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German Pages 268 Year 2019
Christoph Schaub Proletarische Welten
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger, Barbara Picht und Meike Werner
Band 150
Christoph Schaub
Proletarische Welten Internationalistische Weltliteratur in der Weimarer Republik
ISBN 978-3-11-066359-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066808-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066461-4 ISSN 0174-4410 Library of Congress Control Number: 2019946389 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Die vorliegende Monografie ist aus einigen Teilen meiner auf Englisch verfassten Dissertation „Weimar Contact Zones: Modernism, Workersʼ Movement Literature, and Urban Imaginaries“ hervorgegangen, mit der ich 2015 mein Promotionsstudium an der Columbia University in New York abschloss. Deshalb möchte ich an dieser Stelle zuerst Andreas Huyssen nennen, der mich nicht nur während meines gesamten Promotionsstudiums motivierend und kritisch betreut, sondern noch die Arbeit an dieser Monografie intellektuell begleitet hat. An der Columbia University haben mir außerdem Stefan Andriopoulos, Oliver Simons und Harro Müller immer hilfreich zur Seite gestanden. Für Diskussionen über literarische Moderne, Weltliteratur und Globalisierung bin ich Chunjie Zhang (UC Davis) verpflichtet. Jakob Norberg (Duke University) danke ich für Gespräche über das Verhältnis von Literaturgeschichtsschreibung und Nationalismus und Kata Gellen, Cate Reilly und Saskia Ziolkowski (alle Duke) für Diskussionen über modernism’s disconnections. Durch diese habe ich in der späten Phase meiner Arbeit an diesem Buch, die mit einer Vertretungsstelle an der Duke University in Durham, North Carolina, zusammenfiel, wichtige Impulse erhalten. Henry Pickford (Duke), Gesine Müller (Köln) und Florian Kappeler (Göttingen) haben mich durch die Lektüre von Teilen des Manuskripts unterstützt und in meinem Vorhaben bestärkt. Sehr glücklich bin ich über die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, wofür ich den Herausgeber*innen an dieser Stelle danken möchte. In diesem Zusammenhang sei insbesondere den zwei anonymen Gutachter*innen gedankt, aufgrund deren hilfreicher Kommentare ich diese Studie weiter stärken konnte, sowie außerdem Stella Diedrich bei De Gruyter für ihre professionelle Betreuung dieses Bandes. Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank meinen Freundinnen und Freunden, deren Freundschaft und Unterstützung ich unendlich zu schätzen weiß: Tanja Feodorow, Brook Henkel, Johan Horst, Shafinaz Hussein,Vera Kallenberg, Florian Kappeler, Ana Keilson, Tine Kley, Tomasz Kurianowicz, Guirdex Massé, Hanna Müller, Alexis Radisoglou, Arthur Salvo, Hannes Schülein, Joe Sheppard, Jana Tschurenev, Johanna Urzedowski, Martin Valenske, Micha Watzka, Tabea Weitz, Sonja Witte und Chunjie Zhang. Besonders möchte ich meinen Eltern Heike und Karl Heinz Schaub, meinen Brüdern Sebastian und Sven Schaub sowie meiner Großmutter Lilo Klein danken. Ein Abschnitt des zweiten Kapitels erschien zuerst in meinem Aufsatz „Internationalistische Weltliteratur. Die Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle und Kurt Kläbers Passagiere der III. Klasse“ (in: IASL 41 (2016), H. 2, S. 215 – 241). Teile des dritten Kapitels wurden erstmals in meinem Sammelbandbeitrag https://doi.org/10.1515/9783110668087-001
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Danksagung
„Internationalist Montages. World-Making in Interwar Germany’s Labor Movement Literature“ publiziert (in: Composing Modernist Connections in China and Europe. Hg. Chunjie Zhang (New York/London: Routledge 2019), S. 50 – 69. © 2019 Taylor and Francis Group, LLC). Ich danke den Verlagen für die Erlaubnis, diese Materialien hier erneut verwenden zu dürfen. Berlin, im Mai 2019
C.S.
Inhalt Abkürzungen und Siglen
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1 Einleitung Internationalistische Weltliteratur 1 Weltliteratur und Gegenöffentlichkeiten 12 20 Proletarische Welten Literarische Moderne und Arbeiterbewegungsliteratur 31 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung Kapitelübersicht 35
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Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur 40 Hinführung 40 42 Casanova und Moretti Gegenöffentlichkeit, literarisch und transnational 47 Ein neues Weltliteraturkonzept und sein Kontext in der frühen 55 Weimarer Republik Ein Aktivist internationalistischer Weltliteratur: Franz Jung 61 Eine Buchgemeinschaft internationalistischer Weltliteratur: 76 Universum-Bücherei für Alle Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer 85 Weltliteratur: Die Linkskurve und New Masses Ein alternatives globales Literaturfeld und das Zentrum 101 internationalistischer Weltliteratur
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Montage und Internationalismus 105 105 Hinführung Weltrevolution als Medienereignis: Franz Jungs Die Eroberung der Maschinen 111 Die Entstehung von Jungs Joe Frank illustriert die Welt aus 115 internationalistischen Gegenöffentlichkeiten Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext 120 Weltliterarischer Internationalismus nach den Niederlagen der sozialistischen Revolutionen in Europa: Anna Seghersʼ Die Gefährten 134 Montage, modernistischer Realismus und die transnationale Moderne der Arbeiterbewegung 146
VIII
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Inhalt
Internationalistisches Multiversum: Montage und Ungleichzeitigkeit 156 Zugehörigkeit jenseits der Kommunistischen 165 Internationale Reportage und Internationalismus 177 177 Hinführung Egon Erwin Kischs weltliterarische Autorschaft und literarische 182 Gegenöffentlichkeiten Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung: Reportage als transnationale Gattung 193 Solidarischer Dialog, Erzählinstanz und die „epistemische Figur 203 des Reporters“ Wissen vom transnationalen Proletariat 214 Literarische Erzeugung von Globalität: Vergleich und Reportagensammlung 225
Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur Literaturverzeichnis 243 Ausgewertete Zeitschriften 243 Primärliteratur Forschungsliteratur 244 Namensregister
254
Verlags- und Zeitschriftenregister
257
243
234
Abkürzungen und Siglen BPRS IVRS IWW JW KGW KAPD KPD KPdSU MEW SGW UBFA
= = = = = = = = = = =
Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Internationale Vereinigung revolutionärer Schriftsteller Industrial Workers of the World Franz Jung Werke Egon Erwin Kisch Gesammelte Werke in Einzelausgaben Kommunistische Arbeiterpartei Deutschland Kommunistische Partei Deutschland Kommunistische Partei der Sowjetunion Marx-Engels-Werke Anna Seghers Gesammelte Werke in Einzelausgaben Universum-Bücherei für Alle
https://doi.org/10.1515/9783110668087-002
1 Einleitung 1.1 Internationalistische Weltliteratur Zwischen der Novemberrevolution und dem Ende der Weimarer Republik entstand transnational eine Weltliteratur der Arbeiterbewegung, die bisher in den gegenwärtig florierenden Debatten über literarische Globalisierung und Weltliteratur unbeachtet geblieben ist. Literaturgeschichtlich stellt diese internationalistische Weltliteratur nichts weniger als das erste Projekt dar, organisatorisch, diskursiv und ästhetisch eine Weltliteratur zu schaffen, die mit einer politischen und sozialen Massenbewegung verbunden sein sollte. Durch sie kam es ganz grundsätzlich erstmals zu einem breit angelegten Versuch, die seit dem neunzehnten Jahrhundert zuerst im deutschsprachigen Raum und dann transnational zirkulierende Idee der Weltliteratur durch kulturpolitische und literarische Praktiken zu verstetigen und zu institutionalisieren. Internationalistische Weltliteratur rückte proletarische Welten in den Mittelpunkt ihrer literarischen Imagination und erzeugte diese durch Organisationen wie die Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle (UBFA) und die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS); durch Wissenstransfers in Zeitschriften wie Arbeiter-Literatur; durch Veranstaltungen wie den zweiten Kongress proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow (1930); durch Übersetzungen von fremdsprachiger proletarischer Literatur; durch Versuche, bestimme Autoren wie Jack London in Deutschland zu kanonisieren; durch eine literaturgeschichtliche Neuerfindung von Weltliteratur als Gegensatz von zwei transnationalen Klassenliteraturen; durch den Aufbau grenzübergreifender Kommunikationsnetzwerke, durch die die Zeitschrift Die Linkskurve, die amerikanische New Masses und die japanische Senki verbunden waren; und nicht zuletzt durch literarische Texte selbst, die wie die Werke von Franz Jung, Anna Seghers und Egon Erwin Kisch proletarische Welten durch avantgardistische Verfahren wie die Montage und Gattungen wie die Reportage entwarfen. Die durch vielfältige kulturelle und mediale Praktiken erzeugten proletarischen Welten internationalistischer Weltliteratur standen zu proletarischen Welten in literarischen Texten im Verhältnis. Auf beiden Ebenen wurde den Aktivisten und Aktivistinnen sowie dem Lesepublikum eine internationalistische Weltbeziehung ermöglicht, wodurch sie sich als Teile einer „vorgestellten Gemeinschaft“ internationalistischer Weltliteratur erfahren konnten.¹ Internationalistische Weltli-
Zum Begriff der vorgestellten Gemeinschaft vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. https://doi.org/10.1515/9783110668087-003
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1 Einleitung
teratur erzeugte so inner- und außerhalb des literarischen Textes eine proletarische Moderne der Arbeiterbewegung. Diese erstreckte sich von Deutschland und Ungarn über Russland und Tadschikistan, über China und Japan bis in die USA. Die Literatur-, Kultur-, Sozial- und Mediengeschichte dieser internationalistischen Weltliteratur der Weimarer Republik ist der Gegenstand des vorliegenden Buches. Die Rekonstruktion dieser Geschichte erfordert allerdings ein neues theoretisches Nachdenken über Weltliteratur. Die Ideengeschichte von Weltliteratur einschließlich der zeitgenössischen Weltliteraturtheorie wird nämlich vor allem von Varianten der Prämisse dominiert, dass die Welt in verschiedene Kulturen und Zivilisationen geteilt sei, welche verschiedene Literaturen hervorgebracht hätten, und dass zugleich eine transkulturell und transhistorisch geteilte Humanität globale Kommunikation und Interaktion ermögliche.² Die internationalistische Weltliteratur der Zwischenkriegszeit unterscheidet sich von dieser dominanten Strömung in der Ideengeschichte der Weltliteratur nun grundsätzlich dadurch, dass sie nationale, kulturelle und sprachliche Differenzen sowie ein humanistisches Menschheitsverständnis durch die Vorstellung einer durch einen Klassengegensatz strukturierten Welt an den Rand rückt und den Polen dieses Gegensatzes, also dem Bürgertum und dem Proletariat, unterschiedliche Klassenliteraturen zuordnet. Mit dem theoretischen Handwerkzeugs zeitgenössischer Weltliteraturtheorie lässt sich diese historische Form der Weltliteratur nicht angemessen beschreiben, da erstere sich bestenfalls auf literarische Machtverhältnisse und -asymmetrien konzentriert, die zu Nation, Kultur, Sprache, race oder Ethnizität in Beziehung stehen. Aus diesem Grund entwickelt mein Buch einen Beitrag zur Weltliteraturtheorie, der sich gewissermaßen emisch an der historisch konkreten Form von Weltliteratur orientiert, die es untersucht.³ Meine Monografie macht das Verhältnis von globaler sozio-ökonomischer Stratifikation und transnationalen literarischen Öffentlichkeiten zum Gegenstand ihrer theoretischen Überlegungen. Auf diese Beziehung hatte der Diskurs internationalistischer
Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Revised Edition. London/New York 1991, S. 5 – 7. Vgl. hierzu Aamir R. Mufti: Forget English! Orientalisms and World Literatures. Cambridge/ London 2016. Diese Prämisse unterliegt selbst noch Arbeiten zur Weltliteratur, die kritisch mit der antiessentialistischen Idee hybrider Kulturen arbeiten und von der Annahme der Verflechtung von Kultur und Macht ausgehen. Vgl. z. B. Doris Bachmann-Medick: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive. In: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Hg. v. Doris BachmannMedick. Frankfurt a. M. 1996, S. 262– 296; Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London/New York 2004, S. 17. Vgl. zu Weltliteratur und einem emischen Ansatz Alexander Beecroft: An Ecology of World Literature. From Antiquity to the Present Day. London 2015, S. 28 – 33.
1.1 Internationalistische Weltliteratur
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Weltliteratur in den 1920er und 1930er Jahren bereits selbst verwiesen, selbstverständlich jedoch mit einem anderen theoretischen Instrumentarium und Vokabular. Dabei wird die Monografie vor allem auch zeigen, dass eine der Leerstellen der zeitgenössischen Weltliteraturtheorie (und dies betrifft gerade auch ihre soziologischen Varianten) tatsächlich darin besteht, dass sie Fragen nach transnationalen Öffentlichkeiten, die im Verhältnis zu globaler sozio-ökonomischer Stratifikation stehen – und die sich also gerade nicht ausschließlich oder auch nur primär durch Kultur, Nation oder Sprache bestimmen lassen –, nicht angemessen diskutieren und oftmals nicht einmal stellen kann. Im Zuge meiner kritischen Rekonstruktion der Geschichte der internationalistischen Weltliteratur in der Weimarer Republik leistet das vorliegende Buch deshalb auch einen Beitrag zur Weltliteraturtheorie, indem es den Ansatz einer Theorie transnationaler literarischer Gegenöffentlichkeiten entwickelt und erprobt. Dass ein bis dahin in einer solchen Breite ungekanntes weltliterarisches Projekt gerade im Rahmen der Arbeiterbewegung und historisch ab ca. 1918/19 entstand, ist keineswegs ein Zufall. Wie Régis Debray und Katerina Clark gezeigt haben, ist die Geschichte der Arbeiterbewegung von ihren Anfängen bis zu den real existierenden sozialistischen Staaten geradezu von einer Obsession mit der Druckkultur geprägt – mit Literatur in einem weiten, nicht auf kanonisierte Gattungen beschränkten Sinne. Literatur war sozial- und kulturgeschichtlich eine Bedingung für das Entstehen und das Fortbestehen der Arbeiterbewegung. Dies gilt sowohl in einer sehr praktischen Weise, da zum Beispiel Drucker in der frühen Arbeiterbewegung eine große Rolle spielten und das Wort Sozialismus erstmals vom französischen Setzer Pierre Leroux verwendet wurde, als auch insofern die Bewegung später einen veritablen „cult of the book“ entwickelte, welcher sich zum Beispiel darin äußerte, dass während des Kalten Krieges nirgends so viele Bücher pro Kopf gedruckt wurden wie in den kommunistischen Staaten, wo sich auch die meisten öffentlichen Bibliotheken pro Einwohner bzw. Einwohnerin befanden.⁴ Die praktische und diskursive Verbindung von Weltliteratur und Internationalismus gehört fraglos zu dieser Kulturgeschichte. Sie findet sich erstmals prominent in der Präambel zum Manifest der Kommunistischen Partei formuliert, in der Karl Marx und Friedrich Engels ankündigen, dass der Text durch seine Übersetzung in mehrere Sprachen transnational verbreitetet werden sollte.⁵ Erfüllte sich diese Hoffnung der Autoren auf eine weltliterarische Zirkulation des
Vgl. Régis Debray: Socialism. A Life-Cycle. In: New Left Review 46 (2007), S. 11 f.; Katerina Clark: Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931– 1941. Cambridge/London 2011. Vgl. MEW 4, S. 461.
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1 Einleitung
Manifests erst Jahrzehnte später,⁶ so blieb auch die Idee einer proletarischen Weltliteratur – abgesehen von einigen frühsozialistischen Diskussionen und trotz der grenzüberschreitenden Zirkulation von Texten der Arbeiterbewegung – lange bestenfalls randständig.⁷ Dies galt gerade auch für den deutschsprachigen Raum, in welchem trotz eines theoretischen Bekenntnisses zum Internationalismus oftmals nationale und lokale Imaginationen in der Arbeiterbewegung dominierten.⁸ Kann in der engen Beziehung von Arbeiterbewegung und Literatur eine kulturgeschichtliche Bedingung für das Entstehen einer internationalistischen Weltliteratur gesehen werden, entwickelte sich diese Form der Weltliteratur als literarische Praxis und Diskurs erst infolge des Ereignisses der Russischen Revolution. Im Kontext des Erfolgs der Oktoberrevolution und der letztlich niedergeschlagenen europäischen Rätebewegung – beispielsweise in Deutschland oder in Ungarn – kam es nämlich nicht nur zu einer verstärkten Reisetätigkeit von Aktivistinnen und Aktivisten.⁹ Es ereignete sich vor allem auch eine Intensivierung der transnationalen Zirkulation linker Literatur, die teilweise durch die kulturellen Organisationen Sowjetrusslands betrieben oder unterstützt und teilweise durch andere gegenöffentliche Vernetzungen, wie zum Beispiel die Arbeit syndikalistischer Gewerkschaften, ermöglicht wurde.¹⁰ Mit dem Proletkult entstand zur selben Zeit erstmals eine einflussreiche Literaturbewegung, die sich als genuin proletarisch verstand und sich – im Unterschied zu früheren und späteren Debatten über eine Literatur der Arbeiterbewegung – radikal von einem bürgerlichen Erbe und bürgerlichen Schriftstellern abzugrenzen versuchte. Der Proletkult – wie auch die 1919 von Henri Barbusse gegründete Organisation Clarté – katalysierte das transnationale Entstehen einer proletarischen Literatur, wodurch sich zum Beispiel die neue Gattung des proletarischen Romans global verbreitete.¹¹ Jenseits eines solchen Bemühens um eine proletarische Literatur war man im heterogenen literarischen Feld der frühen Sowjetunion allerdings auch um den Aufbau eines Verlagshauses für eine inklusiver konzipierte Weltliteratur be-
Vgl. Martin Puchner: Poetry of the Revolution. Marx, Manifestos, and the Avant-Gardes. Princeton/Oxford 2006, S. 64 f. Vgl. Peter Goßens: „Erbkriege um Traumbesitz“. Voraussetzungen des Begriffes ‚Weltliteratur‘ in der DDR. In: Weltliteratur in der DDR. Debatten, Rezeption, Kulturpolitik. Hg. v. Peter Goßens u. Monika Schmitz-Emans. Barleben 2015, S. 19 f. u. S. 24. Vgl. Sabine Hake: The Proletarian Dream. Socialism, Culture, and Emotion in Germany, 1863 – 1933. Berlin/Boston 2017, S. 336. Vgl. Jean-Francois Fayet: 1919. In: The Oxford Handbook of the History of Communism. Hg. v. Stephen A. Smith. Oxford/New York 2014, S. 115. Vgl. Rossen Djagalov: The Red Apostles. Imagining Revolutions in the Global Proletarian Novel. In: Slavic and East European Journal 61 (2017), H. 3, S. 400 f. Vgl. Michael Denning: Culture in the Age of Three Worlds. London/New York 2004, S. 57– 60.
1.1 Internationalistische Weltliteratur
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müht.¹² Unter der Leitung von u. a. Maxim Gorki publizierte dieses Verlagshaus für Weltliteratur – so der eindeutige Name – von 1918 bis 1924 Übersetzungen weltliterarischer Klassiker und verband dabei humanistische und revolutionäre Ideen, wobei der nie verwirklichte Verlagskatalog auf fast 1200 europäische und außereuropäische, kanonische und weniger bekannte Autorinnen und Autoren seit dem späten achtzehnten Jahrhundert angelegt war.¹³ Mit der Russischen Revolution rückten damit proletarische Literatur und Weltliteratur in den Vordergrund der kulturellen Aktivitäten der revolutionären Arbeiterbewegung und der „Legitimierung“¹⁴ ihres ersten Staates. Diese Entwicklung zu einer intensiveren Internationalisierung und Radikalisierung der literarischen Produktion der Arbeiterbewegung war dabei nicht zu trennen von einer politischen und organisatorischen Erneuerung des proletarischen Internationalismus, die mit der Gründung der Kommunistischen Internationale, auch Dritte Internationale genannt, im Jahre 1919 einsetzte. Diese sollte als „global party of the proletariat“¹⁵ fungieren. Hatten die in der Zweiten Internationale organisierten sozialistischen Parteien Europas – mit Ausnahme der italienischen – spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges den nationalistischen Kurs ihrer jeweiligen Nationalstaaten unterstützt und sich damit praktisch von der Idee des sozialistischen Internationalismus verabschiedet, begannen die Bolschewiken die nach Ende des Ersten Weltkrieges entstehenden kommunistischen Parteien in der Dritten Internationale zu organisieren und zumindest anfangs auf einen radikal-antinationalistischen Kurs einzuschwören. Im Laufe der 1920er Jahre entstand durch Stalins Verkündung des ‚Sozialismus in einem Land‘ jedoch eine durchaus paradoxe Situation, die Perry Anderson treffend beschrieben hat: In short order the activites of the Third International were utterly subordinated to the interests of the Soviet state, as Stalin interpreted them. The upshot was the arresting phenomenon, without equivalent before or since, of an internationalism equally deep and defor-
Eine kurze Skizze dieses literarischen Feldes findet sich z. B. bei Germaine Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik. Bern/New York 1993, S. 195 – 202. Vgl. Maria Khotimsky: World Literature, Soviet Style. A Forgotten Episode in the History of the Idea. In: Ad Imperio 3 (2013), S. 119 – 154. Katerina Clark/Evgenii Dobrenko: Introduction. In: Soviet Culture and Power. A History in Documents. Hg. v. Katerina Clark u. Evgenii Dobrenko. New Haven 2007. Zitiert nach Maria Khotimsky: World Literature, Soviet Style, S. 125. Alexander Vatlin/Stephen A. Smith: The Comintern. In: The Oxford Handbook of the History of Communism. Hg. v. Stephen A. Smith. Oxford/New York 2014, S. 188.
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1 Einleitung
med, at once rejecting any loyalty to its own country and displaying a limitless loyalty to another state.¹⁶
Während diese zunehmende Zentrierung der Aktivitäten der Kommunistischen Internationale auf die Interessen der Sowjetunion eine Konstante der Geschichte dieser Organisation bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1943 blieb, war ihre Geschichte ebenso von politischen Teilungen, Fraktionsbildungen und strategischen Koalitionen geprägt, die nicht selten Auseinandersetzungen in der KPdSU spiegelten.¹⁷ Es wäre deshalb sicherlich falsch, die Kommunistische Internationale als eine politisch homogene Organisation mit einer gleichleibenden Ideologie und festgelegten Strategie zu verstehen. Hinzu kam, dass die kommunistischen Aktivisten in den Kolonien ihre kulturellen und ideologischen Identitäten und Hintergründe immer wieder betonten und dadurch die vermeintliche Universalität des Zentrums der Kommunistischen Internationale sowie auf dieser basierende Strategien und weltanschauliche Vorgaben in Frage stellten.¹⁸ Internationalistische Weltliteratur entstand also in der Weimarer Republik und transnational vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund einer nur schwer überschaubaren Konstellation verschiedener Entwicklungen: des Scheiterns der Zweiten Internationale; der Niederschlagung der Rätebewegung in Europa; der nun institutionalisierten Spaltung der Arbeiterbewegung in vor allem einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Teil; der Wirklichkeit des ersten sozialistischen Staates, aufgrund derer die Weltrevolution erstmals und nur kurz realistisch zu sein schien; der oftmals wechselnden strategischen und ideologischen Vorgaben der Dritten Internationale; und der vielfältigen Spannungen zwischen dem politischen und kulturellen Zentrum der globalen kommunistischen Bewegung und ihren diversen nationalen, kulturellen und ideologischen Peripherien. Bedenkt man in diesem Zusammenhang die herausragende Rolle, die Literatur in einem weiten Sinne in der Geschichte der Arbeiterbewegung gespielt hatte, lässt sich durchaus formulieren, dass ein politischer Internationalismus eine internationalistische Weltliteratur brauchte. Sie konnte Funktionen kultureller Bildung und Legitimierung für den kommunistischen Internationalismus erfüllen, indem sie das politische Projekt mit dem Aufbau einer globalen Kultur
Perry Anderson: Internationalism. A Breviary. In: New Left Review 14 (2002), S. 15. Vgl. Vatlin/Smith: The Comintern, S. 187– 194. Vgl. Robert J.C. Young: Postcolonialism. An Historical Introduction. Oxford/Malden 2001, S. 128 f.
1.1 Internationalistische Weltliteratur
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verband, und sie konnte als eine Praxis dienen, vorgestellte internationalistische Gemeinschaften durch die transnationale Verbreitung von Texten zu bilden. Internationalistische Weltliteratur konnte also dazu beitragen, das „telos of a unified working class“,¹⁹ auf dem die Arbeiterbewegung basierte, durch literarische Praktiken in einer transnationalen Dimension als mögliche und teils bereits tatsächliche Wirklichkeit plausibel zu machen. Jedoch stellte internationalistische Weltliteratur nicht einfach sozial wie kulturell uniforme und ideologisch konforme Kollektive her, die es in der Wirklichkeit aufgrund der sozialen, kulturellen und geografischen Fragmentierung des Proletariats und der politischen Heterogenität der Arbeiterbewegung gar nicht gab.²⁰ Vielmehr fungierte internationalistische Weltliteratur oftmals als eine literarische Praxis, in der Identitäten und Formen von Gemeinschaftlichkeit erprobt wurden, die sich zur offiziellen Politik der Kommunistischen Internationale und den kulturpolitischen und ästhetischen Vorgaben ihrer Kulturorganisationen heterogenisierend, kritisch und gar konträr verhielten. Meine Studie legt ihren Schwerpunkt auf diese alternativen Imaginationen einer transnationalen proletarischen Moderne und diskutiert sie an einer Traditionsline, die in der Weimarer Republik von Franz Jung zu Anna Seghers und Egon Erwin Kisch reichte. Von internationalistischer Weltliteratur in einem auch quantitativen Sinne, d. h. im Sinne einer massenhaften Verbreitung und Lektüre dieser Form von Literatur, ist für die Weimarer Republik jedoch bestenfalls in einem eingeschränkten Sinne zu sprechen.²¹ So hatte beispielsweise die 1926 im Kontext des kommunistischen Münzenberg-Konzerns gegründete Buchgemeinschaft UBFA eine im Vergleich zu bürgerlichen und sozialdemokratischen Buchgemeinschaften sehr geringe Mitgliederzahl von 20.000.²² Ebenso sank die Auflage der Linkskurve, der prägenden kommunistischen Literaturzeitschrift der späten Weimarer Republik,
Martin Jay: The Weimar Left: Theory and Practice. In: Weimar Thought. A Contested Legacy. Hg. v. Peter E. Gordon u. John P. McCormick. Princeton/Oxford 2013, S. 390. Hervorhebung im Original. Zu einer solchen Funktion von „Klassen-Figuren“ vgl. Eva Blome/Patrick Eiden-Offe/Manfred Weinberg: Klassen-Bildung. Ein Problemaufriss. In: IASL 35 (2010), H. 2, S. 167 f. Zur Unterscheidung zwischen einem „qualitativen“ und einem „quantitativen“ Verständnis von Weltliteratur vgl. Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010, S. 106. Vgl. Rolf Surmann: Die Münzenberg-Legende. Zur Publizistik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung: 1921– 1933. Köln 1982, S. 163 f.; Urban van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik. Mit einer Fallstudie über die sozialdemokratische Arbeiterbuchgemeinschaft Der Bücherkreis. Stuttgart 2002, S. 115, S. 161 u. S. 68.
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1 Einleitung
von anfangs 15.000 auf schließlich 3.500.²³ Allerdings ist zum Beispiel mit Blick auf die UBFA von mehr Lesenden als Mitgliedern auszugehen, da oftmals mehrere Personen dasselbe Buch lasen; darüber hinaus bedienten sich viele Arbeiter und Arbeiterinnen parteigebundener Arbeiterbibliotheken.²⁴ Zudem ist festzuhalten, dass das Magazin für Alle, also die Zeitschrift, in der die UBFA auch die eigenen Publikationen vorstellte, als Beilage der Welt am Abend und im freien Buchhandel eine Auflage von bis zu 260.000 erreichte.²⁵ Die Rote Fahne publizierte außerdem in ihrem Feuilleton ab 1920 internationalistische Weltliteratur in Fortsetzungsromanen, u. a. mit Texten von Franz Jung, Jack London, Émile Zola und Sunao Tokunaga. Insofern diese Tageszeitung der KPD gegen Ende der Weimarer Republik eine Auflage im sechsstelligen Bereich hatte, Diskussionsbeiträge von Lesern und Leserinnen zu den Romanen in der Zeitung abgedruckt und die Publikation der Fortsetzungsromane im Vergleich zu anderen Feuilletonteilen selbst in politischen Krisenzeiten nicht eingestellt wurde,²⁶ kann davon ausgegangen werden, dass es durchaus ein politisiertes Lesepublikum für die hier rekonstruierte Art von Weltliteratur gab, das über die im Mittelpunkt dieser Studie stehenden, zahlenmäßig eher kleinen weltliterarischen Gegenöffentlichkeiten hinausging, die sich um literarische Organisationen und Medien wie die UBFA und Die Linkskurve formierten. Dieses breitere Lesepublikum schien sich vor allem durch die Rezeption der Tagespresse zu bilden, welcher in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik insgesamt eine „weltanschauliche Integrationsfunktion“²⁷ zukam, in dieser das am meisten rezipierte Printmedium war und im Vergleich zu Büchern zudem finanziell erschwinglicher war.²⁸ Auch die für meine Studie zentralen Jung und Seghers trugen literarische Texte zur Tagespresse bei. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass einem „vergleichsweise imposanten Angebot“ an belletristischen und anderen Druckerzeugnissen der kommunistischen Bewegung, das jedoch freilich auch so nur etwa ein Hundertstel des Angebots bür-
Vgl. Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Neuwied/Berlin 1971, S. 44. Vgl. Michaela Menger: Der literarische Kampf um den Arbeiter. Populäre Schemata und politische Agitation im Roman der späten Weimarer Republik. Berlin/Boston 2016, S. 122 f. u. S. 132– 138. Van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik, S. 114. Vgl. Manfred Brauneck: Revolutionäre Presse und Feuilleton. „Die Rote Fahne“ – das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands (1918 – 1933). In: Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton. 1918 – 1933. Hg. v. Manfred Brauneck. München 1973, S. 33 – 35. Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung. Mit einem Vorwort von Wilfried Loth. Darmstadt 1996, S. 213. Zum Status der Tagespresse vgl. Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik, S. 216 f; Menger: Der literarische Kampf um den Arbeiter, S. 116 – 120.
1.1 Internationalistische Weltliteratur
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gerlicher Verlage darstellte, wie Die Linkskurve für das Jahr 1930 vorrechnete,²⁹ „an der Basis eine eher mäßige Nachfrage gegenüber[stand]“.³⁰ Von einer massenhaft internationalistische Weltliteratur lesenden Arbeiterbewegung ist sicherlich nicht auszugehen.³¹ Die Gründe hierfür sind in lebenszeitökonomischen, finanziellen und habituellen Ursachen sowie in den innerhalb des Proletariats – gerade auch nach Alter und Geschlecht – sehr ausdifferenzierten Lektürevorlieben zu suchen, die zu einem nicht geringen Teil, aber eben keinesfalls in erster Linie in sozialkritischer Belletristik und politischen Publikationen bestanden.³² Der massenhaften Verbreitung internationalistischer Weltliteratur waren zudem durch äußerliche Faktoren sowie durch eigene publizistische Strategien Grenzen gesetzt. Dies betrifft einerseits die Tatsache, dass linke Verlage während der Weimarer Republik „über weite Strecken unter Bedingungen der Illegalität“³³ operieren mussten und der Gefahr der Zensur, Beschlagnahmung und Zerstörung ihrer Druckerzeugnisse ausgesetzt waren. Schränkten diese Bedingungen die Verbreitung internationalistischer Weltliteratur bereits ein, publizierte die linksradikale und kommunistische Bewegung außerdem insbesondere für ein eng begrenztes, stark politisiertes Publikum. Von wichtigen Ausnahmen wie dem Malik-Verlag oder dem Münzenberg-Konzern abgesehen, die bewusst ein breiteres Publikum adressierten, dieses durchaus auch erreichten und sich dabei im Falle des Malik-Verlags auch des bürgerlichen Buchhandels bedienten,³⁴ „agierten [die meisten linksradikalen und kommunistischen; C.S.] Verlage außerhalb des organisierten Buchhandels“.³⁵ Verlage wie der Verlag für Literatur und Politik, der zur Kommunistischen Internationale gehörte,³⁶ vertrieben ihre Publikationen bei politischen Veranstaltungen sowie durch eigene Buchhandlungen, Betriebszellen Vgl. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne: 1890 – 1933. Stuttgart/Weimar 1998, S. 257 f. Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik, S. 216. Vgl. auch Gerhard Friedrich: Proletarische Literatur und politische Organisation. Die Literaturpolitik der KPD in der Weimarer Republik und die proletarisch-revolutionäre Literatur. Frankfurt a. M./Bern 1981, S. 201 f. Vgl. Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik, S. 213 – 219; Menger: Der literarische Kampf um den Arbeiter, S. 120 – 132; Ute Schneider: Buchkäufer und Leserschaft. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Die Weimarer Republik 1918 – 1933. Teil 1. Im Auftrage der historischen Kommission hg. v. Ernst Fischer und Stephen Füssel. München 2007, S. 168 f. u. S. 173 – 175. Siegfried Lokatis: Weltanschauungsverlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Die Weimarer Republik 1918 – 1933. Teil 2. Im Auftrage der historischen Kommission hg.v. Ernst Fischer und Stephen Füssel. Berlin/Boston 2012, S. 113. Vgl. Friedrich: Proletarische Literatur und politische Organisation, S. 206 f. Lokatis: Weltanschauungsverlage, S. 112. Für einen Überblick über das kommunistische Verlagswesen vgl. Lokatis: Weltanschauungsverlage, S. 112– 124.
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1 Einleitung
oder Abonnements und mieden den bürgerlichen Buchhandel mit seinem Massenpublikum und seiner marktförmigen Zirkulation von Büchern und Zeitschriften bewusst.³⁷ Das Ziel dieser publizistischen Unternehmungen war oftmals nicht in erster Linie, neue Leserinnen und Leser aus anderen sozialen, politischen oder kulturellen Milieus zu gewinnen, sondern es ging erst einmal darum, der eigenen Gegenöffentlichkeit Texte zugänglich zu machen, die zu Selbstverständigungsprozessen beitragen sollten.³⁸ War diese gegenöffentliche Infrastruktur innerhalb des deutschen Nationalstaats gegenüber anderen Öffentlichkeiten teilweise „hermetisch[ ]“³⁹ abgeschlossen, war sie zugleich Teil eines transnationalen Netzwerkes literarischer Gegenöffentlichkeiten. Durch oftmals von der Sowjetunion ausgehende Initiativen ideologisch, finanziell und organisatorisch angestoßen, formierte sich dieses Netzwerk in kapitalistischen Staaten vor allem seit Mitte der 1920er Jahre. Es umfasste Zeitschriften, Verlage und literaturpolitische Organisationen, die denen in der Weimarer Republik ideologisch und organisatorisch ähnelten – so zum Beispiel der John Reed Club und die Zeitschrift New Masses in den USA – und deren Verbindungen durch internationale Organisationen wie den IVRS verstetigt oder erst geschaffen wurden.⁴⁰ Internationalistische Weltliteratur konstituierte sich in der Weimarer Republik transnational also als gegenöffentliches Projekt, in dem es in erster Linie um den Aufbau einer eigenen Infrastruktur und einer inhaltlichen Selbstverständigung ging. Eine massenhafte Verbreitung im Sinne einer quantitativen Definition von Weltliteratur spielte deshalb praktisch – von den genannten Ausnahmen abgesehen – eine weniger wichtige Rolle, obgleich eine global massenhaft wachsende Bewegung immer wieder suggeriert und behauptet wurde. In seiner hier rekonstruierten Form war das Projekt internationalistischer Weltliteratur zudem gerade in Deutschland ein kurzlebiges. In der Weimarer Republik positionierte sich internationalistische Weltliteratur zugleich gegenöffentlich zum deutschen Nationalstaat und staatsaffirmativ zur Sowjetunion, deren kulturpolitische Organisationen für die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur wichtig waren; sie entstand durch transnationale Vernetzungen, war aber zugleich undenkbar ohne ihre Verankerung in sowohl nationalen als auch lokalen kommunistischen Subkulturen; sie war durch eine
Vgl. Friedrich: Proletarische Literatur und politische Organisation, S. 202 f; Brauneck: Revolutionäre Presse und Feuilleton, S. 37; Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik, S. 157– 165. Vgl. Brauneck: Revolutionäre Presse und Feuilleton, S. 30; Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik, S. 215 f. Friedrich: Proletarische Literatur und politische Organisation, S. 202. Für einen kurzen Überblick vgl. Djagalov: The Red Apostles, S. 400 – 406.
1.1 Internationalistische Weltliteratur
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ästhetische Experimentalität und teilweise weltanschauliche Offenheit charakterisiert, die jenseits von Politiken und Poetiken der Klassendifferenz auf kulturelle Hybridisierungen und Austauschprozesse über Klassengrenzen hinweg verwiesen; und oftmals war sie geprägt von nicht-normativen Imaginationen des transnationalen Proletariats, welche die „Klassen-Figuren“⁴¹ destabilisierten, die in der Kommunistischen Internationale synonym für das revolutionäre Proletariat standen. Ab 1933 kam dieses erste Projekt einer internationalistischen Weltliteratur, wie es sich transnational seit der Oktoberrevolution entfaltet hatte, jedoch in Deutschland zu einem jähen Ende. Der nationalsozialistische Staat zerstörte das aktivistische Milieu der Arbeiterbewegung, aus dem diese Weltliteratur in der Weimarer Republik entstanden war, während viele bekannte und wichtige Aktivisten und Aktivistinnen fortan eine Existenz als Exilierte führen mussten. Zugleich war es bereits seit der späten Weimarer Republik zu einer weltanschaulichen und kulturpolitischen Schließung des Feldes der internationalistischen Weltliteratur gekommen. Diese fand in der Verkündung der Doktrin des sozialistischen Realismus im Jahre 1934 einen ideologischen und institutionellen Höhepunkt und richtete sich gerade auch gegen die von den historischen Avantgarden geprägte Strömung internationalistischer Weltliteratur, die im Mittelpunkt meiner Monografie steht.⁴² Obgleich die Idee der Weltliteratur auch während der Volksfrontära in der linken Literaturpolitik wichtig blieb,⁴³ geschah dies nun unter veränderten Vorzeichen. Ihr Referenzpunkt war nicht mehr vor allem oder gar ausschließlich eine vermeintlich transnational geteilte proletarische Erfahrung, die die Grundlage für die durch den Proletkult katalysierte Weltliteratur gewesen war. Stattdessen bezog sie sich nun auch affirmativ auf nationale und bürgerliche Traditionen, die ganz im Sinne des klassen- und parteienübergreifenden antifaschistischen Bündnisses der Volksfront – und im Einklang mit der Doktrin des sozialistischen Realismus – gegen den Faschismus verteidigt werden sollten. Als die Idee einer mit dem Sozialismus verbundenen Weltliteratur schließlich in der DDR wiederauflebte, war Weltliteratur nicht mehr Teil einer gegenöffentlichen Literaturbewegung. Sie gehörte nun zu einem Staat, der, wie Peter Goßens und Monika Schmitz-Emans schreiben, „das Programm einer zweiten ‚deutschen Nationalliteratur‘ propagiert[e], welche sich an den Vorgaben einer ‚Internationale des sozialistischen Realismus‘ orientierten soll-
Blome/Eiden-Offe/Weinberg: Klassen-Bildung, S. 166. Zum sozialistischen Realismus vgl. Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1976, S. 597– 609. Vgl. Clark: Moscow, the Fourth Rome, S. 178.
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1 Einleitung
te“.⁴⁴ Aus all diesen Gründen endete mit der Weimarer Republik die hier rekonstruierte erste Form einer internationalistischen Weltliteratur in Deutschland und so begrenzt das Jahr 1933 auch den Untersuchungszeitraum dieser Studie.
1.2 Weltliteratur und Gegenöffentlichkeiten Die internationalistische Weltliteratur der Zwischenkriegszeit lässt sich als ein literaturpolitisches Projekt bestimmen, das versuchte, eine transnationale und transkulturelle Verbreitung von literarischen Texten im Zusammenhang mit einer politischen Massenbewegung zu erzeugen. Internationalistische Weltliteratur basierte auf einer weder marktförmig noch durch staatliche Bibliotheken oder Universitäten bestimmten Zirkulation von Literatur.⁴⁵ Als weitestgehend heteronome Literaturbewegung, die an der Perspektive einer Weltrevolution ausgerichtet war und zu dieser durch die Schaffung von weltliterarischen Öffentlichkeiten beitragen sollte, hatte sie – wie der politische Internationalismus auch – eine ihrer Grundbedingungen in der Annahme einer transnational geteilten proletarischen Erfahrung. Internationalistische Weltliteratur beschrieb sich deshalb in der Regel nicht in erster Linie mit Bezug auf nationalliterarische Traditionen oder eine Nationalsprache, sondern konstruierte eine transnationale proletarische und revolutionäre Literaturgeschichte. Diese wurde im Gegensatz zu einer bürgerlichen Tradition positioniert, wofür insbesondere der Gegensatz von Kollektivismus und Individualismus strukturbildend war. Wie sich für Weltliteratur seit ihren goetheschen Anfängen allgemein behaupten lässt, war auch die internationalistische Weltliteratur eine zutiefst normative Angelegenheit.⁴⁶ Sie entwickelte eigene Konsekrationskriterien für gelungene Literatur und vorbildliche Schriftsteller, also Kriterien für eine – mit anderen Worten – „qualitative“ Definition von Weltliteratur.⁴⁷ In diesem Prozess liefen Fragen literarischer Form und Thematik, politischer Positionierung, sozialer Position und gesellschaftspo-
Monika Schmitz-Emans/Peter Goßens: Weltliteratur in der DDR – zur Einführung. In: Weltliteratur in der DDR. Debatten, Rezeption, Kulturpolitik, S. 9. Zum internationalen Buchmarkt vgl. Franco Moretti: Evolution, World-Systems, Weltliteratur. In: Franco Moretti: Distant Reading. London 2013, S. 121– 135; zu Bibliotheken vgl. B.Venkat Mani: Recoding World Literature. Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact with Books. New York 2017. Vgl. Pheng Cheah: What is a World? On Postcolonial Literature as World Literature. Durham/ London 2016. Zum „qualitativen“ Verständnis von Weltliteratur vgl. Lamping: Die Idee der Weltliteratur, S. 106.
1.2 Weltliteratur und Gegenöffentlichkeiten
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litischen Engagements zusammen. Durch Essays, kulturpolitische Direktiven, Lektüreempfehlungen und Buchreihen kam es dabei auch zu Versuchen, einen Kanon internationalistischer Weltliteratur zu konstruieren. Was als internationalistische Weltliteratur galt, folgte einem weiten Literaturbegriff, der sich nicht auf kanonisierte Gattungen belletristischer Literatur beschränkte. Zu den Genres internationalistischer Weltliteratur gehörten neben Romanen, Dramen, Erzählungen und Gedichten auch Lieder, Reportagen, Flugschriften, Broschüren, theoretische, historische und wissenschaftliche Texte, journalistische Berichte, Zeitungen und Zeitschriften, Wandzeitungen, autobiografische Narrative, Plakate und Briefe sowie die dieser Literaturbewegung eigene Gattung der Arbeiterkorrespondenz. Die transnationale Zirkulation all dieser Textsorten in den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung war in vielen Fällen eine Ermöglichungsbedingung für solche Texte selbst. Zugleich trugen diese Texte nicht selten zur Verbreitung anderer Werke internationalistischer Weltliteratur bei, indem sie diese zitierten, auf sie intertextuell anspielten oder ihre Zirkulation dokumentieren. Die Verbreitung internationalistischer Weltliteratur wurde also nicht nur durch Zeitschriften, Buchgemeinschaften und Verlage betrieben, sondern auch durch die literarischen Texte selbst. Schließlich war internationalistische Weltliteratur eine hybride Literatur – dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund der ihr eigenen Poetik und Politik der Klassendifferenz. Sie adaptierte und transformierte nicht nur die der bürgerlichen Kultur zugehörige Idee der Weltliteratur selbst,⁴⁸ sondern auch literarische Verfahren wie die Montage, die den historischen Avantgarden entstammten. Wie die Literatur der Arbeiterbewegung im Allgemeinen, ist die hier rekonstruierte Tradition einer internationalistischen Weltliteratur kaum in der gegenwärtig boomenden Forschungsliteratur zu Weltliteratur und literarischer Globalisierung zu finden.⁴⁹ Die Gründe hierfür sind vielfältig. Erstens richten sich Weltliteraturstudien oftmals an kanonischen Werken aus.⁵⁰ Dieser Kanon wird zwar zunehmend durch die Klassiker nicht-westlicher Literaturen erweitert, eine Ausweitung auf subalterne Literaturen innerhalb westlicher und nicht-westlicher
Vgl. Mufti: Forget English, S. 36. Ich spreche in dieser Studie von Literatur der Arbeiterbewegung und nicht von Arbeiterliteratur, da es mir um eine literarische Tradition geht, die sich nicht ausschließlich durch eine soziale Position – eine Klassenzugehörigkeit – bestimmen lässt. War ein Bezug auf Klassenzugehörigkeit wichtig für diese Literatur, war sie ebenso durch politische Positionierung charakterisiert. Viele Aktivisten und Aktivistinnen dieser Literatur entstammten nicht dem Proletariat. Zu Weltliteratur und Kanonisierung vgl. Mads Rosendahl Thomsen: Mapping World Literature. International Canonization and Transnational Literatures. London 2008.
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1 Einleitung
Räume findet allerdings kaum statt.⁵¹ Dies betrifft in der Regel – abgesehen etwa von Bertolt Brecht, der in vielen Weltliteraturanthologien zu finden ist – auch die Literatur der Arbeiterbewegung, weil sie oftmals als ästhetisch minderwertig markiert wird.⁵² Es kommt hinzu, dass die analytische Kategorie der Klasse, die etwa Identitätsformationen, soziale und kulturelle Stratifikationen sowie Klassenkulturen beschreiben kann, in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher bestenfalls ein marginales Interesse ausgelöst hat, was besonders im Vergleich mit den mittlerweile zahlreichen Arbeiten zu Geschlecht, Ethnizität oder race auffällt.⁵³ Dass die Literatur einer politischen Bewegung, die sich und ihre künstlerischen Artikulationen gerade auf die Idee und die Wirklichkeit von Klasse stützt, in Studien zu Weltliteratur und literarischer Globalisierung weitestgehend unerwähnt bleibt, scheint deshalb nur folgerichtig zu sein.⁵⁴ Die einzige historische Phase des Zusammenspiels von sozialistischem Internationalismus und Weltliteratur, die in der germanistischen Forschung Beachtung gefunden hat, ist die Zeit der DDR, deren Kulturpolitik und literaturwissenschaftliche Forschung selbst ein größeres Interesse an Weltliteratur hatte.⁵⁵ Schließlich liegt ein weiterer Grund für das Fehlen von Studien zum Verhältnis von Arbeiterbewegungsliteratur, Globalisierung und Weltliteratur sicherlich darin begründet, dass die bisherige Forschung zur Literatur der Arbeiterbewegung – zum Beispiel in Westdeutschland im Zuge der Studentenbewegung der 1960er/ 70er Jahre – durch eine „rather narrow national perspective“⁵⁶ geprägt war. Dies gilt abgesehen von wenigen aktuellen Ausnahmen, in deren Mittelpunkten je-
Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge/London 2012, S. 464; Berthold Schoene: Weltliteratur und kosmopolitische Literatur. In: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Hg. v. Gabriele Rippl u. Simone Winko. Stuttgart/Weimar 2013, S. 360. Vgl. ähnlich z. B. Julia Hell/Loren Kruger/Katie Trumpener: Dossier. Socialist Realism and East German Modernism–Another Historians’ Debate. In: Rethinking Marxism 7 (1994), H. 3, S. 37– 39. Diese Diagnose teilen u. a. Blome/Eiden-Offe/Weinberg: Klassen-Bildung; Hake: The Proletarian Dream, S. 348; John Lennon/Magnus Nilsson: Introduction. In: Working-Class Literature(s). Historical and International Perspectives. Hg. v. John Lennon u. Magnus Nilsson. Stockholm 2017, S. xi. Die Nichterwähnung der internationalistischen Weltliteratur ließe sich symptomatisch beispielsweise an zwei aktuellen Bänden zu Weltliteratur und Globalisierung zeigen, die sich auf deutschsprachige Literatur in transnationalen, transkulturellen und multilingualen Kontexten konzentrieren: Thomas O. Beebee (Hg.): German Literature as World Literature. New York/London 2014; Sandra Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München 2017. Vgl. Goßens/Schmitz-Emans: Weltliteratur in der DDR. Debatten, Rezeption, Kulturpolitik; Mani: Recoding World Literature, S. 179 – 203. Lennon/Nilsson: Introduction, S. xii.
1.2 Weltliteratur und Gegenöffentlichkeiten
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doch keine deutschsprachige Literatur steht.⁵⁷ Meine Studie trägt deshalb zur Schließung mehrerer Forschungslücken bei. Sie stellt die Literatur der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik in einen ausdrücklich transnationalen Kontext, rekonstruiert die Geschichte einer internationalistischen Weltliteratur im deutschsprachigen Raum für die Zeit vor der DDR erstmals ausführlich und systematisch und trägt außerdem zu einer noch weitestgehend ausstehenden Thematisierung des Verhältnisses von sozio-ökonomischer Stratifikation bzw. Klasse, Weltliteratur und literarischer Globalisierung bei.⁵⁸ Meine Arbeit möchte darüber hinaus zu einer Verschiebung des Blicks auf die Geschichte der (Idee der) Weltliteratur beitragen und das Nachdenken über Weltliteratur stärker an der Frage kultureller und sozialer Herrschaft ausrichten, als dies bisher geschehen ist. Ohne Frage muss, wie Peter Goßens treffend formuliert, der „Begriff Weltliteratur [als] eine ideologisch von Beginn an heterogen belegte […] Formel“⁵⁹ gesehen werden. Trotz dieser Heterogenität ist der Begriff jedoch – gerade auch aus heutiger Sicht – in erster Linie fortschrittlich und positiv besetzt. Er legt, wie Goßens ebenfalls feststellt, „einen Wahrnehmungsgestus [nahe], mit der [sic!] sich das Eigene durch den Bezug auf einen globalen Möglichkeitsraum von den Forderungen eines kollektiven Nationalismus abzugrenzen versucht“.⁶⁰ Eine solche kosmopolitische Aura ist für die Selbstbeschreibung der Weltliteratur diskurbestimmend – und zwar von Goethe bis David Damrosch.⁶¹ Wird Kritik an der Idee und Praxis der Weltliteratur artikuliert, ist diese in der Regel nicht genealogisch orientiert und betrifft kaum die kulturellen und sozialen Entstehungsbedingungen von Weltliteratur. Eher weisen Kritiker*innen – und dies plausibel – zum Beispiel darauf hin, dass Weltliteratur wegen der unbestreitbaren Macht- bzw. Einflussgefälle zwischen unterschiedlichen Sprachen
Zu diesen Ausnahmen gehören Denning: Culture in the Age of Three Worlds, S. 51– 72; Sonali Perera: No Country. Working-Class Writing in the Age of Globalization. New York 2014; Djagalov: The Red Apostles; Lennon/Nilsson: Working-Class Literature(s). Dieser Einsatz meiner Arbeit setzt ein Globalisierungsverständnis voraus, das diese nicht auf ihre aktuelle Phase seit ungefähr den 1990er Jahren beschränkt. Zu einem historischen Verständnis von Globalisierung vgl. Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München 2003. Aus literatur-, kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive vgl. hierzu z. B. auch Christian Moser/Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen 2014. Peter Goßens: Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 2011, S. 5. Goßens: Weltliteratur, S. 5. Goethes fragmentarische Aussagen zu Weltliteratur finden sich zusammengetragen bei Fritz Strich: Goethe und die Weltliteratur. Bern 1946, S. 397– 400. Zu Damrosch vgl. David Damrosch: What is World Literature? Princeton/Oxford 2003, S. 297– 299.
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1 Einleitung
und Nationalliteraturen nicht inklusiv genug sei und dass die Idee der Weltliteratur durch die Art ihrer Institutionalisierung vor allem in der Universität und durch die Dominanz der englischen Sprache auf dem internationalen Buchmarkt zu einer homogenisierenden Globalisierung beitrage, die die kulturelle und sprachliche Heterogenität des Planeten und seiner Literaturen reduziere.⁶² Weltliteratur war jedoch von Beginn an Teil eines Herrschaftsprojektes und nahm eben nicht erst im Laufe ihrer historischen Entwicklung Züge hiervon an. Wie Aamir R. Mufti und B. Venkat Mani überzeugend gezeigt haben, ist die Entstehung des Weltliteraturdiskures untrennbar mit der Geschichte des Kolonialismus und Orientalismus verbunden; „a genealogy of world literature leads to Orientalism“.⁶³ Dies ist so, weil Weltliteratur materiell erst durch eine „colonial bibliomigrancy“⁶⁴ möglich wurde, die große Textmassen infolge des englischen und französischen Kolonialismus aus Asien und Afrika nach Europa bewegte, wo sie zur Grundlage einer orientalistischen Philologie wurden.⁶⁵ Weltliteratur hat also „its origins in the structures of colonial power and in particular the revolution of knowledge practices and humanistic culture more broadly initiated by Orientalist philology in the late eighteenth and early nineteenth centuries, which developed in varying degrees of proximity to colonial processes“.⁶⁶ Diese neuen Wissenspraktiken konzipierten die Welt als „an assemblage of civilizational entities, each in possession of its own textual and/or expressive traditions“,⁶⁷ für die zugleich unterschiedliche Wertigkeiten festgelegt wurden.⁶⁸ Gleichzeitig erzeugte Weltliteratur die Welt – parallel zur sich entwickelnden kapitalistischen Ökonomie – als Raum von Äquivalenz- und Austauschbeziehungen, die verschiedenste Schreibweisen als Literatur kategorisier- und bewertbar machen sollten.⁶⁹ Als Artikulationsform des Orientalismus war Weltliteratur deshalb Teil der „cultural logic of the bourgeois order in its outward or nondomestic orientation“.⁷⁰
Für eine vieldiskutierte Kritik der Institutionalisierung von Weltliteratur vgl. Emily S. Apter. Against World Literature. On the Politics of Untranslatability. London/New York 2013. Mufti: Forget English, S. 19. Mani: Recoding World Literature, S. 52. Vgl. Mani: Recoding World Literature, S. 49 – 89. Mufti: Forget English, S. 19. Mufti: Forget English, S. 20. Vgl. auch Mani: Recoding World Literature, S. 88. Mufti: Forget English, S. 10 f.: „Throughout its history, world literature […] functioned as a plane of equivalence, a set of categorical grids and networks that seek, first of all, to render legible as literature a vast and heterogeneous range of practices of writing from across the world and across millennia, so as to be able, second, to make them available for comparison, classification, and evaluation.“ Hervorhebung im Original. Mufti: Forget English, S. 22.
1.2 Weltliteratur und Gegenöffentlichkeiten
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Kann Weltliteratur also als Teil einer eurozentrischen und bürgerlich-kapitalistischen Neuordnung der Welt gesehen werden, wurde Weltliteratur im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in westlichen Gesellschaften gleichzeitig „zu einem verbreiteten Gut, das im Dienst einer bürgerlichen Identitätsbildung stand“.⁷¹ Ausgeschlossen von der Teilhabe an diesem „Gut“ waren freilich die Proletarierinnen und Proletarier der Staaten des Westens, welche beginnend im neunzehnten Jahrhundert vom Bürgertum als das Andere im Eigenen konstruiert wurden und die bis in die Weimarer Republik einem diskriminierenden Diskurs unterworfen blieben, der sie – nicht ungleich den Kolonisierten – jenseits politischer und kultureller Intelligibilität verortete.⁷² Proletarische Literaturpraktiken fanden dann auch selbstverständlich keinen Eingang in die Weltliteratur. Vor diesem Hintergrund kann Weltliteratur trotz des Kosmopolitismus ihrer diskursiven Selbstbeschreibung und kulturpolitischen Positionierung als bürgerliche – kulturelle wie epistemische – Herrschaftspraxis verstanden werden, die auf das Andere des Bürgerlichen im Äußeren wie im Inneren zielte bzw. dieses erst mitkonstruierte. Die Erzeugung einer alternativen Weltliteratur durch die Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit macht den Ausschluss des Proletarischen und der Proletarier und Proletarierinnen aus der Weltliteratur deutlich. Sie wies die universale Gültigkeit der bürgerlichen Weltliteratur gewissermaßen zurück, indem sie die globale Moderne aus proletarischer und kollektiver Perspektive literarisch imaginierte und solidarische Gemeinschaften zu etablieren versuchte. Dass sie dabei – gerade durch ihre Unterwerfung unter die Interessen des sowjetischen Staates und gelegentlich auch durch epistemisch gewaltförmige Versuche der Ordnung kultureller Praktiken in proletarische und bürgerliche – selbst Züge eines Herrschaftsprojekts annahm, muss keineswegs verschwiegen werden. Es ist vielmehr ein wichtiges Argument dafür, Diskurse und Praktiken der Weltliteratur weniger vor allem positiv – und vielleicht etwas optimistisch – im Sinne von „Verständigungs-, Demokratisierungs- und Pluralisierungspotential[en]“⁷³ zu verstehen und sie stattdessen gerade auch als Teil von sich wandelnden kulturellen Machtverhältnissen zu analysieren. Meine Studie schließt gerade in diesem Zusammenhang an eine methodische Wende in den Weltliteraturstudien an, die weniger an Weltliteratur in vor allem ideen- oder begriffsgeschichtlicher Perspektive interessiert ist,⁷⁴ sondern sich
Goßens: Weltliteratur, S. 11. Vgl. z. B. Stefan Jonsson: Crowds and Democracy. The Idea and Image of the Masses from Revolution to Fascism. New York 2013, S. 25. Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 17. Für einen begriffsgeschichtlichen Ansatz vgl. Goßens: Weltliteratur, S. 6 f.
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verstärkt mit den Medien sowie kulturellen und sozialen Praktiken wie Institutionen beschäftigt, durch die weltliterarische Öffentlichkeiten erzeugt werden.⁷⁵ Mit anderen Worten: Es geht in meiner Studie – und insbesondere in ihrem ersten Kapitel – darum, wie Vorstellungen von Weltliteratur in Distributions- und Kommunikationspraktiken sowie Zugehörigkeitsformen transformiert und durch Organisationen und Medien institutionalisiert werden, und es geht genauso darum, wie durch diese Medien, Praktiken und Institutionen selbst Vorstellungen davon hervorgebracht werden, was Weltliteratur sei. Im Gegensatz zu bestimmten makrosoziologischen Weltliteraturtheorien, die auf eine Thematisierung von individuellen und kollektiven Handlungen von Akteuren weitestgehend verzichten,⁷⁶ ist mein Vorgehen jedoch nicht nur strukturell, sondern auch praxeologisch orientiert und deshalb an Akteurshandlungen interessiert.⁷⁷ Auch deshalb steht der Begriff der weltliterarischen Öffentlichkeit, der kürzlich vor allem von B. Venkat Mani in die Debatte eingebracht worden ist,⁷⁸ im Mittelpunkt dieser Studie. Im Gegensatz zu Mani jedoch, bei dem es keine explizite Auseinandersetzung mit Öffentlichkeitstheorien gibt, dessen Studie sich insbesondere auf Bibliotheken konzentriert und vielleicht gerade deshalb auf weltliterarische Öffentlichkeiten, die sich durch ihre Nähe zu bestimmten nationalstaatlichen Projekten charakterisieren lassen,⁷⁹ entwickle ich im ersten Kapitel dieses Buches eine Theorie transnationaler literarischer Gegenöffentlichkeiten mit Rekurs auf Arbeiten von Nancy Fraser, Michael Warner sowie Oskar Negt und Alexander Kluge.⁸⁰ Dabei geht es mir in erster Linie darum, theoretische Werkzeuge zu entwickeln, mit denen sich die historisch spezifische Form der internationalistischen Weltliteratur der Zwischenkriegszeit erfassen lässt.
Vgl. Mani: Recoding World Literature; Eric Bulson: Little Magazine, World Form. New York 2017. Besonders die Arbeiten von Franco Moretti sind hier zu nennen, z. B. Franco Moretti: Conjectures on World Literature. In: New Left Review 1 (2000), S. 54– 68. Ich diskutiere Moretti wie auch Pascale Casanova ausführlich im ersten Kapitel dieser Arbeit. Vgl. ähnlich Rebecca Braun: Introduction: The Rise of the World Author from the Death of World Literature. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 51 (2015), H. 2, S. 82 f. u. S. 97. Vgl. Mani: Recoding World Literature. Vgl. auch Michael Allan: In the Shadow of World Literature. Sites of Reading in Colonial Egypt. Princeton/Oxford 2016, S. 18 f. Dies gilt insbesondere für das dritte und vierte Kapitel von Recoding World Literature. Vgl. Nancy Fraser: Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy. In: Social Text 25/26 (1990), S. 56 – 80; Nancy Fraser: Transnationalizing the Public Sphere. On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Post-Westphalian World. In: Theory, Culture & Society 24 (2007), H. 2, S. 7– 30; Michael Warner: Publics and Counterpublics. New York 2002; Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1972.
1.2 Weltliteratur und Gegenöffentlichkeiten
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Die transnationalen literarischen Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik dürfen nicht mit der Klasse des Proletariats gleichgesetzt werden, zu der sie freilich in enger Beziehung standen. Vielmehr entstanden die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur, indem ihre Akteure als Teile einer solchen Öffentlichkeit adressiert und Gemeinschaften internationalistischer Weltliteratur auf diese Weise performativ konstruiert wurden. Diese Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur rückten – durch ihre Organisationsformen, Diskurse und literarischen Texte – Kollektive als Handlungsakteure in den Vordergrund. Diese Gegenöffentlichkeiten können als transnational charakterisiert werden, weil sie sich aufgrund der Annahme einer global geteilten Klassenposition und politischen Positionierung – und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Nation – formierten; weil ihre alternativen Medien der aktivistischen Vernetzung und der Verbreitung von Literatur über nationale Grenzen hinweg dienten; und weil sie auf der Vorstellung einer internationalistischen Literatur basierten, deren Grundlagen keine Nationalsprache und kein nationales Kulturerbe waren, sondern die Idee, dass das transnationale Proletariat seine eigene Literatur schaffen könne. Als literarisch sind diese Gegenöffentlichkeiten zu bezeichnen, weil sie sich durch Diskussionen über Literarizitätskriterien, die Privilegierung bestimmter Gattungen, die Erstellung von Kanons, die Produktion und Distribution von literarischen Zeitschriften und Buchreihen sowie durch Buchgemeinschaften, Literaturfeste und Schriftstellerkongresse bildeten. Obgleich für die performative Selbstkonstruktion der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur in der Weimarer Republik eine Politik der Klassendifferenz grundlegend war, durch die sie sich gegen die bürgerliche Öffentlichkeit und eine bürgerliche Weltliteratur positionierten, können sie analytisch nicht einfach als Gegensatz zu bürgerlichen Öffentlichkeiten und bürgerlicher Weltliteratur verstanden werden. Den differenzpolitischen Selbstinszenierungen dieser Gegenöffentlichkeiten standen hybride ästhetische Formen und Interaktionen über Klassengrenzen hinweg gegenüber. Zudem wurden bestimmte literarische Genres wie etwa der Roman, Medien wie die Literaturzeitschrift und Organisationsformen wie die Buchgemeinschaft zum Zwecke der performativen Konstruktion „der kollektiven proletarischen Erfahrung“⁸¹ adaptiert und dadurch transformiert. Die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur waren das Resultat eines politisierten Klassengegensatzes und eines im zeitgenössischen Diskurs nicht thematisierten konfliktreichen Ineinander verschiedener Öffentlichkeiten und ihrer kulturellen
Negt/Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 310.
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1 Einleitung
Artikulationen; sie waren das Produkt einer – im doppelten Sinne des Wortes – geteilten Welt der Weltliteratur.⁸² Indem die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur ihre Akteure um Vorstellungen transnationaler Solidarität versammelten und sie in lokale und nationale Grenzen überschreitende, meist jedoch lediglich virtuelle und nicht auch körperliche Verhältnisse zueinander brachten, ermöglichten sie ihnen eine internationalistische „Weltbeziehung“. Mit diesem Begriff bezeichnet Hartmut Rosa „die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen“.⁸³ Weltbeziehungen sind „im Ganzen immer auch und in einem erheblichen Maße kollektive soziale Verhältnisse […]; sie bilden sich in Institutionen und Praktiken heraus und sind in den vorherrschenden Weisen des Seins, Denkens und Handelns im Sinne dispositiver Formationen tief verankert“.⁸⁴ Internationalistische Weltliteratur kann als Teil eines größeren politischen Projektes gesehen werden, Personen im Sinne einer internationalistischen Weltbeziehung zu subjektivieren, durch die ihnen ein neues Verhältnis zur globalen Moderne ermöglicht werden sollte. Dies geschah u. a. durch die spezifischen organisatorischen und medialen Praktiken der in diesem Buch diskutierten transnationalen literarischen Gegenöffentlichkeiten, durch die die Akteure der Arbeiterbewegung als Teile einer vorgestellten Gemeinschaft internationalistischer Weltliteratur adressiert wurden. Die Frage, wie internationalistische Weltbeziehungen durch Weltliteratur hergestellt werden können, beschäftigte dann auch das Nachdenken kommunistischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Franz Jung und Anna Seghers über ihre literarische Praxis und kann als eine wichtige Motivation der formalen Innovationen internationalistischer Weltliteratur begriffen werden.
1.3 Proletarische Welten Wenn die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur zwar nicht mit dem Proletariat gleichzusetzen sind, so entwarf diese historische Form der
Die Formulierung ‚geteilte Welt der Weltliteratur‘ spielt hier auf die Idee einer „geteilten Geschichte“ im Sinne von Sebastian Conrad und Shalini Randeria an: Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hg. v. Sebastian Conrad u. Shalini Randeria. Frankfurt a. M./New York 2002, S. 9 – 49. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M. 2016, S. 19. Rosa: Resonanz, S. 33 f.
1.3 Proletarische Welten
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Weltliteratur jedoch Welten „im Namen des Proletariats“.⁸⁵ Sie konstruierte proletarische Welten. Proletarische Welten sind nicht notwendig von Proletariern erzeugte Welten, aber dennoch solche, in deren Mittelpunkt Proletarier stehen. Sie rufen eine vielschichtige transnationale Moderne auf, die im kulturellen Archiv, das diese Studie untersucht, aus tatsächlich oder vorgeblich proletarischer Sicht literarisch perspektiviert wird.⁸⁶ Der im Plural stehende Begriff proletarische Welten suggeriert dabei ganz bewusst auch, dass in der internationalistischen Weltliteratur eine Vielzahl von verschiedenen Entwürfen proletarischer Welten zu finden ist, die nicht selten in Konflikt miteinander stehen, und dass es sich bei den in dieser Arbeit untersuchten proletarischen Welten um zeiträumliche Entwürfe handelt, die sich als global präsentieren, denn im Internationalismus der Arbeiterbewegung sind proletarische Welten immer auch weltumfassend in einem geografisch weiten Sinne. Zahlreiche Texte der internationalistischen Weltliteratur bringen deshalb die verschiedenen historischen Momente, geografischen Räume sowie kulturellen und sozialen Kontexte derjenigen, die als proletarisch dargestellt werden, in bestimmte raumzeitliche Relationen zueinander. Internationalistische Weltliteratur erzeugt, um es mit Michail M. Bachtin zu formulieren, Chronotopoi einer transnationalen proletarischen Moderne.⁸⁷ Werden proletarische Welten inner- und außerhalb des literarischen Textes durch die kulturellen und literarischen Praktiken der internationalistischen Weltliteratur entworfen, dann bedeutet dies, dass diese Welterzeugung eben gerade auch diejenigen als Figuren miterzeugt, die als proletarisch benannt werden – und die oftmals aufgrund einer in der Arbeiterbewegung dominanten maskulinen Imagination lediglich als Proletarier vorgestellt werden. Wegweisend für die Analyse proletarischer Welten ist deshalb die Feststellung Eva Blomes, Patrick Eiden-Offes und Manfred Weinbergs, „dass die Klassenfrage unausweichlich zu einer Frage der Poesis, der Herstellung, der Formgebung: der Bildung in einem (entgrenzt) ästhetischen Sinne führt“.⁸⁸ Die sich in den prole-
Die Formulierung „im Namen des Proletariats“ übernehme ich von Hake: The Proletarian Dream, S. 1. Wie Hake deutlich macht, sind solche Welten immer auch als „emotional communities“ (The Proletarian Dream, S. 1) zu verstehen, eine Dimension, die meine Studie nur gelegentlich berührt. Die Rede von der transnationalen proletarischen Moderne schließt an Ansätze an, die die Annahme einer homogenen und singularen Moderne hinterfragt haben und stattdessen von „multiplen“ und „alternativen“ Modernen sprechen. Vgl. u. a. Dilip Parameshwar Gaonkar: On Alternative Modernities. In: Public Culture 11 (1999), H. 1, S. 1– 18; Shmuel N. Eisenstadt: Multiple Modernities. In Daedalus 129 (2000), H. 1, S. 1– 29. Zum Begriff Chronotopos vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a. M. 2008. Blome/Eiden-Offe/Weinberg: Klassen-Bildung, S. 163.
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1 Einleitung
tarischen Welten der internationalistischen Weltliteratur artikulierenden und formierenden Figuren des Proletariats sowie das Klassenbewusstsein, von dem erstere in der Arbeiterbewegung als „Ergebnis eines sozialhistorischen Prozesses der Proletarisierung und des politischen Aktes einer Subjektivierung, einer politischen Identifizierung mit der eigenen Proletarisierung“⁸⁹ untrennbar sind, sind damit im Sinne Eiden-Offes imaginär. Sie sind Resultate von – in einem weiten Sinne – poetischen Praktiken: Imaginär wird das Klassenbewusstsein auch deshalb genannt, weil es sich in Bildern, Erzählungen und Mythen, in Sprechweisen, Vorstellungsmustern und Bildersprachen […] artikuliert. Klassenbewusstsein ist weder handgreiflich-real, noch ist es einfach fiktiv; es bewegt sich im Bereich kultureller Erfindungen – vom Gedicht bis zur Institution –, und deshalb ist auch die proletarische Klassenidentität imaginär, so wie das Proletariat als klassenbewusstes eine Erfindung ist.⁹⁰
Im Anschluss an Eiden-Offe sowie Blome und Weinberg untersucht meine Studie deshalb, wie das transnationale Proletariat in der internationalistischen Weltliteratur immer wieder erfunden bzw. poetisch erzeugt wurde. Dabei lege ich, wie ich im nächsten Abschnitt dieser Einleitung ausführen werde, einen besonderen Schwerpunkt auf die ästhetischen Verfahren und literarischen Gattungen, durch die proletarische Welten imaginiert wurden. Arbeitet Eiden-Offe in seiner Studie Die Poesie der Klasse für „[d]as Proletariat im Vormärz […] einen offenen, versammelnden, ‚multiversalen‘ Charakter“⁹¹ heraus, stellt er für den Nachmärz einen „Prozess der Schließung und (Selbst) Einschließung“ fest, durch den sich „[a]us dem ‚buntscheckigen Haufen‘ des Vormärz-Proletariats […] das immer fester gefügte Kollektiv einer national bestimmten, männlich-erwachsenen, weißen Arbeiterklasse [formiert]“.⁹² Beide Prozesse können laut Eiden-Offe in der Literatur „nachvollzogen“ werden und sind dort „sogar vorbereitet“ worden.⁹³ Ist dieser (literatur‐)historischen Beschreibung einerseits zuzustimmen,⁹⁴ muss sie anderseits für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ausdifferenziert werden. Eine der zentralen Thesen meiner Arbeit
Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Berlin 2017, S. 22. Hervorhebung im Original. Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 23 f. Hervorhebung im Original. Zu Klassenfiguren vgl. auch S. 38 f. Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 33. Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 35. Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 35. Eine ähnliche These findet sich bereits bei Klaus-Michael Bogdal: Zwischen Alltag und Utopie. Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts. Opladen 1991.
1.3 Proletarische Welten
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lautet in diesem Zusammenhang, dass der normativen (Selbst‐)Beschreibung der Arbeiterbewegung und ihrer Festlegung der Figur des Proletariats auf den industriellen, männlichen, urbanen, doppeltfreien Lohnarbeiter eine Tendenz in Teilen der internationalistischen Weltliteratur gegenüberstand, in der eine radikale Transnationalisierung von proletarischen Welten mit einer nicht-normativen Imagination des Proletarischen einherging. Diese Tendenz stand in der Zwischenkriegszeit zu zwei gegenläufigen Entwicklungen im Verhältnis, die sich vor allem seit Mitte der Weimarer Republik verstärkten. Einerseits wurde die in der Arbeiterbewegungsliteratur immer umstrittene Frage, was das revolutionäre Proletariat sei, im kommunistischen Teil der Bewegung mit zunehmend engeren Bestimmungen beantwortet. Diese Entwicklung zu immer normativeren Vorstellungen des Proletariats wurde so dominant, dass Kurt Kläber – einer der wichtigsten kommunistischen Literaturaktivisten der Weimarer Republik und Autor des internationalistischen, ein heterogenes Proletariat darstellenden Romans Passagiere der III. Klasse (1927)⁹⁵ – das Nachlassen seiner literarischen Produktion retrospektiv mit dieser Entwicklung begründete: […] ich konnte aus vielen Gründen nicht schreiben was ich wollte, oder nicht sagen was ich wollte, weil es überall von Doktrinen und Parteischranken eingeengt war […]. Der Arbeiter hatte in Doktrinen zu sprechen, und zu denken, die genauso weltfremd waren, wie das Bild, was man von ihm zu erfinden hatte. Ich glaube also auch, daß ich aus diesen Gründen weniger schrieb, oder nicht mehr schrieb […].⁹⁶
Gleichzeitig kam es – ebenfalls gerade im Kontext des einflussreichen BPRS, auf welchen Kläber hier anspielt – zu einer auch räumlichen Begrenzung der proletarischen Welten, die durch die Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Weimarer Republik repräsentiert werden sollten und die durchaus in Spannung zur internationalistischen Literaturpolitik des BPRS stand. 1931 schrieb zum Beispiel Johannes R. Becher programmatisch in Die Linkskurve: „Bei aller Solidarität mit den werktätigen Massen der ganzen Welt besteht unsere Aufgabe darin, deutsche Stoffgebiete zu bewältigen, die deutsche revolutionäre Wirklichkeit zu gestalten.“⁹⁷ Die zu dieser Zeit entstehende Buchreihe Der Rote EineMark-Roman, die vorbildlich für proletarisch-revolutionäres Schreiben sein sollte,
Vgl. Christoph Schaub: Internationalistische Weltliteratur: Die Buchgemeinschaft UniversumBücherei für Alle und Kurt Kläbers Passagiere der III. Klasse. In: IASL 41 (2016), H. 2, S. 230 – 237. Kurt Kläber: Autobiographische Aufzeichnung. Zitiert nach: Susanne Koppe: Kurt Kläber – Kurt Held. Biographie der Widersprüche? Aarau/Frankfurt a. M./Salzburg 1997, S. 32. Johannes R. Becher: Unsere Wendung. In: Die Linkskurve 3 (1931), H. 10, S. 7.
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1 Einleitung
lässt sich dann auch durch das Ineinander einer extrem engen Vorstellung des (revolutionären) Proletariats und einer radikal-lokalen Imagination von proletarischen Räumen charakterisieren, die die Handlungen oftmals auf proletarische Viertel wie Neukölln oder Wedding in Berlin beschränkte.⁹⁸ Eine transnationale proletarische Moderne sollte hier nicht erzeugt werden, obgleich die diese Romane charakterisierende lokale Beschränkung des Erzählten freilich als Teil des transnational verbreiteten tenement narrative gesehen werden muss.⁹⁹ Die proletarischen Welten eines heterogenen, nicht-normativen und transnationalen Proletariats, denen mein Buch anhand einer heterodoxen Strömung der internationalistischen Weltliteratur von Franz Jung bis Egon Erwin Kisch und Anna Seghers nachspürt, verhalten sich als eine Art kritisches Korrektiv bzw. neue Öffnung zu den abstrahierenden Repräsentationen von Arbeit und Proletariern, welche die internationalistische Arbeiterbewegung als Repräsentantin eines vermeintlich homogenen Proletariats historisch erst ermöglichten und welche in den normativen kommunistischen Imaginationen der Weimarer Republik eine Zuspitzung fanden.¹⁰⁰ Die proletarischen Welten, die meine Studie rekonstruiert, verknüpfen weit voneinander entfernte proletarische Räume miteinander: Jungs Joe Frank illustriert die Welt erstreckt sich von den U.S.A. über Finnland bis nach Deutschland, Seghers’ Die Gefährten reicht von Ungarn über die Sowjetunion nach China, Kischs Reportagensammlungen umfassen u. a. Nordafrika, Westeuropa, Zentralasien, China und die USA und die medialen Praktiken von Zeitschriften wie Die Linkskurve verbanden Länder wie Japan und die USA mit Deutschland. Dabei werden die von Michael Denning als charakteristisch für die proletarische Literatur der Zwischenkriegszeit bezeichneten Streikund Mietskasernennarrative aus lokalen und nationalen Kontexten gelöst und in einen transnationalen Kontext gestellt.¹⁰¹ Diese Welten sind von proletarischen Männern wie Frauen bevölkert, wobei gerade bei Jung und Seghers Frauen wichtige politische Akteurinnen sind; die normative Figur des männlichen, urbanen Industriearbeiters bleibt im Vergleich zu der Vielfalt der dargestellten proletarischen Lebens- und Arbeitsweisen oftmals eher marginal; und nicht umsonst fungiert der proletarische Abenteurer Jack London in den Essays Jungs
Vgl. Christoph Schaub: Verhinderte Selbsterforschung und Ethnographie des Urbanen in der Weimarer Republik. Karl Grünbergs „Brennende Ruhr“ und Klaus Neukrantz’ „Barrikaden am Wedding“. In: Weimarer Beiträge 62 (2016), H. 4, S. 561– 583. Zum tenement narrative vgl. Denning: Culture in the Age of Three Worlds, S. 66 f. Zum Zusammenhang von abstrahierender Repräsentation und proletarischem Internationalismus vgl. Michael Denning: Representing Global Labor. In: Social Text 25 (2007), H. 3, S. 125 – 131. Vgl. Denning: Culture in the Age of Three Worlds, S. 65 – 67.
1.3 Proletarische Welten
25
und in den Reportagen Kischs als eine Identifikationsfigur des transnationalen Proletariats und als ein vorbildlicher revolutionärer Schriftsteller. Während es im Verlaufe der Weimarer Republik zu einer Verstetigung der internationalistischen Weltliteratur durch an die Kommunistische Internationale und die KPD angebundene oder ihnen zumindest nahestehende Organisationen kam, zeichnen sich die hier analysierten proletarischen Welten – etwa im Gegensatz zu den Rote Eine-Mark-Romanen – dadurch aus, dass die zentristischen Organisationen der Arbeiterbewegung in ihnen kaum eine hervorgehobene Rolle spielen und stattdessen spontane Widerstände und temporäre Kollektive dominieren. Schließlich repräsentieren die hier analysierten proletarischen Welten keine homogene proletarische Moderne, sondern eher, wie im Anschluss an Ernst Bloch formuliert werden kann, proletarische „Multiversen“,¹⁰² die durch Ungleichzeitigkeiten, verschiedene Zughörigkeitsformen, vielfältige kulturelle Erfahrungen, den Unterschied zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen und ganz grundsätzlich durch Spannungen zwischen Ähnlichkeiten und Differenzen innerhalb des transnationalen Proletariats geprägt sind. Nimmt man die in dieser Studie untersuchten Weltentwürfe der internationalistischen Weltliteratur zusammen, tritt ein literarisches Wissen über eine transnationale proletarische Moderne hervor, das bereits in den 1920er und 1930er Jahren ein Wissen über das globale Proletariat antizipierte, das ausdrücklich erst durch die aktuelle Transnational Labour History formuliert werden sollte. Einen methodischen Nationalismus und Eurozentrismus problematisierend, stellt diese Form der Geschichtsschreibung die Universalität des marxistischen Modells des doppelt freien Lohnarbeiters in Frage und hebt stattdessen die transnationale Verschränkung verschiedenster Arbeits- und Lebensverhältnisse hervor, die in der kapitalistischen Moderne koexistieren.¹⁰³ Dabei präsentiert sich die internationalistische Weltliteratur manchmal ausdrücklich als Wissensvermittlerin und -erzeugerin: so zum Beispiel durch den zeitgenössischen Reportagediskurs und durch das in ihren literarischen Texten und kritischen Essays immer wieder diskutierte Problem, wie das Wissen über die und das Wissen der Proletarier an bestimmten Orten an andere Proletarier vermittelt werden kann. In diesem Zusammenhang treten Proletarier und Proletarierinnen dann auch selbst als Wissensproduzenten hervor und sind nicht mehr bloß Beobachtungsobjekte von meist männlichen und bürgerlichen Wissenschaftlern. Zugleich funktionieren die Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Neue, erweiterte Auflage. In: Ernst Bloch: Gesamtausgabe. Bd. 13. Frankfurt a. M. 1970, S. 146. Vgl. Marcel van der Linden: Transnational Labour History. Explorations. Aldershot/Burlington 2003; Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays toward a Global Labor History. Leiden/Boston 2008.
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Organisationen, Medien und literarischen Texte der internationalistischen Weltliteratur als Organe einer Wissensvermittlung und -verbreitung über nationale, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg und wurden als solche in den proletarischen Welten der hier analysierten literarischen Texte auch dargestellt. Das Wissen der internationalistischen Weltliteratur über die transnationale proletarische Moderne wird, wie im Anschluss an die Poetologie des Wissens formuliert werden kann, durch die Formen der literarischen Darstellung miterzeugt,¹⁰⁴ weshalb bestimmte ästhetische Verfahren wie die Montage und Gattungen wie die Reportage im Mittelpunkt dieser Studie stehen. Dass sich mein Buch gerade auf die Montage und die Reportage konzentriert, liegt auch darin begründet, dass es sich bei beiden um transnationale Verfahren bzw. Gattungen handelt und dass gerade die Konzentration auf eine kleine Form wie die Reportage ein Gegengewicht zu bisherigen Ansätzen darstellt, die die internationalistische Weltliteratur insbesondere mit dem proletarischen Roman identifizieren.¹⁰⁵
1.4 Literarische Moderne und Arbeiterbewegungsliteratur Die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Dimension der Literatur der Arbeiterbewegung ist wissenschaftsgeschichtlich u. a. durch zwei Gründe erschwert worden. Erstens lässt sich für die Cultural Studies, die sich noch am ehesten für die künstlerischen Artikulationen der Arbeiterbewegung interessieren, ein weitestgehendes Desinteresse an ästhetischen Problemen und ihrer Relation zu Fragen von politischer Subjektivierung und Kollektivbildung feststellen.¹⁰⁶ Zweitens war die Auseinandersetzung mit den formalen Eigenschaften der Literatur der Arbeiterbewegung durch eine bis in die DDR fortdauernde normästhetische Dichotomie von auf der einen Seite realistischen und auf der anderen Seite avantgardistischen bzw. modernistischen Schreibweisen charakterisiert. Diese Dichotomie lässt sich historisch auf die späte Phase der internationalistischen Weltliteratur in der Weimarer Republik und vor allem auf Georg Lukács zurückführen.¹⁰⁷ Letzterer hatte in den frühen 1930er Jahren in mehreren Beiträgen in Die Linkskurve gefordert, dass sich die Literatur der Arbeiterbewegung an den großen
Vgl. Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Die Literatur und die Wissenschaften. 1770 – 1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hg. v. Karl Richter, Jörg Schönert u. Michael Titzmann. Stuttgart 1997, S. 122 f. Vgl. Denning: Culture in the Age of Three Worlds, S. 51– 72; Djagalov: The Red Apostles. Vgl. hierzu Hake: The Proletarian Dream, S. 15 – 21. Vgl. hierzu Christoph Schaub: Aesthetics, Masses, Gender. Anna Seghers’s Revolt of the Fishermen of St. Barbara. In: New German Critique 124 (2015), S. 163 – 165.
1.4 Literarische Moderne und Arbeiterbewegungsliteratur
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realistischen Werken des neunzehnten Jahrhunderts orientieren solle. In diesem Zuge hatte er die durch die historischen Avantgarden und die Neue Sachlichkeit beeinflussten dokumentarischen Schreibweisen von Willi Bredel und Ernst Ottwalt abgelehnt und diese mit einer „fetischistisch[n] Auseinanderreißung der Wirklichkeit“ identifiziert.¹⁰⁸ Lukács’ Kritik bezeugte implizit Austauschbeziehungen zwischen der literarischen Produktion der Arbeiterbewegung und der literarischen Moderne, welche ein besonderes Interesse des vorliegenden Buches sind und welche außerdem proletkultische Konzeptionen einer kategorisch von der bürgerlichen verschiedenen proletarischen Literatur unterminieren.¹⁰⁹ Vor allem aber antizipierte seine Kritik Momente der Doktrin des sozialistischen Realismus, deren wissenschaftliche Institutionalisierung in der DDR die Arbeiterliteratur der Weimarer Republik retrospektiv oftmals als einen (teleologischen) Entwicklungsschritt zu einer voll entfalteten Literatur des sozialistischen Realismus konstruierte, von der alles avantgardistische und modernistische abgespalten wurde.¹¹⁰ Diese Dichotomie verdeckt eine hybride, politisch engagierte Ästhetik, die in der englischsprachigen germanistischen Debatte kürzlich als „proletarian modernism“ und „labor movement modernism“ bezeichnet worden ist.¹¹¹ Dieser li-
Georg Lukács: Reportage oder Gestaltung? Kritische Bemerkungen anläßlich eines Romans von Ottwalt. In: Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden. Bd. 2. Hg. v. Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 150 – 158, hier S. 153; und Georg Lukács: Über Willi Bredels Romane. In: Die Linkskurve 3 (1931), H. 11, S. 23 – 27. Solche Positionen finden sich in unterschiedlichen Varianten teilweise noch in der germanistischen Forschung Westdeutschlands zwischen den späten 1960er und den frühen 1980er Jahren, als es erstmalig eine intensive Auseinandersetzung mit der Literatur der Arbeiterbewegung gab. Vgl. z. B. Gerald Stieg/Bernd Witte: Abriß einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur. Stuttgart 1973, S. 12; Jürgen Bansemer: Nachwort. In: Ludwig Turek: Ein Prolet erzählt. Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters. Mit einem Nachwort von Jürgen Bansemer. Hamburg 1975, S. 239. Vgl. z. B. das Vorwort zum Band sowie darin Alfred Kleins Aufsatz „Zur Entwicklung der sozialistischen Literatur in Deutschland 1918 – 1933“. In: Literatur der Arbeiterklasse. Aufsätze über die Herausbildung der deutschen sozialistischen Literatur (1918 – 1933). Hg. v. Deutsche Akademie der Künste zu Berlin, Sektion Literatur und Sprachpflege, Abteilung Geschichte der sozialistischen Literatur. Berlin/Weimar 1971, S. 5 – 15 u. S. 17– 117. Vgl. Hake: The Proletarian Dream, S. 8; Christoph Schaub: Labor Movement Modernism. Proletarian Collectives between Kuhle Wampe and Working-class Performance Culture. In: Modernism/modernity 25 (2018), H. 2, S. 327– 348. Vgl. auch Schaub: Aesthetics, Masses, Gender. Denning spricht ähnlich von „subaltern modernism“ (Culture in the Age of Three Worlds, S. 67). Walter Fähnders diskutiert die Literatur der Arbeiterbewegung explizit im Kontext der literarischen Moderne, entwickelt aber kein Argument über ihre Beziehung; vgl. Avantgarde und Moderne, S. 247– 258.
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terarische Modernismus der Arbeiterbewegung,¹¹² der von Jung bis Seghers und Kisch reicht, zeichnet sich dadurch aus, dass er modernistische – insbesondere avantgardistische – Verfahren und Schreibweisen artikuliert und adaptiert, um eine kollektivistische Weltbeziehung zu erzeugen und die gesellschaftliche und kulturelle Moderne aus proletarischen Perspektiven darzustellen.¹¹³ Die Werke dieser literarischen Strömung sind durch einen – um dieses scheinbare Oxymoron zu bemühen – modernistischen Realismus charakterisiert. Sie verbinden modernistische Verfahren und die zutiefst modernistische Annahme – den „modernist impulse“¹¹⁴ –, dass diese Verfahren eine neue Wirklichkeit(serfahrung) erzeugen können, mit dem Versuch, eine bestimmte historische Wirklichkeit literarisch zu bezeugen, sowie mit der Annahme der Erkennbarkeit und literarischen Repräsentierbarkeit dieser Wirklichkeit, was ganz grundsätzlich zugleich dem Diskurs der Sprachkrise und dem die historischen Avantgarden charakterisierenden „assault on representation“¹¹⁵ zuwiderläuft. Die modernistischen Realismen Jungs, Seghersʼ und Kischs sind dabei selbstreflexiv, referentiell und konstruktivistisch. Sie reflektieren, wie sie zur außertextlichen Wirklichkeit in Beziehung stehen und wie sie diese durch den Akt der Repräsentation mitkonstruieren. Lässt sich die literarische Moderne, wie Sabina Becker und Helmuth Kiesel dargelegt haben, „nicht ausschließlich an eine spezifische Schreibweise und Ästhetik, sondern auch an eine Haltung der gesellschaftlichen Moderne gegenüber […] knüpfen“, die in einer „kategorische[n] und permanente[n] Hinterfragung von Modernisierungsprozessen“ besteht,¹¹⁶ dann ist die Literatur der Arbeiterbewegung gerade auch in diesem Sinne modern, da sie die der gesellschaftlichen Moderne eigenen Arbeits- und sozio-ökonomischen Herrschaftsverhältnisse hinterfragt sowie alternative Subjektivierungs- und Kollektivbildungs-
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Der englische Begriff modernism ist deutlich weiter als der deutsche Begriff Modernismus und umfasst tendenziell den gesamten Bereich dessen, was in der deutschsprachigen Debatte als literarische Moderne bezeichnet wird und dabei insbesondere auch die historischen Avantgarden. Ich benutze ‚Modernismus‘ und ‚modernistisch‘ bewusst mit der semantischen Breite des englischen Begriffs. Zur deutschsprachigen Debatte vgl. z. B. Sabina Becker/Helmuth Kiesel: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. v. Sabina Becker u. Helmuth Kiesel. Berlin/New York 2007, S. 9 – 35; und zur englischsprachigen Diskussion vgl. z. B. Douglas Mao/Rebecca L.Walkowitz: The New Modernist Studies. In: PMLA 123 (2008), H. 3, S. 737– 748. Diese These habe ich erstmals formuliert in Schaub: Aesthetics, Masses, Gender. Stephen Eric Bronner: Modernism at the Barricades. Aesthetics, Politics, Utopia. New York 2012, S. 6. Patrizia C. McBride: The Chatter of the Visible. Montage and Narrative in Weimar Germany. Ann Arbor 2016, S. 15. Becker/Kiesel: Literarische Moderne, S. 13.
