die engere Wahl, wenn sie sich auf das Thema der Grenze bezogen oder wenn die verwendeten Materialien und Gestaltungsformen kulturelle oder religiöse Differenzen widerspiegelten.

Abbildung 8: Vitrine mit Interviewpassagen und persönlichen Objekte der Gesprächspartner zum Thema »émigrer « (Repères, Cité nationale de l’histoire de l’immigration)

Da mehrere Disziplinen (Geschichte, Ethnologie, Kunstgeschichte) im Museum vertreten sind, koexistieren – trotz interner Konflikte – unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge und Sammlungsstrategien nebeneinander. Auf Grund der verschiedenen disziplinabhängigen Formate ergaben sich Probleme bei der Interpretation der Ausstellungen durch die Besucher. Ein Beispiel dafür ist die 43 Interview mit Isabelle Rénard, Kunstabteilung, Cité nationale de l’histoire de l’immigration, Paris, 8. März 2010.

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Ausstellung Ma proche banlieue. Photographies 1980-2007, die von der Kunstabteilung der Cité nationale de l’histoire de l’immigration organisiert wurde. Darin dokumentierte der Photograph Patrick Zachmann die banlieues, die heruntergekommenen Vorstadtzonen französischer Städte. Für das Museum war diese Dokumentation in erster Linie ein Kunstprojekt; man berücksichtigte nicht, dass sie (lebende) Menschen zeigte. Daher waren die Kuratoren nicht darauf vorbereitet, dass manche der abgebildeten Personen – als sie sich eines Tages im Museum auf Photographien abgebildet fanden – dagegen protestierten. Sie argumentierten, dass sie in erster Linie französische Staatsbürger (im juristischen Sinn) und mithin keine ›Immigranten‹ seien. Legt man die Kriterien der historischen Abteilung und deren Konzept für die Darstellung von ›Migration‹ zugrunde, waren sie keine ›Immigranten‹. Die Porträtierten aus den banlieues verstanden sich auch nicht als ›Immigranten‹ und wollten nicht im Palais des Colonies, das für die Kolonialausstellung 1931 gebaut worden war, gezeigt werden. Die Art und Weise, wie diese Personen repräsentiert wurden, machte französische Staatsbürger zu ›Immigranten‹, anstatt die Beiträge der ›Immigranten‹ in Frankreich zu würdigen. So betrachtet, war das Ziel des Museums ins Gegenteil verkehrt worden. Dies steht in Zusammenhang mit dem spezifischen Zugang der Kunstabteilung. Während die ethnographischen und historischen Materialien mit konkretem Bezug zu den Aussagen von interviewten Menschen oder zu juristischen Realitäten ausgewählt wurden, stützte sich die Kunstabteilung auf ästhetische Kriterien. Durch diese Abstraktion wurden die dargestellten Menschen von den Kunstwerken oder Sammelobjekten getrennt. Werden die Objekte nicht mit konkreten Menschen, Körpern und Situationen in Verbindung gebracht, sind sie leicht einsetzbar – auch für ganz unterschiedliche Zwecke. Bezieht sich ein von jemandem angefertigtes Objekt oder Kunstwerk jedoch auf die aktuelle Lebensrealität eines anderen, kann dies den ›Anderen‹ dazu bringen, diese Repräsentation anzufechten. Wenn also die Bewohner der banlieues die Repräsentationspraktiken des Museums hinterfragen, so ist das deshalb von Interesse, weil sie damit die gesamte Struktur gesellschaftlicher Partizipation in der Cité nationale de l’histoire de l’immigration wie auch den Begriff der Integration in Frage stellen. Und damit wird auch die Frage, wie man sammelt, zu einer Schlüsselfrage. Ich möchte in der Folge ein anderes Beispiel anführen, das zeigt, wie bestimmte Individuen und gesellschaftliche Gruppen, die einen Platz im Museum beanspruchen, sich diesen aneignen, ihn interpretieren und nach ihren eigenen Vorstellungen nützen. Dabei geht es um Individuen und Gruppen, die die museale Institution an sich in Frage stellen und damit den Aufgabenbereich des Museums ausdehnen.