1.4 Literarische Moderne und Arbeiterbewegungsliteratur
29
formen vorstellt – und letzteres gerade durch formale Innovationen leistet. Während die modernistische Literatur der Arbeiterbewegung mit den historischen Avantgarden das „Aufbrechen[ ] der autoreferentiellen Ausrichtung von Kunst und Literatur“¹¹⁷ teilt, welche etwa für Ästhetizismus und l’art pour l’art typisch waren, unterscheidet sie sich von den Avantgarden dadurch, dass sie eine heteronome Literaturbewegung darstellt, die sich an die von einer politischen Massenbewegung angestrebte soziale, kulturelle und politische Revolutionierung der Gesellschaft bindet. Die in dieser Studie untersuchten Montagetexte von Jung und Seghers sowie die Reportagensammlungen Kischs können einem „Avantgardismus, der die offene Form des Kunstwerkes […] favorisiert“,¹¹⁸ zugeordnet werden. Obwohl diese Werke Prosatexte sind, die teilweise auf narrativen Elementen basieren, sind sie in einem strengen Sinne, folgt man Albrecht Koschorke, in ihrer Gesamtheit nicht erzählerisch.¹¹⁹ Die für das Erzählen charakteristische Ereignisverknüpfung lässt sich bei ihnen lediglich für einzelne Episoden der Montagetexte sowie einzelne Reportagen der Sammlungen feststellen, nicht jedoch für die Montagetexte und Reportagensammlungen als Ganze. Diese Texte der internationalistischen Weltliteratur sind formal durch Brüche, Diskontinuität und Unabgeschlossenheit charakterisiert; sie sind offene Texte. Zum einen unterscheidet sie dies von der späteren Tradition des sozialistischen Realismus, dessen literarische Texte oftmals durch biografische Erzählungen organisiert waren.¹²⁰ Zum anderen haben diese formalen Eigenschaften sowohl Auswirkungen darauf, wie internationalistische Weltbeziehungen durch diese Texte hergestellt werden, als auch darauf, wie die transnationale proletarische Moderne literarisch dargestellt wird. Die narrative Unverknüpftheit der einzelnen textlichen Elemente erzeugt erstens ganz grundsätzlich eine interpretative Offenheit, die die Lesenden zu einer selbstständigen Kombination der bereitgestellten Texteinheiten auffordert und sie dadurch ausdrücklich an einer rezeptionsästhetischen Welterzeugung beteiligt. Die internationalistische Weltbeziehung entsteht somit – wie es zum Beispiel Jung immer wieder metafiktional expliziert – durch die Art und Weise, wie die Lesenden mit den literarischen Texten interagieren bzw. wie sie sich durch die affektive Bindung an diese und die reflexive Auseinandersetzung mit ihnen als Teil einer transnationalen Gemeinschaft vorstellen können. Dieses interaktive Verhältnis von Lesenden und Text kann in Spannung zu den hierarchisch kommu Becker/Kiesel: Literarische Moderne, S. 15. Becker/Kiesel: Literarische Moderne, S. 25. Vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012, S. 61– 66. Vgl. z. B. Clark: Moscow, the Fourth Rome, S. 79 f. u. S. 104.
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nizierten, oft dogmatischen Weltdeutungsangeboten der Kommunistischen Internationale und ihrer nationalen Parteien gesehen werden. Zweitens erzeugt die Nebeneinanderstellung der einzelnen Textelemente bzw. der Reportagen ästhetisch bestimmte Vorstellungen von der transnationalen proletarischen Moderne. Indem diese offenen Formen verschiedene Räume zueinander in Beziehung setzen, entsteht diese vorgestellte Moderne allererst in einer geografischen und kulturellen Ausdehnung, die für die Lesenden immer nur virtuell erfahrbar bleibt. Die offenen Formen stellen Beziehungen zwischen scheinbar unverbunden, weit voneinander entfernten Orten her; sie suggerieren Verbindungen und Zusammenhänge, die nicht von selbst gegeben sind. Auch in diesem Sinne sind die Texte der internationalistischen Weltliteratur welterzeugend und sinnstiftend; und obgleich sie Verfahren der historischen Avantgarden wie die Montage adaptieren, geht es in ihnen deshalb gerade nicht um eine „Zerstörung des Sinnzusammenhangs“¹²¹ des Kunstwerkes, welche oftmals als Intention und Effekt solcher avantgardistischer Verfahren verstanden wurde. Die geringe narrative Verknüpfung in den untersuchten Texten führt drittens dazu, dass die transnationale proletarische Moderne nicht als homogener und geschlossener, sondern als diskontinuierlicher, heterogener sowie dezentrierter Zeitraum erscheint. Nimmt man hinzu, dass diese Moderne – gerade in Kischs Reportagensammlungen – als eine systemisch in sozialistische und kapitalistische Welten geteilte repräsentiert wird, dann wird deutlich, dass die transnationale proletarische Moderne der internationalistischen Weltliteratur eine „alternative Figuration[ ]“¹²² des Globalen darstellt. Dies ist sie deshalb, weil sie sich deutlich von – gerade in unserer Gegenwart – dominanten Globalisierungsnarrativen unterscheidet, die auf der „comprehension of the world as a single bounded and interconnected entity developing in common time and space“¹²³ basieren und die die Welt als ein „continuous and traversable space“¹²⁴ konzeptualisieren. Ein solches Weltverständnis lag freilich bereits älteren Narrativen der Globalisierung zugrunde, wie etwa der internationalistischen Erzählung des Manifests der Kommunistischen Partei, in dem es symptomatisch heißt, dass „die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, dieselbe in England wie in Frankreich,
Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1974, S. 106. Christian Moser: Figuren des Globalen.Von der Weltkugel zum Welthorizont. In: Figuren des Globalen, S. 38. Sanjay Krishnan: Reading Globalization from the Margin. The Case of Abdullah Munshi. In: Representations 99 (2007), S. 40 f. Mufti: Forget English, S. 5. Hervorhebung im Original.
1.5 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung
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in Amerika wie in Deutschland, […] ihm [d. h. dem Proletariat] allen nationalen Charakter abgestreift [hat]“.¹²⁵
1.5 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung Die Entstehung der internationalistischen Weltliteratur in der Zwischenkriegszeit ging mit der Erfindung einer eigenen, zur bürgerlichen Tradition alternativen Literaturgeschichte einher. Von Beginn an waren die Akteure internationalistischer Weltliteratur nämlich damit beschäftigt, das eigene Schaffen zu konzeptualisieren und in einen größeren (literatur‐)historischen Rahmen zu stellen. Die internationalistische Weltliteratur beschrieb sich literaturgeschichtlich selbst. War die Geschichte der literarischen Formen der internationalistischen Weltliteratur auch eine Geschichte von Hybridisierungen und Interaktionen über Klassengrenzen hinweg, spielten diese für die literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung der internationalistischen Weltliteratur keine Rolle. Von Franz Jung über die Universum-Bücherei für Alle bis zu Die Linkskurve und Egon Erwin Kisch wurde die Geschichte der Weltliteratur vielmehr als Konfrontation von zwei „Gegenspieler[n]“¹²⁶ konzipiert. Einer individualistischen, wirklichkeitsfernen, idealistischen und letztlich bürgerlichen Tradition wurde eine kollektivistische, sozialkritische, materialistische und im weitesten Sinne proletarische Tradition gegenübergestellt, die schließlich in der revolutionären Literatur der Arbeiterbewegung kulminierte.¹²⁷ Eine solche zum marxistischem Verständnis von Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen parallele Konstruktion von Literaturgeschichte als Konflikt von zwei einander ausschließenden Traditionen ging einher mit der Etablierung von Konsekrationskriterien für internationalistisches Schreiben sowie mit der Aufstellung von genealogischen Listen, durch die die internationalistischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Gegenwart mit ihren vermeintlichen „Ahnen“¹²⁸ verbunden wurden, die gelegentlich selbst Schriftsteller der griechischen und lateinischen Antike umfassten. Der Nachdruck, der auf die Differenz der eigenen literarischen Produktion zur Literatur des Bürgertums gelegt wurde, unterschied die literaturgeschichtliche
MEW 4, S. 472. Hunger und Liebe sind die Motore der Welt. Literaturgeschichtliche Notizen von Gerhart Pohl. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 5, S. 99. Der Proletkult und Lenins Idee der zwei Nationalkulturen sind als Hintergründe dieser literaturgeschichtlichen Selbstbeschreibung zu verstehen. Vgl. Goßens: „Erbkriege um Traumbesitz“, S. 24– 28 u. S. 38 – 40. Egon Erwin Kisch: Mein Leben für die Zeitung, KGW 9, S. 211.
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Selbstbeschreibung der internationalistischen Weltliteratur der Weimarer Republik von den literaturgeschichtlichen und literaturtheoretischen Debatten im Kontext der Arbeiterbewegung, die ihr vorangegangen waren und die auf sie folgen sollten: Sowohl in der sozialdemokratischen Arbeiterkultur des Kaiserreiches als auch im Diskurs des sozialistischen Realismus ging es eher um einen produktiven Anschluss an das sogenannte bürgerliche Erbe. Zudem ist zu betonen, dass die hier herausgearbeitete Tradition internationalistischer Weltliteratur zumindest bis Mitte der 1920er Jahre nicht die offizielle literaturpolitische Linie der KPD war, die, wie gerade durch die Texte Gertrud Alexanders, der wichtigsten Literaturkritikerin der Roten Fahne, deutlich wird, einem an Franz Mehring angelehnten, traditionalistischen Literaturverständnis folgte, das die bürgerlichen Klassiker favorisierte.¹²⁹ Was eine angemessene Literatur für die Arbeiterbewegung sein sollte, war also auch in der Weimarer Republik stark umstritten. Trotz der Erfindung einer eignen, von der bürgerlichen Kultur vermeintlich unabhängigen literarischen Tradition der internationalistischen Weltliteratur war diese jedoch zugleich – und vielleicht in erster Linie – durch ihre utopische Dimension und ihre futuristische Orientierung geprägt. Internationalistische Weltliteratur hatte zwar literaturgeschichtliche Vorläuferinnen, sie sollte aber zuallererst etwas Neues sein, etwas, das, wie die kommunistische Weltrevolution selbst, erst am Beginn ihrer Verwirklichung stand. Laut dieser Erzählung war der gewichtigere Teil der Literaturgeschichte der internationalistischen Weltliteratur erst noch im Entstehen. Indem die literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung der internationalistischen Weltliteratur eine Geschichte der Weltliteratur als Konflikt von zwei Klassenliteraturen entwarf, konzeptualisierte sie Weltliteratur nicht in erster Linie als Austausch und Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Nationalliteraturen, sondern als Geschichte von zwei gleichermaßen transnationalen Literaturtraditionen. Internationalistische Weltliteratur basierte deshalb, folgt man ihrer Selbstbeschreibung in der Weimarer Republik, nicht in erster Linie auf verschiedenen nationalen Sprachen und Traditionen.¹³⁰ Ihre Grundlage war vielmehr eine transnational geteilte proletarische Erfahrung. Als Klassenliteratur konnte sie ihre exemplarischen Texte jenseits sprachlicher und nationaler Gren-
Vgl. z. B. die Diskussion Alexanders in Walter Fähnders/Martin Rector: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 107– 129. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass mit dem Exil die deutsche Sprache ein Kriterium für die Teilhabe an einer linken germanophonen Diaspora wird und es ab 1935 immer mehr darum geht, dass Internationale und das Nationale in Harmonie miteinander zu bringen. Vgl. Clark: Moscow, the Fourth Rome, S. 158 u. S. 172.
1.5 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung
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zen finden, solange eine bestimmte soziale Erfahrungsbasis und ein geteiltes politisches Projekt gegeben waren. Dieses weltliterarische Projekt beschrieb sich also nicht im Sinne nationalliterarischer Traditionen, sondern vertrat dezidiert eine „internationalist aesthetic ideology“.¹³¹ Es wäre nun allerdings verfehlt, einfach zu behaupten, dass das Nationale keine Rolle für die Selbstbeschreibungen der internationalistischen Weltliteratur spielte. Es blieb im Diskurs der internationalistischen Weltliteratur allgegenwärtig – sei es aufgrund der Bildung nationaler Schriftstellerorganisationen wie dem BPRS; sei es durch die Präsentation proletarischer Literaturen des Auslands als proletarische Literaturen Ungarns oder Japans in Zeitschriften wie Arbeiter-Literatur oder Die Linkskurve; sei es durch Jungs Kartographierung der verschiedenen Entwicklungsstadien proletarischer Literatur nach Regionen und Nationen; oder sei es in Form der etwa bei Jung und Seghers breit diskutierten Frage, wie das spezifische Wissen bestimmter nationaler Arbeiterbewegungen durch internationalistisches Schreiben transnational vermittelt werden könnte. Für die Erzählung der Geschichte der Weltliteratur durch die literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung der internationalistischen Weltliteratur war die Kategorie des Nationalen dennoch keineswegs strukturbildend, sondern bestenfalls sekundär. Das Narrativ der zwei Klassenliteraturen, die transnational sind und eben nicht auf nationalen Traditionen beruhen, überschreibt zumindest tendenziell die orientalistische Logik, die – wie oben diskutiert – laut Mufti das Konzept der Weltliteratur als Austausch zwischen den Literaturen verschiedener Zivilisationen und Nationen erst hervorbrachte. So unbefriedigend die literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung der internationalistischen Weltliteratur aus heutiger Sicht in ihren einzelnen Details wie ihrer grundsätzlichen Anlage nach auch sein mag – und dies gilt gerade, insofern ihre Fokussierung auf einen binären Klassengegensatz die diversen kulturellen Aneignungen aus eher bürgerlichen Traditionen unsichtbar zu machen droht, die entscheidend dazu beitrugen, internationalistische Weltliteratur als literarische Tradition erst zu ermöglichen; so bedeutend ist das Faktum der Entstehung einer Erzählung internationalistischer Weltliteratur im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Dies ist nicht nur der Fall, weil der Versuch der internationalistischen Weltliteratur, sich eine eigene Literaturgeschichte zu erfinden, den Versuch der im neunzehnten Jahrhundert entstehenden Nationalliteraturen imitiert, sich durch das „device of literary history“ den „dream of chronological depth“ zu erfüllen und zu diesem Zwecke als Vorläufer identifizierte Texte zu einem „continuous narrative of literary production“ zu verknüpfen, wodurch sich die neuen Traditionen gegenüber vorgängigen, konkurrierenden Traditionen zu legitimieren
Denning: Culture in the Age of Three Worlds, S. 65.
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1 Einleitung
versuchten.¹³² Die Entstehung dieser literaturgeschichtlichen Selbstbeschreibung ist gerade auch deshalb so interessant, weil die internationalistische Weltliteratur noch im Prozess der Adaptierung dieses „device of literary history“ mit den entscheidenden Kriterien einer nationalistischen Literaturgeschichtsschreibung brach, der dieses Instrument entstammte.¹³³ Indem die internationalistische Weltliteratur Literatur nicht durch die „lens of the nation-state [las und interpretierte]“ und also keine „one-to-one correspondence between languages, literatures, and political units“ annahm,¹³⁴ sondern eine transnational geteilte soziale Erfahrung und eine politische Massenbewegung als entscheidende Grundlage einer literarischen Tradition behauptete, eröffnete ihre literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung die Möglichkeit einer radikal-transnationalen Literaturgeschichte zu einem Zeitpunkt, als die Idee der Nationalliteratur disziplinär wie ideologisch dominierte und zudem eine unhintergehbare Grundlage für Debatten über Weltliteratur selbst repräsentierte. Die literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung internationalistischer Weltliteratur stellt damit einen bisher unbeachteten Vorläufer zu zeitgenössischen Debatten über transnationale und transkulturelle Literaturen dar, deren Anliegen es ist, (rein) nationalliterarische Geschichtsschreibungen zu problematisieren und Literaturgeschichte weltliterarisch zu schreiben.¹³⁵ Bei diesem Vorläufer zeitgenössischer literaturwissenschaftlicher Debatten handelt es sich freilich nicht um den Versuch, eine transnationale Literaturgeschichte – wie es heute vor allem üblich ist – entlang kultureller und sprachlicher Hybridisierungen und Austauschbeziehungen zu erzählen, sondern stattdessen mit Bezug auf Fragen globaler sozio-ökonomischer Stratifikation und politischer wie kultureller Massenbewegungen. Darin liegt der auch heute noch relevante Einsatzpunkt dieser literaturgeschichtlichen Selbstbeschreibung, an den die vorliegende Studie mit ihrer Theorie der transnationalen literarischen Gegenöffentlichkeiten kritisch anschließt.
Beecroft: An Ecology of World Literature, S. 233 u. S. 229. Zu Nationalliteratur bzw. „national literary ecology“ vgl. Beecroft: An Ecology of World Literature, S. 195 – 241. Beecroft: An Ecology of World Literature, S. 197. An dieser Stelle sei auf Richters Buch Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur verwiesen, in dem sie versucht, eine alternative Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit ihren Anfängen zu schreiben, und in dem sie grundlegende Linien dieser neueren literaturwissenschaftlichen Debatten zusammenfassend diskutiert.
1.6 Kapitelübersicht
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1.6 Kapitelübersicht Proletarische Welten. Internationalistische Weltliteratur in der Weimarer Republik umfasst drei Kapitel: „Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur“, „Montage und Internationalismus“ sowie „Reportage und Internationalismus“. Vor dem Hintergrund einer Kritik der literatursoziologischen Weltliteraturtheorien Pascale Casanovas und Franco Morettis entwickelt „Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur“ eine Theorie transnationaler literarischer Gegenöffentlichkeiten. Sich von der frühen zur späten Weimarer Republik fortbewegend, rekonstruiert das Kapitel auf diesem theoretischen Fundament anschließend drei spezifische Kontexte, in denen die internationalistische Weltliteratur durch soziale, kulturelle, mediale und literarische Praktiken sowie durch vielfältige formale Strategien hergestellt wurde: den weltliterarischen Aktivismus Franz Jungs und insbesondere seinen Versuch, Jack London in der deutschen Arbeiterbewegung zu kanonisieren; die Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle; sowie das transnationale Netzwerk kleiner kommunistischer Literaturzeitschriften, zu dem u. a. Die Linkskurve und die amerikanische New Masses gehörten. Zeichnet das Kapitel einerseits Debatten über internationalistisches Schreiben in der Weimarer Republik nach und rekonstruiert so, wie die Idee der Weltliteratur im Kontext der Arbeiterbewegung ideologisch immer wieder neu gefüllt wurde, analysiert es andererseits die Konstruktion der vorgestellten Gemeinschaften internationalistischer Weltliteratur, die durch die diskutierten sozialen, kulturellen, literarischen und medialen Praktiken erfolgte. Die verschiedenen historischen Momente internationalistischer Weltliteratur lassen sich dabei durchaus im Sinne unterschiedlicher Grade organisatorischer Verstetigung und transnationaler Verknüpfung unterscheiden: geringe organisatorische Verstetigung mit geringer transnationaler Verknüpfung in der frühen Weimarer Republik (Jung), hohe organisatorische Verstetigung mit eher geringer transnationaler Verknüpfung (Universum-Bücherei für Alle) sowie hohe organisatorische Verstetigung mit hoher transnationaler Verknüpfung (Die Linkskurve, New Masses) in der mittleren und späten Weimarer Republik. Das Kapitel plausibilisiert die These, dass sich durch die internationalistische Weltliteratur ein alternatives globales Literaturfeld entwickelte, von dem die Arbeiterbewegungsliteratur der Weimarer Republik ein Teil war. Dieses war weder durch eine nationalliterarische oder universitäre noch durch eine markförmige Zirkulation von literarischen Texten charakterisiert. Stattdessen wurden Texte durch die literaturpolitischen Aktivitäten der kulturellen Organisationen der internationalistischen Arbeiterbewegung transnational verbreitet. Je mehr dieses alternative Literaturfeld durch die Kulturorganisationen der Sowjetunion allerdings ein literarisches Zentrum
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1 Einleitung
bekam, desto mehr kam es im Laufe der Weimarer Republik auch zu einer ideologischen Schließung des Diskurses der internationalistischen Weltliteratur. Wie diese kurze Skizze bereits deutlich gemacht haben sollte, hat das erste Kapitel – und die Monografie als Ganze – keineswegs den Anspruch, eine umfassende Darstellung der internationalistischen Weltliteratur in der Weimarer Republik oder gar in ihren transnationalen Zusammenhängen zu leisten. Vielmehr geht es im ersten Kapitel darum zu zeigen, dass es im Verlaufe der gesamten Weimarer Republik vielfältige Versuche gab, eine internationalistische Weltliteratur im Kontext der literarischen Gegenkulturen der Arbeiterbewegung zu schaffen. Dabei werden durch die Analysen der Figur des Literaturaktivisten, der zwischen in verschiedenen Nationalstaaten situierten Literaturen vermittelt (Jung), der Buchgemeinschaft und des transnationalen Zeitschriftennetzwerkes Praktiken herausgearbeitet, die für die Versuche der Etablierung einer internationalistischen Weltliteratur im literarischen Feld der Arbeiterbewegung wichtig waren und an die zukünftige Forschung anschließen kann. Zudem sind die im ersten Kapitel diskutierten Fallbeispiele so ausgewählt worden, dass sie auch die Produktionskontexte von Franz Jung, Anna Seghers und Egon Erwin Kisch umfassen, die deshalb im Mittelpunkt der folgenden zwei Kapitel der Studie stehen, weil sie ihre eigene literarische Produktion im Kontext von Diskursen und Praktiken internationalistischer Weltliteratur verorteten, ihre literarischen Werke eine transnationale proletarische Moderne repräsentieren und ihre Texte Beispiele für einen literarischen Modernismus der Arbeiterbewegung sind. Die im ersten Kapitel rekonstruierten vorgestellten Gemeinschaften internationalistischer Weltliteratur bildeten also die Entstehungskontexte der literarischen Werke von Jung, Seghers und Kisch, die in den folgenden systematisch um das Verfahren der Montage bzw. die Gattung der Reportage organisierten Kapiteln analysiert werden. Montage und Reportage(sammlungen) werden in der internationalistischen Weltliteratur zu literarischen Strategien, durch die die proletarischen Welten einer transnationalen Moderne und damit bestimmte internationalistische Kollektive sowie Vorstellungen von Globalität literarisch erzeugt werden. Das zweite Kapitel der Studie – „Montage und Internationalismus“ – stellt die Montagetexte Joe Frank illustriert die Welt (1921) von Franz Jung und Die Gefährten (1932) von Anna Seghers in seinen Mittelpunkt. Beide Werke waren Resultate der transnationalen Zirkulation von Texten internationalistischer Weltliteratur und von Begegnungen in den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung. Diese deutschsprachige literarische Produktion ist deshalb undenkbar ohne die vor allem amerikanischen, ungarischen und chinesischen Kontexte, mit denen Jung und Seghers in Verbindung standen. Basierten Joe Frank illustriert die Welt und Die Gefährten auf einem internationalistischen Schreiben und auf transnationalen Dialogen, wurden diese von Jung und Seghers zudem selbst theoretisiert. Das
1.6 Kapitelübersicht
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Kapitel zeigt, wie diese Texte durch ihre Aneignung des Verfahrens der Montage die Welt einer global verbundenen, jedoch in sich heterogenen internationalistischen Arbeiterbewegung entwerfen und wie die transnationale proletarische Moderne dadurch als Zeitraum zur Erscheinung kommt, der von Ungleichzeitigkeiten, kultureller Alterität und Wissensdifferenzen genauso geprägt ist wie von geteilten Erfahrungen sozio-ökonomischer Stratifikation und sozialer und kultureller Subordination. Erlaubt es das Verfahren der Montage, internationalistische Kollektive textlich zu gestalten, ermöglichte es den Lesenden zudem eine neuartige kollektivistische und internationalistische Weltbeziehung. Dieser dem Projekt der historischen Avantgarden verwandte Versuch, durch literarische Verfahren neue Weltbeziehungen zu erzeugen, geht jedoch nicht mit einer grundlegenden Kritik an der Möglichkeit von Wirklichkeitsdarstellung und narrativer Sinnproduktion einher. Vielmehr entwickelten die Texte von Jung und Seghers Realismen, in denen eine Offenlegung der literarischen Wirklichkeitskonstruktion mit der Bezeugung der vorausgesetzten Tatsächlichkeit der internationalistischen Arbeiterbewegung einherging, deren politische und kulturelle Positionierungen die Texte artikulieren sollten. Insofern diese modernistischen Texte der Arbeiterbewegung ihre Leser und Leserinnen als Internationalisten adressierten, trugen sie zur Konstitution der internationalistischen Gemeinschaften bei, die durch die Medien sowie kulturellen und sozialen Praktiken der Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Weltliteratur erzeugt und durch die literarischen Texte auch bezeugt wurden. Die internationalistischen Kollektive in Joe Frank illustriert die Welt und Die Gefährten entsprachen so den internationalistischen Kollektiven außerhalb des literarischen Textes, die das erste Kapitel meiner Studie rekonstruiert. Stehen kontextualisierte close readings von zwei literarischen Texten im Mittelpunkt des zweiten Kapitels, ist das Kapitel „Reportage und Internationalismus“ als eine kumulative Lektüre von sechs Reportagensammlungen Egon Erwin Kischs sowie seines essayistischen Werks angelegt.¹³⁶ Das Kapitel, das Kischs Schreiben und Aktivismus in einem transnationalen Kontext verortet, etabliert Kisch als historisch herausragenden weltliterarischen Autor, der in aktuellen Debatten über Weltliteratur bisher unerwähnt geblieben ist. Es rekonstruiert, wie Kisch eine linke weltliterarische Autorschaft in seinen Texten und durch seinen (kultur‐)politischen Aktivismus inszenierte und wie diese Autorschaft durch die Fremdbeschreibungen anderer Akteure der internationalisti-
Die Sammlungen sind Hetzjagd durch die Zeit (1926), Zaren, Popen, Bolschewiken (1927), Wagnisse in aller Welt (1927), Paradies Amerika (1929), Asien gründlich verändert (1932), China geheim (1932).
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1 Einleitung
schen Weltliteratur perpetuiert, verstärkt und jenseits des deutschsprachigen Raums bis nach China, in die Sowjetunion und die USA verbreitet wurde. In diesem Zusammenhang zeigt das Kapitel, dass Kischs Reportagen ein Wissen über die transnationalen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung transportieren, welches die Ergebnisse meines ersten Kapitels ergänzt. Mit der Reportage stellt das Kapitel eine kleine Form in den Mittelpunkt, die in den gegenwärtigen Diskussionen zu Weltliteratur kaum eine Rolle spielt, aber eine zentrale Gattung der internationalistischen Weltliteratur der Zwischenkriegszeit war, wie ich an Kischs Theoretisierung des Genres sowie an der transnationalen Rezeption von Kisch zeige. Dabei gilt meine Aufmerksamkeit erstens Kischs literaturgeschichtlicher Selbstbeschreibung, durch die er die Reportage als radikal transnationale Gattung sowie genuines Genre einer Tradition revolutionärer und sozialkritischer Literatur positionierte, welche für ihn in der zeitgenössischen Literatur der internationalistischen Arbeiterbewegung kulminierte. Indem ich auf die von Kisch unerwähnte Genealogie der Reportage aus der frühen Stadtforschung Bezug nehme, zeige ich zweitens, dass es bei Kisch zu einer Neuerfindung und Dezentrierung der „epistemischen Figur des Reporters“¹³⁷ kommt, insofern seine Texte das Reportagewissen über das transnationale Proletariat als Resultat eines solidarischen Dialogs zwischen Reporter und Proletariern inszenieren und letztere damit als Wissenssubjekte darstellen. Zusammengenommen konstruieren Kischs Reportagensammlungen ein Wissen proletarischer Welten, für das es in seiner Globalität in der deutschsprachigen Literatur keine Entsprechung gibt. Diese proletarischen Welten sind durch eine irreduzible Heterogenität des Proletarischen sowie die systemische Differenz zwischen sozialistischer und kapitalistischer Welt charakterisiert. Das transnationale Proletariat – wie Jung und Seghers – grundsätzlich nicht-normativ repräsentierend, erzeugen Kischs Sammlungen Wissen über sozialistische Staaten, Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung und zudem proletarische Welten, die jenseits der internationalistischen Arbeiterbewegung situiert sind. Einer Grundannahme der Poetologie des Wissens folgend, dass Darstellungsweisen ganz fundamental dazu beitragen, was als Wissen erzeugt wird, konzentriert sich das Kapitel schließlich auf die Rolle, die u. a. die Form der Reportagensammlung, die Technik des globalen Vergleichs, die Adaptierung von Erkundungsnarrativen sowie Poetiken des Kontrastes, der Aufzählung und der Verdichtung für die literarische Erzeugung einer transnationalen proletarischen Moderne spielen. Die Reportagensammlungen Bernhard Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut. Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert. In: Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Michael Neumann u. Kerstin Stüssel. Konstanz 2011, S. 37.
1.6 Kapitelübersicht
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erzeugen dabei eine Vorstellung von Globalität, die durch Diskontinuität, NichtIntegriertheit und Unabgeschlossenheit geprägt ist. Wie die Texte Jungs und Seghersʼ stellen Kischs Reportagen damit eine alternative und historisch situierte Imagination des Globalen zur Verfügung, die es erlaubt,Welt jenseits gegenwärtig hegemonialer Globalisierungsnarrative vorzustellen. An dieser Stelle möchte ich noch einige Bemerkungen zum Gebrauch einer geschlechtergerechten Sprache anfügen, da das generische Maskulinum bzw. der anzustrebende Gebrauch einer geschlechtergerechten Sprache besonders für literaturgeschichtliche Studien eine besondere Herausforderung darstellen. Dies gilt zum einen, insofern der Gebrauch einer geschlechtergerechten Sprache in vielen historischen Studien einen Diskussionsstand zumindest implizit auf historische Akteur*innen rückzuprojizieren droht, die sich nicht in diesem Sinne selbstidentifizierten: Die Protagonisten und Protagonistinnen meiner Studie sprachen zum Beispiel von ‚Proletariern‘ und ‚Arbeitern‘, manchmal von ‚Proletarierinnen‘ und ‚Arbeiterinnen‘, nie aber von ‚Proletarier*innen‘ oder ‚Arbeiter*innen‘ – und stellten sich diese auch nicht im Sinne einer Pluralität von Geschlechtsidentitäten vor. Die Frage einer geschlechtergerechten Sprache spielte für sie schlicht keine Rolle. Es gilt zum anderen, insofern der Gebrauch einer geschlechtergerechten Sprache patriarchale und heteronormative Machtstrukturen tendenziell unsichtbar machen würden, die die Arbeiterbewegung praktisch und strukturell durchzogen sowie auch ihre Vorstellung des revolutionären Subjekts dominierten. Zum Beispiel von ‚Arbeiter*innenbewegung‘ zu sprechen, wäre in diesem Sinne historisch und politisch verklärend. Schließlich würde ein solcher Sprachgebrauch auch darüber hinwegzutäuschen drohen, dass die Protagonisten der internationalistischen Weltliteratur mehrheitlich Männer waren. Die genannten Punkte schließen weder die Untersuchung der agency von Frauen in der internationalistischen Weltliteratur noch die Analyse von literarischen Versuchen aus, zu einer nicht-normativen Imagination des Proletariats beizutragen, welche dieses eben nicht ausschließlich als männlich vorstellen würde. Beides sind Aspekte meiner Studie. Aus den genannten Gründen nutze ich eine geschlechtergerechte Sprache nur an solchen Stellen, an denen es um zeitgenössische Forscher*innen geht. Ansonsten versuche ich, so genau wie möglich zu bezeichnen. Bei der Diskussion von Texten verwende ich die grammatische Genusform, die diese Texte benutzen. Außerdem versuche ich an Stellen, an denen es sinnvoll erscheint, sowohl generisches Maskulinum als auch generisches Femininum zu verwenden, also etwa von ‚Schriftstellern und Schriftstellerinnen‘ statt nur von ‚Schriftstellern‘ zu sprechen, und nutze außerdem, wenn es mir angemessen erscheint, Substantivierungen, so schreibe ich beispielsweise gelegentlich ‚Lesende‘.
2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur 2.1 Hinführung Dieses Kapitel leistet die Rekonstruktion dreier Versuche, in der Zeit der Weimarer Republik eine internationalistische Weltliteratur im Rahmen der Kulturpolitik der Arbeiterbewegung herzustellen. Seine Gegenstände sind die von Franz Jung angestrebte Popularisierung des amerikanischen Autors Jack London und ihr größerer publizistischer Kontext; das Projekt der Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle, eine Reihe proletarischer Weltliteratur zusammenzustellen und zu vertreiben; und die Praxis der Zeitschrift Die Linkskurve, die Zirkulation proletarisch-revolutionärer Literatur durch ein Netzwerk mit ausländischen kommunistischen Literaturzeitschriften voranzutreiben. Ich bin an der Untersuchung von vor allem zwei Problemen interessiert. Erstens werde ich diskutieren, wie die mindestens seit Goethe im deutschsprachigen Raum verbreitete Idee der Weltliteratur in verschiedenen diskursiven Kontexten ideologisch gefüllt und schließlich vom Begriff der proletarisch-revolutionären Literatur ersetzt wurde. Zweitens untersuche ich mediale und soziale Praktiken (insbesondere die Zeitschrift und die Buchgemeinschaft), die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur konstituierten. Es geht also darum zu beschreiben, wie Weltliteratur aus einem oftmals vagen „abstract ideal“ in eine „institutionalized entity“ und eine „social practice“ umgewandelt wird.¹ Die untersuchten Diskurse und sozialen, kulturellen, medialen und literarischen Praktiken bilden wiederum die Produktions- und Rezeptionskontexte der literarischen Weltentwürfe, die ich in den folgenden Kapiteln dieses Buches untersuchen werde. Ich möchte meine Rekonstruktion dieses literatur-, kultur-, medien- und sozialgeschichtlichen Materials vor dem Hintergrund eines theoretischen Vorschlags leisten. Er lautet: Die am meisten diskutiertesten literatursoziologischen Annäherungen an den Gegenstand Weltliteratur, nämlich die Modelle Pascale Casanovas und Franco Morettis, erschweren es, die Existenz einer internationalistischen Weltliteratur in der Zeit der Weimarer Republik wahrzunehmen und diese theoretisch zu begreifen. Dies liegt nicht nur im institutionellen Kontext begründet, in dem Weltliteraturtheorien diskutiert werden. Letzterer wird, wie
Caroline Levine/B. Venkat Mani: What Counts as World Literature? In: Modern Language Quarterly 74 (2013), H. 2, S. 141. https://doi.org/10.1515/9783110668087-004
2.1 Hinführung
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Berthold Schoene durchaus richtig festgestellt hat, von „amerikanischen Ivy League-Professoren in den international renommierten Instituten für Weltliteratur und Vergleichende Literaturwissenschaft“ dominiert, deren Forschung sich „so gut wie gar nicht mit antihegemonialen, subalternen Positionen“² befasst, zu denen die Literatur der Arbeiterbewegung zu zählen ist. Es liegt auch im Design der Theorien von Casanova und Moretti selbst begründet. Diese – so mein zentraler Einwand – theoretisieren Machtdynamiken und Asymmetrien in der Weltliteratur vor allem mit Blick auf die Position verschiedener Nationen, Regionen und Sprachen auf dem literarischen Weltmarkt und nicht zusätzlich auch stratifikationstheoretisch, d. h. mit Blick auf verschiedene soziale Gruppen und ihre transnationalen Öffentlichkeiten. Diese von Casanova und Moretti geprägte Ausrichtung bzw. Beschränkung der soziologischen Weltliteraturtheorie ist natürlich ideengeschichtlich plausibel. Der Diskurs der Weltliteratur ist seit seiner Entstehung im neunzehnten Jahrhundert auf verschiedenste Weise mit dem Verhältnis von nationalen, regionalen und lokalen Literaturen befasst und eben nicht mit dem Verhältnis unterschiedlicher sozialer Klassen. So bezog sich bereits Johann Wolfgang von Goethes Verständnis von Weltliteratur auf Fragen von literarischer Kommunikation und Interaktion zwischen verschiedenen nationalen, kulturellen und sprachlichen Räumen;³ und Karl Marx und Friedrich Engels prophezeiten, dass eine kosmopolitische Weltliteratur aus den „vielen verschiedenen nationalen und lokalen Literaturen“⁴ hervorgehen würde. Die Idee einer proletarischen Weltliteratur wiederum, die im Gegensatz zu oder in einem konfliktreichen Austauschverhältnis mit einer bürgerlichen stünde, findet sich selbst bei Marx und Engels nicht. Ein Theoriedesign aber – so meine These –, das Weltliteratur nicht auch stratifikationstheoretisch denkt, erschwert die Wahrnehmung des Projektes der internationalistischen Weltliteratur, welche im Kontext der Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren als gegenkulturelle und transnationale Literaturpolitik entworfen wurde und sich als Opposition zur wahrgenommenen Hegemonie bürgerlicher Weltliteratur inszenierte. Casanovas und Morettis Ansätze sind deshalb eingangs kurz kritisch zu umreißen. Im Anschluss daran werde ich das Konzept einer transnationalen literarischen Gegenöffentlichkeit entwickeln. Dieses ist
Berthold Schoene: Weltliteratur und kosmopolitische Literatur. In: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Hg. v. Gabriele Rippl u. Simone Winko. Stuttgart/ Weimar 2013, S. 360. Vgl. Pheng Cheah: What is a World? On World Literature as World-Making Activity. In: Daedalus 7 (2008), H. 3, S. 27 f.; Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010, S. 46 u. S. 78. MEW 4, S. 466.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
geeignet, das Projekt internationalistischer Weltliteratur in der Weimarer Republik zu beschreiben. Die drei folgenden Abschnitte, welche sich chronologisch von der frühen zur späten Weimarer Republik bewegen, werden dann die drei bereits genannten literaturpolitischen Versuche diskutieren, zur Entwicklung einer internationalistischen Weltliteratur beizutragen.
2.2 Casanova und Moretti Im Gegensatz zum gegenwärtig vielleicht prominentesten und sicherlich institutionell einflussreichsten Vertreter von Weltliteraturstudien, David Damrosch, der vorgeschlagen hat, Weltliteratur nicht als Kanon, sondern in erster Linie im Sinne einer Ethik der Lektüre – als „a mode of reading: a form of detached engagement with worlds beyond our own place and time“⁵ – zu begreifen, kann weder Casanova noch Moretti vorgehalten werden, dass sie Machtdynamiken in der Weltliteratur marginalisieren würden. Vielmehr rücken sie solche Asymmetrien ins Zentrum ihrer Theorien. In Casanovas an Pierre Bourdieus Feldtheorie orientiertem und vor allem in La république mondiale des lettres (1999) entwickeltem Ansatz ist der weltliterarische Raum durch literarische Dominanz-, ja Herrschaftsbeziehungen geprägt: „Exerted within this international literary space are relations of force and a violence peculiar to them–in short, a literary domination […].“⁶ Ganz im Sinne Bourdieus verlaufen diese Auseinandersetzungen nicht heteronom zum politischen Feld, sondern folgen der Eigenlogik eines weltliterarischen Feldes, das durch Autonomisierungsprozesse in der Moderne entstanden ist.⁷ In der Tat argumentiert Casanova, dass der Grad der Dominanz eines soziokulturellen Raums im weltliterarischen Feld im Verhältnis zum Grad der dort erreichten Autonomie von politischen Einflussnahmen steht.⁸ Es ist unschwer zu erkennen, dass Casanovas Modell an den Autonomieästhetiken der literarischen Moderne Europas orientiert ist und diese dann von ihr globalisiert werden. Zudem betont ihr Modell die Nation und erklärt Asymmetrien in der Weltliteratur durch die Konkurrenz zwischen verschiedenen nationalen Räumen und ihren Literaturen: „The world of
David Damrosch: What is World Literature? Princeton/Oxford 2003, S. 281. Hervorhebung im Original. Pascale Casanova: The World Republic of Letters. Übers. v. M.B. DeBevoise. Cambridge/London 2004, S. xii. Hervorhebung im Original. Für eine Kritik von Casanovas Genealogie des weltliterarischen Feldes vgl. Aamir R. Mufti: Forget English! Orientalisms and World Literatures. Cambridge/London 2016, S. 57– 59. Vgl. z. B. Casanova: The World Republic of Letters, S. 85 – 91 u. S. 108 – 110.
2.2 Casanova und Moretti
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letters is a relatively unified space characterized by the opposition between the great national literary spaces, which are also the oldest–and, accordingly, the best endowed–and those literary spaces that have more recently appeared and that are poor in comparison.“⁹ Dieser Gegensatz übersetzt sich laut Casanova im weltliterarischen Feld in einen „heteronomen“, in den Peripherien lokalisierten Pol und einen „autonomen“, hauptsächlich in den „ältesten“ Räumen lokalisierten „Pol“ – dieser ist das Zentrum des weltliterarischen Raums, dessen Akteure mit viel literarischem Kapital ausgestattet sind. Letzteren Pol verbindet sie mit „internationalen“, ersteren mit „nationalen“ Schriftstellern.¹⁰ Schriftsteller orientieren sich nun – entweder in Zustimmung oder Ablehnung – am weltliterarischen, autonomen Zentrum, das Casanova mit dem Bild des Greenwich meridian of literature zu fassen versucht und das sie in Paris verortet.¹¹ Casanovas Theoriedesign kann bereits hinsichtlich ihrer Verwendung des Begriffs la république mondiale des lettres problematisiert werden. Der Begriff ruft als Assoziation die respublica littererarum, die Gelehrtenrepublik, auf. Diese evozierte bereits in ihrer ersten Formulierung im Jahre 1417 durch Francesco Barbaro und dann bis ins achtzehnte Jahrhundert die Gemeinschaft einer Landesgrenzen und wissenschaftliche Disziplinen übergreifenden Bildungselite, einer Art „philosophischer Aristokratie“ (Marc Fumaroli).¹² Vor dem Hintergrund des Gegenstands meiner Arbeit macht der Begriff die Abwesenheit subalterner Literaturpraktiken und Akteure in Casanovas Entwurf eines globalen literarischen Feldes offensichtlich – literarische Praktiken und Akteure also, denen kein literarisches Kapital zugesprochen wird und die so von den im Feld ausschlaggebenden Institutionen und Akteuren unsichtbar gehalten werden: „This capital is therefore embodied by all those who transmit it, gain possession of it, transform it, and update it. It exists in various forms – literary institutions, academies, juries, critics, reviews, schools of literature […].“¹³ „A political concept of world literature“,¹⁴ das sich nicht an den Literarizitätskriterien und den im Zitat aufge-
Casanova: World Republic of Letters, S. 83. Zur Problematisierung dieses Ausgangspunktes aus historischer Perspektive vgl. Helena Carvalhão Buescu: Pascale Casanova and the Republic of Letters. In: The Routledge Companion to World Literature. Hg. v. Theo D’haen, David Damrosch u. Djelal Kadir. London/New York 2012, S. 129. Casanova: World Republic of Letters, S. 108. Casanova: World Republic of Letters, S. 87 f. Vgl. Buescu: Pascale Casanova and the Republic of Letters, S. 126 f. Casanova: World Republic of Letters, S. 15. Sonali Perera: No Country. Working-Class Writing in the Age of Globalization. New York 2014, S. 16; vgl. auch S. 5.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
listeten Konsekrationsinstanzen des durch literarische Autonomie bestimmten weltliterarischen Feldes orientiert, findet sich bei Casanova nicht. Interessanter ist an dieser Stelle jedoch – gerade auch mit Blick auf die Frage des Politischen – Casanovas problematische Aneignung des Begriffs république des lettres, auf die Helena Carvalhão Buescu hingewiesen hat: […] the differences between the concepts of Republic of Letters and World Republic of Letters are indelible […] One of them […] implies the non-coincidence between “letters” and “literature,” and does not presuppose any national, much less nationalist, model. Casanova’s description, being all about competitions and rivalries between nations, distorts the tradition of that “imaginary and transnational state” that the Republic of Letters constituted.¹⁵
Mich interessiert die fehlende historische und begriffliche Präzision Casanovas insbesondere deshalb, weil sie symptomatisch für ein Problem in ihrer Weltliteraturtheorie ist: die Marginalisierung des Transnationalen zugunsten des Nationalen und Internationalen. Casanova scheint über Literaturpolitik nur im Sinne von nationalen oder nationalistischen Literaturpolitiken nachzudenken. Sie konzipiert Literaturpolitik nicht als Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen transnationalen Literaturprojekten.¹⁶ Politische Literatur – oder der „new politico-literary pole“, den sie mit Herder entstehen sieht – ist für sie so konsequenterweise an die „‚nationalization‘ of literatures“ gebunden.¹⁷ Ebenso denkt sie Hierarchie im weltliterarischen Raum nur hinsichtlich verschiedener nationaler Räume, nicht aber im Sinne von transnationalen Stratifikationen entlang von sozialen Ungleichheiten (mögen diese nun Klasse, Geschlecht, race und/oder Sexualität betreffen). Untergeordnete Räume im weltliterarischen Feld sind bestimmte nationale Räume: „[…] ‚national literary spaces,‘ i. e., sub-spaces which are themselves located within the world literary universe“.¹⁸ Internationalistische Weltliteratur kann vor diesem Hintergrund schwerlich durch Casanovas Theoriedesign erfasst werden, da sie erstens nicht der Sphäre eines Elitendiskurses zuzuordnen ist und sie sich zweitens nur unzureichend durch „inter-national literary power relations“¹⁹ erklären lässt. Vielmehr findet internationalistische Weltliteratur ihr ideales Publikum in kulturellen und politischen Gegenöffentlichkeiten, die zu sozialen Unterschichten im Verhältnis ste-
Buescu: Pascale Casanova and the Republic of Letters, S. 129 f. Ein Grund hierfür mag darin bestehen, dass sie die oben erwähnten internationalen Schriftsteller und Schriftstellerinnen dem Pol der Autonomie und nicht dem der Heteronomie zuschlägt. Casanova: World Republic of Letters, S. 105. Pascale Casanova: Literature as a World. In: New Left Review 31 (2005), S. 79, Anm. 11. Casanova: Literature as a World, S. 79.
2.2 Casanova und Moretti
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hen, während sie transnationale sozio-ökonomische Stratifikation literarisch verhandelt. Schließlich ist sie, wie darüber hinaus drittens zu zeigen sein wird, weder auf den Greenwich meridian of literature noch in erster Linie auf nationale Referenzpunkte ausgerichtet. Im Gegensatz dazu entwickelt sie eine transnationale Literaturpolitik, die auf der Idee von klassenmäßig unterscheidbaren Weltliteraturen basiert und an der Vorstellung einer kommunistischen Weltrevolution orientiert ist. Internationalistische Weltliteratur ist in diesem Sinne in einem nicht geringen Maße heteronom, jedoch eben nicht heteronom im Sinne nationaler oder gar nationalistischer Literaturpolitik. Im Gegensatz zu Casanova verbindet Franco Moretti, der sich trotz des Umstandes, dass er zu den meistzitierten Autor*innen in Diskussionen über Weltliteratur gehört, nur in drei kurzen Essays explizit mit dem Thema beschäftigt hat, das Politische in der Literatur nicht ausdrücklich mit dem Nationalen. Zudem kombiniert er eine literatursoziologische Methodologie, die er in Anlehnung an die Weltsystemtheorie entwickelt und als „sociological formalism“²⁰ bezeichnet, mit Elementen der aus den Naturwissenschaften stammenden Evolutionstheorie. Weltliteratur nicht als „object“, sondern als „a problem that asks for a new critical method“ begreifend,²¹ entwickelt er die provokative und umstrittene Methode des distant reading. Eher als durch close reading sei den prinzipiell unerfassbaren Textmengen der Weltliteratur noch durch die synthetisierende Analyse bereits bestehender Forschung und vor allem digital erfasster Primärliteratur beizukommen. Dies erlaube die Konzentration auf Einheiten („units“), die „much smaller or much larger than the text [seien]: devices, themes, tropes–or genres and systems“.²² Dieses Verfahren ermögliche es nicht nur über einen engen Kanon hinauszugehen, sondern erlaube vor allem auch das Erkennen von sogenannten „law[s] of literary evolution“,²³ die die Weltliteratur bestimmten.²⁴ Eine Grenze dieses Verfahrens scheint mir offensichtlich zu sein: Es bearbeitet nur das, was in der Forschung bzw. digital bereits erfasst ist. Ein historisches Phänomen wie die internationalistische Weltliteratur, das bisher bestenfalls marginale Beachtung gefunden hat, wird so wahrscheinlich unbeachtet bleiben und seine Analyse wird
Franco Moretti: Conjectures on World Literature. In: New Left Review 1 (2000), S. 66. Moretti: Conjectures on World Literature, S. 55. Moretti: Conjectures on World Literature, S. 57. Moretti: Conjectures on World Literature, S. 58. Hervorhebung im Original. Für eine kritische Darstellung von Morettis Weltliteraturtheorie und eine Verortung seiner drei Weltliteraturessays in seinem Gesamtwerk vgl. Mads Rosendahl Thomsen: Franco Moretti and the Global Wave of the Novel. In: D’haen/Damrosch/Kadir (Hg.): The Routledge Companion to World Literature, S. 136 – 144.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
nicht das beeinflussen, was wir als Weltliteratur historisch oder theoretisch fassen können. Mit Casanova verbindet Moretti nun, dass er Asymmetrien im weltliterarischen System mit Blick auf die Verhältnisse von verschiedenen Nationen und Regionen theoretisiert: […] like capitalism, Weltliteratur is itself one and unequal, and its various components–the world’s many national and local literatures–are often thwarted in their development by their position within the system as a whole. […] within the international literary system, ‘there is no symmetry’: powerful literatures from the core constantly ‘interfere’ with the trajectory of peripheral ones (whereas the reverse almost never happens), thus constantly increasing the inequality of the system.²⁵
Einer der interessantesten Aspekte von Morettis Ansatz besteht nun darin, dass er diese Asymmetrien in der literarischen Form selbst verfolgt. So beobachtet er Hybridisierungsprozesse literarischer Formen zwischen Zentrum, Peripherie und Semi-Peripherie, die seines Erachtens durch das Zentrum dominiert werden.²⁶ In welchem Maße diese global zirkulierenden literarischen Formen selbst Resultate von Hybridisierung sind, also etwa von Hybridisierungen zwischen kulturellen Praktiken verschiedener Klassen, lässt Moretti weitestgehend außer Acht; seine Texte suggerieren eine gewisse Homogenität der Ausgangskulturen, deren eigene Asymmetrien er nicht thematisiert. Während Moretti also wie Casanova weltliterarische Machtdynamiken vor allem mit Blick auf nationale und lokale Literaturen konzipiert, verfügt seine Theorie über ein flexibleres Verständnis von literarischen Subsystemen, weil er diese nicht auf nationale Räume beschränkt. So spricht Moretti von „[s]ub-systems made relatively homogenous by language, religion or politics“²⁷ und weist damit in die Richtung transnationaler und regionaler literarischer Subsysteme. Diese Idee des Subsystems und seines Verhältnisses zum weltliterarischen System bleibt in Morettis Weltliteraturtheorie jedoch unentwickelt. Instruktiv für meine Zwecke ist Morettis Versuch, Weltliteratur zu pluralisieren, d. h., von der Existenz von mehr als nur einer Weltliteratur auszugehen. Moretti unterscheidet historisch und erzählt eine Art Abfolgegeschichte, in der
Franco Moretti: Evolution, World-Systems, Weltliteratur. In: Franco Moretti: Distant Reading. London 2013, S. 127. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Moretti: Conjectures on World Literature, S. 55 f.; Franco Moretti: More Conjectures. In: New Left Review 20 (2003), S. 75 – 77. Vgl. Moretti: Conjectures on World Literature, S. 58 – 61 u. S. 64– 66.; Moretti: Evolution, World-Systems, Weltliteratur, S. 134. Moretti: More Conjectures, S. 75, Anm. 6.
2.3 Gegenöffentlichkeit, literarisch und transnational
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eine erste durch eine zweite Weltliteratur ersetzt wird. Der entscheidende Faktor sei dabei die Homogenisierung durch den internationalen Buchmarkt: […] two distinct world literatures: one that precedes the eighteenth century–and one that follows it. The ‘first’ Weltliteratur is a mosaic of separate, ‘local’ cultures; it is characterized by strong internal diversity; it produces new forms mostly by divergence […]. The ‘second’ Weltliteratur (which I would prefer to call world literary system) is unified by the international literary market; it shows a growing, and at times stunning amount of sameness; its main mechanism of change is convergence […].²⁸
Das Problem, das sich nun mit Blick auf das historische Phänomen einer internationalistischen Weltliteratur stellt, ist, dass Moretti Weltliteraturen nur diachron unterscheidet, nicht aber synchron. Indem er die zweite Weltliteratur mit dem internationalen Buchmarkt in eins setzt, müssen ihm sich historisch zeitgleich ereignende literarische Öffentlichkeiten entgehen. Diese mögen zum internationalen Buchmarkt in Beziehung stehen, nicht aber in ihm aufgehen: weder hinsichtlich ihrer Literarizitätskritieren – also der jeweiligen Festlegung dessen, was als Literatur zählt – noch hinsichtlich der Art und Weise, wie Literatur in diesen Räumen zirkuliert. Literarische Gegenbewegungen zu dem von Moretti diagnostizierten „stunning amount of sameness“, lassen sich – so meine Hypothese – nicht nur mit Blick auf nationale oder lokale Literaturen verfolgen, sondern auch mit Bezug auf die Literaturen transnationaler literarischer Gegenöffentlichkeiten, d. h. von literarischen Öffentlichkeiten, die weder national noch ausschließlich oder vor allem lokal sind. Die sich zur Zeit der Weimarer Republik konstituierende internationalistische Weltliteratur ist ein Beispiel für eine solche andere Öffentlichkeit der Weltliteratur.
2.3 Gegenöffentlichkeit, literarisch und transnational Wenn es, wie Moretti selbstkritisch anmerkt, in der von ihm adaptierten Evolutionstheorie kein „equivalent for the idea of social conflict“²⁹ gibt – also für etwas, das eine kritische Sozial- und Kulturtheorie erklären können muss –, dann scheint es mir ein mindestens ebenso großes Problem zu sein, dass es in Morettis Modell kein Nachdenken über Akteurshandlungen und kein Konzept von Öffentlichkeit gibt. Stattdessen zirkulieren Texte bei Moretti auf dem literarischen Weltmarkt nach bestimmten Gesetzen. Eine Theoretisierung von sozialen Konflikten, selbst
Moretti: Evolution, World-Systems, Weltliteratur, S. 134 f. Hervorhebung im Original. Moretti: Evolution, World-Systems, Weltliteratur, S. 122.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
wenn diese im Feld der Literatur stattfinden, müsste aber zumindest die daran beteiligten Akteure benennen und ihre – in welchem Maße auch immer durch soziale und kulturelle Bedingungen ermöglichten und beschränkten – Handlungen und Diskurse analysieren können. Sie müsste deshalb ferner beschreiben können, wie diese Akteure hinsichtlich sozialer Stratifikationen und kultureller Differenzsetzungen situiert sind und sich selbst positionieren. In diesem Kontext ist es wichtig anzumerken, dass Morettis homogenisierende Identifizierung der zweiten Weltliteratur mit dem „international literary market“ tendenziell den Blick auf gesellschaftlich unterschiedlich positionierte literarische Öffentlichkeiten verstellt, welche eine weltliterarische Zirkulation jenseits dieses Marktes erzeugen. Im Anschluss an die Öffentlichkeitstheorien von Nancy Fraser und vor allem Michael Warner, die beide besonderen Nachdruck auf die Theoretisierung von subalternen Öffentlichkeiten und von Gegenöffentlichkeiten legen, entwickelt dieses Kapitel das Konzept der transnationalen literarischen Gegenöffentlichkeiten und konzentriert sich dabei historisch auf die internationalistische Weltliteratur der Weimarer Republik. Öffentlichkeiten interessieren mich weniger im Sinne einer „normative political theory of democracy“,³⁰ wie Nancy Fraser im Anschluss an Jürgen Habermas formuliert, also nicht hinsichtlich der Frage, welche Bedingungen Öffentlichkeiten – begriffen als Sphären eines im weitesten Sinne kritisch-rationalen Diskurses – erfüllen müssen, um im demokratischen Prozess als legitim und wirksam gelten zu können. Mein Interesse gilt Öffentlichkeiten als sozio-kulturellen Räumen, in denen bestimmte Formen des Zusammenseins durch Praktiken, Medien und Diskurse konstruiert werden und die zugleich Produkte von bestimmten Vorstellungen solchen Zusammenseins sind. In diesem Sinne sind Öffentlichkeiten imaginiert und zugleich wirklich. Sie sind „a kind of fiction that has taken on life“³¹ – „vorgestellte Gemeinschaften“, um Benedict Andersons Ausdruck zu bemühen.³² Eher als eine Öffentlichkeit mit einer gesellschaftlichen Gruppe – zum Beispiel mit dem Proletariat oder dem Bürgertum – zu identifizieren oder gar gleichzusetzen, ist Öffentlichkeit plausibler im Sinne Michael Warners zu verstehen: Eine Öffentlichkeit existiert nur, insofern sie als solche durch öffentliche Sprechakte adressiert wird und die adressierten Individuen, die sich oft als Fremde gegenüberstehen, sich als Öffentlichkeit adressiert fühlen und so an der Öffentlichkeit – bzw. ihrer kontinuierlichen performativen Konstruktion – parti Nancy Fraser: Transnationalizing the Public Sphere. On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Post-Westphalian World. In: Theory, Culture & Society 24 (2007), H. 2, S. 7. Michael Warner: Publics and Counterpublics. New York 2002, S. 8. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Revised Edition. London/New York 1991, S. 5 – 7.
2.3 Gegenöffentlichkeit, literarisch und transnational
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zipieren.³³ Warner bezeichnet Öffentlichkeit in diesem Sinne als „self-organizing discourse“. Dieser wird allerdings durch bestimmte, ihm äußerliche und ihm zugehörige, nicht jedoch auf ihn reduzible Bedingungen ermöglicht und begrenzt: […] although the premise of self-organizing discourse is necessary to the peculiar cultural artifact that we call a public, it is contradicted both by material limits – means of production and distribution, the physical textual objects, social conditions of access – and by internal ones, including the need to presuppose forms of intelligibility already in place, as well as the social closure entailed by a selection of genre, idiolect, style, address, and so on.³⁴
Zwei Aspekte sind deshalb bereits an dieser Stelle als wichtig für meine Analyse der Öffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur in der Weimarer Republik festzuhalten. Erstens ist die Öffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur weder mit dem Proletariat gleichzusetzen noch mit einer bestimmten, im engeren Sinne politischen Öffentlichkeit der Arbeiterbewegung – zu beiden steht sie freilich in Beziehung. Die Öffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur wird als Öffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur selbst adressiert und so erst ins Leben gerufen bzw. am Leben gehalten. Zweitens wird daher zu analysieren sein, auf welche Weise sich die Öffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur selbst organisiert, d. h. performativ konstruiert, und unter welchen Bedingungen dies geschieht. Wenn nun die Öffentlichkeit der internationalistischen Weltliteratur mit der sozialen Gruppe lohnarbeitender und erwerbsloser Proletarier nicht in eins gesetzt werden kann, so muss ihre Selbstorganisation als weltliterarische Öffentlichkeit doch im Verhältnis zu sozialer Stratifikation gesehen werden. Wie Fraser argumentiert hat, ist die von Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) untersuchte bürgerliche Öffentlichkeit u. a. durch das Problem charakterisiert, dass sie sich zwar als inklusiver Partizipationsraum selbst beschreibt, in ihrer historischen Wirklichkeit jedoch durch vielfältige Exklusionen charakterisiert ist – so zum Beispiel durch den Ausschluss von Gruppen und Individuen, die aufgrund von Klasse oder Geschlecht gesellschaftlich subordiniert werden.³⁵ Zudem, so Fraser weiter, wäre es ein Fehler, die bürgerliche Öffentlichkeit mit der Öffentlichkeit gleichzusetzen. Vielmehr ist historisch eine „plurality of competing publics“³⁶ nachweisbar. Zu diesen Öffentlichkeiten gehören „subaltern counter Vgl. Warner: Publics and Counterpublics, S. 67, S. 73 u. S. 87 f. Warner: Publics and Counterpublics, S. 72 f. Nancy Fraser: Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy. In: Social Text 25/26 (1990), S. 59 f. Fraser: Rethinking the Public Sphere, S. 61.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
publics“: „[…] they are parallel discursive areas where members of subordinated social groups invent and circulate counterdiscourses, which in turn permit them to formulate oppositional interpretations of their identities, interests, and needs.“³⁷ Für das Anliegen meines Buches ist Frasers Ansatz wichtig, da sie (Gegen‐)Öffentlichkeit, soziale Stratifikation und gesellschaftlichen Konflikt zusammendenkt. Wie Warner jedoch richtig feststellt, bleibt Frasers Konzeption der Gegenöffentlichkeit – der Habermaschen Idee des kritisch-rationalen Diskurses folgend – allerdings weitestgehend auf Inhalte beschränkt. Im Gegensatz dazu bindet sich für Warner Gegenöffentlichkeit nicht nur an oppositionelle Inhalte, sondern zudem an eine kritische Re-Imagination öffentlicher Geselligkeit: „[a] difference of kind, or of formal mediation, or of discourse pragmatics“.³⁸ Im Unterschied zum klassisch bürgerlichen Verständnis von Öffentlichkeit, nach dem sich Individuen als rationale und kritische Subjekte in einer nationalen Konversation gegenübertreten, richtet sich die Gegenöffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur an dem laut Oskar Negt und Alexander Kluge „Kernpunkt proletarischer Kulturrevolution [aus]: [der] Organisierung der kollektiven proletarischen Erfahrung“.³⁹ Die Gegenöffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur rückt – sowohl in ihren Organisationsformen, Diskursen und literarischen Texten – Kollektive als Handelnde gegenüber Individuen in den Vordergrund und stellt diese in einen dezidiert transnationalen Zusammenhang. Diese alternative Imagination von Geselligkeit verbindet sich mit dem Bewusstsein („awareness“) dieser Gegenöffentlichkeit von ihrem „subordinate status“: „The cultural horizon against which it [a counterpublic; C.S.] marks itself off is not just a general or wider public but a dominant one.“⁴⁰ Die Gegenöffentlichkeit, die sich um die Idee und Praxis einer internationalistischen Weltliteratur formiert, grenzt sich so immer wieder gegen eine als dominant vorgestellte bürgerliche Weltliteratur ab. Jedoch unterscheidet sich diese Gegenöffentlichkeit in einer ganz grundlegenden Weise von anderen Gegenöffentlichkeiten, beispielsweise den von Warner diskutierten queer publics. Die im historischen Jetzt von den Akteuren erfahrene Untergeordnetheit der Gegenöffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur und die Marginalisierung ihrer Literatur verbindet sich mit dem – etwa im Manifest der Kommunistischen Partei formulierten – Selbstverständnis, „die selbstständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren
Fraser: Rethinking the Public Sphere, S. 67. Hervorhebung im Original. Warner: Publics and Counterpublics, S. 118. Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1972, S. 310. Warner: Publics and Counterpublics, S. 119.
2.3 Gegenöffentlichkeit, literarisch und transnational
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Mehrzahl“⁴¹ literarisch zu repräsentieren. Die Gegenöffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur projiziert sich auf diese Weise als zukünftigen Hegemon, also nicht als historisch permanente Gegenöffentlichkeit und nicht als nur eine Öffentlichkeit, sondern als diejenige Öffentlichkeit, welche das Interesse der Allgemeinheit vertritt. Kann argumentiert werden, dass die meisten – wenn nicht gar alle – Öffentlichkeiten eine literarische Dimension besitzen, insofern die Verbreitung geschriebener wie gesprochener Texte eine grundlegende Rolle für ihre Formation spielt,⁴² dann ist die Gegenöffentlichkeit der internationalistischen Weltliteratur jedoch zudem eine literarische Öffentlichkeit in einem engeren Sinne. Sie formiert sich u. a. durch Diskussionen über Literarizitätskritieren, die Privilegierung bestimmter Genres, die Erstellung von Kanons, die Publikation von Literaturkritiken und -reportagen, die Produktion und Distribution von literarischen Zeitschriften und Buchreihen und die Praxis von Buchgemeinschaften, Literaturfesten und Schriftstellerkongressen. Während zu den Grundlagen dieser Gegenöffentlichkeit außerliterarische Faktoren gehören, nämlich zum Beispiel eine internationalistische Arbeiterbewegung und die Postulierung einer transnational geteilten proletarischen Erfahrung, bildet sich das Weltliterarische dieser Gegenöffentlichkeit durch die Forderung, dass eine transnational geteilte proletarische Erfahrung einer eigenen Weltliteratur bedarf, die sich vom bürgerlichen Kanon sowie von bürgerlicher Trivialliteratur unterscheidet – sowohl hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Form als auch ihrer Produktions- und Distributionsbedingungen. Diese Literaturpolitik der Klassendifferenz ist essentiell für die performative Selbstkonstruktion der Gegenöffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur in der Weimarer Republik und lässt sich in verschiedenen Varianten von den Anlehnungen Franz Jungs an den Proletkult bis zur im Kontext des „Lagerdenken[s]“⁴³ der KPD entstehenden Zeitschrift Die Linkskurve verfolgen. Solchen differenzpolitischen Selbstinszenierungen der internationalistischen Weltliteratur stehen, wie diese Arbeit zeigt, hybride ästhetische Formen sowie Interaktionen über Klassengrenzen hinweg gegenüber, welche eine binäre identitätspolitische und essentialistische Entgegensetzung von proletarischer und bürgerlicher Kultur unterminieren.⁴⁴ Bestimmte literarische Genres wie etwa der Roman, Medien wie die Literaturzeitschrift und Organisationsformen wie die
MEW 4, S. 472. Vgl. Warner: Publics and Counterpublics, S. 16. Negt/Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 391. Vgl. Christoph Schaub: Verhinderte Selbsterforschung und Ethnographie des Urbanen in der Weimarer Republik. Karl Grünbergs „Brennende Ruhr“ und Klaus Neukrantz’ „Barrikaden am Wedding“. In: Weimarer Beiträge 62 (2016), H. 4, S. 561– 583.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
Buchgemeinschaft werden zum Zwecke der performativen Konstruktion „der kollektiven proletarischen Erfahrung“ (Negt/Kluge) adaptiert und dabei transformiert.⁴⁵ Inwiefern sind nun die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur als transnational zu bezeichnen? Fraser nennt sechs soziale und kulturelle Aspekte, aufgrund derer eine Öffentlichkeit als transnational beschrieben werden kann. Für die Bestimmung der Gegenöffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur als transnational sind vor allem drei Punkte wichtig. Eine transnationale Öffentlichkeit stimmt nicht mit einer geteilten Nationalität oder Staatsbürgerschaft überein; ihre alternativen Medien erfüllen nicht die Funktionen von nationalen Medien; und die soziale Imagination dieser Öffentlichkeit beruht nicht auf der Annahme einer Nationalliteratur.⁴⁶ Die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur formierten sich nun aufgrund der Annahme einer transnational geteilten Klassenposition bzw. der Zugehörigkeit zu einer Klasse und einer politischen Bewegung (und nicht zu einer Nation); ihre alternativen Medien dienten der Vernetzung von Aktivisten und der Zirkulation von Literatur über nationale Grenzen hinweg; und ihre soziale Imagination stand in Beziehung zu einer internationalistischen Literatur, deren Grundlage keine Nationalsprache und kein nationales Kulturerbe, sondern eine transnational geteilte proletarische Erfahrung sowie die Idee war, dass das Proletariat seine eigene Literatur schaffen könne. All dies bedeutet jedoch nun nicht, dass das Nationale vollkommen aus den Debatten, Praktiken und Repräsentationsformen der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur verschwand. So sind beispielsweise Nationalbezeichnungen in die Namen von Organisationen eingelassen und in Zeitschriften wurden Literaturentwicklungen oftmals mit Verweis auf den Nationalstaat, in dem sie sich ereigneten, präsentiert. Hinzu kommen Machtasymmetrien innerhalb der kommunistischen Literaturbewegung. Eine Zentrum-PeripherieDynamik entfaltete sich durchaus entlang des Erfolgs der kommunistischen Bewegung in verschiedenen Nationalstaaten – die Vorbildfunktion proletarischer Literatur aus Russland (und zeitweise aus Deutschland) ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. Entscheidend aber ist, dass die Akteure – also Schreibende, Lesende und Organisierende – in der performativen Konstruktion internationalistischer Literatur als weltliterarisch und als Teil einer transnationalen politischen Massenbewegung adressiert wurden. Sie partizipierten an einem literaturpolitischen
Vgl. Negt/Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 108 – 110. Vgl. Fraser: Transnationalizing the Public Sphere, S. 15 – 19.
2.3 Gegenöffentlichkeit, literarisch und transnational
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Projekt, das die bürgerliche Nationalliteratur überwinden wollte. Wenn Weltliteratur, wie Manfred Schmeling treffend formuliert hat, durch ihre „Zukunftsorientierheit“⁴⁷ charakterisiert ist (d. h., dass Weltliteratur immer eher etwas ist, das sich noch realisieren wird, als etwas, das bereits Wirklichkeit ist), dann trifft dies in besonderem Maße auf ihre internationalistische Variante zu. Denn in dieser konvergieren literarische und politische Zukunftsentwürfe aufgrund der geteilten Hoffnung auf eine proletarische Weltrevolution. Die transnationalen Gegenöffentlichkeiten, die die Texte und Praktiken internationalistischer Weltliteratur produzierten, können deshalb auch als soziale Imaginationen verstanden werden, die nicht nur die Lebenswelten der Akteure der Arbeiterbewegung in der Gegenwart strukturierten, sondern auch ihren Zukunftsvorstellungen eine Form gaben. Die transnationale Gegenöffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur in der Weimarer Republik war in ihrer spezifischen Lokalisiertheit so immer in konkreten, sie erst produzierenden Praktiken und Diskursen verankert und blieb zugleich Zukunftswunsch. Ihr ist damit eine futuristische Zeitlichkeit eingeschrieben, durch welche sie eine zur Gegenwart alternative, zukünftige Welt durch sozio-kulturelle Praktiken und literarische Imaginationen gestalten wollte.⁴⁸ Meine Wahl der im Folgenden analysierten Gegenstände – Franz Jungs literaturpolitischer Aktivismus, die Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle, die literarischen Zeitschriften Die Linkskurve und New Masses – hat mehrere Gründe, zielt aber keinesfalls darauf, ein vollständiges Bild der internationalistischen Weltliteratur in der Weimarer Republik geben zu wollen. Erstens hat diese Auswahl den Vorteil, dass sie den gesamten Zeitraum der Weimarer Republik abdeckt und literaturgeschichtlich entscheidende Momente wie den Einfluss des Proletkults in der frühen sowie die Debatten um eine sogenannte proletarischrevolutionäre Literatur in der späten Weimarer Republik umfasst. Zweitens bilden die ausgewählten kultur- und literaturgeschichtlichen Kontexte die konkreten Produktions-, Distributions- und Rezeptionszusammenhänge der literarischen Texte von Jung, Seghers und Kisch, die ich in den folgenden Kapiteln diskutiere. Die Analysen dieser Versuche, eine internationalistische Weltliteratur in der Weimarer Republik organisatorisch und diskursiv zu gestalten, unterstützen also das Argument meiner Arbeit, dass es sich bei den analysierten Texten nicht nur um literarische Werke handelt, die in ihrer Diegese literarische Welten in Auseinandersetzung mit dem politischen Internationalismus konstruieren, son Manfred Schmeling: Einleitung. In: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven. Hg. v. Manfred Schmeling. Würzburg 1995, S. IX. Zum Verhältnis von Weltliteratur, Zeitlichkeit und „world-making“ vgl. Pheng Cheah: What is a World? On Postcolonial Literature as World Literature. Durham/London 2016.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
dern dass ihre literarischen Weltentwürfe im Verhältnis zu zeitgenössischen Versuchen standen, eine internationalistische Weltliteratur durch die kulturpolitischen Medien und Organisationen der Arbeiterbewegung zu produzieren. Drittens erlaubt meine Auswahl der Gegenstände die Diskussion verschiedener Praktiken und Medien, die für das Entstehen internationalistischer Weltliteratur eine wichtige Rolle gespielt haben – zum Beispiel die Figur des Literaturaktivisten, die Organisationform der Buchgemeinschaft, die Veranstaltungsform des Literaturkongresses oder das Medium der kleinen literarischen Zeitschrift. Meine Auswahl ermöglicht es mir viertens, verschiedene Grade der organisatorischen Verstetigung internationalistischer Weltliteratur in der Weimarer Republik sowie ihrer transnationalen Verknüpfung mit anderen literarischen Gegenöffentlichkeiten zu diskutieren. Verschiedene historische Momente internationalistischer Weltliteratur lassen sich dabei durchaus im Sinne von geringer organisatorischer Verstetigung und eher geringer transnationaler Verknüpfung (Jung), hoher organisatorischer Verstetigung mit eher geringer transnationaler Verknüpfung (UBFA) sowie hoher Verstetigung und hoher transnationaler Verknüpfung (Die Linkskurve, New Masses) beschreiben. Gleichzeitig kommt es historisch zu einer Verringerung der ideologischen Offenheit des Feldes internationalistischer Weltliteratur. Trotz der Feststellung dieser Tendenzen geht es mir in diesem Kapitel nicht darum, einen progressiven Entwicklungsprozess internationalistischer Weltliteratur zu behaupten, und schon gar nicht einen teleologischen, in dessen Verlauf sich diese Literatur vermeintlich von den Anfängen im Proletkult zu ihrem höchsten Stadium in der Literatur des sozialistischen Realismus entwickelt habe – eine Erzählung, die in der Literaturwissenschaft der realsozialistischen Staaten zu finden ist.⁴⁹ Stattdessen bin ich an den verschiedenen diskursiven Füllungen und organisatorischen Verwirklichungsversuchen interessiert, die die Utopie einer internationalistischen Weltliteratur in eine soziale und kulturelle Praxis transformieren sollten. Dabei wird sich zeigen, dass die „vorgestellte Gemeinschaft“ der internationalistischen Weltliteratur weder eine homogene noch nur eine einzige war.⁵⁰ Wie für die in den literarischen Texten entworfenen internationalistischen Kollektive ist auch für die durch soziale, kulturelle und mediale Praktiken er-
Vgl. Oleg Jegorow: Die sozialistische Revolution und die internationalen proletarischen Literaturvereinigungen. In: Literatur der Arbeiterklasse. Aufsätze über die Herausbildung der deutschen sozialistischen Literatur (1918 – 1933). Hg. v. Deutsche Akademie der Künste zu Berlin, Sektion Literatur und Sprachpflege, Abteilung Geschichte der sozialistischen Literatur. Berlin/ Weimar 1971, S. 204– 237. Zu Benedict Andersons Begriff „vorgestellte Gemeinschaft“ und dessen Nützlichkeit zur Beschreibung internationalistischer Weltliteratur vgl. meine Diskussion in Abschnitt 2.6.
2.4 Ein neues Weltliteraturkonzept und sein Kontext in der Weimarer Republik
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zeugten Gemeinschaften internationalistischer Weltliteratur Heterogenität charakteristisch.
2.4 Ein neues Weltliteraturkonzept und sein Kontext in der frühen Weimarer Republik Im Juni 1921 schrieb der avantgardistische Schriftsteller und politische Aktivist Franz Jung aus dem Untersuchungsgefängnis in Breda in den Niederlanden, von wo er unter falschem Namen zu einer Versammlung linker Arbeiterparteien nach England zu reisen versucht hatte, an Cläre Jung. Sich gegen eine mögliche Auslieferung an die deutschen Behörden wehrend, arbeitete er zugleich an seinem Roman Die Eroberung der Maschinen. Dieser sollte nicht nur einer kollektiven Erzählweise, sondern auch der Utopie einer internationalistischen Weltrevolution Gestalt geben. Im Brief an seine Frau entwarf Jung, der zu diesem Zeitpunkt seine Russisch- und Finnischkenntnisse zu verbessern versuchte, eine weltliterarische Publikationsvorstellung, die der internationalistischen Politik seines Romans entsprach: Ich arbeite hier noch an einer größeren Arbeit [Die Eroberung der Maschinen; C.S.], die für das Feuilleton einer Zeitung geeignet ist. Man könnte dann dieses Werk zugleich mit Jack London Iron Heel [sic!] […] mit Bogdanoff und einem Zola in einer Bibliothek societärer Utopien in Romanform in allen größeren Sprachen zugleich erscheinen lassen von einer Centralstelle des Proletkults aus. Es kommen sicher 10 – 13 Bände dafür insgesamt in Betracht […]⁵¹
Jungs Idee einer Veröffentlichung der Buchreihe „in allen größeren Sprachen zugleich“ durch eine der proletarischen Kulturbewegung verpflichtete und transnational orientierte Organisation erinnert durch die Betonung der simultanen Publikation in verschiedenen Sprachen an den Beginn des Manifests der Kommunistischen Partei (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels.⁵² Dort beschreiben die Autoren ebenfalls die Vision der weltliterarischen Zirkulation eines Textes der Arbeiterbewegung:
Franz Jung: An Cläre Jung, 26. Juni 1921, JW 9.1, S. 54. Hervorhebung im Original. Während Jung die Organisation des Proletkults nicht näher spezifiziert, ist davon auszugehen, dass diese im Zusammenhang mit dem im August 1920 gegründeten Provisorischen Internationalen Büro für Proletkult gestanden haben muss. Vgl. Oleg W. Jegorow/Iewgeni F. Trustschenko: Die Rolle des IVRS bei der Formierung der internationalen Literatur des sozialistischen Realismus in den zwanziger und dreißiger Jahren. In: Internationale Literatur des sozialistischen Realismus 1917– 1945. Aufsätze. Hg. v. Georgi Dimow u. a. Berlin/Weimar 1978, S. 561.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
Zu diesem Zwecke [der Darstellung der kommunistischen Weltanschauung; C.S.] haben sich Kommunisten der verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest entworfen, das in englischer, französischer, deutscher, italienischer, flämischer und dänischer Sprache veröffentlicht wird.⁵³
Marxʼ und Engels’ Text ist in Debatten über Weltliteratur zum beinahe kanonischen Referenzpunkt geworden. Dies ist er jedoch nicht aufgrund der eben zitierten Passage, in der der Begriff Weltliteratur zugegebenermaßen gar nicht fällt, sondern aufgrund einer anderen Stelle. Dort argumentieren Marx und Engels, dass die zunehmende ökonomische und kulturelle Integration des Weltmarktes auch zu einer – mithin homogenisierenden – Integration im Bereich der Literatur führe. Weltliteratur entstehe als Folge der Entwicklung des globalen Kapitalismus und ist für Marx und Engels als „kosmopolitisch[e]“ Alternative zu nationalen Literaturpolitiken durchaus zu begrüßen: Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. […] An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.⁵⁴
Mit anderen Worten: Weltliterarische Zirkulation, für deren Entstehen bewusst handelnde Akteure keine Rolle in dieser Formulierung spielen, ist ein marktförmiger Prozess, ein Nebenprodukt der ökonomischen Globalisierung. Wie Jungs Vision einer „Bibliothek societärer Utopien in Romanform“, die durch eine Organisation des Proletkults vertrieben werden sollte, weist auch die von mir zuerst zitierte Passage aus dem Manifest der Kommunistischen Partei auf eine der bekannteren Stelle gegenüber alternative Vorstellung von Weltliteratur hin. Beide Passagen setzen nämlich eine transnationale, durch das geteilte Projekt der Weltrevolution sich konstituierende politische Öffentlichkeit voraus, die den Verbreitungszusammenhang der jeweiligen Texte darstellt; zugleich streben es Marx, Engels und Jung an, durch ihre Texte zum Aufbau einer solchen Öffentlichkeit beizutragen. Das Manifest der Kommunistischen Partei inszeniert sich als das Produkt der Handlungen eines transnationalen kommunistischen Kollektivs, das den Text aus politischen Gründen geschrieben habe und ihn nun si-
MEW 4, S. 461. MEW 4, S. 466.
2.4 Ein neues Weltliteraturkonzept und sein Kontext in der Weimarer Republik
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multan in verschiedenen Sprachen publizieren werde.⁵⁵ Ähnlich begreift auch Jung weltliterarische Zirkulation als das Resultat eines von (kultur‐)politischen Interessen geleiteten Projekts. In beiden Zitaten wird Weltliteratur also nicht als marktförmiges Phänomen gedacht. Diese Vorstellung von Weltliteratur als internationalistischem Projekt bildete nicht nur eine Grundlage für Jungs literaturpolitisches Engagement in der frühen Weimarer Republik. Sie sollte auch charakteristisch für die weltliterarischen Politiken der Arbeiterbewegung in der mittleren und späten Weimarer Republik werden, welche dieses Kapitel insbesondere an den Beispielen der UBFA und der Linkskurve diskutiert. Während es Jahrzehnte dauern sollte, bis das Manifest der Kommunistischen Partei die transnationale und vielsprachige Verbreitung entfaltete, die seine Autoren bereits 1848 angekündigt hatten,⁵⁶ blieb Jungs Idee einer „Bibliothek societärer Utopien in Romanform“ unverwirklicht. Die Eroberung der Maschinen erschien stattdessen 1923 im Berliner Malik-Verlag als neunter Band der Roten Roman-Serie, einer Reihe, in der auch Romane von Oskar Maria Graf, John Dos Passos und Upton Sinclair veröffentlicht wurden.⁵⁷ Mit dem von Wieland Herzfelde betriebenen Malik-Verlag, der zwar mit der KPD verbunden, aber von ihr und der Kommunistischen Internationale „finanziell wie organisatorisch […] absolut unabhängig war“,⁵⁸ ist der Kontext benannt, in dem sich in der frühen Weimarer Republik eine internationalistische Weltliteratur organisatorisch und theoretisch zu bilden begann. Diese wurde durch Entwicklungen im revolutionären Russland angeregt und beeinflusst. Die erfolgreiche Revolution hatte in Russland auch die staatliche Unterstützung kulturrevolutionärer Bewegungen möglich gemacht, die eine proletarische Kultur schaffen wollten. Dabei waren die Fragen, was ein proletarische Kultur sei und wer für die proletarische Kultur sprechen dürfe, höchst umstritten – und zwar sowohl innerhalb der proletarischen Kulturbewegung selbst als auch zwischen diesen Selbstorganisationsbestrebungen und führenden Bolschewiken wie Lenin und Trotzki.⁵⁹ Alexander Bogdanov, der bekannteste Theoretiker des Proletkults, argumentierte, dass eine neue, von der bürgerlichen grundsätzlich verschiedene
Vgl. hierzu auch Martin Puchner: Poetry of the Revolution. Marx, Manifestos, and the AvantGardes. Princeton/Oxford 2006, S. 52. So erschien die erste englische Übersetzung erst 1850, die erste französische 1870, die erste dänische 1884 und die erste italienische 1889. Vgl. Puchner: Poetry of the Revolution, S. 64 f. Zur Reihe vgl. Germaine Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik. Bern/New York 1993, S. 66 f. Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik, S. 178. Vgl. Mark D. Steinberg: Proletarian Imagination. Self, Modernity, and the Sacred in Russia, 1910 – 1925. Ithaca/London 2002, S. 50 – 61.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
und kollektive proletarische Kultur geschaffen werden müsse. Der Proletkult entwickelte sich während der Revolution in ein „national network of cultural clubs and associations“,⁶⁰ das eine Infrastruktur für proletarische Selbstartikulation bildete. Im Sinne des Internationalismus der kommunistischen Bewegung gab es im revolutionären Russland zudem schon früh Versuche, dieses Netzwerk zu globalisieren. 1920 wurde auf dem zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale die Gründung einer internationalen Proletkultstelle angekündigt und beim dritten Kongress 1921 das Projekt einer Literaturinternationale diskutiert. War damit die Idee einer internationalistischen Weltliteratur im Diskurs der kommunistischen Bewegung artikuliert worden, schienen sich beide Initiativen allerdings bald im Sande verlaufen zu haben. Es dauerte bis Mitte der 1920er Jahre, einem Zeitpunkt also, als der Prolekult schon unwichtig geworden war, bis sich die kommunistische Literaturbewegung auch auf transnationaler Ebene organisatorisch verstetigen konnte.⁶¹ Nicht nur fehlte eine nationalstaatlich geförderte Infrastruktur für eine proletarische Kulturbewegung wie in Russland nach Ende des Ersten Weltkrieges in Deutschland vollkommen. Im literaturpolitischen Kontext der neu gegründeten KPD fand der Prolekult, über den seit Anfang 1919 Informationen in Deutschland zirkulierten,⁶² außerdem von Beginn an kaum Anklang. Dort dominierte – personifiziert insbesondere durch Gertrud Alexander, der wichtigsten Literaturkritikerin der KPD-Tageszeitung Die Rote Fahne – ein traditionalistisches, an die Positionen Franz Mehrings angelehntes Literaturverständnis. Dieses favorisierte die bürgerlichen Klassiker und ging mit einer Ablehnung der literarischen Moderne und vor allem der Avantgarden einher.⁶³ Anders war dies jedoch im linkskommunistischen Kulturmilieu, das aus den dadaistischen und expressionistischen Avantgarden hervorgegangen war und sich mit der Novemberrevolution der Arbeiterbewegung angeschlossen hatte. Diese Künstler und Aktivisten, zumeist Männer, standen oft der 1920 gegründeten KAPD nahe, die den Rätegedanken
Steinberg: Proletarian Imagination, S. 51. Vgl. Rossen Djagalov: The Red Apostles. Imagining Revolutions in the Global Proletarian Novel. In: Slavic and East European Journal 61 (2017), H. 3, S. 401– 406. Vgl. Rüdiger Safranski/Walter Fähnders: Proletarisch-revolutionäre Literatur. In: Literatur der Weimarer Republik 1918 – 1933. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 8. Hg. v. Bernhard Weyergraf. Begründet v. Rolf Grimminger. München/Wien 1995, S. 181. Für eine differenzierte Rekonstruktion der Position der Roten Fahne mit Bezug auf die Avantgarden und das sogenannte literarische Erbe vgl. Walter Fähnders/Martin Rector: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 96 – 129.
2.4 Ein neues Weltliteraturkonzept und sein Kontext in der Weimarer Republik
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befürwortete.⁶⁴ In diesem Milieu traf der Versuch des Proletkults, eine zur Tradition des Bürgertums „völlig neue, autonome proletarische Kultur“⁶⁵ zu entwickeln, auf einen prinzipiell antibürgerlichen Gestus und ein Interesse an radikaler ästhetischer Erneuerung, die in eine Revolutionierung der Lebenswelt münden sollte. Neben den Buchpublikationen des Malik-Verlags waren die bei Malik verlegte Zeitschrift Der Gegner sowie die von Franz Pfemfert herausgegebene Die Aktion zentrale Medien, in denen die Diskussion über eine transnationale proletarische Kultur geführt wurde. So begannen John Heartfield und George Grosz im April 1920 im Gegner im Namen des Proletariats eine Polemik gegen das sogenannte bürgerliche Erbe, die als Kunstlump-Kontroverse bekannt wurde, und Bogdanovs programmatischer Aufsatz „Was ist proletarische Dichtung?“ erschien in Die Aktion. ⁶⁶ Ab Herbst 1920 organisierten Erwin Piscator und Hermann Schüller zudem ein proletarisches Theater in Berlin, das nach dem Vorbild des Proletkults zwischen 5.000 und 6.000 Arbeiter und Arbeiterinnen während seines kurzen Bestehens bis April 1921 organisierte.⁶⁷ Neben Affinitäten zwischen Prolekult und linkskommunistischer Avantgarde in Deutschland bestand ein weiterer Grund für die Entstehung der internationalistischen Weltliteratur gerade im Kontext des Malik-Verlags darin, dass die Verlage der KPD und der Kommunistischen Internationale zu Beginn der Weimarer Republik kaum belletristische Literatur publizierten, was sich erst ab 1922 änderte.⁶⁸ Die weltliterarische Praxis des Malik-Verlags hatte mehrere Dimensionen. Erstens publizierte Malik Schriften, vor allem Broschüren, im Rahmen der internationalistischen Kampagne zur Linderung der im Sommer 1921 im Wolgagebiet ausgebrochenen Hungerkatastrophe. Damit unterstützte sie die Internationale Arbeiterhilfe, die diese Kampagne in Deutschland organisierte, finanziell, organisatorisch und propagandistisch. Anzumerken ist, dass in den Broschüren oftmals Schriftsteller zu Solidarität aufriefen. Außerdem ist hervorzuheben, dass die illustrierte Zeitschrift Sowjet-Russland im Bild, die eine Vorgängerin der ArbeiterIllustrierten-Zeitung war, „monatlich in deutscher, tschechischer, französischer
Vgl. Walter Fähnders: Literatur zwischen Linksradikalismus, Anarchismus und Avantgarde. In: Literatur der Weimarer Republik 1918 – 1933, S. 161. Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik, S. 40. Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 100 – 107 u. S. 130 f. Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 138 – 146. Vgl. Siegfried Lokatis: Weltanschauungsverlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Die Weimarer Republik 1918 – 1933. Teil 2. Im Auftrage der historischen Kommission hg.v. Ernst Fischer und Stephen Füssel. Berlin/Boston 2012, S. 118 f.
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und holländischer Ausgabe [erschien]“.⁶⁹ Damit schloss der Malik-Verlag praktisch, wenn auch sicherlich nicht bewusst, an die von Marx und Engels sowie Jung formulierten weltliterarischen Zirkulationsvorstellungen an. Zweitens publizierte der Malik-Verlag theoretische, tagespolitische, biografische und belletristische Literatur von fremdsprachigen Autoren in seinen Reihen Rote Roman-Serie und Kleine revolutionäre Bibliothek. Hier dominierten Übersetzungen aus dem Russischen sowie aus dem Englischen und Französischen, welche vor allem Hermynia zur Mühlen besorgte. Unter anderem erschienen Texte von Henri Barbusse, Alexander Blok, John Dos Passos und Upton Sinclair.⁷⁰ Schließlich positionierte sich der Malik-Verlag auch diskursiv als Produzent einer alternativen Weltliteratur. So wurde die 1924 begründete Malik-Bücherei als Sammlung einer „Weltliteratur der Empörung“ beworben, die „künstlerische und historische Dokumente der sozialen und kulturellen Kämpfe aller Völker der Vergangenheit und Gegenwart“ veröffentlichen sollte.⁷¹ Folgerichtig wurde diese Reihe in einem Beitrag in der Neuen Bücherschau ausdrücklich von den bürgerlichen Weltliteraturreihen InselBücherei und Reclams Universalbibliothek abgegrenzt.⁷² Der Versuch der Etablierung einer alternativen Weltliteratur blieb jedoch nicht auf die Publikationspolitik des Malik-Verlags beschränkt. In seinem im Mai 1922 gehaltenen und später als Broschüre und in Auszügen in Die Aktion erschienenen Vortrag „Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat“ entwickelte Max Hermann-Neiße einen, wie es Martin Rector und Walter Fähnders ausdrücken, „Katalog einer antibürgerlichen Literatur von den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft bis zur Gegenwart“.⁷³ Dieser umfasste u. a. Rabelais und Zola, Anatolle France und Upton Sinclair, Hermynia zur Mühlen und Franz Jung und war damit transnational konzipiert. Der von Hermann-Neiße vorgeschlagene Kanon einer alternativen Weltliteratur wurde von anderen Autoren in den linkskommunistischen Zeitschriften Proletarier, Räte-Zeitung und Die Aktion durchaus geteilt.⁷⁴ Unter diesen war auch Franz Jung, der zudem einer der wichtigsten Autoren des Malik-Verlags war. Die von ihm im Brief an Cläre Jung artikulierte neue Form der Weltliteratur, zu deren Entwicklung er durch seine kritischen und literarischen Texte sowie seinen literaturpolitischen Aktivismus theoretisch und praktisch beitrug, gehört ohne Frage in den hier skizzierten Zusammenhang.
Vgl. Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik, S. 69 – 72, hier S. 70. Vgl. Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik, S. 64– 68. Zitiert nach Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik, S. 67 f. Vgl. Stucki-Volz: Der Malik-Verlag und der Buchmarkt der Weimarer Republik, S. 68. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 123. Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 123 f.
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2.5 Ein Aktivist internationalistischer Weltliteratur: Franz Jung Mit Franz Jung begegnet uns nicht nur ein Denker der proletarischen Weltliteratur, sondern auch ein literaturpolitischer Aktivist, der – vor allem durch sein Bemühen um die Verbreitung von Jack Londons Werk in Deutschland – bestrebt war, zum Entstehen einer internationalistischen Weltliteratur beizutragen. Geboren 1888 als Sohn eines Uhrmachermeisters in Oberschlesien, studierte er zuerst in Leipzig, später in Jena und Breslau und schließlich in München. Dort schrieb er expressionistische Prosa – bekannt ist insbesondere Das Trottelbuch (1912) – und veröffentlichte diese u. a. in Die Aktion und Der Sturm. Zudem verkehrte er in der anarchistischen Boheme, wo er zum Beispiel Erich Mühsam kennenlernte, und freundete sich mit dem Psychoanalytiker Otto Groß an, dessen Denken Jungs Schaffen stark beeinflussen sollte. Im Ersten Weltkrieg desertierte er, schloss sich dann den Berliner Dadaisten an, nahm an den Revolutionskämpfen in Berlin teil, war zuerst Mitglied der KPD und gründete dann, weil erstere ihm nicht radikal genug war, die KAPD mit. Die wohl sagenumwobenste Episode seines schillernden Lebens ereignete sich 1920, als der Internationalist Jung ein Schiff in der Ostsee kaperte, um am Kominternkongress in Russland teilzunehmen und dort die Aufnahme der KAPD in die Kommunistische Internationale zu erreichen. Mehrmals inhaftiert und von 1921 bis 1923 in Sowjetrussland lebend, da er wegen seiner revolutionären Aktivitäten in Deutschland polizeilich verfolgt wurde, schrieb er zwischen 1919 und 1924, den von ihm in seiner Autobiografie so betitelten „roten Jahre[n]“,⁷⁵ zahlreiche Romane, Erzählungen, Aufsätze und Theaterstücke, die u. a. im Malik-Verlag erschienen, aber gerade auch für linke Zeitungen gedacht waren und zum Beispiel in Kommunistische Arbeiter-Zeitung, Rote Jugend, Räte-Zeitung und Die Rote Fahne veröffentlicht wurden. Jung versuchte, wie im Folgenden sowie im dritten Kapitel deutlich werden sollte, eine eingreifende Literatur zu entwickeln, die die ästhetischen Innovationen der Avantgarde mit Interessen der linkskommunistischen Arbeiterbewegung zu verbinden versuchte und dabei dezidiert internationalistisch und weltliterarisch konzipiert war.⁷⁶ Der Begriff Weltliteratur selbst fällt selten in Jungs Schriften. Er verwendet ihn allerdings an zwei aussagekräftigen Stellen. In seinem Buch Jack London, ein
Franz Jung: Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit. Hamburg 2000, S. 107. Für einen biografischen Abriss vgl. z. B. Safranski/Fähnders: Proletarisch-revolutionäre Literatur, S. 185 – 187. Jungs Positionierung zum Internationalismus, innerhalb der Arbeiterbewegung und seine ästhetischen Positionen werde ich in größerem Detail im Verlaufe dieses Abschnitts sowie an geeigneten Stellen des dritten Kapitels diskutieren.
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Dichter der Arbeiterklasse (1924), das den amerikanischen Schriftsteller Jack London in Deutschlands Arbeiterbewegungsöffentlichkeit bekannt machen sollte, bezeichnet Jung Londons Roman John Barleycorn (1913) als „ein seltenes Kleinod der Weltliteratur“.⁷⁷ Er spricht ihm so einerseits eine globale Relevanz zu und deutet anderseits an, dass die Art von Literatur, die London schreibt, in der Weltliteratur nur eine marginale Rolle spielt. Für Jung hat Londons Werk in jedem Fall weltliterarischen Rang. London ist, so zeigt die zweite Verwendung des Begriffs Weltliteratur, jedoch nicht nur ein „Kleinod“ der Weltliteratur im Allgemeinen, sondern er ist vor allem „in großem Ausmaß richtungsweisend“⁷⁸ für die Art alternativer Weltliteratur, die Jung in seinem Essay über „Proletarische Erzählungskunst“ (1920) skizziert. Diesem Essay ist in der Forschung besondere Bedeutung zugesprochen worden, da Jung in ihm versucht habe, „seinem schriftstellerischen Schaffen ein literaturtheoretisches Fundament [zu geben]“.⁷⁹ Jung entwirft erstens eine klassentheoretische Konzeption von Literatur sowie Kriterien für eine proletarische Erzählliteratur. Diese diskutiert er dann zweitens anhand einer Reihe englisch-, französisch-, russisch- und dänischsprachiger Schriftsteller. Jung entwickelt sein Verständnis proletarischer Literatur also ausdrücklich mit Blick auf Literaturen jenseits des deutschen Sprachraums, und in der Tat wird in dem Aufsatz deutlich, dass Jung sogar noch nicht ins Deutsche übersetzte Literatur las und als vorbildlich für proletarische Literatur ansah.⁸⁰ Jungs Verständnis proletarischer Literatur kann damit als Resultat einer Auseinandersetzung mit Texten verstanden werden, die jenseits ihrer eigenen Sprach- und Kulturgrenzen zirkulieren und die somit im Sinne Damroschs durchaus als im Kern weltliterarisch verstanden werden können: „I take world literature to encompass all literary works that circulate beyond their culture of origin, either in translation or in their original language […].“⁸¹ Wichtig ist in diesem Zusammenhang – was durch den expliziten Bezug des Textes auf den Proletkult allerdings nicht verwundert –, dass weder eine Nationalkultur noch eine Nationalsprache das Fundament für proletarische Literatur bilden, sondern eine transnational geteilte soziale Position und Erfahrung. Kunst ist für Jung „im Gegensatz zur allgemeinen marktgängigen Anschauung ausschließlich Produkt der Klasse, der Klassenideologie und des
Franz Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 199. Franz Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 242. Wolfgang Rieger: Glückstechnik und Lebensnot. Leben und Werk Franz Jungs. Mit einer Franz Jung-Bibliographie von Walter Fähnders. Freiburg i. Br. 1987, S. 111. Vgl. Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 242 f. Damrosch: What is World Literature?, S. 4.
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Klassengegensatzes“.⁸² Er versteht Weltliteratur damit im Unterschied zu Damrosch nicht als „elliptical refraction of national literatures“,⁸³ sondern im Sinne von zwei klassenmäßig unterschiedenen Weltliteraturen. Dem Selbstverständnis der „bürgerliche[n] Kunstanschauung“ als „individuell und allmenschlich“⁸⁴ stellt Jung den „Gemeinschaftsgedanken einer unterdrückten Klasse“⁸⁵ gegenüber. Ganz im Sinne von Kluges und Negts These, dass das Projekt einer proletarischen Gegenöffentlichkeit in der „Organisierung der kollektiven proletarischen Erfahrung“⁸⁶ bestehe, geht es Jung nun darum, durch proletarische Literatur diesen „Gemeinschaftsgedanken“ zu entwickeln, denn – und hier kommen wir schließlich zu Jungs zweiter Verwendung des Begriffs Weltliteratur –, […] dieser Gemeinschaftsgedanke findet sich in der Weltliteratur noch in den allerersten Anfängen. Er findet sich in der deutschen Literatur überhaupt noch nicht. Er findet sich seltsamerweise stärker in Westeuropa, und insbesondere in der angelsächsischen-amerikanischen Literatur als im Osten. Verständlich, wenn man begreift, daß das Problem proletarischer Kunst abhängig ist von dem Grad der Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats.⁸⁷
Mehrere Aspekte sind festzuhalten. Erstens befindet sich das Projekt einer proletarischen Weltliteratur laut Jung noch an ihrem Anfang – eher als eine bereits tatsächlich existierende Literatur ist diese Form von Weltliteratur ein utopisches Unternehmen, das jedoch seine historische Grundlage in der sich entwickelnden Arbeiterbewegung habe. Diese Utopie scheint für Jung selbst Teil einer gegenöffentlichen Imagination zu sein, ist für ihn doch das, was bisher den öffentlichen Diskurs über proletarische Literatur bestimmte, bloß die „willkürliche Wertung eines bürgerlichen Individualismus“.⁸⁸ Zweitens definiert sich diese alternative Weltliteratur durch Kollektivität. Gerade an diesem Aspekt wird Jungs Nähe zu „Bogdanovs zentrale[r] These [deutlich], daß proletarische Dichtung sich durch die Kategorie der Kollektivität von der auf das Individuum zugeschnittenen bürgerlichen Situation unterscheide“.⁸⁹ Die neue proletarische Literatur soll allerdings nicht nur Repräsentationen von Kollektiven hervorbringen. Sie soll vor allem das Kollektive in ihre literarische Form aufnehmen und zur Hervorbringung
Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 241. Damrosch: What is World Literature?, S. 281. Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 241. Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 242. Negt/Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 310. Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1 S. 242. Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 242. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 132.
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des „Gemeinschaftsgedankens“ beitragen. Jack Londons Texte zum Beispiel, die Jung als vorbildlich ansieht, seien in „[i]hrer Bedeutung für die Zukunft […] nicht abzuschätzen“, weil sie „durchweg den Rhythmus kollektiven Geschehens [enthalten]“: „Es ist der Rhythmus des gemeinsamen, gemeinschaftlichen Erlebens, gemeinsamer Empfindung von Freude und Schmerz, gemeinschaftlicher Hoffnungen und Enttäuschungen. Das individuelle Schicksal verschwindet. Statt Mittelpunkt wird es zur Nuance bunter Erläuterung.“⁹⁰ London ist für Jung so wichtig, weil sich an ihm am besten die gewünschte Entwicklungstendenz proletarischer Literatur zeigen lässt. Drittens skizziert Jung die transnationale Verbreitung internationalistischer Weltliteratur, indem er die verschiedenen Entwicklungsstadien proletarischer Literatur nach Regionen und Nationen erfasst. Viertens versteht er die Entwicklung proletarischer Literatur nicht als relativ autonomen Prozess, sondern bindet sie ausdrücklich an einen dem literarischen Feld externen Faktor, nämlich „de[n] Grad der Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats“. Im Gegensatz zu Casanova sieht Jung die Entwicklung von Weltliteratur damit nicht im Zusammenhang mit der Zeitstruktur des weltliterarischen Feldes – d. h. mit dem „temporal law of the world of letters“,⁹¹ in dem Autonomisierung und literarische Modernität miteinander verbunden sind –, sondern verbindet sie mit der Zukunftsperspektive einer proletarischen Weltrevolution, die das Ergebnis der „Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats“ wäre. Jungs alternative Weltliteratur kann so zusammenfassend als utopisch, proletarisch, kollektivistisch, räumlich differenziert und heteronom charakterisiert werden. Als Denker einer internationalistischen Weltliteratur thematisiert Jung auch das Verhältnis von regionaler bzw. nationaler Differenz und einer transnational geteilten Erfahrung, das bereits grundlegend für seine Darstellung der Entwicklungsstadien proletarischer Literatur war. In einem späteren Aufsatz, „Der neue Mensch im neuen Rußland. Rückblick über die erste Etappe proletarischer Erzählkunst“ (1924), findet sich erneut eine geografisch geordnete Übersicht der proletarischen Weltliteratur. Allerdings ist anzumerken, dass sich nun der höchste Entwicklungsgrad proletarischer Literatur nach Russland verlagert hat.Von diesem hatte Jung 1920 noch behauptet, dass es dort „noch keine proletarische Kunst“⁹² gebe. Jungs Verständnis proletarischer Literatur hat sich also nach seinem längeren Russlandaufenthalt (1921– 1923) verändert, verbleibt jedoch im Modus der Prognostik, sei doch auch aus Russland „die erste wirklich proletarische
Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 243. Casanova: The World Republic of Letters, S. 89. Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 244.
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Kultur, die erste echte proletarische Literatur und Kunst [lediglich] zu erwarten“.⁹³ Während die Entwicklung in den unterschiedlichen Ländern nun „ein grundsätzlich verschiedenes Gepräge“ zeige, sei zugleich ein „gemeinsame[r] Grundzug“ festzuhalten.⁹⁴ Laut Jung besteht diese transnational geteilte Gemeinsamkeit im „Ringen um den künstlerischen Ausdruck und die kulturellen Zusammenhänge dieser Kämpfe, Hoffnungen, Niederlagen und Siege“.⁹⁵ Sie besteht also im Versuch, erstens klassenspezifische und deshalb gegenhegemoniale kulturelle Praktiken und ästhetische Formen zu entwickeln und zweitens eine Verbindung zwischen politischen und sozialen Kämpfen einerseits und kultureller Praxis andererseits herzustellen. Internationalistische Weltliteratur, so wie Jung sie denkt, ist dann durch eine Spannung zwischen einer transnational geteilten Zielrichtung und national unterschiedlichen Ausprägungen des proletarischen Bemühens um „künstlerischen Ausdruck“ charakterisiert. Jung konzipiert dieses Verhältnis jedoch nicht zentristisch, denn die sich entwickelnde proletarische Literatur Russlands kann laut Jung nicht „als ein Muster für die literarischen Versuche der noch im ersten Stadium kämpfenden Arbeiter der anderen Länder“⁹⁶ begriffen werden. Obgleich Jung die Bewegung hin zu einer proletarischen Literatur als ein allgemeines Phänomen der Weltliteratur begreift, stellt er zugleich die sozio-kulturellen Besonderheiten dieser Entwicklung in den einzelnen Ländern heraus. Jungs Nachdenken über eine internationalistische Weltliteratur bleibt in seinen Essays unsystematisiert. Jedoch ist den verschiedenen Aufsätzen gemeinsam, dass sie sich mit dem Verhältnis von transnational geteilter proletarischer Erfahrung einerseits und sozio-kultureller Differenz anderseits auseinandersetzen, zwei Komponenten, die für Jung gleichermaßen prägend für die Entwicklung proletarischer Literatur in den einzelnen Ländern und Regionen sind. Für Jung ist sozio-kulturelle Differenz jedoch nicht notwendig ein Trennungskriterium, vielmehr kann sie der Annäherung zwischen verschiedenen Arbeiterbewegungen dienen. Dabei spielt eine Literatur, die jenseits nationaler Grenzen in den Öffentlichkeiten der Arbeiterbewegung zirkuliert, eine wichtige Rolle. So bemerkt Jung in einem Text über B. Traven, den er als in der syndikalistischen Arbeiterbewegung der USA verwurzelt und „am nächsten Jack London verwandt“⁹⁷ begreift, dass Travens Schriften genau wie die anderer zeitgenössi-
Franz Jung: Der neue Mensch im neuen Rußland. Rückblick über die erste Etappe proletarischer Erzählkunst, JW 5, S. 170. Meine Hervorhebung. Jung: Der neue Mensch im neuen Rußland, JW 5, S. 169. Jung: Der neue Mensch im neuen Rußland, JW 5, S. 169. Jung: Der neue Mensch im neuen Rußland, JW 5, 170. Franz Jung: B. Traven, JW 1.1, S. 285.
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scher amerikanischer Arbeiterschriftsteller aufgrund ihres Unterschieds zu den Erfahrungen der europäischen Arbeiterbewegung eine besondere Resonanz in letzterer finden könnten: […] verleugnet [B. Traven] doch in keiner Zeile jenen, der amerikanischen Arbeiterliteratur eigentümlichen Optimismus, der grundsätzlich das Klassenbewußtsein des Proletariers mit dem Stolz des individuellen Herrenmenschen durchsetzen will. Eine solche Betonung verleiht den Schriften dieser Gruppe einen besonderen Reiz gerade für den Arbeiter der alten Welt, dessen Solidarität innerhalb der Klasse weniger spontan vielmehr das Ergebnis einer zähen und disziplinierten Parteierziehung ist.⁹⁸
Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, versucht Jung in seinem Montagetext Joe Frank illustriert die Welt (1921) eine Vermittlung zwischen den verschiedenen Wissen und Erfahrungen der Arbeiterbewegungen unterschiedlicher Länder zu leisten und insbesondere die Kämpfe des amerikanischen Syndikalismus für die deutsche Situation zu übersetzen. Wie dieser Text ist die von Jung theoretisierte internationalistische Weltliteratur durch einen kontinuierlichen Vermittlungsprozess zwischen Allgemeinem und Besonderem – zwischen transnational geteilten Erfahrungen und Anliegen einerseits und sozio-kulturellen Differenzen anderseits – sowie zwischen verschiedenen Besonderen – d. h. den verschiedenen Kämpfen der nationalen Arbeiterbewegungen – bestimmt. Die Rezeption von Schriftstellern aus anderen Ländern kann, so ist Jung hier zu verstehen, zu einem solchen Vermittlungsprozess beitragen. Aus diesem Grund besteht Jung ausdrücklich auf der „Notwendigkeit der Arbeiterklasse eine von ihr ausgehende proletarische Literatur zu sammeln und zu schaffen“.⁹⁹ Jung trug durch seine Tätigkeiten als Rezensent, Kritiker und Herausgeber aktiv zu diesem Projekt bei. In diesem Kontext steht in den Jahren 1920 und 1921 das Bestreben, den Berliner Arbeiter-Buchvertrieb aufzubauen, woran vor allem auch Cläre Jung und der Journalist und Herausgeber der Räte‐Zeitung Alfons Goldschmidt beteiligt waren.¹⁰⁰ Der Vertrieb verstand sich – so geht aus einem Rundbrief hervor, der mit „Berliner Arbeiter-Buchvertrieb F. Jung“¹⁰¹ gezeichnet ist – als „nicht einseitig an eine bestimmte Partei gebunden“,¹⁰² versuchte also, für verschiedene Strömungen in der Arbeiterbewegung relevant zu sein. Der Vertrieb situierte sich explizit an der Schnittstelle von
Franz Jung: B. Traven, JW 1.1, S. 285. Franz Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 1.1, S. 283. Vgl. Franz Jung: An Cläre Jung, 23. Dezember 1920, JW 9.1, S. 31. Zu Jungs eigener Beteiligung vgl. Franz Jung: An Cläre Jung, 27. Dezember 1920, JW 9.1, S. 33. Franz Jung: Rundbrief des Berliner-Arbeiter-Buchvertriebes, 17. Januar 1921, JW 9.1, S. 41. Jung: Rundbrief des Berliner-Arbeiter-Buchvertriebes, JW 9.1, S. 40.
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deutsch- und fremdsprachiger Literatur und wollte so eine Art Verbindungsglied zwischen den Leseöffentlichkeiten der Arbeiterbewegungen in den verschiedenen Ländern sein. Der Vertrieb „hat die Aufgabe, dem revolutionären Proletariat aufklärende Literatur zu billigen Preisen zu verschaffen, gleichzeitig will er den ausländischen Genossen das Publikationsmaterial der deutschen Arbeiter-Parteien vermitteln“.¹⁰³ Den ungenannten Adressaten des Rundbriefes wurde der Bezug von Texten der deutschen Arbeiterbewegung, die Vermittlung von Übersetzungsrechten und noch unveröffentlichten Texten sowie die Bereitstellung von durch den Vertrieb erstellten Berichten über Ereignisse in Deutschland angeboten. Der Begriff der Literatur umfasste deshalb nicht nur im engeren Sinne literarische Werke, sondern zum Beispiel auch „Broschüren, Flugschriften“,¹⁰⁴ Reiseliteratur und wirtschaftswissenschaftliche Texte. Damit brach der Vertrieb mit einem engen Begriff belletristischer Literatur und nutzte einen weiten Literaturbegriff, der sich ähnlich auch bei der im nächsten Abschnitt diskutierten Buchgemeinschaft UBFA fand. Der Vertrieb kann als ein Versuch gelten, die Vorstellung einer weltliterarischen Zirkulation des politischen Internationalismus, die Jung einige Monate später im eingangs bereits zitierten Brief aus dem Gefängnis in Breda formulieren sollte, durch den Aufbau einer Vertriebsstruktur zu organisieren. Dabei dürften auch persönliche Interessen Jungs eine Rolle gespielt haben, bot der Rundbrief doch explizit Arbeiten von Jung (und Goldschmidt) an, während Jung auch generell bemüht war, sich selbst zum Gegenstand einer weltliterarischen Zirkulation zu machen, und deshalb versuchte, seine Texte in Übersetzung im Ausland zu publizieren.¹⁰⁵ Im Gegensatz zu diesem frühen Versuch, zur Herstellung einer internationalistischen Weltliteratur beizutragen, bewegt sich Jungs internationalistisches Engagement im Feld der Literatur im Jahre 1924 – dem Publikationsjahr von Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse – im Kontext des Verlags für Literatur und Politik. Dieser bestand als Verlag der Kommunistischen Internationale in Deutschland seit 1919 und die KPD war an ihm seit 1922 direkt beteiligt. Das Jack London-Buch erschien in diesem Verlag und Jung trug drei Texte zu der für 12 Nummern im Jahre 1924 ebenfalls dort erscheinenden und durch die deutsche Sektion der Kommunistischen Internationale initiierten literarischen Zeitschrift Arbeiter-Literatur bei. Anhand von Arbeiter-Literatur lassen sich zwei Tendenzen zeigen, die die Literatur der Arbeiterbewegung zu diesem Zeitpunkt der Weimarer Republik prägten. Erstens eine relative ideologische Offenheit der kommunisti-
Jung: Rundbrief des Berliner-Arbeiter-Buchvertriebes, JW 9.1, S. 40. Jung: Rundbrief des Berliner-Arbeiter-Buchvertriebes, JW 9.1, S. 40. Vgl. z. B. Jung: An Cläre Jung, 27. Dezember 1920, JW 9.1, S. 33 f.
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schen Literaturkritik. So wurden zum Beispiel in der Zeitschrift sowohl Texte veröffentlicht, die dem Projekt des Prolekult kritisch gegenüberstanden, als auch solche, die es befürworteten. Zu letzteren sind auch die in der Zeitschrift veröffentlichten Texte Jungs zu rechnen.¹⁰⁶ Zweitens wird anhand der Arbeiter-Literatur der internationale Rahmen deutlich, auf den Debatten über eine Literatur der Arbeiterbewegung zu diesem Zeitpunkt der Weimarer Republik referierten. Während ihres knapp einjährigen Bestehens erschienen in Arbeiter-Literatur insgesamt vier Artikel, die detailliert über im Ausland entstehende sozialrevolutionäre und proletarische Literatur berichteten und zwar über solche in der Sowjetunion, Ungarn, den USA und Dänemark.¹⁰⁷ Diese Texte geben historische Überblicke über die Entwicklungen der jeweiligen Literaturen, stellen die wichtigsten Autoren und ihre Werke vor und diskutieren zeitgenössische proletarische Literatur in den einzelnen Ländern. Dabei finden sich gerade in Lu Märtens Text über zeitgenössische russischsprachige Literatur zwei für die internationalistische Weltliteratur grundlegende Ideen, nämlich das Argument, dass proletarische Literatur die Literatur einer transnationalen Klasse (und nicht einer Nation) sei, und das Argument, dass egal in welcher Nation und in welcher Sprache diese Literatur geschrieben werde, sie als Klassenliteratur eine transnationale Resonanz innerhalb des Proletariats habe.¹⁰⁸ Neben dieser Art von Überblicksartikeln mit literarturtheoretischen Argumenten publizierte Arbeiter-Literatur zudem Kritiken und Rezensionen zu den Werken einzelner Autoren und Übersetzungen von literarischen Texten, zum Beispiel von Jack London, Wladimir Majakowski und Ilja Ehrenburg, also von Autoren, die der literarischen Avantgarde zuzurechnen sind. Dabei wurden Texte zu einzelnen Autoren oder bestimmten nationalsprachigen Literaturen oft durch die Publikation von exemplarischen literarischen Texten ergänzt (so in den Fällen Londons, Majakowskis und der ungarischen Literatur). Diese Publikationsstrategie der Arbeiter-Literatur, die die Veröffentlichung kritischer und informativer Texte über literarische Entwicklungen im Ausland mit der Veröffentlichung von Zu gegenüber dem Proletkult kritischen Positionen vgl. Georg Tscharmann: Ist eine proletarische Kultur möglich? In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 3/4, S. 119 – 123; G.G.L. Alexander: Das Proletariat als Erbe Daumiers. Eine Daumier-Mappe. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 7/8, S. 433 – 437. Für eine befürwortende Stellungnahme vgl. Lu Märten: Proletarische Kulturtagung in Magdeburg. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 7/8, S. 408 – 413. Vgl. Lu Märten: Mensch und Revolution. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 7/8, S. 147– 151; Andreas Réz: Hauptrichtungen in der neueren ungarischen revolutionären Literatur. In: ArbeiterLiteratur 1 (1924), H. 9, S. 478 – 483; Alex Bolgar: Klassenkampf und Literatur in Amerika. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 12, S. 1026 – 1040; Frederik Madsen: Dänemarks soziale Literatur. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 12, S. 1041– 1054. Märten: Revolution und Mensch, S. 147 u. S. 151.
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Primärtexten in Übersetzung verband, trug so gleichzeitig zur Zirkulation von Wissen über den weltliterarischen Trend der Entwicklung einer proletarischen Literatur und zur Zirkulation von exemplarischen Texten dieser Literatur in der Arbeiterbewegungsöffentlichkeit der Weimarer Republik bei. Festzuhalten bleibt jedoch auch, dass internationalistische Weltliteratur in diesem Kontext eher praktisch als begrifflich entstand. Der Begriff der Weltliteratur fiel – im Gegensatz zu den Schriften Jungs – in Arbeiter-Literatur nicht. Die hier praktizierte Publikationsstrategie, die die Zirkulation von Texten und ihre diskursive Rahmung im Sinne einer transnationalen proletarischen bzw. revolutionären Literatur ermöglichte, lässt sich, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, auch für die Literaturpolitik der UBFA nachweisen. Die drei Beiträge, die Jung für Arbeiter-Literatur schrieb, verbindet, dass keiner von ihnen einen deutschsprachigen Autor behandelt. Jung stellte dem Lesepublikum die Russen Majakowski und Pawel Dorochow sowie den US-Amerikaner London vor.¹⁰⁹ Die Texte zeigen Jung nicht nur als jemanden, der Wissen über proletarische Literaturen aus dem Ausland in der Weimarer Republik verbreitete, sondern zudem als einen Kritiker, der in seinen Texten Konsekrationskriterien für proletarische Literatur formulierte. Jung kann deshalb zu der Gruppe von Personen gezählt werden, die Casanova als „cosmopolitan intermediares [bezeichnet]–publishers, editors, critics, and especially translators“, die „the circulation of texts into the language and out of it“¹¹⁰ ermöglichen und festlegen, was als literarisch gilt.¹¹¹ Die Kriterien, die Jung in den drei Texten für internationalistische Weltliteratur vorstellt, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. Proletarische Literatur muss laut Jung dem Kollektiven eine literarische Form geben, ein Kriterium, das wir bereits aus Jungs Text „Proletarische Erzählungskunst“ kennen. Er sieht Ansätze hierzu in Majakowskis „immense[m] Wille[n] zur Gemeinschaft“,¹¹² der allerdings mit „seine[m] unvermindert stark gebliebene[n] Individualismus“¹¹³ verbunden sei. Als dichterisches Problem Majakowskis – und als Problem der proletarischen Literatur – ergibt sich so die Herausforderung einer Poetik des
Vgl. Franz Jung: Pawel Dorochow. Golgatha. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 3/4, S. 176; Franz Jung: Wladimir Majakowski und seine Schule. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 5/6, S. 224– 230; Franz Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 5/6, S. 275 – 276. Im Folgenden werde ich diese Texte zu London und Dorochow nach der Jung-Werkausgabe zitieren, den Text zu Majakowski nach dem Text in Arbeiter-Literatur. Casanova: The World Republic of Letters, S. 21. Casanova: The World Republic of Letters, S. 21– 24. Jung: Wladimir Majakowski und seine Schule, S. 226. Jung: Wladimir Majakowski und seine Schule, S. 227.
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Kollektiven, die darin bestehe, das Verhältnis von Kollektiv und Individuum neu zu gestalten, denn Majakowski „sieht sich dem Problem gegenüber, dieses Ich in die Masse aufzulösen oder die Masse selbst als das Ich wirklich zu gestalten. Nicht mehr genügt es, die Masse zu sich heranzurufen, sondern die Masse selbst Ich werden zu lassen“.¹¹⁴ Dorochow ist bei der Entwicklung einer Poetik des Kollektiven für Jung bereits einen Schritt weiter gelangt, fasse dessen Schreiben doch „das Ganze der proletarischen Revolution, ihren Rhythmus und ihre Wirkungsmöglichkeit auf die Zukunft“ zusammen und zeuge es doch „von der Intensität des zukünftigen kollektiven Gemeinschaftsdaseins“.¹¹⁵ Was Dorochow, den „Dichter einer proletarischen Kunst“,¹¹⁶ mit London verbindet, ist die Erfüllung eines weiteren Konsekrationskriteriums für proletarische Literatur. Ob ein Schriftsteller zu dieser Art von Literatur gezählt werden kann, wird nicht nur durch die sozialrevolutionäre Dimension seiner Werke bestimmt, sondern auch dadurch, ob dieser Schriftsteller einer „jene[r] Schriftsteller [ist], die aus dem Leben und den sozialen, psychologischen und proletarischen Bedingungen heraus geschrieben haben“.¹¹⁷ Dieses mit einer sozialen Position verbundene Konsekrationskriterium wird durch ein sprachpolitisches Kriterium ergänzt. Londons Werke seien in der Sprache der Arbeiter, die ihn auch lesen würden, geschrieben: Er „schilder[t] […] mit den gleichen Worten […], wie es der amerikanische Arbeiter, der sein Leser ist, getan haben würde“.¹¹⁸ Nicht eine Nationalsprache, sondern eine Klassensprache bildet daher die Grundlage für proletarische Literatur. Schließlich nennt Jung noch ein politisches bzw. aktivistisches Konsekrationskriterium: Londons Engagement in der Arbeiterbewegung.¹¹⁹ In seinen Texten zu Majakowski, Dorochow und London schlägt Jung der Leseöffentlichkeit von Arbeiter-Literatur also nicht nur bestimmte Autoren zur Lektüre vor, sondern auch eine Reihe von Konsekrationskriterien für Werke und Schriftsteller einer transnationalen proletarischen Literatur vor. Jungs Buch Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, das in Arbeiter-Literatur durch Jungs Kritik und zusätzlich durch eine kurze Anzeige beworben wurde,¹²⁰ erschien so in einer Leseöffentlichkeit, die durch die Publikationstätigkeit Jungs – alle drei Texte gehen der Veröffentlichung des Buches voraus – und
Jung: Wladimir Majakowski und seine Schule, S. 228. Franz Jung: Pawel Dorochow. Golgatha, JW 1.1, S. 281. Jung: Pawel Dorochow, JW 1.1, S. 281. Franz Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 1.1, S. 283. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 1.1, S. 283. Vgl. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 1.1, S. 284. Vgl. Anzeige: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse. In: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 3/ 4, S. 167.
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anderer Kritiker in Arbeiter-Literatur bereits als nicht-nationalsprachlich, proletarisch (bzw. revolutionär) und internationalistisch adressiert worden war. Das Buch stellt Jungs umfassendsten Versuch dar, einen Autor als Hauptvertreter der entstehenden internationalistischen Weltliteratur zu popularisieren. Hierzu reproduziert Jung die Publikationsstrategie der Arbeiter-Literatur in Buchform: Auf einen ca. fünfzigseitigen Essay folgen Auszüge aus den Werken Londons sowie eine Werkbibliografie.¹²¹ Jungs Essay stellt eine Übersetzungsleistung zwischen dem Wissen der US-amerikanischen und dem Wissen der deutschen Arbeiterbewegung dar, führt er doch die deutschsprachige Leseöffentlichkeit der proletarischen Literatur in die historischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse ein, unter denen Londons Werk entstand. Jungs Rolle als Kritiker und Herausgeber ist der Rolle des Erzählers in Jungs drei Jahre zuvor erschienenem Roman Joe Frank illustriert die Welt funktionsähnlich. Beide – Jung und sein Erzähler – fungieren, wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, als Wissensvermittler. Im Essay führt Jung London als einen Autor von weltliterarischer Geltung ein, „dessen Schriften in Millionen von Exemplaren in der ganzen Welt gelesen werden“, der aber „in der deutschen Arbeiterschaft bisher noch wenig bekannt [ist]“.¹²² Jung konstatiert also, dass die Leseöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung unterschiedlich entwickelt sind. Ungleichzeitigkeit besteht nicht nur hinsichtlich der Produktion proletarischer Literatur, womit Jung sich in den oben diskutierten Essays beschäftigt, sondern auch in ihrer Rezeption. Dass Deutschland der weltliterarischen Wahrnehmung Londons hinterherhinkt, führt Jung auf Probleme im Verlagswesen der Arbeiterbewegung zurück, d. h. auf „eine[ ] gewisse[ ] Unbeweglichkeit und Rückständigkeit der Verleger von Arbeiter-Literatur“.¹²³ Die kulturelle Sphäre der deutschen Arbeiterbewegung war Jung zufolge für lange Zeit noch nicht auf eine solche Weise organisatorisch und ideologisch entwickelt, dass sie zur weltliterarischen Zirkulation der Werke Londons innerhalb Deutschlands hätte beitragen können. Dies habe sich allerdings geändert, da „[d]as Verständnis für Probleme der Solidarität […] lebendiger als früher [sei]“.¹²⁴ Deshalb sei nun eine bessere Ausgangssituation für eine Verbreitung von Londons Texten im deutschen Proletariat gegeben. Londons Werke seien allerdings andererseits zu „antibürgerlich“ und zu kosmopolitisch für den deutschen Bürger, als dass es in dieser Klasse – ebenfalls im Gegensatz zu anderen Ländern – ein verlegerisches Interesse an London geben würde oder gegeben hätte.¹²⁵
Vgl. Franz Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse. Wien 1924. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 160. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 160. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 161. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 161.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
Was Jung mit seinem Versuch einer Popularisierung Londons in der Weimarer Republik anstrebte, war also nicht nur der Versuch, einen Beitrag zur weltliterarischen Verbreitung dieses Autors zu leisten, sondern es ging ihm zudem darum, die organisatorische und ideologische Verfasstheit der Leseöffentlichkeit der Arbeiterbewegung zu beeinflussen und einen proletarischen Autor in Deutschland zu etablieren, der aufgrund seiner weiten und offenen Weltvorstellung dem vermeintlichen Selbstverständnis des deutschen Bürgertums radikal entgegenstand.¹²⁶ Die Popularisierung Londons sollte, so kann Jung verstanden werden, die deutsche Leseöffentlichkeit klassenübergreifend kosmopolitischer machen. Für Jung machte der Gegensatz zur Weltferne des deutschen Bürgertums London in Kombination mit seiner Klassenposition und seinem politischen Aktivismus, die London in Jungs Augen zum „Begründer der sozialen Literatur“ in den USA gemacht hatten,¹²⁷ zu einem exemplarischen Autor internationalistischer Weltliteratur. Zugleich sah Jung Londons Werke – und damit ist eine weitere Verschiebung in Jungs Kartographierung internationalistischer Weltliteratur festzustellen – nun als eine „Zwischenstufe“ zur proletarischen Literatur und grenzte ihn von den angeblich reiferen Werken der Sowjetunion ab.¹²⁸ Was den Buchessay von Jungs kürzerem Artikel über London und der Erwähnung Londons in „Proletarische Erzählungskunst“ unterscheidet, ist der Umstand, dass Jung nun versucht, die transnationale Popularität Londons im Proletariat zu erklären. Londons Beliebtheit hat laut Jung seinen Grund in dessen Leben als Tramp, welches ihn unter anderem nach Alaska führte, wo er sich „unter den Ausgestoßenen und Abenteurern der ganzen Welt Freunde [gewann]“.¹²⁹ Die transnationale Unterklasse, die sich zu diesem Zeitpunkt in Nordamerika versammelte, wird so zu Londons biografischem Erfahrungsraum und zum Gegenstand seines Schreibens: Er schildert im Grunde genommen immer nur seine Klassenatmosphäre und sich selbst, und alles, was er schreibt an Abenteuerlichkeiten, an Seltsamkeiten und Schönheiten der Welt, ist gesehen durch das Temperament von Jack London, dem Seemann, dem Jute-Arbeiter, dem
So schreibt Jung: „Auch das Abenteuer wünscht der deutsche Durschnittsleser bürgerlicher Herkunft in seiner Klassensphäre zu finden, und der Begriff Welt allein ist für solche Leser ein schon mit bestimmten Vorstellungen politischer oder sozialer Atmosphäre verknüpfter Begriff. Welt im kosmischen Sinne – die weite Welt als Tummelplatz von Energien und Hoffnungen, von Arbeit und Rassenkameradschaft –, das liegt dem deutschen Bürger nicht.“ Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 161. Hervorhebung im Original. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 168. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 161. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 187.
2.5 Ein Aktivist internationalistischer Weltliteratur: Franz Jung
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Tramp, dem Goldwäscher, dem Pferdeknecht, dem Klassengenossen der Arbeiter der Welt. Dies ist der allgemeinere Grund der ungeheuren Verbreitung seiner Schriften.¹³⁰
Das transnationale Proletariat ist hier eine verstreute Öffentlichkeit, die von Jung nicht mit der normativen Vorstellung des Industrieproletariats identifiziert wird und genau wie Londons Biografie multi-identitär ist. Diese Öffentlichkeit gilt Jung als Zielpublikum von Londons Schreiben, sei London, den Jung wiederholt als „Internationalist[en]“¹³¹ bezeichnet, doch „der Schriftsteller, der über Amerika hinaus für die Arbeiter der Welt schrieb“.¹³² Jung bedient sich eines biografischen Erklärungsansatzes, mit dessen Hilfe er argumentiert, dass Londons prägende Erfahrung als Tramp den Erfahrungen eines transnationalen Proletariats entsprechen oder zumindest mit diesen leicht vermittelbar sind. Nicht das Individuelle in Londons Biografie, sondern das für seine Klasse Typische verleihe seinen Werken eine grenzüberschreitende Beliebtheit. Dies zeige sich etwa auch in Londons Verwendung einer proletarischen Sprache in seinen literarischen Werken, in denen sich Proletarier deshalb auch sprachlich wiederfänden.¹³³ Während Jung in anderen Schriften dem Kollektivismus als Klassenerfahrung eine transnationale Bedeutung zuspricht und diesen als grundlegend für die Rezeption proletarischer Literatur ansieht, ergänzt er diesen kollektivistischen Aspekt im Buchessay durch eine Art „subalternen Kosmopolitismus“,¹³⁴ eine Weltoffenheit, in der Heimat nicht an eine Nation, sondern an eine mobile, transnationale Unterklasse gebunden ist, die im Wander- und Abenteurertum Londons ein Beispiel findet: „Der Arbeiter sieht Jack Londons Welt mit seinen Augen, er findet sich überall zuhause, er ist überall identifiziert mit Jack London selbst […].“¹³⁵ London wird bei Jung auf diese Weise zu einer Integrationsfigur des globalen Proletariats. Es sollte bis zu den späten Zwanzigerjahren dauern, bis London auch in der Weimarer Republik ein millionenfach gelesener Autor geworden war,¹³⁶ ironischerweise in Übersetzungen von Erwin Magnus, den Jung für einen schlechten Übersetzer hielt.¹³⁷ Jung scheint zu dieser Entwicklung letztlich wenig beigetragen
Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 162. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 193 u. S. 201. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 166. Vgl. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 191. Ich entlehne den Begriff des subalternen Kosmopolitismus von Boaventura de Sousa Santos: Epistemologies of the South. Justice against Epistemicide. London/New York 2016. Jung: Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse, JW 9.2, S. 190. Vgl. Joseph McAleer: Call of the Atlantic. Jack London’s Publishing Odyssey Overseas, 1902– 1916. Oxford 2016, S. 162 f. Vgl. Jung: An Charmian London, 10. Juni 1924, JW 9.1, S. 78.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
zu haben, scheiterten seine Bemühungen um die Verbreitung und diskursive Rahmung von Londons Schriften doch daran, dass er die deutschen Rechte an den Werken Jungs nicht erwerben konnte.¹³⁸ Jungs Bemühen um Londons Werk ist dann wohl auch schon bald nach der Veröffentlichung von Jack London, Dichter der Arbeiterklasse eingestellt worden – so legen es zumindest die Erwähnungen Londons in Jungs Briefen nahe, von denen die bis in die 1950er Jahre vorerst letzte aus dem Juli 1925 stammt. Jedoch hat sich unabhängig von Jung ein Interesse an London in der literarischen Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung in Deutschland fortgesetzt. So gehörten die deutschsprachigen Übersetzungen von The Iron Heel (1907) und Martin Eden (1909) im Jahre 1927 in den Blättern für Alle zu den Weihnachtsempfehlungen und die Neue Bücherschau publizierte 1928 in einem Doppelheft mit dem Titel „Unveröffentlichte Erzählungen der Weltliteratur“ auch einen Text von London.¹³⁹ Die Rote Fahne veröffentlichte bereits 1920, 1923 und dann wieder 1930 Texte von London in Fortsetzungen.¹⁴⁰ Wie für Jung war London darüber hinaus auch für Egon Erwin Kisch eine der Leitfiguren internationalistischer Weltliteratur, wie ich im dritten Kapitel ausführen werde. Jungs Buch selbst wurde in der Presse der Arbeiterbewegung begrüßt. Die Rezensenten der Roten Fahne und der Leipziger Volkszeitung teilten Jungs Einschätzung, dass London in Deutschland noch zu wenig verbreitet sei. In der Roten Fahne wurde zudem darauf hingewiesen, dass Londons Werke zur kulturpolitischen Arbeit der Arbeiterbewegung viel beitragen könnten. Beide Rezensionen wiederholten zentrale Argumente Jungs über die Stellung Londons in der sozialistischen Literatur der USA, insbesondere indem auch sie Londons Einfluss auf und zugleich seine gehobene Position gegenüber späteren Schriftstellern wie etwa Upton Sinclair behaupteten.¹⁴¹ In diesem Sinne kann Jungs Versuch einer Konsekration Londons innerhalb der literarischen Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung als durchaus erfolgreich bezeichnet werden.¹⁴²
Vgl. Jung: An Charmian London, JW 9.1, S. 78; Franz Jung: An die Kontinent Korrespondenz, 30. Juni 1924, JW 9.1, S. 107. Vgl. [o.V.]: Bücher für Weihnachten. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 12, S. 254; Neue Bücherschau 6 (1928), H. 7/8. Vgl. Brauneck: Revolutionäre Presse und Feuilleton, S. 34. Vgl. Anonym: Ein Dichter der Arbeiterklasse. In: Die Rote Fahne, 10. August 1924; Bruno Vogel: Über Jack London. In: Leipziger Volkszeitung, 27. August 1924. Nachdrucke beider Texte finden sich in Walter Fähnders/Andreas Hansen (Hg.): Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer. Franz Jung in der Literaturkritik 1912– 1963. Bielefeld 2003, S. 164 u. S. 165 f. Der Einfluss Jungs auf die Rezeption Londons in der literarischen Öffentlichkeit der Arbeiterbewegung lässt sich auch in Bolgars Überblicksaufsatz über klassenkämpferische Literatur in den USA nachweisen; vgl. Bolgar: Klassenkampf und Literatur in Amerika, S. 1033.
2.5 Ein Aktivist internationalistischer Weltliteratur: Franz Jung
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In einer Besprechung des Jack London-Buches für Die Aktion sah Jungs Freund Max Hermann-Neiße das Buch gar als exemplarisch für die Art und Weise an, wie die Arbeiterbewegungsöffentlichkeit in ihre Literatur eingeführt werden sollte. Zudem schlug er einen über den deutschsprachigen Raum hinausgehenden Kanon zu verbreitender Werke vor, der seinem 1922 in Die Aktion vorgeschlagenen Textkorpus stark ähnelte.¹⁴³ Diese Texte sollten nach dem Vorbild von Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse herausgegeben werden: Diese ganz Entwicklung Jack Londons macht Jung durch seine Erläuterungen und durch die repräsentativen Auszüge aus Londons Werk für jeden deutlich und gibt so das erste Exempel einer Dokumentsammlung der Kunst, die bis jetzt einigermaßen für Arbeiter in Betracht kommt. Man sollte nach dem gleichen Prinzip das literarische Werk Pottiers, Zolas, Octave Mirbeaus, Charles Louis Phillippes, Anatole Frances, Sinclairs, Büchners, Andersen-Nexos [sic!], Gorkis, der neuesten Russen, Leonhard Franks, Franz Jungs selber, das zeichnerische und malerische Werk Daumiers, Masereels, den George Groß [sic!], Dix, Scholz-Grötzingen, Felix Müller in werbenden Auswahlbändchen verbreiten!¹⁴⁴
Das Projekt einer internationalistischen Weltliteratur, das Hermann-Neiße hier anspricht und das er ausdrücklich mit der editorischen und literarischen Arbeit Jungs verbindet, war in der Tat – wie ich in diesem Abschnitt gezeigt habe – ein zentraler Bestandteil des kulturpolitischen Tätigkeit Franz Jungs innerhalb einer sich konstituierenden literarischen Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Jungs Bemühungen, zur Schaffung einer internationalistischen Weltliteratur beizutragen, blieben jedoch vereinzelt. Sie konnten nicht in einem organisatorischen Rahmen verstetigt werden. Dies war so trotz der wiederholten Versuche Jungs, die Utopie einer globalen Zirkulation proletarischer Literatur, die er im Brief an Cläre Jung entwarf, in eine literaturpolitische Praxis zu überführen – sei es durch den Versuch des Aufbaus eines Vertriebs, sei es durch seine Arbeit als Kritiker und Herausgeber. Die kommunistische Buchgemeinschaft UBFA hingegen, der ich mich nun zuwende, repräsentiert eine organisatorische Verstetigung der internationalistischen Weltliteratur, die in der Mitte der Weimarer Republik einsetzte.
Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 123. Max Herrmann-Neiße: Ein Dichter der Arbeiterklasse. In: Die Aktion, August 1924. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 167. Hervorhebung im Original.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
2.6 Eine Buchgemeinschaft internationalistischer Weltliteratur: Universum-Bücherei für Alle Ich werde meine Frage nach der begriffs-, publikations- und organisationspolitischen Bedeutung von Weltliteratur für die 1926 gegründete und dem sogenannten Münzenberg-Konzern und später dem BPRS nahestehende Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle vor allem auf Basis ihrer illustrierten Mitgliederzeitschrift diskutieren, da diese grundlegend für die politische und kulturelle Selbstdarstellung der Buchgemeinschaft war.¹⁴⁵ Die Anbindung an den Münzenberg-Konzern und den BPRS bedeutete dabei die Anbindung an ein größeres organisatorisches und kulturpolitisches Projekt innerhalb der Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung, das eine Verstetigung des Projektes einer internationalistischen Weltliteratur durch die UBFA genauso wie deren Struktur als Buchgemeinschaft erleichterte. Die Mitgliederzeitschrift erschien zuerst unter dem Namen Dies und Das, dann als Blätter für Alle und schließlich als Magazin für Alle. ¹⁴⁶ Sich als „reichhaltiges, interessantes, belehrendes Magazin mit Beiträgen auf allen Wissensgebieten“¹⁴⁷ und als „interessante[n] Führer durch die Welt“¹⁴⁸ begreifend, publizierte die Zeitschrift neben kurzen literarischen Texten, Reportagen, Essays und Rezensionen vor allem auch Texte, die über die Entwicklung der Buchgemeinschaft und ihre Publikationen selbst berichteten, und diente der Kommunikation zwischen der Leitung und den Mitgliedern der Buchgemeinschaft. Es wäre unzutreffend, von einer breiten und differenzierten Debatte über Weltliteratur in der Mitgliederzeitschrift zu sprechen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass das Konzept Weltliteratur für die Literaturpolitik der Buchgemeinschaft unwichtig gewesen wäre. Der Begriff wurde wiederholt in Anzeigen gebraucht, die für eine Mitgliedschaft in der Buchgemeinschaft oder für durch
Dieser Abschnitt ist in anderer Form zuerst erschienen in meinem Aufsatz „Internationalistische Weltliteratur: Die Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle und Kurt Kläbers Passagiere der III. Klasse“. In: IASL 41 (2016), H. 2, S. 215 – 241. Zur Geschichte der UBFA liegen mehrere Studien vor, von denen sich allerdings keine mit dem Thema Weltliteratur befasst. Zu erwähnen sind die eher unkritische Darstellung von Lorenz sowie die differenzierten Analysen von Surmann und van Melis im Rahmen ihrer breiter angelegten Monografien: Rolf Surmann: Die Münzenberg-Legende. Zur Publizistik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung: 1921– 1933. Köln 1982; Heinz Lorenz: Die Universum-Bücherei: 1926 – 1939. Geschichte und Bibliographie einer proletarischen Buchgemeinschaft. Berlin 1996; Urban van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik. Mit einer Fallstudie über die sozialdemokratische Arbeiterbuchgemeinschaft Der Bücherkreis. Stuttgart 2002. Blätter für Alle 2 (1927), H. 1, innerer Umschlag. [o.V.]: An unsere Leser! In: Magazin für Alle 4 (1929), H. 1, S. 1.
2.6 Eine Buchgemeinschaft internationalistischer Weltliteratur
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die Buchgemeinschaft vertriebene Bücher warben. In diesem Kontext blieb das Konzept argumentativ unausgefüllt, entfaltete aber durch seinen Gebrauch eine evokative und performative Wirkung und konstruierte so eine bestimmte Vorstellung von Weltliteratur. So wurde die von der UBFA vertriebene Weltliteratur von ihr in einen Zusammenhang mit kultureller wie politischer Progressivität gestellt, was dem fortschrittlichen Selbstverständnis der Arbeiterbewegung entsprach. Hierbei wurde zugleich implizit ein Unterschied zwischen der Weltliteratur der Vergangenheit und der Gegenwart konstruiert und die Modernität letzterer sollte sich auch in der Materialität der Bücher (im Schriftbild) performativ beweisen: „Wir bieten den Vorwärtsstrebenden jeden 3. Monat eine Neuerscheinung der modernen Weltliteratur, größeren Umfanges, mit modernen Typen […].“¹⁴⁹ Zugleich diente die Verwendung des Wortes Weltliteratur der Legitimierung der Qualität der publizierten Literatur. Zum Beispiel wurde von Maxim Gorki als „einem der größten der Weltliteratur“¹⁵⁰ gesprochen und Kischs exklusiv in der Buchgemeinschaft erscheinende Reportagensammlung Wagnisse in aller Welt als „Werk der Weltliteratur“¹⁵¹ bezeichnet; andere ihrer Autoren und seltener Autorinnen bewarb die Buchgemeinschaft als „Schriftsteller von Weltruf“.¹⁵² Die Verwendung des Wortes Weltliteratur in Werbeanzeigen aktivierte die Assoziation von Weltliteratur und literarischer Qualität bzw. internationaler Geltung und gestaltete zugleich eine Vorstellung von Weltliteratur, in die die Buchgemeinschaft wie selbstverständlich – d. h., ohne dies besonders begründen zu müssen – zeitgenössische linke Autoren wie Kisch einschreiben konnte. Die Buchgemeinschaft behauptete so die Existenz einer internationalistischen Weltliteratur während sie diese durch ihre Werbestrategien und Publikationen erst zu schaffen versuchte. Jedoch bleibt ebenso festzuhalten, dass der Begriff der Weltliteratur im Kontext der Werbeanzeigen eine gewisse Bedeutungsoffenheit behielt, da er nicht durch Adjektive wie zum Beispiel ‚revolutionär‘ oder ‚proletarisch‘ explizit auf eine politische Richtung festgelegt wurde. Jenseits von Werbeanzeigen fand der Begriff Weltliteratur zudem an zwei prominenten Stellen in der frühen Phase der UBFA Verwendung. Erstens in der programmatischen Selbstbeschreibung der Buchgemeinschaft, die das erste Heft der Mitgliederzeitschrift im Dezember 1926 eröffnete, und zweitens in einem Essay von Gerhart Pohl, welcher bis zum Jahreswechsel 1928/29 Redakteur der Zeit-
Blätter für Alle 2 (1927), H. 3, innerer Umschlag. Blätter für Alle 2 (1927), H. 1, innerer Umschlag. Blätter für Alle 2 (1927), H. 5, innerer Umschlag. Blätter für Alle 3 (1928), H. 10, Rückseite.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
schrift war.¹⁵³ Die UBFA begriff es als ihre Aufgabe, ihren Mitgliedern „wichtige Weltliteratur zu vermitteln“, d. h. die ihrer Ansicht nach „wenigen fortschrittlichen und bedeutenden Werke dieser Zeit“.¹⁵⁴ Diese sollten dazu beitragen, die „Brücke zwischen Dichtung und Volk“ wiederaufzubauen.¹⁵⁵ Weltliteratur im Sinne der Buchgemeinschaft war damit kein Projekt für soziale oder kulturelle Eliten, sondern im Gegenteil ein kulturpolitisches Projekt, das Literatur „minderbemittelten Kreisen wieder zugänglich“¹⁵⁶ machen sollte. Hierin ähnelt das Unternehmen der UBFA deutlich den beschriebenen Bemühungen Jungs – mit dem Unterschied freilich, dass die für Jung so wichtige Anlehnung an den Proletkult hier keine Rolle mehr spielte. Die Buchgemeinschaft begriff sich in einem doppelten Sinne als gegenöffentlich. Sie wendete sich einerseits gegen die „Kategorien der bürgerlichen Literaturgeschichte“ und andererseits gegen einen sich monopolisierenden Buchhandel.¹⁵⁷ Sie wollte nicht nur eine alternative Form von Weltliteratur propagieren, sondern zugleich auch eine ökonomische Alternative zum Sortimentsbuchhandel sein. Sie wollte – anders ausgedrückt – nicht nur andere Leserschichten erreichen, sondern auch die Art und Weise umgestalten, wie diese an ihre Bücher kamen. Letzteres war in der Weimarer Republik allerdings nicht nur ein Anliegen der Arbeiterbewegung, sondern unterschiedlichsten gesellschaftlichen, konfessionellen und politischen Gruppen eigen.¹⁵⁸ Die Verbindung der Organisierung als Buchgemeinschaft mit der Idee einer weltliterarischen Alternative kann jedoch als Spezifikum der UBFA gelten, welche sich ausdrücklich als internationalistisch verstand: „‚Universum-Bücherei für Alle‘ – der Name schon ist ein Programm. Denn wir werden uns nicht nur auf Werke der deutschen Literatur beschränken, sondern aus der geistigen Arbeit anderer Völker das veröffentlichen, was im Sinne des Fortschritts und der Kultur zu begrüßen ist.“¹⁵⁹ „[A]uf der Bühne der Weltliteratur“ sind die „Gegenspieler“ nun laut Pohl einerseits Autoren, die „die Probleme weltgeschichtlicher Entwicklung“ ignorierten und sich lediglich auf den „‚absolute[n] Mensch[en]‘, also das Individuum gelöst aus der Gemeinschaft“ fokussierten, und andererseits Autoren, die „Gestalter der Beziehungen“ und „Schilderer und Kritiker ihrer Zeit“ seien und denen
Pohl schied infolge der Hinwendung der UBFA zum BPRS aus der Leitung aus. Vgl. Lorenz: Die Universum-Bücherei, S. 18 f. [o.V.]: Zur Einführung. In: Dies und Das 1 (1926), H. 1, S. 2. [o.V.]: Zur Einführung, S. 2. [o.V.]: Zur Einführung, S. 1. [o.V.]: Zur Einführung, S. 1. Vgl. van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik. [o.V.]: Aufruf! In: Dies und Das 1 (1926), H. 1, S. 2.
2.6 Eine Buchgemeinschaft internationalistischer Weltliteratur
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„wenig das Individuum, alles das Kollektivum“ gelte.¹⁶⁰ Während uns die Unterscheidung von zwei Weltliteraturen entlang des vermeintlichen Gegensatzes von ‚individuell‘ und ‚kollektiv‘ bereits von Jung bekannt ist, führt Pohl zudem eine gattungstheoretische Unterscheidung ein. Die individualistische Weltliteratur wird von ihm vor allem mit der Lyrik und die kollektive mit der erzählenden Literatur identifiziert. Dabei funktioniert seine Konstruktion von Weltliteratur(en) durch binäre Oppositionen, die Wirklichkeitsferne bzw. -nähe konnotieren sollen: ideell/materiell, abstrakt/konkret, individuell/kollektiv, absolut/historisch. Die angeblich wirklichkeitsnahe weltliterarische Tradition verläuft in Pohls literaturgeschichtlicher Konstruktion von griechischen und lateinischen Klassikern wie Homer und Vergil sowie nicht näher bestimmten „frühen Dichtungen“¹⁶¹ von außerhalb Europas über kanonisierte sozialkritische Autoren wie Boccaccio, Rabelais, Balzac und Zola zu marxistischen Autoren und Autorinnen wie Ilja Ehrenburg und Alexandra Kollontai, die „der völligen Umschichtung des Weltbewußtseins durch die proletarische Revolution“¹⁶² literarische Form gegeben hätten. Es ist offensichtlich, dass Pohls Argumentation normative Kriterien einführt, die den Blick auf den bestehenden Kanon neu orientieren sollen. Auf diese Weise wird eine literaturhistorische Tradition für die internationalistische Weltliteratur konstruiert. In dieser Geschichtsschreibung kulminiert eine vermeintlich sozialkritische und kollektivistische Literaturtradition schließlich in der Literatur der Arbeiterbewegung. Weltliteratur wurde im Kontext der UBFA dann nicht so sehr als Spannungsverhältnis oder Dialog von verschiedenen Nationalliteraturen begriffen – eine Idee, die von Goethe bis Damrosch bestimmend ist¹⁶³ –, sondern eher politisch und ähnlich wie bei Jung als Konflikt von zwei verschiedenen Formen von Weltliteratur, die unterschiedlichen Beziehungen zur Geschichte eine Form geben. Für die Konstruktion einer internationalistischen Weltliteratur war die Mitgliederzeitschrift das entscheidende Medium. Sie ermöglichte die Veröffentlichung von kurzen Texten oder Textauszügen – zum Beispiel von zumeist deutschsprachigen Erzählungen (hierin unterschied sich die Zeitschrift von der internationaleren Ausrichtung der Buchreihe) und politischen Lieder verschiedener Kontinente (Asien, Afrika), wobei mit letzteren implizit auch der bürgerliche Literaturbegriff sowohl geografisch als auch genremäßig in Frage gestellt wur-
Gerhart Pohl: Hunger und Liebe sind die Motore der Welt. Literaturgeschichtliche Notizen von Gerhart Pohl. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 5, S. 99. Pohl: Hunger und Liebe sind die Motore der Welt, S. 99. Pohl: Hunger und Liebe sind die Motore der Welt, S. 101. Zu Goethe vgl. Lamping: Die Idee der Weltliteratur, S. 127; vgl. Damrosch: What is World Literature?, S. 281– 288.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
de.¹⁶⁴ Zum anderen verbreitete sie durch Rezensionen und Werbeanzeigen anderer linker Verlage selektives Wissen über zeitgenössische Literatur; in ihr wurden nach eigener Darstellung „die bedeutendsten Neuerscheinungen der Weltliteratur registriert und kurz besprochen“.¹⁶⁵ Die UBFA bot ihren Mitgliedern darüber hinaus auch die Bestellung von Büchern anderer Verlage an, welche in der Mitgliederzeitschrift empfohlen wurden: zum Beispiel von Autorinnen und Autoren wie Kollontai, Kurt Kläber, Anna Meyenburg, Fjodor Gladkow, John Reed und Larissa Reisner.¹⁶⁶ Schließlich diente die Mitgliederzeitschrift dazu, Bände der UBFA und von ihren Autoren und Autorinnen vorzustellen. Die UBFA wurde ihrem Anspruch auf Internationalität in ihrem Programm dabei durchaus gerecht.Von den bis zum Exil 1933 durch die Buchgemeinschaft vertriebenen 149 Bänden waren 71 Übersetzungen, d. h. beinahe 50 %. Zieht man die Zola-Bände sowie die Bände einer begonnenen Lenin-Ausgabe ab, liegt der Anteil fremdsprachiger Texte bei immerhin noch 31 %. Bis auf einen Roman aus Brasilien beschränkte sich die vertriebene Literatur jedoch geografisch auf Europa, die Sowjetunion und Nordamerika. Texte aus der Sowjetunion (13), den USA (7) und Frankreich (6) dominierten. Weitere Texte kamen aus England, Italien, Belgien, Portugal, Polen, Tschechien und der Slowakei.¹⁶⁷ Ein Schwerpunkt auf die Literatur der Gegenwart ist deutlich zu erkennen, jedoch wurden auch Klassiker wie zum Beispiel Balzac oder Schiller verlegt. Politisch wie ästhetisch folgte das Programm vor allem bis Anfang der 1930er Jahre und der dann erfolgenden organisatorisch wie politisch engeren Anbindung an die KPD und den BPRS keinen „enge[n] parteipolitische[n] Grenzen“.¹⁶⁸ Das Programm umfasste so unterschiedliche Autoren und Autorinnen wie John Dos Passos, Johannes R. Becher, Anna Seghers, Luigi Pirandello und Sergej Tretjakow, von denen viele der literarischen Avantgarde zugeordnet werden können. Eine solche politische und ästhetische Offenheit ist, wie bereits hinsichtlich der Zeitschrift Arbeiter-Literatur festgestellt wurde, sicherlich keine Be-
Vgl. Das Beste wäre… Hafis-Lied. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 1, S. 15; Auf der Flucht. Katorga-Lied. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 2, S. 32; Das Lied vom Tuch. Chinesisches Revolutionslied. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 5, S. 110; Hassgesang. Volkslied der Neger. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 6, S. 134. Blätter für Alle 3 (1928), H. 4, innerer Umschlag. Vgl. Blätter für Alle 3 (1928), H. 9, innerer Umschlag.Vgl. auch [o.V.] Bücher für Weihnachten. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 12, S. 253 – 254. Diese Angaben basieren auf Lorenzʼ Bibliografie der UBFA. Vgl. Lorenz: Die UniversumBücherei, S. 191– 216. Surmann: Die Münzenberg-Legende, S. 96. Vgl. auch Lorenz: Die Universum-Bücherei, S. 18 – 20.
2.6 Eine Buchgemeinschaft internationalistischer Weltliteratur
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sonderheit der UBFA, sondern kann als tendenziell charakteristisch für kommunistische Literatur in dieser Phase vor ihrer versuchten Festschreibung auf die Doktrin des sozialistischen Realismus Anfang der 1930er Jahre gelten.¹⁶⁹ In der Mitgliederzeitschrift wurden die Autoren und Autorinnen der UBFA durch eine Kombination von Werbeanzeigen, Kurzporträts und Auszügen aus den in der Buchgemeinschaft erscheinenden Romanen aufgebaut. Wir finden hier also erneut die Publikationsstrategie, die bereits in Arbeiter-Literatur und durch Jung verwendet wurde und die eine Verbreitung von Wissen über internationalistische Weltliteratur mit der Zirkulation von Texten verband. Jedoch potenzierte die UBFA diese Strategie nochmals, indem die Mitgliederzeitschrift mit ihren Textauszügen die Verbreitung von literarischen und anderen Texten in Buchform lediglich vorbereitete und begleitete. In den Texten, die die literarischen Werke diskursiv rahmten, wurden sowohl die Nähe zu proletarischen Lebenswirklichkeiten, das Schreiben im Sinne einer politisch breit aufgefassten Arbeiterbewegung sowie die Idee hervorgehoben, dass die Texte trotz ihrer oftmals lokalen Handlungsorte eine globale Resonanz hervorrufen würden und von Bedeutung für die internationalistische Arbeiterbewegung seien. So wurde etwa Maxim Gorki als ein „dichterisch[er] Verkünder und Gestalter des neuen Menschen, des sozialistischen Menschen“ präsentiert, dessen Werk „trotz des wirklichkeitsnahen Lokalkolorits“ nicht „an die engen Grenzen einer Nation gebunden“ sei.¹⁷⁰ Ähnlich bewarb die UBFA Michael Golds Jews Without Money (1930) als ein Buch, das „an die unterdrückten Klassen der ganzen Welt gerichtet“¹⁷¹ sei, und führte den Autor als Repräsentanten einer globalen und revolutionären Literaturbewegung ein: „Michael Gold, der soeben am Weltkongreß der proletarisch-revolutionären Schriftsteller in Charkow teilgenommen hat, ist der Herausgeber der radikalen amerikanischen Zeitschrift ‚The New Masses‘, die die gesamte amerikanische Kunst revolutioniert hat.“¹⁷² Wie dieses Zitat durch die Erwähnung der New Masses bereits andeutet, muss die internationalistische Literaturpolitik der UBFA in einem breiteren Rahmen linker Literaturzeitschriften, Verlage und Veranstaltungen situiert werden, die jeweils auf ähnliche Weise einzeln sowie zusammen in einem transnationalen Netzwerk versuchten, zur Konstruktion einer internationalistischen Literatur und ihrer transnationalen Öffentlichkeit beizutragen. Der nächste Abschnitt dieses Kapitels wird dieses transnationale Netzwerk linker Li-
Für eine Diskussion von Weltliteratur im Sinne des sozialistischen Realismus vgl. Karl Radek: Die moderne Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst. In: Internationale Literatur 4 (1934), H. 5, S. 3 – 25. Otto Kraus: Maxim Gorki. In: Dies und Das 1 (1926), H. 1, S. 3. Magazin für Alle 5 (1930), H. 12, S. 17. Magazin für Alle 6 (1931), H. 1, innerer Umschlag.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
teraturzeitschriften an den Beispielen New Masses und Die Linkskurve genauer untersuchen. In der Weimarer Republik funktionierte das Programm der UBFA sowohl als inhaltliche Alternative zu bürgerlichen Buchgemeinschaften, deren Programme am „Prestige von schulmäßiger Bildung“¹⁷³ orientiert waren, als auch zum Sortimentsbuchhandel, der es „[s]einem zumeist konservativem Selbstverständnis nach […] nicht als notwendig oder sinnvoll [erachtete], die sich etablierende Arbeiterliteratur in sein Sortiment aufzunehmen“.¹⁷⁴ Die UBFA stellte so ihrem Publikum im deutschsprachigen Raum eine Alternative mit weltliterarischem Anspruch zur Verfügung. Zugleich partizipierte die literaturpolitische Praxis der UBFA aber auch an der Herstellung einer bestimmten Form weltliterarischer Zirkulation, die ihrem Anspruch nach und in geringem Maße auch in ihrer Wirklichkeit die Grenzen Deutschlands überschritt. Tatsächlich vertrieb die Buchgemeinschaft ihre Bücher nicht nur im deutschen Nationalstaat, sondern auch in anderen europäischen Ländern. So gab es Geschäftsstellen in der Schweiz, Österreich, Island, Ungarn, Rumänien und der Tschechoslowakei.¹⁷⁵ Die literaturpolitische Praxis der UBFA kann als Anknüpfung an die oben diskutierte, bei Jung und im Manifest der Kommunistischen Partei formulierte Form weltliterarischer Zirkulation verstanden werden (ohne dass sich freilich ein direkter Bezug auf Marxʼ und Engelsʼ Text im Kontext der UBFA findet¹⁷⁶). Als Teil einer transnationalen linken Literaturbewegung partizipierte die UBFA durch ihr Modell der Buchgemeinschaft, ihre Buchreihe und ihre Mitgliederzeitschrift an der Herstellung einer nicht primär marktförmigen, sondern von politischem Interesse geleiteten Verbreitung von Weltliteratur. Die Annahme, auf der eine solche Idee weltliterarischer Zirkulation notwendig basieren musste, war, dass es ein Publikum für diese Art von Literatur gab bzw. dass es durch die Verbreitung dieser Literatur geschaffen werden konnte. Die UBFA präsentierte sich dementsprechend als stetig wachsende literarische Massenbewegung,¹⁷⁷ in der die Mitglieder kulturelle und politische Aktivisten und
Van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik, S. 13. Van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik, S. 25. Vgl. Lorenz: Die Universum-Bücherei, S. 37– 39. Es findet sich jedoch zumindest eine Anspielung auf das Manifest der Kommunistischen Partei, wenn in einer Selbstbeschreibung der Buchgemeinschaft „die junge literarische Generation aller Länder“ angesprochen wird. Vgl. Blätter für Alle 2 (1927), H. 3, innerer Umschlag. Vgl. z. B. Vorstand der „Universum-Bücherei für Alle“: Wir sind jung – die Welt ist offen! Ein Jahr Universum-Bücherei für Alle. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 10, innerer Umschlag.
2.6 Eine Buchgemeinschaft internationalistischer Weltliteratur
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nicht bloß Konsumenten sein sollten.¹⁷⁸ Auf Grundlage eines Literaturbegriffs, der nicht Literarizität bzw. die Selbstreferentialität von Literatur hervorhebt, sondern Literatur als „Mittel zur Verständigung“¹⁷⁹ begreift, sollte die Buchgemeinschaft „durch gemeinschaftlichen Zusammenschluß die fortschrittlichen Menschen unserer Zeit einander und den modernen Geistern näherbringen“¹⁸⁰ und die Mitglieder zu „begeisterten Gliedern unserer Gemeinschaft“¹⁸¹ werden lassen. Die Realität der UBFA als Massenbewegung war jedoch weniger eindeutig als die Rhetorik ihrer Selbstdarstellung behauptete. Eine Zahl von etwa 20.000 Mitgliedern ist als realistisch anzunehmen, was deutlich weniger war als zum Beispiel die ca. 85.000 Mitglieder der sozialdemokratischen Büchergilde Gutenberg oder gar die ca. 750.000 Mitglieder des bürgerlichen Volksverband der Bücherfreunde. ¹⁸² Zugleich ist allerdings eine zumindest vorübergehend massenhafte Verbreitung der Mitgliederzeitschrift zu konstatieren, die eine Auflage von bis zu 260.000 erreichte und nicht nur an die Mitglieder der Buchgemeinschaft vergeben, sondern auch im freien Buchhandel und als Beilage der kommunistischen Tageszeitung Welt am Abend vertrieben wurde.¹⁸³ „[M]assenhaft publikumswirksam“¹⁸⁴ waren ebenso die sogenannten Universum-Feste, die ab 1928 jährlich in Berlin veranstaltet wurden und die als werbewirksame und gemeinschaftsbildende Veranstaltungen funktionierten, bei denen Autoren der UBFA mitwirkten.¹⁸⁵ Die UBFA kann mit Benedict Anderson als Teil einer internationalistischen und weltliterarischen „vorgestellten Gemeinschaft“ begriffen werden, insofern 1) ihre Mitglieder einander und die weiteren Öffentlichkeiten der internationalistischen Weltliteratur niemals alle kennen konnten; 2) sie eine begrenzte („limited“) Gemeinschaft darstellte – nur nicht im Sinne von nationalen Abgrenzungen, die Anderson erforscht hat, sondern im Sinne einer globalen klassenidentitären und politischen Abgrenzung gegenüber bürgerlicher Literatur; und schließlich 3) insofern die Mitglieder – trotz aller organisatorischen Hierar-
Vgl. z. B. Geschäftsleitung der Universum-Bücherei: Ein Wort an unsere Mitglieder. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 4, S. 91. Redaktion: Führer durch die Literatur. In: Dies und Das 1 (1926), H. 1, S. 16. [o.V.]: Aufruf!, S. 2. [o.V.]: Unser Programm. In: Blätter für Alle 2 (1927), H. 5, S. 114. Vgl. van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik, S. 115, S. 161 u. S. 68. Zu den Mitgliederzahlen vgl. auch Surmann: Die Münzenberg-Legende, S. 163 f. Vgl. van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik, S. 114. Vgl. van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik, S. 114. Für eine kurze Beschreibung des Universum-Fests von 1931 im Berliner Sportpalast, das mit 20.000 Teilnehmenden das erfolgreichste war, vgl. Lorenz: Die Universum-Bücherei, S. 50.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
chien – als Teil eines interaktiven Kollektivs imaginiert wurden.¹⁸⁶ Grundlegend für die Produktion dieser national nicht begrenzten vorgestellten Gemeinschaft war ähnlich wie für die Entstehung von Nationalismus, die Anderson u. a. mit dem print capitalism in Verbindung bringt,¹⁸⁷ die angenommene geteilte Lektüre der gleichen Texte, die durch die Medien der internationalistischen Weltliteratur im Original und in Übersetzung im Umlauf waren. Im Unterschied zu nationalen vorgestellten Gemeinschaften basierte die internationalistisch-weltliterarische Gemeinschaft so nicht auf einer geteilten Sprache, sondern auf der Vorstellung, dass die gleichen Texte in verschiedenen Sprachen im Rahmen des gleichen politischen Projektes und der gleichen Klassenidentität gemeinsam gelesen wurden. Diese vorgestellte Gemeinschaft fand Verkörperungen in den bereits erwähnten Universum-Festen,¹⁸⁸ an denen auch ausländische Schriftsteller teilnahmen, und in dem unabhängig von der UBFA stattfindenden Internationalen Kongress proletarisch-revolutionärer Schriftsteller in Charkow (1930), von dem Kisch in der Mitgliederzeitschrift berichtete und dabei besonders den UBFA-Autor Michael Gold hervorhob.¹⁸⁹ Während der Charkower Kongress als ein Ereignis der schriftstellerischen Prominenz bezeichnet werden kann, verkörperte sich die vorgestellte Gemeinschaft internationalistischer Weltliteratur auf der grassrootsEbene in der Reise einer Delegation von zwölf der „aktivsten Mitarbeiter[ ]“¹⁹⁰ der UBFA und eines arbeitslosen Gewinners eines Preisausschreibens in die Sowjetunion im Juli 1931. Die Delegation berichtete in der Sowjetunion über die Arbeit der UBFA, besuchte literarische Institutionen in Moskau und Leningrad und traf kommunistische Schriftsteller, deren Bücher auch in Deutschland erschienen. Die Berichterstattung über die Reise der Delegation diente dabei dazu, die internationale Relevanz der UBFA zu bestätigen. So wurde darauf hingewiesen, dass „[d]ie anwesenden sowjetrussischen Schriftsteller und Arbeiterkorrespondenten Leningrads […] mit besonderem Eifer die ausgelegten Bücher und Pro-
Vgl. Anderson: Imagined Communities, S. 5 – 7. Vgl. Anderson: Imagined Communities, S. 35 f. u. S. 44 f. Die Universum-Feste waren Teil der Festkultur der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik, durch die Gemeinschaften performativ produziert und verkörpert wurden; vgl. hierzu allgemein Matthias Warstat: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918 – 33. Tübingen/Basel 2005. Egon Erwin Kisch: Der Charkower Schriftsteller-Kongreß. In: Magazin für Alle 6 (1931), H. 1, S. 19 f. [o.V.]: Die erste Delegation der Univers.-Bücherei in der Sowjetunion. In: Magazin für Alle 6 (1931), H. 8, S. 21.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur
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spekte der Universum-Bücherei [studierten]“¹⁹¹ und dass der Leiter der Kunst- und Literaturabteilung des sowjetischen Staatsverlags sich begeistert von der literarischen Praxis der UBFA zeigte.¹⁹² Zudem wurde als Resultat der Delegationsreise die Einrichtung eines „dauernde[n] Korrespondenzverkehr[s]“¹⁹³ mit dem Moskauer Pressehaus bekanntgegeben und die Leser der Mitgliederzeitschrift wurden dazu aufgefordert, sich an „eine[m] Briefwechsel mit einer russischen Fabrik und ihre[r] Betriebszeitung“¹⁹⁴ zu beteiligen. Mit anderen Worten: Die Reise trug zur Verbreitung internationalistischer Literatur bei. Inszeniert wurde eine transnationale Öffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur, in der die Aktivisten und Aktivistinnen in Deutschland mit dem weltrevolutionären Zentrum Moskau in einem reziproken Verhältnis standen. Die Verbreitung von Wissen und Texten internationalistischer Weltliteratur durch die Publikationen der UBFA wurde durch die Kommunikation der internationalistischen Akteure vor Ort ergänzt, die damit Teil einer verkörperten vorgestellten Gemeinschaft internationalistischer Weltliteratur wurden.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur: Die Linkskurve und New Masses Diese Konstruktion einer vorgestellten Gemeinschaft internationalistischer Weltliteratur durch die Zirkulation von literarischen Texten und kulturpolitische Praktiken der Adressierung einer transnationalen Gegenöffentlichkeit, die in der Universum-Bücherei für Alle eine über acht Jahre andauernde und bis zum Ende der Weimarer Republik reichende institutionelle Verstetigung fand, soll nun anhand der literarischen Monatszeitschrift Die Linkskurve weiterverfolgt werden. Als Zeitschrift des BPRS stand sie durch eine zumindest in ihrer frühen Phase „kompromißlose Abgrenzung gegenüber der linksbürgerlichen Intelligenz“ in starker Spannung zur weltliterarischen Praxis des Münzenberg-Konzerns, zu dem die UBFA gehörte, „die in ihre Buchprogramme auch solche Autoren einbezog,
Zw. [Hans Zwehl]: Kundgebung im Moskauer und Leningrader Pressehaus: Die berühmtesten Schriftsteller der Sowjetunion für die Universum-Bücherei. In: Magazin für Alle 6 (1931), H. 9, S. 7. Vgl. [o.V.]: Im größten Verlag der Welt. In: Magazin für Alle 6 (1931), H. 9, S. 10 f. u. S. 17, hier S. 11. Zw. [Hans Zwehl]: Kundgebung im Moskauer und Leningrader Pressehaus, S. 6. [o.V.]: Briefwechsel mit Rußland. In: Magazin für Alle 6 (1931), H. 9, S. 17.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
gegen die der BPRS polemisierte“.¹⁹⁵ Die Linkskurve stellt eine radikal-gegenöffentliche Publikation dar, die sich dezidiert gegen andere politische Gruppen und sozio-kulturelle Milieus abgrenzte, so etwa gegen linksliberale Intellektuelle und infolge der kommunistischen Sozialfaschismustheorie vor allem auch gegen die SPD. Dabei verstand sie sich ausdrücklich als Teil eines transnationalen Netzwerkes kommunistischer Literaturzeitschriften, das für eine über Staats- und Sprachgrenzen hinwegreichende Verknüpfung verschiedener Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegungsliteratur von grundlegender Bedeutung war. Der folgende Abschnitt geht dabei komparatistisch vor, indem er die amerikanische Zeitschrift New Masses, die ebenso zu diesem Netzwerk gehörte, in die Analyse miteinbezieht. Dabei werde ich insbesondere die formalen und diskursiven Strategien analysieren, mit denen sich diese Zeitschriften als Knotenpunkte und Katalysatoren einer weltliterarischen Gemeinschaft kommunistischer Kulturaktivisten, Schriftsteller und Leser inszenierten. Diese Zeitschriften internationalistischer Weltliteratur sind als politische Varianten kleiner modernistischer Zeitschriften zu verstehen, die, wie Peter Brooker und Andrew Thacker formulieren, als „point[s] of reference, debate, and transmission at the heart of an internally variegated and often internationally connected counter-cultural sphere“¹⁹⁶ fungierten. Mit Zeitschriften wie Simplicissimus oder The Dial verband Die Linkskurve und New Masses allerdings sicherlich weniger eine geteilte Ästhetik oder Weltanschauung als ein bestimmtes Verhältnis zur Literaturgeschichte. Die Modernität von Die Linkskurve und New Masses zeigt sich – wie bei anderen modernistischen Zeitschriften auch – daran, dass sie weniger an der Literatur der Vergangenheit interessiert waren als an der der Gegenwart, d. h. an einer Form von Literatur, die gerade erst im Entstehen begriffen war. Eric Bulson hat dieses Verhältnis modernistischer Zeitschriften zur Literaturgeschichte treffend beschrieben: Whatever the formal differences, titles, readerships, or size (some little magazines were simply bigger than others), they all shared one thing in common: an interest in the present. The little magazine, whatever its provenance and itinerary, was always a medium intended for the publication of contemporary literature and criticism, and it was this obsession with the “NOW” of literary production and consumption, in fact, which made so many little mag-
Rüdiger Safranski/Walter Fähnders: Proletarisch-revolutionäre Literatur. In: Literatur der Weimarer Republik 1918 – 1933. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 8. Hg. v. Bernhard Weyergraf. Begründet v. Rolf Grimminger. München/Wien 1995, S. 212. Peter Brooker/Andrew Thacker: General Introduction. In: The Oxford Critical and Cultural History of Modernist Magazines. Vol. 1: Britain and Ireland 1880 – 1955. Hg. v. Peter Brooker u. Andrew Thacker. Oxford/New York 2009, S. 2.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur
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azines futuristic, in the general sense of the term, forward-looking, eager to map out new directions of an experimental literary culture.¹⁹⁷
Im Gegensatz zu anderen kleinen modernistischen Zeitschriften waren allerdings sowohl Die Linkskurve als auch die New Masses in Formationen kulturpolitischer Institutionen eingebettet, die Teil der Arbeiterbewegung waren. Die im August 1929 erstmals erschienene Linkskurve war das Organ des im Oktober 1928 gegründeten Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands, der versuchte, progressive Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowie Arbeiter und Arbeiterinnen für die formale und inhaltliche Entwicklung sowie die institutionelle Organisation einer proletarisch-revolutionären Literatur zu sammeln. Der BPRS hatte 1930 ca. 350 und 1932 etwa 600 Mitglieder, wovon nur 10 % Frauen waren. Die soziale Zusammensetzung bestand nach Angaben des Bundes 1930 zu etwa einem Drittel aus Arbeitern und Angestellten und zu einem weiteren Viertel aus Journalisten, während der Rest anderen kulturellen und studentischen Tätigkeiten nachging. Dabei waren 40 % der BPRS-Mitglieder auch Mitglieder in der KPD und die übrigen 60 % parteilos – abgesehen von einigen wenigen Mitgliedern anderer linker Parteien.¹⁹⁸ Während also eine politische Nähe zur KPD bestand, unterstützte die KPD Die Linkskurve allerdings zu Beginn nicht finanziell. Gelder erhielt die Zeitschrift durch das Internationale Büro für Revolutionäre Literatur, das wiederum von der Kommunistischen Internationale finanziert wurde und mit dem bereits die Gründung der Linkskurve abgestimmt worden war.¹⁹⁹ Die Linkskurve stand so von Beginn an „in eine[m] direkte[n] Zusammenhang mit der internationalen Literaturorganisation in Moskau bzw. der Kommunistischen Internationale“.²⁰⁰ Ein internationalistischer Organisationszusammenhang bestand im Gegensatz zur Linkskurve im Falle der New Masses nicht von Beginn an. Durch den American Fund for Public Service des reichen Anarchisten Charles Garland sowie Privatspenden finanziert, erschien die erste Ausgabe der New Masses im Mai 1926 und war deutlich von den historischen Avantgarden beeinflusst. Erst zwei Jahre später kam es im Zuge der Herausgeberschaft von Michael Gold zu einer expliziten Hinwendung zur proletarischen Literatur; die Zeitschrift wurde dann 1930 infolge
Eric Bulson: Little Magazine, World Form. In: The Oxford Handbook of Global Modernisms. Hg. v. Mark Wollaeger u. Matt Eatough. Oxford/New York 2012, S. 269. Diese Zahlen finden sich bei Safranski/Fähnders: Proletarisch-revolutionäre Literatur, S. 208 f. Vgl. Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Neuwied/Berlin 1971, S. 39 u. S. 45 f. Gallas: Marxistische Literaturtheorie, S. 39.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
des Charkower-Kongresses auch offiziell Teil der kommunistischen Literaturbewegung.²⁰¹ In den USA entwickelte sich New Masses zum „centre of a budding network of institutions and collective practices that would transform proletarian literature from a genre into a full-fledged formation“.²⁰² Zu diesem Netzwerk sind etwa auch der John Reed Club und der Verlag International Publishers zu zählen, in dem u. a. Romane der BPRS-Autoren Klaus Neukrantz und Hans Marchwitza in Übersetzung erschienen. Die Auflage der New Masses lag im September 1933 bei 6.000 und erreichte 1934 eine Auflage von 25.000, nachdem sie von einer Monatszeitschrift in eine Wochenzeitschrift umgewandelt worden war.²⁰³ Die Auflage der Linkskurve fiel von 15.000 für die ersten drei Ausgaben schnell auf etwa 5.000 und schließlich auf 3.500.²⁰⁴ Beide sind daher Zeitschriften von Subkulturen und keine Massenmedien. Gemeinsam ist der Linkskurve und der New Masses, dass sie auch jenseits der jeweiligen nationalen Grenzen vereinzelt Verbreitung fanden. Die Linkskurve war laut Ludwig Renn in den Ländern des Balkans ein wichtiges Medium für die dortigen Schriftsteller – eine Region, aus der mit Theodor Balk und Otto Biha auch zwei Redakteure der Linkskurve stammten –, gelangte aber auch nach China und Japan.²⁰⁵ Wie aus Leserbriefen und Berichten der Redaktion hervorgeht, wurde New Masses in Ländern wie England, Norwegen oder Japan wahrgenommen und manche ihrer Texte wurden dort in Übersetzung erneut veröffentlicht.²⁰⁶ Da beide Zeitschriften in Gesellschaften agierten, in denen ihre Literaturpolitik nicht hegemonial war, sind Die Linkskurve und New Masses in ihren nationalen und transnationalen Kontexten als Teil von literarischen Gegenöffentlichkeiten zu verstehen. Allerdings erfüllten sie zugleich durch ihre Ausrichtung auf die Sowjetunion und ihre Anbindung an von der Sowjetunion ausgehende literaturpolitische Organisationen – wie die IVRS – staatsaffirmative Funktionen, zum Bei-
Zur Geschichte der New Masses vgl. Benoît Tadié: The Masses Speak. The Masses (1911– 17); The Liberator (1918 – 24); New Masses (1926 – 48); and Masses & Mainstream (1948 – 63). In: The Oxford Critical and Cultural History of Modernist Magazines. Vol. II: North America 1894– 1960. Hg. v. Peter Brooker u. Andrew Thacker. Oxford/New York 2012, S. 845 – 851. Die enge Anbindung an die IVRS wird deutlich durch den Abdruck der „Resolution on the Work of the New Masses. Formulated by the International Union of Revolutionary Writers“ in New Masses 8 (1932), H. 3, S. 20 f. Tadié: The Masses Speak, S. 848. Vgl. Tadié: The Masses Speak, S. 849 f. Vgl. Gallas: Marxistische Literaturtheorie, S. 44. Vgl. Gallas: Marxistische Literaturtheorie, S. 44. Vgl. z. B. [o.V.]: New Masses Abroad. In: New Masses 5 (1929), H. 6, S. 23; [o.V.]: Letters from Abroad. In: New Masses 5 (1930), H. 9, S. 29.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur
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spiel durch ihren Einsatz zur Verteidigung der Sowjetunion und durch ihre Unterstützung sowjetischer Kulturpolitik. Obgleich sowohl in der Linkskurve als auch in der New Masses von Beginn an ein starkes Interesse an fremdsprachiger Literatur zu beobachten ist, lässt sich in beiden Zeitschriften infolge des II. Internationalen Kongresses proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow im November 1930 ein noch einmal verstärktes Interesse an proletarisch-revolutionären Literaturen des Auslands und ein intensiviertes Bemühen um eine Vernetzung der Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegungsliteratur über Landes- und Sprachgrenzen hinweg feststellen. Dabei kommt es gerade im Vergleich zu früheren Phasen der Formierung der internationalistischen Weltliteratur in Deutschland, die ich anhand von Jungs literaturpolitischem Aktivismus und der Buchgemeinschaft UBFA beschrieben habe, zu einer deutlichen Erweiterung der internationalistischen Weltliteratur und dabei insbesondere zu einer Beschäftigung mit den linken Literaturen Chinas und Japans. Der Rezeption des Charkow-Kongresses in der Linkskurve und der New Masses kommt in diesem Abschnitt deshalb neben der Analyse der formalen Strategien, mit denen diese Zeitschriften eine internationalistische Weltliteratur herzustellen versuchten, eine besondere Bedeutung zu. In beiden Zeitschriften wurde der Begriff der Weltliteratur selbst jedoch im Unterschied zur UBFA fast gar nicht verwendet. Die einzige mir bekannte Verwendung findet der Begriff in einem Leitartikel Johannes R. Bechers, welcher Die Linkskurve im Januar 1930 eröffnete. Unter dem Titel „Einen Schritt weiter!“ erklärt Becher „die Herausarbeitung einer eigenen proletarisch-revolutionären Literatur“ zur „zentrale[n] Aufgabe“²⁰⁷ des BPRS und der Linkskurve, sieht erste Ansätze hierfür in Arbeiterkorrespondenzen und Zeitungen kommunistischer Straßenzellen und grenzt diese Literatur von den Werken linksliberaler Schriftsteller wie Alfred Döblin ab. Die Aktivitäten des BPRS in der Weimarer Republik stellt Becher dabei ganz ausdrücklich in einen transnationalen Zusammenhang. Sie würden durch die Institutionen einer entstehenden internationalistischen Weltliteratur ermöglicht und seien als Beitrag zur Entwicklung einer alternativen „roten Weltliteratur“ der kommunistischen Arbeiterbewegung zu sehen: Wir gingen über die Grenzen Deutschlands hinaus. 1927: Gründungskongreß des „Internationalen Büros für revolutionäre Literatur“ in Moskau – die internationale Verbindung wurde hergestellt, unsere Literatur, in ein Dutzend Sprachen übersetzt, wurde zu einem wichtigen Bestandteil der roten Weltliteratur.²⁰⁸
Johannes R. Becher: Einen Schritt weiter! In: Die Linkskurve 2 (1930), H. 1, S. 1. Becher: Einen Schritt weiter, S. 1.
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Wie ich im Laufe dieses Abschnitts zeigen werde, perpetuiert der Begriff der proletarisch-revolutionären Literatur, der für Becher mit dem der „roten Weltliteratur“ synonym zu sein scheint, diskursive Elemente, die sich bereits in Jungs Nachdenken über Weltliteratur und im internationalistischen Diskurs der UBFA finden lassen. Zugleich deutet der Begriff der proletarisch-revolutionären Literatur bereits auf eine zunehmende Schließung der ästhetischen Offenheit einer an die kommunistische Bewegung gebundenen internationalistischen Weltliteratur hin.²⁰⁹ Eine solche „rote Weltliteratur“ bzw. proletarisch-revolutionäre Literatur basierte notwendig auf der Annahme einer globalen Leserschaft und literarischen Produktionsgemeinschaft.Wenn Zeitschriften wie Die Linkskurve und New Masses sich als Knotenpunkte einer internationalistischen Weltliteratur verstanden, dann kam der Dokumentation ihrer globalen Wirkung und der transnationalen Kommunikation, an der sie beteiligt waren, durch verschiedene formale Strategien eine besondere Bedeutung zu. Mit Hilfe dieser Strategien – die vom Abdruck von Aufrufen über Rezensionen bis zu Beiträgen ausländischer Autoren reichten – konstituierte sich internationalistische Weltliteratur als Konstellation transnational verknüpfter literarischer Gegenöffentlichkeiten. Deshalb ist diese formale Dimension der Zeitschriften als mindestens ebenso wichtig einzuschätzen wie die in ihnen geführten Debatten darüber, was eine solche Literatur ausmache. Mit anderen Worten: Die Zeitschriften waren „a place in which writers, readers, critics, and translators could imagine themselves belonging to a global community that consisted of, but was not cordoned off by, national boundaries“.²¹⁰ Der Abdruck von Briefen und Aufrufen diente erstens dazu, dem Lesepublikum zu dokumentieren, dass die Zeitschriften an einer transnationalen Kommunikation beteiligt waren; er bezeugte also die Wirklichkeit internationalistischer Weltliteratur durch die Rhetorik des Dokuments. Zweitens ermöglichte der Abdruck von Briefen und Aufrufen den Lesenden, sich als Teil einer über die eigenen National- und Sprachgrenzen hinausgehenden Gemeinschaft vorzustellen, deren Akteure die gleichen Medien und Texte rezipierten und sich potentiell im Gespräch miteinander befanden. Dementsprechend leitete die Redaktion der Linkskurve den Abdruck eines Briefes der japanischen, proletarisch-revolutionären Zeitschrift The Senki mit den folgenden Worten ein:
Für diese zunehmende Verengung ästhetischer Offenheit ist Bechers Ablehnung des „Ultrarealismus“ (Einen Schritt weiter, S. 4) von Döblins Berlin Alexanderplatz charakteristisch. Zu einer expliziten Ablehnung modernistischer Formen durch den BPRS und Die Linkskurve kommt es allerdings erst ab Mitte 1932 unter dem zunehmenden Einfluss von Georg Lukács. Vgl. Gallas: Marxistische Literaturtheorie, S. 64– 69. Bulson: Little Magazine, World Form, S. 267.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur
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Fast täglich finden wir in unserer Redaktionspost Umschläge mit bunten, ausländischen Briefmarken von Lesern und Freunden der „Linkskurve“ aus Amerika, China, Japan, aus den verschiedensten Ländern der Sowjetunion, aus England, Frankreich, Bulgarien, Polen, Griechenland, Artikel, Begrüßungsschreiben von einzelnen Lesern oder von Gruppen proletarisch-revolutionärer Schriftsteller anderer Länder, die uns zu gemeinsamer internationaler Zusammenarbeit auffordern.²¹¹
Während die lange Aufzählung der Länder die globale Ausbreitung des Projektes einer proletarisch-revolutionären Literatur bezeugen soll, suggeriert das Adverb „[f]ast täglich“ einerseits die hohe Frequenz, mit der dieser Austausch stattfindet, und andererseits das Verlangen nach einer solchen transnationalen Kommunikation und Organisation. Zugleich stellt die Passage, die durch ihre Detailliertheit die Vorstellung eines solchen weltliterarischen Austausches konkret und greifbar macht, Die Linkskurve ins Zentrum dieses Austausches. Es wird nahegelegt, dass diese global wichtig genug ist, um Adressatin von sympathisierenden Einzelpersonen und Organisationen zu sein. Im nun folgenden Brief präsentiert sich The Senki dem deutschsprachigen Publikum als „das einzige populär gehaltene proletarische Magazin Japans [,] das mit der Kommunistischen Partei Japans sympathisiert“,²¹² und macht so eine Gemeinsamkeit mit der Redaktion und dem Lesepublikum der Linkskurve deutlich. Zugleich aber wird eine „ungenügende Verbindung mit der revolutionären Bewegung des Auslands“²¹³ kritisiert und eine Intensivierung der durch das gemeinsame literaturpolitische Projekt motivierten weltliterarischen Zirkulation angeregt: „So hoffen wir, dauernde freundschaftliche Beziehung zu Euch aufzurichten und schlagen wir Euch den monatlichen Austausch unserer Zeitschriften vor.“²¹⁴ Der von The Senki vorgeschlagene transnationale Dialog wurde von der Redaktion der Linkskurve angenommen. Sie antwortete erstens auf das Anliegen der japanischen Zeitschrift positiv und inszenierte eine Art call&response in der Zeitschrift.²¹⁵ Zweitens weitete sie diesen Dialog über die Seiten der Zeitschrift hinaus aus, indem sie vom Erhalt eines Schreibens einer bulgarischen Kulturzeitschrift berichtete und ihr Lesepublikum aufforderte, an diese zu schreiben, und dazu die Adresse der Zeitschrift angab. Die Leserschaft der Linkskurve wurde so als aktive Teilnehmerin an dem transnationalen Dialog adressiert, den die Zeitschrift dokumentierte und als dessen medialen Knotenpunkt sie sich verstand.