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E INE H ERAUSFORDERUNG FÜR I NSTITUTIONEN : I NTERVENTIONEN IM M USEUM DURCH DIE S ANS -P APIERS Bevor ich beschreibe, was geschah, als die Sans-Papiers, Personen ohne Aufenthaltsbewilligung beziehungsweise Personen, deren Aufenthaltsbewilligung nicht mehr verlängert wurde, vom 7. Oktober 2010 bis zum 28. Januar 2011 die Cité nationale de l’histoire de l’immigration mit Hilfe der Gewerkschaft Confédération Générale du Travail (CGT) besetzten, möchte ich die Rolle des Körpers und seiner unterschiedlichen Beziehungen zu Museumsobjekten und Ausstellungen beleuchten. Während meiner Forschungen habe ich festgestellt, dass ›Immigranten‹ (»colonial/racial subjects of empire«) und Museumskuratoren der Mehrheitsgesellschaft einen sehr unterschiedlichen Zugang zur Geschichte der Objekte und zur Institution Museum haben. Beide Seiten schätzen das Potential eines Museums als das eines sozialen Raums und ihr eigenes Potential, zugunsten bestimmter Repräsentationen und rechtlicher Maßnahmen zu intervenieren, auf höchst unterschiedliche Weise ein. Die Frage der Partizipation ist eng verknüpft mit der körperlichen Beziehung zwischen den ›Immigranten‹ (den »rassialisierten« Menschen) und den ausgestellten Objekten – die sich von jener der Ausstellungsmacher unterscheidet. Um zu diesem Thema hinzuleiten, möchte ich kurz von drei auf den ersten Blick unscheinbaren Episoden berichten, die mir während meiner Feldforschung in Berlin zu denken gaben. Die erste Episode spielte sich im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem während einer der vielen vom Museum organisierten Aktivitäten ab. Eine Frau, die aus demselben Kontinent stammte wie die in einer Ausstellung gezeigten Objekte, machte den Vorschlag, den illegalen Status vieler ›Immigranten‹ aus diesem Kontinent zum Thema einer weiteren Veranstaltung zu machen. Sie stellte damit in Frage, warum die Gegenstände eine solch hohe Wertschätzung genießen und im Museum ihren Platz finden, während Menschen aus derselben Weltregion oft aus Deutschland abgeschoben werden. Zu dieser Diskussion kam es aber nicht, denn die Frau erhielt die Antwort, dass ein Museum nicht der Ort sei, um Fragen der Einwanderungspolitik zu behandeln; es gehe dabei um zwei sehr unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, die man besser nicht miteinander vermischen sollte. Die zweite Episode handelt von einer Mexikanerin, die in Berlin längere Zeit nach einem Job suchte. Schließlich fragte sie auch in der Bibliothek des IberoAmerikanischen Institutes in Berlin, wo sie früher etliche Monate an ihrer Dissertation geschrieben hatte, ob sie dort arbeiten könnte. Ihr wurde geantwortet, dass es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich sei, sie zu beschäftigen. Das war ihr nicht verständlich war: Denn warum gab es in einem Archiv, das eine der welt-

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weit bedeutendsten Sammlungen iberoamerikanischer Quellen enthält und in dem zum großen Teil Deutsche angestellt sind, gerade für sie als Mexikanerin keinen Arbeitsplatz? Warum wurden die Bücher und Archivmaterialien zu Iberoamerika mehr geschätzt als die Menschen, die aus Iberoamerika nach Berlin kommen, um das Archiv zu nutzen? Kern dieser Episode ist, dass eine Wissenschaftlerin – als Person mit ›Migrationshintergrund‹ – ein Institut, ein Museum oder Archiv aufsucht, das im Besitz des kulturellen Erbes ihres Herkunftslandes ist (auch lateinamerikanische Geschichte und Kultur gehören zum »Preußischen Kulturbesitz«), und dort vergeblich einfordert, an der Gestaltung von Repräsentationen zu dieser Geschichte und Kultur mitzuwirken. Die dritte Episode spielte Ende 2006 in Berlin. Damals erfuhr ich, dass ein Projekt für ein Migrationsmuseum in Paris in Vorbereitung war. In der Hoffnung, in Berlin ein – wenn nicht in der Größenordnung, so doch inhaltlich – ähnliches Projekt zu finden, entdeckte ich im Internet das Bezirksmuseum Neukölln. Ich machte mich also auf den Weg zu dem vermeintlichen Migrationsmuseum. Am Hermannplatz, mitten im ›türkischen Viertel‹ von Berlin, merkte ich, dass ich die genaue Adresse verloren hatte und fragte einen Verkäufer an einem Imbissstand, ob er wisse, wo das Migrationsmuseum sei. Der Mann, wahrscheinlich ein Türke, antwortete: »Museum? Das kenne ich nicht. Aber gehen Sie doch einfach in Richtung Rathaus Neukölln. Schauen Sie sich die Leute an, die Geschäfte, gehen Sie weiter durch die Sonnenallee – da sehen sie viele, viele Immigranten!« Diese Antwort irritierte mich, weil ich nicht wie manche Touristen auf voyeuristische Weise »Immigranten schauen« wollte. Die Lektion, die mir der Mann gegeben hatte, bestand darin, dass die Stadtbezirke Kreuzberg und Neukölln aus touristischer Sicht betrachtet tatsächlich lebende Museen waren. Die Straßen, so legte mir seine ironische Replik nahe, waren zu Vitrinen und die ›Immigranten‹ zu Museumsobjekten geworden. Durch seine Antwort hatte er mir also einen Einblick in das Selbstverständnis jener Menschen gegeben, die durch den Blick der Touristen rassialisiert und zu Körpern in einer Inszenierung geworden waren. In diesen drei Episoden manifestiert sich eine Beziehung zwischen dem Selbst beziehungsweise dem Körper auf der einen Seite und den Museumsobjekten auf der anderen Seite, die sich erheblich von dem unterscheidet, was mir meine Interviewpartner im Museum erzählt hatten. Museumskuratoren in Paris und Berlin sind meist Menschen weißer Hautfarbe, Träger einer nationalen und manchmal europäischen Identität. Sie haben ein anderes Verhältnis zu den Objekten und Themen, denn ihr Körper hat keinen Bezug zur Kolonial- und Migrationsgeschichte, in deren Rahmen diese Objekte ins Museum gebracht wurden. Während ›Immigranten‹ in diesen Objekten sich selbst und der Kolonialge-

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schichte begegnen, können das Museumspersonal und die Kuratoren diese Verbindung nicht auf dieselbe Weise wahrnehmen. Die Kuratoren entpolitisieren zumeist diese Verbindung und nehmen den kolonialen Kontext nur als etwas historisch weit Zurückliegendes, nicht als ein politisches Thema wahr. Geht es um Fragen des ›Besitzes‹, so sprechen sie darüber wie über einen körperlosen historischen Prozess. Diese unterschiedliche Art, Kolonialgeschichte wahrzunehmen oder auch nicht wahrzunehmen, markiert die Trennlinie zwischen zwei unterschiedlichen Sichtweisen der Geschichte, des Körpers (des Selbst) und auch der Institution Museum. Die persönliche, körperliche Beziehung zu den Objekten, bedingt durch das Involviertsein in die Kolonialgeschichte, ist auch ausschlaggebend dafür, wie man über politisches Engagement und politische Interventionen denkt. Die geschilderten Episoden, aber auch meine eigenen Erfahrungen als Mexikanerin in Paris und Berlin – als immigrierte Anthropologin und Feldforscherin – reflektieren eine Beziehung zur Kolonialgeschichte, die für Selbstverständnis, Verhaltensweisen, Wissensproduktion und politisches Engagement prägend und immer durch den Körper vermittelt ist. Und auf dieser Grundlage möchte ich eine Initiative von ›Immigranten‹ vorstellen, die den Entschluss gefasst haben, zu handeln und ein Museum in Anspruch zu nehmen, dort zu intervenieren und es in eine politische Agora zu verwandeln. Als die Sans-Papiers die Cité nationale de l’histoire de l’immigration mit Unterstützung der Gewerkschaft CGT vom Oktober 2010 bis zum Januar 2011 besetzten, transformierten sie das Museum aus einem Ort, an dem Objekte gesammelt sowie konserviert und Ausstellungen in einem nationalen Rahmen gestaltet werden, in einen Schauplatz der politischen Auseinandersetzung. Die Sans-Papiers protestierten, um den legalen Status zu erhalten, der ihnen versprochen worden war. Sie besetzten diesen Raum, in dem Historiker, wie im vorhergehenden Abschnitt beschrieben, das Thema Legalität und Staat behandelt hatten, um ihre Anträge und Dossiers darin vorzubereiten. Das Museum unterstützte sie mit der Bereitstellung von Arbeitszimmern und -materialien; Akademiker und Aktivisten kamen ebenfalls, um ihnen zu helfen und die Aktion zu unterstützen. Dies war das erste Mal, dass sich ein Museum mit einer sozialen Bewegung solidarisierte; das Museum übernahm sogar die Verhandlungen mit dem Immigrationsministerium, die allerdings letztendlich fruchtlos verliefen. Während der Besetzung organisierten sich die Sans-Papiers, um im Museum zu leben. Sie stellten zum Beispiel Reinigungspläne auf und versicherten, das kulturelle Erbe der Räume, die sie Tag und Nacht besetzten, zu respektieren. Es gab im Museum öffentliche Veranstaltungen, Theateraufführungen, Musikprogramme sowie Versammlungen, in denen über die Legalisierung des Aufent-