[o.V.]: Unsere Freunde in der Welt. In: Die Linkskurve 2 (1930), H. 7, S. 30. [o.V.]: Unsere Freunde in der Welt, S. 31. Hervorhebung im Original. [o.V.]: Unsere Freunde in der Welt, S. 31. Hervorhebung im Original. [o.V.]: Unsere Freunde in der Welt, S. 31. Hervorhebung im Original. Vgl. ähnlich [o.V.]: Zweimal CSR. In: Die Linkskurve 3 (1931), H. 7, S. 31.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
Öfter noch als Die Linkskurve bediente sich die New Masses der formalen Strategie des Abdrucks von Briefen und Aufrufen, oftmals in der eigenen Rubrik „Letters from Readers“. Während diese Strategie einerseits dazu diente, die globale Verbreitung der New Masses und ihrer Texte zu bezeugen, wobei auch deutsche Medien wie Die Linkskurve und Die Rote Fahne Erwähnung fanden,²¹⁶ wird anhand der Briefe und Aufrufe die Multidimensionalität und Multidirektionalität des weltliterarischen Austausches in den literarischen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung sichtbar. Während einerseits die verschiedenen proletarisch-revolutionären Kulturorganisationen durch Briefe und Aufrufe miteinander und mit den sich um diese Organisationen bildenden Gegenöffentlichkeiten kommunizierten,²¹⁷ wird durch die Leserbriefe auch deutlich, dass es individuelle Beteiligungen an dieser weltliterarischen Konversation unterhalb der organisatorischen Ebene gab. So berichtete etwa ein in Syracuse (im amerikanischen Bundesstaat New York) lebender und sich informell als Vermittler zwischen den USA und Japan betätigender japanischstämmiger Aktivist, dass mehrere Texte Michael Golds auf Japanisch publiziert wurden sowie dass ein Vortrag über Golds Werk vor etwa 500 Menschen in Tokio gehalten und ein weiterer seiner Texte von einer linken japanischen Theatergruppe aufgeführt wurde.²¹⁸ In einem Leserbrief aus Norwegen wiederum bat der Schreiber um die Erlaubnis, einige Texte der New Masses, die ihm durch einen Freund zugegangen waren, ins Norwegische übersetzen zu dürfen.²¹⁹ Wie die New Masses und ihr Lesepublikum durch Briefe und Aufrufe von ausländischen Akteuren adressiert wurden, so adressierte die literarische Gegenöffentlichkeit der USA ausländische Akteure mit Hilfe der New Masses ebenfalls. Anlässlich des Besuches von Gerhart Hauptmann in den USA veröffentlichte der John Reed Club zum Beispiel einen offenen Brief an diesen in der New Masses, in dem seine literarische Entwicklung seit Die Weber (1892) heftig kritisiert und er aufgefordert wurde, seine Arbeit wieder in den Dienst der Arbeiterbewegung zu stellen. Zugleich – oder vielleicht sogar vor allem – war der Brief jedoch an die literarische Gegenöffentlichkeit in Deutschland gerichtet. Dabei diente der Brief dazu, sich einer geteilten Weltanschauung zu versichern und eine Literatur jenseits öffentlich gefeierter Autoren zu propagieren: „We have two purposes in adressing you […] second, to let the revolutionary writers and artists of your
Vgl. [o.V.]: New Masses Abroad. So z. B. auch die Arbeiter-Illustrierte Zeitung, die in der New Masses um Beiträge für ihre Jubiläumsausgabe zum zehnjährigen Bestehen warb: A.I.Z.: From Germany. In: New Masses 7 (1931), H. 2, S. 23. D. Uchida: New Masses Abroad. In: New Masses 5 (1929), H. 7, S. 22. Anders Anderson: From Norway. In: New Masses 5 (1930), H. 9, S. 23.
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country know that their comrades in America are not permitting the glamor of the great name of Hauptmann to blind them to his shortcomings.“²²⁰ Darüber hinaus dokumentierte die New Masses auch einen Austausch innerhalb der transnational verbundenen literarischen Gegenöffentlichkeiten, an dem amerikanische Akteure nicht direkt beteiligt waren, zum Beispiel durch den Abdruck eines offenen und kritischen Briefes der IVRS an eine japanische Literaturorganisation, die in einem Schreiben an die IVRS die Gruppe um The Senki angegriffen hatte.²²¹ Grundlage aller dieser Äußerungen war das Bedürfnis, engere Kontakte zwischen den Projekten proletarisch-revolutionärer Literatur in den einzelnen Staaten herzustellen – ein Anliegen, das im gleichen Monat wie in der Linkskurve auch in der New Masses in einem weiteren Brief von den Herausgebern der Senki explizit zum Ausdruck gebracht wurde: „We wish to establish closer relations with foreign workers. We ask that American comrades write to us.“²²² Titel wie „A request from Japan“ oder „To all Writers, Artists“, in dem die IVRS zu Beiträgen für eine auf Deutsch und Russisch erscheinende Zeitschrift aufrief,²²³ machen dabei durch ihre appellative Rhetorik deutlich, dass die Leserschaft der New Masses durch diese formalen Strategien als Teil einer internationalistischen Weltliteratur adressiert und die transnationale Verknüpfung literarischer Gegenöffentlichkeiten durch diese formalen Strategien immer wieder evoziert und gestaltet wurde. Während Die Linkskurve und New Masses einsprachig waren, hatte der Abdruck von Briefen und Aufrufen eine Internationalisierung der Stimmen dieser Zeitschriften zur Folge. Ausländische Organisationen und Individuen wurden nicht nur dargestellt, sondern konnten sich in einem durch die jeweilige Redaktion vorgegebenen Rahmen durch eigene Wortäußerungen auch selbst darstellen. Die Basis für ein solches Sprechen in ausländischen Medien war dabei das geteilte politische Projekt und die Annahme einer transnational geteilten Erfahrungsbasis, die zu Klassenposition und politischem Aktivismus im Verhältnis stand. Die durch Briefe und Aufrufe hergestellte Internationalisierung der in den Zeitschriften vertretenen Stimmen wurde durch den Abdruck von literarischen Texten in Übersetzung sowie von Berichten über Literaturen im Ausland, die von ausländischen Autoren selbst geschrieben wurden, vorangetrieben. Diese Art von Berichten, die hauptsächlich in der Linkskurve und weniger in der New Masses erschienen, ergänzten ähnliche, jedoch von inländischen Autoren geschriebene
John Reed Club: To Gerhart Hauptmann. In: New Masses 7 (1932), H. 10, S. 6. Secretariat IURW/Béla Illés: Japanese Revolutionary Literature and the International Union of Revolutionary Writers. In: New Masses 7 (1931), H. 3, S. 22. The Senki–Editors: A Request from Japan. In: New Masses 6 (1930), H. 2, S. 23. Vgl. International Union of Revolutionary Writers: To all writers, artists. In: New Masses 7 (1931), H. 6, S. 31.
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Berichte über ausländische Literatur. Zusammen bildeten diese Berichte und literarischen Texte für das Lesepublikum der Zeitschriften eine Art globale Bestandsaufnahme der Entwicklung proletarisch-revolutionärer Literatur. Diese erstreckte sich in Die Linkskurve von Lettland und Frankreich über Spanien und Lateinamerika bis in die USA und nach Japan. Im Vergleich zur Linkskurve fällt bei der New Masses vor allem ein stärkerer Fokus auf China auf. Von allen Autoren wurde dabei die transnationale Verbundenheit zwischen den Literaturen in den verschiedenen Nationalstaaten betont. So schließt etwa Szejikiti Fudimori seinen Bericht über proletarisch-revolutionäre Literatur in Japan mit den Worten: „‚Senki‘ und der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Japans stehen in engster Verbindung mit den ausländischen Bruderorganisationen und Zeitschriften wie ‚Linkskurve‘ und ‚New Masses‘.“²²⁴ Rezensionen literarischer Werke sind als eine weitere Strategie in beiden Zeitschriften zu nennen, die zur Konstruktion einer internationalistischen Weltliteratur beitrug. Im Vergleich von New Masses und Die Linkskurve fallen darüber hinaus die in letzterer für einige Zeit und in unregelmäßigen Abständen publizierten und auf die Literatur der Gegenwart konzentrierten bibliografischen Listen auf, denen aufgrund von Titeln wie „Bibliographie für den Arbeiterleser“ unschwer der Versuch anzumerken ist, einen Lesekanon für proletarische und politisch sympathisierende Leser aufzubauen.²²⁵ An der Struktur dieser Bücherlisten wird zudem ein grundlegendes Element internationalistischer Weltliteratur deutlich, das uns bereits im Nachdenken Jungs und in der Literaturpolitik der UBFA begegnet ist. Die Kategorien, nach denen diese Listen u. a. unterteilt sind, sind nämlich keine nationalliterarischen, sondern klassenliterarische: Die jeweils internationale Autoren und Autorinnen versammelnden Rubriken „Schöne Literatur: Proletarische und sympathisierende Autoren“ und „Bürgerliche schöne Literatur“ stehen einander gegenüber.²²⁶ Wie Arbeiter-Literatur und die UBFA trugen auch Die Linkskurve und New Masses durch diese formalen Strategien zur Verbreitung von Wissen über internationalistische Weltliteratur sowie zur Zirkulation ihrer Texte bei. In New Masses lässt sich dann auch die Verbreitung von Texten deutscher proletarisch-revolutionärer Literatur in den USA nachweisen. So wurden u. a. Werke von Oskar Maria Graf, Erich Weinert, Anna Seghers und Egon Erwin Kisch
Szejikiti Fudimori: Die proletarisch-revolutionäre Literatur Japans. In: Die Linkskurve 2 (1930), H. 10, S. 30. Zur Rolle des Bibliografischen bei der Konstruktion weltliterarischer Öffentlichkeiten vgl. B. Venkat Mani: Recoding World Literature. Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact with Books. New York 2017, S. 35. Vgl. z. B. [o.V.]: Bibliographie für den Arbeiterleser. In: Die Linkskurve 3 (1931), H. 2, S. 25 f.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur
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in New Masses rezensiert. In einer Doppelrezension zu Klaus Neukrantzʼ Barrikaden am Wedding (1931) und Hans Marchwitzas Sturm auf Essen (1930), deren Übersetzungen 1932 bei International Publishers in New York erschienen,²²⁷ wurde beiden Texten eine transnationale Relevanz und literarische Vorbildlichkeit zugesprochen – und dies trotz des sehr lokalen Handlungsraums dieser Romane. Die in den Romanen geschilderte Polizeigewalt sei „common among the police and pinkertons of all the world“ und die Lesenden seien durch die Lektüre „compelled to participate in the struggle“.²²⁸ Gerade im Kontext amerikanischer Literatur sei die schriftstellerische Leistung von Neukrantz und Marchwitza nachahmenswert: „In the light of some of our own assortment of quasi-left novels and domestic literary fustian, the hard integrity and political awareness of these two revolutionary German writers are especially pronounced.“²²⁹ Umgekehrt fanden sich auch amerikanische Texte in der Linkskurve, die dort mit ähnlichen literaturpolitischen Zuschreibungen besetzt wurden. Eine Arbeiterkorrespondenz von John C. Rogers, die im amerikanischen Original zuerst in New Masses erschien, wird in der einführenden Notiz von der Redaktion der Linkskurve als exemplarisch für die literarischen und politischen Qualitäten dargestellt, die dieses Genre haben sollte: Warum bringen wir sie? […] Her mit einer volkstümlichen Sprache! Oft schon wurde bei Diskussionen über die proletarische Presse in Deutschland diese Forderung erhoben. In den beiden Arbeiterkorrespondenzen der amerikanischen Genossen finden wir sie – nicht bloß die Sprache, den Slang, sondern den denkenden Arbeiter, mit all seinen Widersprüchen, mit seinen Zweifeln und Sehnen. Um dieser Konkretheit wegen in der Wiedergabe des Lebens des amerikanischen Arbeiters – durch einen Arbeiter – bringen wir diese Arbeiterkorrespondenz.²³⁰
Die Doppelrezension und diese editorische Notiz machen einen Aspekt anschaulich, der uns bereits bei Jung und in der UBFA begegnet ist. Als Klassenliteratur – und eben nicht Nationalliteratur – kann internationalistische Weltliteratur ihre exemplarischen Texte jenseits sprachlicher und nationaler Grenzen finden, solange diese eine gemeinsame transnationale Erfahrungsbasis haben
Eine Übersetzung von Marchwitzas Roman wurde bereits 1931 in New Masses gefordert; vgl. A.B. Magil: European Newsreel. In: New Masses 6 (1931), H. 12, S. 10. Beide Romane fanden auch lobende Erwähnung in [o.V.]: The Revolutionary Writers of Europe. In: New Masses 7 (1931), H. 2, S. 20. Edward Dahlberg: Barricades in Berlin. In: New Masses 8 (1933), H. 9, S. 26. Dahlberg: Barricades in Berlin, S. 26. John C. Rogers: Ein Arbeiter schreibt: Es geschah in Washington. In: Die Linkskurve 4 (1932), H. 9, S. 19 f.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
und einem geteilten politischen Projekt zugehören. Der Nachdruck, den die zitierte Passage auf eine soziale Sprache legt, zog in der Linkskurve allerdings keine Debatte über Übersetzungsfragen nach sich. Jedoch schien die Redaktion sich dieser Problematik bewusst zu sein. In einer Rezension der ersten Ausgabe von Literatur der Weltrevolution, der späteren Internationalen Literatur, wurde die „ungenügende Qualität der Uebersetzungen“ bemängelt: „Die deutsche Uebersetzung […] zerstört direkt den Eindruck dieser Dichtung. Es wäre notwendig gewesen, bei der Uebersetzung das ganze reiche Arsenal der deutschen Soldatenund Bauernsprache zu verwenden.“²³¹ Dieser Kommentar zeugt von einem Bewusstsein von Unterschieden zwischen Sprachen, die ähnliche Klassen und Schichten an unterschiedlichen Orten verwenden. Zugleich wird allerdings eine gewisse reziproke Ersetzbarkeit suggeriert und nahegelegt, dass die Wirkung eines proletarisch-revolutionären Textes im Übersetzungsprozess bewahrt werden kann. Eine Klassensprache begründet – ähnlich wie bei Jung – auch hier teilweise die transnationale Resonanz, die ein Text internationalistischer Weltliteratur erzeugen soll. Die durch Zeitschriften wie New Masses und Die Linkskurve geleistete Verknüpfung der literarischen Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur fand Verkörperungen in literaturpolitischen Ereignissen, bei denen sich Aktivisten und Aktivistinnen proletarisch-revolutionärer Literatur an einem Ort versammelten und begegneten. Die hierbei wichtigsten und folgenreichsten Ereignisse waren der anlässlich des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution 1927 in Moskau veranstaltete I. Internationale Kongress proletarischer und revolutionärer Schriftsteller, mit Bezug auf den Becher von „roter Weltliteratur“ gesprochen hatte, sowie dann vor allem der II. Internationale Kongress proletarischer und revolutionärer Schriftsteller, der vom 6. bis 15. November 1930 in Charkow veranstaltet und sowohl in Die Linkskurve als auch in New Masses ausführlich rezipiert wurde. Daneben lassen sich formelle und informelle Begegnungen innerhalb der vorgestellten Gemeinschaft internationalistischer Weltliteratur nachweisen, die sich nicht als transnationale Ereignisse öffentlich konstituierten, über die aber trotzdem manchmal kurz in den Zeitschriften berichtet wurde.²³² Die großen transnationalen Ereignisse gingen in ihrer Internationalität deutlich über die Feste der UBFA hinaus, waren im Gegensatz zu diesen jedoch keine Massenveranstaltungen, sondern eher Treffen einer intellektuellen Elite internationalis [o.V.]: Literatur der Weltrevolution. In: Die Linkskurve 3 (1938), H. 8, S. 24. Zu diesen sind zum Beispiel A.B. Magils Anwesenheit bei einer Lesung Marchwitzas in Berlin und der Besuch Fudimoris im Februar 1932 beim John Reed Club zu zählen, über die in New Masses berichtet wurde. Vgl. Magil: European Newsreel, S. 10; [o.V.]: A voice from Japan. In: New Masses 7 (1932), H. 10, S. 28 f.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur
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tischer Weltliteratur. Die Veranstaltung beider Kongresse in Staaten der Sowjetunion macht deutlich, dass die gegenöffentliche Artikulation, die von nicht aus der Sowjetunion stammenden Akteuren proletarisch-revolutionärer Literatur ausgeübt wurde, an die Solidarisierung mit einem Staat und dessen literarischer Öffentlichkeit gebunden war und darüber hinaus zumindest teilweise von den Institutionen dieses Staates finanziell und organisatorisch ermöglicht wurde. Mit anderen Worten: Die Akteure der literarischen Gegenöffentlichkeiten proletarisch-revolutionärer Literatur verhielten sich ablehnend gegenüber kapitalistischen Staaten und ihren Öffentlichkeiten, waren aber keinesfalls an sich staatskritisch. Am Charkower Kongress nahmen 100 Delegierte aus 22 Ländern teil, also aus fünf Ländern mehr als 1927.²³³ Neben Delegierten aus Nordamerika, Westund Osteuropa sowie der Sowjetunion waren auch Teilnehmer aus Japan, China, Brasilien und Ägypten auf dem Kongress vertreten, deren Mitglieder auch ins Präsidium des IVRS gewählt wurden.²³⁴ Die wiederholte Betonung einer Asien, Europa, Afrika und die Amerikas umfassenden Teilnehmergruppe diente in der Linkskurve und der New Masses dazu, eine Wirklichkeit des globalen Anspruchs internationalistischer Weltliteratur zu plausibilisieren. So wurde etwa in der Linkskurve nun von einer „große[n] und durchorganisierte[n]“, „eine[r] gemeinsame[n] und einheitliche[n] Weltbewegung der proletarisch-revolutionären Literatur“²³⁵ gesprochen. In beiden Zeitschriften wurde dieses transnationale Ereignis zum Schlüsselereignis erklärt. New Masses schrieb, dass in Charkow „a higher level of development since the first conference [von 1927]“²³⁶ deutlich wurde, und für Die Linkskurve signalisierte der Kongress schlicht „eine neue Etappe unserer Literatur“.²³⁷ Dieser Schlüsselcharakter ergibt sich dabei vor allem daraus, dass der Kongress laut der zeitgenössischen Rezeption eine neuartige Homogenität internationalistischer Weltliteratur zugleich anschaulich gemacht und mithervorbracht habe. Organisationspolitische Ergebnisse waren die Gründung der Zeitschrift Literatur der Weltrevolution (bald darauf als Internationale Literatur weitergeführt), die revolutionäre Literatur gleichzeitig in mehreren Sprachen publizieren sollte, sowie der Aufbau engerer Verbindungen zwischen den proletarisch-revolutionären Organisationen der einzelnen Staaten.²³⁸
Vgl. Jegorow/Trustschenko: Die Rolle des IVRS, S. 564 u. S. 566. [o.V.]: Resolution und Wahlen in Charkow. In: Die Linkskurve 3 (1931), H. 2, S. 39 f. [o.V.]: Vor neuen Aufgaben. In: Die Linkskurve 2 (1930), H. 12, S. 3. Michael Gold: The Charkov Conference of Revolutionary Writers. In: New Masses 6 (1931), H. 9, S. 6. [o.V.]: Vor neuen Aufgaben, S. 3. Vgl. [o.V.]: Vor neuen Aufgaben, S. 4 f.
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Auf dem Charkower Kongress kam es auch zur Formulierung von Konsekrationskriterien für die proletarisch-revolutionäre Literatur, zu deren Implementierung in der literarischen Praxis dann in den Zeitschriften der nationalen Verbände aufgerufen wurde. Die Zeitschriften bildeten so ein Scharnier zwischen einer global agierenden Literaturorganisation und den in verschiedenen Nationalstaaten situierten Bünden proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und ihrer Sympathisanten. Auf nun organisatorisch zentralisierte Weise kam es durch den Charkower Kongress zu einem literaturtheoretischen und literaturpolitischen Selbstverständigungsprozess, welcher im kritischen und theoretischen Werk eines internationalistischen Literaturaktivisten wie Franz Jung noch eher informell und nicht institutionell verstetigt erfolgt war. In der Linkskurve wurde in dieser Hinsicht von der erstmaligen Schaffung von gemeinsamen „theoretischen und ideologischen Grundlagen“²³⁹ gesprochen. Sowohl New Masses als auch Die Linkskurve betonten dabei besonders, dass der Kongress klargemacht und festgelegt habe, was es bedeute, ein revolutionärer Schriftsteller zu sein. Die Praxis des revolutionären Schriftstellers wird dabei ausdrücklich als transnational beschrieben. Sie kenne, wie es in New Masses heißt, „no regional or national boundaries“ und „its technique“ sei „international“.²⁴⁰ Diese Praxis wurde zuvörderst als politische Praxis mit literarischen Mitteln definiert und auf bestimmte außerliterarische Ziele wie den Kampf gegen einen drohenden Krieg, gegen den sogenannten Sozialfaschismus und für die Verteidigung der Sowjetunion festgelegt.²⁴¹ Die dogmatische Anbindung an die Politik eines Staates und an die Richtlinien der IVRS markiert einen deutlich zentralisierenden Einschnitt im Vergleich zu den zuvor von mir diskutierten Beispielen internationalistischer Weltliteratur. Ein vermeintlich „neue[s] Verhältnis zur Wirklichkeit“ war nun ausschlaggebend für einen revolutionären Literaten, die „Herkunft des Autors“ nur sekundär.²⁴² Im Unterschied zu Jung, der mit seiner Betonung eines kollektivistischen Stils noch ein ästhetisches Konsekrationskriterium formuliert hatte, waren Fragen literarischer Form in der Rezeption des Charkower Kongresses in der Linkskurve und der New Masses unwichtig und wurden in der Linkskurve gar zur Nebensache erklärt: „[D]as Schwergewicht der Auseinandersetzung über die Entwicklungswege der proletarischen Literatur [muss] in der Klarstellung des Verhaltens der Schriftsteller zur Wirklichkeit, nicht
[o.V.]: Vor neuen Aufgaben, S. 3. Edwin Seaver: Literature at the Crossroads. In: New Masses 7 (1932), H. 10, S. 12. Vgl. Seaver: Literature at the Crossroads, S. 12. Die Redaktion: Durchbruch der proletarischen Literatur. Bilanz der Charkower Tagung. In: Die Linkskurve 3 (1931), H. 2, S. 3.
2.7 Ein transnationales Zeitschriftennetzwerk internationalistischer Weltliteratur
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aber in der Diskussion über diese oder jene formalen Mittel liegen.“²⁴³ Die Rezeption des Charkower Kongresses ist deshalb nicht mehr vom Proletkult und noch nicht vom normästhetischen Diskurs geprägt, der internationalistische Weltliteratur spätestens ab 1934 auf die Doktrin des sozialistischen Realismus festlegen sollte.²⁴⁴ Was den Kongress allerdings mit der früheren und der späteren Phase verbindet – wobei die Opposition in der späteren Phase zwischen Realismus und Avantgarde verlaufen wird²⁴⁵ – ist der Blick auf Weltliteratur als Geschichte von zwei einander ausschließenden literarischen „Strömungen“, die nun weltanschaulich bzw. philosophisch verstanden werden: „Das Proletariat nimmt eine Neuordnung der ganzen Literaturgeschichte vor, in dem [sic!] es ihren verschiedenen ‚– ismen‘, die zwei großen Strömungen gegenüberstellt, die auch in der Philosophie miteinander kämpfen; Materialismus und Idealismus.“²⁴⁶ Während die meisten Artikel über den Charkower Kongress durch einen eher analytischen Stil charakterisiert sind und vor allem Ergebnisse zusammenfassen, kommt dem die Form des Reisetagebuchs nutzenden Text „Notes from Kharkov“, den Michael Gold im März 1931 in New Masses veröffentlichte, eine Ausnahmestellung zu. Er ist der einzige Text in diesen Zeitschriften, der versucht, eine internationalistische Atmosphäre in den Interaktionen und Begegnungen der Teilnehmenden anschaulich zu machen, um auf dieser Grundlage einen Nachweis für die Existenz einer Gemeinschaft internationalistischer Weltliteratur zu erbringen. Der Beginn des Textes ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Die vom Autor aufgrund seiner Unkenntnis der russischen Sprache erfahrene Fremdheit und Verlorenheit in Moskau wird in dem Moment überwunden, als er am Bahnhof zwei russische Intellektuelle trifft, die ebenfalls auf dem Weg nach Charkow sind. Ein Gespräch auf Englisch über amerikanische und in der Öffentlichkeit internationalistischer Weltliteratur zirkulierende Texte sowie gemeinsames Essen, Trinken, Rauchen und Singen ersetzen Golds Gefühl der Isolation, wobei der Leserschaft der New Masses deutlich signalisiert wird, dass ihr Medium in der Sowjetunion wahrgenommen wird: „We ate, sang, smoked, drank and talked about Dreiser, Sinclair, Dos Passos, Hemingway, the New Masses, Herbert Hoover
Die Redaktion: Durchbruch der proletarischen Literatur, S. 4. Vgl. dazu Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1976, S. 597– 609. Vgl. hierzu Radek: Die moderne Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst, S. 3 – 25. Die Redaktion: Durchbruch der proletarischen Literatur, S. 3. Hier wird die von Pohl bekannte Dichotomie zwischen realitätsnah und realitätsfern fortgeschrieben, wobei dem Proletariat das Interesse an „einer möglichst objektiven Welterkenntnis“ und dem Bürgertum eine „Maskierung der Wirklichkeit“ zugeschrieben wird (S. 3).
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
and Al Capone all night.“²⁴⁷ Solche Alltagserfahrungen, die Gold auch anhand seiner Erlebnisse in einem von ihm mit drei Russen geteilten Hotelzimmer verfolgt, übersetzen sich in der Logik des Erfahrungsberichts in spontan erfolgende Äußerungen eines politischen Internationalismus – beispielsweise wenn die Teilnehmenden in einen politischen Kampfruf der deutschen Delegation einstimmen: „They shouted ,Rot Front‘ and all of us took up the cry.“²⁴⁸ Gold schildert auf diese Weise das Entstehen einer gemeinsamen Erfahrungswirklichkeit aus alltäglicher Interaktion und Kommunikation einerseits und einem geteilten politischen Engagement anderseits. Der Kongress wird für Gold zu einem Ereignis, das zwischen den verschiedenen Erfahrungen der Delegierten vermittelt bzw. buchstäblich zwischen ihnen übersetzt. Im Laufe des Kongresses sei so ein „new universal feeling“ entstanden, das mit dem Individualismus, der laut Gold die bürgerliche literarische Öffentlichkeit kennzeichne, gebrochen habe. Es ist diese transnational geteilte Erfahrungsstruktur, die bei Gold – wie auch bereits bei Jung – als Fundament einer internationalistischen Weltliteratur angesehen wird: The men and women from 20 lands speak 20 different languages, and yet understand each other. For their problems are the same in China, America, Germany, Soviet Russia, Japan or England. As we come to know each other better, as the various speeches are made and translated, this appears more clearly. Each of us has not come here with a personal world in his head; we have come here as units in a common world. We have a common theory of history; we have shared common experiences. There is a new feeling in life, and it has captured us as its medium. New art forms come into being, not as the result of some critic’s ratiocination, but as the product of a new universal feeling. I repeat, we here share this new life-feeling. What I am driving at very clumsily is this: there will surely be a new great proletarian style in all the arts, because at this congress, one can sense the reality of the new universal feeling at work in the minds of sensitive artists.²⁴⁹
Golds Beschreibung internationalistischer Weltliteratur als einer Literatur der Zukunft, deren Entstehen für ihn auf dem Charkower Kongress augenscheinlich wird und die sich deshalb in der Gegenwart bereits zu entwickeln beginnt, trifft sich mit Schmelings Argument, dass Weltliteratur grundlegend durch ihre „Zukunftsorientierheit“²⁵⁰ charakterisiert ist, d. h., dass Weltliteratur immer eher etwas ist, das noch zu realisieren sein wird, als eine bereits bestehende literarische Wirklichkeit. Golds Bestimmung proletarisch-revolutionärer Literatur als Literatur gerade der Gegenwart und der Zukunft, nicht aber so sehr der Vergangenheit,
Michael Gold: Notes from Kharkov. In: New Masses 6 (1931), H. 10, S. 4. Gold: Notes from Kharkov, S. 4. Gold: Notes from Kharkov, S. 4. Schmeling: Einleitung, S. IX.
2.8 Ein alternatives globales Literaturfeld
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trifft sich darüber hinaus mit der zeitlichen Orientierung auf die literarische Gegenwart, die, wie ich zu Beginn dieses Abschnitts gezeigt habe, die Literaturpolitiken kleiner modernistischer Zeitschriften mit denen der Linkskurve und der New Masses verband.
2.8 Ein alternatives globales Literaturfeld und das Zentrum internationalistischer Weltliteratur Eric Bulson, von dem bereits die oben diskutierte These zum zeitlichen Verhältnis kleiner modernistischer Zeitschriften zur Literaturgeschichte stammt, hat weiterhin nahegelegt, dass sich durch diese Zeitschriften historisch eine alternative Form weltliterarischer Zirkulation entwickelte: Bearing in mind Casanova’s theory of world literature, we can begin thinking about how the little magazine provides an alternative model of the global literary field, one that is not confined to the movement of minor literatures through Western-based capitals. In fact, the little magazine is such a valuable subject for the analysis of world literature precisely because it does not belong to a single nation, continent, or hemisphere. It helped generate a world literary system that was semi-autonomous: connected to the book publishing conglomerates, and yet not driven by the unequal power relations of a Western literary marketplace. There was, strictly speaking, no center to the world of little magazines, precisely because the system was not dependent on the movement of authors from one nation-based magazine to another, from the periphery to the center.²⁵¹
Es wäre verlockend, diese These einfach auf die internationalistische Weltliteratur zu übertragen. Eine undifferenzierte Übertragung von Bulsons These scheint mir aber problematisch zu sein. Zwar bewegte sich die internationalistische Weltliteratur genau wie das Universum der modernistischen Zeitschriften weitestgehend jenseits der Verlagsindustrie und der literarischen Machtasymmetrien des kapitalistischen Westens. Sie erlaubte auf diese Weise – zum Beispiel durch eine Zeitschrift wie Arbeiter-Literatur – eine weder national noch marktförmig bestimmte Zirkulation literarischer Texte durch eine entstehende transnationale Verknüpfung literarischer Gegenöffentlichkeiten, welche sich als Gegensatz zum literarischen Zentrum, der bürgerlichen Literatur, positionierten. Die Welt der modernistischen Zeitschriften, die Bulson beschreibt, und die internationalistische Weltliteratur treffen sich dann darin, dass durch beide vom weltliterarischen Feld unterschiedene, aber gleichzeitig zu ihm sich ereignende Zirkulationsformen Bulson: Little Magazine, World Form, S. 270. Vgl. auch seine spätere Monografie: Eric Bulson: Little Magazine, World Form. New York 2017, S. 14.
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2 Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur
entstanden, die auf vom literarischen Markt in welchem Maße auch immer teilautonomen Öffentlichkeiten und ihren alternativen Organisations- und Distributionsformen basierten. Mit anderen Worten: Sie liefern jeweils historische Argumente dafür, Weltliteratur im Gegensatz zu Moretti und Casanova auch stratifikationstheoretisch zu denken. Die außertextliche Welt der Weltliteratur ist in diesem Sinne weder homogen noch nur eine einzige. Zumindest in den Ausformungen jedoch, in denen sich internationalistische Weltliteratur stärker an einen Staat, also die Sowjetunion, und die von diesem unterstützten und ihn unterstützenden literatur- und kulturpolitischen Organisationen anlehnte, war internationalistische Weltliteratur durch eine zentristischere Bewegung charakterisiert. Dies lässt sich sehr deutlich im Falle der New Masses und der Linkskurve spätestens seit dem Charkower Kongress sehen. Allerdings war ein solcher Bezug auf das weltrevolutionäre Zentrum schon bei Jung präsent, wenn er sich in den frühen 1920er Jahren eine weltliterarische Zirkulation durch eine Proletkult-Organisation erhoffte. Das globale Feld internationalistischer Weltliteratur war also keineswegs „decentered“²⁵² in Bulsons Sinne. Internationalistische Weltliteratur orientierte sich als eine eher heteronome Literaturpraxis an der Perspektive der internationalistischen Weltrevolution und zumindest teilweise an den wechselnden Politiken der kommunistischen Parteien und Kulturorganisationen. Obgleich sich natürlich nicht alle Akteure im gleichen Maße dadurch festlegen ließen, wird gerade anhand der späten Phase der Weimarer Republik nichtsdestotrotz die Entstehung eines zunehmend einflussreichen literaturpolitischen Zentrums deutlich, das sich vor allem im IVRS organisatorisch verstetigte und das die Konsekration von literarischen Texten in den Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur beeinflusste, indem es kulturpolitische und ästhetische Richtlinien sowie Organisationsweisen vorzugeben versuchte. Dieses Zentrum war in Moskau und bis 1933 in geringerem Maße auch in Berlin – als dem europäischen Zentrum der Kommunistischen Internationale – lokalisiert.²⁵³ Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass die Texte internationalistischer Weltliteratur notwendig durch einen dieser beiden Orte oder mit Hilfe der dort ansässigen Organisationen zirkulieren mussten. Es bedeutet jedoch, dass die Texte, die innerhalb der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur zirkulierten, sich in Hinsicht auf dieses Zentrum positionieren mussten – Positionierungen, die von unkritischer Affirmation bis zu distanzvoller und he-
Bulson: Little Magazine, World Form (2017), S. 14. Vgl. z. B. Katerina Clark: Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931– 1941. Cambridge 2011, S. 42– 77.
2.8 Ein alternatives globales Literaturfeld
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terodoxer Solidarität reichen konnten. Dieses Zentrum funktionierte freilich nicht nach der Logik des kapitalistischen Marktes, sondern nach der Logik eines kulturpolitischen Projektes, das eine alternative Weltliteratur durch literaturpolitische Organisierung zu gestalten versuchte. Die transnational verknüpften Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur waren zudem nur innerhalb kapitalistischer Staaten – wie Deutschland oder den USA – gegenöffentlich und antihegemonial. In Bezug auf die Sowjetunion waren sie vor allem staatsund systemaffirmativ. Sie unterstützen die Sowjetunion als kulturelles und politisches Zentrum einer zu globalisierenden kommunistischen Revolution. Die Literatur der Arbeiterbewegung – selbst diejenige, die in kapitalistischen Nationen entstand – ist aufgrund dieses Staatsbezuges nicht notwendig nur als gegenöffentlich zu betrachten. Das literaturpolitische Zentrum internationalistischer Weltliteratur fand seit 1931 eine publizistische Gestalt in der Zeitschrift Literatur der Weltrevolution, welche dann von 1933 bis 1943 als Internationale Literatur erschien.²⁵⁴ Als das Hauptorgan des IVRS wurde die Zeitschrift in sechs Sprachen veröffentlicht; anfangs auf Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch, später zusätzlich auf Chinesisch und Spanisch, wobei die Inhalte der verschiedenen Editionen nicht immer genau übereinstimmten.²⁵⁵ Internationale Literatur war ein Zeitschriftenprojekt, das die Vorstellung der simultanen Zirkulation der gleichen Texte in verschiedenen Sprachen im Rahmen des kommunistischen Internationalismus, die wir von Marx und Engels sowie Jung kennen, in die Tat umzusetzen schien. Wie Katerina Clark argumentiert hat, war die Zeitschrift deshalb notwendig geworden, weil unter den europäischen Akteuren internationalistischer Weltliteratur Russisch nicht weit verbreitet war. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache war „a potential barrier to making possible something like a Moscow-oriented, transnational republic of Letters“.²⁵⁶ Die Existenz der Zeitschrift illustriert also durchaus sowohl einen sprachlich beschränkten Einfluss des literaturpolitischen Zentrums auf seine Peripherien als auch den Versuch, dieser Begrenzung entgegen zu wirken. Sie kann darüber hinaus als Fortführung der vielfältigen Übersetzungs- und Vernetzungspraktiken verstanden werden, die ich in diesem Kapitel für die transnational verknüpften Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur von Jung bis zur Linkskurve analysiert habe. Zugleich wird an der
Für einen Abriss der Geschichte der Zeitschrift vgl. Nailya Safiullina/Rachel Platonov: Literary Translation and Soviet Cultural Politics in the 1930s. The Role of the Journal Internacional’naja Literatura. In: Russian Literature 72 (2012), H. 2, S. 248 – 253. Vgl. Clark: The Fourth Rome, S. 160. Clark: The Fourth Rome, S. 162.
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Geschichte der Internationalen Literatur deutlich, dass selbst innerhalb des literaturpolitischen Zentrums offizielle ästhetische und ideologische Vorgaben kreativ unterlaufen werden konnten – zumindest bis etwa 1936, als die Antiformalismus-Kampagne und die zunehmende Selbstisolation der Sowjetunion vom Westen zu einem Ende jeglicher Offenheit führten.²⁵⁷ Trotz der gegen modernistische Literatur gerichteten Verkündigung der Doktrin des sozialistischen Realismus im Jahre 1934, gelang es den seit 1932 amtierenden Herausgebern Sergei Dinamov und Sergei Tretjakow bis ungefähr 1936 modernistische Texte von James Joyce, Louis-Ferdinand Céline und anderen zu veröffentlichen, indem sie diese zusammen mit negativen Kommentaren publizierten und durch diese Strategie dem Lesepublikum ein eigenes Urteil über sonst unzugänglich gebliebene Texte zumindest ermöglichten.²⁵⁸ Im literaturpolitischen Zentrum internationalistischer Weltrevolution gab es also bis Mitte der 1930er Jahre subtile und effektive Versuche einer Dezentrierung des Zentrums selbst und eines Festhaltens an der Heterogenität dessen, was in den Öffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur zirkulierte. Im Kontext der Organisationen und Diskurse der in diesem Kapitel beschriebenen Bewegung internationalistischer Weltliteratur entstanden die literarischen Texte Franz Jungs, Anna Seghersʼ und Egon Erwin Kischs, die ich in den zwei folgenden Kapiteln analysieren werde. Ihnen ist gemeinsam, dass sie den organisatorischen Zentralisierungs- sowie den ideologischen und ästhetischen Dogmatisierungstendenzen, die sich im Laufe der Weimarer Republik im linken literarischen Subfeld transnational verstärkten, in der Konstruktion ihrer proletarischen Welten widerstanden. Dies trifft erstens zu, weil sie in ihren proletarischen Welten ein nicht-normatives, heterogenes Proletariat entwerfen, das in seiner politischen Arbeit oftmals mit den offiziellen Organisationen des kommunistischen Zentrums nur lose verbunden ist, wenn diese Organisationen in den Texten nicht gar beinahe vollständig unerwähnt bleiben. Es trifft zudem auf die Ästhetik dieser Texte zu: Jung, Seghers und Kisch schrieben offene, dezentrierte, modernistische Prosa. Ihre Werke illustrieren eine modernistische „rote Weltliteratur“²⁵⁹ – ein scheinbares Oxymoron, bedenkt man, wie die tatsächliche literarische Produktion der Zwischenkriegszeit retrospektiv in den realsozialistischen Staaten durch die Doktrin des sozialistischen Realismus überschrieben wurde.
Zu 1936 als Zäsur in der Geschichte der Zeitschrift vgl. Safiullina/Platonov: Literary Translation and Soviet Cultural Politics, S. 251 f. Vgl. Safiullina/Platonov: Literary Translation and Soviet Cultural Politics, S. 254– 256. Becher: Einen Schritt weiter, S. 1.
3 Montage und Internationalismus 3.1 Hinführung Dieses Kapitel untersucht Montage als Verfahren der literarischen Konstruktion proletarischer Welten in zwei Prosatexten der frühen und späten Weimarer Republik: Franz Jungs Joe Frank illustriert die Welt (1921) und Anna Seghersʼ Die Gefährten (1932). Das Kapitel zeigt erstens, wie durch die umfunktionierende Aneignung eines Verfahrens der historischen Avantgarden transnationale proletarische Kollektive in Texten der internationalistischen Weltliteratur erzeugt werden. Dies geschieht u. a. dadurch, dass durch Montageverfahren die Welt als Zeitraum einer global verbundenen, jedoch in sich heterogenen Arbeiterbewegung entworfen wird.¹ Die Verbindung von Internationalismus und Montage ist dabei zweitens dem Projekt der historischen Avantgarden verwandt, durch ästhetische Verfahren eine neue Weltbeziehung zu produzieren. Die Lesenden werden durch die Texte Jungs und Seghersʼ als Teile internationalistischer Kollektive adressiert und ihnen wird so eine transnationale Weltbeziehung ermöglicht, die ihre Welterfahrung transformieren soll. Jedoch geht drittens diese internationalistische Neuformulierung des Projektes der historischen Avantgarden nicht mit einer grundlegenden Kritik an der Möglichkeit von Wirklichkeitsdarstellung und narrativer Sinnproduktion einher. Vielmehr entwerfen beide Texte Realismen, die die vorausgesetzte Tatsächlichkeit der internationalistischen Bewegung bezeugen und der Artikulation von politischen und kulturellen Positionierungen der Arbeiterbewegung dienen sollen. Die in Joe Frank illustriert die Welt und Die Gefährten entworfenen Kollektive entsprachen viertens den vorgestellten Gemeinschaften der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur, die ich im ersten Kapitel diskutiert habe. Damit rückt dieses Kapitel die Gemeinschaften der ‚Literatur in der Welt‘ und der ‚Welt in der Literatur‘ ins Verhältnis zueinander. Wenn die Medien und Praktiken internationalistischer Weltliteratur internationalistische Gemeinschaften erst konstituieren, indem sie diese als solche adressieren, dann kommt den einzelnen Texten, die in den Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur zirkulieren, eine ähnliche
Ich entlehne den Begriff der Umfunktionierung von Brecht und Benjamin. Vgl. Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment. In: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21. Hg. v. Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1992, S. 448 – 514; Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 2.2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 683 – 701. https://doi.org/10.1515/9783110668087-005
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3 Montage und Internationalismus
Funktion zu, da sie den Lesenden eine neue kollektive und transnationale Weltbeziehung ermöglichen. Die Gegenüberstellung der Texte und Praktiken sowie der Vergleich der Texte selbst zeigt die Heterogenität der Gemeinschaften internationalistischer Weltliteratur, die in der Weimarer Republik konstruiert wurden. An Strömungen der historischen Avantgarde wie dem Kubismus und dem Dadaismus geschulte Theorien der Montage haben diese produktions- und rezeptionsästhetisch vor allem durch die Momente der kontrastiven Gegenüberstellung und Nebeneinanderstellung, der Unterbrechung, des Bruchs, des Schocks, der Verfremdung, der Offenheit, der Diskontinuität sowie der Kombination disparater Materialien und verschiedener Medien bestimmt. Diese Charakteristika sind dabei oftmals im Sinne einer anti-illusionistischen Ästhetik verstanden worden, welche die vermeintlich harmonisierende und sinnstiftende Geschlossenheit von Kunstwerken zurückweise und damit auch einen nur scheinbar intakten Sinn- und Erfahrungszusammenhang, der zwischen Welt und Subjekt bestehe und der von Kunstwerken vor der ästhetischen Moderne abzubilden versucht worden sei. Stattdessen betone Montage die Fragmentiertheit, die Widersprüche und die Konflikte der kapitalistischen Moderne durch eine Ausstellung der verschiedenen Elemente und Materialien, aus denen ein Kunstwerk erst zusammengesetzt sei. Ein solches Montageverständnis, das die Rezeption von Montageverfahren bis heute dominiert, lässt sich insbesondere mit Vertretern der Frankfurter Schule verbinden. So hat etwa Walter Benjamin die Montage in seiner Diskussion von Brechts epischem Theater mit Unterbrechung in Verbindung gebracht, denn, so Benjamin, „das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchen es montiert ist“.² Benjamin hat diesem Verfahren zumindest im epischen Theater ein anti-illusionistische und verfremdende Wirkung zugeschrieben: „Die Unterbrechung der Handlung […] wirkt ständig einer Illusion im Publikum entgegen.“³ Montage ermöglicht so für Benjamin im Gegensatz zu bloß wirklichkeitsabbildenden Verfahren eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit, eine „Entdeckung der Zustände“⁴. Als politisiertes und politisierendes Verfahren gewinnt Montage im brechtschen Theater „eine organisierende Funktion“.⁵ Politisch engagierter Literatur bekanntlich deutlich skeptischer gegenüberstehend als Benjamin,⁶ hat Theodor W. Adorno Montage in seiner Ästhetischen Theorie in den „umfassenderen Zusammenhang“ einer nach-impressionistischen Moderne gestellt, in der
Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 698. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 698. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 698. Benjamin: Der Autor als Produzent, S. 698. Vgl. Theodor W. Adorno: Engagement. In: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1981, S. 409 – 430.
3.1 Hinführung
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„Kunst den Prozeß gegen das Kunstwerk als Sinnzusammenhang“ einleite.⁷ Montage „protestiert“ in Adornos Augen gegen den Versuch, „das Entfremdete, Heterogene im Abbild ästhetisch [zu] erretten“.⁸ Das Montageverfahren ist antiillusionistisch und nicht-organisch und stellt eine fragmentierte Wirklichkeit ästhetisch aus: Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäblich, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert. Kunst will ihre Ohnmacht gegenüber der spätkapitalistischen Totalität eingestehen und deren Abschaffung inaugurieren. Montage ist die innerästhetische Kapitulation der Kunst vor dem Heterogenen. Negation der Synthesis wird zum Gestaltungsprinzip.⁹
Nun sollte Montage freilich weder deskriptiv noch normativ mit einer „Zerstörung des Sinnzusammenhangs“¹⁰ gleichgesetzt werden, wie es etwa Peter Bürger im Anschluss an Adorno in seiner einflussreichen Theorie der Avantgarde zumindest nahegelegt hat. Genauso wenig sind die formalen Merkmale des Bruchs, der Gegenüberstellung und der Nebeneinanderstellung notwendig mit rezeptionsästhetischen Effekten wie Schock und Verfremdung zu verbinden. Dies gilt nicht nur in dem kunst- und literaturgeschichtlichen Sinn, auf den bereits Adorno hingewiesen hat, nämlich dass sich die Schockwirkung durch Gewöhnung an das ästhetische Neue „abgestumpft“¹¹ habe, sondern auch produktionsästhetisch, insofern nicht jede Form von Montage auf Unterbrechung angelegt ist.¹² So hat etwa Viktor Žmegač „zwischen einem demonstrativen (offenen, irritierenden) und einem integrierenden (verdeckten) Montageverfahren“ unterschieden und letzterem durchaus „illusionsfördernd[e]“ Wirkung zugeschrieben;¹³ und Patrizia McBride hat gezeigt, dass die künstlerischen und literarischen Montageverfahren der historischen Avantgarden keineswegs als antinarrative Verfahren zu verstehen sind, sondern dass Montage ein „discursive pivot for rethinking narrative at
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1973, S. 233. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 232. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 232. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1974, S. 106. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 233. Für eine Darstellung von Montageverfahren in verschiedenen Medien und Künsten vgl. Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Kunst, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München 2000. Viktor Žmegač: Montage/Collage: In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. Viktor Žmegač. Frankfurt a. M. 1987, S. 260.
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3 Montage und Internationalismus
the intersection of technology and perception“ war und verwendet wurde, um „storytelling as a world-making activity [zu rekonzeptualisieren] that enlists diverse technologies and practices in order to engender bonds of reciprocity among individuals“.¹⁴ Dieses Kapitel trägt zu einer solchen analytischen Ausdifferenzierung von Montageverfahren bei, indem es zeigt, wie die an die Montageästhetiken der Avantgarden anknüpfenden Romane von Jung und Seghers keineswegs an einer „Zerstörung des Sinnzusammenhangs“¹⁵ oder an einer Ästhetik des Schocks partizipieren. Vielmehr verwenden sie Montageverfahren, um einen in hohem Maße instabilen internationalistischen „Sinnzusammenhang“ literarisch zu erzeugen. Trotz und gerade wegen ihrer weltanschaulichen Instabilität und ihrer ästhetischen Ausstellung von Brüchen eröffnen diese internationalistischen Montagen den Lesenden Möglichkeiten, sich im Sinne einer internationalistischen Weltbeziehung zu positionieren und sich als Teile eines transnationalen Kollektivs vorzustellen. Der Montage kommt so eine welterzeugende Kraft zu. Internationalistische Montageverfahren produzieren eine Welt in der Literatur, die zur außertextlichen Wirklichkeit in einer konfliktreichen Beziehung steht. Das „Gestaltungsprinzip“ dieser Montagen ist jedoch nicht eine „Negation der Synthesis“ im Sinne Adornos.¹⁶ Die internationalistischen Montagen konstruieren vielmehr neue Verbindungen und Zusammenhänge. Dies setzt sie letztlich zu dem Projekt der historischen Avantgarden in Beziehung, eine neue Wahrnehmung und Erfahrung der Wirklichkeit zu erzeugen. In Jungs Joe Frank illustriert die Welt und Seghersʼ Die Gefährten funktioniert Montage als welterzeugendes, neue Zusammenhänge stiftendes Verfahren. Es erzeugt Welt in diesen Texten im Modus einer Verhandlung der Ungleichzeitigkeiten und Differenzen in der internationalistischen Arbeiterbewegung, denen Jung zwischen Europa und Nordamerika und Seghers zwischen Europa, Russland und China nachspüren. Ihre Texte können als Auseinandersetzungen mit einer theoretischen Grundannahme des Internationalismus verstanden werden, nämlich der – zumindest perspektivisch – transnationalen Gleichheit proletarischer Erfahrung. Als Weltanschauung basiert Internationalismus auf der entwicklungsgeschichtlichen Annahme der globalen Angleichung proletarischer Lebenswelten, also, wie es Marx und Engels ausgedrückt haben, der Idee, dass „die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, dieselbe in England wie in Frankreich, in Amerika wie in Deutschland, [dem Patrizia C. McBride: The Chatter of the Visible. Montage and Narrative in Weimar Germany. Ann Arbor 2016, S. 11. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 106. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 232.
3.1 Hinführung
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Proletariat] allen nationalen Charakter abgestreift [hat]“.¹⁷ Einem solchen entwicklungsgeschichtlichen und mithin eurozentrischen Denken, das von einer sich global gleich vollziehenden, von Europa sich ausbreitenden historischen Entwicklung ausgeht und das eher das frühe als das späte Werk von Marx charakterisiert,¹⁸ ist die Geschichte der internationalistischen Arbeiterbewegung selbst gegenüber zu stellen. So hat etwa der Historiker Robert J. C. Young gezeigt, dass der politische Zentralismus der Kommunistischen Internationale, der auf der Annahme einer globalen historischen Entwicklungslogik basierte, kontinuierlich durch Akteure der internationalistischen Arbeiterbewegung in Frage gestellt wurde, welche auf der politischen Bedeutung unterschiedlicher sozio-kultureller Erfahrungen und Einstellungen beharrten: [There was] a constant tension between centripetal and centrifugal forces, with the representatives from the colonies resisting the imposition of standard political strategy designed to work universally in a global dimension, pushing for the political necessity of a recognition of their own cultural identities, the sometimes radical differences of their own ideological heritages, and even for the creation of a separate Colonial International. In doing so they staged a constant challenge to the communist centre […].¹⁹
Ich möchte vor diesem Hintergrund vorschlagen, die Montagetexte Jungs und Seghersʼ als Texte zu verstehen, die im Kontext der transnational verknüpften Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur an der Verhandlung des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherien, zwischen verschiedenen Wissen und kulturellen Erfahrungen der internationalistischen Arbeiterbewegung partizipierten. Die Aneignung von Montageverfahren zur literarischen Konstruktion internationalistischer Kollektive erlaubt Jungs und Seghersʼ Texten die Erzeugung von Zusammenhängen zwischen geografisch, sprachlich und kulturell mehr oder weniger weit voneinander entfernten Orten. Diese Konstruktion ermöglicht den Lesenden eine neue Weltbeziehung, indem sie voneinander entfernte Orte als durch die Leseerfahrung miteinander verbunden erzeugt. Durch die Montage werden diese spezifischen Lokalitäten als Teile einer internationalistischen Be-
MEW 4, S. 472. Vgl. Kolja Lindner: Eurozentrismus bei Marx. Marx-Debatte und Postcolonial Studies im Dialog. In: Kapital & Kritik. Nach der „neuen“ Marx-Lektüre. Hg. v. Werner Bonefeld u. Michael Heinrich. Hamburg 2011, S. 93 – 129. Robert J.C. Young: Postcolonialism. An Historical Introduction. Oxford/Malden 2001, S. 128 f.
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3 Montage und Internationalismus
wegung vorstellbar.²⁰ Zugleich erzeugen die Texte Brüche zwischen den Orten, die sie als Teile eines Ganzen repräsentieren, indem sie auf sich selbst als Montagetexte verweisen: also als aus disparaten Materialen zusammengesetzte Ganze. Mit anderen Worten: Joe Frank illustriert die Welt und Die Gefährten entwerfen die internationalistische Arbeiterbewegung in einer Spannung von Gleichheit und Differenz. Ihre internationalistischen Montagen haben damit einen doppelten Effekt. Sie erzeugen in der literarischen Darstellung Verbindungen über räumliche, kulturelle und sprachliche Distanzen und Differenzen hinweg, zugleich ebnen sie diese Distanzen und Differenzen zwischen Erfahrungen und Orten jedoch nicht ein. Die Montagetexte entwickeln auf diese Weise ein poetisches Verfahren, das der Repräsentation einer geteilten Moderne angemessen zu sein scheint, einer Moderne also, die sowohl von durch Machtdynamiken durchzogene und durch politische Organisierung ermöglichte Austausch- und Interaktionsprozesse als auch durch die Produktion neuer Differenzen und Grenzziehungen geprägt ist; durch das gleichzeitige Mit- und Nebeneinander verschiedener Geschichten und Zeiterfahrungen.²¹ Sich von der frühen zur späten Weimarer Republik bewegend, wendet sich das Kapitel zuerst dem Werk Franz Jungs und insbesondere dem Text Joe Frank illustriert die Welt zu und diskutiert anschließend Anna Seghersʼ Montageroman Die Gefährten. Als Hinführung zu Joe Frank illustriert die Welt diskutiere ich im ersten Abschnitt, wie Jung in seinem Roman Die Eroberung der Maschinen das reziproke Verhältnis von Weltrevolution, weltliterarischer Zirkulation und Gegenöffentlichkeit thematisiert. Im zweiten Abschnitt zeige ich dann, wie der Montagetext Joe Frank illustriert die Welt aus den Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Arbeiterbewegung hervorgegangen ist und wie er zugleich weltliterarische Zirkulation zu einem seiner Themen macht. Der dritte Abschnitt wendet sich dann einer Analyse des Verhältnisses von Montageverfahren und Internationalismus in Jungs Text zu. Indem ich durch eine Diskussion der Zeitstruktur von Seghersʼ literarischem Internationalismus zuerst den Unterschied
Für eine ähnliche Diskussion von Montageverfahren im Kontext von Minoritätskulturen und russischer Avantgarde vgl. Steven S. Lee: The Ethnic Avant-Garde. Minority Cultures and World Revolution. New York 2015, S. 4. Der Begriff der geteilten Moderne ist an den der geteilten Geschichte angelehnt; vgl. Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hg. v. Sebastian Conrad u. Shalini Randeria. Frankfurt, New York 2002, S. 9 – 49. Zu meinem Moderneverständnis vgl. auch Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis/London 1996; Dilip Parameshwar Gaonkar: On Alternative Modernities. In: Public Culture 11 (1999), H. 1, S. 1– 18.
3.2 Weltrevolution als Medienereignis: Franz Jungs Die Eroberung der Maschinen
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zwischen den Produktionszeitpunkten von Joe Frank illustriert die Welt und Die Gefährten herausarbeite, wende ich mich im vierten Abschnitt dem Entstehungskontext von Seghersʼ erstem Roman sowie Seghers als Denkerin internationalistischer Weltliteratur zu. Anschließend situiert der fünfte Abschnitt Die Gefährten im Kontext der von Seghers entworfenen literarischen Moderne und skizziert charakteristische Elemente der transnationalen Moderne der Arbeiterbewegung. Im sechsten Abschnitt analysiere ich dann das Verhältnis von Montage und Internationalismus, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem Problem von Ungleichzeitigkeiten innerhalb einer sich globalisierenden Arbeiterbewegung liegt. Der siebte und letzte Abschnitt thematisiert abschließend die Imagination internationalistischer Zugehörigkeit in Die Gefährten.
3.2 Weltrevolution als Medienereignis: Franz Jungs Die Eroberung der Maschinen Franz Jungs im vorangegangenen Kapitel diskutierte Vorstellung und Praxis einer internationalistischen Weltliteratur fand Entsprechungen in einigen seiner Prosatexte aus den von ihm selbst so bezeichneten „roten Jahre[n]“.²² Diese Werke seiner nachexpressionistischen und nachdadaistischen Phase publizierte er infolge seiner Hinwendung zur Arbeiterbewegung seit 1920.²³ Dies gilt nicht nur für Joe Frank illustriert die Welt, sondern ebenso für den Roman Die Eroberung der Maschinen, der das Verhältnis von Gegenöffentlichkeit, Internationalismus und der Zirkulation von Texten und Wissen zu einem seiner Gegenstände macht und für den Jung sich 1921 im Gefängnis erhofft hatte, dass er zusammen mit anderen „societäre[n] Utopien in Romanform in allen größeren Sprachen zugleich erscheinen“²⁴ würde. War der Roman also ein Gegenstand von Jungs weltlitera-
Franz Jung: Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit. Hamburg 2000, S. 107. Jungs Hinwendung zur Arbeiterbewegung und die Frage nach damit verbundenen (Dis‐) Kontinutitäten in seinem Werk ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Vgl. Horst Denkler: Der Fall Franz Jung. Beobachtungen zur Vorgeschichte der ,Neuen Sachlichkeit‘. In: Die sogenannten Zwanziger Jahre. First Wisconsin Workshop. Hg. v. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Bad Homburg v. d. H. 1970, S. 75 – 108; David Bathrick: Speaking the Other’s Silence. Franz Jung’s Der Fall Gross. In: Modernity and the Text. Revisions of German Modernism. Hg. v. Andreas Huyssen u. David Bathrick. New York 1989, S. 19 – 35; Hans-Joachim Schulz: Utopie des Herzens. Franz Jung zwischen Expressionismus und proletarischer Literatur. In: Autoren damals und heute. Literaturgeschichtliche Beispiele veränderter Werkhorizonte. Hg. v. Gerhard P. Knapp. Amsterdam/Atlanta, GA 1991, S. 599 – 638. Franz Jung: An Cläre Jung, 26. Juni 1921, JW 9.1, S. 54.
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3 Montage und Internationalismus
rischen Zirkulationsphantasien, thematisiert der Text selbst internationalistische Weltliteratur in einem weiten, über kanonisierte Genres der belletristischen Literatur hinausgehenden Sinne. An diesem Roman lassen sich einige Annahmen Jungs über das Verhältnis von Weltliteratur und Revolution verdeutlichen, die auch in Joe Frank illustriert die Welt eine Rolle spielen. Die Eroberung der Maschinen bewegt sich von der Schilderung eines lokalen Arbeiteraufstandes in Mitteldeutschland zur Darstellung von Arbeitskämpfen und politischen Machtübernahmen durch Proletarier in den USA, Japan und Australien. Eine proletarische Weltrevolution scheint in der erzählten Welt des Romans realistisch zu sein, wird jedoch letztlich als Traum eines gefangenen Arbeiters dargestellt. Der Roman beschreibt diese internationalen Geschehnisse in seinem dritten Abschnitt, der bereits durch seine Überschrift „Voran“ auf die Zukunft perspektiviert sowie utopisch kodiert ist und die Lesenden zur Partizipation auffordert. Dabei konzentriert sich der Text zuerst auf die Wahrnehmung der globalen Ereignisse durch den „Chef einer Frankfurter Weltfirma“²⁵ und stellt dieser dann eine alternative Erfahrung der Ereignisse in der Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung gegenüber. Hierbei entwirft der Roman die Weltrevolution als Medienereignis, das in verschiedenen Öffentlichkeiten unterschiedlich wahrgenommen und durch die Zirkulation von Texten und Nachrichten als globales Ereignis erst mitermöglicht wird. Der Roman thematisiert auf diese Weise die globale Verbreitung von Texten und Wissen als eine Voraussetzung der Weltrevolution und entwirft eine diegetische Entsprechung zur kulturpolitischen Praxis internationalistischer Weltliteratur in den transnational verbundenen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung, die ich im ersten Kapitel beschrieben habe. Die sich anbahnende Weltrevolution tritt den Lesenden zuerst als Krise des globalen Kapitalismus durch eine Serie von Telegrammnachrichten gegenüber. Diese laufen im Büro des „Chef[s] einer Frankfurter Weltfirma“ zusammen, der die Krise interpretieren und zum Vorteil seines Unternehmens nutzen will. Die Ereignisse verdichten sich für den Unternehmer zudem durch seine Zeitungslektüre, welche der Roman als fingierte Montage von Artikelüberschriften darstellt. Der Unternehmer empfindet die Zeitungslektüre für die Lösung seiner Deutungsanstrengung jedoch als nicht hilfreich: Er griff den „Matin“ und schmiß ihn mit einem Fluch in die Ecke. Langweilig. Unter den Neuigkeiten führte dieses Blatt folgendes an der Spitze: Japan lenkt ein. Der amerikanische Botschafter höflich in Tokio empfangen.
Franz Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 131.
3.2 Weltrevolution als Medienereignis: Franz Jungs Die Eroberung der Maschinen
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Die Unruhen in Australien nehmen ernsten Charakter an. Barrikaden in Philadelphia. Die Friedensfreunde bewaffnen sich.²⁶
Der Roman stellt so von Beginn an eine räumliche und zeitliche Distanz zu den auf mehreren Kontinenten etwa zeitgleich ausbrechenden Revolutionen her. Diese Distanz wird auch im Verlauf des Abschnitts mit der Hinwendung zur Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung nicht abgebaut werden. Im Gegenteil werden in Moskau, wo aufgrund der Ereignisse „die Vertreter der Arbeiterorganisationen fast der ganzen Welt“ zusammengekommen sind und von wo aus der Roman das Geschehen nun schildert, „die Ereignisse in der Reihenfolge [wahrgenommen], wie die Funksprüche in Moskau einliefen“.²⁷ Zugleich dominiert unter den Vertretern der Arbeiterbewegung aufgrund „der herrschenden Korruption im Nachrichtenwesen“ Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt der eingehenden Nachrichten.²⁸ Die Weltrevolution wird als eine Reihe von geografisch voneinander entfernten, jedoch miteinander verbundenen Entwicklungen präsentiert, die sich erst durch ihre mediale Vermittlung zu einem Ereignis verknüpfen. Die Art und Weise, wie diese Entwicklungen wahrgenommen werden, hängt dabei von der sozialen und politischen Verfasstheit des Ortes ab, an dem die Nachrichten über die auf der gesamten Welt verstreuten Entwicklungen zusammenlaufen und narrativ als ein transnationales Ereignis konstruiert werden: „Im Laufe des Nachmittags aber lief die Meldung ein […] Dann wußten wir [die in Moskau versammelten Arbeitervertreter; C.S.] oder wir fühlten es alle im Augenblick heiß emporsteigen, es würgte ordentlich – daß die Weltrevolution auf dem Marsch war.“²⁹ Die bereits in der Struktur des dritten Romanabschnittes angelegte Gegenüberstellung von zwei unterschiedlichen Wahrnehmungen dieser Entwicklungen, einer bürgerlichen und einer proletarischen, wird von der Erzählstimme als Theorie von zwei einander entgegengesetzten, klassenmäßig sowie politisch bestimmten und nicht miteinander kommunizierenden Öffentlichkeiten expliziert. In Die Eroberung der Maschinen findet sich ein literarisches Wissen über Gegenöffentlichkeiten: „Man verschlang die alten Nachrichten und fieberte nach neuen, und das Gesicht war überall gleich. Natürlich nur, was die sogenannte öffentliche Meinung anlangte, die die Politik macht. (Die wahre Arbeiterpresse dringt nicht in den Gesichtskreis eines Menschen von öffentlicher Bedeutung.)“³⁰ Die Ge
Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 146. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 148. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 149. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 148. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 143.
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3 Montage und Internationalismus
genöffentlichkeit der Arbeiterbewegung wird typografisch durch die Klammer und deklamatorisch durch die Behauptung der Exklusion der „wahre[n] Arbeiterpresse“ aus der „sogenannte[n] öffentliche[n] Meinung“ als subordiniert bestimmt. Zugleich wird die Selbstinszenierung der bürgerlichen Öffentlichkeit als einzige Öffentlichkeit durch das Adjektiv „sogenannt“ zurückgewiesen und Öffentlichkeit als Auseinandersetzung um Deutungshoheit zwischen verschiedenen Gruppen verstanden. In seiner Imagination von Gegenöffentlichkeit integriert der Roman die historisch tatsächlich existierende Gegenöffentlichkeit der internationalistischen Arbeiterbewegung in die fiktive Handlung des Textes. In einer pseudo-dokumentarischen Geste montiert der Roman den fiktiven Bericht eines „Comrade Carteret“³¹ in die Handlung, welcher laut Erzählstimme in der tatsächlich von 1916 bis 1931 in Glasgow erschienenen Wochenschrift Worker veröffentlicht worden sein soll. Die Eroberung der Maschinen inszeniert sich also erstens als zumindest teilweise auf Texten basierend, die in den transnational verbundenen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung zirkulieren. Zweitens präsentiert sich der Roman als Text, der die schottische und die deutsche Gegenöffentlichkeit verbindet und zur transnationalen Zirkulation von Texten der Arbeiterbewegung beiträgt, indem der Roman diesen fiktiven Bericht aus dem Englischen ins Deutsche überträgt und als in den Roman montiertes historisches Dokument innerhalb der deutschsprachigen Leseöffentlichkeit der Arbeiterbewegung verbreitet. Damit wird Literatur im Roman drittens als eine Praxis begriffen, die die Weltrevolution befördern kann, hängt der Erfolg dieser im Text doch wesentlich davon ab, dass Wissen über revolutionäre Ereignisse zirkuliert und zu spontanen Solidarisierungen führt. So scheitert etwa eine erfolgreiche Machtübernahme durch Arbeiter in Utah beinahe daran, dass zwar „ein Manifest losgelassen [wurde], [dieses] aber nicht allzuweit über die eigenen Grenzen hinausgelangte“.³² Genauso ist die Ausbreitung der Revolution in anderen Regionen der USA und besonders „[i]n allen größeren Industriestädten“ auch davon abhängig, dass im richtigen Moment „die Wahrheit über Utah hineinplatzte“³³ sowie „die Wahrheit aus Japan durch[drang]“.³⁴ Weltrevolution ist in diesem Text notwendig auch ein Medienereignis. Mit anderen Worten: Die Weltrevolution ist nicht ohne eine mediale Vermittlung bzw. Miterzeugung denkbar, die lokale und nationale Grenzen überschreitet. Weltrevolution und weltliterarische Zirkulation sind in Die Eroberung der Maschinen untrennbar.
Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 148. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 155. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 155. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 156.
3.3 Die Entstehung von Jungs Joe Frank illustriert die Welt
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3.3 Die Entstehung von Jungs Joe Frank illustriert die Welt aus internationalistischen Gegenöffentlichkeiten Während Die Eroberung der Maschinen ein Dokument, nämlich den Bericht Carterets, erfindet, es einer tatsächlich existierenden Zeitung zuschreibt und vorgibt, es in den Romantext montiert zu haben, basiert Joe Frank illustriert die Welt auf Texten, die tatsächlich in den transnational verbundenen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung zirkuliert sind. Die Verbreitung internationalistischer Weltliteratur jenseits nationaler und sprachlicher Grenzen ist eine der Entstehungsbedingungen von Jungs Montagetext. Der Erzähler betont diesen Produktionskontext bereits im ersten Absatz des Textes: „Ich erzähle euch auf Grund von Angaben der amerikanischen Zeitschrift ‚Liberator‘. Dort hat einer Bericht gegeben von dem, was ich hier noch einmal übermitteln will. Es ist die reine Wahrheit. Es ist nichts hinzugesetzt.“³⁵ Im Gegensatz zum Bericht Carterets in Die Eroberung der Maschinen lassen sich im Falle von Joe Frank illustriert die Welt nicht nur die Zeitschrift nachweisen, sondern auch die Artikel, auf denen Jungs Text basiert. „Jim Larkin Goes to Jail“ von Louise Bryant und „The Wars of West Virginia“ von Robert Minor, die die Grundlage für die amerikanischen und irischen Episoden von Joe Frank illustriert die Welt darstellen, erschienen 1920 in den Juni- und Augustausgaben der amerikanischen Monatszeitschrift The Liberator. ³⁶ Als Vorgängerin der im ersten Kapitel analysierten New Masses wurde sie von 1918 bis 1924 mit einer Auflage von je nach Schätzung bis zu 50.000 bzw. 60.000 Exemplaren publiziert, war durch ästhetische Offenheit gekennzeichnet, hatte eine dezidiert internationalistische Ausrichtung und stand zumindest in ihren frühen Jahren der unionistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) nahe.³⁷ Mit der IWW hatte Jung um 1920 zu sympathisieren begonnen. Wie Walter Fähnders und Martin
Franz Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 7. Diese Texte sind als Quellenmaterial von Joe Frank illustriert die Welt bereits durch Walter Fähnders und Martin Rector ausgewiesen worden. Fähnders und Rector diskutieren jedoch weder die genaue Aneignung dieser Texte durch Jung noch setzen sie sie zu Fragen über weltliterarische Praktiken in den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung in Beziehung. Vgl. Walter Fähnders/Martin Rector: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 181 u. S. 363, Anm. 614 u. 617. Vgl. Louise Bryant: Jim Larkin Goes to Jail. In: The Liberator, Juni 1920, S. 13 – 16; Robert Minor: The Wars of West Virginia. In: The Liberator, August 1920, S. 7– 13. Vgl. Benoît Tadié: The Masses Speak. The Masses (1911– 17); The Liberator (1918 – 24); New Masses (1926 – 48); and Masses & Mainstream (1948 – 63). In: The Oxford Critical and Cultural History of Modernist Magazines.Vol. II: North America 1894– 1960. Hg. v. Peter Brooker u. Andrew Thacker. Oxford/New York 2012, S. 841– 845.
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3 Montage und Internationalismus
Rector nahelegen, hatte Jung die IWW vermutlich während seiner Zeit in einem Hamburger Gefängnis kennengelernt, wo er wegen Schiffsraub einsaß.³⁸ Zum Zeitpunkt von Jungs Haft war die IWW darum bemüht gewesen, den deutschen Unionismus zu fördern, und verbreitete in den „Einwandererhäfen Bremerhaven und Hamburg […] unter anderem deutschsprachige Flugschriften, Zeitschriften und Zeitungen der IWW-Zentrale in Chicago“.³⁹ Außerdem veröffentlichte sie Aufrufe in der Hamburger Kommunistischen Arbeiter-Zeitung,⁴⁰ für die auch Jung gelegentlich schrieb. Die Entstehung von Joe Frank illustriert die Welt ist deshalb nicht zu trennen von der politischen Praxis eines linken Internationalismus, die unter anderem auch in der Verbreitung von Texten in den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung bestand, welche durch diese Zirkulation von Texten erst transnational verknüpft wurden. Mit Joe Frank illustriert die Welt trug Jung zur Verbreitung der Artikel aus The Liberator bei, da diese in der Form seines Montagetextes weiterzirkulierten, welcher 1921 als zehnter Band der Literarischen Aktions-Bibliothek im Verlag der Wochenschrift „Die Aktion“ erschien. Zugleich ging der Publikation von Joe Frank illustriert die Welt die Veröffentlichung von einzelnen Episoden des Textes in Zeitungen und Zeitschriften der Arbeiterbewegung voraus. Die auf den LiberatorArtikeln aufbauenden Texte Jungs erschienen 1920 und 1921 in der Kommunistischen Montags-Zeitung, in Die Aktion und in der Räte-Zeitung. Jung trug so nicht nur zur Verbreitung eines Wissens über die Ereignisse in den USA bei. Er produzierte zugleich in der Gegenöffentlichkeit der deutschen Arbeiterbewegung ein Wissen über die Medien der Arbeiterbewegung jenseits der Weimarer Republik. Jung begriff seine literarischen Texte, die von Fähnders und Rector durchaus überzeugend als „eine Form der operativen Agitationsprosa“⁴¹ bezeichnet worden sind, dann auch in erster Linie als Beiträge zum Aufbau einer auch literarischen Gegenöffentlichkeit. Seine Texte erhoben nämlich „keineswegs Anspruch auf literarische Gunst […] und [wurden] während meiner Gefängniszeit zu dem Hauptzweck geschrieben, der damals aufblühenden linken Tagespresse Feuilletonromane aus der Gegenwart zu vermitteln“.⁴² Durch seinen Bezug auf The Li-
Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 169 f. Hans Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 – 1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands. Meisenheim am Glan 1969, S. 125. Vgl. Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 – 1923, S. 126. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S.189. Franz Jung: An Cläre Jung, 18. September 1947, JW 9.1, S. 324 f.
3.3 Die Entstehung von Jungs Joe Frank illustriert die Welt
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berator bestimmt Jung das gegenöffentliche Projekt dieser „linke[n] Tagespresse“ dezidiert als ein internationalistisches und transnationales. Entgegen der dokumentarischen Geste, mit der Jungs Erzähler Joe Frank illustriert die Welt eröffnet – also der Behauptung, dass zu dem im Liberator Berichteten „nichts hinzugesetzt“⁴³ sei –, hat Jung vor allem Minors „The Wars of West Virginia“ grundlegend in zweierlei Hinsicht verändert.⁴⁴ Die erste Änderung betrifft die Figur der Mother Jones. Bei dieser handelt es sich um eine in Irland geborene amerikanische Arbeiterführerin und Mitbegründerin der IWW, die mit bürgerlichem Namen Mary Harris Jones (1837– 1930) hieß. In deutlicher Abweichung von Minors Text, in dem sie zwar eine wichtige Rolle spielt, nicht aber die Protagonistin ist, organisiert Jung das Geschehen narrativ um diese Figur. Für Jung ist Mother Jones sowohl eine historische Person als auch die Verkörperung einer Revolutionstheorie, die die Bedeutung von Spontanität gegenüber organisatorisch verstetigten und hierarchischen Parteistrukturen betont.⁴⁵ Die Zentrierung der in „The Wars of West Virginia“ geschilderten Ereignisse auf Mother Jones geht dabei mit einer geschlechtlichen Neukodierung revolutionärer Handlungsfähigkeit einher. Wie Devin Fore richtig schreibt, positioniert Jung Frauen sowohl in einigen seiner literarischen Texte als auch in seiner psychoanalytisch beeinflussten Sozial- und Revolutionstheorie „at the center of revolutionary struggle“, da sie für ihn eine Form von Zeitlichkeit verkörpern, die sich dem nicht-organischen und abstrakten Rhythmus des Kapitals widersetze: „As the custodians of a temporality that was still unassimilated to the rhythms of capital – namely, generational time – he considered women more subversive, in fact, than the urban industrial worker, whose labor time had long been rationalized and commodified.“⁴⁶ Indem er seinen internationalistischen Text Joe Frank illustriert die Welt mit Episoden über Mother Jones eröffnet und Frauen zumindest teilweise biologistisch imaginiert, positioniert Jung Frauen im Zentrum des Internationalismus der Arbeiterbewegung. Die zweite Änderung, die Jung in seiner Adaption des Liberator-Textes vollzieht, besteht darin, dass er die beschriebenen Kämpfe von Minenarbeitern in
Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 7. Selbstverständlich hat Jung den Liberator-Artikel in mehr als nur zweierlei Hinsicht verändert. So fehlen z. B. einige Angaben, die Jung in Joe Frank illustriert die Welt macht, in Minors „The Wars of West Virginia“. Vgl. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 8. Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 181– 184. Devin Fore: Realism after Modernism. The Rehumanization of Art and Literature. Cambridge/ London 2012, S. 101.Vgl. auch Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 92– 97; Franz Jung: Die Technik des Glücks. Psychologische Anleitungen in vier Übungsfolgen, JW 6, S. 50 – 53; Franz Jung: Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht! Ein Taschenbuch für Jedermann, JW 6, S. 92– 96.
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3 Montage und Internationalismus
West Virginia in einen größeren als ihren lokalen Kontext stellt, auf den sich Minor weitestgehend beschränkt hatte. Durch das Verfahren der direkten Adressierung der Lesenden, mit dem die ersten beiden Abschnitte von Joe Frank illustriert die Welt enden, betont Jung die transnationale Relevanz der Vorgänge im amerikanischen Bundesstaat. Dies gelingt ihm erstens dadurch, dass er die amerikanischen Akteure zu vergleichbaren deutschen Akteuren in Beziehung setzt, und zweitens durch die Behauptung, dass die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen von den Geschehnissen in West Virginia lernen können: „Merkt euch das. Auch bei uns planen die Kohlenbarone, die Großunternehmer Gewalt. Selbstschutz nennen sie das. Sipo und technische Nothilfe bereiten die Armee des alten Baldwin auf dem Kontinent vor.“⁴⁷ Und: „Achtet darauf, auch drüben gelang es noch einer schuftigen Gewerkschaftsbürokratie, die Massenbewegung im Interesse der Regierung zu stoppen.“⁴⁸ Somit entwirft Jung die in West Virginia stattfindenden Arbeitskämpfe internationalistisch, indem er den Erzähler eine transnationale Vergleichbarkeit der sozialen und politischen Umstände in den USA und in der Weimarer Republik behaupten lässt. Der weltliterarische Entstehungskontext von Joe Frank illustriert die Welt steht also zu einer internationalistischen Neubearbeitung des Stoffes im Text selbst im Verhältnis. Wenn eine solche internationalistische Neubearbeitung nicht ebenso für den zweiten Quellentext, „Jim Larkin Goes to Jail“, festgestellt werden kann, dann liegt dies wohl vor allem darin begründet, dass hierzu keine Notwendigkeit bestand. Der auch von Jung in Joe Frank illustriert die Welt hervorgehobene Internationalismus in der Biografie des irischen Arbeiterführers Jim Larkin (1876 – 1947) wird bereits im Liberator-Artikel betont. Dort wird Larkin, der mit dem Nationalismus des irischen Sinn Fein gebrochen hatte, mit den folgenden Worten zitiert: „The very meaning of the word ,Ourselves‘ is too small and too limited for my imagination and my enthusiasm. I am an Internationalist. I believe in freedom for the whole world.“⁴⁹ Jung verbindet die Darstellung von Larkins internationalistischem Projekt nun allerdings mit einer Reflexion der Produktions- und Rezeptionsbedingungen weltliterarisch zirkulierender Arbeiterliteratur. Joe Frank illustriert die Welt macht damit selbstreflexiv die eigenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie die eigenen Wirkungsintentionen zu einem Gegenstand seiner erzählten Welt.Wie in Die Eroberung der Maschinen, wo die Zirkulation internationalistischer Weltliteratur bzw. ihre Unterbrechung anhand der Gattungen des Berichts und des
Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 8 f. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 10. Bryant: Jim Larkin Goes to Jail, S. 13. Hervorhebung im Original.
3.3 Die Entstehung von Jungs Joe Frank illustriert die Welt
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Manifests thematisiert wird, beschreibt Jung auch in Joe Frank illustriert die Welt die Verbreitung von proletarischer Literatur jenseits nationaler Grenzen nicht am Beispiel einer in der literarischen Moderne kanonisierten Gattung, sondern am Beispiel des Liedes. Dabei wird zugleich – wie auch schon beim Manifest – die enge Verbindung von Literatur und Individualität gelöst, die den hegemonialen Diskurs über literarische Produktion in der Moderne charakterisiert. Stattdessen wird die kollektive Dimension der Produktion, Rezeption und Performanz von Literatur betont: Über die grünen Hügel Irlands hallt seit Jahrhunderten das Revolutionslied. Es ist mit hinüber gegangen nach der neuen Heimat, in die amerikanischen Oststaaten, und geht von dort hinauf nach Kanada und hinein ins Land bis an die Westküste. […] Und als diese Zehntausende [Demonstrierende; C.S.] das alte irische Revolutionslied anstimmten […], da dachten die wenigsten noch an die grünen Hügel, über die der Mondschein gleitet und über den weiten Mooren in gespenstischen Schatten mit dem Irrlicht spielt, da war das seit Jahrhunderten geknechtete Volk auf der grünen Insel Symbol geworden für das alle Völker umfassende Proletariat.⁵⁰
Die Passage beschreibt die Verbreitung von Literatur nicht mit Bezug auf den literarischen Buchmarkt, Universitäten oder Bibliotheken, auf die sich Theorien von Weltliteratur konzentrieren,⁵¹ sondern stellt eine Verbindung zwischen Arbeitsmigration, Oralität und weltliterarischer Zirkulation her. Das „irische Revolutionslied“ wird durch seine transatlantische Verbreitung dabei schließlich aus seinem nationalen Kontext gelöst und gewinnt transnationale Bedeutung. Es wird zum „Symbol“ einer literarisch artikulierten internationalistischen Politik und Gefühlstruktur. Das Lied einer nationalen Befreiungsbewegung wird also infolge von Arbeitsmigration durch die irischstämmigen Amerikaner internationalistisch neu imaginiert. In der erzählten Welt von Jungs Text geschieht so das, was Jung in seiner Neubearbeitung des Artikels „The Wars of West Virginia“ selbst vollzogen hat: Die transnationale Relevanz eines lokalen Ereignisses oder einer nationalen Tradition wird hergestellt. In beiden Fällen entsteht internationalistische Weltliteratur aus Begegnungen und Erfahrungen in transnational verknüpften Gegenöffentlichkeiten und trägt selbst zu ihrem Entstehen bei. Joe Frank illustriert die Welt ist ein Produkt dieses Prozesses und beschreibt ihn zugleich selbstreflexiv.
Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 16 f. Zur Bedeutung von Bibliotheken vgl. B. Venkat Mani: Recoding World Literature. Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact with Books. New York 2017.
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3 Montage und Internationalismus
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext Joe Frank illustriert die Welt als einen Text zu bezeichnen, der durch das Verfahren der Montage Welt als Zeitraum einer global verbundenen, jedoch in sich heterogenen internationalistischen Arbeiterbewegung entwirft, mag als eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Entscheidung betrachtet werden. Von Jung selbst ist keine Gattungsbezeichnung für den Text überliefert worden. Die zuvor in Zeitungen publizierten Texte, aus denen Joe Frank illustriert die Welt von Jung zusammengesetzt worden ist, sind von ihm in verschiedenen Briefen als „kleine[n] Sachen“,⁵² „Novellen“⁵³ und „kleine Grotesken“⁵⁴ bezeichnet worden. Während Fähnders und Rector den Text als „Erzählungsband“⁵⁵ begreifen, bezeichnet Lutz Schulenberg, der Herausgeber von Jungs Werken, ihn als einen Roman.⁵⁶ Schulenberg legt damit im Gegensatz zu Fähnders und Rector nahe, dass der Text als Texteinheit mit verschiedenen Abschnitten und nicht als Sammlung von in sich geschlossenen Texten zu verstehen sei. In der Tat sind alle Episoden von Joe Frank illustriert die Welt durch den ihnen gemeinsamen und auch titelgebenden Erzähler Joe Frank verbunden, dessen Name ein Pseudonym Jungs aus dem Sommer 1920 aufnimmt, nämlich Frank,⁵⁷ und dieses durch den englischen Vornamen Joe im Sinne der internationalistischen Ausrichtung des Montagetextes internationalisiert. Durch diese transnationale und multilinguale Hybridität des Namens wird also bereits im Titel die internationalistische Orientierung des Textes sowohl auf deutsche als auch ausländische, vor allem angloamerikanische, Schauplätze aufgerufen, die sich dann auch in den Titeln der zwei Teile des Textes wiederfindet: „Joe Frank erzählt von Draußen“ und „Joe Frank sieht sich im Lande um“. Der Text wird damit paratextlich um den Erzähler Joe Frank organisiert, dessen Weltbeschreibung die einzelnen Episoden von Joe Frank illustriert die Welt zueinander in Beziehung setzt und sie als Teile eines Textganzen erzeugt – diese konstruktivistische Tätigkeit wird wesentlich durch das Verfahren der Illustration im Titel aufgerufen. Wenn Joe Frank illustriert die Welt produktionsästhetisch durchaus als Montagetext verstanden werden kann, insofern Jung die von ihm zuvor in Zeitungen
Franz Jung: An Cläre Jung, 23. Dezember 1920, JW 9.1, S. 31. Franz Jung: An Cläre Jung, 27. Dezember 1920, JW 9.1, S. 33. Franz Jung: An Fritz J. Raddatz, 12. Januar 1921, JW 9.1, S. 1085. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 188. Vgl. den Titel und die editorische Notiz von JW 2. Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 181. Ähnlich spricht Schulz von einer „Sammlung von Erzählungen“; vgl. Utopie des Herzens, S. 626.
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext
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publizierten Texte aus ihrem ursprünglichen Kontext löst und als Materialien eines neuen Textes arrangiert, reflektiert zudem der Erzähler Montage als eigenes Konstruktionsverfahren. So rät der Erzähler in der letzten Episode des Textes: „Dann nehme man eine Zeitung und klebe die Polizei- und Gerichtschronik hintereinander und streiche etwaige Wiederholungen und setze immer nur ein und denselben Namen ein.“⁵⁸ Das beschriebene Vorgehen entspricht strukturell der Art und Weise, wie Jung Joe Frank illustriert die Welt konstruiert hat. Vorgefundene Texte werden durch die Figur des Erzählers bzw. den Namen Joe Frank in ein neues Verhältnis zueinander gebracht; Jung präsentiert seinen Text so implizit als Montagetext. Dieser metafiktionale Satz folgt dabei relativ abrupt auf eine Aussage des Erzählers, die das Verhältnis einzelner Menschen zueinander als eines weitestgehender Isolation bzw. Unverbundenheit beschreibt: „Ach ja, die Menschen verstehen sich noch nicht. Sie haben noch ein sehr unvollkommenes Bindemittel zueinander.“⁵⁹ Dass diese zwei Sätze direkt aufeinander folgen, erlaubt ihre Assoziation: Die Montage funktioniert als „Bindemittel“. Wenn Montageverfahren Verbindungen herstellen, wo sonst keine sind, bzw. ein neues Verhältnis disparater Teile zueinander erfahrbar machen, dann gilt dies einerseits ganz wörtlich, insofern das vom Erzähler beschriebene Verfahren einzelne Texte bzw. Textteile miteinander verbindet. Es gilt aber auch in einem übertragenen Sinne, da Joe Frank illustriert die Welt ein neues Verhältnis von verschiedenen Orten zueinander herstellt, indem der Text diese durch Montage miteinander verbindet. Proletarier in den USA, Finnland, Irland und Deutschland werden als Teil eines Zusammenhanges gezeigt, in den darüber hinaus die Lesenden durch direkte Adressierungen eingebunden werden. Die Lesenden sollen sich als Teil dieses durch die Montage hergestellten Zusammenhanges erfahren. Dies wird zum Beispiel durch die oben zitierte Ansprache „Auch bei uns […]“⁶⁰ deutlich, welche zugleich durch die Verwendung des Personalpronomens „uns“ ein Kollektiv von Lesenden und Erzähler suggeriert. Das Montageverfahren von Joe Frank illustriert die Welt ist geprägt durch die nicht-kontrastive Gegenüberstellung der einzelnen Episoden sowie durch die kontrastive Gegenüberstellung des ersten und des zweiten Teils des Textes. Dabei berichtet der erste Teil über Arbeitskämpfe in den USA, Finnland und Irland, während der zweite Teil vor allem Begebenheiten in einem norddeutschen Gefängnis zum Thema hat. Das Verfahren der Gegenüberstellung wird vom Ich-Erzähler dabei in einer selbstreflexiven Passage – im Gegensatz zu Adornos und
Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 40. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 39 f. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 8.
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3 Montage und Internationalismus
Bürgers Verständnis von Montage – als sinnproduzierendes Verfahren bestimmt: „Diese Geschichte hätte gar keinen Sinn, schon weil sie so alltäglich gegenwärtig ist, wenn man ihr nicht einen Vorgang gegenüberstellen könnte.“⁶¹ „Sinn“ entsteht hier erstens durch die Gegenüberstellung ähnlicher Ereignisse an verschiedenen Schauplätzen, die die einzelnen Episoden des Textes in ein Entsprechungsverhältnis stellen: Die Welt wird als Zeitraum von miteinander zusammenhängenden Arbeitskämpfen und revolutionären Bewegungen neu erfassbar. Zweitens produziert die Gegenüberstellung den „Sinn“ des Textes, insofern sie die Kollektivitätsbildungen, die hauptsächlich in den internationalen Episoden beschrieben werden und die durch die Montage zu einem internationalistischen und transnationalen Kollektiv zusammengefügt werden, mit den Schilderungen der Isolation von Gefangenen im zweiten Teil des Textes konfrontiert. Sich als Teil eines Kollektivs erfahren zu können, was das Zusammenspiel von direkter Adressierung und Montage den Lesenden ermöglichen soll, gilt Jung nicht nur als Überwindung von Isolation, die besonders durch den Gefangenen verkörpert wird. Die Figur des Gefangenen benennt zugleich eine autobiografische Erfahrung Jungs, eine besondere soziale Situation sowie die Verfasstheit des modernen Subjekts. Das Ich als Teil eines Kollektivs zu erfahren, beantwortet laut Jung darüber hinaus die Frage der „Menschen“ danach, „wozu sie leben“.⁶² Der „Sinn des Lebens“ besteht für ihn darin, „sich zu vollenden, sich zu steigern, sich über das Einzelich hinauswachsen zu lassen, eins zu werden mit der Gemeinschaft, gemeinsam die Gemeinschaft zu leben und die lebendige Gemeinschaft zu steigern nach der Breite wie nach der Tiefe des Glücks, des gemeinschaftlichen Glücks wie des Eigenglücks“.⁶³ In Joe Frank illustriert die Welt wird Montage zu einem Verfahren, das eine solche gemeinschaftliche Erfahrung herzustellen helfen soll. Montage tritt damit neben den von Jung vor allem in seinem Roman Arbeitsfriede (1922) selbstreflexiv hervorgehobenen sprachlichen Rhythmus als literarische Technik zur Herstellung von Kollektivität. Letztere soll durch das interaktive Verhältnis von Text, Lesenden und Autor, der eine „technische Funktion“⁶⁴ erfüllt, performativ hergestellt werden:⁶⁵ Ich will dem Leser schon vorher sagen, was ich will und wie das technische Problem liegt. Er soll beim Lesen mithelfen an der Lösung und Gestaltung, prüfen wo das Tempo ins Stocken
Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 36. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 166. Jung: Die Eroberung der Maschinen, JW 4, S. 166. Franz Jung: Arbeitsfriede, JW 2, S. 105. Devin Fore hat gezeigt, dass Jung den Rhythmus seiner Werke als Gegenentwurf zur zeitlichen Struktur des Kapitals verstand; vgl. Fore: Realism after Modernism, S. 102 f.
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext
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gerät, und so die wirkliche Verbindung zwischen Autor und Leser herstellen, die der wesentliche Inhalt dieses Buches ist. Jeder Inhalt, den man darstellen will, gewinnt dadurch einen neuen Rhythmus. Es wird nicht mehr so sehr ausschließlich Handlung, die sich aufbaut, sondern ein Teil unseres Selbst, der Geschehnisse in und mit uns, unserer Empfindungen, des als lebendige Gemeinschaft Miteinanderverbundenseins.⁶⁶
Joe Frank illustriert die Welt ist jedoch wie Die Eroberung der Maschinen, die die Weltrevolution als Traum eines gefangenen Arbeiters zeigt, keineswegs triumphalistisch oder teleologisch strukturiert. Der Text beginnt mit dem Ende – Kollektivität – und endet mit dem Anfang – Gefangenschaft, welche zugleich das Resultat von manchen der im Text geschilderten Revolten und Kollektivbildungen ist. Gemeinschaft ist in der erzählten Welt wie in der außertextlichen Wirklichkeit immer auch Utopie. Das proletarische und transnationale Kollektiv, das die internationalistische Montage von Joe Frank illustriert die Welt ästhetisch erzeugt, wird in der erzählten Welt des Textes entworfen, indem der Erzähler Gemeinsamkeiten von an verschiedenen Orten lebenden Proletariern schildert: „[Die Hafenarbeiter Irlands] besprachen, was die Hafenarbeiter in Halifax und Genua, in Hamburg und Amsterdam auch besprachen.“⁶⁷ Der Text referiert auf die Annahme einer transnationalen Ähnlichkeit proletarischer Erfahrung, welche internationalistischer Politik und Theorie seit dem Manifest der Kommunistischen Partei zugrunde liegt. Zugleich repräsentiert der Text internationalistische Praxis ohne Bezugnahme auf die Kommunistische Internationale. Dies ist deshalb durchaus bemerkenswert, weil die Niederschrift von Joe Frank illustriert die Welt biografisch auf die von Jung in Sowjetrussland geführten Verhandlungen über einen Beitritt der von ihm mitbegründeten KAPD zur Dritten Internationale folgte, die sich trotz dieses Beitrittsversuches unter anderem gegen den Zentralismus, Autoritarismus und die hierarchische Struktur der KPD und der Kommunistischen Internationale wendete.⁶⁸ Im Gegensatz zu einem radikaleren Teil seiner Partei, der sich nach dem Scheitern der Beitrittsverhandlungen für die Gründung einer alternativen Vierten Internationale aussprach, lehnte Jung ein solches Vorgehen als Spaltung der Arbeiterbewegung jedoch ab und begriff in einem offenen Brief an seine Parteigenossen die Dritte Internationale weiterhin als „Generalstab der Weltrevolution“ sowie als „Sammelpunkt der revolutionären Kämpfer für die kommunistische Weltrevolution“.⁶⁹ Zugleich wird in dem Brief deutlich, dass Jung die Dritte In-
Jung: Arbeitsfriede, JW 2, S. 105. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 19. Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 165 – 170. Franz Jung: An die KAP-Genossen in Deutschland, 4. September, 1921, JW 11, S. 96 f.
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3 Montage und Internationalismus
ternationale als einen politischen Raum ansah, in dem die eigenen politischen Grundsätze als wirkmächtiger Teil der internationalistischen Bewegung etabliert werden sollten: „Aktiv um unsere Auffassung und Taktik im proletarischen Klassenkampfe kämpfen, heißt immer wieder von neuem um die Anerkennung unserer Grundsätze innerhalb der Komintern ringen.“⁷⁰ Insofern Joe Frank illustriert die Welt eine internationalistische Praxis jenseits der Dritten Internationale entwirft und dabei Spontanität und eine dezentrale Organisierung des transnationalen Klassenkampfes betont, muss der Text in Spannung zu dem die globale kommunistische Bewegung dominierenden Zentralismus der Kommunistischen Internationale gesehen werden. Dass sich weder positive noch negative Bezugnahmen auf die Kommunistische Internationale im Text finden, kann so verstanden werden, dass Jung auch durch seine literarische Praxis die Einheit der kommunistischen Arbeiterbewegung nicht gefährden wollte. Die Art des Internationalismus, die Joe Frank illustriert die Welt entwirft, steht jedoch in einem spannungsreichen, die Organisationsformen der Kommunistischen Internationale problematisierenden Verhältnis. Der Text gravitiert daher zugleich zum Zentrum der Kommunistischen Internationale, insofern er die Einheit der internationalistischen Bewegung nicht in Frage stellt, und gravitiert von diesem Zentrum weg, da er die die kommunistische Arbeiterbewegung dominierende Dritte Internationale mit der literarischen Repräsentation eines auf spontaner Selbstorganisation basierenden Internationalismus konfrontiert, welcher dem um das Modell der hierarchischen Kaderpartei organisierten Zentralismus und Autoritarismus der Dritten Internationale zuwiderläuft. Wenn das Zentrum der Kommunistischen Internationale in Moskau lokalisiert werden konnte, dann war das revolutionäre Subjekt des Internationalismus, das Proletariat, in erster Linie urban, industriell und männlich kodiert. Jungs organisationspolitische Problematisierung eines internationalistischen Zentralismus ging nun einher mit einer nicht-normativen Repräsentation des transnationalen Proletariats.⁷¹ Das proletarische Kollektiv in Joe Frank illustriert die Welt hat nicht nur in Mother Jones eine Frau als Schlüsselfigur, sondern die Masse der sich in West Virginia gegen die Minenbesitzer und Streikbrecher erhebenden Proletarier und Proletarierinnen besteht aus proletarischen Subjekten jenseits von bestimmten Alters- und Geschlechtergrenzen: „[…] und alles, Frauen und Kinder, lief gegen die Baldwinleute an.“⁷² Zugleich rückt Jung Peripherien jenseits der Industriemetropole ins Zentrum seiner literarischen Repräsentation des Interna-
Jung: An die KAP-Genossen in Deutschland, JW 11, S. 95. Vgl. ähnlich Fore: Realism after Modernism, S. 100 f. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 8.
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext
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tionalismus, insofern er in Joe Frank illustriert die Welt – wie auch in anderen seiner literarischen Texte – „den archimedischen Punkt seiner Erzählungen oft außerhalb des Stadtzentrums ansiedelt“.⁷³ Der Industriemetropole Philadelphia und den ebenfalls in der irischen Episode aufgerufenen Hafenstädten (Hamburg, Amsterdam usw.) stehen die Bergarbeitersiedlungen des ländlichen West Virginias und die Wälder Finnlands und Russlands gegenüber. Auf letzteren – und eben nicht auf Städten – liegt deutlich der Schwerpunkt von Jungs erzählter Welt. Jungs internationalistische Montage verbindet also neben verschiedenen nationalen auch ländliche und städtische Räume, evoziert aber besonders die nicht urbanen Räume als Schauplätze von Revolten. Dabei wird die Formation einer internationalistischen Identität nicht mit der Migration aus einem ländlichen Raum in eine Metropole identifiziert. Der Text entzieht sich so einer auf die Großstadt ausgerichteten räumlichen Entwicklungslogik, die laut Sonali Perera der Globalisierungs- und Arbeiterliteratur zugrunde liegt, nämlich der „passage of the new immigrant to the global city“.⁷⁴ Zwar finden sich in Joe Frank illustriert die Welt Figuren, die sich von Stadt zu Stadt bewegen, wie etwa Tom Parker, der von Jim Larkin aus den USA in eine unbenannte irische Hafenstadt geschickt wird. Die Sozialisation in und die Begegnung mit städtischen Räumen, welche sich durch organisatorisch verstetigte Arbeiterbewegungsöffentlichkeiten auszeichnen, ist in Jungs Text jedoch keine notwendige Voraussetzung für die Bildung einer internationalistischen Identität. Der aus einer „Waldbauernfamilie im nördlichen Finnland“⁷⁵ stammende Johannes Olansson, den der Erzähler persönlich zu kennen behauptet, migriert nicht in die Stadt, sondern „durchstreifte viele Jahre das große Rußland nach allen Windrichtungen“.⁷⁶ Zwar „hatte [er] in seinen Wanderjahren keine rechte Verbindung mit Sozialisten gewonnen“ und „würde […] sich vielleicht als Anarchist bezeichnet haben“, nach der gescheiterten finnischen Revolution schließt er sich jedoch den „noch in den nördlichen Wäldern streifenden Trupps der Roten an“.⁷⁷ Gemeinsam mit dem Ich-Erzähler, einem Engländer und einem Holländer bildet Olansson, „[d]er wußte, was das ist: Kamerad sein“,⁷⁸ ein temporäres Kollektiv im ländlichen Finnland. Gleich dem auf der Makroebene des Textes durch die internationalistische Montage erzeugten
David Bathrick: Die Berliner Avantgarde der 20er Jahre. Das Beispiel Franz Jung. In: Literarisches Leben in Berlin 1871– 1933. Hg. v. Peter Wruck. Berlin 1987, S. 71. Sonali Perera: No Country. Working-Class Writing in the Age of Globalization. New York 2014, S. 126. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 11. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 12. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 13. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 11.
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3 Montage und Internationalismus
Kollektiv entzieht sich diese Gruppe der normativen Kodierung, die das revolutionäre Subjekt des Internationalismus auf Urbanität und Industrie festschreiben will. Das durch die Montage des Textes erzeugte internationalistische Kollektiv ist weniger durch Normativität und Homogenität als durch eine Spannung zwischen Differenz und Ähnlichkeit charakterisiert. Die Montage erzeugt Zusammenhänge und Entsprechungen über sprachliche, geografische und kulturelle Grenzen hinweg, ebnet aber zugleich die Unterschiede von Orten und Erfahrungen nicht ein. Formal wird dieser doppelte Effekt durch eine Reihe von Montageverfahren erzeugt, die Episoden assoziativ, durch Konjunktionaladverbien oder typografisch verbinden und so Kontinuität suggerieren, dabei aber zugleich die Distanz bzw. Nicht-Identität des Verbundenen durch Zwischenüberschriften, Satzabbrüche oder Leerzeilen hervorheben.⁷⁹ Der Erzähler markiert diese Distanz gleich zu Beginn des Textes als Wissensdifferenz: „Wir wissen zu wenig von den Kämpfen der amerikanischen Arbeiter.“⁸⁰ Internationalismus wird in Joe Frank illustriert die Welt deshalb zu einem Übersetzungs- und Vermittlungsprojekt, welches der Text aus der Perspektive eines in Deutschland situierten Erzählers literarisch inszeniert und durch die bereits thematisierten direkten Adressierungen der Lesenden in Szene setzt. Durch die Lektüre von Joe Frank illustriert die Welt sollen die Lesenden die geschilderten Episoden von revolutionären Kämpfen im Ausland und ihre eigenen Erfahrungen in Beziehung zueinander bringen. So folgt etwa auf ein aus dem Liberator-Artikel ins Deutsche übersetztes Zitat, das in die Neuerzählung der bereits im selben Artikel geschilderten Ereignisse montiert wird, eine direkte Adressierung der Lesenden durch den Erzähler: Mehr als Zehntausend traten den „bewaffneten Marsch“ an, um County Logan aus der Tyrannei zu erlösen. „Drei Tage marschierten die Tausende durch die Counties Kanawha und Boone, auf dem ganzen Wege von der Gebirgsbevölkerung begrüßt und verpflegt. Sie marschierten über die Grenze von Logan, wo sie durch C. F. Keeny, den Präsidenten der Union und durch den Gouverneur des Staates angehalten wurden, der die Freilassung der Verhafteten versprach. Sie ließen sich zur Rückkehr bewegen. Keeny war aus Pittsburg zur Hilfe gerufen worden.“ Achtet darauf, auch drüben gelang es noch einer schuftigen Gewerkschaftsbürokratie die Massenbewegung im Interesse der Regierung zu stoppen. Sie ließen sich zur Umkehr bewegen.⁸¹
Beispiele für die Verbindung von Episoden durch Typografie, Konjunktionaladverbien und Assoziation finden sich in Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 10, S. 11 u. S. 16. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 7. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 9 f. Das Zitat aus dem Liberator, zu dem Jung allerdings den letzten Satz hinzugefügt hat, findet sich bei Minor: The Wars of West Virginia, S. 9.
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext
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In diesem Vermittlungsprozess zwischen dem Wissen der amerikanischen und der deutschen Arbeiterbewegung geht es nun allerdings nicht einfach, wie Fähnders und Rector behaupten, „um eine umstandslose Übertragung auch der […] unionistischen Taktik auf die Klassenauseinandersetzungen in Deutschland“.⁸² Erstens erfolgt eine solche „Übertragung“ im Text selbst nicht, sondern die Lesenden werden in erster Linie dazu aufgefordert, die amerikanische und die eigene Situation aufeinander zu beziehen und nach Vergleichbarkeiten zu suchen. Zweitens ging Jung von einem grundsätzlichen Unterschied der klassenkämpferischen Erfahrungen der Proletarier in den USA und in Europa aus. In einem Text über B. Traven betont er in diesem Sinne, dass Travens Werke „einen besonderen Reiz gerade für den Arbeiter der alten Welt [haben], dessen Solidarität innerhalb der Klasse weniger spontan vielmehr das Ergebnis einer zähen und disziplinierten Parteierziehung ist“.⁸³ Differenz wird damit für Jung neben Ähnlichkeit zu einer genauso wichtigen Grundbedingung für einen auch affektiv besetzten („Reiz“) internationalistischen Dialog innerhalb einer in sich heterogenen internationalistischen Arbeiterbewegung. Differenz und Ähnlichkeit werden aber gerade durch das Montageverfahren von Joe Frank illustriert die Welt simultan hergestellt. Durch die Montage und die direkte Adressierung der Lesenden ermöglicht Joe Frank illustriert die Welt den Lesenden, sich in ein neues Verhältnis zur Welt einzuüben und sich als Teil eines internationalistischen Kollektivs wahrzunehmen. Diese transnationale Verbindungen herstellenden Verfahren stehen dabei im Gegensatz zu einer auf Isolation und Spaltung ausgerichteten Politik, die in der erzählten Welt von Joe Frank illustriert die Welt mit der Strategie der Kohlengesellschaften in West Virginia identifiziert wird. Diese wollen eine Organisierung der Proletarier und Proletarierinnen durch Grenzziehungen verhindern: „Die Kohlengesellschaften, denen fast der ganze Distrikt gehört, verbieten jedem, das Land zu betreten. Sie stellen für die einzelnen Counties Pässe aus, so daß die Arbeiter darin sitzen wie in der Falle.“⁸⁴ Vor diesem Hintergrund kann Joe Frank illustriert die Welt als eine internationalistische Ausweitung von Jungs grundlegendem Projekt verstanden werden, durch Literatur zur Produktion einer kollektiven „structure of feeling“⁸⁵ beizutragen: zur Schaffung eines „Rhythmus des gemeinsamen, gemeinschaftlichen Erlebens, gemeinsamer Empfindung von Freude und Schmerz, gemeinschaftlicher Hoffnungen und Enttäuschungen“.⁸⁶ Die Produktion einer kollektiven Erfahrung war für Jung deshalb besonders
Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 184. Franz Jung: B. Traven, JW 1.1, S. 285. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 7. Vgl. Raymond Williams: Marxism and Literature. Oxford/New York 1977, S. 128 – 135. Franz Jung: Proletarische Erzählungskunst, JW 1.1, S. 243.
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3 Montage und Internationalismus
wichtig, weil er, die gesellschaftspolitische Analyse der KAPD teilend, den Grund für das Ausbleiben einer Revolution in Deutschland nicht in objektiv-ökonomischen Bedingungen sah, sondern es für ihn subjektiv-psychologische Gründe hatte.⁸⁷ Literarische Verfahren wie die Montage und die direkte Adressierung der Lesenden, die „Gemeinschaftsutopie[n]“⁸⁸ entwerfen und erfahrbar machen sollten, fungierten für Jung als „Psychotechniken dieser Utopien“.⁸⁹ Ähnlich wie Experimente der Sowjetavantgarde und im Unterschied zu herrschaftsförmigen Sozialtechnologien in der Weimarer Republik⁹⁰ sollten sie zur Bildung eines neuen, kollektiven Menschentypus beitragen, indem sie „die Rhythmik utopischer Vorstellungs- und Denkweisen [freilegen sollten], um utopische Empfindungsintensität bewußt werden zu lassen“.⁹¹ Literatur war für Jung in diesem Sinne eine kulturelle Praktik, die Wirklichkeit herstellte, indem sie Individuen eine neue Beziehung zur Welt bzw. zueinander ermöglichte. Zugleich verhält sich Joe Frank illustriert die Welt nachahmend zu den historischen Gegenöffentlichkeiten, auf die der Text wirken sollte. Die als performativ intendierten Sprechakte von Jungs Text, welche die Art von Kollektivbildungen in der außertextlichen Wirklichkeit befördern sollten, von denen in der erzählten Welt des Textes berichtet wird, ahmen Sprechakte in den historischen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung nach.⁹² Die Elemente des Textes, die aus rezeptionsästhetischer Perspektive als direkte Adressierung der Lesenden durch den Erzähler erscheinen, sind nämlich in der erzählten Welt des Textes Teile einer Rede der Figur des Erzählers auf einer Versammlung von Proletariern. Die direkten Adressierungen der Lesenden sind somit zugleich Ansprachen an ein Publikum im Text: „Der Kampf ist dann von dem euren verflucht verschieden. Dort kennt man keine Versammlungen. Aber seid stiller. Was ich euch jetzt erzähle, verträgt keine Zwischenrufe.“⁹³ Die Rezeption von Joe Franks Erzählungen wird im Text also als eine kollektive und öffentliche vorgestellt, nicht als eine individuelle und private. Der Rezeptionsakt wird selbst zu einer kollektivierenden
Vgl. Fore: Realism after Modernism, S. 358 f., Anm. 59. Jung: Die Technik des Glücks, JW 6, S. 82. Jung: Die Technik des Glücks, JW 6, S. 81. Vgl. Margarete Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion. Göttingen 2007; Andreas Killen: Weimar Psychotechnics between Americanism and Fascism. In: Osiris 22 (2007), H. 1, S. 48 – 71. Jung: Die Technik des Glücks, JW 6, S. 81. In seinen Theaterstücken setzt Jung die direkte Adressierung des Publikums, die auch in anderen zeitgenössischen performativen Praktiken der Arbeiterbewegung wie dem Agitprop zu finden ist, ebenso ein, um zu Kollektivbildungen im Publikum beizutragen; vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 191 u. S. 196. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 11.
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext
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literarischen Praxis.⁹⁴ Und in der Tat sind Jungs literarische Texte in der Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung durchaus in diesem Sinne rezipiert worden. So bezeichnete es zum Beispiel ein Rezensent von Die Eroberung der Maschinen als „wünschenswert, wenn bei Diskussionsabenden Stücke aus einem solchen Buche zugrunde gelegt würden; ja, wenn man bei Erörterungen über taktische und organisatorische Fragen oder über die jeweilige Situation einzelne Stücke von Jung zu Hilfe nähme; man könnte viel daraus lernen“.⁹⁵ Darüber hinaus markiert die Verankerung von Joe Frank illustriert die Welt in den politischen Sprechakten einer sozialen Bewegung einen Unterschied von Jungs ästhetisch-politischem Projekt zum literarischen Modernismus in einem allgemeineren Sinne, den er mit anderen Autorinnen und Autoren der Arbeiterbewegung wie zum Beispiel Anna Seghers teilt, die ebenfalls ästhetische Verfahren der historischen Avantgarden adaptierten. Wie Stephen Eric Bronner argumentiert hat, kann dem Modernismus eine in erster Linie „‚subpolitical‘ quality“⁹⁶ zugesprochen werden, insofern die heterogenen Projekte der historischen Avantgarden und der ästhetischen Moderne kaum an institutioneller Veränderung, sondern in erster Linie an einer Transformation von Wahrnehmung und Erfahrung interessiert waren: [The modernists] understood themselves as engaged in a “higher” politics whose agent, whatever it was, was not the working class. The modernist avant-garde was focused on neither reform nor revolution. Its members experimented with multiplying experiences, broadening the possibilities of perception, exploding the habitual, and transforming the way in which people relate to one another.⁹⁷
Jungs literarisches Projekt der frühen Weimarer Republik suchte seine Öffentlichkeit im Gegensatz hierzu nicht im literarischen Feld oder in der künstlerischen Boheme, deren dadaistische Variante Jung vor der Novemberrevolution noch „[f]ür viele [personifiziert]“⁹⁸ hatte, sondern ausdrücklich in der „linken Tagespresse“⁹⁹, der Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung. Für diese schrieb Jung Texte, die Subjektivierungsprozesse in dieser Öffentlichkeit katalysieren sollten.
Vgl. ähnlich auch Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur, S. 180. Kurt Kersten: Die Eroberung der Maschinen. In: Das Wort, 30. September, 1923. Zitiert nach dem Nachdruck in Walter Fähnders/Andreas Hansen (Hg.): Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer: Franz Jung in der Literaturkritik 1912– 1963. Bielefeld 2003, S. 131 f. Stephen Eric Bronner: Modernism at the Barricades. Aesthetics, Politics, Utopia. New York 2012, S. 4. Bronner: Modernism at the Barricades, S. 6. Bathrick: Die Berliner Avantgarde der 20er Jahre. S. 60. Jung: An Cläre Jung, 18. September 1947, JW 9.1, S. 325.
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3 Montage und Internationalismus
Diese sollten dann zu einer kollektiven Revolutionierung der Gesellschaft beitragen, indem sie die Weltbeziehung von Individuen in eine kollektive transformieren würden – sowohl national als auch transnational, wie Jungs weltliterarisches Engagement nachdrücklich verdeutlicht. Zu diesem Zwecke funktionierte Jung den „modernist impulse“¹⁰⁰ einer grundlegenden Transformation von Wahrnehmung und Erfahrung auf der Basis ästhetischer Verfahren um, indem er diesen auf eine Umgestaltung gesellschaftlicher Institutionen und Praktiken ausrichtete. Eine literarisch erzeugte kollektive Weltbeziehung traf sich so zum Beispiel mit dem politischen Ziel der von Jung mitbegründeten KAPD, die deutsche Gesellschaft nach dem Rätemodell zu reorganisieren,¹⁰¹ sowie mit dem weltrevolutionären Projekt des linken Internationalismus, für das Jung trotz der genannten politischen und taktischen Differenzen am organisatorischen Rahmen der Dritten Internationale festhielt, welche er aus der Institution heraus verändern wollte. Wenn Jungs literarische Produktion den modernistischen Impuls einer Transformation der Weltbeziehung der Lesenden durch ästhetische Verfahren teilt und hierfür im Falle von Joe Frank illustriert die Welt Montage von besonderer Bedeutung ist, dann ist auffällig, dass Jungs Texte in der zeitgenössischen Rezeption vor allem für ihre Fähigkeit gelobt wurden, historische Wirklichkeit darzustellen. Seine Texte „spiegelt[en] das Bild dieser Tage getreulich wieder“¹⁰² und würden „eine Geschichte der Arbeiterbewegung unserer Tage“¹⁰³ schreiben. Der hier aufgerufene Realismus von Jungs Texten fand sich für die Rezensenten in zwei unterschiedlichen stilistischen Merkmalen begründet, die sich auch in der Selbstinszenierung von Joe Frank illustriert die Welt finden lassen. Einerseits hoben Rezensenten einen journalistischen Dokumentarismus hervor, der gleichzeitig an Dokumentarästhetiken der zeitgenössischen sowjetischen Literatur anschloss, die Jung bekannt waren,¹⁰⁴ und der außerdem die Ästhetik der Neuen
Bronner: Modernism at the Barricades, S. 1. Vgl. Programm der „Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands“ (KAPD) vom Mai 1920. In: Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 – 1923, S. 407– 417, insb. S. 414 f. [o.V.]: Die Rote Woche. In: Nachrichten des Gebietsvollzugskomitees der Wolgadeutschen, 7. November 1921. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 107. Lutz Weltmann: Franz Jung: Die Eroberung der Maschinen. In: Berliner Tageblatt, 9. September 1923. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 129. Vgl. Franz Jung: Der neue Mensch im neuen Rußland, JW 5, S. 169 – 180, insbesondere S. 170 f.; Denkler: Der Fall Franz Jung, S. 76 – 79.
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext
131
Sachlichkeit antizipierte.¹⁰⁵ Ein Rezensent wies auf „den sachlichen Extrakt des Ereignisses in der Art einer Zeitungsnotiz“ und die „nüchterne[n] Tatsachenfeststellungen“¹⁰⁶ hin, die für Jungs Texte charakteristisch seien, während eine weitere Rezensentin Die Eroberung der Maschinen mit „eine[m] Wirtschaftsbericht“¹⁰⁷ verglich. Andere Rezensenten hoben die Nähe Jungs zur proletarischen Lebenswirklichkeit hervor und bemühten dabei biografische und sprachliche Kriterien, mit deren Hilfe – wie im ersten Kapitel diskutiert – Jung Jack London selbst zum exemplarischen proletarischen Autor erklärt hatte. Nicht nur „lässt Jung […] das Proletariat selbst, die Masse reden, handeln, kämpfen und leiden“,¹⁰⁸ sondern er schreibe als „Dichter des Proletariats“ mit „dem Herzblut des persönlich Beteiligten“.¹⁰⁹ Seine Texte erzählten „[n]icht von oben herab oder von außen her, sondern aus dem Kern, aus dem Eingehen in die Luft dieser Schicht, aus dem mit ihr Leben“.¹¹⁰ Diese in der zeitgenössischen Rezeption von Jungs Werken hervorgehobenen Merkmale einer dem Journalismus angeähnelten Dokumentarästhetik und einer Rhetorik der Zeugenschaft und des (Auto)Biografischen finden sich zugleich in der Selbstinszenierung des Ich-Erzählers von Joe Frank illustriert die Welt. Nach eigenem Bekunden berichtet der Erzähler einige Episoden aufgrund der bereits diskutierten journalistischen Quellen, zu deren vorausgesetzter Faktizität er „nichts hinzugesetzt“¹¹¹ habe. Andere Episoden basierten ihm zufolge auf eigenen Erlebnissen sowie den Erzählungen von Zeugen, denen der Erzähler selbst begegnet sei. Dies gilt für die finnische Episode des ersten und die deutschen Episoden des zweiten Teils des Textes: „Ein Freund, der mit dabei war, hat das mir genau so geschildert. Den langen Olansson habe ich selbst kennengelernt und
Vgl. auch Walter Fähnders: „… auf der Plattform innerer Bereitschaft“. Franz Jung und die ‚Neue Sachlichkeit‘: „Gequältes Volk. Ein oberschlesischer Industrieroman“. In: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hg. v. Sabina Becker u. Christoph Weiss. Stuttgart/Weimar 1995, S. 69 – 88. Fritz Rosenfeld: In den Tiefen der Erde. In: Bildungsarbeit Juli/August 1923. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 129. Gertrud Alexander: Die Eroberung der Maschinen. In: Die Rote Fahne, 3. Juni 1923. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 126. Richard A. Schaefter: Über proletarische Dichtung. In: Die Rote Fahne, 22. Februar 1921. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 59. [o.V.]: Redaktionelle Vorbemerkung. In: Kommunistische Montags-Zeitung, 21. Februar 1921. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 56. Max Hermann-Neiße: Franz Jung. In: Der Oberschlesier, Mai 1924. Zitiert nach dem Nachdruck in Fähnders/Hansen: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer, S. 149. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 7.
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3 Montage und Internationalismus
gesprochen […]“;¹¹² „[Diese Geschichte] ist buchstäblich wahr. Der Letzte hat sie mir noch selbst erzählt. Im Gefängnis in Kuxendorf.“¹¹³ Der Erzähler präsentiert sich als mittelbarer und unmittelbarer Zeuge des Berichteten, dessen Wahrhaftigkeit durch die autobiografische Erfahrung und das Miterleben verbürgt wird. Durch beide Strategien wird ein Anspruch auf akkurate Wirklichkeitsrepräsentation artikuliert. Was in der zeitgenössischen Rezeption und in der Forschung zu Jung jedoch keine Erwähnung findet, ist der Grad literarischer Selbstreflexivität, durch den Jungs literarischer Realismus ebenfalls gekennzeichnet ist. Im Falle von Joe Frank illustriert die Welt betrifft dies erstens über den gesamten Text verteilte metafiktionale Offenlegungen der narrativen Organisation des Textes. Diese thematisieren nicht nur die (intendierten) erzählerischen und rezeptionsästhetischen Funktionen einzelner Textteile, sondern auch mögliche alternative Akzentsetzungen, durch die die Geschichte anders hätte erzählt werden können.¹¹⁴ Joe Frank illustriert die Welt legt damit die die Wirklichkeit zugleich dokumentierende, erklärende und konstruierende Aufgabe von Schriftstellern offen, die Jung in einer 1928 in der Roten Fahne publizierten Kurzgeschichte benannt hat: Der Schriftsteller, behaupte ich, hat nicht nötig, große Geschichten zu erfinden. Seine Aufgabe ist es, Tatsächliches aus dem täglichen Leben wiederzugeben und in einer erklärenden Form der Beschreibung den Versuch zu machen, die näheren Umstände, Umgebung und andere Möglichkeiten, die nie gegeben sind und die der Fremde nur ahnen kann, auf eine allgemeine Plattform zu heben.¹¹⁵
Zweitens thematisiert Joe Frank illustriert die Welt ausdrücklich, wenn auch nur im Vorübergehen, die Grenze zwischen vorgeblich faktischer und fiktionaler Literatur. Sowohl belletristische als auch nicht-belletristische Gattungen gehören für den Ich-Erzähler, der – wie Jung – beide Formen von Literatur produziert hat, zum Bereich des Fiktionalen und sind das Resultat literarischer bzw. schriftstellerischer Organisation: „Um die Leser mit meinem Rekord bekanntzumachen: 5 Romane, Stücker 20 Novellen, darunter ein Drama, eine Masse Essays und Tausende von Handelstelegrammen, die ja auch bloß Schwindel sind.“¹¹⁶ Indem Jungs Text so die Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich selbst als einen literarischen Text lenkt, der durch narrative Strategien eine bestimmte Welt literarisch konstruiert und nicht einfach widerspiegelt, fordert er seine Leserinnen und Leser
Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 11. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 25. Vgl. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 24, S. 28, S. 29, S. 34, S. 36 u. S. 40. Franz Jung: Zwei unterm Torbogen, JW 1.1, S. 296 f. Jung: Joe Frank illustriert die Welt, JW 2, S. 21.
3.4 Joe Frank illustriert die Welt als internationalistischer Montagetext
133
dazu auf, kritisch über Wirklichkeitsnarrative nachzudenken. Joe Frank illustriert die Welt ist dann durch die Spannung zwischen einem Anspruch auf Wirklichkeitsrepräsentation und einer ideologiekritischen Reflexion darauf, wie Repräsentationen von Wirklichkeit konstruiert werden, gekennzeichnet. Zu diesen zwei Aspekten treten drittens die bereits ausführlich diskutierten Passagen, in denen Jungs Texte selbstreflexiv darauf verweisen, dass sie Wirklichkeit nicht nur literarisch darstellen, sondern im Verhältnis von Lesenden und Text auch außertextlich herstellen wollen. Durch sein Festhalten an der Repräsentierbarkeit von Wirklichkeit trennt Jungs selbstreflexiver Realismus das Verfahren der Montage sowie den damit verbundenen modernistischen Impuls zu einer Transformation von Wahrnehmung und Erfahrung vom „assault on representation“,¹¹⁷ der in den historischen Avantgarden vor allem den Dadaismus und seine Montageverfahren bis Mitte der 1920er Jahre kennzeichnete, sowie von dem besonders in der Sprachkrise zum Beispiel in Hugo von Hofmannsthals sogenanntem Chandos-Brief paradigmatisch artikulierten Zweifel an der Erkennbarkeit und Darstellbarkeit von Wirklichkeit. Wenn Adorno die „Negation der Synthesis [als] Gestaltungsprinzip“¹¹⁸ der Montage ausgerufen hatte, dem die Erfahrung der „[Demolierung] alle[r] Vorstellungen vorgegebener und sinnverleihender Ordnung“¹¹⁹ zugrunde liege, organisieren weder dieses „Gestaltungsprinzip“ noch diese Wirklichkeitsdiagnose Joe Frank illustriert die Welt formal oder geschichtsdiagnostisch. Jungs Montagetext soll vielmehr die Weltbeziehung seiner Rezipienten und Rezipientinnen in eine internationalistische und kollektive transformieren, zugleich aber die in Jungs Augen bereits in Anfängen tatsächlich bestehende außertextliche Wirklichkeit einer solchen Weltbeziehung, d. h. die Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Arbeiterbewegung, durch eine Dokumentarästhetik und eine Rhetorik der Zeugenschaft repräsentieren. Die ästhetischen Strategien von Joe Frank illustriert die Welt sind im Kontext einer auch literarisch geführten Auseinandersetzung um politische und kulturelle Hegemonie in der frühen Weimarer Republik zu verorten, in der der Literatur die Funktion zukam, zur Entstehung, Ausbreitung und Stabilisierung von internationalistischen Gegenöffentlichkeiten beizutragen, deren Wirklichkeit durch die als tatsächlich präsentierten, literarisch konstruierten Welten internationalistischer Weltliteratur zugleich bezeugt werden sollte.
McBride: The Chatter of the Visible, S. 15. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 232. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 229.
134
3 Montage und Internationalismus
3.5 Weltliterarischer Internationalismus nach den Niederlagen der sozialistischen Revolutionen in Europa: Anna Seghersʼ Die Gefährten Jungs Prosatexte seiner „roten Jahre“¹²⁰ verlassen ihren Produktionszeitpunkt in den frühen 1920er Jahren in ihrer Diegese höchstens im Modus der utopischen Literatur. Die erzählte Zeit von Anna Seghersʼ 1932 erschienenem Roman Die Gefährten beginnt hingegen in der unmittelbaren Gegenwart der sich nach dem Ersten Weltkrieg in Europa ereignenden sozialistischen Revolutionen und bewegt sich von der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik im Jahre 1919 chronologisch vorwärts zu den Auseinandersetzungen zwischen chinesischen Kommunisten und Chiang Kai-sheks Nationalisten in den späten 1920er Jahren, die im Roman mit einer Anspielung auf den Feldzugs Chiang Kai-sheks in die kommunistischen Gebiete südlich des Jangstses enden.¹²¹ Damit verläuft die erzählte Zeit aus der historischen Vergangenheit in die Gegenwart von Seghersʼ literarischer Produktion. Zugleich entfernt sich die Handlung zunehmend räumlich von Europa als Zentrum einer möglichen Weltrevolution. Zwischen Jungs und Seghersʼ internationalistischen Montagetexten liegt das historische Scheitern der sozialistischen Revolutionen auf gesamteuropäischer Ebene.¹²² Kann Jung etwa in Die Eroberung der Maschinen noch eine Utopie der kommunistischen Weltrevolution entwerfen und sich seinen Roman als eine „moderne Utopie[ ], die noch in der Gegenwart wurzel[t] und mehr wirkliche Tatsache[ ] als Utopie[ ] [ist]“,¹²³ vorstellen, so scheint eine solche literarische Imagination, in der internationalistische Utopie und historische Gegenwart sich berühren, für Seghers in den frühen 1930er Jahren nicht mehr in gleichem Maße möglich zu sein. Stattdessen entwirft Die Gefährten, wie Helen Fehervary formuliert hat, eine „Kartographie, die der damaligen politisch-ökonomischen Landschaft entspricht“; diese bestand aus solchen „Länder[n] (Ungarn, Italien, Polen, Bulgarien, China), in denen die Revo-
Jung: Der Weg nach unten, S. 107. Vgl. Weijia Li: China und China-Erfahrung in Leben und Werk von Anna Seghers. Bern 2010, S. 84 f. Dieses Scheitern wird nicht nur durch den Roman repräsentiert, sondern auch von einer Figur des Romans, dem ungarischen Arbeiter Józsi, ausdrücklich artikuliert: „[…] aus istʼs; wir haben ein paar auf den Kopf gekriegt, allerorts, nicht zu knapp, nicht von schlechten Eltern. Auf den Kopf, sag ich dir, auf den Hintern und auf den Bauch und auf den Nacken. // In der Váczigasse, mein Teurer, in Ungarn, Bulgarien, in Italien und in Deutschland und wo immer.“ Anna Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 156. Jung: An Cläre Jung, 26. Juni 1921, JW 9.1, S. 54.
3.5 Weltliterarischer Internationalismus nach den Niederlagen der Revolutionen
135
lution vorübergehend siegte, diese aber von militärischen bzw. faschistischen Regimes bekämpft oder niedergeschlagen wurde“, aus den „fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern (Frankreich, Belgien, Deutschland, England)“ sowie der „Sowjetunion als einzige[m] sozialistische[n] Land und Hauptsitz der Komintern“.¹²⁴ Der Roman entwirft diese „Kartographie“, die im Gegensatz zur internationalistischen Welt von Joe Frank illustriert die Welt nicht transatlantisch, sondern auf Mittel- und Osteuropa sowie Ostasien ausgerichtet ist, durch fünf mittels eines Montageverfahrens verbundene Erzählstränge. Diese folgen in einer „szenische[n] Gestaltungsweise“¹²⁵ Protagonisten und Protagonistinnen aus Ungarn, Polen, Bulgarien, China und Italien bei ihren Reisen durch den europäischen Kontinent, nach China und in die Sowjetunion. Die Erzählperspektive von Seghersʼ literarischem Internationalismus ist dabei von der historischen Erfahrung des Scheiterns der sozialistischen Weltrevolution nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt. „Alles war zu Ende“¹²⁶ lautet dementsprechend der erste Satz des Romans, mit dem die Schilderung eines brutalen Rachefeldzugs gegen die Revolutionäre eines ungarischen Dorfes beginnt, in deren Verlauf Seghers freilich noch den letzten Moment des Widerstandes eines anthropomorphisierten Dorfes markiert: „Ins Herz getroffen, bäumte sich das ganze Dorf noch einmal auf […].“¹²⁷ Seghersʼ Erzählstandpunkt nach diesem „Ende“ beeinflusst die zeitliche Struktur ihres Internationalismus. Dieser ist im Gegensatz zu Jungs nicht in erster Linie durch eine Perspektivierung auf die Zukunft charakterisiert. Zwar ist, wie noch zu zeigen sein wird, auch Die Gefährten durch eine narrative Struktur geprägt, die sozialistischen Internationalismus und globalen Fortschritt verbindet; jedoch konzentriert sich der Roman auf die Vergangenheit, nämlich auf das, was durch Niederlagen verloren gegangen und neu entstanden ist. In Seghers literarischem Schaffen während der Weimarer Republik ist eine solche Fokussierung auf Vergangenes, das in die Zukunft deutet und auf dessen Basis sich eine Zukunft erst gestalten lässt, nicht außergewöhnlich. Seghers hatte sich bereits in Texten wie Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) mit dem in der zeitgenössischen linken Literatur verbreiteten „Motiv von der gescheiterten Rebellion […], aus der jedoch Hoffnung hervorgeht“,¹²⁸ beschäftigt. Genau hierum
Helen Fehervary: Der China-Komplex in Seghers’ Roman Die Gefährten. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers Gesellschaft 21 (2012), S. 82. Friedrich Albrecht: Die Erzählerin Anna Seghers: 1926 – 1932. Berlin 1965, S. 230 Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 99. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 101. Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1976, S. 487. Zu Aufstand der Fischer von St. Barbara vgl. Christoph Schaub: Aesthetics,
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3 Montage und Internationalismus
schien es Seghers auch im Roman Die Gefährten zu gehen, über den sie in einer „Selbstanzeige“ von 1931 schrieb: „Wenn man schreibt, muß man so schreiben, daß man hinter der Verzweiflung die Möglichkeit und hinter dem Untergang den Ausweg spürt.“¹²⁹ Zugleich mag Seghers allgemeiner noch – und durchaus in Verwandtschaft zu Walter Benjamin – als eine Schriftstellerin verstanden werden, die an einer Erlösung des Vergangenen durch literarische und politische Praxis interessiert ist: Seghers’s prose strives for redemption, seeking at once to affirm the living and liberate the dead. Her narratives are less concerned with the relationship of self and other, or self and self, than with the trials of the present in relation to the unfinished lives of the past. She wrote for the future, but not about the future, with urgency about a present that is always a past present, that is to say, an enchanted present inscribed by topographies inhabited by the dead.¹³⁰
Wenn es in Jungs modernistischem Realismus um die Bezeugung einer gegenwärtig existierenden internationalistischen Gegenöffentlichkeit geht, die das Fundament für eine mögliche, scheinbar nahende Weltrevolution bildet, dann legt Die Gefährten eher Zeugnis über etwas Vergangenes ab, das sich durch individuelle Biografien und kollektive Erfahrungen bis in die Gegenwart der Niederschrift des Romans erstreckt und auf dessen Grundlage erst eine gesellschaftliche Zukunft geschaffen werden kann. Diese Zukunft ist in der literarischen Imagination von Die Gefährten freilich eine globale. Ebenso war der Produktionskontext von Die Gefährten ein transnationaler und transkultureller. Seghersʼ Roman basierte, wie in der Forschung wiederholt festgestellt worden ist, u. a. auf den mündlichen Zeugnissen von ungarischen und chinesischen Exilierten und Emigranten und Emigrantinnen, denen Seghers zuerst in Heidelberg und später dann in Berlin begegnet ist und mit denen sie Freundschaften gepflegt hat; zu diesen gehörte auch ihr Ehemann László Radványi.¹³¹ Ohne sich einer Rhetorik der Augenzeugenschaft zu bedienen, wie es Jung getan hatte, und ohne den transkulturellen Dialog innerhalb eines geteilten politischen Projektes zwischen Schriftstellerin und Emigranten und Emigrantin-
Masses, Gender. Anna Seghers’s Revolt of the Fishermen of St. Barbara. In: New German Critique 124 (2015), S. 167– 172. Anna Seghers: Selbstanzeige, SGW 13, S. 7. Helen Fehervary: Anna Seghers. The Mythic Dimension. Ann Arbor 2001, S. 2. Hervorhebung im Original. Vgl. Fehervary: Der China-Komplex in Seghers’ Roman Die Gefährten, S. 81; Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1900 – 1947. Berlin 2000, S. 257 f.; Li: China und ChinaErfahrung, S. 57 f.
3.5 Weltliterarischer Internationalismus nach den Niederlagen der Revolutionen
137
nen im Roman metafiktional zum Thema zu machen, nimmt der Roman den Charakter eines fiktionalisierten, zeitgeschichtlichen Zeugnisses an. Spuren einer solchen Praxis der Zeugenschaft finden sich innerhalb der diegetischen Welt des Romans in sich widerholenden Szenen, in denen die Romanfiguren einander über eigene Erfahrungen berichten.¹³² In den Vorworten, die den Neuauflagen des Romans Anfang der 1950er Jahre in der DDR als retrospektive Paratexte von Seghers beigegeben worden sind, wird diese Zeugenschaftsdimension des Romans noch deutlicher:¹³³ Wir horchten erregt ihren Berichten, die damals vielen in Deutschland wie Greuelmärchen erschienen oder wie Vorkommnisse, die unvorstellbar in Mitteleuropa waren. Der weiße Terror hatte die erste Welle der Emigration durch unseren Erdteil gespült. Und seine Zeugen, erschöpft von dem Erlebten, doch ungebrochen und kühn, uns überlegen an Erfahrungen, auch an Opferbereitschaft im Großen und Hilfsbereitschaft im Kleinen, waren für uns wirkliche, nicht beschriebene Helden.¹³⁴
Weltliterarischer Internationalismus ist so für Seghers auch Erinnerungspolitik und ihr Roman ist als Text konzipiert, der den Akteuren der transnationalen Arbeiterbewegung Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie gleichsam vor dem Vergessen bewahren soll. Das Vergangene der historischen Niederlage lebt damit durch den Roman fort. Die teleologische Zeitlichkeit des Internationalismus im realexistierenden Sozialismus der Nachkriegsphase und des beginnenden Kalten Krieges, zu dem Seghersʼ Paratexte gehören, verlangte jedoch zugleich, dass der Roman über den Romantext hinaus in eine nun gegenwärtige Zukunft verlängert wurde. So imaginiert Seghers zum Beispiel Liau Yen-kai, einen der chinesischen Protagonisten des Romans, als Teil eines neuen sozialistischen Chinas: „Jetzt sitzt [Chiang Kai-shek], endgültig geschlagen, auf der Insel Formosa, notdürftig von den Amerikanern am Leben erhalten. Liaus Heimat ist die gewaltige, unteilbare chinesische Volksrepublik.“¹³⁵ Ein solche Zukunft hatte Seghers freilich zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans in dessen erzählter Welt nicht gestaltet; sie war höchstens in ihrer „Selbstanzeige“ zum Roman durch die Formulierung,
Vgl. in diesem Zusammenhang die Funktion von Figuren als Übermittler von Botschaften und als Botschaften selbst: Marike Janzen: Writing to Change the World. Anna Seghers, Authorship, and International Solidarity in the Twentieth Century. Rochester 2017, S. 56 – 59. Die Explizierung dieser Dimension geht laut Christiane Zehl Romero mit einer „revisionistischen“ Reduktion vor allem der ungarischen Emigranten auf eine kommunistische Politik einher; vgl. Romero: Anna Seghers, S. 145. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 94 f. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 95.
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3 Montage und Internationalismus
dass „hinter dem Untergang de[r] Ausweg [ge]spürt“¹³⁶ werden solle, als Rezeptionshorizont angelegt. Die zeitliche Strukturierung des sozialistischen Internationalismus als Erfahrung des Ankommens in einer globalen politischen Heimat, die in den Paratexten suggeriert wird, ist dem Roman selbst jedoch weitestgehend fremd, nur retrospektiv mit ihm verbunden. Sie wird von der spezifischen Zeit- und Raumerfahrung von Exil und Emigration, die den Roman als Folge seiner Produktionsgeschichte auch in seiner erzählten Welt prägt, sichtbar destabilisiert. Edward Said hat in seinem Essay „Reflections on Exile“ die Zeiterfahrung des Exils als den unumkehrbaren Verlust eines Vergangenen verstanden, als „the loss of something left behind forever“ bzw. als „a condition of terminal loss“.¹³⁷ Dieser „disorienting loss“¹³⁸ präge die Beziehung zur auch räumlichen Gegenwart und Zukunft, insofern er biografische, sprachliche und kulturelle Kontinuität unterbreche, den Einzelnen aus seiner gewohnten „communal habitation“¹³⁹ löse und zu einem Leben außerhalb des Gewohnten führe, indem das habituell und reflexiv Erinnerte ein Ankommen an einem neuen Ort immer wieder aufs Neue problematisch mache: „Exile is life led outside habitual order. It is nomadic, decentred, contrapuntal; but no sooner does one get accustomed to it than its unsettling force erupts anew.“¹⁴⁰ Seghers verfolgt diese Problematik des verunmöglichten Ankommens nun vor allem hinsichtlich der aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Protagonisten ihres Romans und weniger anhand ihrer proletarischen Figuren.¹⁴¹ Zwar begegnen wir auch in dieser sozialen Gruppe solchen Figuren, wie zum Beispiel dem geflohenen, früheren ungarischen Studenten Böhm, die es durch politischen Aktivismus oder affektive Bindungen schaffen, in ihrer neuen Umgebung „eingewurzelt“¹⁴² zu sein. Jedoch gelingt auch Böhm ein solches Ankommen nur, indem und solange er sich nicht mit dem durch politische Verfolgung und Flucht unwiederbringlich Verlorenen konfrontieren muss: „Seitdem er hier lebte und eingewurzelt war, vermied er es, auf die Vergangenheit zu stoßen, als drohe ihm
Seghers: Selbstanzeige, SGW 13, S. 7. Edward Said: Reflections on Exile. In: Edward Said: Reflections on Exile and Other Essays. Cambridge 2000, S. 173. Said: Reflections on Exile, S. 181. Said: Reflections on Exile, S. 177. Said: Reflections on Exile, S. 186. Vgl. ähnlich Sigrid Bock: Historische Bilanz als Moment der Auseinandersetzung mit der faschistischen Gefahr. Anna Seghersʼ Roman „Die Gefährten“. In: Weimarer Beiträge 26 (1980), H. 11, S. 19. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 203.
3.5 Weltliterarischer Internationalismus nach den Niederlagen der Revolutionen
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von dort eine Gefahr.“¹⁴³ Weit häufiger sind in Die Gefährten Protagonisten, wie etwa Böhms ehemaliger Universitätsprofessor Bató, für welche die Erfahrungen von Diskontinuität und Entortung das Ankommen an einem neuen Ort gänzlich unmöglich zu machen scheinen. Batós Gegenwartserfahrung ist durch das Problematischwerden familiärer, freundschaftlicher, beruflicher und politischer Bindungen und Artikulationen bestimmt, die sich gegen die Erinnerung an eine Vergangenheit abheben, in der diese an einem anderen Ort intuitiv gegeben waren. Sein Leben, für das er in einer abweisenden Stadtlandschaft keinen Orientierungspunkt findet, erscheint Bató als Zusammenhangslosigkeit: Er war in einen schrecklichen Hohlraum hineingeraten, das spürte er in diesem Winter jeden Tag mehr. „Seit ich von Wien fort bin, sind meine Freunde von mir abgebröckelt. Meine Familie ist nur eine Zufallsfamilie. Meine Stelle auf der Redaktion ist nur eine Zufallsstelle. In der deutschen Partei habe ich keine Arbeit. Meine Kraft hat wohl bloß ausgelangt, mich vom Alten loszureißen, nicht im Neuen einzuwurzeln. Deshalb kann ich auch nicht mehr schreiben, keinen einzigen Satz mehr.“ […] Er wischte mit dem Ärmel die angelaufene Scheibe. Seine Blicke begannen verzweifelt eine nutzlose Sucherei durch endlose Reihen von Laternen, Dächer auf und ab, durch ein Gestrüpp flammender Lichtbuchstaben.¹⁴⁴
Zwar ist Die Gefährten durchgehend auf die Weltrevolution perspektiviert, in welcher die Protagonisten und Protagonistinnen eine Zugehörigkeit zu finden hoffen, wie sie etwa Böhm in der Berliner Arbeiterbewegung zumindest temporär und lokal empfindet. In der erzählten Zeit des Romans bleibt eine solche vermeintlich universalisierbare Lösung für die Erfahrungen eines durch Verfolgung und Flucht entstandenen, unumkehrbaren Verlustes von Zugehörigkeit jedoch weitestgehend ausgesetzt. Das verhinderte Ankommen problematisiert dabei die teleologische Struktur, die den Paratexten der Neuausgabe des Romans in der DDR unterliegt. Sie tut dies im gleichen Maße, in dem sie auch eine primär auf die Zukunft gerichtete und im Modus des utopischen Schreibens sich ereignende Internationalismusimagination verunmöglicht, wie wir sie teilweise bei Jung finden. Deshalb bestimmt sich internationalistische Zugehörigkeit in Die Gefährten auch nicht – wie in der paratextuellen Erwähnung des Protagonisten Liau Yen-kai, dessen „Heimat […] die gewaltige, unteilbare chinesische Volksrepublik“¹⁴⁵ geworden sei – durch die Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation oder einem Staatsgebilde. Internationalistische Zugehörigkeit existiert im Roman, wie ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels zeigen werde, vielmehr in nur
Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 203. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 161 f. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 95.
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temporärer, interpersonaler Intimität, die Seghers mit der titelgebenden Rede von einer Gefährtenschaft benennt. Diese kann jedoch immer bereits im nächsten Moment schwinden. Zugehörigkeit ist lediglich zeitlich limitiert zu haben. Was bleibt ist das, was Said als „a discontinuous state of being“¹⁴⁶ bezeichnet hat. Diese Zeit- und Raumerfahrung des Exils, die den Roman als Ganzen charakterisiert, wird zum Beispiel durch die erlebte Rede Batós deutlich, mit der die gerade zitierte Stelle von Seghers fortgesetzt wird: „Was ist das eigentlich für eine Angst? Woher kommt sie? Den ganzen Abend über war es leichter, noch eben war es leichter, unter der Laterne mit meinem Genossen. Genügt das denn, daß man auf einen Autobus springt, um wieder allein zu sein?“¹⁴⁷ Das Ankommen in einer „Heimat“, das sich Seghers in den 1950er Jahren für Liau Yen-kai vorstellte, bleibt den meisten internationalistischen Akteuren ihres Romans verwehrt. Prägte die Erfahrung des Exils die Temporalität des literarischen Internationalismus der Gefährten, so war für Seghers die Begegnung mit vor allem ungarischen Emigranten ausschlaggebend für die Entwicklung eines politischen Internationalismus sowohl in ihren literarischen Werken als auch in ihren kulturpolitischen Aktivitäten. Laut Seghers waren es die nach dem Ende der ungarischen Räterepublik nach Deutschland geflohenen Emigranten und Emigrantinnen, zu denen neben ihrem zukünftigen Ehemann zum Beispiel auch Karl Mannheim und Georg Lukács gehörten, die „mir die Augen für viele politische Vorgänge, für den Klassenkampf [öffneten]“.¹⁴⁸ Eine solche internationalistische Politisierung traf bei Seghers jedoch auf einen bereits bestehenden biografischen Kosmopolitismus und poetischen Transkulturalismus. Ersterer fand zum Beispiel Gestalt im Aufwachsen in einer international vernetzten, jüdischen Kunsthändlerfamilie in Mainz, wodurch Reisen zu prägenden Kindheits- und Jugenderfahrungen wurden, sowie durch ihr Studium der Sinologie in Heidelberg. Ihr poetischer Transkulturalismus, den Helen Fehervary herausgearbeitet hat,¹⁴⁹ erstreckt sich von den in ihrem Schreiben dargestellten Orten, die die Grenzen einer nationalen Topografie sprengen, über ästhetische Einflüsse, welche von der ostasiatischen Kunst über die nordeuropäische Renaissance zu jüdischen Sagen reichen, bis zur paratextuellen Selbstrepräsentation ihrer Texte, laut der zum Beispiel „Die Toten auf der Insel Djal“ (1924) aufgrund „[e]iner Sage aus dem
Said: Reflections on Exile, S. 177. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 162. Zitiert nach Romero: Anna Seghers, S. 144. Vgl. Fehervary: Anna Seghers. The Mythic Dimension; Fehervary: Der China-Komplex in Seghers’ Roman Die Gefährten.
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Holländischen [n]acherzählt“¹⁵⁰ wird. Biografischer Kosmopolitismus und poetischer Transkulturalismus können als das fortdauernde Fundament betrachtet werden, auf dem sich Seghers politischer Internationalismus seit Mitte der 1920er Jahre entwickelte. Zum Zeitpunkt der Niederschrift von Die Gefährten war Seghers innerhalb der transnational vernetzten Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Weltliteratur verortet. Dem im Text der Gefährten dargestellten Internationalismus der Arbeiterbewegung entsprach eine internationalistische, weltliterarische Praxis jenseits des literarischen Textes. So nahm Seghers, die 1928 in die KPD eingetreten war und sich im gleichen Jahr dem gerade gegründeten BPRS angeschlossen hatte, im November 1930 am II. Internationalen Kongress proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow teil, einer Art von Veranstaltung, die sie laut ihrer Biografin Christiane Zehl Romero „als internationale Gemeinschaftserfahrung suchte und liebte“.¹⁵¹ Sie war also bei einem der zentralen Ereignisse der sich transnational verstetigenden Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur zugegen. Die Gefährten selbst wurde nicht nur im Verlagshaus Kiepenheuer veröffentlicht, sondern auch als Band der kommunistischen Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle, die der Bildung einer internationalistischen Weltliteratur dienen sollte. Ein Auszug aus dem Roman erschien zudem 1932 vorab in Die Linkskurve und trug so zu dem in dieser Zeitschrift des BPRS praktizierten weltliterarischen Internationalismus bei.¹⁵² Dass Seghers sich auf verstetigte Institutionen der internationalistischen Weltliteratur sowohl auf nationaler Ebene, wo gegen Ende der Weimarer Republik eine kommunistische Gegenkultur mit Verlagshäusern, Zeitschriften, Buchklubs und Schriftstellerorganisationen bestand, die zumindest teilweise von der KPD unterstützt wurden, als auch auf transnationaler Ebene beziehen konnte, wo durch die Sowjetunion internationale Kongresse und der IVRS gefördert wurden, markiert einen zentralen Unterschied zum historischen Moment, in dem sich Jung in der frühen Weimarer Republik für das Entstehen einer internationalistischen Weltliteratur engagierte. Zudem trat Seghers als Theoretikerin internationalistischer Weltliteratur durch ihren Text „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ öffentlich in Erscheinung. Dieser wurde im September 1932 in Die Linkskurve publiziert und gehört zusammen mit dem bereits erwähnten Auszug aus Die Gefährten und einigen literarischen Beiträgen in der Roten Fahne zu Seghersʼ internationalistischen In Anna Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. In: Anna Seghers: Erzählungen 1924– 1932. Werkausgabe. Bd. II.1. Hg. v. Helen Fehervary u. Bernhard Spies. Berlin 2014, S. 5. Romero: Anna Seghers, S. 147. Anna Seghers: Frauendemonstration. In: Die Linkskurve 4 (1932), H. 4, S. 16 f.
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terventionen in wichtigen kommunistischen Medien der Weimarer Republik in den Jahren 1932 und 1933.¹⁵³ Im Gegensatz zu Jung, der in den Formen des Essays und der Rezension über internationalistische Weltliteratur nachdachte, nutzte Seghers die literarische Form des Dialogs, der sie sich bereits im Januar 1932 in einem in der Roten Fahne erschienenen Text über Lenin bedient hatte.¹⁵⁴ In einem dokumentarischen Gestus entwirft „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ ein fiktionales Gespräch zwischen einer deutschen Schriftstellerin namens S. und einer chinesischen Genossin L. Im Text geht es um das uns bereits aus Joe Frank illustriert die Welt bekannte Problem, wie das Wissen über ein Ereignis aus seinem lokalen und nationalen Kontext in einen anderen lokalen und nationalen Kontext vermittelt werden kann. Expliziter als Jung ist Seghers jedoch mit der Frage literarischer Form beschäftigt: Welche Bedeutung kommt in diesem Vermittlungsprozess einer bestimmten Form literarischen Schreibens zu? Der Text beharrt von Beginn an darauf, dass es für das Gelingen einer solchen Wissensvermittlung notwendig ist, sich literarische Produktion als transkulturelle Kooperation innerhalb der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur vorzustellen und als solche zu praktizieren.¹⁵⁵ Indem sich Seghers der literarischen Form des Dialogs bedient, modelliert sie eine solche Kooperation für die Lesenden. „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ beginnt mit der sich durchgehend pädagogischer Rhetorik bedienenden deutschen Schriftstellerin, in welcher laut Weijia Li „Seghersʼ literaturpädagogische[ ] Praxis im Rahmen ihrer Beschäftigung im BPRS“,¹⁵⁶ durch die sie unerfahrene Schriftsteller und Schriftstellerinnen unterstützte, eine literarische Gestalt findet. In der dargestellten Kooperation, die der Text als eine nachzuahmende Praxis inszeniert,¹⁵⁷ geht es so nicht nur um die Vermittlung von Erfahrungen und Fakten, sondern ebenso um die Vermittlung eines Wissens davon, was richtiges weltliterarisches Schreiben ist, ein Schreiben also, das eine internationalistische Weltbeziehung herstellt. Während die chinesische Kommunistin im Gespräch Wissen über die kulturelle und soziale Situation in Schanghai an ihre deutsche Dialogpartnerin übermitteln soll, berät die deut-
Beide Beiträge in der Roten Fahne beschäftigen sich mit China: Schü Yin/Anna Seghers: 1. Mai Yanschuhpou. In: Die Rote Fahne, 1. Mai 1932; Anna Seghers: Der Last-Berg. In: Die Rote Fahne, 12. Januar 1933. Vgl. Anna Seghers: Wer war das eigentlich? Gespräch mit einem Kind über Lenin, SGW 13, S. 17– 25. Eine ähnliche These vertritt Janzen: Writing to Change the World, S. 1– 3. Li: China und China-Erfahrung, S. 95 f. Diese Aufforderung zur Nachahmung wird besonders durch den letzten Satz des Textes deutlich, der die Lesenden aufgrund seiner appellativen Rhetorik zum Handeln (also z. B. zum Schreiben) auffordert. Vgl. Anna Seghers: Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt, SGW 13, S. 32.
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sche Schriftstellerin S. ihre chinesische Genossin darin, wie dieses Wissen in eine literarische Form gebracht werden kann, durch die sich die deutschen Lesenden mit der chinesischen Situation identifizieren können: Also, wir sollen eine Beschreibung der Ersten-Mai-Ereignisse in Schanghai machen. Wir müssen uns da gegenseitig helfen. Du, die du dabei warst und die Wirklichkeit ganz genau kennst, mußt dich an das Wesentliche erinnern. Wir müssen es dann für jeden deutschen Genossen gegenwärtig darstellen. Jedem muß es dabei bewußt werden, daß der 1. Mai auf der ganzen Welt gemeinsam gefeiert wird, daß er aber in jedem Land anders gefeiert wird.¹⁵⁸
Der Text soll also den Ersten-Mai-Feiertag als ein internationalistisches Ereignis der Arbeiterbewegung literarisch herstellen, das weit voneinander entfernte Orte wie Schanghai und Deutschland miteinander verbindet. Ähnlich wie bei Jung kommt so dem weltliterarischen Text die Funktion zu, den Lesenden eine internationalistische Weltbeziehung zu ermöglichen. Der Text soll etwas kulturell und geografisch Fernes als „gegenwärtig“ erzeugen und die Zusammengehörigkeit von unterschiedlichen Ereignissen „bewußt“ machen. Die von Seghers durch Kursivsetzung hervorgehobenen Adverbien „anders“ und „gemeinsam“ weisen darauf hin, dass der Erste Mai-Feiertag durch die internationalistische Weltliteratur keineswegs als homogenes Ereignis imaginiert werden soll. Vielmehr geht es um die literarische, in der Rezeption einzuholende Konstruktion einer Spannung zwischen der Erfahrung kultureller Verschiedenheit – dass nämlich der Erste Mai in Schanghai eben „anders gefeiert“ wird als etwa in Berlin – und transnational und -kulturell geteilten Praktiken der Arbeiterbewegung, die es ermöglichen, dass der Erste Mai am gleichen Tag an unterschiedlichen Orten gefeiert wird, und die so die Erfahrung einer vorgestellten Gemeinschaft ermöglichen, die über sprachliche, kulturelle und nationale Grenzen hinweg durch die politische Imagination der Arbeiterbewegung erzeugt wird (zum Beispiel durch die internationalistische Weltliteratur oder Demonstrationspraktiken). In dieser vorgestellten Gemeinschaft wird der Erste Mai „gemeinsam gefeiert“ bzw. das gemeinsame Feiern trägt zur Erzeugung dieser vorgestellten Gemeinschaft bei. Seghers sieht nun allerdings kulturelle Differenz keineswegs als potentielles Hindernis für das Entstehen internationalistischer Solidarität oder die Anerkennung transnational geteilter Erfahrungen, Einstellungen und Interessen, auf denen solche Solidarität aufbaut. In internationalistischer Weltliteratur geht es nach Seghers gerade darum, kulturelle Alterität beschreibend zu konkretisieren. Zum Beispiel bittet die deutsche Schriftstellerin ihre chinesische Genossin wiederholt,
Seghers: Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt, SGW 13, S. 26. Hervorhebung im Original.
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ihre Beschreibung eines proletarischen Viertels in Schanghai und des Interieurs der Wohnung einer dort lebenden Arbeiterin so zu spezifizieren, dass diese für die deutschen Arbeiter in ihrer kulturellen Besonderheit „gegenwärtig“ werden. Erst auf der Grundlage einer solchen realistischen, d. h. hier kulturspezifischen, Beschreibung eines Milieus kann es zur internationalistischen Solidarisierung kommen. Der Text muss den Lesenden das Verbindende in der und durch die Differenz hindurch anschaulich machen. In der literarischen Form des Gesprächs, das eine orale Kommunikationssituation nachbildet und dabei gerade auch durch die Präsenz von Fragen und Aufforderungen zur weiteren Konkretisierung des Beschriebenen beiträgt, inszeniert „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ das Entstehen einer internationalistischen Weltbeziehung als dialogischen Prozess, in dem kulturelle Besonderheiten nicht eingeebnet werden: Unsre Beschreibung soll den Leser in seiner Mitfeier am 1. Mai bestärken – das wird er aber nur, wenn er im Lesen spürt, daß der 1. Mai Weltfeiertag ist, von allen gefeiert und von allen verschieden gefeiert und eben dadurch Weltfeiertag. In Schanghai geschieht eine andere Aktion als in Berlin, und Janshupu sieht anders aus als der Wedding. Wie sieht es denn aus, dieses Janshupu?¹⁵⁹
Die Lektüre des literarischen Textes soll also auch in dem Sinne eine internationalistische Weltbeziehung jenseits des Textes herstellen, als sie zur Partizipation der Lesenden in kollektiven Praktiken im sozialen Raum – der „Mitfeier am 1. Mai“ – beitragen soll. Die virtuelle Gemeinschaft, die durch die Lektüre erzeugt wird, geht also in eine vorgestellte Gemeinschaft im Sinne Benedict Andersons über, die durch geteilte soziale Praktiken jenseits ihrer körperlichen Begrenztheit verbunden ist.¹⁶⁰ Grundlage einer solchen internationalistischen Weltbeziehung ist neben der Wiedererkennung von politischen Praktiken und Ritualen in anderer Gestalt die Wahrnehmung einer durch den literarischen Text gestalteten, transnational geteilten proletarischen Erfahrung und Lebenswirklichkeit. Die simultane Hervorbringung von Verschiedenheit und Ähnlichkeit durch eine möglichst detailgetreue Beschreibung soll eine schon vorausgesetzte außerliterarische Erfahrung literarisch reproduzieren, globalisieren und auf diese Weise eine reflexive und affektive internationalistische Weltbeziehung herstellen: In jedem Raum, den wir beschreiben, sind zwei Elemente enthalten: das Unterschiedliche und das Verbindende. So verschieden von unsren eigenen Vorstellungen eines Zimmers das Zimmer der chinesischen Genossin sein mag, das Bündel aus Müdigkeit ungewaschener
Seghers: Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt, SGW 13, S. 26 f. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Revised Edition. London/New York 1991, S. 5 – 7.
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Wäsche liegt auch in unsrem Zimmer. Verstehst du auch hier den Zusammenhang mit unserer Aufgabe? 1. Mai, Weltfeiertag – gemeinsame, überall verschieden durchgeführte Aktion?¹⁶¹
Der Publikation von „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ in der SeptemberAusgabe der Linkskurve ging die Veröffentlichung des Textes „1. Mai Yanschuhpou“, von dessen Entstehung „Kleiner Bericht auf meiner Werkstatt“ vorgeblich berichtetet, um einige Monate voraus. „1. Mai Yanschuhpou“ erschien am 1. Mai 1932 in der Roten Fahne und trug zur internationalistischen Imagination des Ersten Mai in der Tageszeitung der KPD bei, in der an diesem Tag zum Beispiel auch Korrespondenzen zum Ersten Mai aus Japan und der Sowjetunion sowie das Berliner Demonstrationsprogramm erschienen. Diese sollten das Ereignis in seiner globalen und lokalen Dimension für das kommunistische Lesepublikum greifbar machen. Seghers beginnt den letzten Absatz von „1. Mai Yanschuhpou“ in diesem Sinne mit der Zeile: „Die Arbeitergarde singt die Internationale, alle singen mit.“¹⁶² Die Autorschaft des Textes ist mit Schü Yin und Anna Seghers angegeben, wobei es im Text zusätzlich eine Figur mit dem Namen Schü Yin gibt. Während der Text sich also durch die doppelte Autorschaft als Resultat einer transkulturellen Kooperation im Rahmen eines geteilten politischen Projektes präsentiert, erzeugt die Namensidentität von Mitautorin und Figur einen Authentizitätseffekt, der das literarisch Berichtete als wirklich inszeniert.¹⁶³ Die historische Person, die hinter der Mitautorin steht, ist in der Forschung umstritten und lässt sich nicht eindeutig bestimmen.¹⁶⁴ Es scheint daher produktiver zu sein, über dieses Problem im Sinne Weijia Lis nachzudenken, der argumentiert hat, „dass sich Schü Yin als die Mitautorin nicht auf eine bestimmte Person bezieht, sondern eher auf eine Gruppe von chinesischen Revolutionären, durch die Seghers die Anregung und die Informationen für ihre literarische Gestaltung der Organisierung des Arbeiterstreiks in Schanghai erhielt“.¹⁶⁵ Was den Lesenden in „1. Mai Yanschupou“ dann begegnet, ist eine von Seghers konstruierte Kollektivstimme, deren Narration und Deskription sie nach den in „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ entwickelten Kriterien für eine gelingende internationalistische Weltliteratur gestaltet, was u. a. daran deutlich wird, dass Absätze in beiden Texten einander entsprechen. Dieser Kollektivstimme ist zudem Anna Seghersʼ Seghers: Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt, SGW 13, S. 30 f. Hervorhebung im Original. Yin/Seghers: 1. Mai Yanschuhpou. Für eine auf der Analyse der historischen Situation in China, mit der sich Seghers im Text beschäftigt, basierenden Problematisierung der vermeintlichen Authentizität des Geschilderten vgl. Li: China und China-Erfahrung, S. 88 – 91 u. S. 95. Vgl. Li: China und China-Erfahrung, S. 92– 95. Li: China und China-Erfahrung, S. 94.
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eigene Perspektive eingeschrieben, insofern der Text entsprechend der von ihr entwickelnden Kriterien gestaltet wird. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass „1. Mai Yanschupou“ durch eine bestimmte Beschreibung die Rezeptionsweise erzeugen soll, die in „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ diskutiert wird. Sowohl durch „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ als auch durch „1. Mai Yanschuhpou“ inszenierte Seghers eine weltliterarische Kooperation innerhalb der transnational verbundenen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung, die kulturelle und sprachliche Grenzen transzendierte. Diese Vorstellung eines kooperativen Schreibens internationalistischer Weltliteratur konnte von Seghers jedoch in der historischen Wirklichkeit der Weimarer Republik nicht praktisch verwirklicht werden. Ihr Versuch, gemeinsam mit einer chinesischen Schriftstellerin namens Schü Kreug einen Roman über chinesische Frauen zu verfassen, wurde nicht realisiert.¹⁶⁶ Allerdings sind „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ und „1. Mai Yanschuhpou“ mit dem zur gleichen Zeit entstehenden Roman Die Gefährten dadurch verbunden, dass alle drei Texte auf Gesprächen basieren, die erst durch die transnational vernetzten Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung möglich wurden. Dialoge über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg sind deshalb grundlegend für Seghersʼ welterzeugende literarische Imagination. Wie Joe Frank illustriert die Welt wäre Die Gefährten ohne die Zirkulation von Wissen und Erfahrungen in diesen Gegenöffentlichkeiten undenkbar. Internationalistische Weltliteratur ist damit eine Produktionsbedingung dieser Texte.
3.6 Montage, modernistischer Realismus und die transnationale Moderne der Arbeiterbewegung Meine Hauptthese über Seghersʼ Die Gefährten lautet, dass der Roman durch sein Montageverfahren den Lesenden eine internationalistische Weltbeziehung ermöglicht und zugleich eine transnationale Moderne der Arbeiterbewegung literarisch entwirft.¹⁶⁷ In dieser Hinsicht ähnelt Seghersʼ Roman Jungs Joe Frank illustriert die Welt, der Montage einsetzt, um eine internationalistische und kollektivistische Subjektformation anzuregen. Deshalb lässt sich auch Die Gefährten
Vgl. Romero: Anna Seghers, S. 246. Im Vorwort zur Neuauflage des Romans in der DDR hat Seghers retrospektiv das Ziel der Erzeugung einer internationalistischen Weltbeziehung bei den Lesenden ausdrücklich mit dem Roman in Verbindung gebracht: „Vielleicht werden all diese jungen Menschen, die sich treue ‚Gefährten‘ sind, ohne einander zu kennen, auch den Lesern des Buches zu treuen Gefährten.“ Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 95.
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mit einer Umfunktionierung des von Bronner benannten „modernist impulse“¹⁶⁸ in Verbindung bringen, insofern der Roman durch seine Anbindung an die Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung die grundlegende Transformation von Wahrnehmung und Erfahrung auf der Basis ästhetischer Verfahren mit der Umgestaltung gesellschaftlicher Institutionen und Praktiken in Beziehung setzte. Indem ich diese These verfolge, weise ich zugleich auf eine von Seghers selbst nicht thematisierte Dimension ihres internationalistischen Schreibens hin. In „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ diskutiert sie nämlich lediglich, wie eine internationalistische Weltbeziehung durch eine bestimmte Form der Beschreibung erzeugt werden soll, nicht jedoch, welche Rolle modernistische Verfahren wie die Montage für die Erzeugung einer solchen Weltbeziehung spielen.Während Seghers in „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ über das Verhältnis von Internationalismus und kultureller Spezifik nachdenkt, werde ich durch die Konzentration auf das Montageverfahren des Romans zeigen, dass durch diese Form ein Wissen über Ungleichzeitigkeiten innerhalb einer sich globalisierenden Arbeiterbewegung erzeugt wird.¹⁶⁹ Im Roman findet sich somit eine kritische Ausdifferenzierung der Temporalität – oder besser: der Temporalitäten – des Internationalismus, welche die Imagination einer progressiven, homogenen und teleologischen Entwicklungslogik der kommunistischen Weltrevolution weiter verkompliziert; letztere wird in den Gefährten freilich zudem durch die von mir bereits thematisierte Zeiterfahrung des Exils destabilisiert. Die Beobachtung, dass Seghers sich in Die Gefährten – und mithin in anderen Erzähltexten der Weimarer Republik wie Aufstand der Fischer von St. Barbara und Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft (1930) – modernistischer Verfahren bedient, ist nun keineswegs neu.¹⁷⁰ In der Forschung ist dabei besonders auf die Nähe von Die Gefährten zum Werk John Dos Passosʼ, insbesondere zu dessen Großstadtroman Manhatten Transfer (1925), zu Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) und zu den Schnitt- bzw. Montagetechniken der sowjetischen Filmavantgarde hingewiesen worden (insbesondere der Name Sergei Ei-
Bronner: Modernism at the Barricades, S. 6. Durch meine Hervorhebung von Ungleichzeitigkeiten unterscheidet sich meine Diskussion des Romans von der Janzens, die lediglich von „shared time“ spricht: Writing to Change the World, S. 56. Zu Aufstand der Fischer von St. Barbara und Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft vgl. z. B. Katie Trumpener: On the Way to Socialist Realism. Teleology, Subject Formation, and Anna Seghersʼs „On the Way to the American Embassy.“ In: Rethinking MARXISM 7 (1994), H. 3, S. 45 – 52; Schaub: Aesthetics, Masses, Gender.
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senstein fällt immer wieder).¹⁷¹ Gerade im Vergleich mit Dos Passosʼ Roman ist augenscheinlich, dass es auch in Die Gefährten „kein kompositorisches Zentrum“ gibt und zwischen den „szenisch“ gestalteten Abschnitten der einzelnen Handlungsstränge keine „faktische Verbindung“ besteht.¹⁷² Die Montage des Romans schneidet, filmisch gesprochen, schnell und teilweise abrupt zwischen einzelnen Orten, Figuren und Handlungssträngen hin und her. Vor diesem Hintergrund möchte ich mit Blick auf Die Gefährten drei Präzisierungen des Verhältnisses des Romans zum (literarischen) Modernismus und dabei insbesondere zu Großstadtromanen wie denen von Dos Passos, Döblin oder auch James Joyce vorschlagen. Diese drei Punkte differenzieren meine Hauptthese weiter aus, dass der Roman den Lesenden eine internationalistische Weltbeziehung ästhetisch und thematisch durch sein Montageverfahren ermöglichen soll. Meine ersten beiden Punkte betreffen Aspekte der Verwendung von Montage bei Seghers im Unterschied zu den kanonischen Großstadtromanen der literarischen Moderne von Dos Passos, Döblin und Joyce und in Nähe zur sowjetischen Filmavantgarde. Erstens produziert Die Gefährten durch Montage kollektivierende und sinnstiftende Zusammenhänge. Dies bringt den Roman in eine Spannung zu den Werken der erwähnten Autoren, wo ein solcher Effekt nicht durch Montage produziert wird (und auch gar nicht produziert werden soll). Wie in seiner Rezension von Ulysses (1918 – 20/1922) deutlich wird, betrachtete Döblin Joyces Roman als symptomatisch für eine bestimmte Erfahrung der urbanen Moderne. Diese sei durch neue Medien, Reizüberflutung, die Dominanz un- und überpersönlicher „Gebilde“, Arbitrarität und Ephemeralität geprägt und war für Döblin freilich zugleich mit „der sogenannten Krisis des heutigen Romans“ verbunden: In den Rayon der Literatur ist das Kino eingedrungen, die Zeitungen sind groß geworden, sind das wichtigste, verbreitetste Schrifterzeugnis, sind das tägliche Brot aller Menschen. Zum Erlebnisbild der heutigen Menschen gehören ferner die Straßen, die sekündlichen wechselnden Szenen auf der Straße, die Firmenschilder, der Warenverkehr. Das Heroische, überhaupt die Wichtigkeit des Isolierten und der Einzelpersonen ist stark zurückgetreten, überschattet von den Faktoren des Staates, der Parteien, der ökonomischen Gebilde. Manches davon war schon früher, aber jetzt ist wirklich ein Mann nicht größer als die Welle, die ihn trägt. In das Bild von heute gehört die Zusammenhanglosigkeit seines Tuns, des Daseins überhaupt, das Flatternde, Rastlose.¹⁷³
Vgl. z. B. Albrecht: Die Erzählerin Anna Seghers, S. 216; Bock: Historische Bilanz als Moment der Auseinandersetzung mit der faschistischen Gefahr, S. 10 f. u. S. 29; Walter Delabar: Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik. Opladen/Wiesbaden 1999, S. 254; Romero: Anna Seghers, S. 218, S. 258 u. S. 264. Albrecht: Die Erzählerin Anna Seghers, S. 192, S. 230 u. S. 193. Alfred Döblin: „Ulysses“ von Joyce. In: Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Olten/Freiburg im Breisgau 1963, S. 288.
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Die von Döblin thematisierte Moderneerfahrung scheint dabei noch der Diagnose einer Erfahrung der „[Demolierung] alle[r] Vorstellungen vorgegebener und sinnverleihender Ordnung“¹⁷⁴ zugrunde zu liegen, auf der die Montagetheorien basieren, die im Rahmen der Frankfurter Schule entwickelt wurden und die dieses Kapitel mit Blick auf Jung und Seghers problematisiert. Bei „Epiker[n] der Montage“¹⁷⁵ wie Joyce, Dos Passos und Döblin fand eine solche Moderneerfahrung ästhetische Gestalt durch den „Verzicht auf eine eindeutige Perspektive des Erzählers“ und die Übersetzung der „Unübersichtlichkeit der Wahrnehmung und Erfahrung in eine Perspektivenvielfalt“;¹⁷⁶ durch eine „Gleichzeitigkeit im erzählten Nacheinander“;¹⁷⁷ durch „ein[en] fortwährende[n] Wechsel vom Bruchstück einer Handlung zum Bruchstück einer anderen“;¹⁷⁸ oder auch durch die abrupte und kontrastive Einfügung von „medialen Bruchstücke[n]“¹⁷⁹ in das Erzählte. Dass Seghersʼ Montage nun andere Effekte als die von Dos Passos oder Döblin erzielt, von denen Seghers formal beeinflusst war, hat bereits Siegfried Kracauer in einer der wenigen zeitgenössischen Rezensionen von Die Gefährten thematisiert: […] die Kompositionstechnik des Buchs, die von sich aus auf einen wesentlichen Gehalt hinweist. Lauter kürzere Szenen sind sprunghaft aneinander gereiht […]. Andere Autoren haben in ihren Büchern den häufigen Orts- und Handlungswechsel zu dem Zweck vorgenommen, um das sinnlose Nebeneinander in der Welt auch formal zu illustrieren. Hier dagegen verfolgt das mosaikartige Verfahren gerade die umgekehrte Absicht, das sinnvolle Ineinandergreifen von Vorgängen darzutun, die sich an mannigfaltigen Punkten ereignen. Die stets neue Veränderung der Szene soll mittelbar die Öde der gewohnten bürgerlichen Schauplätze enthüllen und die Einheitlichkeit einer die Welt umspannenden Bewegung bezeugen.¹⁸⁰
Kracauers Besprechung trifft den Kern von Seghersʼ Montageverfahren und verfehlt ihn zugleich. Kracauer hat dort recht, wo er den Unterschied zu Dos Passos und anderen markiert und auf die sinnstiftende wie kollektivierende Dimension von Seghersʼ Poetik einer sich in der globalen Moderne entwickelnden Arbeiter-
Adorno: Ästhetische Theorie, S. 229. Möbius: Montage und Collage, S. 431. Möbius: Montage und Collage, S. 431. Möbius: Montage und Collage, S. 432. Möbius: Montage und Collage, S. 439. Möbius: Montage und Collage, S. 440. Siegfried Kracauer: Eine Märtyer-Chronik von heute. In: Siegfried Kracauer: Schriften. Bd. 5.3. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 1990, S. 149.
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bewegung hinweist. Er täuscht sich allerdings, insofern er diese Dimension mit „Einheitlichkeit“ identifiziert, woran dann zum Beispiel auch Sigrid Bock angeschlossen hat, die in den verschiedenen Handlungssträngen von Die Gefährten gar ein „gemeinsames ‚Grundgesetz‘“¹⁸¹ erkannt haben will. Wie dieses Kapitel zeigt, geht es in Die Gefährten keineswegs um die literarische Erzeugung einer homogenen Moderne der internationalistischen Arbeiterbewegung – eine Repräsentation von Moderne, welche dann in einer binären Opposition zur „Unabgeschlossenheit [und] Offenheit der Romanwelt[en]“¹⁸² von Joyce, Döblin und Dos Passos stünde und deren Polyzentrismus und Komplexität durch narrativen und weltanschaulichen Zentralismus und Vereinfachung ersetzte. Durch sein sinnstiftendes und kollektivierendes Montageverfahren produziert Seghersʼ Roman vielmehr den brüchigen Zusammenhang einer internationalistischen Arbeiterbewegung, die zugleich durch soziale Ähnlichkeiten und politische Verbindungen sowie durch kulturelle Differenzen und historische Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet ist. Die zweite Eigenschaft, die das Montageverfahren von Die Gefährten von dem der kanonisierten Großstadtromane der literarischen Moderne unterscheidet, ist der durch die Montage erzeugte Gegenstandsbereich. Dies betrifft nicht einmal primär die Tatsache, dass der Roman in seiner Fokussierung auf die Arbeiterbewegung eine andere proletarische Welt herstellt als Berlin Alexanderplatz oder Manhattan Transfer, die eine von weit weniger politisierten und gar apolitischen Proletariern und Proletarierinnen bevölkerte Moderne imaginieren. Der entscheidende Aspekt ist stattdessen folgender: Nutzt Manhattan Transfer Montageverfahren, um „die Stadt als ‚Schauplatz des Nebeneinander‘“¹⁸³ darzustellen, funktioniert Seghers dieses Verfahren so um, dass es ein „Nebeneinander“ von Städten (und ländlichen Räumen) in der globalen Moderne erzeugt, die ästhetisch durch die Montage und thematisch durch die Arbeiterbewegung verbunden sind. Während Autoren wie Dos Passos oder Döblin Montage verwenden, um der Komplexität einer einzelnen Metropole wie New York oder Berlin Gestalt zu geben, wird sie in Die Gefährten zur Imagination einer komplexen, transnationalen, urbanen sowie ländlichen Moderne genutzt. Dies markiert freilich auch eine Transformation der Verwendung von Montage im Werk von Seghers selbst. In Aufstand der Fischer von St. Barbara hatte sie dieses Verfahren noch eher punktuell sowie abgelöst von einem urbanen Kontext genutzt und es dann in Auf dem
Bock: Historische Bilanz als Moment der Auseinandersetzung mit der faschistischen Gefahr, S. 12. Möbius: Montage und Collage, S. 444. Möbius: Montage und Collage, S. 439.
3.6 Montage, modernistischer Realismus und die transnationale Moderne
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Weg zur amerikanischen Botschaft zur Darstellung eines konfliktreichen Ineinander von Bewusstsein und äußerer Wirklichkeit einerseits und dem Nebeneinander des Erlebens verschiedener Figuren andererseits innerhalb einer Großstadt verwendet.¹⁸⁴ Mein dritter Punkt lautet, dass Seghersʼ Roman, ähnlich wie Jungs Werke, eine Form des modernistischen Realismus entwickelt, der ohne die für große Teile des literarischen Modernismus und der historischen Avantgarden so typische Skepsis gegenüber der Erkennbarkeit und Repräsentierbarkeit der historischen Wirklichkeit auskommt. Seghers begriff sich in der Tat als realistische Schriftstellerin, die in ihrem realistischen Schreiben allerdings Gebrauch von avancierten literarischen Techniken machte, die gemeinhin eher mit der literarischen Hochmoderne und den historischen Avantgarden verbunden werden. Wie Katie Trumpener hinsichtlich Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft treffend formuliert hat, handelt es sich bei Seghers um „a socialist writer whose ‚realism‘ is […] imbued with the techniques of high modernism […], self-consciously noting its strategies and redirecting its insights“.¹⁸⁵ Für Seghers stellte es ein Problem dar, wenn die literarische Technik dem Gegenstand nicht angemessen war. In einer 1927 erschienenen Besprechung des russischen Romans Zement (1925) warf sie dessen Autor Fjodor W. Gladow in diesem Sinne vor, dass er „über den akuten und dringenden Gegenstand mit dem Schreibzeug [schreibe], das von gestern auf seinem Schreibtisch liegen geblieben ist […]“.¹⁸⁶ Im Briefwechsel mit Georg Lukács, der im Sommer 1939 im Rahmen der sogenannten Expressionismus-Debatte in der Zeitschrift Internationale Literatur erschien,¹⁸⁷ argumentierte Seghers dann auch – ähnlich wie Bertolt Brecht etwa zur gleichen Zeit¹⁸⁸ – gegen eine Normästhetik, die den Realismus insbesondere des neunzehnten Jahrhunderts gegen die historischen Avantgarden ausspielte.¹⁸⁹ Stattdessen bezog sie im Dialog mit Lukács Stellung für eine Pluralität realistischer Schreibweisen:
Diese Großstadt scheint selbst eine Art Montage von Elementen verschiedener europäischer Metropolen zu sein. Vgl. Romero: Anna Seghers, S. 313. Trumpener: On the Way to Socialist Realism, S. 46. Anna Seghers: Revolutionärer Alltag, SGW 13, S. 6. Zum Entstehungskontext vgl. Robert Cohen: Expressionismus-Debatte. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Fritz Haug. Hamburg 1997, S. 1173. Vgl. z. B. Bertolt Brecht: Notizen über realistische Schreibweise. In: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.1. Hg. v. Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1993, S. 620 – 640. Obgleich der Briefwechsel zeitlich auf Die Gefährten folgt und unter den Bedingungen des Exils und eines zu diesem Zeitpunkt weniger offenen Feldes internationalistischer Weltliteratur geschrieben wurde, ist es dennoch plausibel, ihn hier zu diskutieren. Erstens formuliert er nämlich aus, was in der Gladkow-Rezension bereits angedeutet worden war; zweitens entspre-
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Da fürchte ich, daß eine Verengung eintritt, wo von Dir selbst eben Raum gewonnen wurde, nach der andern Seite: an Fülle und Farbigkeit in unsrer Literatur. Ich fürchte, daß man vor eine Alternative gestellt wird, wo es gar nicht um Entweder-Oder geht, sondern in diesem Fall um die Zusammenfassung, um eine starke vielfältige antifaschistische Kunst, an der alle teilhaben, die als Antifaschisten und Schriftsteller dazu qualifiziert sind.¹⁹⁰
Zu dieser heterogenen antifaschistischen Literatur gehörten für Seghers ganz ausdrücklich auch modernistische Texte, die Lukács als „Formexperiment[e]“¹⁹¹ abgetan hatte. Namentlich verteidigte sie Döblin und Dos Passos.¹⁹² Seghers Position bewegte sich dabei jenseits jener binären Opposition zwischen realistischen und modernistischen Schreibweisen, die beginnend mit Lukácsʼ literaturtheoretischen Interventionen im Rahmen der Linkskurve und dann vor allem mit der Proklamation der Doktrin des sozialistischen Realismus im Jahre 1934 diskursiv das Feld der kommunistischen Literatur bestimmte.¹⁹³ Die ästhetischen Neuerungen von Autoren wie Döblin und Dos Passos sind für Seghers symptomatisch für einen sich literaturgeschichtlich gerade in gesellschaftlichen Krisenzeiten ereignenden Prozess, durch den Literatur ihre Bezugnahme auf die Wirklichkeit transformiert, um sich wieder realistisch auf Wirklichkeit beziehen zu können. Literarischer Modernismus ist nicht als Gegensatz zum Realismus zu betrachten, sondern als eine neue Form einer realistischen Weltbeziehung, durch die die vom Künstler „scheinbar unbewußt und unmittelbar auf[genommene]“¹⁹⁴ Wirklichkeit „wieder bewußt“¹⁹⁵ gemacht werde: Diese Realität der Krisenzeit, der Kriege usw. muß also erstens ertragen, es muß ihr ins Auge gesehen und zweitens muß sie gestaltet werden. […] Solche Krisenzeiten sind in der Kunstgeschichte von jeher gekennzeichnet durch jähe Stilbrüche, durch Experimente, durch sonderbare Mischformen, nachher kann dann der Historiker sehen, welcher Weg der gang-
chen die von Seghers ausgearbeiteten Positionen ihrer literarischen Praxis der Weimarer Republik. Anna Seghers/Georg Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács. In: Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden. Bd. 2. Hg. v. Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 130. Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 117. Vgl. Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 116 f. Vgl. Georg Lukács: Über Willi Bredels Romane. In: Die Linkskurve 3 (1931), H. 11, S. 23 – 27; Georg Lukács: Reportage oder Gestaltung? Kritische Bemerkungen anläßlich eines Romans von Ottwalt. In: Marxismus und Literatur: Eine Dokumentation in drei Bänden. Bd. 2. Hg. v. Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 150 – 158; Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland, S. 597– 609. Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 111 f. Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 112.