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haltsstatus der Besetzer diskutiert wurde. In diesen Wochen kamen auch überdurchschnittlich viele Besucher. Die Sans-Papiers benutzten auch ausgiebig die Mediathek – die sonst meist leer stand – um zu lesen, Filme zu sehen und zu recherchieren. Diese Aktion hat viele überrascht; ich bin jedoch der Meinung, dass die Sans-Papiers nichts anderes taten, als einen Raum zu besetzen, der gleichsam nach ihnen verlangt hatte. Die Dauerausstellung Repères zeigt Photographien und eine Dokumentation der Sans-Papiers-Bewegung von ihren Anfängen an. In der Logik der »colonial/racial subjects of empire« stellt sich die Frage: Warum nicht an jenem Ort kämpfen, der einen Raum dafür eröffnet hat, eine Auseinandersetzung um Illegalität und Anerkennung zu führen? Während der Besetzung, in der das Museum für die Sans-Papiers Führungen durch die Dauerausstellung organisierte, fand sich einer der Besetzer auf einem Photo wieder, das Teil einer journalistischen Dokumentation der Migration von Einwanderern aus Mali nach Frankreich war. Dieser Mann, der um seinen legalen Aufenthalt kämpfte, erkannte sich auf einem Bild, das ihn als Kind in seinem Heimatland zeigte. Aus dieser Perspektive gibt es keine Trennung zwischen der Kolonialgeschichte, Repräsentationen im Museum und den Körpern der ›Immigranten‹. Ist es daher nicht verständlich, dass die Repräsentierten diesen Raum in ihre Agora verwandeln? Dass sie die Bedeutung der Institution ändern, indem sie an diesem Ort gegen ihre Illegalisierung ankämpfen? Die Besetzung des Museums durch die Sans-Papiers veränderte die Wahrnehmung der Partizipation von ›Immigranten‹ an der Museumsarbeit, die immer als sehr limitiert charakterisiert worden ist. Sie zeigte einen aktiven Weg des Engagements im Museum, der Inanspruchnahme der Institution für die Forderung nach dem Recht auf Partizipation, Inklusion und Anerkennung, auch wenn nach dem Ende der Besetzung (nach mehreren hundert Legalisierungen) die Beziehungen zwischen den Sans-Papiers, der CGT und der Cité nationale äußerst gespannt waren. Die Aktionen dieser Bewegung haben weitere Implikationen, die sich auch auf das Schreiben über ethnographische Themen auswirken sowie auf die Art und Weise, wie Wissen in der Anthropologie und in Migrationsstudien produziert wird. Seit dem Beginn meiner Forschungsarbeit im Jahre 2007 hat sich im Lauf der Zeit mein Selbstverständnis als Forscherin geändert. Ich verstehe mich als »colonial/racial subject of empire«, als ›Immigrantin‹ – eher denn als Vertreterin einer nationalen Gesellschaft. Im Bereich von Museen und Universitäten scheint sich meine körperliche Erfahrung von nationalen (deutschen oder französischen) Narrativen abzuheben ebenso wie von neuen Konstruktionen darüber, was es bedeutet, »Europäer zu sein«. Da ich denke und Fragen stelle durch meinen Körper, welcher der Kolonialgeschichte verhaftet und permanent – demo-