3.6 Montage, modernistischer Realismus und die transnationale Moderne
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bare geworden ist. Damit meine ich nicht, daß Fehlschläge und Leerläufe unbedingt sein müssen. Ich zweifle nur, ob manche Versuche überhaupt Leerläufe waren.¹⁹⁶
Döblin und Dos Passos verwenden laut Seghers im Gegensatz zu Gladkow ein neues „Schreibzeug“,¹⁹⁷ um über eine neuartige historische Situation zu schreiben. Dadurch nähern sie sich der Wirklichkeit an: Beim Schaffen eines Kunstwerks, wie bei jeder menschlichen Aktion, ist das Maßgebende die Richtung auf die Realität, und dabei gibt es, wie Du auch sagst, keinen Stillstand. Doch was Du als Zerfall ansiehst, kommt mir eher wie eine Bestandaufnahme vor; was Du als Formexperiment ansiehst, wie ein heftiger Versuch eines neuen Inhalts, wie ein unvermeidlicher Versuch.¹⁹⁸
Modernistische Schreibweisen können deshalb als solche verstanden werden, die „auf die Realität“ gerichtet sein können und die eben nicht notwendig von dieser abgewandt sein müssen. Mit anderen Worten: Sie stellen Versuche dar, eine neue historische Situation mit angemessenen formalen Mitteln literarisch zu gestalten.Vor diesem Hintergrund kann das Montageverfahren von Die Gefährten als Experiment begriffen werden, durch welches Seghers – wie durch eine bestimmte Form der Beschreibung – eine „Bewußtmachung der Wirklichkeit“¹⁹⁹ erzeugen und durch das sie eine brüchige internationalistische Welt zur Darstellung bringen will, die zugleich ein literarisches Zeugnis von den Erzählungen der diasporischen Gemeinschaften in Deutschland ablegt. Realistisch ist ihr Roman dann, weil er, um eine bestimmte Wirklichkeit zu bezeugen, historische Referentialität und die Annahme der Möglichkeit der literarischen Repräsentierbarkeit dieser geschichtlichen Wirklichkeit zusammenbringt; modernistisch-realistisch ist der Roman, weil er sich für diesen „Schritt auf die Realität zu“²⁰⁰ eines modernistischen Verfahrens bedient. Wenn Montage als ein Verfahren der Erzeugung einer bestimmten Weltbeziehung verstanden werden kann, insofern es den Lesenden eine internationalistische Wirklichkeit „gegenwärtig“²⁰¹ macht und sie zur Positionierung in dieser Wirklichkeit auffordert, dann wird diese transnationale Moderne der Arbeiterbewegung durchaus auch von Figuren im Roman im Sinne einer internationalistischen Weltbeziehung vorgestellt. Die vom modernistischen Realismus des
Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 113. Seghers: Revolutionärer Alltag, SGW 13, S. 6. Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 117. Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 115. Seghers/Lukács: Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács, S. 114. Seghers: Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt, S. 26.
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3 Montage und Internationalismus
Textes produzierte Weltbeziehung hat also eine Entsprechung in der erzählten Welt des Romans. Ähnlich wie das Montageverfahren Städte textlich miteinander verknüpft, verbindet der in Berlin lebende Chinese Liau Han-tschi Städte durch das Bild einer sie verbindenden proletarischen Straße, die keine nationalen Grenzen kennt: Die kahle, kärgliche, unabsehbar lange Straße schien rund um die ganze Erde, um alle Städte gewunden. Das grelle Gekreisch einer Drehorgel in einem Schwarm entzückter Kinder begleitete sie gleichfalls rundum von Anfang bis Ende. Überall war sie gesäumt von Fenstern voll erschöpfter, ins Abendlicht blinzelnder Gesichter, von Gruppen breitbeiniger Proleten, streitend um das Brot und den Sinn des vergangenen und des morgigen Tages.²⁰²
Während Seghers Montage von Offenheit und Unabgeschlossenheit geprägt ist, implizieren Liau Han-tschis Gedanken eine Vollständigkeitsphantasie, die der Logik einer letztlich den ganzen Planeten einnehmenden Weltrevolution entspricht, insofern die Straße den gesamten Globus und alle seine Städte umfasst. Die Globalitätsimagination der Form des Romans stimmt so nicht mit der den einzelnen Figuren zugeschriebenen überein. In der Art und Weise, wie die Straße beschrieben wird, entspricht diese Weltimagination Liau Han-tschis allerdings durchaus den von Seghers in „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ entwickelten Kriterien für eine literarische Beschreibung, die durch die Spannung von Ähnlichkeit und Differenz eine internationalistische Weltbeziehung ermöglichen soll. Situiert das Bild der Drehorgel die Straße in der sozio-kulturellen Spezifik des proletarischen Berlins der Weimarer Republik bzw. im zeitgenössischen Bilderreservoir seiner kulturellen Imagination,²⁰³ deutet die eher typisierende Beschreibung von Proletariern als „erschöpft“ oder „breitbeinig“ auf eine transnational durch Arbeit geprägte, an allen Orten ähnliche Erfahrung hin. Eine solche Beschreibungsstrategie ist darüber hinaus zum Beispiel auch für die im Roman als paradigmatisch für proletarische Räume erscheinenden Gassen festzustellen, in denen verschiedene Stadien sozialer und politischer Befreiung eine räumliche Vergegenständlichung finden;²⁰⁴ ebenso für die wiederholt beschriebenen überfüllten Wohnungen, Zimmer oder Baracken, in denen sich unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen der Arbeiterbewegung bilden;²⁰⁵ und schließlich für die Präsenz von Portraits von Parteiführern und Parteiführerinnen als Bestandteil von Interieurs, an denen Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 189. Die Drehorgel ist allgegenwärtig in filmischen Repräsentationen des proletarischen Berlins. Es sei nur auf Slatan Dudows Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (1932) verwiesen. Vgl. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 148 u. S. 254. Vgl. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 121 f.
3.6 Montage, modernistischer Realismus und die transnationale Moderne
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sich bestimmte kulturelle und geografische Verortungen in der globalen Arbeiterbewegung ablesen lassen.²⁰⁶ Über diese Spannung von Ähnlichkeit und Differenz hinaus umfasst die proletarische Moderne des Romans kulturelle Hybridisierungen, die in „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ keine Erwähnung finden. In einer Berliner Wohnung, in der der kommunistische Student Sun Fo-li mit der deutschen Familie Balke wohnt, entsteht ein Ineinander von deutscher und chinesischer Politik, Alltagskultur und Wissen: Mit dem kleinen Studenten war eine Flut chinesischer Bücher und Zeitungen über die Familie hereingebrochen, die ihre Betten, ihre Tische und Stühle und ihr Plüschsofa überflutete. […] Fo-li krempelte seine Ärmel hoch und half der Frau, ein Abendessen nach seinen Angaben richten. Die Jüngere bändigte mit zwei dünnen Holzstäbchen die auf der Pfanne tanzenden Kohlblätter. Fo-lis zweijährige Anwesenheit in diesen Wänden hatte die ganze Familie verändert, wie ein Tropfen Tinte einen Eimer Flüssigkeit färbt.²⁰⁷
Die von Seghers entworfene Moderne der Arbeiterbewegung ist außerdem durch Streiks, Demonstrationen, klandestinen Aktivismus, politische Repression und Gefangenschaft gekennzeichnet, wobei Städte und besonders proletarische Viertel Orte politisierter Massen, Zentren des aktivistischen Wissensaustausches sowie Räume von Politisierung sind: In den Zeiten der Streiks und Demonstrationen sickerte es glühend aus den gewundenen rußigen Gassen der Nordvorstadt. In diesen Hütten begann man das Leben, indem man als Knabe ein rotes Fähnchen auf einen Telegrafenmast spießte, und sich von einem Streik zum andern, von einem verbotenen Aufmarsch zum andern ins Zuchthaus hineinkämpfte.²⁰⁸
Wird die transnationale Moderne der Arbeiterbewegung also als Zeitraum von Kollektiven dargestellt, nimmt der Roman vor allem durch die bereits diskutierten Emigranten und Emigrantinnen, die sein Figurenensemble dominieren, auch Erfahrungen von Entortung und Einsamkeit – und damit zentrale Motive des modernistischen Großstadtdiskurses²⁰⁹ – in seine Repräsentation einer transnationalen Moderne der Arbeiterbewegung auf. Diese Spannung, die im Roman zwischen sozialer Fragmentierung und individueller Isolation einerseits und
Vgl. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 178 u. S. 190. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 190. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 246. Vgl. Raymond Williams: Metropolitan Perceptions and the Emergence of Modernism. In: Raymond Williams: Politics of Modernism. Against the New Conformists. Edited and introduced by Tony Pinkey. London/New York 1989, S. 39 – 41.
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kollektiven Praktiken und positiven Gemeinschaftserfahrungen andererseits besteht, unterscheidet die Großstadtdarstellung von Die Gefährten von Romanen wie Berlin Alexanderplatz oder Ulysses sowie von den zeitgleich mit Seghersʼ Text entstehenden und ebenfalls im Kontext kommunistischer Literaturpolitik publizierten Roten Eine-Mark-Romanen, welche eine radikal lokale Stadtimagination mit der narrativen Affirmation einer unanzweifelbaren emotionalen und weltanschaulichen Heimat verbinden, die die Protagonisten und Protagonistinnen in den Organisationen der KPD finden.²¹⁰
3.7 Internationalistisches Multiversum: Montage und Ungleichzeitigkeit Die in Kracauers Rezension des Romans angelegte und in diesem Kapitel wieter ausformulierte These, dass das Montageverfahren in Die Gefährten kollektivierende, Sinnzusammenhänge stiftende Effekte produziert, die es von kanonischen Montageromanen der literarischen Moderne unterscheidet, muss vor dem Hintergrund einer doppelten raumzeitlichen Bewegung von Seghersʼ Montage ausdifferenziert werden. Das Kollektiv des Romans ist kein homogenes und das weltrevolutionäre Fortschrittsnarrativ, das der Roman auf gebrochene Weise entfaltet, ist kein homogenisierendes. Während die Montage sich nämlich kontinuierlich zwischen in verschiedenen Städten und ländlichen Regionen stattfindenden Ereignissen hin- und herbewegt, schreitet sie zugleich chronologisch vom Scheitern der ungarischen Räterepublik zu den Kämpfen zwischen revolutionären und konterrevolutionären Kräften im China der frühen 1930er Jahre voran. Geografisch bewegt sich der Roman also von mitteleuropäischen zu ostasiatischen Räumen. Einerseits parallelisiert der Roman so chronologisches Fortschreiten und räumliche Ausdehnung. Die Lesenden verfolgen, wie sich die kommunistische Bewegung immer weiter global ausbreitet: von Europa nach Asien. Anderseits produziert die Montage ein kontinuierliches Nebeneinander von Ereignissen und Räumen, das eine gleichzeitige Entwicklung verschiedener internationalistischer Kämpfe an unterschiedlichen Orten zeigt. Internationalismus entwickelt sich also nicht erst an einem Ort und dann infolgedessen an einem anderen, sondern gleichzeitig an vielen Orten. Zumindest tendenziell unterläuft diese ästhetische Organisation eine lineare und homogenisierende Fortschrittserzählung, in welcher sich die Moderne der Arbeiterbewegung von einem raumzeitlichen
Vgl. Michael Rohrwasser: Saubere Mädel – Starke Genossen: Proletarische Massenliteratur? Frankfurt 1975.
3.7 Internationalistisches Multiversum: Montage und Ungleichzeitigkeit
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Punkt aus zu einem anderen globalisieren würde. Mit anderen Worten: Kraft seiner ästhetischen Form ist Seghersʼ Roman die Problematisierung einer Konzeption des Internationalismus eingeschrieben, die Internationalismus im Sinne einer Diffusionslogik begreift, in der eine sich global entfaltende und vereinheitlichende gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Entwicklung angenommen wird. In diesem Zusammenhang ist zudem wichtig, dass die Erzählung des Romans diejenigen Nationalstaaten ‚provinzialisiert‘²¹¹, die seit dem Manifest der Kommunistischen Partei und mindestens bis zur Oktoberrevolution im Zentrum weltrevolutionärer Hoffnungen und geschichtsphilosophischer Entwicklungsmodelle standen, also Deutschland, England, Frankreich und die U.S.A. Was für Seghers entscheidend ist, findet anderswo statt: etwa in Bulgarien, Italien und China.²¹² Die Gefährten, so meine These, entwirft die geteilte Moderne der internationalistischen Arbeiterbewegung als ein „Multiversum“,²¹³ das in Anlehnung an Ernst Bloch als von Ungleichzeitigkeiten und Polyphonie geprägt verstanden werden kann. In seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie (1963) hat Bloch versucht, den Fortschrittsbegriff zugleich gegen die Annahme einer homogenisierenden, universellen Entwicklung und gegen Kulturrelativismus zu verteidigen. Auf Überlegungen und Vokabular aus Erbschaft dieser Zeit (1935/62) aufbauend, worin Bloch Ungleichzeitigkeiten in den sozialen und kulturellen Entwicklungen verschiedener Klassen in der Weimarer Republik für eine Erklärung des Entstehens des Nationalsozialismus angeführt hatte,²¹⁴ geht es Bloch nun viel grundlegender darum, das „Einlinige[ ]“²¹⁵ des Fortschrittsbegriffs zu problematisieren. Dieses bringe durch seinen Zwang zu einem „bloße[n] Nacheinander“ die verschiedenen Wertigkeiten von vorgeblich in Isolation zueinander existierenden und sich entwickelnden sogenannten „Kulturkreisen“ erst hervor.²¹⁶ In Anlehnung an Au-
Ich entlehne den Begriff von Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. With a new Preface by the Author. Princeton/Oxford 2007. Dies gilt selbst dann, wenn Figuren Westlichen Staaten wie Deutschland die Eigenschaft zuschreiben, Zentren revolutionären Wissens zu sein, das in andere Regionen vermittelt werden müsse. So erklärt Sun Fo-Li seinem Genossen Liau Han-tschi: „Hier kannst du viel lernen. Deutsche Parteiarbeit, wie man Menschen zusammenhält. […] Wer von uns nach dem Westen fährt, hat die Pflicht, viel Wissen nach Hause mitzubringen.“ Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 191. Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Neue, erweiterte Auflage. In: Ernst Bloch: Gesamtausgabe. Bd. 13. Frankfurt a. M. 1970, S. 146. Vgl. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. In: Ernst Bloch: Gesamtausgabe. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1963, S. 104– 126. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 125. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 125.
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3 Montage und Internationalismus
gustinus und Hegel will Bloch an der gemeinsamen Zielrichtung der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung festhalten,²¹⁷ d. h. an „einem noch nirgends zureichend manifesten, wohl aber zureichend antizipierbaren Humanum“.²¹⁸ Die konzeptuelle Herausforderung, die sich für ihn dabei stellt, ist die Frage, wie man Ungleichzeitigkeiten und soziale wie kulturelle Differenzen beschreiben und erklären kann, ohne die Annahme eines „zusammenhängenden, Länder, Völker und Zeiten verbindenden Geschichtsablauf[s] selber“²¹⁹ aufgeben zu müssen. Bloch argumentiert so zumindest tendenziell für eine Art situierte sowie gesellschaftlich und kulturell pluralisierte Fortschrittstheorie, die historische und gesellschaftliche Ungleichzeitigkeiten, kulturelle und soziale Differenzen mit globaler Verbundenheit und Universalität zusammendenken können soll: Es ist darum […], eine Art Raumzuschuß in der historischen Zeitlinie zu erwägen – gänzlich ohne die interessierte Statik des Geographismus. Es ist mit anderen Worten zu erwägen, ob nicht innerhalb der völlig prozeßhaft gehaltenen Geschichtsfolge mindestens soviel gleichzeitige oder zeitlich benachbarte Schauplätze nötig und darstellbar sind, wie etwa, um Reinliches zu haben, in der epischen Kunst.²²⁰
Laut Bloch ist die epische Kunst in der Lage, das „Ineinandergreifen“²²¹ von Vorgängen an verschiedenen Schauplätzen darzustellen, ohne dass diese im Sinne einer gleichzeitigen und homogenen Entwicklung repräsentiert würden und ohne dass dieses Ineinandergreifen notwendig auf einem historischen Faktum tatsächlicher Kommunikation beruhen müsste.²²² In der epischen Kunst sieht Bloch eine „vielstimmig zusammengehaltene Topisierung in universalhistorischer Darstellung“²²³ vorgebildet, „ein Multiversum“,²²⁴ welches in der Darstellung unter anderem auch ästhetischen und kulturellen Eigenzeiten gerecht werden kann, die von der standardisierten Zeit der Westlichen Moderne abweichen.²²⁵ Weil „[d]er Fortschritt selber […] in keiner homogenen Zeitreihe, [sondern] in verschiedenen unter-, übereinander liegenden Zeitebenen [abläuft]“,²²⁶ „braucht [der Fortschrittsbegriff] statt der Einlinigkeit ein breites, elastisches, völlig dy-
Vgl. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 126. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 147. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 127. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 128. Hervorhebung im Original. Kracauer: Eine Märtyer-Chronik, S. 149. Vgl. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 128. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 128. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 128. Hervorhebung im Original. Vgl. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 134 f. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 137.
3.7 Internationalistisches Multiversum: Montage und Ungleichzeitigkeit
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namisches Multiversum, einen währenden und oft verschlungenen Kontrapunkt der historischen Stimmen“.²²⁷ Und auch der „Zielinhalt“ dieses global geteilten Fortschritts bleibt für Bloch ein pluralisierter und polyphoner: Jeder Zielinhalt, auf den der wirkliche Fortschritt sich bezieht, den er befördert, muß ebenfalls als so reich und tief erkannt werden, daß die verschiedenen Völker, Gesellschaften, Kulturen auf der Erde – bei aller Einheitlichkeit ihrer ökonomisch-sozialen Entwicklungsstadien und deren dialektischer Gesetze – Platz an ihm haben und zu ihm hin.²²⁸
Wie Bloch in der Tübinger Einleitung in die Philosophie ist nun auch Seghers in Die Gefährten nicht an einer generellen Absage an den Fortschrittsbegriff interessiert. Als der Weltrevolution verpflichtete Internationalistin muss Seghers nämlich an einem wie auch immer gearteten Fortschrittsbegriff festhalten, also an der Annahme einer global geteilten und zugleich progressiven historischen Entwicklung. Die Ausgangspunkte des Nachdenkens von Bloch und Seghers über Fortschritt sind schon in dem Sinne vergleichbar, als ihren Texten ein Bewusstsein von den „Verluste[n] im Fortschreiten“²²⁹ eigen ist. Bloch betont zum Beispiel „die volle Entmenschlichung“ durch die während der Industriellen Revolution „begonnene Entfesselung der kapitalistischen Produktivkräfte“;²³⁰ Seghers beginnt ihren Roman, wie gezeigt, mit der Erzählung der gewaltsamen Auslöschung eines gewachsenen revolutionären Kollektivs in einem ungarischen Dorf und spürt dem Verlust von affektiven Bindungen durch Exil und Emigration nach. Darüber hinaus entspricht der ästhetische Effekt von Seghers Montage durchaus Blochs These über epische Kunst, insofern Die Gefährten die unterschiedlichen Entwicklungen eines internationalistischen Kampfes zeigt, der sich verschieden an unterschiedlichen Orten ereignet, jedoch in der geteilten Ausrichtung auf die Weltrevolution als ein gemeinsamer repräsentiert wird, ohne dass sich die Handlungsstränge des Romans und damit ihre jeweiligen Protagonistinnen und Protagonisten jemals begegnen würden. Das Montageverfahren erlaubt dem Roman also die Darstellung verschiedener Temporalitäten und sozialer wie kultureller Erfahrungen weltrevolutionärer Veränderung, die durch ihr ungleichzeitiges Nebeneinander nicht als Stufen einer homogenen, singularen Entwicklung erscheinen, sondern als Teile eines politisch, kulturell und gesellschaftlich viel-
Bloch: Tübinger Einleitung, S. 146. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 146. Hervorhebung im Original. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 118. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 118.
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stimmigen Multiversums der globalen Arbeiterbewegung.²³¹ Diese These kann durch die Analyse der vielleicht spektakulärsten Montage in Die Gefährten illustriert werden. Diese findet sich im ersten Abschnitt des neunten Kapitels des Romans und verbindet Demonstrationen in Bialystok und Moskau. Dabei verfolge ich zwei Argumentationsstränge, indem ich erstens zeige, wie Seghers eine vergeschlechtlichte Vielstimmigkeit in ihre Repräsentation des Internationalismus einschreibt, und zweitens herausarbeite, wie der Roman unterschiedliche weltrevolutionäre Temporalitäten in Bialystok und Moskau darstellt. Der Abschnitt, dessen erster Teil bereits in leicht anderer Form als Vorabdruck aus dem Roman – und im Unterschied zu diesem ohne Ortsnennung – unter dem Titel „Frauendemonstration“ im April 1932 in Die Linkskurve erschienen war,²³² beginnt am Rande der polnischen Stadt Bialystok, wo „[a]uf dem von vielen Schritten zerwühlten und zertretenen Platz aus dem unregelmäßigen Viereck anstoßender Fabrikhöfe […] etwa sechzig Frauen [warteten] – mit Kindern, wie die Parole gelautet hatte“.²³³ Das neunte Kapitel des Romans, das die Lesenden durch das Montageverfahren in weniger als drei Seiten ins Zentrum des kommunistischen Internationalismus transportieren wird, beginnt also in einem doppelten Sinne an Rändern der kulturellen Imagination der Arbeiterbewegung. Erstens gilt dies, weil der Abschnitt in den Vorstädten Bialystoks beginnt, von wo sich der Demonstrationszug dann „in das Innere der Stadt“²³⁴ bewegt. Die Passage hebt also eine im globalen Raum der Arbeiterbewegung im Vergleich zu Berlin oder Moskau eher marginale Stadt hervor. Zweitens rückt der Abschnitt Frauen ins Zentrum politischer Handlungsfähigkeit, welche auch in der zeitgenössischen Arbeiterbewegung vor allem männlich kodiert war. Dies gilt nicht nur, weil Frauen die Protagonistinnen dieses Abschnitts sind, sondern auch weil die Fabrikhöfe, die den Stadtraum dezidiert als proletarisch kodieren, um einen zentralen Platz angeordnet sind, auf dem sich Frauen und Kinder befinden. Die Frauen werden also sowohl narrativ als auch bildlich ins Zentrum proletarischer Politik und Kultur gerückt. Die Gefährten schließt in diesem Aspekt an Aufstand der Fischer von St. Barbara an, wo Seghers bereits versucht hatte, den politischen Aktivismus von Fischerinnen in die literarische Repräsentation der proletarischen Massen einzuschreiben.²³⁵ Dabei kommt es in Die Gefährten genau wie in Aufstand
Ich stimme deshalb Bocks These nicht zu, dass es in Seghersʼ Roman zu einer Einebnung der Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen und lokalen Situationen komme.Vgl. Bock: Historische Bilanz als Moment der Auseinandersetzung mit der faschistischen Gefahr, S. 30. Vgl. Seghers: Frauendemonstration. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 251. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 252. Vgl. Schaub: Aesthetics, Masses, Gender, S. 183 – 188.
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der Fischer von St. Barbara zu einer Neuimagination der Art und Weise, wie Kollektive von Frauen dargestellt werden. Die Demonstration wird als von anderen Demonstrationszügen verschieden repräsentiert. Sie bewegt sich „mit federndem, gewöhnlichen Demonstrationen unähnlichem Gleichschritt“. Zugleich geben „[d]ie hellen, aber von Frost und Müdigkeit gedämpften Stimmen und das Gequietsche der Kinder […] eine wunderliche Art von Lärm [ab], gewöhnlichen Demonstrationen unähnlich“.²³⁶ Die Gefährten pluralisiert also die Repräsentation proletarischer Massen, deren vergeschlechtlichte Dimension in dieser Passage körperlichen und akustischen Ausdruck findet. Dabei ist wichtig, dass Seghers das Kollektiv der polnischen Arbeiterinnen von einer seit Gustave Le Bons La psychologie de foules (1895) in Europa vorherrschenden Imagination der Masse abgrenzt, in der die Masse als „endowed with stereotypical female qualities such as adaptability, irrationality, and emotionality“²³⁷ vorgestellt wird. Die Masse der Frauen bewegt sich in Die Gefährten im Gegensatz dazu „[s]chweigend“²³⁸ und geordnet vorwärts. Die Attribute der Irrationalität und Unkontrolliertheit werden als sexistische Projektionen vorgeführt, indem die Arbeiterinnen von Passanten als „[d]iese verrückten Weiber“ bezeichnet und von Polizisten als „ihr besessenen Weiber“ beschimpft werden.²³⁹ Zugleich wird in dieser Passage der Gegenstandsbereich des Internationalismus über die industrielle Lohnarbeit hinaus, auf welche zu Beginn des Abschnittes die Fabrikhöfe anspielen, zu reproduktiver Arbeit erweitert. Die Demonstration endet vor dem Stadthaus Bialystoks, wo die Frauen ihre schreienden Kinder auf der Treppe niederlegen und Unterstützung vom Staat fordern. Die Szene artikuliert also die soziale Frage anhand der von Frauen verrichteten Kinderbetreuung. Die binäre Unterscheidung zwischen reproduktiver Arbeit und Lohnarbeit unterminierend, rücken diese Frauen Dimensionen ihrer Arbeit aus dem privatisierten in den öffentlichen Raum. Indem die Montage in diesem Moment von Bialystok nach Moskau schneidet, wird reproduktive Arbeit zum Gegenstand des Internationalismus der Arbeiterbewegung gemacht. Arbeiterinnen werden als Trägerinnen von sichtbarer und unsichtbarer, von öffentlicher und privatisierter, von bezahlter und unbezahlter Arbeit und als politische Akteurinnen in das vom Roman konstruierte internationalistische Kollektiv eingeschrieben. Dies steht durchaus in Spannung zur historischen Marginalisierung von Arbeiterinnen als politischen Akteurinnen im Diskurs der Arbeiterbewegung der Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 251. Sabine Hake: Topographies of Class. Modern Architecture and Mass Society in Weimar Berlin. Ann Arbor 2008, S. 88. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 252. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 252.
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3 Montage und Internationalismus
Weimarer Republik, bezeugt aber den tatsächlichen Aktivismus von Arbeiterinnen.²⁴⁰ In der Montage bleibt dann auch eine Lücke zwischen dem Anliegen der Arbeiterinnen in Bialystok und den offiziellen Feierlichkeiten in Moskau, wo es keineswegs um reproduktive Arbeit geht. Die Montage stellt also eher die Forderung an die Lesenden, sich Internationalismus inklusiver vorzustellen, als dass sie vorgibt, eine vermeintlich inklusive Wirklichkeit der internationalistischen Arbeiterbewegung zu beschreiben. Ehe die Polizei den Platz abgesperrt hatte, waren sie vor dem Stadthaus angelangt. Die Dombrowski nahm der Frau das Kind ihrer Schwester aus dem Arm und legte es blitzschnell auf die Treppe. Im Nu war die ganze Treppe von zappligen, heulenden Kinderbündeln bedeckt, sie streuten ihre Zettel darüber: „Gib ihnen zu fressen, Staat, wir haben nichts, gib du, laß sie saugen, Marschall.“ Die Frauen stoben auseinander, drängten sich unter die Menschen. Die Polizei knüppelte aufs Geratewohl und schrie und drohte: „Ihr gottverfluchten Weiber! Holt ihr wohl gleich eure Bälge ab!“ Irgendwo aus der Menge schnarrte ein hartes, rauhes Lachen, als schleife man Eisen auf Stein. * Bis zum heutigen Tag hatte Janek rote Fahnen nur herauswachsen sehen aus dunklen hartnäckigen Menschenmassen, im höchsten Augenblick, unter dem Geknatter von Schüssen. Oder in den schwachen Händen von Knaben auf der Spitze von Telegrafenmasten unter dem großen leeren Himmel über der drohenden Stadt. Heute verzehrte die Stadt eine freudige Feuersbrunst. Auf den Dächern drehten sich Scheinwerfer und blendeten das Innerste der Stadt auf, das letzte Rot aus verborgenen Fenstern und Torbogen. Schon lag hinter ihnen der Kremlplatz, dunkel, fast einsam, während die Lebenden weiterstapften durch den Schnee, zusammengefroren mit ihren Fahnen, deren Tücher vor Kälte steif und massig waren. Von den Tribünen hinunter in die Masse, als schleuderten sie Steine von einer Brücke, warfen Redner die Parolen des Tages, die Größe des sozialistischen Aufbaus, den Fünfjahresplan, die Einheit der Partei.²⁴¹
Obgleich die zwei Teile dieser Montage durch die ihnen gemeinsamen Motive der urbanen Masse und der politischen Demonstration verbunden sind, scheint es sich auf den ersten Blick um eine Kontrastmontage zu handeln, die vor allem Differenz und nicht Gemeinsamkeit betont. Die Montage schneidet von einem Ort proletarischer Erhebung zu dem Ort, an dem die kommunistische Revolution erfolgreich gewesen ist und der nun das Zentrum der internationalistischen Bewegung darstellt. Sie schneidet von einem Ort, an dem die proletarischen Revo-
Vgl. Florence Hervé: Brot und Frieden – Kinder, Küche, Kirche. Frauenbewegung in der Weimarer Republik. In: Geschichte der deutschen Frauenbewegung. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Hg. v. Florence Hervé. Köln 1987, S. 125 f.; Rosemarie Nave-Herz: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. Opladen, S. 46 u. S. 49. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 252 f.
3.7 Internationalistisches Multiversum: Montage und Ungleichzeitigkeit
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lutionärinnen an den Rand der Stadt gedrängt sind und wo das Stadtzentrum Raum einer Klassenkonfrontation ist, zu einem Ort, wo das „Innerste der Stadt“ kommunistisch dominiert wird. Sie schneidet von einem Protest zu einer Feier. Es würde nun allerdings eine Fehllektüre sein, zu behaupten, dass Seghers einen einfachen Kontrast zwischen Bialystok und Moskau konstruiere. Die Montage pluralisiert nämlich mindestens die Art und Weise, wie Massen in der politischen Imagination der internationalistischen Arbeiterbewegung kodiert werden. Wichtiger ist jedoch, dass der Montage die zeitliche Struktur einer revolutionären Veränderung eingeschrieben ist, die zwei sich simultan ereignende unterschiedliche Gegenwarten umfasst und von einem in der angenommenen welthistorischen Entwicklung potentiell Vergangenen auf ein potentiell Zukünftiges verweist, welche beide im von Ungleichzeitigkeiten geprägten Multiversum der sich globalisierenden Arbeiterbewegung gleichzeitig gegenwärtig sind: die Wirklichkeit des Aufstandes und der Repression in Bialystok sowie die Wirklichkeit der erfolgreichen Revolution in Moskau. In der Diegese des Romans ereignen sich diese zwei Szenen simultan. In einem metaphorischen Sinne evoziert die Montage jedoch auch historischen Fortschritt, indem sie vorführt, wie die zwei Städte innerhalb der internationalistischen Arbeiterbewegung miteinander verbunden sind, und indem sie das andeutet, was schließlich ein Ergebnis des Protestes in Bialystok sein könnte. Die Montage hat damit nicht nur eine synchrone, sondern auch eine diachrone, weltgeschichtliche Dimension. Die komplexe zeitliche Struktur der Montage wird auch anhand des aus Polen nach Moskau geflohenen Protagonisten Janek deutlich, durch den beide Orte in einer Person verbunden sind. Rote Flaggen bisher lediglich als Zeichen politischen Kampfes kennend, erfährt er diese in Moskau nun als Symbole einer postrevolutionären Zukunft, welche durch eine in feierliches Rot gekleidete Stadt verkörpert wird. Die Gegenwart, der Janek in Moskau begegnet, ist eine noch weit entfernte Zukunft, eine bloße Möglichkeit für Dombrowski und ihre Genossinnen in Polen und damit auch für Janek; eine Zukunft also, die global noch unrealisiert ist. Janeks Welterfahrung ist deshalb durch eine doppelte Zeiterfahrung charakterisiert. Er erfährt sich in seiner persönlichen Gegenwart zugleich als Teil eines welthistorisch potentiell Vergangenen und eines potentiell Zukünftigen. Auf diese Weise produziert die Montage zugleich eine global geteilte Zeitlichkeit, die sich auf die proletarische Weltrevolution zubewegt, und Ungleichzeitigkeiten, die die lokalen und nationalen Erscheinungen der internationalistischen Arbeiterbewegung in ihrer Differenz zueinander markieren. Die Bewegung der Montage endet dementsprechend auch nicht im Moskauer Stadtzentrum, sondern kehrt in einen der paradigmatischen proletarischen Räume des Romans, die Gasse, zurück, dorthin also, wo die räumliche Poetik des Romans den Anfang sozialer Transformation verortet. Die Gasse ist ein Raum, der
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eher der proletarischen Gegenwartserfahrung in Polen als dem Stadtzentrum Moskaus entspricht: Später stand Janek allein im Dunkel einer Gasse. Der nächtliche Schnee gewann die Oberhand. Die Fahnen erloschen. Kleine Kolonnen kehrten mit ihren Gewehren und Transparenten in die Betriebe zurück. Janek schloß sich einem Trupp an, Gassen auf und ab.²⁴²
Zugleich schreibt der Roman durch Janeks Präsenz in Moskau dem Triumphalen der Stadt die Erfahrung von „Verluste[n] im Fortschreiten“²⁴³ ein, die das Werk Blochs und Seghersʼ gleichermaßen prägt. Janeks persönliche Erinnerung an den gestorbenen Mann der Dombrowski schließt im Moment der Siegeserfahrung an das an, was im Kampf um Fortschritt unwiederbringlich verloren gegangen ist: Neben Janek ging einer, das Gewehr über der Schulter, die Züge von Frost fast ausgelöscht. Janek dachte an Dombrowski. Der konnte nie so neben ihm gehen, das Gewehr über der Schulter, auf seinem dunklen Gesicht einen Schimmer von Genugtuung. Eine Tagesreise hätte gelangt, und Dombrowski wäre unter dem hölzernen Torbogen auf der Grenze durchgefahren. Aber sein Leben war im Gefängnis zu Ende gelaufen […].²⁴⁴
Die Ungleichzeitigkeiten bzw. die verschiedenen Temporalitäten, die das Multiversum der internationalistischen Arbeiterbewegung charakterisieren, werden also vom Roman nicht säuberlich auf unterschiedliche Territorien verteilt, sondern sie sind gleichzeitig am selben Ort präsent. Die Gewalt und der Verlust, die mit historischem Fortschritt einhergehen, eine zeitliche Perspektivierung auf ein tatsächlich oder potentiell Vergangenes, das Die Gefährten als Roman charakterisiert, sind noch in Seghersʼ Schilderung der Moskauer Feierlichkeiten eingelassen: „Heute verzehrte die Stadt eine freudige Feuersbrunst. […] Von den Tribünen hinunter in die Masse, als schleuderten sie Steine von einer Brücke, warfen Redner die Parolen des Jahres, die Größe des sozialistischen Aufbaus, den Fünfjahresplan, die Einheit der Partei.“²⁴⁵ Die transnationale Moderne der Arbeiterbewegung, die durch das Montageverfahren von Seghersʼ Roman erzeugt wird, ist also keineswegs durch Homogenität charakterisiert. Stattdessen entwirft Die Gefährten diese Moderne als durch Ungleichzeitigkeit, Vielstimmigkeit und eine Spannung von Ähnlichkeit und Differenz gekennzeichnet, welche bereits Seghersʼ Nachdenken über inter-
Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 254. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 118. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 253 f. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 253.
3.8 Zugehörigkeit jenseits der Kommunistischen Internationale
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nationalistische Weltliteratur in „Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt“ charakterisiert hatte. Dieses Multiversum der internationalistischen Arbeiterbewegung soll nun im abschließenden Abschnitt vor allem mit Blick darauf weiter bestimmt werden, wie der Roman internationalistische Zugehörigkeit entwirft.
3.8 Zugehörigkeit jenseits der Kommunistischen Internationale Das internationalistische Kollektiv des Romans ist ein instabiles und keineswegs eines, das primär durch die politischen und kulturellen Organisationen der Kommunistischen Internationale entsteht, zusammengehalten oder verkörpert wird. Zugehörigkeit bestimmt sich im Roman vielmehr durch Formen von Intimität, die über die aktivistische und affektive Bindung von Individuen an politische Organisationen hinausgehen und sich im Spannungsfeld von politischer Arbeit und Solidarisierung, von freundschaftlichen und familiären Beziehungen und Verantwortlichkeiten sowie von körperlicher Nähe entfalten. Die Gefährten verfolgt damit eine Ausdifferenzierung der für die internationalistische Bewegung grundlegenden Annahme, dass eine transnationale Klassenerfahrung das Fundament der „emotionalen Gemeinschaft“ der globalen Arbeiterbewegung darstellt, d. h. einer Gemeinschaft, die sich durch diskursive wie emotional gelebte Normen formiert.²⁴⁶ In der Darstellung der intersubjektiven Beziehungen seiner Figuren spürt der Roman auf diese Weise verschiedenen Varianten einer Frage nach, die Seghers eine ihrer Figuren formulieren lässt: „Liau Yen-kai dachte: Warum ist mir dieser Mensch besonders teuer? Weil er mein Bruder ist? Weil er mein Genosse ist? Weil er alles zusammen ist?“²⁴⁷ Im Gegensatz zu der in Teilen der DDR-Forschung vertretenen Position, dass die verschiedenen nationalen kommunistischen Parteien und die Organisation der Kommunistischen Internationale im Zentrum der Handlung des Romans stehen,²⁴⁸ hat die neuere Forschung gezeigt, dass von einer solchen Zentrierung der internationalistischen Imagination des Romans auf die offiziellen Organisationen der kommunistischen Arbeiterbewegung keineswegs die Rede sein kann. Zwar werden Organisationen und Rituale der Arbeiterbewegung – von der Roten
Ich entlehne den Begriff emotional community von Barbara H. Rosenwein: Emotional Communities in the Early Middle Ages. Ithaca/London 2006, S. 24 f. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 219. Vgl. z. B. Albrecht: Die Erzählerin Anna Seghers, S. 216; Inge Diersen: Seghers-Studien. Interpretationen von Werken aus den Jahren 1926 – 1935. Ein Beitrag zu Entwicklungsproblemen der modernen deutschen Epik. Berlin 1965, S. 120.
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Armee über Gewerkschaftshäuser bis zu Parteitagen – im Verlaufe des gesamten Romans dargestellt und „die Partei“²⁴⁹ fungiert immer wieder als Bezugspunkt für die Protagonisten und Protagonistinnen, von der diese sich Orientierung und Lebenszweck erhoffen. Jedoch ist entscheidend, dass „die Partei […] aus dem Kern der Handlung rückt, die entscheidenden Situationen […] personal gedacht [sind]“²⁵⁰ und Seghers zwar „die Geschichte der kommunistischen Internationale [entwickelt], jedoch nicht die der 1919 gegründeten Komintern-Organisation und ihrer Funktionäre und Taktiken, sondern von Menschen, die diese Ideen lebten“.²⁵¹ Die Figuren erscheinen oft nur indirekt mit der Partei und der Kommunistischen Internationale verbunden, sind ihr gewissermaßen entrückt, während die symbolischen Praktiken des Internationalismus abgelöst von den verstetigten politischen und organisatorischen Strukturen der Arbeiterbewegung erscheinen. Hierfür ist das Singen der Internationale, das den Roman durchzieht und u. a. Momente der Niederlage wie der individuellen Widerständigkeit als Situationen einer prekär gewordenen weltrevolutionären Zukunftsperspektive kodiert,²⁵² ein besonders treffendes Beispiel. Statt den Singenden dazu zu dienen, einen Staat oder eine Partei symbolisch zu affirmieren und das eigene Wirken auf diese auszurichten, funktioniert die Internationale in Die Gefährten als symbolische Praxis, die ein prekäres, nur für die Dauer des Singens wirkmächtiges Zugehörigkeitsgefühl zwischen den Singenden schafft. Das dadurch entstehende Kollektiv ist ein instabiles, das seine Rituale improvisieren muss, sie nur „stock[end]“ vollziehen kann. Es ist zugleich jedoch ein Kollektiv, das die Internationale aus ihrer Darbietung in nur einer Nationalsprache löst und in eine multilinguale Praxis transformiert, welche ähnlich bereits im Manifest der Kommunistischen Partei und in Jungs weltliterarischen Publikationsphantasien antizipiert worden war: An einem Ende des kleinen Saales, vielleicht bei Faludi, beginnt die Internationale ungarisch. Aber bei der zweiten Strophe stockt es, die meisten können nur deutsch weiter. Man hört auch ein französisches „Formons-nous et demain“. Der kleine Papp vielleicht, der aus Paris kommt. Aber das Lied hält ihre zögernden, ungeschickten Stimmen beisammen bis zur letzten Strophe.²⁵³
Die Marginalisierung der Zentralität der Kommunistischen Internationale und der kommunistischen Parteien in der Imagination von Zugehörigkeit im Roman,
Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 135. Delabar: Was tun?, S. 252. Romero: Anna Seghers, S. 259. Vgl. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 102, S. 131 u. S. 156. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 244.
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die sich in von diesen Organisationen abgelösten symbolischen Praktiken zeigt, artikuliert sich zusätzlich in der bereits diskutierten polyzentrischen Organisation des Textes, in der es „kein kompositorisches Zentrum“²⁵⁴ gibt. Die Gefährten kann in diesem Sinne durchaus als skeptisches Komplement zu den eher propagandistischen, im Anschluss an Seghersʼ Reise durch die Sowjetunion nach dem Charkower Kongress etwa zeitgleich zum Roman entstandenen Texten wie „Zwangsarbeiter?“ (1931) und „Wer war das eigentlich? Gespräch mit einem Kind über Lenin“ (1932) gesehen werden, die unkritische Affirmationen des sowjetischen Fünfjahresplans bzw. der sowjetischen Richtlinien zur Kindererziehung darstellen.²⁵⁵ Für die Selbstidentifikation der Protagonistinnen und Protagonisten spielen die konkreten politischen Richtlinien der Komintern und ihrer nationalen Partei hingegen kaum eine Rolle; sie werden nicht einmal im politischen Diskurs der diegetischen Welt des Romans dargestellt. Für Seghers bedeutet also internationalistische Zugehörigkeit keineswegs nur eine Identifikation mit politischen Programmen und Organisationen. Vielmehr geht es ihr um eine Form affektiver Identifikation, um eine Produktion von Intimität. Diese hat Hunter Bivens mit Bezug auf die segherschen Begriffe der ‚Verbindung‘ und des ‚Vertrauens‘ anhand des Siebten Kreuz (1942) folgendermaßen beschrieben: Verbindungen then in Seghers’s sense are a form of intimacy that exceeds both the personal and the political […] The plot of [The Seventh Cross] thus relies on motifs that in their very intangibility were to become central to Seghers’s work in exile and in the GDR: the affective bond of Vertrauen, meaning trust, confidence, dependability, and increasingly a figure for a social solidarity that exceeds the territory of the narrowly political to invest the gewöhnliches Leben in a sense similar to Brecht’s development of the term Freundlichkeit, a willingness to „make common cause with whatever is unobtrusive but relentless like water,“ in other words to ally with the forces for change within the everyday.²⁵⁶
Eine solche Form emotionaler Gemeinschaft, die über Politisches und Persönliches hinausgeht und sie verbindet, ist in Die Gefährten vorgebildet und wird dort mit dem Konzept der Gefährtenschaft benannt. Der Begriff ‚Gefährte‘ wird zwar im Text einerseits synonym mit dem des ‚Genossen‘ verwendet, erhält also eine deutlich politische, ihn auf die Tradition der Arbeiterbewegung festlegende
Albrecht: Die Erzählerin Anna Seghers, S. 192. Vgl. Seghers: Zwangsarbeiter? und Seghers: Wer war das eigentlich? Gespräch mit einem Kind über Lenin, SGW 13, S. 9 – 13 u. S. 17– 25. Vgl. zum Entstehungskontext Romero: Anna Seghers, S. 247– 249. Hunter Bivens: Epic and Exile. Novels of the German Popular Front, 1933 – 1945. Evanston 2015, S. 124.
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Konnotation. Andererseits transzendiert jedoch umgekehrt gerade diese synonyme Verwendung der Begriffe auch die in erster Linie politische Kodierung des Begriffs Genosse. Zugehörigkeit – bzw. Gefährtenschaft in der Diktion des Romans – bildet sich zwar im Rahmen eines geteilten internationalistischen Projektes, hängt aber genauso von der Lebensform der Freundschaft, der Kulturpraktik des Erzählens sowie von körperlicher Nähe ab. Die im Text dargestellten zwischenmenschlichen Beziehungen sind oftmals von einer freundschaftlichen Intimität gekennzeichnet, die eine gemeinsame Teilhabe bloß am selben politischen Projekt überschreitet und sich zum Beispiel im Motiv des emotionalen Schmerzes im Moment der Trennung äußert. So wird es etwa im Falle des italienischen Arbeiters Bordoni deutlich, als der von ihm aufgenommene ungarische Flüchtling Pali aus Italien ausgewiesen wird: „Als morgens alle fortgingen, blieb Bordoni unschlüssig auf der Schwelle stehen. Er war weich, es tat ihm weh, daß Pali nicht mehr da war.“²⁵⁷ Die Freundschaft der beiden, die im Roman immer auch als Ermöglichungsbedingung politischer Solidarität jenseits nationaler Grenzen imaginiert wird, erneuert sich dabei über Jahre an den von beiden geteilten Exilorten (Paris, Brüssel) und wird schließlich zur Grundlage dafür, dass Pali eine Art Teil der Familie Bordoni wird. Für Zugehörigkeit ist außerdem das Erzählen von grundlegender Bedeutung. Walter Benjamin hat in seinem berühmten Essay Der Erzähler (1936/37) das Erzählen mit dem „Vermögen, Erfahrungen auszutauschen“²⁵⁸ in Verbindung gebracht, einer Kulturpraktik also, die mit einer von Menschen geteilten, über das Vergehen der Zeit hinaus durchaus kontinuierlichen Lebenswelt korrespondiert, in der „Erfahrung […] von Mund zu Mund geht“.²⁵⁹ Den Erzähler selbst hat Benjamin – freilich vergeschlechtlicht – als „ein[en] Mann, der dem Hörer Rat weiß“²⁶⁰ bestimmt. Das Erzählen und das Zuhören produzieren dabei laut Benjamin Zugehörigkeit: „Wer einer Geschichte zuhört, der ist in der Gesellschaft des Erzählers […].“²⁶¹ Benjamin sah diese gemeinschaftliche Kulturpraktik, die auf den kollektiven Austausch von Erfahrungen und damit auf Erzähler und Zuhörer, welche selbst Erzähler werden konnten, angewiesen war, in der Moderne am Verschwinden. Symptomatisch waren ihm hierfür einerseits die Dominanz der
Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 140 f. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 2.2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 439. Benjamin: Der Erzähler, S. 439. Benjamin: Der Erzähler, S. 442. Benjamin: Der Erzähler, S. 456.
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literarischen Gattung des Romans, dessen „Geburtskammer […] das Individuum in seiner Einsamkeit“²⁶² sei, sowie andererseits die Beobachtung, dass sich die traumatischen Erlebnisse des Ersten Weltkrieges nicht mehr als Erfahrungen mitteilen ließen. Die Gefährten, ein Roman der von traumatischen Ereignissen wie der gewaltsamen Niederschlagung der sozialistischen Revolutionen, Verfolgung, Folter, Gefangenschaft und Exil erzählt, ist jedoch durchzogen von Erzählerfiguren, denen es gelingt, ihre politischen Lebenserfahrungen mit anderen zu teilen und so eine gemeinsam gelebte Weltbeziehung, eine Gefährtenschaft, zu ermöglichen.²⁶³ Endet der Roman mit einer Gefängnisszene, so endet er auch mit einer Erzählszene. Als der polnische Kommunist Janek in ein neues Gefängnis eingeliefert wird, nachdem er zwei Jahre seiner achtjährigen Haftstrafe bereits in einem anderen Gefängnis verbracht hat, entwickelt sich ein Gespräch, das vor allem von Janeks Bericht über politische Ereignisse außerhalb des Gefängnisses bestimmt ist. Zugleich geht es um die Vermittlung von Gefängniserfahrungen: „Wie ist’s mit dir, wo kommst du her?“ „Was gibt es hier? Wie viele sind wir hier?“ […] Sie fragten und antworteten. Es wurde Morgen. Janek konnte allmählich die Gesichter sehen. Die Gefährten richteten sich gleichfalls auf und betrachteten Janek. […] Sie fuhren fort, zu fragen. „Hast du Nachricht vom Parteitag?“ Sie quetschten ihn aus, es kamen immer noch Tropfen. Seine letzten Nachrichten kamen von Anka, die er in diesem Monat vor dem Umtransport gesehen hatte. […] Er riß seine Gedanken von Ankas Besuch und den sechs kommenden Jahren ab zu den Nachrichten, die sie gebracht hatte – dieselben Nachrichten, die seine Genossen jetzt gierig aus ihm heraussaugten. Janek wußte, was solche Nachrichten bedeuteten, erzählte so ausführlich wie möglich.²⁶⁴
Das Erzählen hat in dieser Szene eine größere Bedeutung als nur die Übermittlung von Nachrichten. Die Kommunikation von Neuigkeiten wird zu einem kunstvoll verlängerten Akt des Erzählens. Zum Erzählen in Benjamins Sinne wird diese Kommunikation dadurch, dass sie die Gefangenen an eine Lebenswelt außerhalb des Gefängnisses bindet, eine Verbindung erzeugt, die für sie sinnstiftend ist und die den Gefangenen eine kollektive Weltbeziehung ermöglicht. Aus dem Erzähler und den Zuhörenden, den Dialogpartnern, wird eine Kommunikations-
Benjamin: Der Erzähler, S. 443. Ein meinem Vorgehen verwandter Versuch, Seghers mit Rückgriff auf Benjamin zu lesen, findet sich mit Bezug auf Transit (1944) bei Gertraud Gutzmann: 1940, Summer. Crisis and Tradition. In: A New History of German Literature. Hg. v. David E. Wellbery u. a. Cambridge 2004, S. 809 – 814. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 307 f.
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gemeinschaft, die die Erfahrung, Teil eines politischen Kollektivs zu sein, im Gefängnis weiterspinnt. Das Erzählen stiftet so Zugehörigkeit und lässt die politischen Gefangenen sich weiterhin als Gefährten und Genossen erfahren bzw. als Teile einer durch die erzählend geteilten Erfahrungen des politischen Kampfes und der Gefangenschaft gebildeten Gemeinschaft, in der diese Erfahrungen tatsächlich „von Mund zu Mund geh[en]“. Jedoch gelingt ein solches Erzählen im Roman nicht immer. Zum Beispiel ist das Verhältnis der einander lange freundschaftlich verbundenen Ungarn Böhm und Faludi von zwischenmenschlicher Entfremdung und Kommunikationsschwierigkeiten geprägt, die von unterschiedlichen Exilerfahrungen herrühren.²⁶⁵ Dennoch bleibt in Die Gefährten Erfahrung – im Gegensatz zu Benjamins geschichtsphilosophischer Diagnose – prinzipiell mitteilbar, wenn sie auch nicht immer mitgeteilt werden kann. Das Erzählen konstituiert Zugehörigkeit in der erzählten Welt des Romans – genauso wie der Roman selbst zumindest teilweise aus Seghersʼ Teilhabe an den Erzählungen ungarischer Exilierter und chinesischer Aktivisten und Aktivistinnen entstanden ist, deren Erfahrungen laut Seghers durch den Roman nochmals mit anderen geteilt werden sollten. Die Gefährten entwirft Zugehörigkeit schließlich als körperliche Weltbeziehung. Der Roman ist von Szenen durchzogen, in der eine Krise in der Weltbeziehung der Romanfiguren durch die Schaffung körperlicher Nähe vorübergehend überwunden wird: zum Beispiel durch ein An- und Nebeneinanderschlafen oder ein Handauflegen.²⁶⁶ Bezeichnenderweise endet der Roman dann auch nicht mit einem politischen Ritual, wie etwa einer Demonstration oder dem Singen der Internationale, sondern mit einer zwischenmenschlichen Geste. Im letzten Abschnitt des Romans begegnet Janek, ein polnischer Färber und mehrmals inhaftierter Kommunist, in einer Gefängniszelle dem parteilosen, aufgrund seiner Beteiligung an einem Streik zu mehreren Jahren Haft verurteilten Labiak. Diesem kommt seine Haft „unausdenkbar furchtbar“²⁶⁷ vor. Allerdings hat Janeks gerade auch durch Erzählungen geschaffene Verbindung zu den anderen politischen Häftlingen „auf Labiak tiefen Eindruck gemacht“.²⁶⁸ Sich zu Labiaks Körpersprache responsiv verhaltend, legt Janek ihm nun in einer Geste, mit der Janek einst selbst von einem älteren politischen Häftling bedacht worden war und die einer christlichen Dimension nicht entbehrt,²⁶⁹ die Hand auf. Die körperliche Verbindung zu Janek gibt Labiak die „Kraft“, die Haftzeit zu überstehen:
Vgl. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 203 f. Vgl. z. B. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 110 – 113, S. 47 f., S. 188, S. 235 u. S. 263. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 308. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 308. Zur christlichen Dimension des Romans vgl. Janzen: Writing to Change the World, S. 53 – 55.
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Labiak betrachtete und betrachtete ihn, als wollte er entdecken, an welcher Stelle Janeks Kraft saß. Janek begriff Labiaks Gedanken. Er konnte im Augenblick nichts andres für ihn tun, als was Solonjenko damals für ihn getan hatte. Er legte seine Hand auf Labiaks Kopf, glatter, fester Kegelkopf. Labiak wußte noch nicht, ahnte aber, daß die gleiche Kraft schon in ihm selbst drin war, während Janeks Hand noch auf seinem Kopf lag.²⁷⁰
Der letzte Absatz der Gefährten etabliert körperliche Nähe so als Grundlage und Folge von politischer Zugehörigkeit und zugleich als zutiefst dem Lebensalltag, hier der Gefängnissituation, zugehörige Weltbeziehung. Wie bereits in Aufstand der Fischer von St. Barbara ist körperliche Nähe auch in Die Gefährten eine Grundbedingung für eine stabile Bindung an ein politisches Kollektiv.²⁷¹ So wird zum Beispiel die Weltbeziehung des vor der Gegenrevolution flüchtenden ungarischen Kommunisten Kovács erst in dem Moment prekär, in dem er sich aus seinem gewohnten Stadtraum sowie aus der körperlichen Nähe zu seinen Genossen löst, d. h. aus habitualisierten Bewegungsweisen, die diese Menschen miteinander verbinden: Jetzt war er zum erstenmal allein. Er war nie aus den Gassen herausgekommen. Seufzend, mit kleinen, engen Gassenschritten, auf dünnen, ausgeleierten Beinen lief Kovács den Stadtrand entlang. […] Er sehnt sich nach seinen Kameraden, die er eben verlassen hat. Er versucht sich klarzumachen, daß es kein Unterschied sein kann, ob sie neben ihm hergehen oder zehn Kilometer weiter auf derselben Erde.²⁷²
Erst als Kovács – mittlerweile verhaftet und körperlich misshandelt – in der Enge des Gefängnisses mit anderen Kommunisten zusammentrifft, stabilisiert sich seine Weltbeziehung wieder: Solange Kovács allein gewesen war, vom Augenblick an, als sich seine Gefährten im Feld von ihm trennten, hatte er sich im Grunde seines Herzens vor dem Tod gefürchtet und nicht an seine Rettung geglaubt. Als er ins Massengefängnis eingeliefert wurde, hörte er auf, sich zu fürchten und wurde ruhig.²⁷³
Ist Gefährtenschaft in Seghersʼ Roman also immer auch deshalb prekär, weil sie unter anderem vom Fortbestehen körperlicher Nähe abhängt, ist das Ineinander von politischer und privater Zugehörigkeit, das Gefährtenschaft im segherschen Sinne ausmacht, selbst keinesfalls ein unproblematisches. In diesem
Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 308. Zu Aufstand der Fischer von St. Barbara vgl. Schaub: Aesthetics, Masses, Gender, S. 181 f. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 115. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 117.
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Zusammenhang spürt Seghersʼ Roman vor allem den Konflikten nach, die durch das Eingehen politischer Verantwortlichkeiten für die affektiven Bindungen und Verantwortlichkeiten im Raum der Familie entstehen. Ein Interesse an diesem Problem – insbesondere in seiner vergeschlechtlichten Dimension – durchzieht Seghers’ Werk in der Weimarer Republik. Sowohl die kurze Erzählung „Marie geht in die Versammlung“ (1932) als auch die längeren Erzähltexte „Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft“ und Aufstand der Fischer von St. Barbara verhandeln dieses Problem anhand von proletarischen Frauenfiguren, die mit der doppelten Verantwortung von Kindererziehung und Teilnahme an politischen Auseinandersetzungen konfrontiert sind. In diesem Kontext ist die Annahme zurückzuweisen, dass Seghersʼ Frauenfiguren passiv sind und die politische Arbeit ihrer Männer durch eine Konzentration auf familiäre Verantwortlichkeiten behindern.²⁷⁴ Als Seghers’ erster Roman und Erzähltext mit dem vielfältigsten Figurenensemble bis zu diesem Zeitpunkt ihres Schreibens artikuliert Die Gefährten eine Bandbreite von Ausformungen des Verhältnisses von familiärer und politischer Verantwortlichkeit. Das Multiversum der transnationalen Arbeiterbewegung wird im Roman deshalb nicht nur anhand von Ungleichzeitigkeiten und kulturellen Differenzen entwickelt, sondern auch durch unterschiedliche Lebenspraktiken, die Politisches und Privates zueinander in Beziehung setzen. Neben der Figur der Dombrowski, die familiäre Verantwortlichkeit durch den öffentlichen Protest eines Kollektivs von Frauen als eine politische und vom Staat mitzutragende artikuliert, verfolgt der Roman die Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher Zugehörigkeiten innerhalb des internationalistischen Projektes der Arbeiterbewegung vor allem anhand des Umfelds der Figur Janek einerseits und am italienischen Ehepaar Bordoni andererseits. Diese Figuren verkörpern unterschiedliche Pole der Ausformulierung des Verhältnisses von familiärer und politischer Zugehörigkeit. Das Umfeld Janeks steht für eine Integration von politischer und familiärer Zugehörigkeit in Arbeiterbewegungsfamilien, in denen – wie im Falle von Janeks Genossen Wronski – politische Arbeit eine Aktivität der gesamten Familie ist, d. h. von verschiedenen Generationen sowie von Frauen und Männern: „Aber nicht nur Wronski, seine Frau und seine Söhne, alle traten heiß und beinah festlich erregt in den Streik.“²⁷⁵ In diesem Sinne einer Integration von Politischem und Familiärem nutzt Janeks Frau ihre Erzählung während eines Besuches bei ihrem mittlerweile gefangenen Ehemann. Die private Beziehung wird zu einer Ermöglichungsbedingung politischer Arbeit und Politisches und Privates sind auch erzählerisch verwoben: „Sie verschachtelte geschickt in be-
Vgl. Schaub: Aesthetics, Masses, Gender. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 182.
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langlose Familiennachrichten den ganzen Bericht der vierten Konferenz, die Lösung der Parteikonflikte. Später in der Zelle wunderten sich die Genossen, wie viele Nachrichten Janek mitbrachte.“²⁷⁶ Diese Integration von Politischem und Privatem überschreitet im Roman außerdem einen nationalen und auch nationalsprachlichen Rahmen. Durch die geteilte politische Arbeit ermöglicht die internationalistische Arbeiterbewegung transkulturelle Beziehungen, wie zum Beispiel die Liebesbeziehung zwischen dem chinesischen Kommunisten Sun FoLi und seiner namenlosen „deutsche[n] Genossin“,²⁷⁷ der Tochter des Ehepaars Balke, bei dem er in Berlin wohnt. Während die Familie Janeks die eher konfliktlose Integration von politischer und familiärer Zugehörigkeit repräsentiert, stellt die Familie Bordoni das Gegenteil dar. Das Eindringen des Politischen ins Private erzeugt Konflikte. Die Hinwendung Bordonis, der „Vorarbeiter in einer Armaturenfabrik“²⁷⁸ ist, zu einem verstärkten Engagement in der Arbeiterbewegung, das sich vor allem in der Aufnahme des ungarischen Flüchtlings Pali äußert, stößt bei seiner Frau Katarina auf Ablehnung. Katarina weist darauf hin, dass Bordoni seinen sowohl affektiven als auch materiellen Verantwortlichkeiten für seine Familie nicht länger nachkommt, da er sowohl Lohnarbeit als auch emotionale Arbeit wegen seiner politischen Arbeit vernachlässigt. Nachdem die Familie infolge des italienischen Faschismus nach Paris geflohen ist, gibt Bordoni seinen politischen Aktivismus jedoch nicht auf. Infolgedessen werden ihm und seiner Frau ihre dortigen Verdienstmöglichkeiten genommen. Anlässlich eines plötzlichen Besuchs Palis, welchen Katarina für den politischen Aktivismus ihres Mannes nicht zu Unrecht mitverantwortlich macht, konfrontiert ihn seine Frau: Jetzt wurde Frau Bordoni wild: „Gelegenheitsarbeit. Wann hast du denn zum letzten Mal gearbeitet? Das ist wohl deine Gelegenheitsarbeit, Flugblätter für die andern herumtragen, deine Sohlen ablaufen bei den Demonstrationen wie heute abend. Das nennst du wohl Gelegenheitsarbeit.“ Bordoni erwiderte nichts, kraulte die Kleine [seine Tochter Giulia; C.S.] mit den Fingerspitzen. Seinem Gesicht war anzumerken, daß er etwas anderes mehr liebte als seine Angehörigen, auch unter den Menschen liebte er Pali mehr als diese. Da geriet die Frau ganz außer sich: „Gelegenheitsarbeit, das nennst du auch Gelegenheitsarbeit, von dreißig Nächten im Monat eine daheim schlafen und mich dann dick machen, das ist wohl auch Gelegenheitsarbeit.“²⁷⁹
Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 188. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 191. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 96. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 237 f.
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Im Gegensatz zu den Wronskis oder der Beziehung zwischen Sun Fo-Li und der Balke-Familie, stellen die Bordonis eine proletarische Familie dar, der es über weite Strecken des Romans nicht gelingt, eine lebenspraktische Balance zwischen politischen und privaten – in beiden Dimensionen gerade auch affektiven – Zugehörigkeiten und Verantwortungen zu finden. Dies ist einerseits wichtig, weil Seghers dadurch einer Romantisierung des politisierten Proletariats entgegenwirken und es zugleich als lebensweltlich heterogen repräsentieren kann. Es ist andererseits von Bedeutung, weil Seghers so das von der Arbeiterbewegung selbst seit dem neunzehnten Jahrhundert propagandierte bürgerliche Familienmodell verkompliziert, in dem die Frau aus dem Lohnarbeitsprozess verdrängt wird und der Mann alleiniger Ernährer der Familie sein soll.²⁸⁰ Letzteres gelingt ihr, da sie Proletarierinnen wie Katarina Bordoni als Lohnarbeitende und als die Familie in Abwesenheit des Mannes ökonomisch stützende Akteurinnen zeigt.²⁸¹ Darüber hinaus spielt Seghers anhand der Familie Bordoni zwei weitere Formen von Zugehörigkeit durch, die weder im Modell der Aktivistenfamilie Wronski aufgehen noch den binären Gegensatz von Politischem und Privatem perpetuieren, der in vorangegangenen Romanpassagen über die Bordonis dominiert. In der ersten Variante, die während der auf die Ausweisung der Bordonis aus Paris folgenden Reise nach Brüssel dargestellt wird, wird eine Form von Gefährtenschaft entworfen, die weder durch eine vertragliche Lebenspartnerschaft noch durch ein politisches Projekt, sondern durch eine Art Akzeptanz einer als geteilt wahrgenommenen Situation charakterisiert ist. Katarinas Akzeptanz der Konsequenzen der politischen Handlungen ihres Mannes transformiert dabei plötzlich das Verhältnis der Bordonis zueinander und verändert auch Katarina selbst. Die für die Wandlung des Verhältnisses der Bordonis wichtige und durchaus die letzte Szene des Romans antizipierende – hier aber weniger politisch kodierte – Geste des Handauflegens markiert diese Form der Zugehörigkeit als intim und körperlich: Auf einmal sagte die Frau mit neuer, harter, ganz veränderter Stimme: „Wohin fahren wir eigentlich?“ Der Mann sah sie schnell an, ihr Gesicht war wie ihre Stimme: neu und hart. Der Mann erwiderte: „Nach Belgien.“ Die Frau fragte: „Was ist das für ein Land?“ Der Mann erwiderte: „Ein Land wie alle andern Länder.“ Die Frau legte ihm eine Hand aufs Knie. Der Mann wunderte sich, nahm Katarinas Hand von seinem Knie weg und legte sie in seine andere Hand. Zwar war es nicht Liebe, aber mehr.“²⁸²
Vgl. Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Berlin 2017, S. 303 – 317. Vgl. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 299. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 263.
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Die letzte Variante von Zugehörigkeit, die Seghers anhand der Bordonis durchspielt, ereignet sich in Brüssel, nachdem Bordoni mit dem Einverständnis und sogar auf Motivation Katarinas hin in die Sowjetunion aufgebrochen ist, um dort den sozialistischen Aufbau zu unterstützen. Katarina tritt uns im zweiten Abschnitt des elften und letzten Kapitels des Romans als in prekärer Lohnarbeit beschäftigte Proletarierin gegenüber, die nicht nur die Arbeit ihres Mannes in der Sowjetunion ermöglicht, sondern zugleich auf den Aktivismus ihres Sohnes in der Arbeiterbewegung stolz ist. Katarinas veränderte Beziehung zur Arbeiterbewegung – eine Transformation, die unerklärt bleibt aufgrund der „szenische[n] Gestaltungsweise“²⁸³ des Romans, die nur Schlaglichter auf bestimmte Episoden im Leben seiner Figuren wirft, deren biografische Entwicklung aber nicht beschreibt – ermöglicht auch eine Veränderung des Verhältnisses zu Pali. Diesem begegnet Katarina nun bei seinem erneuten Auftauchen mit Freude und redet ihn als „Genosse[n]“²⁸⁴ an, mit dem sie sich „alles erzählen“²⁸⁵ werde, mit dem sie – gleich den polnischen Gefangenen im letzten Abschnitt des Romans – Erfahrungen austauschen will. Katarina schafft so den Raum für eine reziproke Anerkennung von Zugehörigkeit jenseits der Grenzen von Familie und Nation, die jedoch nur kurzzeitig („mal wieder“) realisiert werden kann: „Pali war es jetzt, als sei er mal wieder daheim. Er hing doch sehr an dieser Familie, auch ohne Bordoni. Er hatte das nicht so gewußt. Die anderen spürten wohl dasselbe mit ihm, wenn sie auch nicht viel darüber nachdachten.“²⁸⁶ Durch diese transkulturelle Form affektiver Bindung, die auch, aber nicht ausschließlich durch die internationalistischen Zugehörigkeitsbeziehungen der Arbeiterbewegung ermöglicht wird, füllt Pali gewissermaßen eine Leerstelle innerhalb der Familie, die Bordoni hinterlassen hat. Das gemeinsame politische Projekt erlaubt es dabei eine bereits bestehende affektive Beziehung als solche anzuerkennen sowie diese in ein lebenspraktisches Solidaritätsmodell zu überführen, welches weder im Modell der Familie noch in dem einer politischen Organisation aufgeht. Diese Beziehung ist, gleich den anderen im Roman, allerdings eine nur temporäre, wie es Pali in seinem Vorschlag an Katarina selbst artikuliert: „Hör mal, wenn dir das was nützt, ich kann ein bißchen zusehen, mal hierbleiben, unter die Arme greifen.“²⁸⁷ Das so heterogene wie instabile internationalistische Kollektiv des Romans, das durch dessen Montageästhetik konstruiert wird, findet also eine Entsprechung in den zwischenmenschlichen Beziehungen auf der privaten, oftmals fa
Albrecht: Die Erzählerin Anna Seghers, S. 230. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 298. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 298. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 299. Seghers: Die Gefährten, SGW 1, S. 302.
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miliären Ebene der erzählten Welt. Diese intimen Beziehungen formen dabei nicht nur das Verhältnis von Politischem und Privatem unterschiedlich zwischen verschiedenen Familien aus, sondern auch innerhalb bestimmter Familien werden – wie das Beispiel der Bordonis zeigt – verschiedene Zugehörigkeitskonstellationen oftmals nur vorübergehend gelebt und verändern sich mit neuen Lebenssituationen. Im Roman ist auf beiden Ebenen die Kommunistische Internationale bestenfalls im Hintergrund präsent. Damit sind aber auch Versuche weitestgehend abwesend, internationalistische Zugehörigkeitsformen auf bestimmte Organisationsweisen festzulegen und das Proletariat selbst als eine homogene Klasse zu imaginieren, wie es in der deutschsprachigen kommunistischen Literatur in den etwa zeitgleich mit Die Gefährten entstehenden Roten Eine-MarkRomanen geschah. In Romanen wie Klaus Neukrantzʼ Barrikaden am Wedding (1931) oder Walter Schönstedts Kämpfende Jugend (1932), die beide ihren Handlungsort nahezu ausschließlich in Berliner Arbeitervierteln finden, entspricht eine extrem verengte räumliche Imagination einer radikal-normativen Vorstellung davon, welche Proletarier revolutionäre Akteure sein können.²⁸⁸ Die Gefährten knüpft hingegen an eine Traditionslinie an, die in der Weimarer Republik mit dem Werk von Franz Jung beginnt. Diese verbindet einen weltliterarischen Internationalismus – sowohl in den Texten selbst als auch in den Kontexten, in denen diese Texte produziert und verbreitet wurden (oder zumindest verbreitet werden sollten) – mit einer Imagination des transnationalen Proletariats als einem heterogenen Kollektiv sowie als Produkt einer globalen Moderne der Arbeiterbewegung, die nicht nur von transnational geteilten Erfahrungen, sondern ebenso von Ungleichzeitigkeiten, kultureller Alterität und Wissensdifferenzen gekennzeichnet ist. Diesen radikal vielfältigen proletarischen Welten spürte, wie ich nun zeige, auch Egon Erwin Kisch in seinen Reportagen nach, die in der mittleren und späten Weimarer Republik im Kontext der weltliterarischen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung entstanden.
Vgl. Christoph Schaub: Verhinderte Selbsterforschung und Ethnographie des Urbanen in der Weimarer Republik. Karl Grünbergs „Brennende Ruhr“ und Klaus Neukrantz’ „Barrikaden am Wedding“. In: Weimarer Beiträge 62 (2016), H. 4, S. 561– 583.
4 Reportage und Internationalismus 4.1 Hinführung Franz Jungs Joe Frank illustriert die Welt und Anna Seghersʼ Die Gefährten, die im Mittelpunkt des vorangegangenen Kapitels standen, waren zwar Produkte der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur und erzeugten literarisch eine transnationale proletarische Moderne, sie zirkulierten jedoch kaum jenseits der Weimarer Republik. Letzteres kann von den Reportagen Egon Erwin Kischs nicht behauptet werden. Kisch muss als einer der meist ignorierten deutschsprachigen Autoren mit einem historisch weltliterarischen Status gelten, dessen Verbreitung aufgrund der Exklusion internationalistischer Weltliteratur aus Weltliteraturdebatten nicht sichtbar ist und der bestenfalls als Exilautor Eingang in solche Diskussionen gefunden hat.¹ Seine Texte zirkulierten im deutschsprachigen Original bis in die USA und nach Brasilien und wurden noch während seines Lebens in viele europäische Sprachen und sogar ins Chinesische übersetzt. Als er sich Mitte der 1920er der Arbeiterbewegung zuwandte und zum Beispiel einige Reportagensammlungen in der Universum-Bücherei für Alle veröffentlichte, kultivierte Kisch durch politischen und kulturpolitischen Aktivismus in den transnationalen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung eine internationalistische Autorschaft. Diese war an seine Erfindung der Figur eines global aktiven und parteiischen Reporters gebunden, deren transnationale Akzeptanz zumindest teilweise auch durch Kischs Reisetätigkeit möglich wurde. Diese führte ihn aus Europa über die USA und die Sowjetunion bis nach Zentralasien und China. Seine Texte entstanden nicht selten auf diesen Reisen.² Oftmals eng verbunden mit Kischs Namen und seiner Praxis als Schriftsteller und Theoretiker wurde die Reportage zu einer wichtigen Gattung der internationalistischen Weltliteratur. Bleibt Kisch in der Geschichtsschreibung der Weltliteratur ungenannt, ist auch die Reportage keine in den Weltliteraturstudien heute breit diskutierte Gattung – und dies trotz ihrer transnationalen Verbreitung und ihrer Zentralität im literarischen Diskurs der Zwischenkriegszeit. Kisch ist vor diesem Hintergrund nicht zuletzt deshalb wichtig für eine alternative Geschichtsschreibung der Weltliteratur, zu der mein Buch beiträgt, weil er – wie beispielsweise auch Franz Jung und die UBFA – eine alternative, jedoch äußerst
Vgl. z. B. Sandra Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München 2017, S. 252– 255. Vgl. Fritz Hofmann: Egon Erwin Kisch: Der Rasende Reporter. Eine Biographie. Berlin 1988, S. 247 u. S. 254. https://doi.org/10.1515/9783110668087-006
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4 Reportage und Internationalismus
fragmentarische weltliterarische Literaturgeschichte entwickelte und diese um die Reportage als transnationale, revolutionäre und am Rande des literarischen Genrekanons stehende Gattung organisierte. Als Autor, dessen Name oftmals synonym mit der Reportage gesetzt wurde (und noch wird), weist Kischs im Kontext der internationalistischen Weltliteratur situierte Autorschaft darauf hin, dass mit der internationalistischen Weltliteratur auch bestimmte transnationale Gattungen wie die Reportage in den Weltliteraturstudien diskursiv marginalisiert werden. Dies gilt auch für die mit der Reportage verwandte Gattung der Arbeiterkorrespondenz, deren internationale Verbreitung Kisch in seinen Reportagen dokumentiert. Ist dieses Kapitel also erstens eine Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Kischs weltliterarischer Autorschaft und zweitens mit der Reportage als transnationaler Gattung, so diskutiert es drittens Kischs Reportagensammlungen vor dem Hintergrund der Poetologie des Wissens.³ Die Reportage ist für eine solche methodische Annäherung eine besonders naheliegende Gattung, grenzte sich ihr Diskurs doch gegen von diesem selbst als fiktional beschriebene Gattungen ab und beharrte darauf, ein Wissen zu generieren und zu transportieren, das, wie Kisch selbst schrieb, dem „Anspruch auf wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheit“⁴ gerecht würde. Zusammengenommen konstruieren Kischs Reportagensammlungen ein Wissen proletarischer Welten, für das es in seiner geografischen Breite in der deutschsprachigen Literatur keine Entsprechung gibt. Die proletarischen Welten Kischs sind charakterisiert durch die irreduzible Heterogenität des Proletarischen und durch die systemische Differenz zwischen sozialistischer und kapitalistischer Welt. Das transnationale Proletariat grundsätzlich nicht-normativ repräsentierend, erzeugen Kischs Sammlungen Wissen über proletarische Staaten, Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung und proletarische Welten, die jenseits der internationalistischen Arbeiterbewegung situiert sind. Einerseits transportieren Kischs Sammlungen damit ein Wissen vom transnationalen Proletariat, das normative Vorstellungen der Arbeiterbewegung unterläuft; anderseits ergänzt das von seinen Reportagen erzeugte Wissen über literarische Gegenöffentlichkeiten meine eigenen Überlegungen in den ersten beiden Kapiteln dieses Buches. Das Reportagewissen über proletarische Welten
Vgl. z. B. Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Die Literatur und die Wissenschaften. 1770 – 1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hg. v. Karl Richter, Jörg Schönert u. Michael Titzmann. Stuttgart 1997, S. 107– 127. Für den gattungspoetologischen Ansatz dieses Kapitels vgl. Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg: Einleitung. In: Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Hg. v. Michael Bies, Michael Gamper u. Ingrid Kleeberg. Göttingen 2013. Egon Erwin Kisch: Reportage als Kunstform und Kampfform, KGW 9, S. 400.
4.1 Hinführung
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erzeugt darüber hinaus eine Vorstellung einer globalisierten Welt, die durch Diskontinuität, Nicht-Integriertheit und Unabgeschlossenheit geprägt ist. Es stellt damit eine alternative und historisch situierte Imagination des Globalen zur Verfügung, die es erlaubt, Welt jenseits gegenwärtig hegemonialer Globalisierungsnarrative vorzustellen. Einer Grundannahme der Poetologie des Wissens folgend, dass Darstellungsformen Wissen miterzeugen (und eben nicht einfach anschaulich machen), zeige ich, wie Poetiken des Kontrastes, der Aufzählung, der Verdichtung transnationaler Prozesse sowie die transformierenden Adaptierungen der Figur des Reporters und von Erkundungsnarrativen sowie weiterhin der globale Vergleich und die Form der Reportagensammlung selbst ein Wissen vom transnationalen Proletariat in Kischs Reportagen erzeugen. Die Darstellungsform dieser Reportagen ist aber noch aus einem anderen Grunde wichtig. Sie verschiebt das Verhältnis von Reportage, Wissensproduktion und Proletariern. Kischs Werk mit Blick auf die Genealogie der Reportage aus der frühen Stadtforschung verortend, mit welcher Kisch nicht zuletzt Proletarier als Beobachtungsobjekt gemeinsam hat, diskutiere ich Kischs Neuerfindung der „epistemischen Figur des Reporters“.⁵ Dies bedeutet nicht nur, dass Kisch die alternative Figur des mit dem Proletariat parteiischen Reporters, die sich bis zu Friedrich Engelsʼ Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) zurückverfolgen lässt, durch seinen global aktiven Reporter aus lokalen und nationalen Kontexten löst und transnationalisiert. Kischs Reportagen erzeugen über eine solche Transnationalisierung hinaus ein Wissen vom globalen Proletariat, indem sie das Verhältnis zwischen Reporter und Proletariern als einen solidarischen Dialog inszenieren. Hierdurch werden erstens Proletarier Mitproduzenten eines Wissens über sich selbst – sie sind Gesprächspartner und nicht bloß Beobachtungsobjekte des Reporters. Zweitens destabilisiert der solidarische Dialog die epistemische Hierarchie zwischen den Klassen und setzt die Gleichwertigkeit und sogar Überlegenheit proletarischen Wissens literarisch in Szene. Wie Jung und Seghers durch ihre Montagetexte erzeugt Kisch durch seine Reportagen eine internationalistische Weltbeziehung. Gleich dem Reporter generell bringt auch Kischs Reporterfigur ein Wissen von seinen Reisen mit und rückt durch seine Texte das Ferne den Daheimgebliebenen nahe.⁶ Für Kischs der Arbeiterbewegung zugehöriges (und auch sein anderes) Lesepublikum stellen Bernhard Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut. Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert. In: Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Michael Neumann u. Kerstin Stüssel. Konstanz 2011, S. 37. Vgl. Michael Haller: Die Reportage. Ein Handbuch für Journalisten. München 1987, S. 19.
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4 Reportage und Internationalismus
seine Reportagensammlungen eine Möglichkeit dar, sich zu proletarischen Welten in eine Beziehung zu setzen; dies kann gerade auch deshalb gelten, weil die Reportagen den Anspruch erheben, zur außertextlichen Wirklichkeit in einem referentiellen Verhältnis zu stehen. Darüber hinaus sind Kischs Reportagen seit Mitte der 1920er Jahre offen parteiisch und nicht selten von einer beißenden Satire und Ironie geprägt, deren Gegenstand jedoch nie Proletarier und Proletarierinnen sind, sondern Bürgerliche, politische Gegner und mit dem Kapitalismus konforme Anschauungs- und Verhaltensweisen. Durch diese eindeutige Sprechposition, die sich gegen einen Gegner abgrenzt, ermöglichen die Sammlungen den Lesenden die emotionale Identifikation mit der internationalistischen Positionierung der Reportagen. Im Vergleich mit den Texten von Jung und Seghers fällt auf, dass Kisch viel weniger an der Repräsentation von politischen Kollektiven in der erzählten Welt interessiert ist als diese. Jedoch werden bei ihm – wie insbesondere auch bei Jung – internationalistische Kollektive durch die literarische Form erzeugt. Der solidarische Dialog spricht die impliziten Leser und Leserinnen an und inkludiert sie in die durch den Text evozierte transnationale Gemeinschaft. Der solidarische Dialog erzeugt in Kischs Reportagen internationalistische, klassenübergreifende (Wissens)Kollektive, zu denen sich sympathisierende Lesende „zugehörig fühlen d[ürfen]“⁷ und die sich in die außertextliche Wirklichkeit erstrecken. Im Gegensatz zum vorangegangen Kapitel, das im Wesentlichen um close readings von je einem Text von Jung und Seghers organisiert war, wertet dieses Kapitel neben Kischs kritischen Schriften sechs seiner Reportagensammlungen aus: Hetzjagd durch die Zeit (1926), Zaren, Popen, Bolschewiken (1927), Wagnisse in aller Welt (1927), Paradies Amerika (1929), Asien gründlich verändert (1932) und China geheim (1932). Bis auf Hetzjagd durch die Zeit werden diese Sammlungen gewöhnlich der Werkphase zugerechnet, in der Kisch explizit aus der Position eines parteiischen, sich der kommunistischen Arbeiterbewegung zugehörig fühlenden Reporters schreibt und sich durch seine kritischen Schriften und öffentlichen Auftritte als Teil der Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Weltliteratur positioniert.⁸ Hetzjagd durch die Zeit, das hier nur selten berührt
Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012, S. 90 Die Periodisierung von Kischs Werk ist in der Forschung umstritten. Allerdings ist die Annahme plausibel, dass es ab Mitte der 1920er Jahre, beginnend mit Wagnisse in aller Welt, eine veränderte Sprechposition in den Reportagen gibt. Statt als Zäsur lässt sich diese Veränderung jedoch besser als eine Spannung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten bestimmen. Vgl. Dieter Schlenstedt: Egon Erwin Kisch. Leben und Werk. Berlin 1985, S. 161 f.; Marcus G. Patka: Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors. Wien/Köln/Weimar 1997, S. 21 f.
4.1 Hinführung
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wird, gehört dennoch in dieses Kapitel, da es in der kommunistischen Buchgemeinschaft UBFA neu aufgelegt wurde, wo auch Wagnisse in aller Welt erstmals und Paradies Amerika und China geheim in Neuauflagen erschienen. Es geht mir also um die Texte Kischs, die er selbst als Teil der internationalistischen Weltliteratur positionierte. Ich analysiere diese mehr als 1200 Seiten literarischen Primärtextes sowohl kumulativ als auch selektiv. Ich bin weniger an den Unterschieden zwischen den Sammlungen als an strukturellen und thematischen Gemeinsamkeiten interessiert, da es mir darum geht zu zeigen, wie die Sammlungen zusammengenommen ein Wissen vom transnationalen Proletariat erzeugen. Während einige dieser Sammlungen dezidiert nationalstaatliche Grenzen verwischen bzw. ignorieren – also Hetzjagd durch die Zeit und Wagnisse in aller Welt – sind andere auf bestimmte Nationen beschränkt – also Paradies Amerika und China geheim. Erst kumulativ in ihrem werkimmanenten Zusammenhang gelesen – d. h. aus der Perspektive von Kischs Projekt, parteiisch über das Proletariat überall auf der Welt zu berichten –, erschließt sich die literarische Konstruktion einer transnationalen proletarischen Moderne in diesen Sammlungen. Das Verfahren des globalen Vergleichs, das ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels diskutiere, macht dabei deutlich, dass Kisch die einzelnen Sammlungen selbst kontinuierlich zueinander in Beziehung gesetzt hat. Mein Vorgehen ist also durchaus eines, das auf der Logik des Zusammenhangs seiner Werke beruht. Es geht mir zudem keinesfalls darum, Unterschiede zwischen den einzelnen Sammlungen zu verwischen, von denen ich einige im Kapitel anspreche.Vielmehr versucht dieses Kapitel zu vermeiden, Kischs Reportagensammlungen einzeln zu diskutieren und etwa sein Amerika-Bild oder sein China-Bild herauszuarbeiten. Selektiv ist meine Lektüre schließlich deshalb, weil es mir hauptsächlich um das Wissen vom transnationalen Proletariat geht und fast gar nicht um Kischs Repräsentation bürgerlicher Räume, die in den Sammlungen ähnlich dominant ist. Das Kapitel ist in fünf Abschnitte unterteilt. Der erste Teil rekonstruiert die Erzeugung von Kischs weltliterarischer Autorschaft durch seine Selbstinszenierungen und durch Fremdbeschreibungen. Es zeigt darüber hinaus, wie Kisch in diesem Zusammenhang ein Wissen über transnationale literarische Gegenöffentlichkeiten in seinen Reportagen transportiert. Das Kapitel wendet sich dann Kischs theoretischer Auseinandersetzung mit der Gattung der Reportage zu. Ich diskutiere zuerst die literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung, durch die Kisch die Reportage als zentrale Gattung internationalistischer Weltliteratur positioniert. Anschließend verfolge ich die Verbreitung seiner Position in China und den USA, durch welche Kisch selbst Teil der eigenen transnationalen Gattungsgeschichte wird. An die von Kisch unerwähnte Genealogie der Reportage aus der frühen Stadtforschung anknüpfend, zeigt der dritte Teil des Kapitels, wie Kisch die Figur des Reporters neu erfindet und Erkundungsnarrative adaptiert und dabei
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4 Reportage und Internationalismus
transformiert. Dies ermöglicht es ihm ein Wissen über das transnationale Proletariat durch einen solidarischen Dialog mit Proletariern zu erzeugen. Im folgenden Abschnitt untersuche ich dann das spezifische Wissen, das Kischs Reportagen über das transnationale Proletariat erzeugen, und weise besonders auf die dabei irreduzible Heterogenität des Proletarischen sowie auf die systemische Differenz hin, die die proletarische Welt bei Kisch in eine kapitalistische und eine sozialistische teilt. Schließlich diskutiere ich im letzten Abschnitt den globalen Vergleich und die Form der Reportagensammlung als grundlegend für Kischs literarische Erzeugung von Globalität.
4.2 Egon Erwin Kischs weltliterarische Autorschaft und literarische Gegenöffentlichkeiten Als von 1927 bis 1933 vier von Kischs Reportagensammlungen – Wagnisse in aller Welt (1927), Paradies Amerika (1930), Hetzjagd durch die Zeit (1931) und China geheim (1933) – exklusiv oder als Nachdruck in der UBFA erschienen, wurde ihre Publikation von der üblichen Werbekampagne in der illustrierten Zeitschrift der Buchgemeinschaft begleitet. Die Bewerbung der Bände ließ dabei keinen Zweifel am Status Kischs; seine Bücher waren „Werk[e] der Weltliteratur“.⁹ Dieser Status wurde Kisch gleich auf drei Ebenen zugesprochen. Erstens stützte die Buchgemeinschaft ihre Behauptung auf verkaufs- und verbreitungstechnische Argumente, rief also ein quantitatives Kriterium für Weltliteratur auf. Von „gewaltigen Auflagen“¹⁰ und dem „Welterfolg“ der „bisherigen Bücher des rasenden Reporters“¹¹ war die Rede. Ein Werbetext präsentierte außerdem unter dem Titel „Die Weltpresse sagt“ Rezensionsausschnitte aus deutschen, brasilianischen und tschechoslowakischen Zeitungen, die eine weltliterarische Verbreitung von Kischs Werken zumindest in den deutschsprachigen Öffentlichkeiten dieser Länder bezeugen sollten.¹² Zweitens inszenierte die Werbung Kisch als Reisenden, dessen Texte die Welt zum Gegenstand haben und der seinem Lesepublikum – etwa im Falle von Wagnisse in aller Welt – „Abenteuer aus drei Erdteilen“¹³ präsentiert. Schließlich wurde Kischs Werk als eingreifend und für die internatio-
Blätter für Alle 2 (1927), H. 5, innerer Umschlag. Blätter für Alle 2 (1927), H. 4, Rückseite. Magazin für Alle 5 (1930), H. 12, S. 17. Blätter für Alle 3 (1928), H. 3, Rückseite. Blätter für Alle 2 (1927), H. 4, Rückseite.
4.2 Egon Erwin Kischs weltliterarische Autorschaft
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nalistische Gegenöffentlichkeit nützlich vorgestellt: „Das Kisch-Buch ist eine Waffe“.¹⁴ Die Werbung der UBFA umschreibt auf erstaunlich zutreffende Weise die Koordinaten der Konstruktion von Kischs weltliterarischer Autorschaft, reflektiert sie doch die tatsächliche Verbreitung seiner Werke, den Objektbereich seiner Texte, seine – wenn auch teils umstrittene – Wahrnehmung in den transnational verknüpften Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur, seine Selbstinszenierung, die er inner- und außerhalb seiner Texte vollzog, sowie seinen literarischen und politischen Aktivismus. Kischs weltliterarische Autorschaft entstand in der Zwischenkriegszeit durch ein Zusammenspiel von Autorintentionen, der globalen Zirkulation seiner Texte sowie durch Fremdbeschreibungen der Figur Kisch und seiner literarischen Werke durch Akteure, die zur Verbreitung und Rezeption seiner Texte und Selbstbilder beitrugen.¹⁵ Folgt man David Damroschs grundlegender Bestimmung von weltliterarischen Texten als all solchen, die „beyond their culture of origin, either in translation or in their original language [, zirkulieren]“,¹⁶ dann können Kischs Reportagensammlungen ohne Zweifel als weltliterarisch bezeichnet werden – wenn auch in einem geografisch wie sprachlich eingeschränkten Sinne. Deutschsprachig erschienen seine Texte bis 1933 in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, also in den Nationalstaaten, denen Kisch biografisch vor allem verbunden war, und dann ab der Zeit des Exils auch in Verlagen in Kiew, Moskau, Amsterdam, Paris und Mexiko. Entscheidender für Kischs weltliterarischen Status ist allerdings sicherlich, dass allein bis 1933 Kischs Texte ins Englische, Finnische, Französische, Niederländische, Norwegische, Polnische, Russische, Schwedische, Serbokroatische, Spanische, Slowakische und Tschechische übersetzt wurden.¹⁷ Während diese Auflistung von Kisch-Übersetzungen einerseits eine besonders starke Verbreitung seiner Texte im ehemaligen Territorium der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, im Deutschland nahen europäischen Ausland sowie in der Sowjetunion als Zentrum internationalistischer Weltliteratur zeigt, werden hier zugleich die Grenzen von Ansätzen deutlich, die weltliterarische Zirkulation vor allem an der Übersetzung eines Textes in verschiedene Sprachen festmachen. Nicht sichtbar wird durch diese Auflistung nämlich ei-
Blätter für Alle 2 (1927), H. 4, Rückseite. Mein Verständnis von weltliterarischer Autorschaft knüpft an Überlegungen Rebecca Brauns an: The Rise of the World Author from the Death of World Literature. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 51 (2015), H. 2, S. 81– 99. David Damrosch: What is World Literature? Princeton/Oxford 2003, S. 4. Für den Nachweis der Übersetzungen und deutschsprachigen Erstausgaben vgl. Patka: Egon Erwin Kisch, S. 410 – 419.
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4 Reportage und Internationalismus
nerseits, dass Kischs Werk im deutschsprachigen Original sowohl in der deutschsprachigen Öffentlichkeit Brasiliens als auch in den USA rezipiert wurde, wie eine Rezension von Paradies Amerika in der Zeitschrift New Masses bezeugt.¹⁸ Außerdem wird nicht deutlich, dass Kisch ganz bewusst versuchte, seine Texte gleichzeitig in verschiedenen politischen und sozialen Welten zu verbreiten.¹⁹ Hierfür spricht beispielsweise, dass einige Reportagensammlungen zugleich in Kischs Stammverlag, dem Berliner Erich Reiss Verlag, sowie in der zur Gegenöffentlichkeit der internationalistischen Weltliteratur gehörigen UBFA erschienen, deren Zielpublikum ausdrücklich ein proletarisches war. Zudem veröffentlichte Kisch seine literarischen, journalistischen und kritischen Texte sowohl in bürgerlichen als auch in proletarischen Zeitungen und Zeitschriften.²⁰ Der Kisch von der UBFA – durchaus in Spannung zu seiner nicht immer positiven Wahrnehmung in anderen kommunistischen Medien Deutschlands²¹ – seit 1927 zugesprochene weltliterarische Status lässt sich auch jenseits des deutschsprachigen Raums mindestens seit dem II. Internationalen Kongress proletarischer und revolutionärer Schriftsteller von 1930 in den Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur nachweisen. So findet Kisch zum Beispiel wiederholt in New Masses Erwähnung: als Teil der deutschen Delegation von Charkow²²; als „widely travelled German observer“, der die Täuschungen des amerikanischen Traums durchschaue und die Lebenswirklichkeit des Proletariats authentisch darstelle²³; und schlicht als „that demon reporter, Egon Erwin Kisch“.²⁴ Der Höhepunkt der transnationalen Konsekration Kischs zum bedeutenden Autor internationalistischer Weltliteratur ereignete sich jedoch erst nach Ende der Weimarer Republik. Anlässlich von Kischs fünfzigstem Geburtstag im Jahre 1935 versammelte die Zeitschrift Internationale Literatur auf etwa 30 Seiten 44 Glückwunsch- und Grußadressen von kommunistischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen sowie von literarischen Gruppierungen. Unter diesen fanden sich Henri Barbusse, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Willi Bredel, Michael Gold, Kurt Kläber, Anna Seghers, Sergei Tretjakow, die Sowjetschriftsteller Geor Vgl. Beatrice Heiman: The Land of Milk and Honey. In: New Masses 6 (1931), H. 10, S. 20. Vgl. hierzu Patka: Egon Erwin Kisch, S. 15 u. S. 106; Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 240 f. Vgl. Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 241. Kritik sowie Nichterwähnung gab es auch durch Die Linkskurve und vereinzelt von Arbeiterkorrespondenten, von denen Kisch zugleich ein wichtiger Förderer war; vgl. Patka: Egon Erwin Kisch, S. 112 f.; Christian Ernst Siegel: Egon Erwin Kisch. Reportage und politischer Journalismus. Bremen 1973, S. 119. Michael Gold: The Charkov Conference of Revolutionary Writers. In: New Masses 6 (1931), H. 9, S. 6. Heiman: The Land of Milk and Honey, S. 20. Michael Gold: Notes from Kharkov. In: New Masses 6 (1931), H. 10, S. 4.