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graphisch und rechtlich gesehen – durch ›Migration‹ geprägt ist, steht die »Kolonialität der Macht« (nach Aníbal Quijano) immer im Blickfeld. Hier öffnet die Beziehung von Körper und Wissen neue Fragen für die Anthropologie und die Sozialwissenschaften: Gibt es in Europa in ausreichendem Maße Wissen, das von ›Migranten‹ (kolonialen Subjekten) zu den Themen ›Migration‹ und Rassismus produziert wird? Wenn ja: Findet dieses Wissen auch Berücksichtigung? Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hübel und Elfriede Pokorny

Abbildungsnachweise

Aytaç Eryılmaz: Abbildung 1: Photo: Jens Nober / DOMiD-Archiv Abbildungen 2-3: Photo: Dietrich Hackenberg / DOMiD-Archiv Abbildungen 4-5: Photo: Nicole Cronauge / DOMiD-Archiv Abbildung 6: Photo: Metin Yilmaz / DOMiD-Archiv Abbildungen 1-6: Rechte für alle Photos bei DOMiD Anja Dauschek: Abbildungen 1-3: © Stadtmuseum Stuttgart Cornelia Kogoj, Gamze Ongan: Abbildungen 1-4, 7-9: © Initiative Minderheiten Abbildungen 5-6: © Mehmet Emir Christiane Hintermann: Abbildungen 1-2: © Museum Arbeitswelt Steyr Abbildungen 3-4: © ZeMiT (Zentrum für MigrantInnen in Tirol) Robin Ostow: Abbildung 1: Originalphoto: Brown Brothers (für diese Publikation von Herbert Lappe photographiert) Abbildung 2: mit freundlicher Genehmigung von Alan Batt Abbildung 3: mit freundlicher Genehmigung von Kuol Baak und dem Migration Museum in Adelaide South Australia Abbildung 4: Photo: Joel Pike Abbildung 5: mit freundlicher Genehmigung der Ben Uri Gallery, London Jewish Museum of Art Abbildung 6: mit freundlicher Genehmigung von Hale Man

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Abbildung 7: © Nordwolle Delmenhorst, Nordwestdeutsches Museum für Industriekultur Abbildung 8: Photo: K.-H. Egginger; mit freundlicher Genehmigung des DIZ (Dokumentations- und Informationszentrum München) Joachim Baur: Abbildungen 1-8: Photos © Joachim Baur Andrea Meza Torres: Abbildung 1: Metropolitan Museum of Art, New York, USA / The Bridgeman Art Library Abbildung 2: Detroit Institute of Arts, USA / Gift of Mr. and Mrs. John S. Newberry / The Bridgeman Art Library Abbildungen 3-5: Quelle: Wikipedia, Urheber: Grez, Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0 (Namensnennung, Weitergabe unter gleichen Bedingungen) Abbildung 6: Quelle: Wikipedia, Urheber: Mbzt, Creative Commons Lizenz CC BY 3.0 (Namensnennung) Abbildungen 7-8: Photos © Andrea Meza Torres

Autorinnen und Autoren

Joachim Baur lebt und arbeitet als freier Kurator in Berlin. Derzeit entwickelt er u.a. im Auftrag des Landes Niedersachsen ein Konzept für das Museum Grenzdurchgangslager Friedland und kuratiert eine Migrationsausstellung für das Deutsche Hygiene-Museum Dresden. Daneben unterrichtet er Museumswissenschaft an der New York University und der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Museumstheorie, Geschichtspolitik und Repräsentation der Migration, u.a. Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation (2009) und als Herausgeber Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes (2010). Website: www.die-exponauten.com Anja Dauschek studierte Sozialwissenschaften an der Ludwig-MaximiliansUniversität München und Museum Studies an der George Washington University, Washington D.C. Sie promovierte im Fach Volkskunde an der Universität Hamburg. 2000-2006 war sie Beraterin bei der international arbeitenden Museumsberatung LORD Cultural Resources und leitete das Berliner Büro des Unternehmens. Seit 2007 ist sie als Leiterin des Planungsstabes verantwortlich für den Aufbau des Stadtmuseums in Stuttgart. Sie ist Mitglied im Vorstand des Museumsverbandes Baden-Württemberg e.V. und hat einen Lehrauftrag im Bereich Museumsmanagement an der FU Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. als Herausgeberin gemeinsam mit Hartmut John Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit (2008). Aytaç Eryılmaz ist Gründungsmitglied und Geschäftsführer von DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. Gemeinsam mit Mathilde Jamin war er Projektleiter der zweisprachigen Ausstellung Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei (1998) im Ruhrlandmuseum Essen. Projektleiter der Photoausstellung So fing es an …