4.2 Egon Erwin Kischs weltliterarische Autorschaft
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giens, Leningrads und Tadschikistans, das Sekretariat der IVRS und die Redaktion der Internationalen Literatur. In ihren Beiträgen perpetuierten diese prominenten Akteure internationalistischer Weltliteratur Attribute, mit denen bereits die UBFA Kischs weltliterarische Autorschaft begründet hatte. Diese wurden durch weitere Eigenschaften ergänzt, die teilweise den Konsekrationskriterien für internationalistische Weltliteratur entsprachen, die sich bereits bei Franz Jung und Anna Seghers finden lassen. Die Herstellung Kischs zum weltliterarischen Autor knüpfte dabei zuvörderst an die von ihm selbst theoretisierte Figur des Reporters bzw. des ‚rasenden Reporters‘ an, die durch den Titel seines gleichnamigen Buches von 1924 popularisiert wurde. Diese von Kisch ironisch gebrochen verwendete Selbstbezeichnung,²⁵ wurde in einigen Beiträgen in Internationale Literatur affirmativ, in anderen kritisch aufgenommen.²⁶ Vom Bild des die Welt bereisenden Reporters geleitet, heben die Beitragenden immer wieder seine Rolle als „Kundschafter“ und „Detektiv“ hervor,²⁷ der beobachtet, erforscht, berichtet, enthüllt und aufklärt. Dabei fungiert Kisch als ein Grenzgänger zwischen bürgerlichen und proletarischen Welten, dem eine globale Präsenz zugesprochen wird: „Er ist überall“ und ein „geniale[r] Globetrotter-Reporter[ ]“.²⁸ Durch seine Tätigkeit erschließe Kisch der Literatur einen neuen transnationalen Objektbereich: „die GANZE arme Welt“²⁹ – mit anderen Worten: die globale proletarische Moderne. Ähnlich der bei Jung und Seghers zu findenden Forderung, dass internationalistische Schriftsteller und Schriftstellerinnen zwischen räumlich und kulturell getrennten Orten vermitteln müssten, wird Kisch außerdem als jemand wahrgenommen, dessen Schaffen das Ferne nahe bringt.³⁰ Wenn also Kischs Existenzweise und der Darstellungsbereich seines Schreibens global sind, so wird auch – wie in den Werbeanzeigen der UBFA – eine massenhafte und globale Wirkung seiner Werke behauptet: „Millionen“³¹ lesen Kisch. Deutlicher als dort wird hier jedoch Kischs Nähe zu einem transnationalen proletarischen Lesepublikum konstruiert. So schreibt etwa Michael Gold, „daß Millionen Arbeiter überall stolz und froh sind, Zu Kischs Theoretisierung des Reporters und der Reportage vgl. den nächsten Abschnitt dieses Kapitels. Zur Figur des rasenden Reporters, die den Titel für Kischs berühmten Reportageband gab und in der Folge immer wieder mit ihm persönlich bzw. mit seiner Arbeitsweise identifiziert wurde, vgl. z. B. Patka: Egon Erwin Kisch, S. 26 f.; Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 120. Vgl. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag. In: Internationale Literatur 5 (1935), H. 4, S. 8 u. S 13. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 5 u. S. 11. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 5. Hervorhebung im Original. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 16. Hervorhebung im Original. Vgl. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 8, S. 9 u. S. 11. Vgl. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 5 u. S. 10 f.
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4 Reportage und Internationalismus
weil er unser Genosse ist“,³² und Otto Heller behauptet, „daß die Proletarier aller fünf Erdteile ihn als den Ihrigen betrachten“.³³ Ein sprachtheoretisches Argument bemühend, das sich ähnlich auch bei Jung findet, legt Oskar Maria Graf darüber hinaus nahe, dass die Identifikation von Proletariern mit Kisch auch eine sprachliche ist: „[…] daß diese Proleten Deine Bücher so lasen, als spräche darinnen einer von den ihrigen. […] Das ist das, was wir alle erreichen wollen: Reden in der Sprache unserer Genossen, wirken damit, kämpfen damit“.³⁴ Kisch wird in den Beiträgen zum vorbildlichen internationalistischen Schriftsteller erklärt, dem laut der Sowjetschriftsteller Georgiens gar „eine[r] der ersten Plätze in der revolutionären Weltliteratur“³⁵ zukomme. Diese Konsekration Kischs findet ihre Verdichtung in einem in den Grußworten von Gold und Tretjakow vorkommenden Motiv. Für beide scheint Kisch keine 50 Jahre alt zu sein, sondern viel jünger. Sein Geburtsjahr ist für sie nicht 1885, sondern es fällt mit der Oktoberrevolution zusammen. Gold: „Ist Genosse Kisch wirklich 50 Jahre alt? Ich kann es nicht glauben und weigere mich, es zu glauben. In Wirklichkeit ist er 17 Jahre alt und in Petrograd mit der bolschewistischen Revolution geboren.“³⁶ Tretjakow: „Fünfzig Jahre? Unmöglich! Mißt man das Alter des Menschen nicht an der Arithmetik der Jahre, sondern an der Höhe des Sprungs, an der Frische des Stürmens, am Feuer des Lachens – so ist EGON ERWIN KISCH achtzehn Jahre alt, – so alt wie der Erneuerer der Welt, der BOLSCHEWISITISCHE OKTOBER.“³⁷
Die internationalistische Weltliteratur und die Weltrevolution entstehen gleichzeitig – so legen es die Geburtsmetapher bei Gold und die typografische Hervorhebung bei Tretjakow nahe. Die Weltrevolution ist von der internationalistischen Weltliteratur nicht zu trennen und Kisch wird zur Personifikation dieser Konstellation: die ultimative Konsekration in der internationalistischen Weltliteratur. Folgt die Herstellung von Kischs weltliterarischer Autorschaft in Internationale Literatur dem Reporter als zentraler Figur seiner sich auch jenseits der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur ereignenden Selbstinsze-
Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 5. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S.16. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 12. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 17. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 5. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S 6.
4.2 Egon Erwin Kischs weltliterarische Autorschaft
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nierung, werde ich mich im Folgenden darauf konzentrieren, wie Kisch sich in seinen Texten als Teil der transnational verknüpften Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur inszeniert. Dabei interessiert mich die Frage der Selbstinszenierung nicht im Kontext des in der Forschung bereits diskutierten Problems, inwiefern Kisch eine besonders spektakuläre und abenteuerlustige Figur des Reporters als Marketingstrategie erfand und zur Identifizierung dieser Figur mit sich als historischer Person einlud, um den kommerziellen Erfolg seiner Bücher zu fördern.³⁸ Meine Aufmerksamkeit gilt Kischs Versuch, sich als revolutionären Autor mit globaler Wirkung zu inszenieren. In seinen Reportagensammlungen konstruiert Kisch seine revolutionäre Autorschaft insbesondere dadurch, dass er sich als jemanden präsentiert, der Texte der literarischen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung dokumentiert, übersetzt und dadurch zu ihrer transnationalen Verbreitung beiträgt, der innerhalb dieser Gegenöffentlichkeiten gut vernetzt ist, der als revolutionärer Autor auch jenseits der Grenzen des deutschsprachigen Raumes wahrgenommen wird und der aufgrund dieser Faktoren zu einem Knotenpunkt einer transnationalen Vermittlung revolutionären Wissens wird. Diese Selbstinszenierung Kischs kann vor dem Hintergrund meiner Diskussion der Texte zu seinem 50. Geburtstag in Internationale Literatur als durchaus erfolgreich bezeichnet werden. Die Reporterfigur tritt immer wieder als Leser, Sammler und Verbreiter von Texten auf, die entweder den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung oder Formen proletarischer Kulturproduktion entstammen, die sich nicht auf die Arbeiterbewegungskultur reduzieren lassen. Die von Kisch gesammelten Texte sprengen dabei einen engen Literaturbegriff und umfassen neben Epen, Gedichten und Romanen auch Arbeiterkorrespondenzen, autobiografische Narrative, Briefe, Lieder, Plakate, politische Propaganda, theoretische Schriften und Wandzeitungen. Diese Texte sind Produkte kollektiver Autorschaft, wie etwa im Falle eines Liedes von Weberinnen, das Kisch im tadschikischen Chudschand hört,³⁹ anonymer Einzelautoren, wie etwa die „Selbstbiographie[n]“ der „pauperisierte[n] Intellektuelle[n]“,⁴⁰ denen Kisch in Schanghai begegnet, oder prominenter Autoren wie Upton Sinclair.⁴¹ Sie erscheinen in den Reportagen in deutschen Übersetzungen, in Form von Inhaltsangaben oder durch kurze Benennungen. Zusammengenommen sind die Reportagensammlungen dem Archiv
Vgl. z. B. Hofmann: Egon Erwin Kisch, S. 192; Patka: Egon Erwin Kisch, S. 26 f.; Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik. Frankfurt a. M./New York 2007, S. 371 f. Vgl. Egon Erwin Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 290 f. Egon Erwin Kisch: China geheim, KGW 3, S. 555. Vgl. Egon Erwin Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 215.
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4 Reportage und Internationalismus
des sich in Moskau befindlichen Marx-Engels-Institut ähnlich, das Kisch als Sammelort von anderswo teilweise nur schwer zugänglicher revolutionärer Literatur beschreibt.⁴² Kischs Reportagensammlungen bilden ein unsystematisches Archiv internationalistischer Weltliteratur und der reisende Reporter ist so auch ein internationalistischer Archivar. Als Sammlungs-, Vermittlungs- und Verbreitungsmedium proletarischer Texte ermöglichen Kischs Bücher die Zirkulation dieser Literatur jenseits ihrer sprachlichen, nationalen und kulturellen Produktionsorte. Damit kommt den Reportagen eine ähnliche Funktion zu wie Jungs Joe Frank illustriert die Welt, ein Text, der zur transnationalen Verbreitung der amerikanischen Zeitschrift The Liberator beitrug. Im Umkehrschluss beschränkt sich die weltliterarische Autorschaft Kischs nicht auf das, was Kisch im engeren Sinne selbst schreibt. Sie umfasst ebenso die Intertextualität seiner Reportagensammlungen, die Kisch durch den Einbezug anderer Texte internationalistischer Weltliteratur herstellt. Hierdurch gestaltete er schließlich auch den Gegenstandsbereich dieser Weltliteratur mit. Indem Kisch proletarische Literatur dokumentiert, zeigt er – ähnlich wie Jung und Seghers – wie ihre Verbreitung Gegenwissen über sprachliche, nationalstaatliche und kulturelle Grenzen hinaus transportiert und sich internationalistische Gemeinschaften durch diese Verbreitung formieren. In einer Reportage in China geheim schildert Kisch diese Erzeugung und Vermittlung von Gegenwissen durch die literarische Praxis der Arbeiterkorrespondenten. Die Arbeitskorrespondenz war eine genuine Gattung der Arbeiterbewegungsliteratur, die zugleich als Teil eines breiteren dokumentarischen Trends in der Kulturproduktion der Zwischenkriegszeit verstanden werden kann. Von kommunistischen Literaturorganisationen gefördert (1930 gab es in der Weimarer Republik schätzungsweise 15.000 Arbeiterkorrespondenten⁴³), wurde sie transnational praktiziert und hatte neben agitatorischen und informativen Funktionen auch das Ziel, die literarische Selbstartikulation von Proletariern zu fördern.⁴⁴ Als im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess stehende Gattung besitzt die Arbeiterkorrespondenz eine besondere Perspektive auf den Kapitalismus, die anderen Beobachtern und Beobach-
Vgl. Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 95 f. Vgl. Rüdiger Safranski/Walter Fähnders: Proletarisch-revolutionäre Literatur. In: Literatur der Weimarer Republik 1918 – 1933. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 8. Hg. v. Bernhard Weyergraf. Begründet v. Rolf Grimminger. München/Wien 1995, S. 206. Zur deutschsprachigen Diskussion über die Arbeiterkorrespondenz vgl. z. B. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 392– 397. Zur Frage des Verhältnisses von Kischs Texten zur Arbeiterkorrespondenz vgl. Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 271 f. Zu Kisch als Vorbild für Arbeiterkorrespondenten vgl. Hofmann: Egon Erwin Kisch, S. 236 – 238.
4.2 Egon Erwin Kischs weltliterarische Autorschaft
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terinnen nicht zugänglich ist, und kann deshalb ein spezifisches Wissen über den Kapitalismus formulieren. In „Waffen sind das große Geschäft“ zeigt Kisch, wie Arbeiterkorrespondenten in Häfen in den USA und Deutschland sowie auf Schiffen im Pazifischen Ozean ein Gegenwissen über „Waffenschmuggel[ ]“⁴⁵ im Kontext von Japans imperialistischer Politik in China generieren bzw. wie sie dieses Geschehen überhaupt erst sichtbar machen: „Wir verdanken den Arbeiterkorrespondenten die Mitteilung, wohin die Ware geht […].“⁴⁶ Durch die über den Globus verteilten Arbeiterkorrespondenten lassen sich diese illegalen Rüstungsgeschäfte nachvollziehen; durch ihre in linken Medien wie dem New Yorker Daily Worker und der Hamburger Volkszeitung publizierten Texte findet dieses Wissen eine Öffentlichkeit. Wie es Jung in Joe Frank illustriert die Welt mit den Texten des Liberator getan hatte, vergrößert Kisch durch die Zusammenfassung von Informationen und durch längere Zitate die Verbreitung des Wissens dieser Arbeiterkorrespondenzen. Durch die Kombination der Arbeiterkorrespondenzen, die zuvor bereits in verschiedenen Sprachen und nationalen Medien der Arbeiterbewegung veröffentlicht wurden, wird Kischs Reportage zum textlichen Ort, an dem das Wissen der verschiedenen Arbeiterkorrespondenzen miteinander vermittelt wird. In diesem Sinne formuliert Kisch auf Basis proletarischer Literatur ein transnationales Gegenwissen über den globalen Kapitalismus. Seine weltliterarische Autorschaft besteht also auch darin, bestehendes Wissen internationalistischer Weltliteratur durch seine literarische Produktion neu zu arrangieren und zu modifizieren. Allerdings transportiert internationalistische Weltliteratur nicht nur ein spezifisches Gegenwissen, sondern sie trägt auch zur Entstehung von Gemeinschaften bei, die sich um Literatur formieren. In „Als Leichtmatrose nach Kalifornien“, einer Reportage aus Paradies Amerika, dokumentiert Kisch, wie die Verbreitung der Werke Jack Londons – eines für ihn wie für Jung zentralen Autors internationalistischer Weltliteratur, der in Paradies Amerika immer wieder erwähnt wird – Gesprächsgemeinschaften jenseits kultureller Grenzen ermöglicht. Kisch, der inkognito als Matrose von New York nach Los Angeles fährt, begegnet hier seefahrenden Proletariern: Warum sollten sie für mich auch nur Sympathie empfinden? Ich bin der ungeschulteste Arbeiter, offenkundig ein Außenseiter, kenne die Personen und die Lokale nicht, um die die Gespräche gehen […]. Und doch werde ich als einer der Ihren angesehen, denn ich habe
Kisch: China geheim, KGW 3, S. 509. Kisch: China geheim, KGW 3, S. 507. Kisch dokumentiert die Bedeutung der Arbeiterkorrespondenz z. B. auch in der Sowjetunion, vgl. Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 31 f. u. S. 42.
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4 Reportage und Internationalismus
etwas mit ihnen gemeinsam: ich habe Jack London gelesen und liebe ihn, wie alle rings um mich. Wir sprechen vom Ende des Romans „Martin Eden“ […] und wir sprechen von der „Eisernen Ferse“ … Darüber ist viel zu sprechen.⁴⁷
Während sich Kisch zuerst in einem Differenzverhältnis zu den Proletariern wähnt, wird dieses im Laufe der Fahrt durch den gemeinsamen Bezug auf Jack London aufgelöst – was grammatikalisch im Wandel von der ersten Person Singular bzw. dritten Person Plural zur ersten Person Plural vollzogen wird. Kischs Unkenntnis des Wissens des seefahrenden Proletariats wird durch die transkulturelle Integrationsfigur London unbedeutend. Der Bezug auf ihn und seine Texte ermöglicht eine intellektuelle Konversation sowie eine geteilte emotionale Identifikation mit dem Autor und seinen Texten und dadurch auch zwischen den Gesprächspartnern selbst: „[…] ich habe Jack London gelesen und liebe ihn, wie alle rings um mich.“ Internationalistische Weltliteratur stiftet „emotionale Gemeinschaften“.⁴⁸ Wenn Kisch sich hier als Teil eines klassenübergreifenden Lesekollektivs in Szene setzt, ist es für seine Selbstinszenierung ebenso von Bedeutung, dass er sich als in den literarischen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung gut vernetzten Akteur präsentiert. Dieser Teil seiner Selbstinszenierung vollzieht sich auf zwei Ebenen. Erstens zeigt Kisch, dass er ein international gefragter Redner für Veranstaltungen der Arbeiterbewegung ist. Beispielsweise wird er nach einer „Vorlesung in der New Yorker Volksbühne“ von den Organisatoren um weitere Lesungen „in ihren Ortsgruppen im Westen“ gebeten.⁴⁹ Zweitens hebt Kisch immer wieder hervor, dass er sowohl mit unbekannten als auch prominenten Aktivisten der literarischen Gegenöffentlichkeiten bekannt ist, was ihm einen besonderen Zugang zu den von ihm bereisten Ländern ermöglicht. In China etwa ist Kisch so gut vernetzt, dass er „Freunde“ hat, die ein Antiquariat zum Austausch von „illegale[r] revolutionäre[r] Literatur“ nutzen, welche sie auf Englisch, Deutsch und Russisch lesen.⁵⁰ In Paradies Amerika fungiert Upton Sinclair immer wieder als Kischs Dialogpartner, der ihm sogar Zugang zu Charlie Chaplin verschafft, dem vielleicht prominentesten linken Künstler der USA.⁵¹ Weltliterarische Autorschaft bedeutet vor diesem Hintergrund – durchaus im Sinne von Goethes
Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 84 f. Ich entlehne den Begriff der emotional community von Barbara H. Rosenwein: Emotional Communities in the Early Middle Ages. Ithaca/London 2006, S. 24 f. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 71. Kisch: China geheim, KGW 3, S. 437. Zur globalen Bedeutung von Antiquariaten als Orten revolutionärer Literatur und Kommunikation vgl. auch Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 306 f. Vgl. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 55 – 60., S. 215 u. S. 229 – 241.
4.2 Egon Erwin Kischs weltliterarische Autorschaft
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früher Bestimmung des Begriffs – sich innerhalb eines Netzwerkes transkultureller Kommunikation zu bewegen.⁵² Mit dem Unterschied freilich, dass sich diese Kommunikation bei Kisch nicht ausschließlich um eine intellektuelle Elite organisiert, sondern zudem um offen oder versteckt agierende Gegenöffentlichkeiten, die sich rhetorisch wie praktisch an Unterschichten binden. Eine auch Proletarier einschließende Vernetzung kommt in Kischs literarischer Selbstdarstellung dadurch zustande, dass Kischs literarisches Werk unter diesen verbreitet ist und er von ihnen als revolutionärer Autor gesehen wird. In Asien gründlich verändert berichtet Kisch über eine Begegnung nahe der Grenze zu Afghanistan, in deren Mittelpunkt sein Buch Paradies Amerika steht: Eine Gruppe von tadschikischen Burschen und Mädchen drängt sich ins Zelt, ihr Sprecher bittet uns, den Jugendgenossen des Auslands zu berichten, daß die Komsomolzen auf dem Sowjetgut Wachsch ihren Teil des Fünfjahresplanes seit Jahr und Tag zu 110 Prozent erfüllen und weiter erfüllen werden. „Und jetzt möchte ich noch etwas sagen. Wir machen natürlich auch kulturelle Arbeit, sowohl bei den Parteilosen als auch unter uns. Auch deutsche Bücher lesen wir, die ins Russische übersetzt sind, und sie interessieren uns sehr. ‚Paradies Amerika‘ hat uns gefallen, bis auf zwei oder drei Kapitel. Wir freuen uns, daß Sie gekommen sind, Sie sind der erste ausländische Schriftsteller, den wir sehen. Wir haben eben beschlossen, unserer Gruppe ihren Namen zu geben.“⁵³
Die sich in den Beiträgen zur Internationalen Literatur wiederholende Behauptung, dass Kisch von Millionen Proletariern weltweit gelesen und geschätzt werde, kann als Echo solcher Momente von Kischs Selbstinszenierung verstanden werden. Zur Konsekration der weltliterarischen Autorschaft Kischs kommt es nicht nur in den Zeitschriften der intellektuellen Elite internationalistischer Weltliteratur, sondern laut Kisch auch auf der grassroots-Ebene der Arbeiterbewegung im Deutschland so fernen Tadschikistan. Kischs weltliterarischer Autorschaft ist schließlich eine im Kontext der kapitalistischen Welt gegenöffentliche und antihegemoniale Sprechposition eingeschrieben. Diese war in der sozialistischen Welt der Sowjetunion freilich weitestgehend staats- und systemaffirmativ. Immer wieder gibt es in den Reportagen Passagen, in denen Kisch seine Texte als aufklärerische und faktentreue Gegeninformation zu den angeblichen Lügen, Verdrehungen und Verleumdungen der bürgerlichen Presse und der Propaganda der politischen Gegner der Arbeiterbe-
Vgl. Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010, S. 46 u. S. 78. Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 385 f.
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4 Reportage und Internationalismus
wegung positioniert.⁵⁴ Kisch machte diese Sprechposition in einer 1928 von der Neuen Bücherschau und Monde zum Thema „Gibt es eine proletarische Kunst?“ durchgeführten Umfrage deutlich: „Jede wirkliche Kunst muß wahrhaft sein und sich daher gegen die Lügen richten, mit denen die herrschenden Klassen die Unterdrückung der anderen Klassen motivieren.“⁵⁵ Dieser Dimension von Kischs Selbstinszenierung entsprach ein politisches und kulturpolitisches Engagement jenseits seines literarischen Werks. Es entwickelte sich zuerst in Kischs linksradikalem Aktivismus als Teil der Wiener Roten Garde am Ende des Ersten Weltkrieges und dann seit Mitte der 1920er Jahre in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik.⁵⁶ Kisch trat der KPD 1925 bei, arbeitete zeitweise im literarischen Beirat der UBFA, war 1928 Gründungsmitglied des BPRS und unterrichtete wie andere kommunistische Intellektuelle an der Berliner Marxistischen Arbeiterschule (MASCH). Durch Radiobeiträge, journalistische Texte und andere öffentliche Auftritte engagierte er sich vor allem gegen Zensur und politische Justiz sowie für die Sowjetunion.⁵⁷ Kulturpolitisch hatte dieses Engagement auch eine weltliterarische Dimension. Zum Beispiel war Kisch Teil der deutschen Delegation für den Charkower Kongress, worüber er in einem Artikel für das Mitgliedermagazin der UBFA berichtete.⁵⁸ Er trat in New York City auf und engagierte sich in Berlin bei Lesungen mit Reed und Tretjakow sowie bei einer Veranstaltung zu Jack London.⁵⁹ Darüber hinaus wurden Radiobeiträge auch auf Englisch durch Moscow News gesendet⁶⁰ und Kisch trug zu „deutschen Sendungen des Moskauer Gewerkschaftsfunks“⁶¹ bei, wodurch er seine weltliterarische Autorschaft auch jenseits des literarischen Mediums praktizierte. War dieses politische und kulturpolitische Engagement ein integraler Teil von Kischs Selbstverständnis als engagierter Autor, war es zudem für seine Konsekration als exemplarischer Autor internationalistischer Weltliteratur ebenso wichtig wie sein
Vgl. z. B. Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 211; Kisch: China geheim, KGW 3, S. 544; Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 257. Egon Erwin Kisch: Gibt es eine proletarische Kunst?, KGW 9, S. 219. Aufgrund der Konzentration dieses Kapitels auf Kischs Werk seit Mitte der 1920er Jahre gehe ich nicht auf Kischs (kultur‐)politischen Aktivismus seiner Wiener Jahre am Ende des Ersten Weltkrieges ein. Kischs Sprechposition und sein Aktivismus seit Mitte der 1920er Jahre haben ihre biografische Vorgeschichte in dieser Phase.Vgl. hierzu folgende Texte Kischs: „Wien und die Rote Garde“, „Angst, Rote Garde und Presse“ und „Die Schlacht um das Zeitungsviertel“, alle in KGW 8, S. 224– 226, S. 229 – 233 u. S. 256 – 259. Vgl. auch Patka: Egon Erwin Kisch, S. 41– 46. Vgl. Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 242– 252. Vgl. Egon Erwin Kisch: Der Charkower Schriftsteller-Kongreß, KGW 9, S. 270 – 272. Vgl. Patka: Egon Erwin Kisch, S. 117, S. 118 u. S. 122. Vgl. Patka: Egon Erwin Kisch, S. 124. Hofmann: Egon Erwin Kisch, S. 247.
4.3 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung
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literarisches Werk selbst, sollten doch internationalistische Schriftsteller und Schriftstellerinnen immer zugleich politisch und literarisch Handelnde sein. So wurde Kisch zu seinem 50. Geburtstag in der Internationalen Literatur dann auch für seine „Tapferkeit und Standhaftigkeit im Kampfe gegen den imperialistischen Krieg und den Faschismus“ gelobt und als „Handelnde[r] [und] Eingreifende[r]“ bezeichnet.⁶² Die aber wohl wichtigste Dimension von Kischs weltliterarischer Autorschaft bestand darin, dass sein Name mit einer transnationalen Gattung beinahe synonym wurde, die in gegenwärtigen Debatte über Weltliteratur keine Rolle spielt, die aber im Kontext der internationalistischen Weltliteratur und im Deutschland der Weimarer Republik breit diskutiert wurde: die Reportage.
4.3 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung: Reportage als transnationale Gattung Die kürzlich von John C. Hartsock vertretene These, dass eine Tradition der literarischen Reportage während der 1920er Jahre transnational in der Arbeiterbewegung entstand, stammt in ihrer Verbindung von Reportage und internationalistischer Weltliteratur weniger von Hartsock selbst.⁶³ Sie muss eher als Aneignung von Kischs Literaturgeschichtsschreibung betrachtet werden. Wenn ich nun Kischs kritische Schriften zur Reportage in den Mittelpunkt dieses Abschnittes stelle, ist mein Ziel nicht, der Forschung eine weitere Interpretation davon hinzufügen, was Kisch unter der Gattung der Reportage und der Praxis des Reporters verstanden hat; dies ist ohnehin schon der vielleicht etablierteste Bereich der Kischforschung.⁶⁴ Stattdessen soll Kischs Theorie der Reportage als literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung gelesen werden, durch die er die Reportage als transnationale Gattung der Arbeiterbewegungsliteratur entwirft.⁶⁵ Wie ich im ersten Kapitel – insbesondere im Kontext der UBFA – gezeigt habe, geht die Produktion internationalistischer Weltliteratur in der Weimarer Republik mit Versuchen einher, diese literaturgeschichtlich zu verorten und damit eine zur
Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 7 u. S. 11. Vgl. John C. Hartsock: Literary Reportage. The „Other“ Literary Journalism. In: Literary Journalism across the Globe. Journalistic Traditions and Transnational Influences. Hg. v. John S. Bak u. Bill Reynolds. Amherst/Boston 2011, S. 23 – 46. Für einen frühen Beitrag zum Thema vgl. Siegel: Egon Erwin Kisch; sowie im Kontext einer breiter angelegten, nicht nur auf Kisch konzentrierten Studie: Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Band 1: Die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit (1920 – 1933). Köln/Weimar/Wien 2000, S. 154– 170. Kischs Literaturgeschichte der Reportage ist durchaus eigenwillig. Für einen Abriss einer historisch umfassenderen Geschichte der Reportage vgl. z. B. Haller: Die Reportage, S. 17– 60.
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4 Reportage und Internationalismus
bürgerlichen alternative literarische Tradition zu konstruieren. In diesem Sinne beschreibt internationalistische Weltliteratur sich selbst; und indem sie sich literaturgeschichtlich selbst beschreibt, entwirft sie Konsekrationskriterien für die proletarische Literatur der Gegenwart. An diese Überlegung anknüpfend, ist das zweite Ziel dieses Abschnitts, mit Bezug auf US-amerikanische und chinesische Kontexte zu zeigen, dass Kischs Reportagepraxis und -theorie eine entscheidende Rolle dabei spielten, die Reportage als transnationale Gattung internationalistischer Weltliteratur zu etablieren. Wie die Arbeiterkorrespondenz fungierte die Reportage in der Zwischenkriegszeit als wichtige Gattung internationalistischer Weltliteratur.⁶⁶ In den literarischen Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung als einflussreichster Vertreter – und manchmal gar als Erfinder – der Reportage zu gelten, trug entscheidend zu Kischs Status als weltliterarischer Autor bei. Kischs Interesse an der Geschichte literarischer Formen, die zum Bereich des Journalismus gehören, geht seinem Engagement in der Arbeiterbewegung seit Mitte der 1920er Jahre voraus. 1923 erschien die von Kisch herausgegebene und mit einer Vorrede versehene Anthologie Klassischer Journalismus. Meisterwerke der Zeitung im Berliner Verlag Rudolf Kaemmerer. In neun Kategorien organisiert („Leitartikel“, „In eigener Sache“, „Tagesnachrichten und Berichte auswärtiger Korrespondenten“, „Gerichtssaal“, „Feuilleton“, „Theaterkritik“, „Musikreferate“, „Über bildende Kunst“, „Literaturbericht“), versammelt die Anthologie chronologisch angeordnete Texte seit dem fünfzehnten Jahrhundert (der früheste Text stammt gar aus dem ersten Jahrhundert). Kisch konstruiert einen Kanon journalistischen Schreibens, der bewusst nur Autoren der Vergangenheit und keine der Gegenwart umfasst. Mehrere Aspekte sind hervorzuheben. Erstens fällt auf, dass die Reportage als organisierende Kategorie fehlt. Sie scheint zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle für Kischs literaturgeschichtliche Erzählung journalistischer Formen zu spielen, obgleich er bereits 1918 in „Wesen des Reporters“ die Reportage gegen weniger ‚sachliche‘ journalistische Gattungen abgrenzte.⁶⁷ Stattdessen folgt Kischs Kategorisierung „[d]en Rubriken der modernen Presse“.⁶⁸ Zweitens umfasst die Sammlung – wie Fritz Hofmann hervorgehoben hat – hauptsächlich Texte, die aufklärerisch sind und die revolutionären Auseinan-
Während die Reportage – gerade auch die Kischs – die Arbeiterkorrespondenz beeinflusste, besteht ein Unterschied zwischen diesen Gattungen darin, dass die Arbeiterkorrespondenz expliziter als die Reportage auf Operativität festgelegt ist. Vgl. Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 271 f. Vgl. Egon Erwin Kisch: Wesen des Reporters, KGW 8, S. 205 – 208. Fritz Hofmann: Nachwort. In: Egon Erwin Kisch: Klassischer Journalismus. Meisterwerke der Zeitung. Berlin/Weimar 1982, S. 578.
4.3 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung
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dersetzungen ihrer Zeit spiegeln.⁶⁹ Drittens sind hier bereits einige Autoren vertreten, die für Kischs spätere Literaturgeschichte der Reportage wichtig werden. So zum Beispiel Georg Forster und Émile Zola. Im Gegensatz zu diesen fehlt hier jedoch noch John Reed, der später für Kisch wichtigste, 1920 verstorbene Autor, der also aufgrund seines Todesdatums in die Sammlung hätte aufgenommen werden können. Vor diesem Hintergrund fällt viertens auf, dass Kischs Vorrede weder rhetorisch noch inhaltlich Bezug auf die Arbeiterbewegung und ihre Literatur nimmt. Stattdessen sollte die Anthologie fünftens ein „Lehrbuch der Nation“ sein, das freilich unausgesprochen auf einem transnationalen Korpus von Texten fußte. Die Textsammlung war laut Kisch an „Geistigkeit“ orientiert, da „nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht, sondern die besser verfochtene Sache“.⁷⁰ Somit waren die Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Weltliteratur zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Adressatinnen von Kischs Auseinandersetzung mit der Literaturgeschichte seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit. Dies gilt es besonders deshalb hervorzuheben, weil in Kischs späterer literaturgeschichtlicher Beschreibung der Reportage nationale Kategorien keine Rolle mehr spielen und die Reportage als Gattung der proletarischen Bewegung konstruiert werden sollte. Es ist nun so, dass Kisch in seinen kritischen Texten keine systematische und kohärente Theorie der Reportage entwickelt hat, sondern „Fragmente einer Reportagetheorie“, wobei Kisch zudem „keine einheitliche Terminologie verwendet“.⁷¹ Dass Kisch die Reportage nach dem ersten Weltkrieg überhaupt zu theoretisieren begann, hatte zwei Gründe. Zum einen müssen seine Theoretisierungsversuche als Reaktion auf die Propagandapolitik der Wiener Presse in der späten Kriegs- und frühen Nachkriegsphase verstanden werden.⁷² Zum anderen lag eine Konzentration auf dokumentarische Schreibweisen im neusachlichen Trend der Zeit, wo „Forderungen nach Realitätsbezug und Aktualität“ mit „Postulaten der Entfiktionalisierung und Entidealisierung der literarischen Produktion“ zusammengebracht wurden.⁷³ In diesem Sinne kennzeichnet Kischs Nachdenken über die Reportage allgemein ein Nachdruck auf „Tatsache[n]“ und „Sachlichkeit“,⁷⁴ auf „Umstände und Begebenheiten“, die durch „Erforschung, Registrierung“ und „empirische[ ] Beschäftigung“ gefunden und erfasst werden
Vgl. Hofmann: Nachwort, S. 575 f. Egon Erwin Kisch: Klassischer Journalismus, S. 7. Patka: Egon Erwin Kisch, S. 91 f. Vgl. Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 88. Becker: Neue Sachlichkeit, S. 154. Kisch: Wesen des Reporters, KGW 8, S. 205.
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4 Reportage und Internationalismus
sollten.⁷⁵ Dieser dezidiert referentielle Bezug auf die empirische Welt grenzt die Reportage gleichzeitig von fiktionaler Literatur und medialer Propaganda ab.⁷⁶ Die Reportage ist laut Kisch eine faktenorientierte und -geleitete „Literaturgattung“,⁷⁷ also kein bloß journalistisches Genre. Wenn dieser referentielle Weltbezug eine Kontinuität in Kischs Nachdenken über die Reportage darstellt, so ist dieses außerdem durch ein Bewusstsein von der konstruktiven Dimension der Reportage geprägt. Mit zuerst dem Begriff der „logischen Phantasie“⁷⁸ und später dem der „sozialen Erkenntnis“⁷⁹ umschreibt Kisch die Art und Weise, wie Tatsachen vom Reporter auf wahrheitsgemäße und erkenntnisstiftende Weise arrangiert werden sollen.⁸⁰ Kischs modernistischer Realismus der Reportage ist somit zugleich selbstreflexiv, referentiell und konstruktivistisch.⁸¹ Was die zwei Phasen von Kischs Nachdenken über die Reportage in erster Linie voneinander unterscheidet, ist die dezidiert politische Positionierung im Sinne der kommunistischen Arbeiterbewegung durch den Reportagetheoretiker Kisch und durch die Figur des Reporters in den Reportagen der zweiten Phase. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Kischs Reportagen vor Mitte der 1920er Jahre tatsächlich tendenzlos waren, wie etwa das berühmte Vorwort zu Der Rasende Reporter von 1925 suggeriert.⁸² Es bedeutet eher einen Wandel von „Postulate[n] der Tendenzlosigkeit“ zur „Position des kommunistischen Reporters“⁸³ und damit zu einer Tradition der parteiischen Reportage, die im Kontext der Arbeiterbewegung bereits mit Friedrich Engels begann.⁸⁴ Diese Parteilichkeit bestimmt die Weise, wie Kisch die literaturgeschichtliche Genealogie der Reportage als transnationaler Gattung ab Mitte der 1920er Jahre konstruiert. Eine entsprechende li Egon Erwin Kisch: Soziale Aufgaben der Reportage, KGW 9, S. 9. Vgl. z. B. Kisch: Wesen des Reporters, KGW 8, S. 206 f.; Egon Erwin Kisch: Mein Leben für die Zeitung, KGW 9, S. 211; Egon Erwin Kisch: Eine gefährliche Literaturgattung, KGW 9, S. 396. Kisch: Eine gefährliche Literaturgattung, KGW 9, S. 396. Kisch: Wesen des Reporters, KGW 8, S. 206. Kisch: Soziale Aufgaben der Reportage, KGW 9, S. 9. Zwecks dieser Anordnung bedient sich Kisch in vielen Reportagen literarisierender Elemente wie z. B. solchen aus dem Theater, stilisierten Dialogen (wie im Agitprop) oder rhythmisierenden Wiederholungen. Kischs Reportagetheorie entzieht sich damit durchaus der zeitgenössischen, etwa von Bertolt Brecht an der Neuen Sachlichkeit geübten Kritik, dass diese die Wirklichkeitserkenntnis mit „eine[r] einfache[n] ‚Wiedergabe der Realität‘“ verwechsle; Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment. In: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21. Hg. v. Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1992, S. 469. Vgl. Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 96; Patka: Egon Erwin Kisch, S. 97. Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 89. Vgl. ähnlich Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 265 – 272. Vgl. Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Berlin 2017, S. 240 – 246.
4.3 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung
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teraturgeschichtliche Beschreibung der Reportage findet sich in den Texten der vorangegangenen Werkphase nicht; in frühen Texten wie „Wesen des Reporters“ spielt eine Bezugnahme auf internationale Literatur noch keine Rolle. Kischs kommunistische Positionierung geht mit der Erfindung einer transnationalen linken Literaturgeschichte einher. In den Aufsätzen „Soziale Aufgaben der Reportage“ (1926), „John Reed, ein Reporter auf der Barrikade“ (1927), „Mein Leben für die Zeitung“ (1928) und „Eine gefährliche Literaturgattung“ (1935) konstruiert Kisch vier verschiedene literaturgeschichtliche Reihen von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die seiner Ansicht nach die Entwicklung der Reportage beeinflusst haben. Beginnend mit seiner Hinwendung zur internationalistischen Weltliteratur entwirft Kisch auf diese Weise eine alternative Literaturgeschichte, in der seine eigene schriftstellerische Tätigkeit verortet ist. Diese Praxis fand sich bereits bei Franz Jung, der UBFA und der Linkskurve, bei Kisch bleibt sie aber auf eine einzige Gattung beschränkt. Kischs Literaturgeschichten der Reportage lauten: 1926: Denis Diderot – Voltaire – Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais – Émile Zola – Upton Sinclair – Jack London – Maxim Gorki – John Reed – Larissa Reisner – Alfons Paquet – Arthur Holitscher;⁸⁵ 1927: John Reed – Larissa Reisner – Henri Barbusse – Upton Sinclair – Fjodor Gladkow;⁸⁶ 1928: Plinius der Jüngere – Helferich Peter Sturz – Georg Forster – Charles Dickens – Henry M. Stanley – Émile Zola;⁸⁷ 1935: John Reed – Larissa Reisner – Sergei Tretjakow – Michail Kolzow – Arthur Holitscher – John Louis Spivak – Albert Londres.⁸⁸ Während die erste und die dritte Reihe historische Reihen darstellen, schreiben die zweite und die vierte eine Literaturgeschichte der Gegenwart. Die dritte Reihe unterscheidet sich wiederum von allen anderen, weil sie keine Schriftsteller der Arbeiterbewegung im engeren Sinne enthält. Die Reihen sind international, wobei hervorzuheben ist, dass die Schriftsteller nicht als Vertreter verschiedener nationaler Traditionen der Reportage präsentiert werden. Stattdessen repräsentieren sie eine Tradition der Reportage sowie ein bestimmtes literarisches Verhältnis zur Wirklichkeit. Damit ist die Genealogie der Reportage – Kisch spricht von „großen Ahnen“⁸⁹ – ganz explizit transnational. Kischs Autorenreihen umfassen zudem fast ausschließlich revolutionäre Schriftsteller und
Kisch: Soziale Aufgaben der Reportage, KGW 9, S. 9 – 11. Egon Erwin Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 92. Kisch: Mein Leben für die Zeitung, KGW 9, S. 211. Kisch: Eine gefährliche Literaturgattung, KGW 9, S. 396. Kisch: Mein Leben für die Zeitung, KGW 9, S. 211.
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zwar solche der Aufklärung und der Arbeiterbewegung seiner Gegenwart. Die Reportage ist für Kisch also von sozialen und politischen Revolutionen und ihren transnationalen Effekten nicht zu trennen. Diese Gattungsgeschichte wird von Kisch ausdrücklich im Sinne einer historischen Entwicklung hin zum Sozialismus narrativisiert: „Diesen Weg von der Erforschung, Registrierung einfacher Tatsachen zum Sozialismus ist die Reportage von Anbeginn gegangen.“⁹⁰ Laut Kisch schaffen die von Diderot für die Encylopédie française in „Gewerbebetrieben“ durchgeführten „Erforschungen der Gegenwart“ gemeinsam mit den „ersten Industriereportagen“ die „Grundlage für die Abfassung aller sozialistischen Systeme vor der Großen Revolution“.⁹¹ Als eine fundamental sozialistische, an der sozialen Wirklichkeit orientierte Gattung, die von „alle[n] bürgerlichen Ästheten als nicht vollwertig [angesehen wird]“,⁹² erzeugt die Reportage ein revolutionäres Wissen, das im Verlaufe ihrer Gattungsgeschichte von einem aufklärerischen in ein sozialistisches transformiert wird. Kisch selbst ist eine ungenannte Verlängerung dieser von ihm konstruierten literarischen Tradition, in der er als Theoretiker, Historiker und Praktiker präsent ist. Indem Kisch diese spezifische Geschichte der Reportage erzählt, beschreibt er zugleich seine eigene Positionierung als revolutionärer Autor. Die Erzählung der Literaturgeschichte der Reportage dient der Neuerfindung von Kischs Autorschaft als Teil der internationalistischen Weltliteratur. Während nämlich zentrale Elemente von Kischs Reportagetheorie bereits vor Mitte der 1920er Jahre in seinen Schriften vorhanden sind, ist – wie etwa im Vergleich zur Anthologie Klassischer Journalismus deutlich wird – die Erzählung der Geschichte der Reportage als transnational und revolutionär ein neues Element, das mit Kischs Positionierung als kommunistischer Schriftsteller einhergeht. Im Rahmen seiner Literaturgeschichtsschreibung entwickelte Kisch Konsekrationskriterien für internationalistisches Schreiben. In einer transatlantischen Konstellation nimmt dabei John Reed für Kisch die Rolle ein, die Jack London für Jung gespielt hatte. Reed, über den Kisch die Texte „John Reed, ein Reporter auf der Barrikade“ (1927) und „Our own correspondent John Reed“ (1928) verfasste, wurde für Kisch besonders ab 1927 wichtig, als er sich von Zola als zentraler Figur
Kisch: Soziale Aufgaben der Reportage, KGW 9, S. 9. Vgl. ähnlich Kisch: Gibt es eine proletarische Kunst, S. 220, wo Kisch von einer „Linie der revolutionär-lebendigen Kunst“ spricht und viele der oben genannten Schriftsteller nennt, ohne dass er allerdings die Reportage ausdrücklich erwähnt. Kisch: Soziale Aufgaben der Reportage, KGW 9, S. 9. Hervorhebung im Original. Kisch: Eine gefährliche Gattung, KGW 9, S. 396.
4.3 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung
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seines Nachdenkens über die Reportage abwandte.⁹³ Ebenso wie bei der Konsekration Londons zum exemplarischen Schriftsteller des Proletariats durch Jung waren auch für Kischs Konsekration von Reed zwei ineinander verschränkte textliche und außertextliche Ebenen entscheidend. Vorbildlich ist Reed erstens, weil er sich parteiisch und antihegemonial positionierte – so zum Beispiel durch seine Dokumentation der Russischen Revolution Ten Days That Shook the World (1919), die gegen „Ozeane von Verleumdungen gegen die Bolschewiki“⁹⁴ gerichtet gewesen sei; weil er den eingreifenden und kämpfenden Schriftsteller verkörpere, der mit dem „Bleistift“ als „Waffe“ „auf der Barrikade [stand]“;⁹⁵ und schließlich, weil er als literaturpolitischer Aktivist in den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung agierte, zum Beispiel als Redakteur der Masses. ⁹⁶ Zweitens seien Reeds Reportagen durch „soziale Erkenntnis“ und eine „unerbittliche[ ] Wiedergabe der Wahrheit und [einen] kompromißlosen soziale[n] Willen“ charakterisiert, was sie von dem „überwältigenden Großteil aller Romanliteratur“ abhebe.⁹⁷ Mit anderen Worten: Reeds referentiell-konstruktivistischer Realismus produziert eine besonders treffende Wirklichkeitserkenntnis. Schließlich sei Reeds Reportagen eine revolutionäre Zeitlichkeit eingeschrieben. Sie wiesen aus der Gegenwart in eine revolutionäre und post-revolutionäre Zukunft, denn sie seien „nicht nur historische Aktenstücke, sondern auch Prophezeiungen“.⁹⁸ Der ideale Autor internationalistischer Weltliteratur war somit für Kisch ein (literatur‐) politischer Aktivist in den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung und ein Autor von Texten, die zugleich an der sozialen Wirklichkeit orientiert und durch die Utopie der Revolution strukturiert waren. Mit der Konsekration Reeds zu einem solchen Schriftsteller war Kisch nicht allein. Lenin etwa, den Kisch in seinem Text über Reed zitiert – wohl auch um seiner eigenen Konsekration Reeds und der Reportage Autorität zu verleihen –, hatte Reed bereits als vorbildlichen Autor dargestellt, empfahl er doch Ten Days That Shook the World „den Arbeitern der Welt“ und wollte das Buch „in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen“.⁹⁹ Kischs Konsekration von Reed ist im Kontext dieses Kapitels auch deshalb so wichtig, weil die Reportage durch sie nicht nur zu einer
Vgl. Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 100 f. In einem zentralen Text von 1927 betrachtet Kisch Zola als einen nur in Ansätzen marxistischen Schriftsteller. Vgl. Egon Erwin Kisch: Die sozialistischen Typen des Reporters Emile Zola, KGW 9, S. 55 – 64. Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 92. Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 91. Vgl. Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 99. Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 92. Hervorhebung im Original. Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 93. Lenin, zitiert nach Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 94.
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eigenständigen Gattung internationalistischer Weltliteratur erklärt, sondern sie sogar – wie es zur gleichen Zeit auch in der Neuen Sachlichkeit geschah – zur Grundlage für die Erneuerung der Gattung des Romans im Kontext der internationalistischen Weltliteratur gemacht wurde.¹⁰⁰ Damit positionierte Kisch freilich sein eigenes Werk im Zentrum dieser Form der Weltliteratur. Schrieb Kisch ab Mitte der 1920er Jahre eine fragmentarische Geschichte und Theorie der Reportage als transnationaler Gattung internationalistischer Weltliteratur, die ihm auch zur Selbstbeschreibung seiner eigenen Autorschaft diente, wurden seine Werke und seine Selbstinszenierung zu diskursiven Knotenpunkten in der globalen Verbreitung dieser Gattung.¹⁰¹ Damit war Kisch nun tatsächlich zu einer Verlängerung der transnationalen Literaturgeschichte geworden, die er selber konstruiert hatte. Einflussreich war Kischs Konzeption der Reportage dabei vor allem in zwei Ländern, die er auch bereist und über die er publiziert hatte: in China und in den USA.¹⁰² Für die Vermittlung von Kisch nach China war das im ersten Kapitel beschriebene Netzwerk modernistischer Zeitschriften entscheidend, welches die Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur miteinander verband und durch das seit 1930 versucht wurde, die Reportage als Gattung der internationalistischen Weltliteratur zu etablieren.¹⁰³ Im Januar 1932 erschien in der Zeitschrift Beidou ein zuerst in der japanischen Zeitschrift Senki publizierter Text in chinesischer Übersetzung, in dem die deutschsprachige Debatten über die Reportage und insbesondere Kischs Position diskutiert wurden.¹⁰⁴ Auf diese Veröffentlichung folgte dann im Frühling und Sommer 1932 Kischs Reise nach Schanghai, Peking und Nanjing, bei der er die eigenen Ideen über die Reportage weiter verbreitete. Das literarische Erzeugnis dieser Reise, China geheim, erschien schließlich sechs Jahre nach der deutschsprachigen Veröffentlichung 1938 in chinesischer Übersetzung, wobei einzelne Kapitel des Buches bereits 1936 in chinesischen Zeitschriften publiziert wurden.¹⁰⁵ Kischs Präsenz in China in den
Vgl. Kisch: John Reed, ein Reporter auf der Barrikade, KGW 9, S. 92. Rudolf G. Wagner und John C. Hartsock haben die besondere Bedeutung Kischs für die transnationale Entwicklung der Reportage hervorgehoben und meine Ausführungen schließen an ihre an; vgl. Rudolf G. Wagner: Inside a Service Trade. Studies in Contemporary Chinese Prose. Cambridge/London 1992, S. 326 f.; Hartsock: Literary Reportage, S. 32– 34. Vgl. Hartsock: Literary Reportage, S. 32. Das Beispiel Kisch bestätigt damit durchaus eine These Sandra Richters dazu, weshalb bestimmte Text transnational zirkulieren: „Biografismus hilft der Kulturvermittlung: Leser anderer Kulturen finden im Interesse eines Autors für ihre Weltregion […] Anknüpfungspunkte.“ Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 470. Vgl. Wagner: Inside a Service Trade, S. 347. Vgl. Wagner: Inside a Service Trade, S. 347 f. Vgl. Wagner: Inside a Service Trade, S. 326 f.
4.3 Literaturgeschichtliche Selbstbeschreibung
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1930er Jahren wurde zumindest retrospektiv als so entscheidend angesehen, dass der chinesische Schriftsteller und Journalist Xiao Qian 1979 die Entwicklung einer chinesischen Form der Reportage (texie), die auf chinesische und westliche Traditionen rekurrierte, ausdrücklich mit Kisch in Verbindung brachte: „How our texie eventually developed I cannot say exactly. I only remember that, during the 1930s, the Czech writer Kisch came to China, and he promoted his literary form of texie in our country.“¹⁰⁶ Die Entwicklung der Reportage in China war also auch das Produkt eines transkulturellen Wissenstransfers innerhalb der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur. Wie in China zirkulierte Kischs Theorie der Reportage ebenfalls in der literarischen Gegenöffentlichkeit der amerikanischen Arbeiterbewegung. Auf dem American Writers Congress von April 1935 – einer im Kontext der internationalistischen Weltliteratur stattfindenden Gründungsveranstaltung der League of American Writers als Teil des IVRS¹⁰⁷ – diskutierte Joseph North, der als Alexander Trachtenberg geborene, einflussreiche Gründer des kommunistischen Verlags International Publishers, die Reportage als „characteristic literature“ des zwanzigsten Jahrhunderts und Kisch als „probably the greatest reporter in the world to-day“.¹⁰⁸ Folgerichtig war Kischs literarische Praxis nachahmenswert: [The writer of reportage] must do more than tell his reader what has happened–he must help the reader experience the event. Herein reportage becomes durable literature. Reportage is three-dimensional reporting. The writer not only condenses reality, he helps the reader feel the fact. The finest writers of reportage are artists in the fullest sense of the term. They do their editorializing through their imagery. To present the fact, the occurrence in all its open and hidden aspects, they must present the relationship of the fact to the phenomena preceding it and following it. The difference between a feature story, let us say, of the World-Telegram, and the report of an Egon Erwin Kisch, can perhaps be best indicated by Kisch’s coverage of the stock market. […] When [Kisch] is through, the reader understands the innermost connections of capitalism. He not only describes what he saw, he describes what was not to be seen by the observer on Wall Street. Kisch gives you the big traders and the little traders who were sitting around the ticker in Chicago, Los Angeles, Tokio, Berlin. You see the entire process of production and the accumulation of capital.¹⁰⁹
Drei Aspekte sind hervorzuheben. Erstens unterscheidet North durch die Nennung von Kisch die Gattung der Reportage von anderen Genres („feature story“). Zitiert nach Wagner: Inside a Service Trade, S. 326 f. Zum Selbstverständnis der Organisatoren der Veranstaltung vgl. Henry Hart: Introduction. In: American Writersʼ Congress. Hg. v. Henry Hart New York 1935, S. 9 – 17. Joseph North: Reportage. In: American Writersʼ Congress, S. 120. North: Reportage, S. 121.
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4 Reportage und Internationalismus
Zweitens perpetuiert Norths Beispiel die Selbstinszenierung Kischs als parteiischem Weltreisenden, der eine besondere Einsicht in das Funktionieren des globalen Kapitalismus hat. Drittens scheint North den Begriff „dreidimensional“ von Kisch zu adaptieren, um sein eigenes Reportageverständnis zu erläutern, ohne jedoch ausdrücklich zu benennen, dass dieser Begriff von Kisch stammt und von ihm in seinem Beitrag zu einer 1930 von der Moskauer Rundschau durchgeführten Umfrage verwendet wurde.¹¹⁰ Kischs Theorie der Reportage funktionierte damit transnational als Stichwortgeberin für eine Selbstverständigung über die Gattung innerhalb der internationalistischen Weltliteratur.¹¹¹ In diesem Übersetzungsprozess fanden Bedeutungsverschiebungen statt. Während Kisch mit Dreidimensionalität meinte, dass die Reportage Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch eine von einer revolutionären Zeitlichkeit geprägte politische und epistemologische Perspektive verbinden, also Wirklichkeit vor dem Hintergrund ihrer Revolutionierbarkeit darstellen müsse,¹¹² sprach North mit dem Begriff eine Plastizität und Vielschichtigkeit der Wirklichkeitsdarstellung an, die dadurch entstehe, dass der Reportageschreiber hinter der Oberfläche liegende Tiefenstrukturen für die Lesenden nachvollziehbar mache und die einzelnen Ereignisse und Tatsachen („fact“) in einem Zusammenhang mit dem zeige, was ihnen vorangeht und folgt. Durchaus in bewusster Abgrenzung von Kisch änderte North außerdem die Weise, wie komparatistisch über die Gattung der Reportage nachgedacht werden soll. Dieser Umstand ist sicherlich zumindest teilweise der Tatsache geschuldet, dass North seinen Vortrag über die Reportage während der Volksfrontepoche hielt, in der nationale Traditionen diskursiv wieder eine größere Rolle spielten als in der vorangegangenen Phase linker Literaturproduktion. Während Kisch eine transnationale Geschichte der Gattung verfasste, laut der sich die Reportage als revolutionäres Genre jenseits nationaler Traditionen entwickelt hatte, schrieb North das Nationalliterarische in diese linke Literaturgeschichte ein. Sie umfasste nicht nur die gleichen Autoren und Autorinnen wie bei Kisch, sondern nun auch Kisch selbst als Repräsentanten der deutschen Reportageliteratur: Egon Erwin Kisch […] said, “Zola founded modern reportage,” but America has independently produced past masters in the art; writers who can compare favorably with the best of
Vgl. Egon Erwin Kisch: Welche neuen Gestaltungsmöglichkeiten geben Ihnen die neuen Inhalte, das außerliterarische Ziel der proletarischen Literatur?, KGW 9, S. 268 f. Das gleiche gilt für Kischs bereits erwähnten Begriff der logischen Phantasie, den North in seiner Autobiografie in einer Diskussion der Reportage verwendet. Vgl. Joseph North: No Men are Strangers. New York 1958, S. 105. Vgl. Kisch: Welche neuen Gestaltungsmöglichkeiten, KGW 9, S. 268 f.
4.4 Solidarischer Dialog, Erzählinstanz und die „epistemische Figur des Reporters“
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the Europeans. France may have its Albert Londres, Germany its Egon Erwin Kisch, the Soviet Union its Tretiakov, but America has its Agnes Smedley, its Spivak. The name John Reed has become synonymous with revolutionary journalism – with the writer of reportage. The reporting of John Reed, of Agnes Smedley, of Spivak, grows out of the tradition of Stephen Crane, Richard Harding Davis, the tradition of muckrakers, such as Lincoln Steffens, and Ida Tarbell.¹¹³
In Auseinandersetzung mit Kischs Literaturgeschichtsschreibung revidierte North diese, indem er auf die Bedeutung nationalliterarischer Traditionen verwies und den für Kisch wichtigen Reed in einer amerikanischen Tradition verortete. Autor und Autorinnen, die Kisch als Teil einer transnationalen Gattung genannt hatte, erschienen bei North als Vertreter und Vertreterinnen nationaler Traditionen. Es gab also transnationale und nationalliterarische Varianten der internationalistischen Reportagetheorie. Am chinesischen und amerikanischen Kontext zeigt sich mit Blick auf die Verbreitung Kischs, dass die Gattung der Reportage zumindest in der auf Kisch folgenden Traditionslinie ein Produkt der Gegenöffentlichkeiten internationalistischer Weltliteratur war. Zugleich wurde Kisch, der Konsekrationskriterien für internationalistische Weltliteratur entworfen hatte, selbst zum Referenzpunkt für eine transnationale Debatte darüber, was eine linke Reportageliteratur ausmachen und wie ihre Literaturgeschichte geschrieben werden sollte. Für Protagonisten und Protagonistinnen internationalistischer Weltliteratur – wie etwa Michael Gold – wurde Kisch zu einer der Figuren, die die von der bürgerlichen Kritik angeblich verkannte Reportage in eine revolutionäre Kunstform transformierten: „Die Kunst der Reportage wurde aus der degradierten Stellung, die ihr vom Kapitalismus zugewiesen wurde, durch die Arbeit kommunistischer Schriftsteller wie Egon Erwin Kisch emporgehoben.“¹¹⁴ In diesem Sinne wurde Kischs weltliterarische Autorschaft nicht nur als politisch, sondern auch literarisch revolutionär angesehen.
4.4 Solidarischer Dialog, Erzählinstanz und die „epistemische Figur des Reporters“ Verbindet Kischs transnationale Literaturgeschichte die Reportage mit revolutionären Bewegungen, hat die Gattung eine weit heterogenere Genealogie. Formen der Reportageliteratur entstanden nämlich, wie bei Kisch unerwähnt bleibt,
North: Reportage, S. 120. Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 5.
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4 Reportage und Internationalismus
im Zusammenhang mit der sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelnden Erforschung der modernen Großstadt.¹¹⁵ Aus diesem literarischen, politischen und epistemischen Kontext adaptiert Kisch Erzählstrukturen und -figuren und teilt zugleich den zentralen Beobachtungsgegenstand mit der frühen Stadtforschung: proletarische Lebenswelten. Dabei erfindet Kisch die Figur des Reporters als Wissensproduzenten neu, da seine Reportagen einen solidarischen Dialog zwischen Reporter und Proletariern konstruieren, durch den Wissen über das transnationale Proletariat im Austausch zwischen den Proletariern verschiedener Orte und dem die Welt bereisenden Reporter entsteht. Hierdurch wird zugleich die epistemische Souveränität des Reporters, die Überlegenheit seines Wissens gegenüber dem Wissen der Proletarier und Proletarierinnen, hinterfragt. Weniger im auf die industrielle Arbeiterklasse beschränkten als im Sinne einer breiten, heterogenen, nur schwer fass- und kategorisierbaren städtischen Unterschicht fungierten Proletarier und Proletarierinnen im Kontext der zuerst in England beginnenden Urbanisierung und Industrialisierung als Figuren, von denen sich das Bürgertum bedroht fühlte und von denen es zugleich fasziniert war. Konfrontiert mit der Existenz dieser noch weitestgehend unbekannten und unverstandenen Unterschichten in unmittelbarer räumlicher Nähe der eigenen Lebenswelt, begaben sich Angehörige von Kirchen, lokalen Administrationen und medizinischen Berufen sowie Pioniere der frühen Stadtforschung wie Henry Mayhew und Charles Booth in die proletarischen Viertel westlicher Großstädte und produzierten diverse Formen von Literatur über die Bevölkerung dieser Orte. Diese reichten von im engeren Sinne literarischen Texten wie Romanen über statistische Darstellungen und ethnologische Schriften bis zu Erfahrungsberichten.¹¹⁶ Dabei wurden Proletarier oftmals als radikal Andere konstruiert, u. a. indem diese Darstellungsformen Bilder aus dem kolonialen Diskurs mobilisierten.¹¹⁷ Die Viertel der Armen wurden zum „Dschungel“,¹¹⁸ zur „terra incognita“,¹¹⁹ zum „darkest England“ (parallel zum „darkest Africa“),¹²⁰ zum „Kontinent der Armut“¹²¹ – zu Orten also, die mit der „Symbolik und Metaphorik der Finster Für einen Überblick über die Geschichte der Stadtforschung vgl. Rolf Lindner: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt a. M./New York 2004. Vgl. Lindner: Walks on the Wild Side, S. 10 – 95; Anthony McElligott: The German Urban Experience 1900 – 1945. Modernity and Crisis. London/New York 2001, S. 65; Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut. Vgl. Patrick Brantlinger: Victorians and Africans. The Genealogy of the Myth of the Dark Continent. In: Critical Inquiry 12 (1985), S. 166 – 203. Lindner: Walks on the Wild Side, S. 33. Lindner: Walks on the Wild Side, S. 28 u. S. 86. Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut, S. 35. Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut, S. 37.
4.4 Solidarischer Dialog, Erzählinstanz und die „epistemische Figur des Reporters“
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nis“¹²² beschrieben und mit Chaos, Krankheit, Zivilisations- und Kulturferne assoziiert wurden. Es galt, die proletarische Bevölkerung – ähnlich wie die Menschen in den Kolonien – durch die herrschenden Gesellschaftsgruppen zu erforschen, zu beschreiben, zu verstehen, zu kategorisieren, zu überwachen, zu beherrschen, einzugrenzen und moralisch zu verbessern. Eine solche Imaginationsgeschichte, die Proletarier und Proletarierinnen als das Andere im Eigenen vorstellte, sollte sich bis in die Reportageliteratur der Weimarer Republik erstrecken. In seiner Einleitung zu Die Angestellten (1930) verspricht etwa Siegfried Kracauer eine „kleine Expedition, die vielleicht abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika ist“ und in ein „[u]nbekannte[s] Gebiet“ führe, während er die Angestellten mit Proletariern assoziiert, da sie unter „ähnliche[n] soziale[n] Bedingungen wie […] das eigentliche Proletariat“ leben würden.¹²³ Bevor er den Rasenden Reporter mit einem Erkundungsgang in die Quartiere der Obdachlosen von Londons Elendsbezirk Whitechapel beginnt, spricht Kisch im Vorwort davon, dass „nichts […] exotischer als unsere Umwelt [ist]“.¹²⁴ Kracauer und der frühe Kisch – wie Mayhew und Booth vor ihnen – begaben sich in das räumlich separierte Andere der eigenen Stadt, um ein Wissen über diese Räume und ihre zumeist proletarischen Bevölkerungen literarisch zu erzeugen. Bei Kisch dominierte eine solche Imagination der Proletarier als Gruppe, zu der das Beobachtungssubjekt, also der Reporter, in einem nur schwer überbrückbaren Differenzverhältnis steht, bis Mitte der 1920er Jahre.¹²⁵ Ab diesem Zeitpunkt, also seit seiner offenen Parteinahme für die Arbeiterbewegung, inszenierte Kisch in seinen Reportagen ein dialogisches und solidarisches Verhältnis zu Proletariern. In beiden Werkphasen knüpfte Kisch an zwei fundamentale Aspekte der literarischen Repräsentationen des Proletariats in der Tradition der frühen Stadtforschung an. Erstens verbinden sich bei Kisch – ähnlich wie bei William Booth, dem Gründer der Salvation Army und Autor von In Darkest England and the Way Out (1890) – „ethnographische[ ] Darstellungen […], in denen sich Augenzeugenschaft und erzählerische Spannung amalgamieren, […] mit der neuartigen epistemischen Figur des Reporters“.¹²⁶ Wie in der frühen
Lindner: Walks on the Wild Side, S. 86. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. In: Siegfried Kracauer: Werke. Bd. 1. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 2006, S. 221, S. 217 u. S. 220. Kisch: Vorwort zu Der Rasende Reporter, KGW 5, S. 660. Vgl. meine Analyse der Reportage „Experiment mit einem hohen Trinkgeld“ aus Der Rasende Reporter in: Verhinderte Selbsterforschung und Ethnographie des Urbanen in der Weimarer Republik. Karl Grünbergs „Brennende Ruhr“ und Klaus Neukrantz’ „Barrikaden am Wedding“. In: Weimarer Beiträge 62 (2016), H. 4, S. 563 – 566. Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut, S. 37.
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4 Reportage und Internationalismus
Ethnografie des Urbanen ist der Reporter bei Kisch der „Archetyp der Annäherung an die soziale Wirklichkeit“,¹²⁷ der durch seine Beobachtungen und sein Erleben ein besonders akkurates Wissen über Proletarier produziert. Kischs zentrale Figur entstammt damit weniger einer revolutionären Tradition als einer, die mit der wissenschaftlichen und sozialen Kontrolle der Unterschichten verbunden war. Zweitens gehören Kischs Reportagen zur literarischen Traditionslinie von Erkundungsnarrativen, in denen ein oft männlicher Entdecker die eigene klassenmäßig kodierte Lebenswelt verlässt, um die Welt der Armen zu erleben und zu erforschen. Carole Poore hat dieses Narrativ passend als „journeys to the working world“ bezeichnet und an einer reichhaltigen deutschsprachigen Tradition seit dem späten neunzehnten Jahrhunderts gezeigt, dass es in literarischen Werken des gesamten politischen Spektrums in Reaktion auf das Entstehen des Proletariats Verwendung fand.¹²⁸ Wie im früher beginnenden englischen Diskurs dominierte eine Bildsprache, in deren Rahmen sich die Figuren im Laufe der Erzählung an einen Ort begeben, der so fremd und finster sei wie angeblich Afrika.¹²⁹ Diese narrativen Figuren und Strukturen adaptierend, subvertiert Kisch sie in seinen Reportagen der mittleren und späten Phase der Weimarer Republik, indem er die Erkundungen durch ein dialogisches und solidarisches Verhältnis zwischen Reporter und Proletariern gestaltet, das die Poetik eines den Reporter und die Proletarier trennenden kulturellen und sozialen Abgrundes zurückweist.¹³⁰ Eine solche Beziehung ist bereits bei Friedrich Engels vorgebildet.¹³¹ In der Widmung seines Textes Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) adressiert Engels die Proletarier direkt und setzt sich auch als deren Gesprächspartner und Mitkämpfer in Szene: „[…] ich wollte euch in euren Behausungen sehen, euch in eurem täglichen Leben beobachten, mit euch plaudern über eure Lebensbedingungen und Schmerzen, Zeuge sein eurer Kämpfe gegen die soziale und politische Macht eurer Unterdrücker.“¹³² Der solidarische Dialog ersetzt die
Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut, S. 38. Vgl. Carole Poore: The Bonds of Labor. German Journeys to the Working World, 1890 – 1990. Detroit 2000.Vgl. auch Jacques Rancière: Short Voyages to the Land of the People. Übers. v. James B. Swenson. Stanford 2003. Vgl. Poore: The Bonds of Labor, S. 23 u. S. 42– 44. Ähnliche Subversionen gab es freilich schon früher – z. B. bei dem sozialdemokratischen Wiener Reportageschriftsteller Max Winter, der Metaphern der Finsternis ironisch adaptierte und gegen die Oberklasse wendete. Er bleibt aber in Kischs Literaturgeschichte der Reportage unerwähnt. Vgl. Poore: The Bonds of Labor, S. 51. Zu Engels und zur Sozialreportage vgl. Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 237– 251. MEW 2, S. 229. Meine Hervorhebung.
4.4 Solidarischer Dialog, Erzählinstanz und die „epistemische Figur des Reporters“
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Dominanz der Fremdbeobachtung. Kischs Reportagen sind nicht zuletzt auch Teil dieser Form der Sozialreportage, die für das Proletariat Partei ergriff und es als Gesprächspartner sah,¹³³ wie es eben auch in Kischs literaturgeschichtlicher Selbstbeschreibung deutlich wurde. Der solidarische Dialog zwischen Reporter und Proletariern kann als Kern von Kischs Neuerfindung der „epistemischen Figur des Reporters“¹³⁴ verstanden werden. Durch dieses veränderte Verhältnis zwischen Reporter und Proletariern wird nun ein Wissen über das Proletariat durch den solidarischen Dialog zwischen Proletariern und Reporter produziert – und eben nicht mehr durch eine Fremdbeobachtung der Proletarier durch den Reporter. Narratologisch gesehen ist der Reporter in Kischs Reportagen, die zumeist in der ersten Person Singular verfasst und um das Erleben des Reporters organisiert sind, Erzählinstanz.¹³⁵ Laut Albrecht Koschorke „[legen] die Eigenschaften der Erzählinstanz […] fest, welches Kollektiv sich um eine Erzählung gruppiert: welches Sehen, welche Sprache, welches Wissen von wem und mit wem geteilt werden“, und „die Positionierung der Erzählinstanz [entscheidet darüber mit], wer sich der impliziten Wir-Gruppe des jeweiligen Narrativs zugehörig fühlen darf, für wen diese Gruppe sich potentiell öffnet und wen sie ausschließt“.¹³⁶ Das dialogische und solidarische Verhältnis zwischen den Proletariern als Figuren der Reportagen und als Akteuren in der historischen Wirklichkeit und dem Reporter als Erzählinstanz sowie als Augenzeugen, der den Wahrheitsgehalt von Kischs „[f]aktuale[n] Erzählungen [verbürgt]“,¹³⁷ erzeugt in Kischs Reportagensammlungen ein transnationales Kollektiv, von dem weder der Reporter noch die Proletarier ausgeschlossen sind und das Text und außertextliche Wirklichkeit umfasst. Indem der Reporter sich im Verhältnis eines solidarischen Dialogs zu Proletariern positioniert und mit den Eigenschaften eines Aktivisten der Arbeiterbewegung ausgestattet ist, erzeugt der Reporter als Erzählinstanz ein Kollektiv,
Vgl. zu dieser Tradition auch Poore: The Bonds of Labor, S. 14 u. S. 25 f. Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut, S. 37. Erzählend im strengen Sinne einer Organisation eines Textes durch eine Geschichte sind Kischs Reportagen sicherlich nicht oder zumindest nicht durchgehend. Sie beschreiben eher, als dass sie erzählen und verknüpfen Szenen, Erlebnisse und Beobachtungen, ohne dass sie diese durch einen Plot ordnen, obgleich dies in manchen Reportagen geschieht. Man kann aber sicherlich davon sprechen, dass Kischs Reportagensammlungen sich als Ganze erzählerischer Elemente bedienen, zumal diejenigen späten Sammlungen wie Asien gründlich verändert, die durch ein chronologisches Reisenarrativ mit untergeordneten Erzählsträngen organisiert sind und in denen der Reporter Erzählinstanz und Protagonist ist. Zum Problem von Erzählen, Beschreiben und Reportage am Beispiel Engelsʼ vgl. Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 237– 251. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 85 u. S. 90. Hervorhebung im Original. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 88 f.
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4 Reportage und Internationalismus
zu dem sich Proletarier „zugehörig fühlen [dürfen]“, eine (literarische) Welt, in der sie als Akteure und nicht vor allem als Beobachtungsobjekte vorkommen. Funktioniert Kischs Erzählinstanz im Sinne Koschorkes „als Choreograph[ ] der Grenzziehung“,¹³⁸ indem sie eine binäre Opposition zwischen dem internationalistischen Kollektiv der Arbeiterbewegung und seinen Gegnern konstruiert, ist Kischs Reporter zugleich ein Grenzgänger zwischen proletarischen und bürgerlichen Welten.¹³⁹ Als Figur und Erzählinstanz überschreitet der Reporter bei Kisch jedoch nicht nur „soziale Distanzen“ und ermöglicht dem Bürgertum und wichtiger noch nun auch Proletariern, da er für das Proletariat über das Bürgertum berichtet, die Nähe des kulturell, sozial und oft räumlich Fernen in durch die literarische Repräsentation sicherer Distanz.¹⁴⁰ Kischs Reporter entwirft darüber hinaus auch das ‚Wir‘ des internationalistischen Kollektives als Kontaktzone, in der sich bürgerliche und proletarische Akteure begegnen.¹⁴¹ Der Reporter wird damit selbst zu einer epistemischen Figur der Kontaktzone, die einen Wissenstransfer zwischen den Klassen ermöglicht. Die Öffentlichkeiten der Arbeiterbewegung funktionieren als Räume, in denen binäre Differenzsetzungen zwischen Bürgerlichen sowie Proletariern und Proletarierinnen durch ein geteiltes politisches Projekt destabilisiert werden – während diese Öffentlichkeiten freilich zugleich von einer Poetik und Politik der Differenzsetzung zu politischen, oftmals der bürgerlichen Klasse zugehörigen Gegnern abhängig sind. Für das Funktionieren des Reporters als Grenzgänger und Figur eines solidarischen Dialogs über Klassengrenzen hinweg ist dabei fundamental, dass der Reporter nicht vorgibt, „vom proletarischen Standpunkt aus [zu schreiben]“.¹⁴² Im Gegensatz zu Arbeiterkorrespondenzen und proletarisch-revolutionären Romanen wie Karl Grünbergs Brennende Ruhr (1927/29) und Klaus Neukrantzʼ Barrikaden am Wedding
Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 100. Bereits in der zeitgenössischen Rezeption spielte die Charakterisierung von Kisch als Figur, die sich sowohl in bürgerlichen als auch in proletarischen Welten bewegen konnte, eine wichtige Rolle.Vgl. z. B.: Für Egon Erwin Kisch zum 50. Geburtstag, S. 5. Auch Kisch selbst hat den Reporter als Grenzgänger verstanden: „Ein Reporter muß mit allen Kreisen der Gesellschaft Fühlung haben, von der allerhöchsten bis zu den allerniedrigsten.“ Kisch: Mein Leben für die Zeitung, KGW 9, S. 215. Haller: Die Reportage, S. 32 u. S. 20. Hervorhebung im Original.Vgl. ähnlich zum Reporter als „Weltwechsler“ auch Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, S. 245 f. Ich entlehne den Begriff der Kontaktzone von Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/New York 1992. Vgl. auch Christoph Schaub: Weimar Contact Zones. Modernism, Workersʼ Movement Literature, and Urban Imaginaries. Ph.D. Dissertation, Columbia University 2015. Koschorke verwendet den Begriff im Zusammenhang seiner Diskussion der Erzählinstanz als Grenzzieher ebenfalls: Wahrheit und Erfindung, S. 99. Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 105.
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(1931), die die Figur des urbanen Entdeckers adaptieren, inszenieren Kischs Reportagen deshalb keine Selbsterforschung des Proletariats.¹⁴³ Die soziale Herkunft des Bürgers Kisch bleibt den Reportagen ebenso eingeschrieben wie die kulturelle Alterität des Reporters aus Perspektive derjenigen Proletarier, denen er jenseits Europas begegnet.¹⁴⁴ Beides wird jedoch solidarisch, dialogisch und parteiisch gewendet. Die Figur des Reporters kommt in den Reportagen dann auch als von Proletariern ausgewähltes Sprachrohr vor;¹⁴⁵ als Teil politischer Kollektive und von Arbeitskollektiven, an denen Kisch als eine Art teilnehmender Beobachter partizipiert;¹⁴⁶ sowie als Figur, die die direkte Rede der Proletarier in Form von Zitaten dokumentiert, womit die Reportage als Medium inszeniert wird, durch das Proletarier selbst sprechen.¹⁴⁷ In der Reportage „Mit den Schwarzfahrern der Ozeane“, die in Paradies Amerika enthalten ist und bereits durch die Präposition ‚mit‘ im Titel ein solidarisches Verhältnis zwischen Reporter und transnationalem Proletariat betont, entwirft Kisch den für seine Texte charakteristischen solidarischen Dialog in expliziter Abgrenzung zur oben beschriebenen paternalistischen und Andersheit konstruierenden Tradition der Erforschung des Proletariats. Die lange Geschichte von reformerischen Frauenbewegungen aufrufend, die die moralische Verbesserung bzw. die Zivilisierung der Unterschichten als ihr Ziel sahen,¹⁴⁸ präsentiert Kisch Proletarier im Modus der Widerständigkeit gegen Fremdbeobachtungen und -beschreibungen und spielt dabei auf den gegen die Mittelklasse gerichteten Satireroman Babbitt (1922) von Sinclair Lewis an: Ich weiß, es besteht ein strenges Verbot, den Deputationen der in den USA wie Giftschwämme emporschießenden Frauenligen, die mit dem unbarmherzigen Kneifer der Wohltätigkeit alle Kerker und ähnliche öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen besehen – ich weiß, es besteht ein strenges Verbot, diesen Damen bei ihren Besuchen von Ellis Island eure Abteilung zu zeigen. Denn ihr pflegt auch ihnen Huldigungen darzubringen, sogar heftigere, ihr begleitet euer Hurra, indem ihr mit den Füßen in das Blech der Heizung kickt, ihr […] rollt die Augen, fletscht die Zähne […] kräht, popelt, miaut und klettert die Möbel hinauf, bis die spitznäsigen
Zu den genannten Romanen vgl. Schaub: Verhinderte Selbsterforschung. Vgl. z. B. Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 315 u. S. 384. Vgl. z. B. Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 26; Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 235. Vgl. z. B. Egon Erwin Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 564 f.; Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 85. Vgl. z. B. Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 334– 337. Vgl. Poore: Bonds of Labor, S. 23.
210
4 Reportage und Internationalismus
Jungfrauen und die breitbäuchigen Gemahlinnen der Babbits [sic!] von Schreikrämpfen befallen werden.¹⁴⁹
Das Motiv von Proletariern, die sich – oftmals durch eine ironische Aneignung von degradierenden, nicht selten animalisierenden Zuschreibungen – gegen die Beobachtung durch bürgerliche Entdeckerfiguren wehren, findet sich jenseits von Kisch in Texten der Weimarer Arbeiterbewegungsliteratur wie Kurt Kläbers Passagiere der III. Klasse (1927) und Grünbergs Brennende Ruhr. ¹⁵⁰ Die Proletarier sind in Kischs Text nun weniger Personen, über die gesprochen wird, als vom Reporter angesprochene. Wie eine Rede an Genossen oder Bekannte ist der gesamte Text in der informellen zweiten Person Plural gehalten, die Nähe suggeriert – anstatt wie eine förmliche Anrede Distanziertheit. Zugleich kommt es im Text wiederholt zu Umwertungen, durch die der Reporter Stigmata von den Proletariern trennt, die an der Einreise in die USA gehindert werden, und sie statt der Bürger zu den „feinsten Kerle[n] des Landes, in das man euch nicht hineinlässt“,¹⁵¹ erklärt. Darüber hinaus präsentiert sich der Reporter als Person, die „mit fast allen gesprochen [hat]“¹⁵² und dem die Proletarier ihre Lebensgeschichten „erzählen“.¹⁵³ Aus den Erzählungen der Proletarier, aus dem aus literarischen und anderen Quellen gespeisten Wissen des Erzählers sowie seiner politischen Positionierung produziert die Reportage ein parteiisches Wissen transatlantischer Arbeitsmigration, proletarischer Dissidenz und Abenteurertums. Wissen über das transnationale Proletariat entsteht damit durch eine dialogische und solidarische Beziehung des Reporters zu den Proletariern. Im Unterschied zu Texten, die in der Gegenöffentlichkeit der US-amerikanischen Arbeiterbewegung ihren Schauplatz haben, bleibt der solidarische Dialog in dieser Reportage jedoch zumindest teilweise unrealisiert, u. a. da der kommunistische Reporter, der unter dem Pseudonym Doktor Becker ihn die USA eingereist ist, um der Abweisung an der Grenze zuvorzukommen, von den Proletariern nicht als ein Sympathisant erkannt wird. Die auf Ellis Island auf ihre Abschiebung wartenden Proletarier begegnen ihm mit dem gleichen Sarkasmus wie anderen Besuchern und Besucherinnen: „Ihr habt drei Cheers auf mich ausgebracht, als ich euch verließ […] Ja, ja, ich weiß, diese Ehrung ist etwas
Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 242. Vgl. Kurt Kläber: Passagiere der III. Klasse. Roman aus dem Arbeiterleben. Berlin: Universum-Bücherei für Alle 1928, S. 133 – 136.; Karl Grünberg: Brennende Ruhr. Roman aus der Zeit des Kapp-Putsches. München 1974, S. 39. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 242. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 243. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 244.
4.4 Solidarischer Dialog, Erzählinstanz und die „epistemische Figur des Reporters“
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Obligates […] eure Hochrufe sind an sich ironisch gemeint.“¹⁵⁴ Allerdings nimmt der Reporter diesen sarkastischen Gruß der Proletarier durch eine Art call&response in seine eigene Artikulation auf. Nachdem er eine nicht-normative Unterklasse, die ihm nahe ist, adressierend entworfen hat, erwidert er ihren Gruß im letzten Satz des Textes: Ich sähe lieber euch in Manhattan als alle alten und neuen Yankees, die dort die Gegend um Wall Street und Fünfte Avenue bevölkern, ihr seid feine Kerle, ihr Passagiere, die man die blinden nennt, weil sie die Welt sehen wollen, ihr Schwarzfahrer der sieben Meere, ihr Nassauer der fünf Erdteile, ihr Zechpreller der zwölf Weltstaaten, ihr Verächter der Paßbehörden, ihr Überlister der Grenzkontrolle, ihr Landstreicher zu Wasser, ihr Freien im Kerker. Ich erwidere herzlich euer dreifaches „Hurra“ und wünsche euch eine baldige, glücklichere Wiederkehr.¹⁵⁵
Indem die Reportage die Möglichkeit eines solidarischen Dialogs durchgehend inszeniert und das heterogene globale Proletariat als Gefährten des Reporters adressiert, konstruiert sie performativ ein zwar in der konkreten Situation von Ellis Island noch nicht verwirklichtes, aber prinzipiell mögliches Kollektiv eines solidarischen Dialogs. Die formale Struktur der Reportage, durch die die Proletarier direkt angesprochen werden und die ihre Rede mit der Rede der Erzählinstanz verbindet, präfiguriert einen tatsächlichen Dialog in der literarischen Form. Da die Reportage die Widerständigkeit einiger Proletarier gegenüber dem Reporter sowohl dokumentiert als sich auch ihre konkreten Artikulationsformen aneignet, macht Kisch zudem deutlich, dass die Proletarier nicht bloß als Projektionsflächen des parteiischen Reporters figurieren, sondern sich als eigenständige Dialogpartner zum Reporter in Beziehung setzen sollen. Damit wird zugleich die Figur des Reporters aus einer den Proletariern epistemisch übergeordneten Stellung gelöst und Reporter und Proletarier werden als für die Wissensproduktion der Reportage gleichberechtigt präsentiert. Während diese Reportage der Möglichkeit eines solidarischen Dialogs mit nicht in der Arbeiterbewegung organisierten Proletariern nachspürt, repräsentiert „Rings um das Grab von Tamerlan“ aus Asien gründlich verändert ein Gespräch zwischen dem kommunistischen Reporter und einem usbekischen Arbeiterbewegungsaktivisten, den der Reporter durchgehend als „Genosse Mustapha“ und damit als Teil eines transnationalen kommunistischen Kollektivs anredet. Mustapha wiederum sieht den Reporter als einen der vielen Usbekistan besuchenden „Europäer – Arbeiter,Volkwirtschaftler, Marxisten, Gelehrte, Schriftsteller“, die er
Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 242. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 247 f. Hervorhebung im Original.
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4 Reportage und Internationalismus
dafür kritisiert, dass sie nicht nach Zentralasien reisen, um die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungserrungenschaften der Sowjetrepubliken zu begutachten, sondern „nach Samarkand [kommen], um Romantik anzuglotzen“, also Paläste, Moscheen oder Gräber.¹⁵⁶ Der solidarische Dialog in den Kontaktzonen der Arbeiterbewegung wird bei Kisch somit als einer dargestellt, der auch durch verschiedene Perspektiven und Interessen der Akteure gekennzeichnet ist. Das transnationale Proletariat ist in dieser Hinsicht keineswegs ein homogenes. Dabei geht es nicht nur darum, was gesehen wird, sondern auch wie gesprochen werden soll bzw. wie Modernisierung und Tradition sprachlich koexistieren. Kisch spielt diese Frage ironisch an der von Mustapha kontinuierlich verwendeten Redewendung „Der Teufel soll euch holen“ durch, die er als Überbleibsel religiösen Gedankenguts zu identifizieren glaubt. Jedoch überlässt die Reportage Mustapha die Deutungshoheit hierüber. Mehr noch: Die Reportage lässt Mustapha den Blick des Reporters lenken: „Gut, Genosse Mustapha, wir möchten also das asiatische Altertum sehen und das mohammedanische Mittelalter.“ „Der Teufel soll euch holen, ihr wollt nur …“ „Ich denke, der Teufel ist abgeschafft, Genosse Mustapha?“ „In Samarkand ist vieles noch nicht abgeschafft, was anderswo abgeschafft ist. Kommt, ich werde es euch zeigen – ihr Europäer, die der abgeschaffte Teufel abschaffen sollte.“¹⁵⁷
Die Perspektive der Europäer soll „abgeschafft“ werden, der Genosse Mustapha seine Welt selbst „zeigen“. Während die Reportage aus dem Dialog zwischen Mustapha und der Figur des Reporters sowie aus beschreibenden und analytischen Passagen des Reporters besteht, ist der letzte Absatz der Reportage eine durch direkte Rede wiedergegebene Äußerung Mustaphas – und nicht der Figur des Reporters. Dem solidarischen Dialog ist also – ganz gleich ob in der Begegnung des Reporters mit Proletariern in der Arbeiterbewegung oder jenseits dieser – eine Infragestellung der epistemischen Souveränität des Reporters eigen. In diesem Sinne produzieren Kischs Reportagen ein Wissen über das globale Proletariat durch den solidarischen Dialog zwischen Proletariern und Reporter, während sie zugleich die epistemische Hierarchie zwischen den Klassen – und Kulturen – destabilisieren und die Gleich- oder sogar Höherwertigkeit proletarischen Wissens in Szene setzen. Da jedoch die Figur des bürgerlichen Reporters als Akteur in der Produktion eines solches Wissens erhalten bleibt, unterscheidet
Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 238. Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 239.
4.4 Solidarischer Dialog, Erzählinstanz und die „epistemische Figur des Reporters“
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sich Kischs Neuerfindung der epistemischen Figur des Reporters von proletarischrevolutionären Ansätzen, wie sie zeitweise im BPRS vertreten wurden, die im bürgerlichen Schriftsteller den ‚Geburtshelfer‘ proletarischer Selbstartikulation sahen.¹⁵⁸ Die Kritik am Zusammenhang von Romantisierung und Reise, die durch Mustapha artikuliert wird, ist auf den Reisebericht gewendet eine Kritik, die Kischs Reporterfigur sich zu eigen macht. So grenzt sich der Reporter zum Beispiel in Paradies Amerika ganz ausdrücklich von den „feschen Reiseschriftstellern“ ab, deren Darstellung der USA ein „Phantasieprodukt“ sei, das an der Wirklichkeit zerbreche.¹⁵⁹ Kisch versucht, den Reisebericht zu objektivieren, indem er klischeehafte Motive aufnimmt und durch eine so ironische wie gesellschaftsanalytische Darstellung dekonstruiert. Exemplarisch geschieht dies in „Ritt durch die Wüste und über den Schott“ aus Wagnisse in aller Welt am Gegenstand der Oase: Am Saum der Oase fünfzehn Häuser, der Hain zählt etwa dreihundert Bäume. Den günstigsten Fall vorausgesetzt, daß jedes Familienoberhaupt Besitzer von Palmen ist und jeder Baum achtzig Kilo Datteln trägt von je fünf Franken Kaufwert, so ergibt das im Durchschnitt einen Jahresverdienst von achttausend Franken (etwa tausend Reichsmark) pro Familie, wovon die Steuer abgeht, ein Franken fünfzig pro Baum. […] Verzeihung – aber zu solchen Berechnungen verführt die Oase; lang reitet man über Sand und Stein, der keinen Gedanken eingibt, und plötzlich sieht man sich einer deutlichen Vermögensaufstellung gegenüber.¹⁶⁰
Dennoch stellt Kisch einem projektiven Verhältnis zur Realität, das besonders in klischeehaften Bildern zum Ausdruck kommt, nicht einfach die Konzeption eines unmittelbaren und authentischen Zugangs zur Wirklichkeit gegenüber. Seine Reportagen weisen vielmehr selbstreflexiv darauf hin, dass Wirklichkeitserfahrung von kulturellen und literarischen Imaginationen überformt ist und auch der kischsche Reporter sich dem nur schwer entziehen kann. So macht er in „Mit den Schwarzfahrern der Ozeane“ zum Beispiel deutlich, dass er die Proletarier, denen er in Ellis Island begegnet, mit den Abenteurern identifiziert, die er von Jack London und Karl May kennt, und erklärt kurz darauf, dass eine solche Beschreibung dieser Menschen nicht vollkommen akkurat sei, da es unter ihnen auch „ganz gewöhnliche Fälle von Grenzüberschreitungen“ gebe, also zum Bei-
Zu dieser insbesondere von Andor Gábor vertretenen Geburtshelferthese vgl. Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1971, S. 50. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 207 u. S. 29. Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 489 f.
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4 Reportage und Internationalismus
spiel Arbeitsmigranten.¹⁶¹ Da der Reisebericht, der das Ferne nah bringen soll, zusammen mit dem Augenzeugenbericht, der das Berichtete authentisieren soll, eine der literarischen Quellen der Reportage ist,¹⁶² gehört die kritische Auseinandersetzung mit der Gattung des Reiseberichts zu Kischs Neuerfindung der epistemischen Figur des Reporters. Seiner Reporterfigur ist neben einer solidarischen Dialogizität und einer offenen Parteilichkeit, die sich unter anderem auch in oftmals beißender Satire äußert,¹⁶³ mit welcher proletarische Individuen und Gruppen selbst nie bedacht werden, eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Gattungsgeschichte eingeschrieben. Diese stellt romantisierenden Konventionen von Reiseberichten eine aufklärerische, manchmal beinahe wissenschaftliche Nüchternheit und ein ideologiekritisches Wissen von der kulturellen Formung von Wirklichkeitswahrnehmung und -repräsentation gegenüber.
4.5 Wissen vom transnationalen Proletariat Ob in ihrer Genealogie aus der frühen Stadtforschung oder in Kischs literaturgeschichtlicher Selbstbeschreibung, die Reportage ist eng mit der Produktion von Wissen über Proletarier und Proletarierinnen verbunden. Diese Wissenserzeugung ist erstens von der epistemischen Figur des Reporters untrennbar, in der die Recherchetätigkeit des Journalismus mit literarischen Darstellungsformen kombiniert wird. Zweitens ist die Reportage für die Produktion eines Wissens über das Proletariat gerade im Kontext der Weimarer Republik auch deshalb so relevant, weil sie, wie Matthias Uecker hervorgehoben hat, als Gattung „an zentralen Elementen des (natur)wissenschaftlichen Diskurses teilzunehmen versuchte. Mit Kategorien wie „Tatsachen“, „Beobachtung“ und „Präzision“ […] beanspruchten [die Reporter] das Prestige wissenschaftlicher Zuverlässigkeit“.¹⁶⁴ Ganz ausdrücklich hatte die Reportage dann auch für Kisch den „Anspruch auf wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheit“.¹⁶⁵ Es gilt jedoch zu bedenken, dass „scheinbar aus der Mathematik übernommene[ ] Begriffe [bei ihm lediglich] als Metaphern, nicht als präzise methodische Anleitung [fungieren]“.¹⁶⁶ Ein Beispiel ist der Begriff der „Wahrscheinlichkeitskurve“, den Kisch in seinem programmatischen Essay „Wesen des Reporters“ verwendet, um zu erläutern, wie der
Vgl. z. B. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 243. Vgl. Haller: Die Reportage, S. 20 u. S. 31. Zu Satire bei Kisch vgl. z. B. Hofmann: Egon Erwin Kisch, S. 234. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 359. Kisch: Reportage als Kunstform und Kampfform, KGW 9, S. 400. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 359.