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(2000) und der Ausstellung 40 Jahre Fremde Heimat in Köln (2001), Mitkurator des Initiativprojektes der Kulturstiftung des Bundes Projekt Migration in Köln (2002-2006), Projektleiter der Photoausstellung Geteilte Erinnerungen (2007) und der Ausstellung Geteilte Heimat – Paylaúılan Yurt. 50 Jahre Migration aus der Türkei (2011) in Berlin, Köln und Düsseldorf. Gemeinsam mit anderen Initiatoren setzt er sich seit Jahren für den Aufbau eines Migrationsmuseums in Deutschland als Zentrum für Geschichte, Kunst und Kultur der Migration ein. Christiane Hintermann ist Geographin und Migrationsforscherin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit in Wien und koordiniert dort den Forschungsschwerpunkt Migration & Memory. Seit 2011 arbeitet sie im Rahmen einer vom Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) geförderten Elise-RichterStelle an ihrem Habilitationsprojekt (Lieux de memoire of migration in urban spaces: the example of Vienna). Sie ist Lektorin am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Gemeinsam mit Christina Johansson ist sie Herausgeberin des Sammelbandes Migration and Memory: Representations of Migration in Europe since 1960 (2010). Thomas Hübel hat Germanistik, Philosophie und Psychologie an den Universitäten Wien und Freiburg im Breisgau studiert. Nach seiner Tätigkeit als Lektor am Germanistikinstitut der Universität Venedig arbeitete er an einigen Ausstellungen des Sigmund Freud-Museums mit. Seit 2006 ist er Generalsekretär des Instituts für Wissenschaft und Kunst (IWK) in Wien. Jüngste Veröffentlichung als Herausgeber gemeinsam mit Alexander Mejstrik und Sigrid Wadauer Die Krise des Sozialstaats und die Intellektuellen. Sozialwissenschaftliche Perspektiven aus Frankreich (2012). Cornelia Kogoj hat Publizistik und Germanistik an der Universität Wien studiert. Seit 1998 ist sie Generalsekretärin der Initiative Minderheiten in Wien. Kuratorin (mit Martina Böse und Sylvia Mattl) der Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration (2004), Verfasserin der Studie Dreiundzwanzig Wiens. Aspekte literarischer Artikulation von MigrantInnen in Wien, Projektleitung (mit Boban Stojkov und Ljubomir Bratiü) des Roma-Theaterstücks Liebesforschung (2006), Leitung des Forschungs- und Ausstellungsprojekts Viel Glück! Migration Heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul (2010). Andrea Meza Torres schreibt am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin an einer Dissertation zum Thema Die Musealisierung

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der Migration in Museen und Ausstellungen in Paris und Berlin. Ihre derzeitige Forschungsarbeit, die an der dekolonialen Theorie orientiert ist, analysiert die Repräsentationen von Migration in Frankreich und Deutschland im Kontext der Kolonialgeschichte und der Geschichte des Rassismus und untersucht das kontinuierliche Weiterwirken rassistischer Praktiken. Von 2009 bis 2012 unterrichtete sie am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu den Themen Museen und Ausstellungen sowie zum decolonial turn. Gamze Ongan hat Theaterwissenschaften und Philosophie in Wien studiert. Sie ist Mitglied des Leitungsteams des Bildungs-, Beratungs- und Therapiezentrums Peregrina und seit 2008 Chefredakteurin der Stimme – Zeitschrift der Initiative Minderheiten. Sie leitete die Recherchen im Ausstellungsprojekt Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration und war Mitautorin der Ausstellungsstationen Anwerbung und Herkunft und Rückkehr (Wien Museum 2004). Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbands Viel Glück! Migration Heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul (2010). Dietmar Osses hat Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaften und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum studiert. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Stadtmuseum Hagen, bei der Universität Dortmund, der RuhrUniversität Bochum, dem Ruhrlandmuseum Essen und der Feuer & Flamme Ausstellungsgesellschaft in Essen und Oberhausen tätig. Seit 2001 ist er Museumsleiter des LWL-Industriemuseums Zeche Hannover in Bochum, Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur. Lehraufträge für Theorie und Praxis des Museums bei der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel und den Universitäten Dortmund, Bochum und Münster. Seit 2010 Sprecher des Arbeitskreises Migration im Deutschen Museumsbund und Mitglied im Bundesweiten Ratschlag kulturelle Vielfalt. Robin Ostow erwarb ihren Ph.D. in Soziologie an der Brandeis University. Derzeit lehrt sie als Fellow am Centre for European and Eurasian Studies der Munk School of Global Affairs an der University of Toronto sowie als Lektorin am Department of Sociology der Laurier University (Ontario, Kanada). Viele ihrer Publikationen widmen sich jüdischen Museen in Europa und Immigrationsmuseen. Veröffentlichungen u.a.: (Re)Visualizing National History: Museums and National Identities in Europe in the New Millennium (2008). Regina Wonisch arbeitet als Historikerin mit Forschungsschwerpunkt Museologie und als freiberufliche Ausstellungskuratorin. Sie ist Mitarbeiterin des Insti-

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tuts für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Alpen Adria Universität Klagenfurt (Standort Wien) und leitet das Forschungszentrum für historische Minderheiten. Zahlreiche Publikationen u.a. mit Roswitha Muttenthaler: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen (2006).

Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Barbara Alder, Barbara den Brok Die perfekte Ausstellung Ein Praxisleitfaden zum Projektmanagement von Ausstellungen August 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1489-3

Patrick S. Föhl, Patrick Glogner Kulturmanagement als Wissenschaft Überblick – Methoden – Arbeitsweisen. Einführung für Studium und Praxis Dezember 2012, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1164-9

Carl Christian Müller, Michael Truckenbrodt Handbuch Urheberrecht im Museum Praxiswissen für Museen, Ausstellungen, Sammlungen und Archive November 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1291-2

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Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Andrea Rohrberg, Alexander Schug Die Ideenmacher Lustvolles Gründen in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Ein Praxis-Guide 2010, 256 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1390-2

Christiane Schrübbers (Hg.) Moderieren im Museum Ein Leitfaden für dialogische Besucherführungen Februar 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2161-7

Gernot Wolfram (Hg.) Kulturmanagement und Europäische Kulturarbeit Tendenzen – Förderungen – Innovationen. Leitfaden für ein neues Praxisfeld November 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1781-8

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Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Joachim Baur (Hg.) Museumsanalyse Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes

Yvonne Leonard (Hg.) Kindermuseen Strategien und Methoden eines aktuellen Museumstyps

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Oktober 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2078-8

Claudia Gemmeke, Franziska Nentwig (Hg.) Die Stadt und ihr Gedächtnis Zur Zukunft der Stadtmuseen 2011, 172 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1597-5

Susanne Gesser, Martin Handschin, Angela Jannelli, Sibylle Lichtensteiger (Hg.) Das partizipative Museum Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen Juni 2012, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1726-9

Hartmut John, Hans-Helmut Schild, Katrin Hieke (Hg.) Museen und Tourismus Wie man Tourismusmarketing wirkungsvoll in die Museumsarbeit integriert. Ein Handbuch

Tobias G. Natter, Michael Fehr, Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.) Die Praxis der Ausstellung Über museale Konzepte auf Zeit und auf Dauer Februar 2012, 258 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1862-4

Martina Padberg, Martin Schmidt (Hg.) Die Magie der Geschichte Geschichtskultur und Museum (Schriften des Bundesverbands freiberuflicher Kulturwissenschaftler, Band 3) 2010, 208 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1101-4

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Petra Schneidewind, Martin Tröndle (Hg.) Selbstmanagement im Musikbetrieb Ein Handbuch für Kulturschaffende (2., komplett überarbeitete Auflage)

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