4.5 Wissen vom transnationalen Proletariat
215
Reporter die in der Wirklichkeit beobachteten Ereignisse in der literarischen Darstellung verbinden solle.¹⁶⁷ Das „Gattungswissen“ der Reportage, also das Wissen, das sowohl durch die spezifische Darstellungsform einer Gattung entsteht als auch ein der Gattung spezifisches Wissensobjekt implizieren kann,¹⁶⁸ bleibt bei Kisch jedoch in seiner Entstehung methodisch unpräzise, in seiner Präsentation unsystematisch und zielt nicht auf Vollständigkeit oder Kohärenz.¹⁶⁹ Wissenschaftlichen Standards genügt es deshalb selbstverständlich nicht.Wissen ergibt sich bei Kisch aus einer von Reportage zu Reportage unterschiedlichen, in fast jedem Fall jedoch durch das Erleben und die Beobachtungen des Reporters organisierten Kombination von Ereignissen, Gesprächen und Dokumenten mit literarischen Referenzen sowie Selbstreferenzen und vor allem mit historischem, kulturellem und ethnografischem Wissen, über das die Erzählinstanz verfügt und durch das die Augenzeugenschaft des Reporters kontextualisiert und die Gegenwart eines besuchten Ortes mit dessen Geschichte verbunden wird. Allerdings tritt bei Kisch gerade durch das Unsystematische und die damit verbundene Offenheit des Reportagewissens die Heterogenität proletarischer Lebensformen in den Vordergrund. Eine solche Heterogenität kann als das „Nicht-Wissen“¹⁷⁰ der auf Kategorisierbarkeit und Kontrolle der Proletarier und Proletarierinnen angelegten Darstellungsformen der Stadtforschung sowie der hegemonialen Imagination der Arbeiterbewegung betrachtet werden, die um die Figur eines normativen Proletariats zentriert war. Kischs Reportagen machen also auch ein „NichtWissen“ dominanter Darstellungen des Proletariats „sichtbar“.¹⁷¹ Wenn Kischs Reportagen Teil einer Gattungsgeschichte seit dem neunzehnten Jahrhundert sind, in der Wissen über proletarische Bevölkerungsgruppen produziert wird, kann Kischs Beitrag – neben seiner Neuerfindung der epistemischen Figur des Reporters – darin gesehen werden, dass er das Gattungswissen der Reportage aus lokalen und nationalen Kontexten löst und sich dem transnationalen Proletariat als Beobachtungsgegenstand und Dialogpartner zuwendet.¹⁷² Kischs Reportagensammlungen generieren Wissen über das Proletariat in Vgl. Kisch: Wesen des Reporters, KGW 9, S. 206. Ich entlehne den Begriff des Gattungswissens von Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg und folge Teilen ihrer Bestimmung. Vgl. Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg: Einleitung. In: Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Hg. v. Michael Bies, Michael Gamper u. Ingrid Kleeberg. Göttingen 2013, S. 7– 18. Eine größere Nähe der Reportage zur Systematik der Wissenschaft – hier der Sozialwissenschaft – findet sich bei Kracauer, vgl. Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 430 – 433. Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung, S. 11. Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung, S. 11. Zumindest im deutschsprachigen Kontext tut Kisch dies so radikal wie sonst niemand. Eine weitere deutschsprachige Autorin, die in ihren Reportagen das transnationale Proletariat reprä-
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4 Reportage und Internationalismus
seiner globalen Dimension und machen das dabei entstehende transnationale Proletariat als ein heterogenes sichtbar. Globalität bedeutet bei Kisch allerdings nun nicht „a comprehension of the world as a single bounded and interconnected entity developing in common time and space“, wie Sanjay Krishnan treffend mit Blick auf das dominante Verständnis von Globalität in zeitgenössischen Globalisierungsdiskursen formuliert hat.¹⁷³ Diese eine Welt gibt es in Kischs Reportagensammlungen nicht. Globalität ist bei Kisch vielmehr im Sinne zweier seit der Oktoberrevolution in Konflikt miteinander stehender und durch diesen Konflikt verbundener Systeme zu verstehen, deren Unterschied so grundsätzlich ist, dass diese Welten nach unterschiedlichen Darstellungsformen verlangen: „Während im kapitalistischen Kosmos fast nichts als Elend, Unterdrückung, Lächerlichkeit oder Stagnation die Modelle des Reporters sind, ist die sich aufbauende sozialistische Welt für ihn der Anlaß, positiv zu werden.“¹⁷⁴ Damit ist auch die Welt des transnationalen Proletariats in eine kapitalistische und eine sozialistische geteilt. Schon auf dieser ganz fundamentalen Ebene ist das globale Proletariat also kein homogenes, insofern die in den verschiedenen Systemen lebenden Proletarier von Kapitalismus und Sozialismus unterschiedlich betroffen sind, sie entweder Zeitlichkeiten der „Stagnation“ oder des Fortschritts ausgesetzt sind. Die einen erfahren ihre Welt bereits durch eine Temporalität des Fortschritts als Überwindung des Kapitalismus; für die anderen ist diese vorerst nur eine weltgeschichtliche Potentialität, an der sie bestenfalls durch ein Engagement in der Arbeiterbewegung und durch deren Zukunftsorientierung partizipieren. Die eine Welt ist bei Kisch bestenfalls eine durch die Weltrevolution eröffnete Zukunftsperspektive. Die proletarische Moderne, die Kischs Reportagensammlungen erzeugen, erstreckt sich damit nicht nur über verschiedene Kontinente, Nationalstaaten, Kulturen und Sprachen, sondern sie umfasst auch kapitalistische und sozialistische Modernen. Sie ist systemisch, sprachlich und kulturell ausdifferenziert und besteht aus verschiedenen Lebenswelten. Während die Imagination der Welt in Form von zwei durch einen Konflikt verbundene Welten unterschiedliche thematische Schwerpunkte in den verschiedenen Sammlungen nach sich zieht,¹⁷⁵
sentiert, ist Maria Leitner. Ihre Sammlung Eine Frau reist durch die Welt (1932) umfasst die Karibik, Nord- und Südamerika und bleibt damit hinter der Globalität Kischs zurück.Vgl. zu Leitner: Poore: Bonds of Labor, S. 139 – 151. Sanjay Krishnan: Reading Globalization from the Margin. The Case of Abdullah Munshi. In: Representations 99 (2007), S. 40 f. Kisch: Welche neuen Gestaltungsmöglichkeiten, KGW 9, S. 269. So wird die Darstellung der sozialistischen Welt in Zaren, Popen, Bolschewiken und Asien gründlich verändert zum Beispiel von Modernisierung und dem Aufbau neuer Institutionen do-
4.5 Wissen vom transnationalen Proletariat
217
sind Kischs Darstellungen von proletarischen Welten im Sozialismus und Kapitalismus jedoch gleichermaßen dadurch charakterisiert, dass sie einer normativen Imagination des transnationalen Proletariats entgegenarbeiten. Die proletarische Moderne wird bei Kisch nicht mit einem urbanen und männlichen Industrieproletariat gleichgesetzt. Kischs Reportagen antizipieren bereits in den 1920er und frühen 1930er Jahren ein Wissen über das transnationale Proletariat, wie es ausdrücklich erst durch die zeitgenössische Transnational Labour History formuliert werden sollte. Einen methodischen Nationalismus und Eurozentrismus problematisierend, stellt diese Form der Geschichtsschreibung die Universalität des marxistischen Modells des doppelt freien Lohnarbeiters in Frage und hebt stattdessen die transnationale Verschränkung verschiedenster Arbeitsverhältnisse hervor, die in der kapitalistischen Moderne koexistieren.¹⁷⁶ Ein solches Wissen wird in Kischs Reportagen artikuliert, insofern der Reporter der Diversität proletarischer Lebensweisen, Subjektivierungsformen, Arbeitsverhältnisse und Widerstandspraktiken global nachspürt und diese in transnationalen Zusammenhängen darstellt.¹⁷⁷ Dieses für die Sammlungen charakteristische Interesse führt auch dazu, dass die Arbeiterbewegung, die der Referenzpunkt von Kischs (kultur‐)politischem Engagement und seiner weltliterarischen Autorschaft ist, innerhalb seiner literarisch entworfenen proletarischen Welten nicht im Mittelpunkt steht. Die Reportagensammlungen sind thematisch wie auch politisch dezentriert, da sie die Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Arbeiterbewegung relativ gleichberechtigt neben einer großen Zahl ganz verschiedener proletarischer Subjektivierungen und Kulturpraktiken zeigen. Die Sammlungen entwerfen eine – systemisch ausdifferenzierte – proletarische Moderne durch eine narrativ nicht aufgelöste Spannung zwischen der Politik der internationalistischen Arbeiterbewegung und der in dieser nicht aufgehenden Heterogenität des Proletarischen.
miniert, während Gegenöffentlichkeiten, politische Kämpfe und ausbeuterische Arbeitsbedingungen eine signifikantere Rolle in Wagnisse in aller Welt, Paradies Amerika und China geheim spielen, die allesamt die kapitalistische Welt zum Gegenstand haben. Vgl. Marcel van der Linden: Transnational Labour History. Explorations. Aldershot/Burlington 2003; Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays toward a Global Labor History. Leiden/Boston 2008. Wie Patrick Eiden-Offe in Poesie der Klasse gezeigt hat, lässt sich ein Wissen von einem nicht-normativen Proletariat bereits in der Literatur des Vormärz finden. Dieses hat – zumindest in Eiden-Offes Rekonstruktion der Quellen – allerdings nicht annährend die globale Dimension, die es später bei Kisch haben sollte.
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4 Reportage und Internationalismus
Ist der männliche, urbane und industriell beschäftigte Arbeiter in Kischs Reportagensammlungen randständig,¹⁷⁸ werden diese Texte von anderen proletarischen Figuren dominiert. Kischs Reportagen transportieren beispielsweise Wissen über am Schmuggelhandel partizipierende „Gattinnen von Eisenbahnern“ in Russland, über proletarisierte Kleinhändlerinnen und Dienstleistende in Moskau, über Rischkafahrer in Schanghai, über jugendliche Textilarbeiterinnen in China, über Träger in Schanghais Lagerhäusern, über Flößer auf der Moldau, über aus China und Malaysia stammende Heizer auf britischen Schiffen und immer wieder über Prostituierte, denen der Reporter an beinahe jedem der von ihm besuchten Orte begegnet und deren Tätigkeit so als global verbreitete proletarische Arbeitsform hervortritt.¹⁷⁹ Dabei schildert Kisch detailliert Arbeitsbedingungen, die Vergeschlechtlichung proletarischer Tätigkeiten, die spezifischen kulturellen Praktiken und Widerstandsformen von Proletariern und Proletarierinnen und zeigt zudem, wie viele dieser scheinbar marginalen Formen von Proletarität zentral für das Funktionieren kapitalistischer Warenproduktion und -zirkulation sind. Selbst wenn Kisch als teilnehmender Beobachter längere Zeit mit Proletariern verbringt, bezeichnet er sie jedoch nur im seltensten Fall mit ihren Eigennamen. Er benennt sie in erster Linie durch ihre Berufsbezeichnungen. Dadurch wird sicherlich erstens soziale Typisierung signalisiert – die einzelnen proletarischen Individuen stehen für eine sozio-kulturelle Gruppe mit bestimmten Merkmalen. Zweitens wird so jedoch auch hervorgehoben, dass es verschiedene Formen von proletarischer Subjektivierung gibt, die an konkrete Tätigkeiten, kulturelle Kontexte und Orte gebunden sind und die deshalb gerade nicht in der abstrahierenden Figur des Arbeiters aufgehen. Die Bezeichnung ‚Arbeiter‘ findet sich dann in Kischs Reportagen auch nur relativ selten. Jedoch werden diese proletarischen Subjektivierungen bei Kisch keineswegs als rein individuelle Bildungsprozesse gezeigt. Sie erfolgen immer in Gruppen – in Gruppen von Rischkafahrern oder Flößern beispielsweise – und werden so als Teil von gemeinschaftlichen und suprapersonalen Arbeits- und Kulturprozessen gezeigt. Selbst wenn Kischs Reportagensammlungen nicht im gleichen Maße mit der Formierung von internationalistischen Kollektiven beschäftigt sind wie die Texte Jungs und Seghers, betonen sie doch die Bedeutung kollektiver Praktiken für proletarische Subjektformationen – zum Beispiel die gesellige Debattenkultur
Selbst noch in ausdrücklich dem Industrieproletariat gewidmeten Reportagen wie „Bei Ford in Detroit“ betont Kisch die kulturelle und nationale Heterogenität des transnationalen Proletariats. Vgl. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 267. Vgl. Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 15 u. S. 37– 39.; Kisch: China geheim, KGW 3, S. 439 – 444, S. 463 – 471 u. S. 534– 540; Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 499 – 506 u. S. 532 f.
4.5 Wissen vom transnationalen Proletariat
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der Flößer auf der Moldau oder das gemeinsame Singen der Lastenträger in Schanghai. Während einzelne Reportagen sich oftmals auf bestimmte proletarische Gruppen konzentrieren, werden diese Gruppen zusammen innerhalb einzelner Reportagen wiederholt durch eine Poetik der Aufzählung repräsentiert.¹⁸⁰ Die Aufzählungen sind allerdings nicht durch eine wertende Hierarchisierung der proletarischen Gruppen – etwa im Sinne von klassenbewusstem Proletariat und Lumpenproletariat – arrangiert. Sie sind also gerade keine Ranglisten, sondern stellen die proletarischen Typen lediglich nebeneinander: Die wahren Interessenten pilgern zu Fuß aus den Arbeiterhäusern von Shadwell, aus den Docks von Bromley, aus den Seemannsheimen von Blackwall, aus den chinesischen Heizerquartieren von Limehouse, aus den schmierigen Zigeunerhöhlen von Millwall, aus den Werkstätten der „Sweated work“ = Schneider in den Minories, aus den Kellerlöchern der Schuster von Shoreditch, von den Kais in Poplar, Irländer aus ihrer geschlossenen Kolonie in der Riche Street, Packer, Auslader oder Gelegenheitsarbeiter. Und armselige Strolche und noch armseligere Huren.¹⁸¹
Die Poetik der Aufzählung evoziert ein in seinen Tätigkeiten wie seinen nationalen Herkünften heterogenes Proletariat, das sich – trotz unterschiedlicher und durchaus voneinander getrennter Wohnorte – auf dem Markt der Petticoat Lane im Londoner Viertel Whitechapel verdichtet. Die Poetik der Aufzählung konstruiert auf Satz- wie Absatzebene damit das, was die Reportagen und die Reportagensammlungen in ihrem werkinternen Verhältnis zueinander erzeugen: ein transnationales Proletariat, dessen Phänomenalität sich normativ begrenzten Imaginationen entzieht. Fungiert der Markt bei Kisch als ein Ort der räumlichen Verdichtung eines transnationalen Proletariats, ist der wohl noch zentralere Schauplatz dieses Prozesses der Hafen.¹⁸² Beiden Orten ist gemeinsam, dass sie Räume sind, an denen sich auch die kapitalistische Warenzirkulation verdichtet; sie veranschaulichen die Untrennbarkeit von globalem Kapitalismus und transnationalem Proletariat. Indem Kisch das Motiv des Hafens als Kristallisationspunkt verschiedener Kulturen aufnimmt und emphatisch als proletarischen Ort kodiert, transformiert er ein
Vgl. auch Schlenstedt (Egon Erwin Kisch, S. 173 f.), der von „Reihung“ spricht und Kischs Verfahren mit Döblin und der Großstadterfahrung in Verbindung bringt. Egon Erwin Kisch: Hetzjagd durch die Zeit, KGW 5, S. 361. Neben Häfen und Märkten bzw. Basaren zählen noch Fabriken, Gefängnisse und Börsen zu den Orten, die Kisch in fast allen der von ihm bereisten Nationen besucht und die so eine Art räumlichen Index der Moderne darstellen.
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Motiv, das in der Literatur weit verbreitet ist und sich zum Beispiel auch bei Kischs Zeitgenossen Kracauer finden lässt.¹⁸³ Die Reportage „Tagebuch vom New Yorker Hafen“, die in Paradies Amerika enthalten ist, zeigt die proletarische Dimensionen des Hafens exemplarisch. Hier „ist die Hauptstraße des Hafens, die Avenue der Arbeit, der Weg der Ware“.¹⁸⁴ Der New Yorker Hafen ist Knotenpunkt von Arbeit und Kapital. Während der „Weg der Ware“, der zu den Vierteln der Reichen führt, auf der westlichen Seite Manhattans liegt, finden sich – dem Motiv der nach Klassen geteilten Stadt folgend, welches in der Arbeiterbewegungsliteratur der Weimarer Republik verbreitet ist¹⁸⁵ – die proletarischen Quartiere im Osten der Stadt. Kisch beschreibt ethnografisch die Essgewohnheiten, Institutionen und Lebensweisen der seefahrenden Proletarier und schildert das proletarische Hafenviertel nicht als homogen, sondern als Ort eines politischen und kulturellen Wettstreits.¹⁸⁶ Das Viertel ist zugleich der Raum des „Lumpenproletariat[s] des Meeres“¹⁸⁷ und einer in sich selbst sprachlich, kulturell, ethnisch und politisch heterogenen Gegenöffentlichkeit der Arbeiterbewegung, deren Einrichtungen Kisch gegenüber den konkurrierenden Seemannsheimen von u. a. religiösen Wohlfahrtsorganisationen privilegiert: [Mit dem Seaman’s Church Institute] können das holländische und das deutsche Seemannshospiz in Hoboken nicht wetteifern, und die Gewerkschaften erst recht nicht. Auf Coentis Slip haben die IWW (International Workers of the World) ihr Hafenlokal, ein langes Zimmer mit Büchern, Plakaten und Propagandaschriften, meist in englischer Sprache und in Esperanto. Kosmopolitischer und lebhafter, wie auf einem Diskussionsabend, geht es South Street 26 zu, im International Seamen’s Club; hier sind auch Schwarze, die ihr revolutionäres Blatt „Negro Champion“ lesen, hier sind auch Schauerleute und andere Transportarbeiter des Hafens, Chinesen und Europäer, hier ist mehr Jugend als in den kirchlichen und nationalen Heimen, und es scheint, daß die Politik einen stärkeren Anziehungspunkt bildet als teure Treppengeländer mitsamt den Namen der Spender.¹⁸⁸
Die proletarische Moderne, als in der Hafenkultur verdichtete, ist bei Kisch multikulturell, multilingual, multiethnisch, politisch vielfältig und eine, die sich, wie der Hafen selbst, zumindest tendenziell jenseits des Raums des Natio-
Vgl. z. B. Siegfried Kracauer: Marseille. In: Siegfried Kracauer: Werke. Bd. 5.4. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 2011, S. 55 f. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 41. Vgl. z. B. Klaus Neukrantz: Barrikaden am Wedding. Roman einer Straße aus den Berliner Maitagen 1929. Mit einem Nachwort von Rüdiger Safranski. Berlin 1978, S. 16 f. u. S. 48. Vgl. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 43 – 47. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 46. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 46.
4.5 Wissen vom transnationalen Proletariat
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nalen bewegt.¹⁸⁹ Zugleich ist diese Moderne, folgt man einer Reportage über den Londoner Hafen, durchzogen von Rassismus und Nationalismus im Proletariat selbst.¹⁹⁰ In „Chinesenstadt“, enthalten in Wagnisse in aller Welt, berichtet Kisch über auf den West India Docks arbeitende Seeleute, die aus Asien stammen.¹⁹¹ Diese mehrheitlich chinesischen Proletarier sind mit diffamierenden „Plakate[n] [konfrontiert], die den Chinesen drohen, sie einschüchtern sollen“, und die die englischen Seeleute aufrufen zu einem „Kampfe gegen das Eindringen der mongolischen Lohndrücker auf britischen Schiffen“, „gegen die gelbe Gefahr“, wie die Reportage das Plakat zitiert.¹⁹² Die Passage konfrontiert die von Nationalismus und Rassismus durchzogene Wirklichkeit einer fragmentierten Arbeiterbewegung mit Kischs internationalistischer Vision eines geeinten transnationalen Proletariats, das er durch global geteilte Ausbeutungserfahrungen ermöglicht sieht, die den „Osten Asiens“ mit dem „Osten Londons“ verbinden.¹⁹³ Seine eigene Augenzeugenschaft, das von ihm in London Erlebte, wird im letzten Absatz der Reportage aufklärerisch gegen die rassistische Propaganda im Londoner Hafen gestellt, welche die Wirklichkeit verzerrt und Solidarität durch Ressentiment erschwert. Die Reportage ermöglicht den Lesenden ein alternatives Wissen über die chinesischen Seeleute, die Teil eines transnationalen Proletariats sind: Nein, so sehen sie nicht aus, die Burschen, die uns auf der Straße begegnen und die uns dort oben im Teehaus so stürmisch um Arbeitsgelegenheit baten, nein, triumphieren wollen sie nicht über den weißen Arbeiter. Sie wollen es bloß, wenn sie überhaupt etwas wollen, nicht schlimmer haben als er, vielleicht sind sie Anhänger Sun Yat-sens und hoffen auf die soziale Befreiung – aber höhnisch und sieghaft, wie das Plakat sie malt, sind sie keineswegs, die quittengelben, armen, ausgemergelten Kerle, nicht ohne Not haben sie die Heimat mit der Fremde vertauscht, ganz gewiß nicht ohne Not zogen sie aus dem Osten Asiens in den Osten Londons.¹⁹⁴
Der durch eine Geografie der Armut gekennzeichneten proletarischen Welt des Kapitalismus steht in den Sammlungen Zaren, Popen, Bolschewiken und Asien
Kisch formuliert diesen letzten Aspekt in einer Reportage über Marseille ausdrücklich: „Nein, Marseille ist nicht mehr Frankreich, und seine Bewohner gehören den Meeren und Molen allein.“ Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 521. Diesen Rassismus innerhalb des Proletariats beschreibt Kisch auch für die USA, wobei er Kommunisten als antirassistische Avantgarde präsentiert. Vgl. Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 49 u. S. 53. Vgl. Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 531– 535. Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 535. Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 536. Kisch: Wagnisse in aller Welt, KGW 5, S. 535 f.
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4 Reportage und Internationalismus
gründlich verändert eine proletarische Welt des Sozialismus gegenüber, deren Darstellung, wie Siegel zutreffend formuliert hat, „nicht der Auseinandersetzung mit der Theorie und sichtbaren Diskrepanzen zur sowjetischen Realität [dient], sondern versucht die von der Partei intendierte praktische ‚Heilung der Gesellschaft‘ und die dabei entstehenden Schwierigkeiten zu protokollieren“.¹⁹⁵ Die sarkastische und offen anklagende Rhetorik, mit der die kapitalistische Welt bedacht wird, wird hier durch eine den sozialistischen Aufbau zelebrierende Repräsentation ersetzt. Dies ist so offensichtlich, dass Kisch ein solches seinem Ideal der Reportage widersprechendes Vorgehen selbst konstatiert: „Über das, was Sowjetrußland in der Einrichtung von Sanatorien, Adaptierung von Kurorten, Villen, Schlössern und Klöstern zu gemeinnützigen Zwecken geleistet hat, lässt sich nicht sprechen, ohne den Ton kühler und kritischer Berichterstattung zu verlassen.“¹⁹⁶ Die Darstellung der sozialistischen Welt des Proletariats, die sich bei Kisch von Russland bis nach Zentralasien zieht, ist geprägt durch die Dokumentation der Neuentstehung von industriellen Anlagen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, Städten sowie von Fortschritten bei der Integration von Bildung und Arbeit, der Alphabetisierung großer Bevölkerungsteile, des Schwindens der Religion und der Emanzipation von Frauen. Diese neuen Themenschwerpunkte gehen mit veränderten Darstellungsstrategien einher. Erstens fällt die Dominanz von Zahlen und statistischen Angaben im Unterschied zu den mit der kapitalistischen Moderne beschäftigten Sammlungen auf. Diesen kommt zweifellos die Funktion zu, den beschriebenen Wandel messbar zu machen und als objektiv erscheinen zu lassen.¹⁹⁷ Zweitens dominieren Formulierungen, die Wandel evozieren, das Alte mit dem Neuen vergleichen und die proletarische Welt in Russland und Zentralasien durch Kontraste zwischen „Einst“ und „Jetzt“ darstellen.¹⁹⁸ Die Repräsentation der proletarischen Welt des Sozialismus als eine durch gesellschaftlichen Wandel charakterisierte geht einher mit einer Imagination räumlicher Ausdehnung. Die durch die Revolution neu strukturierte Wirklichkeit gestaltet den Raum um und findet ihre Grenze lediglich an der Fortexistenz der kapitalistischen Welt. Diese wird durch das Reisenarrativ des Reporters allerdings mit der weltgeschichtlichen Vergangenheit („Im Winter vorigen Jahres“) verbunden, während der weltgeschichtliche Unterschied selbst in einen räumlichen Gegensatz übersetzt wird:
Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 183. Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 140. Vgl. Siegel: Egon Erwin Kisch, S. 183. Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 184.
4.5 Wissen vom transnationalen Proletariat
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1500 Kilometer haben wir hinter uns, und noch immer fahren wir über den Fünfjahresplan. Europa – Asien? Wir merken keinen Unterschied. Im Winter vorigen Jahres waren wir gezwungen, in dem ukrainischen Grenzdorf Schepetowka einen ganzen Tag zuzubringen und gleich darauf im polnischen Grenzdorf Zdolbunowo einige Stunden. Da sahen wir freilich einen Unterschied. Hüben Werkschulen, Abendkurse, Neubauten, drüben der Geistliche, dem man die Hand küßt, Händler, die dem Reisenden Kaviar und Rubel abkaufen wollten, ein Schlepper, der dem Reisenden ein Bordell empfahl […].¹⁹⁹
Kischs „Konfrontationsmethode“,²⁰⁰ durch die die proletarischen Welten des Kapitalismus und des Sozialismus im Sinne einer geteilten Welt miteinander verglichen werden, betrifft auch den Prozess der Modernisierung selbst, insofern die Organisation des Arbeitsprozesses die industriellen Welten des Proletariats in den zwei Systemen unterschiedlich gestaltet. Während proletarische Arbeit in den „Werften und Docks“ der kapitalistischen Welt – auch formal durch die Dominanz grammatikalischer Passivkonstruktionen – als entfremdeter und automatisierter Prozess dargestellt wird, in dem Proletarier als handelnde Subjekte weitestgehend abwesend sind,²⁰¹ wird in der sozialistischen Welt die Rationalisierung des Arbeitsprozesses im Sinne des Proletariats organisiert. Den Akteuren gelingt es beispielsweise, „einige Handgriffe des Taylorismus, die drüben in ihrer lebenslänglichen alleinigen Anwendung den Menschen im Arbeiter vernichten, zugunsten des Arbeiters in seinem System einzufügen“.²⁰² In der sozialistischen Welt katalysiert der vom Reporter untersuchte Fünfjahresplan einen Prozess, den David Harvey für die Moderne als time-space compression beschrieben hat:²⁰³ „Es gab keine Eisenbahn im Gebiet der Sowjetrepublik Tadshikistan, bevor es eine Sowjetrepublik Tadschikistan gab. […] Das alles bedeutet: man fuhr überhaupt nicht, man war abgeschlossen von der Welt. // Jetzt fliegt täglich zweimal der Aeroplan in fünfzig Minuten nach Stalinabad, der neuen Hauptstadt […].“²⁰⁴ Die proletarische Welt des Sozialismus ist bei Kisch die einer kommunistischen Modernisierung, welche potentiell global ist, insofern sie Räume verknüpft und die Distanzen zwischen ihnen verringert, während sie perspektivisch die kapitalistische Welt historisch überwindet und deren Territorien in die sozialistische Moderne integriert. In Anlehnung an Modelle des Klassenkampfes als Widerstreit von zwei Welten konzeptualisiert, könnte sich die
Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 218 f. Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 298. Vgl. Kisch: Hetzjagd durch die Zeit, KGW 5, S. 352 f. Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 57. Vgl. David Harvey: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Malden/Oxford 1990. Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 321.
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4 Reportage und Internationalismus
globale Moderne bei Kisch hin zu der einen sozialistischen Welt entwickeln – nirgends in seinen Texten findet sich jedoch eine Artikulation einer solchen Entwicklung als Teleologie. In der sozialistischen Welt verwischt die Modernisierung nicht nur Unterschiede zwischen Europa und Asien und gleicht diese verschiedenen sozio-kulturellen Sphären gesellschaftlich und ökonomisch einander an. In den Sammlungen wird immer wieder deutlich, dass der Reporter die sich globalisierende Modernisierung der sozialistischen Welt mit Uniformität einhergehen sieht und diese positiv bewertet, da sie für ihn mit Kollektivität und verbesserten Lebensbedingungen synonym ist: Was wir behaupten können, ist das: das flache Land hat sich gewandelt. Die Felder ergeben nicht das bunte Mosaik, das man von überallher kennt; hier herrscht kilometerweit nur eine Farbe, die Äcker sind ein Acker, die Bauern sind ein Bauer geworden, wir sehen langgestreckte Wirtschaftsgebäude, zinngedeckte Stallungen, Maschinen- und Traktorenstationen mit ihren Wagenparks, Kollektivwirtschaften und Sowjetgüter, Elektrostationen, Reihen neuer Einfamilienhäuser mit Gärtchen.²⁰⁵
Jedoch steht diese Tendenz zur Uniformität in den Sammlungen neben der Schilderung der irreduziblen Heterogenität des Proletarischen. Die geschichtsphilosophische Erzählung einer weltgeschichtlichen Homogenisierung, die durchaus dem Narrativ der globalen Angleichung proletarischer Existenzweisen und Erfahrungen im Manifest der Kommunistischen Partei ähnelt,²⁰⁶ bleibt mit vielen konkreten Beobachtungen der epistemischen Figur des Reporters relativ unvermittelt. Dies zeigt sich besonders mit Blick auf Kischs Repräsentation der normativen Figur des Arbeiters, die die Erzählung des Manifests bestimmt. Diese Figur kommt in Zaren, Popen, Bolschewiken und Asien gründlich verändert zwar öfter vor als in den Sammlungen, die sich mit der kapitalistischen Welt des Proletariats auseinandersetzen. Sie wird aber kontinuierlich mit einer sie partikularisierenden Repräsentation des Heterogenen im Proletarischen konfrontiert. In der folgenden Passage aus „Russland in der Eisenbahn“, der ersten Reportage von Zaren, Popen, Bolschewiken, werden klassenbewusste Industriearbeiter neben Bäuerinnen gestellt, die an einer informellen Ökonomie partizipieren: Schwerarbeiter steigen in den Waggon und wollen von dem ausländischen Passagier wissen, wieviel Wochen Urlaub einem Metallarbeiter in Deutschland gesetzlich zustehen, wieviel Lohn ein Hauer hat […]. In Artjomowsk steht das Gewerkschaftshaus des Donezbeckens, ein neues ist im Bau, ein Bronzeobelisk auf dem Bahnhof nennt die Namen der Arbeiter, die von
Kisch: Asien gründlich verändert, KGW 3, S. 217. Vgl. MEW 4, S. 472.
4.6 Literarische Erzeugung von Globalität: Vergleich und Reportagensammlung
225
den Weißen füsiliert wurden. Von Fördertürmen weht ein rotes Flaggentuch – rote Fahne über schwarzem Land, aus den Schloten unvertünchter Ziegelbauten weht der Rauch – schwarze Fahne über rotem Land. Auf allen Stationen ist es gleich, über eine niedrige Hürde strecken Weiber ihre Körbe, in denen Eier sind oder frischgebackenes Brot (unter einem Kissen warmgehalten) oder gebratene Hühner, deren Preis je nach der Größe (der Station) von fünfzig Kopeken bis zu einem Rubel dreißig Kopeken schwankt; Milch wird gleichfalls feilgeboten.²⁰⁷
Das Wissen über das transnationale Proletariat, das durch Kischs Reportagen erzeugt wird, beschreibt dieses also selbst in der sozialistischen Welt als – zumindest gegenwärtig – heterogenes.
4.6 Literarische Erzeugung von Globalität: Vergleich und Reportagensammlung Es ist eine Grundannahme der Poetologie des Wissens, dass literarische und andere Darstellungsformen Wissen nicht einfach transportieren. Vielmehr trägt die Darstellungsweise zu dem bei, was als Wissen erzeugt wird.²⁰⁸ Poetiken des Kontrastes, der Aufzählung, der Verdichtung transnationaler Prozesse an bestimmten Orten sowie die transformierende Adaptierung der Figur des Reporters und von Erkundungsnarrativen erzeugen in Kischs Reportagensammlungen das Wissen vom transnationalen Proletariat. Kischs proletarische Welt ist dabei keine Variante von dem, was Aamir R. Mufti in einer Kritik an zeitgenössischen Weltliteraturdebatten und dem ihnen inhärenten, oftmals historisch rückprojizierten neoliberalen Verständnis von Globalität als „one-world thinking“ bezeichnet hat, also als das „require[ment] [to] imagine[ ] the world as a continuous and traversable space“.²⁰⁹ Kischs proletarische Welt ist eine systemisch geteilte. Sie ist außerdem geprägt von der Gleichzeitigkeit der irreduziblen Heterogenität des Proletarischen und der global möglichen – in manchen Staaten schon tatsächlichen – Bewegung hin zur sozialistischen Welt. Letztere impliziert bei Kisch eine positiv kodierte Uniformität, also potentiell die spezifische Variante einer Welt; potentiell, da diese eine sozialistische Welt sich in den sozialistischen Staaten erst zu entwickeln begonnen hat und „im kapitalistischen Kosmos“²¹⁰ lediglich als Möglichkeit präsent ist, als ein potentielles Ergebnis des Konfliktes, Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 13 f. Vgl. z. B. Vogl: Für eine Poetologie des Wissens, S. 122 f. Aamir R. Mufti: Forget English! Orientalisms and World Literatures. Cambridge/London 2016, S. 5. Hervorhebung im Original. Kisch: Welche neuen Gestaltungsmöglichkeiten, KGW 9, S. 269.
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der die Welt teilt. Die Artikulation einer Geschichtsteleologie, die eine solche Entwicklung als unausweichlich darstellen würde, gibt es bei Kisch nicht. Heterogenität und Uniformität stehen in der literarischen Darstellung in unaufgelöster Spannung nebeneinander, selbst innerhalb der sozialistischen Welt. An diese bisherigen Ergebnisse anschließend, untersuche ich nun die zwei zentralen Darstellungsstrategien, durch die Kischs Texte Globalität erzeugen: den Vergleich und die Form der Reportagensammlung. Die Analyse führt zu einem Problem zurück, das uns bereits in der Diskussion von Jungs und Seghersʼ Montageästhetiken begegnet ist, nämlich der Frage danach, wie die vielen unterschiedlichen Orte der globalen Moderne durch die offenen Formen der untersuchten Texte zueinander in Beziehung gesetzt und welche Vorstellungen des Globalen durch diese Relationierung erzeugt werden. Der globale Vergleich, der Orte in unterschiedlichen Regionen und Nationalstaaten miteinander verbindet, fungiert in Kischs Reportage als literarische Strategie, durch die eine transnationale proletarische Moderne erzeugt wird.²¹¹ Der Vergleich ist deshalb so grundlegend für das Verständnis von Kischs literarischem und politischem Projekt, weil durch ihn deutlich wird, dass Kisch selbst dann immer vor dem Hintergrund eines globalen Bewusstseins schrieb, wenn er sich in einer Sammlung – wie zum Beispiel Paradies Amerika – nur mit einem einzigen Nationalstaat beschäftigte. Dem globalen Vergleich ist die Weltgereistheit und somit das transnationale Wissen des Reporters eingeschrieben. Die Vergleiche des Reporters überbrücken eine Wissensdifferenz zwischen den an den verschiedenen Orten situierten Menschen – deren Nichtwissen voneinander – und setzen das unterschiedliche lokale Wissen zueinander in Beziehung. Dies gilt besonders in dem Sinne, dass Kisch bestimmte Vergleiche nutzt, um einen fernen Ort für sein deutsches Lesepublikum verständlich zu machen, indem er diesen mit einem deutschen Ort vergleicht. Durch den globalen Vergleich erzeugt Kisch also ein Wissen über das transnationale Proletariat und kommuniziert es in der deutschsprachigen Gegenöffentlichkeit der internationalistischen Weltliteratur, indem er es in dort wahrnehmbare sozio-kulturelle Muster übersetzt. Wie ähnlich durch die Montage bei Jung und Seghers wird durch den Vergleich das für den linken Internationalismus zentrale Verhältnis von Gleichheit und Andersheit, von Homogenität und Heterogenität in der globalen proletarischen Moderne verhandelt. Zugleich ist der Vergleich ein Verfahren, durch das Kisch die sozialistische und die kapitalistische Welt kontrastierend zueinander in Beziehung setzt. Kischs
Schlenstedt (Egon Erwin Kisch, S. 292 f.) hat auf Vergleiche bei Kisch hingewiesen, ohne diese allerdings ausführlich zu diskutieren oder zur Frage einer transnationalen proletarischen Moderne in Beziehung zu setzen.
4.6 Literarische Erzeugung von Globalität: Vergleich und Reportagensammlung
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Vergleiche unterscheiden sich nach ihrer Länge (von einem Satz bis zu mehreren Absätzen); danach, ob sie konkret sind, insofern sie bestimmte Orte oder Ereignisse in Beziehung zueinander setzten, oder abstrakt, insofern sie allgemeine Bedingungen miteinander vergleichen; danach, ob sie selbstreferentiell sind, also einen werkimmanenten Bezug zu anderen Texten von Kisch eröffnen; oder ob sie über eine literarische oder historische Dimension verfügen, also etwas mit einem literarischen Werk oder einer historischen Begebenheit vergleichen. Die Erzeugung einer globalen proletarischen Moderne durch Vergleiche lässt sich daran erläutern, wie Kisch proletarische Arbeits- und Lebensbedingungen in China, den USA und England in Beziehung zueinander setzt. In Paradies Amerika und China geheim werden New York bzw. Schanghai mit dem Londoner Viertel Whitechapel verglichen: Wer die Mission in Mott Street besucht – und mag er auch Whitechapel schaudernd erlebt haben –, dem wird der Geschmack am Yankeeland, am amerikanischen Wirtschaftswunder, gründlich vergehen. Die Schlafsärge im feuchten Keller sind noch nicht das Schlimmste.²¹² In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß ein Diehard, ein englischer Stockkonservativer, eine ähnliche Antwort erhielt, als er die rassenmäßige Minderwertigkeit der Chinesen mit ihrem Mangel an Wohnkultur beweisen wollte. „Haben Sie schon irgendwo derart grauenvolle Wohnverhältnisse angetroffen“, fragte er rhetorisch, „wie in der Chinesenstadt von Schanghai?“ „Yes, Sir“, antwortete ihm jemand, „in Whitechapel.“²¹³
Beide Passagen inszenieren Whitechapel als zentralen Referenzpunkt in einer transnationalen Geografie der Armut, mit Bezug auf den sich andere Orte verstehen lassen. Die Verweise auf Whitechapel sind allerdings auch selbstreferentielle Bezüge auf Kischs eigenes Werk, kam doch Whitechapel in dessen berühmter Sammlung Der Rasende Reporter gleich in mehreren Reportagen vor: Kisch hat Whitechapel gesehen.²¹⁴ Kisch situiert also seine eigenen Erfahrungen als fundamental für das Wissen von der proletarischen Moderne. Das „er“ im ersten und das „jemand“ im zweiten Zitat können als Anonymisierungen und Verallgemeinerungen der kischschen Perspektive gelesen werden, die eine transnationale Situierung der USA und Chinas ermöglicht. Die Zitate suggerieren durch den Bezug auf Whitechapel die Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen der Armen an drei geografisch weit voneinander entfernten und kulturell unterschiedlichen Orten. Während der erste Vergleich zu implizieren scheint, dass die
Kisch: Paradies Amerika, KGW 4, S. 46. Kisch: China geheim, KGW 3, S. 462. Vgl. Egon Erwin Kisch: Der Rasende Reporter, KGW 5, S. 7– 12 u. S. 190 – 196.
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Situation in New York sogar noch schlimmer sei als die in London, behauptet der zweite Vergleich eher die Gleichheit der „grauenvolle[n] Wohnverhältnisse“ in London und Schanghai. Beide Passagen skandalisieren die Armut in der kapitalistischen Welt. Zugleich wird im zweiten Zitat explizit eine eurozentrische Wissensordnung, die eine zivilisatorische Unterlegenheit Chinas postuliert und deshalb die beobachtete Wirklichkeit nicht korrekt beschreiben kann, zurückgewiesen, indem die Augenzeugenschaft des Ortes Whitechapel eine angemessenere Einordnung der Wohnverhältnisse in Schanghai in eine transnationale Geografie der Armut ermöglicht, die den Gegensatz zivilisiert/unzivilisiert bzw. Europa/Asien überschreibt und zurückweist. Kisch nutzt den Vergleich zwischen England und China darüber hinaus, um zu diskutieren, wie globale Vergleiche den Blick auf die Heterogenität der proletarischen Moderne auch verstellen können. Der Vergleich zwischen London und Schanghai ist in der folgenden Passage durch einen Bezug auf die sozialkritische Literatur Charles Dickensʼ motiviert, die, wie oben gesehen, Teil von Kischs Literaturgeschichte der Reportage ist: Der Speicher wird hier „Godown“ genannt, das erweckt die Vorstellung von einem backenbärtigen Londoner Kaufmann aus der Dickenszeit, der seinen Lehrling in den Keller schickt, einen Ballen Schirting zu holen: „Go down – geh hinunter.“ Aber der Schanghaier „Godown“ hat mit den englischen Worten „go down“ nichts zu tun, der Name stammt vom malaiischen Wort „gadong“, man geht auch nicht hinunter in den Godown, sondern steigt ihn hinauf, er ist kein patriarchalisches Kellermagazin, sondern ein moderner Betonbau. Wenn etwas an die Dickenszeit erinnert, so sind es die Arbeitsverhältnisse; der Londoner Kaufmann in Schanghai hält die Arbeitsbedingungen aus der Dickenszeit aufrecht und sorgt dafür, daß sie sich nicht einmal so weit ändern, wie sie sich in England geändert haben.²¹⁵
Die Erzählinstanz arbeitet hier einer einfachen Gleichsetzung der proletarischen Arbeitswelten im London des neunzehnten Jahrhunderts und im Schanghai der 1920er Jahre entgegen, wobei diese Orte und Zeitpunkte jedoch durch die literarische und historische Figur des transnational agierenden Londoner Kaufmanns verbunden sind. Dabei wird betont, dass ein Verständnis der Schanghaier Speicher aufgrund einer lautlichen Ähnlichkeit mit einer Phrase aus Dickens Werk und den mit letzterer verknüpften Assoziationen die konkreten lokalen Bedingungen unsichtbar macht. Die architektonische Struktur des Schangaier Godown ist der von der Phrase „Go down!“ suggerierten Bewegung gerade entgegengesetzt. Die Etymologie des Begriffs führt zudem nicht ins Englische, sondern ins Malaiische, was auf Bezeichnungspraktiken für moderne Arbeitsräume durch Kisch: China geheim, KGW 3, S. 535 f.
4.6 Literarische Erzeugung von Globalität: Vergleich und Reportagensammlung
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andere als europäische Sprachen hinweist. Einem eurozentrischen Interpretationsmissverständnis, das die Schanghaier Gegenwart nur als Verkörperung der eigenen europäischen Vergangenheit sehen kann und das „patriarchalische[] Kellermagazin“ des englischen neunzehnten Jahrhunderts auf das Schanghai der Gegenwart projiziert, steht der „moderne[] Betonbau“ als tatsächlicher Godown gegenüber. Zugleich markiert die Passage einen Unterschied zwischen den „Arbeitsbedingungen“ im Schanghai und im London der Gegenwart. Diese sind in Schanghai so ausbeuterisch wie im London „der Dickenszeit“. Der Vergleich von London und Schanghai via Dickens ermöglicht also eine Beschreibung und Kritik der Ausbeutung von Chinesen durch englische Kapitalisten. Damit markiert die Passage die ungleichzeitige Entwicklung von proletarischen Arbeitsbedingungen in der globalen Moderne und weist auf die Heterogenität der Erfahrungen und Praktiken des transnationalen Proletariats hin. Die mit England befasste Literatur von Dickens ermöglicht als Referenzpunkt, um den die Reportage ihren Vergleich von London und Schanghai organisiert, gleichzeitig das Missverstehen und das Verstehen von Schanghai als Teil der proletarischen Moderne. Konstruierten die bisher diskutierten Vergleiche die proletarische Moderne als auf die kapitalistische Welt beschränkte, nutzt Kisch Vergleiche außerdem, um diese Moderne über die Systemgrenze zwischen sozialistischer und kapitalistischer Welt hinweg zu erzeugen. Dabei tritt die Heterogenität des Proletarischen auf andere Weise hervor als im Vergleich von Schanghai und London. Im Systemvergleich beschreibt Kischs Reportage „Putilow-Werke“ eine transnationale Industriemoderne, die die kapitalistische und die sozialistische Welt umfasst: [Der Betrachter kommt vorbei an] Gießereien, Kesselschmieden, Preßschmieden, Dampfzentrale, Motorzentrale, Administrationsgebäude, Montagewerkstätten, an metallurgischen und mechanischen Betrieben. Man kennt das alles vom Bochumer Verein her, von Krupp, von der Poldihütte, von den Arsenalen in Wien, Pola und Wilhelmshaven, von den Werften in Hamburg und London […]. Kam man jedoch von Mitteleuropa hierher an den Finnländischen Meerbusen, neuerlich der Magie des Eisens zu unterliegen? Man kam hierher, die Putilow-Werke zu obduzieren; denn daß sie tot seien, war seit 1918 allenthalben gelehrt worden und überdies klipp und klar bewiesen, warum sie sterben: weil ohne Initiative des Unternehmers, der seinerseits seine Initiative durch die Aussicht auf die Profitrate nährt, kein Betrieb bestehen könne … Wie man eben sieht, lebt Moribundus noch immer, ist recht rüstig und regt sich unaufhörlich. Elftausendachthundert Arbeiter sind in drei oder vier Schichten Tag und Nacht am Werk. „Jede Selbstverwaltung der Arbeiterschaft“, so hieß es in Zeitungen und Versammlungen, und höhnische Lustspiele und Witze illustrierten das Axiom, „jede Selbstverwaltung der Arbeiterschaft lähmt die Produktion derart, daß sie binnen kurzem eingestellt werden muß.“ Wie steht’s nun mit den Arbeitern? Sie arbeiten wie anderswo, man sieht ihnen, wenn
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4 Reportage und Internationalismus
sie mit dem hydraulischen Meißel eine Form von Schlacke reinigen, wenn sie in Kesseln hämmern, Öfen heizen, Karren schieben, Bandeisen schneiden, Kräne treiben, Modelle nachformen und Stahl gießen, nicht an, daß sie die Herren der Fabrik und des Staates sind.²¹⁶
Die Reportage bereitet den globalen Vergleich vor, indem sie das implizierte deutsche und proletarische Lesepublikum durch zwei Wiedererkennungseffekte erzeugende Aufzählungen aus der eigenen Erfahrungswelt an die globale industrielle Moderne heranführt: durch eine Aufzählung von charakteristischen Orten der Schwerindustrie und anschließend durch die Aufzählung von deutschen und europäischen Produktionsstandorten, die Kisch selbst besucht und seinem Lesepublikum durch seine Reportagen vermittelt hat. Die von diesen Aufzählungen gerahmte Formulierung der Erzählinstanz „Man kennt das“ erzeugt – durchaus im oben diskutierten Sinne Koschorkes – erstens eine Wissensgemeinschaft, der sich Kischs Lesepublikum sowie in der Schwerindustrie Beschäftige „zugehörig fühlen [dürfen]“.²¹⁷ Durch dieses Wissen haben sie an der transnationalen Industriemoderne teil. Zweitens repräsentiert diese Formulierung die industrielle Moderne im Sinne von Homogenität. Was man in Wilhelmshaven sieht, sieht man auch im kroatischen Pula und auf den ersten Blick sogar im sozialistischen Sankt Petersburg, wo die Proletarier „arbeiten wie anderswo“. Wie das aus der Pathologie entlehnte Verb „obduzieren“ allerdings bereits nahelegt, geht es Kisch darum, einen genaueren Blick auf das Innere der industriellen Moderne in der sozialistischen Welt zu werfen. Im Sinne seiner antihegemonialen Sprechposition bedeutet dies zuvörderst eine Zurückweisung der antisozialistischen Berichterstattung, laut der Arbeiterselbstverwaltung und Produktivität einander ausschließen würden. Hierzu hebt Kisch die phänomenale Gleichheit der industriellen Arbeit in sozialistischen und kapitalistischen Welten hervor: die Homogenität der industriellen Moderne. Ganz im Sinne von Bertolt Brechts Formulierung, dass „eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG […] beinahe nichts über diese Institute [ergibt]“ und sie die tatsächlichen „menschlichen Beziehungen“ nicht mehr sichtbar machen kann,²¹⁸ weist Kisch jedoch zweitens darauf hin, dass sich die industrielle Moderne in der kapitalistischen Welt trotz phänomenaler Übereinstimmungen grundlegend von der in der sozialistischen unterscheidet. In der sozialistischen Welt sind die Produktionsverhältnisse andere, da die Proletarier „die Herren der Fabrik und des Staates sind.“ Diese systemische Differenz markiert eine Dimension der Heterogenität der proletarischen Moderne, die nicht
Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken, KGW 3, S. 71 f. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 90. Brecht: Der Dreigroschenprozess, S. 469.
4.6 Literarische Erzeugung von Globalität: Vergleich und Reportagensammlung
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nur zu transnational homogenen Erscheinungen in Spannung steht, sondern auch zu anderen Formen proletarischer Heterogenität innerhalb der kapitalistischen Welt. Stellen Kischs globale Vergleiche auf Satz- und Absatzebene eine komplexe Vorstellung der proletarischen Moderne her, die durch Systemdifferenz, phänomenale Ähnlichkeiten und die irreduzible Heterogenität des Proletarischen charakterisiert ist, erzeugt die Form der Reportagensammlung Globalität als von Diskontinuität, Nicht-Integriertheit und Unabgeschlossenheit geprägt. Das Globale wird durch Kischs Reportagensammlungen damit nicht im Sinne einer teleologisch die gesamte Welt integrierenden, zeiträumlichen Vollendung vorgestellt.²¹⁹ Für die Erzeugung von Globalität ist ausschlaggebend, dass die Sammlungen nicht wie ein kontinuierliches Reisenarrativ strukturiert sind. Ein solches Narrativ folgt gewöhnlich – wie etwa der Reiseroman – der Bewegung des Reisenden, welche eine Durchquerung und Erschließung des Raums mit einem Fortschreiten (in) der Zeit verbindet. Es ist, wie Robert Stockhammer argumentiert hat, in der Regel nach dem Modell des Itinerars organisiert, der „wesentlich auf dem Modus der Phorik [beruht]; sein Textverlauf vollzieht die Fahrt […] nach; die Relationen seiner syntaktischen Glieder entsprechen […] den Relationen der Orte im Gelände“.²²⁰ Es erzählt eine „zusammenhängende Geschichte“.²²¹ Im Gegensatz hierzu ordnet Kisch die Ereignisse und Orte, wie sie in den einzelnen Reportagen vorkommen, nicht in der Reihenfolge an, in der sie der Reporter während seiner Reise erlebt hat.²²² Dadurch werden sowohl die zeitliche als auch die räumliche Abfolge der Reise unterbrochen bzw. durcheinander gebracht und die Orte in eine andere Beziehung zueinander gesetzt, als es ihre geografische Nähe vorgeben würde. Kisch hat dieses Verfahren in einem Memoirenentwurf mit Blick auf die Figur des rasenden Reporters selbst beschrieben: „[…] ohne Übergang, ohne Verbindung, als spränge er, von Raum und Zeit, von Hindernissen und Kosten unabhängig, just nach seiner Laune kreuz und quer.“²²³
Für eine Rekonstruktion und Kritik eines solchen Narrativs von Globalität und Globalisierung vgl. z. B. Christian Moser: Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont. In: Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Hg. v. Christian Moser u. Linda Simonis. Göttingen 2014, S. 25 – 45; Amy J. Elias/Christian Moraru (Hg.): The Planetary Turn. Relationality and Geoaesthetics in the Twenty-First Century. Evanston 2015. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007, S. 75. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 8. Vgl. Hofmann: Egon Erwin Kisch, S. 232. Zitiert nach Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 185.
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Eine solche Strukturierung trifft auf die verschiedenen Reportagensammlungen in unterschiedlichem Maße zu. Sie ist im Falle von Hetzjagd durch die Zeit und Wagnisse in aller Welt ohne Abstriche gültig, während in Paradies Amerika, Zaren, Popen, Bolschewiken, China geheim und Asien gründlich verändert zumindest mehr oder wenig große Fragmente einer kontinuierlichen Reiseerzählung erhalten bleiben, welche der Reiseroute Kischs entspricht.²²⁴ In allen Fällen gilt aber, dass die jeweilige Reportagensammlung als Ganze nicht in einem strengen Sinne narrativ organisiert ist, versteht man Erzählen mit Koschorke als Ereignisverknüpfung: „[…] eine Erzählung sei aus Ereignissen zusammengesetzt, die sich zu Episoden verbinden, die wiederum in ihrer Gesamtheit die fabula oder den Plot bilden.“²²⁵ Indem Kischs Sammlungen nicht durch den Plot eines Reisenarrativs strukturiert sind, verfügen sie auch nicht über einen erzählerischen Anfang, eine erzählerische Mitte oder ein erzählerisches Ende, welche die dargestellten Ereignisse und Orte „zu einem Ganzen formen“²²⁶ würden. Kisch gibt, wie F. C. Weiskopf bereits 1933 in einer Rezension von China geheim bemerkt hat, „kein umfassendes Gesamtbild […], sondern beschränkt sich auf Ausschnitte“.²²⁷ Die radikale Unabgeschlossenheit von Kischs Reportagensammlungen bestimmt sich gerade auch dadurch, dass die einzelnen Reportagen – als in sich geschlossene, oftmals nur durch die Erzählinstanz miteinander vermittelte textliche Einheiten – zueinander in einer narrativ unbestimmten Beziehung stehen. Gerade wegen der Abwesenheit eines Plots kommt es nicht zu kausalen Verknüpfungen der einzelnen Reportagen, die eine Integration der einzelnen Orte und Ereignisse miteinander gewährleisten würden.²²⁸ Darüber hinaus verzichtet Kisch darauf, die Reportagen beispielsweise in thematische oder geografische Teile zu organisieren, ein sinnstiftendes Ordnungsverfahren, das dann durch Abschnittsüberschriften noch verstärkt hervorgehoben werden könnte. Stattdessen stehen die einzelnen Orte und Ereignisse in Kischs proletarischer Welt nebeneinander, ohne dass sie in eine formal ausgedrückte zeiträumliche Entwicklung integriert würden – wie es zum Beispiel durch eine Erzählung der kontinuierlichen globalen
Die Struktur von Kischs Reportagensammlungen und der Unterschied zwischen den frühen und späten Sammlungen ist in der Forschung diskutiert worden, nicht jedoch mit Blick auf ein impliziertes Verständnis von Globalität. Vgl. Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 185 – 192, S. 276 f., S. 284 f. u. S. 297; Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 372– 375. Koschorke: Erfindung und Wahrheit, S. 61 f. Koschorke: Erfindung und Wahrheit, S. 61. Franz C. Weiskopf: „China geheim“. E. E. Kischs neuestes Buch. In: Servus, Kisch! Erinnerungen, Rezensionen, Anekdoten. Hg. v. Fritz Hofmann. Berlin/Weimar 1985, S. 323. Zu kausalen Verknüpfungen vgl. Koschorke: Erfindung und Wahrheit, S. 74– 79.
4.6 Literarische Erzeugung von Globalität: Vergleich und Reportagensammlung
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Ausbreitung der internationalistischen Arbeiterbewegung geschehen könnte, welche dann durch die Reise des Reporters anschaulich gemacht werden würde. Da kausale Handlungsverknüpfungen aufgrund der nicht-narrativen Organisation der Sammlungen fehlen, die „vom Reporter-Ich verbürgerte[ ] Kontinuität des Erlebens“²²⁹ durch den Verzicht auf ein Reisenarrativ gestört ist und keine zeiträumliche Entwicklung dargestellt wird,²³⁰ ist die Form der Sammlungen durch Unabgeschlossenheit, Nicht-Integriertheit und Diskontinuität charakterisiert. Diese offene Form konfrontiert die Lesenden mit der Notwendigkeit, die einzelnen Reportagen selbst zueinander in Beziehung zu setzen oder dies wahlweise zu unterlassen. Eine solche interpretative Offenheit, d. h. die Aufforderung zur selbstständigen Kombination der bereitgestellten Texteinheiten oder dem Verzicht darauf, kann sicherlich von den hierarchisch kommunizierten und oft dogmatischen Weltdeutungsangeboten der Kommunistischen Internationale und ihrer Kulturorganisationen abgrenzt werden. Kischs Imagination einer heterogenen, unabgeschlossen und diskontinuierlichen proletarischen Moderne trifft sich – wie ebenso das Wissen von einem nicht-normativen transnationalen Proletariat – mit den ebenfalls relativ deutungsoffenen Montagetexten von Jung und Seghers, die ich im vorangegangenen Kapitel analysiert habe. Die an Brüchen und Nicht-Integriertheit orientierten Weltentwürfe Jungs, Seghersʼ und Kischs implizieren die Vorstellung einer internationalistischen Globalisierung, die einerseits aus proletarischen Perspektiven und weniger aus der Sicht der offiziellen Organisationen der Arbeiterbewegung imaginiert wird und die andererseits auf einer Vorstellung des Globalen basiert, die nicht vor allem oder gar ausschließlich durch Homogenisierung und Zentralisierung charakterisiert ist. Zusammen repräsentieren die Texte Jungs, Kischs und Seghersʼ eine modernistische Strömung internationalistischer Weltliteratur, die selbst in den frühen 1930er Jahren der sich intensivierenden diskursiven Entwicklung zu einer ästhetischen und weltanschaulichen Einschränkung der Offenheit der literarischen Produktion in den Gegenöffentlichkeiten der Arbeiterbewegung widerstand. Die proletarische Welt internationalistischer Weltliteratur war – textlich wie außertextlich – weder homogen noch nur eine einzige.
Uecker: Wirklichkeit und Literatur, S. 373. Ueckers These (Wirklichkeit und Literatur, S. 374 f.), dass in Kischs späteren Reportagenbänden wie Asien gründlich verändert „[a]n die Stelle des neusachlichen ‚Nebeneinander‘ der Erlebnisse […] ein geordnetes Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treten [muss], aus dem sich die gesellschaftliche Entwicklung ablesen lässt“, kann nur zugestimmt werden, insofern diese These auf die Welterzeugung in den einzelnen Reportagen zutrifft, nicht aber auf das durch die Sammlung gestiftete Verhältnis der Reportagen zueinander. Für ein dem meinigen ähnliches Argument vgl. Schlenstedt: Egon Erwin Kisch, S. 190 u. S. 284 f.
Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur „What world does a given piece of world literature let us imagine?“ (Pheng Cheah)¹
1933 kamen die proletarischen Welten der internationalistischen Weltliteratur, die meine Studie rekonstruiert und analysiert hat, in Deutschland schlagartig zu einem Ende. Mit den militanten Subkulturen und den Organisationen der Arbeiterbewegung zerschlugen die Nationalsozialisten auch die Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Weltliteratur. Mit wenigen Ausnahmen – zum Beispiel Jan Petersens Unsere Straße – endete damit auch die literarische Produktion proletarischer Welten der linken Arbeiterbewegung in Deutschland.² Bezeichnenderweise adaptierte noch dieser nach Prag geschmuggelte und dort 1936 erstmals erschienene Roman des kommunistischen Widerstands eine Gattung der internationalistischen Weltliteratur: Unsere Straße aktualisierte das global zirkulierende tenement narrative für die Repräsentation des antifaschistischen Aktivismus im nationalsozialistischen Deutschland.³ Wichtige Protagonisten und Protagonistinnen der internationalistischen Weltliteratur wie Becher, Kisch, Kläber oder Seghers waren zum Zeitpunkt der Niederschrift von Unsere Straße bereits ins Exil geflohen, während andere wie Jung und Petersen im Untergrund gegen die Nazis kämpften. Hatte Die Linkskurve bereits Ende 1932 aus finanziellen Gründen ihr Erscheinen einstellen müssen, konnte die Universum-Bücherei für Alle als Exilverlag in der Schweiz ihre Publikationstätigkeit noch bis 1939 fortsetzen. Eine Öffentlichkeit – also eine Welt der internationalistischen Weltliteratur jenseits ihrer literarischen Texte – gab es für solche Veröffentlichungen in Deutschland freilich nicht mehr. In der Geschichte der linken Literatur wurde die Phase der internationalistischen Weltliteratur von der Epoche der Exilliteratur und der Volksfront abgelöst. Waren die 1920er und frühen 1930er Jahre zumindest diskursiv von der Idee geprägt gewesen, dass Nationalsprachen keine signifikanten Kriterien für internationalistische Weltliteratur seien, wurde nun im Exil Sprache wichtig für die Teilhabe an einer antifaschistischen, germanophonen Diaspora und für ein
Pheng Cheah: What is a World? On World Literature as World-Making Activity. In: Daedalus 7 (2008), H. 3, S. 36. Vgl. Jan Petersen: Unsere Straße. Eine Chronik. Geschrieben im Herzen des faschistischen Deutschlands 1933/34. Berlin 1963. Zum tenement narrative vgl. Michael Denning: Culture in the Age of Three Worlds. London/New York 2004, S. 66 f. https://doi.org/10.1515/9783110668087-007
Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur
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Nachdenken über Zugehörigkeit.⁴ Zwar spielte der Weltliteraturdiskurs auch unter den Bedingungen von Exil und Volksfront – etwa auf dem 1935 in Paris stattfindenden Internationalen Kongress zur Verteidigung der Kultur – weiter eine Rolle für die linke literarische Produktion, nur kam es nun vermehrt zu einer diskursiven Exklusion des Erbes der historischen Avantgarden.⁵ Zog die Volkfrontprogrammatik eine weitere Abwendung der Kommunistischen Internationale von der Idee der Weltrevolution nach sich, die Mitte der 1920er bereits mit Stalins Ausrufung des Aufbaus des Sozialismus in einem Land begonnen hatte, bedeute sie außerdem, wie Hunter Bivens formuliert hat, die Fusion eines „partisan internationalism with the aspirations of a national popular culture“.⁶ Die proletarischen Welten der Literatur der Arbeiterbewegung waren nun nicht mehr so sehr an der Imagination einer transnational geteilten proletarischen Erfahrung orientiert, sondern organisierten sich verstärkt um Vorstellungen von ‚Heimat‘, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ als Koordinaten einer Auseinandersetzung mit proletarischen Erfahrungen.⁷ Im Sinne der Volksfront war das bürgerliche Erbe zu verteidigen, während die für die internationalistische Weltliteratur der Zwischenkriegszeit so charakteristische Idee der zwei einander gegenüberstehenden transnationalen Klassenliteraturen an Bedeutung verlor. Um 1933 ereigneten sich also starke Verschiebungen im linken Literaturfeld, die sich teilweise – wie die antimodernistischen Tendenzen, die schließlich in der Doktrin des sozialistischen Realismus kulminierten – bereits seit einiger Zeit angekündigt hatten.⁸ In seiner gegenöffentlichen und modernistischen Form der Zwischenkriegszeit war das Projekt der internationalistischen Weltliteratur somit ein historisch kurzlebiges. Bis heute bleibt es eine weitestgehend unbeachtete Episode in der Geschichte weltliterarischer Ideen, Praktiken und Texte. Mit der internationalistischen Weltliteratur ist eine Welt der Weltliteratur verloren gegangen, die sich durch die Art und Weise, wie Weltliteratur hegemonial diskutiert wird (und historisch diskutiert worden ist), nicht beschreiben lässt. Die literaturgeschichtliche Amnesie gegenüber proletarischen und kommunistischen Literaturtraditionen geht also mit einem konzeptuellen blind spot einher, der
Vgl. Katerina Clark: Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931– 1941. Cambridge/London 2011, S. 158. Vgl. Clark: Moscow, the Fourth Rome, S. 178. Hunter Bivens: Epic and Exile. Novels of the German Popular Front, 1933 – 1945. Evanston 2015, S. 7. Bivens: Epic and Exile, S. 5 u. S. 17 f. Die Realismen der Volksfrontepoche müssen allerdings – und dies durchaus im Gegensatz zum offiziellen Diskurs – als Realismen verstanden werden, die ohne die vorangegangenen modernistischen Experimente nicht denkbar gewesen wären; vgl. Bivens: Epic and Exile, S. 16 f.
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Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur
die Welten der Weltliteratur und ihre spezifischen Weltvorstellungen nur eingeschränkt fassen kann. Die Welten der Weltliteratur, die die akademische Diskussion über Weltliteratur sowie die populäre Imagination dieser bis heute prägen, sind dabei durchaus unterschiedliche. Unter anderem sind sie Zeiträume eines „kosmopolitische[n] Humanismus“ und „freiheitlichen Individualismus“,⁹ der sich gegen nationalistische und andere Gemeinschaftszwänge abgrenzt; sie sind Utopien eines besseren transkulturellen und transnationalen Miteinanders;¹⁰ sie sind Foren, in denen anderen Kulturen lesend begegnet und so das eigene Selbst neu vorgestellt werden kann;¹¹ sie sind Orte, an denen kulturelle Hybridität und Interaktionsbeziehungen sichtbar gemacht, ausgehandelt und für eine emanzipatorische Kulturpolitik operationalisiert werden können;¹² sie sind der internationale Buchmarkt, durch den es (scheinbar) zu formalen und stilistischen Vereinheitlichungen und einer sprachlichen Hegemonie des global English kommt;¹³ sie sind literarischer Ausdruck einer Spannung von „Mannigfaltigkeit“ und „Standardisierung“,¹⁴ die das Zeitalter der Globalisierung allgemein prägt; sie sind globale Felder, die von den Ansprüchen literarischer Autonomisierung strukturiert, ja von ihnen erst geschaffen werden;¹⁵ sie sind (staatliche) Bibliotheken und die Öffentlichkeiten, die sich um diese formieren;¹⁶ sie sind curricula in bisher hauptsächlich angloamerikanischen Universitäten, die einen weltliterarischen Kanon in Übersetzung lehren, der für solche Studierende in einer globalisierten Welt als nützlich erachtet wird, die nicht selten bald Akteur*innen einer transnationalen Führungselite sein werden. Diese Liste der Welten der Weltliteratur ließe sich zweifelslos fortsetzen. Es wäre meines Erachtens nun allerdings nicht übertrieben zu behaupten, dass alle diese Welten der Weltliteratur Peter Goßens: Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 2011, S. 2 f. Vgl. Goßens: Weltliteratur, S. 4. Vgl. David Damrosch: What is World Literature? Princeton/Oxford 2003. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive. In: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Hg.v. Doris Bachmann-Medick. Frankfurt a. M. 1996, S. 262– 296. Vgl. Franco Moretti: Evolution, World-Systems, Weltliteratur. In: Franco Moretti: Distant Reading. London 2013, S. 121– 135. Erich Auerbach: Philologie der Weltliteratur. In: Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag. Hg. v. Walter Muschg und Emil Staiger in Verbindung mit Walter Henzen. Bern 1982, S. 39. Vgl. Pascale Casanova: The World Republic of Letters. Übers. v. M.B. DeBevoise. Cambridge/ London 2004. Vgl. B. Venkat Mani: Recoding World Literature. Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact with Books. New York 2017.
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in unterschiedlichem Maße erstens auf Variationen einer Weltvorstellung basieren, die Aamir R. Mufti herausgearbeitet hat: Welt ist in ihnen vor allem begreifbar als Ansammlung von verschiedenen Kulturen und Zivilisationen, zwischen denen Beziehungen von Austausch, Äquivalenz, Hierarchie und Vergleichbarkeit bestehen. Damit sind diese Welten der Weltliteratur – zumindest ihrer Genealogie nach – grundsätzlich orientalistisch und bürgerlich-kapitalistisch.¹⁷ Andere Weltvorstellungen sind im dominanten weltliterarischen Diskurs kaum intelligibel. Ein solche Begrenzung der Welt der Weltliteratur geht nun zweitens einher mit einer „semiotic ideology delineating the terms in which to read“,¹⁸ wie es Michael Allan ausgedrückt hat. Die Welt der Weltliteratur – und gerade die Interpretations- und Lesegemeinschaften, die diese immer wieder neu konstituieren – reguliert den Zugang zu sich. Mit anderen Worten also: Sie reguliert das, was als Teil dieser Welt überhaupt sichtbar werden kann. Sie tut dies u. a. dadurch, dass sie die „conditions through which traditions come to be recognized“ festlegt, entscheidet, welche „genres, categories, and motifs […] can be recognized within an intertextual field“ und welches „set of associations“, das durch kanonisierte Werke konstituiert wird, einen Text als weltliterarisch erkennbar macht.¹⁹ Was historisch aus dieser Welt der Weltliteratur herausgefallen ist, noch aus ihr herausfällt bzw. überhaupt nie erst in sie Eingang gefunden hat, ist, wie Gayatri Spivak nahegelegt hat, der „space of subalternization“.²⁰ Dies gilt sowohl mit Blick auf bestimmte literarische Formen und Praktiken als auch Weltvorstellungen, die den Leben der Subalternen zugehören oder ihnen zugeschrieben werden. Die proletarischen Welten, die mit der internationalistischen Weltliteratur in Vergessenheit gerieten, falls sie überhaupt je jenseits ihrer eigenen begrenzten Gegenöffentlichkeiten und in den real existierenden sozialistischen Staaten sichtbar waren, sind Teil des von Spivak aufgerufenen Bereichs der Subalternität, der in der Welt der Weltliteratur unbenannt bleibt.²¹
Vgl. Aamir R. Mufti: Forget English! Orientalisms and World Literatures. Cambridge/London 2016. Michael Allan: In the Shadow of World Literature. Sites of Reading in Colonial Egypt. Princeton/Oxford 2016, S. 23. Allan: In the Shadow of World Literature, S. 28 u. S. 32. Zu Weltliteratur als „border regime“ vgl. Mufti: Forget English, S. 9. Hervorhebung im Original. Gayatri Chakravorty Spivak: An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge/ London 2012, S. 464. Subalternität verstehe ich relational und im Sinne einer weiten Definition von Subalternität, die sich an soziale Subordination und das Problem knüpft, gesellschaftlich gehört und als kulturelle und politische Akteur*innen intelligibel zu sein. Nicht gefolgt wird hier einer engen Definition von Subalternität, der zufolge Subalternität eine „position without identity“ beschriebe
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Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur
Die globale proletarische Moderne der internationalistischen Weltliteratur repräsentiert eine historische und konzeptuelle Alterität, die der dominante Weltliteraturdiskurs kaum fassen kann. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil Welt in der internationalistischen Weltliteratur nicht in erster Linie mit Bezug auf – ethnische, nationale, regionale usw. – Kulturen, sondern mit Bezug auf Klassen und Klassenkulturen vorgestellt wurde. Während es nun allerdings keineswegs so war, dass Ideen des Nationalen für die proletarischen Welten überhaupt keine Rolle spielten, die in der internationalistischen Weltliteratur repräsentiert und durch ihre Texte, Medien und Praktiken erzeugt wurden, wurde das „understanding of the world as an ensemble of nations and civilizations, each in possession of its own distinct textual and expressive tradition“,²² jedoch von der Konzeption einer durch Klassenverhältnisse strukturierten Welt überformt. Kulturelle und nationale Differenzen waren hier im Vergleich zu Klassenbeziehungen und Klassenidentitäten sekundär. Statt in viele Nationalliteraturen war die literarische Welt in zwei große transnationale Literaturen unterteilt, eine proletarische und eine bürgerliche. Kulturelle und nationale Differenzen blieben in der internationalistischen Weltliteratur jedoch vor allem dort von Bedeutung, wo es darum ging, einer heterogenen, also keineswegs durch Uniformität geprägten transnationalen proletarischen Moderne gerecht zu werden, welche u. a. durch ungleichzeitige Entwicklungen, verschiedene kulturelle Erfahrungen, vielfältige gesellschaftliche Ausbeutungs- und Arbeitsverhältnisse sowie unterschiedliche politische Wissen charakterisiert war. Im Rahmen dieser in der Geschichte des Weltliteraturdiskurses alternativen Weltvorstellung wurde Proletariern und seltener auch Proletarierinnen nicht zuletzt eine prinzipiell weltgestaltende Rolle zugesprochen. Welt erscheint in der internationalistischen Weltliteratur als grundsätzlich durch das Proletariat revolutionierbar. Wie die kapitalistische Globalisierung, zu der sie in einer dialektischen Beziehung stand, war also auch die internationalistische Globalisierung durch Narrative und die Tatsächlichkeit der Revolution geprägt;²³ für die Aktivisten und Aktivistinnen der internationalistischen Weltliteratur bildete die Russische Revolution in dieser Hinsicht einen ganz konkreten und zentralen Bezugspunkt. Diese durch Revolutionierbarkeit charakterisierte Weltvorstellung hatte mindestens zwei Konsequenzen. Von diesen betrifft eine die zeitliche Struktur der li-
und die Subalternen über keine „infrastructure“ verfügten, die „the formation of a recognizable basis of action“ erlauben würde. Spivak: An Aesthetic Education in the Era of Globalization, S. 431 u. S. 440. Mufti: Forget English, S. 3. Vgl. Peter Hitchcock: Defining the World. In: Literary Materialisms. Hg. v. Mathias Nilges u. Emilio Sauri. New York 2013, S. 129.
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terarisch erzeugten Welten und die andere das Verhältnis von literarischer und politischer Praxis. Folgt man Pheng Cheah ist Welt nicht nur eine Kategorie räumlicher Ausdehnung, als die sie in Weltliteraturstudien hauptsächlich behandelt wird, sondern sie ist „originally a temporal category“,²⁴ die die Welt in der Moderne im Sinne einer historischen Weiterentwicklung erzeugt. In dieser zeitlichen Dimension liegt laut Cheah die normative Kraft („normative force“) von Weltliteratur begründet, da sie es ermöglicht, andere Welten literarisch zu erzeugen und damit neue Orientierungspunkte für ein Handeln in der Welt jenseits des Textes bereitzustellen: „The normative force of world literature refers to its power or efficacy to change the world according to a normative ethicopolitical horizon.“²⁵ Diese normative Kraft ist im Diskurs der Weltliteratur bereits seit Goethe verankert: „Since its inception, the normative project of Weltliteratur has been augmented by teleologies of history that see the world as the horizon of humanity’s universal historical progress toward the normative end of freedom.“²⁶ Die weltrevolutionäre Temporalität der internationalistischen Weltliteratur erzeugt Welt nun als auf einen globalen revolutionären Bruch zulaufend, durch den die Welt radikal anders werde und der durch die Differenz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Welten, der wir etwa bei Kisch und Seghers begegnet sind, bereits im Jetzt vorgezeichnet sei. Da die Weltrevolution jedoch auf die klassenlose Gesellschaft hinausläuft, kommen die in der internationalistischen Weltliteratur literarisch erzeugten proletarischen Welten in dieser immer auch zumindest implizit als zukünftig überwundene in den Blick. In diesem Sinne ist die Weltvorstellung der internationalistischen Weltliteratur durch die Ausrichtung an einer weltrevolutionären Temporalität normativ geprägt; sie unterscheidet sich darin von Utopien eines „kosmopolitische[n] Humanismus“²⁷ oder eines besseren transkulturellen Miteinanders, welche Weltliteraturdebatten seit Goethe charakterisiert haben. Internationalistische Weltliteratur erzeugt proletarische Welten, indem sie auf ihrer Revolutionierbarkeit und Überwindbarkeit beharrt. Damit gehört sie zum Projekt einer gesellschaftlichen und kulturellen Moderne, die – wie etwa von Reinhart Koselleck beschrieben – durch die Auseinandersetzung mit einer offenen Zukunft und den Bruch mit zirkulären Zeitvorstellungen charakte-
Pheng Cheah: What is a World? On Postcolonial Literature as World Literature. Durham/ London 2016, S. 2. Cheah: What is a World?, S. 6. Cheah: What is a World?, S. 6. Goßens: Weltliteratur, S. 2.
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Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur
risiert ist.²⁸ Jedoch verfällt sie dabei – wie ich zum Beispiel in meiner Auseinandersetzung mit Jung und Seghers gezeigt habe – nicht notwendig in teleologische Ordnungsmodelle, auch wenn diese eine starke Tendenz in der Erzeugung proletarischer Welten bleiben.²⁹ Aufgrund ihrer welterzeugenden Kraft kommt internationalistischer Weltliteratur somit die Funktion zu, literarisch immer wieder den normativen Rahmen neu abzustecken, in dem über eine Revolutionierung der Welt nachgedacht werden kann. Diese Ausrichtung an der Perspektive der Weltrevolution bestimmt allerdings nicht nur die Art und Weise, wie internationalistische Weltliteratur ihre Welten zeitlich strukturiert. Sie bestimmt auch das Verhältnis von literarischer und politischer Praxis, welches die Welten der internationalistischen Weltliteratur wesentlich charakterisiert. Wenn etwa Pascale Casanova in ihrer berühmten (Re‐) Konstruktion der Genealogie des globalen literarischen Feldes zu zeigen versucht hat, dass sich die literarische Produktion zunehmend autonomisiert und an den Regeln und Konsekrationskriterien eines innerliterarischen Zentrums ausgerichtet habe, welches sie mit der Metapher des „Greenwich meridian of literature“ zu fassen versucht,³⁰ dann kann diese Literaturgeschichtsschreibung die internationalistische Weltliteratur – sowohl in ihrer Herausbildung als auch in ihrer Entwicklung – nicht angemessen fassen. Die Strukturierung der internationalistischen Weltliteratur durch eine weltrevolutionäre Temporalität prägt sie als eine wesentlich heteronome Literatur der literarischen Moderne. Sie richtete sich in erster Linie an den – manchmal von ihr selbst gedeuteten, manchmal durch außerliterarische Organisationen vorgegebenen – Anforderungen einer politischen Massenbewegung aus, die auf verschiedenste Weise auch jenseits der transnationalen literarischen Gegenöffentlichkeiten institutionalisiert war. Das Zentrum der internationalistischen Weltliteratur fiel dabei zunehmend mit Moskau als Zentrum der Kommunistischen Internationale und Ort der gelungenen Revolution zusammen. Internationalistische Weltliteratur war eine Literatur, die sich als eine Literatur der politischen Auseinandersetzung definierte; eine Literatur, die die literarische Praxis als politische Praxis verstand. Die proletarischen Welten der internationalistischen Weltliteratur waren solche, die Kollektive und Solidarität in den Vordergrund rückten und dabei das Verhältnis von Individuum und Kollektiv in einer grundsätzlich positiven Be-
Vgl. Reinhart Koselleck: ,Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien. In: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 349 – 375. Vgl. meine Diskussion in Aesthetics, Masses, Gender. Anna Seghers’s Revolt of the Fishermen of St. Barbara. In: New German Critique 124 (2015), S. 172– 177. Casanova: The World Republic of Letters, S. 87 f.
Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur
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zugnahme auf Kollektivität verhandelten. Dies mag nicht überraschen, kann doch mit Oskar Negt und Alexander Kluge die „Organisierung der kollektiven proletarischen Erfahrung“ als „Kernpunkt proletarischer Kulturrevolution“ betrachtet werden.³¹ Im Gegensatz zu einem gerade den bürgerlichen Teil der gesellschaftlichen und kulturellen Moderne prägenden Skepsis und gar Angst gegenüber den meisten Formen von Massen und Kollektiven führte in den proletarischen Welten der internationalistischen Weltliteratur deshalb die Selbstverwirklichung der Individuen über eine solidarische Verbindung in politischen Kollektiven;³² jenseits dieser sind auch in der internationalistischen Weltliteratur oftmals – zum Beispiel bei Seghers und Jung – für die literarische Moderne charakteristische Phänomene wie Einsamkeit, Entfremdung und Orientierungslosigkeit zu finden. Diese proletarischen Welten waren jedoch Teil einer Weltvorstellung, die Welt nicht einfach als eine durch soziale Verbindungen und politische Vernetzungen charakterisierte verstand, sondern als eine grundsätzlich geteilte: geteilt in nicht selten binär einander gegenübergestellte Klassen, Erfahrungen, politische Bewegungen und gesellschaftliche Systeme. Diese voneinander unterschiedenen Teile der Welt waren allerdings keine voneinander isolierten: Sie standen zueinander durch Konflikte und Kämpfe in Beziehung, ja waren aus der gleichen kapitalistischen Revolutionierung der Welt hervorgegangen.³³ Proletarische Welten erscheinen in der internationalistischen Weltliteratur also als Teil einer in erster Linie durch den Klassenkampf und oft unüberwindliche sozio-ökonomische Grenzen geprägten Welt. Sie führen damit vor Augen, dass die kapitalistische Globalisierung keineswegs nur Grenzen auflöst und Verbindungen schafft, wie es ihre neoliberalen und oftmals auch ihre weltliterarischen Erzählungen wollen. Stattdessen produziert sie immer wieder Grenzen, etwa was die politische Mitbestimmung, den Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen oder auch
Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1972, S. 310. Zum Massendiskurs der Moderne vgl. Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765 – 1930. München 2007; Stefan Jonsson: Crowds and Democracy. The Idea and Image of the Masses from Revolution to Fascism. New York 2013. Um es noch einmal zu betonen: Wurden proletarische Welten in der internationalistischen Weltliteratur oftmals im Sinne einer Politik der Klassendifferenz positioniert, die sie nicht selten als kulturell, sozial und politisch von der bürgerlichen Welt kategorisch verschieden inszenierte, waren die Welten der internationalistischen Weltliteratur in ihrer historischen Wirklichkeit oftmals von kultureller Hybridisierung und Austauschbeziehungen über Klassengrenzen hinweg geprägt, was sich nicht zuletzt durch die Aneignung des Weltliterarturdiskurses äußerte.
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Epilog: Proletarische Welten und die Welt der Weltliteratur
die räumliche Mobilität bestimmter Personengruppen betrifft.³⁴ In diesem Sinne repräsentiert die internationalistische Weltliteratur der Zwischenkriegszeit eine historische und konzeptuelle Alternative zu den im Weltliteraturdiskurs hegemonialen „different varieties of what we may call one-world thinking […] that all […] require imagining the world as a continuous and traversable space“.³⁵ Die Welt der internationalistischen Weltliteratur ist ein geteilter Raum: geteilt in Räume verschiedener Klassen und politischer Systeme, deren Grenzen nicht einfach überquert werden können. Damit ist die in diesem Buch begonnene Rekonstruktion der internationalistischen Weltliteratur der Zwischenkriegszeit nicht nur aus literaturgeschichtlichen und literaturtheoretischen Gründen wichtig.Wie sich mit Bezug auf Pheng Cheahs Frage danach, welche weltliterarischen Texte uns welche Formen von Welt erschließen lassen,³⁶ sagen lässt, erlaubt die Auseinandersetzung mit internationalistischer Weltliteratur es uns auch, Welten vorzustellen, für die es in der derzeit boomenden wissenschaftlichen und populären Literatur zu literarischer Globalisierung und Weltliteratur kaum einen Platz gibt.
Vgl. z. B. Alan Badiou: Greece and the Reinvention of Politics. Übers. v. David Broder. London/ Brooklyn 2018, S. 63 – 66. Mufti: Forget English, S. 5. Hervorhebung im Original. Cheah: What is a World, S. 36.
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Namensregister Adorno, Theodor W. 106 – 108, 121, 123 Alexander, Gertrud 32, 58 Allan, Michael 237 American Fund for Public Service 87 Anderson, Benedict 48, 83 f., 144 Anderson, Perry 5 Bachtin, Michail M. 21 Balk, Theodor 88 Balzac, Honoré de 79 f. Barbaro, Francesco 43 Barbusse, Henri 4, 60, 184, 197 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 197 Becher, Johannes R. 23, 80, 89 f., 96, 184, 234 Becker, Sabina 28 Benjamin, Walter 106, 136, 168 – 170 Biha, Otto 88 Bivens, Hunter 167, 235 Bloch, Ernst 25, 157 – 159, 164 Blok, Alexander 60 Blome, Eva 21 f. Boccaccio, Giovanni 79 Bock, Sigrid 150 Bogdanov, Alexander 57, 59, 63 Booth, Charles 204 f. Booth, William 205 Bourdieu, Pierre 42 BPRS (Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller) 23, 33, 37 f., 76, 80, 85 – 89, 94, 141, 192, 213 Brecht, Bertolt 106, 151, 167, 184, 230 Bredel, Willi 27, 184 Bronner, Stephen Eric 129, 147 Brooker, Peter 86 Bryant, Louise 115 Buescu, Helena Carvalhão 44 Bulson, Eric 86, 101 f. Bürger, Peter 107, 122 Casanova, Pascale 101 f., 240
Céline, Louis-Ferdinand 104 Chaplin, Charlie 190 Cheah, Pheng 234, 239, 242 Clark, Katerina 3, 103 Damrosch, David 15, 42, 62 f., 79, 183 Debray, Régis 3 Dickens, Charles 197, 228 f. Diderot, Denis 197 f. Döblin, Alfred 89, 147 – 150, 152 f. Dorochow, Pawel 69 f. Dos Passos, John 57, 60, 80, 99, 147 – 150, 152 f. Ehrenburg, Ilja 68, 79 Eiden-Offe, Patrick 21 f. Eisenstein, Sergei 147 f. Engels, Friedrich 3 f., 41, 55 f., 60, 82, 103, 179, 188, 196, 206 Fähnders, Walter 60, 115 f., 120, 127 Fehervary, Helen 134, 140 Fore, Devin 117 Forster, Georg 195, 197 France, Anatolle 60 Fraser, Nancy 18, 48 – 50, 52 Fudimori, Szejikiti 94 Fumaroli, Marc 43 Garland, Charles 87 Gladkow, Fjodor 80, 153, 197 Goethe, Johann Wolfgang v. 15, 40 f., 79, 190 f., 239 Gold, Michael 81, 84, 87, 92, 99 f., 184 – 186, 203 Goldschmidt, Alfons 66 f. Gorki, Maxim 5, 77, 81, 197 Goßens, Peter 11, 15 Graf, Oskar Maria 57, 94, 186 Groß, Otto 61 Grünberg, Karl 208, 210
35, 40 – 46, 64, 69,
https://doi.org/10.1515/9783110668087-009
Habermas, Jürgen
48 f.
Namensregister
Hartsock, John C. 193 Harvey, David 223 Hauptmann, Gerhart 92 f. Heartfield, John 59 Heller, Otto 186 Hermann-Neiße, Max 60, 75 Herzfelde, Wieland 57 Hofmann, Fritz 194 Hofmannsthal, Hugo v. 133 Holitscher, Arthur 197 Internationales Büro für Revolutionäre Literatur 87 IVRS (Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller) 1, 10, 88, 93, 97 f., 102 f., 141, 185, 201 IWW (Industrial Workers of the World) 115 – 117, 220 John Reed Club 10, 88, 92 Jones, Mary Harris 117 Joyce, James 104, 148 – 150 Jung, Cläre 55, 60, 66, 75 Jung, Franz 1, 7 f., 20, 24, 28 f., 31, 33, 35 – 40, 51, 53 – 57, 60 – 75, 78 f., 81 f., 89 f., 94 f., 98, 100, 102 – 105, 108 – 136, 139, 141 – 143, 146, 149, 151, 162, 176, 177, 179 f., 185 f., 188 f., 197 – 199, 218, 226, 233 f., 240 f. Kai-shek, Chiang 134 KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschland) 58, 61, 123, 128, 130 Kiesel, Helmuth 28 Kisch, Egon Erwin 1, 7, 24 f., 28 – 31, 36 – 39, 53, 74, 77, 84, 94, 104, 177 – 234, 239 Kläber, Kurt 23, 80, 184, 210, 234 Kluge, Alexander 18, 50, 52, 63, 241 Kollontai, Alexandra 79 f. Kolzow, Michail 197 Kommunistische Internationale 5 – 7, 9, 11, 19 f., 25 f., 30, 57 – 59, 61 f., 67, 72, 87, 233, 235, 240 Koschorke, Albrecht 29, 207 f., 230, 232 Koselleck, Reinhart 239
255
KPD (Kommunistische Partei Deutschland) 8, 19, 25, 32, 51 f., 57 – 59, 61, 67, 80, 87, 123, 141, 145, 156, 192 KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) 6 Kracauer, Siegfried 149, 156, 205, 220 Kreug, Schü 146 Krishnan, Sanjay 216 Larkin, Jim 118 Le Bon, Gustave 161 League of American Writers 201 Lenin, Vladimir I. 57, 80, 142, 199 Leroux, Pierre 3 Li, Weijia 142, 145 London, Jack 1, 8, 24, 27, 35, 40, 61 f., 64 f., 67 – 75, 131, 189 f., 192, 197 – 199, 213 Londres, Albert 197, 203 Lukács, Georg 26 f., 140, 151 – 153 Magnus, Erwin 73 Majakowski, Wladimir 68 – 70 Mani, B. Venkat 16, 18 Mannheim, Karl 140 Marchwitza, Hans 88, 95 Märten, Lu 68 Marx, Karl 3, 41, 55 f., 60, 82, 103, 108 f., 188 May, Karl 213 Mayhew, Henry 204 f. McBride, Patrizia 107 f. Mehring, Franz 32, 58 Meyenburg, Anna 80 Minor, Robert 115 Moretti, Franco 35, 40 – 42, 45 – 48, 102 Mufti, Aamir R. 16, 33, 225, 237 Mühlen, Hermynia zur 60 Mühsam, Erich 61 Negt, Oskar 18, 50, 52, 63, 241 Neukrantz, Klaus 72, 88, 95, 176, 208 North, Joseph (geb. Alexander Trachtenberg) 201 – 203 Ottwalt, Ernst Paquet, Alfons
27 197
256
Namensregister
Perera, Sonali 125 Petersen, Jan 234 Pfemfert, Franz 59 Pirandello, Luigi 80 Piscator, Erwin 59 Plinius der Jüngere 197 Pohl, Gerhart 77 – 79 Poore, Carole 206 Qian, Xiao
201
Rabelais, Francois 60, 79 Radványi, Lászlo 136 Rector, Martin 60, 116, 120, 127 Reed, John 80, 192, 195, 197 – 199, 203 Reisner, Larissa 80, 197 Renn, Ludwig 88 Rogers, John C. 95 Romero, Christiane Zehl 141 Rosa, Hartmut 20 Said, Edward 138, 140 Schiller, Friedrich 80 Schmitz-Emans, Monika 11 Schönstedt, Walter 176 Schüller, Hermann 59 Seghers, Anna 1, 7 f., 20, 24 f., 28 f., 33, 36 – 39, 53, 80, 94, 104 f., 108 – 111, 129,
134 – 176, 179 f., 184 f., 188, 218, 226, 233 f., 239 – 241 Sinclair, Upton 57, 60, 74, 99, 187, 190, 197, 209 Spivak, Gayatri C. 237 Spivak, John Louis 197, 203 Stalin, Josef 5, 235 Stanley, Henry M. 197 Stockhammer, Robert 231 Sturz, Helferich Peter 197 Thacker, Andrew 86 Tokunaga, Sunao 8 Traven, B. 65 f., 127 Tretjakow, Sergej 80, 104, 184, 186, 192, 197 Trotzki, Leo 57 Voltaire
197
Warner, Michael 18, 48 – 50 Weinberg, Manfred 21 f. Young, Robert J. C.
109
Žmegač, Viktor 107 Zola, Émile 8, 55, 60, 79 f., 195, 197 f., 202
Verlags- und Zeitschriftenregister Arbeiter-Illustrierte-Zeitung 59 Arbeiter-Literatur 1, 33, 67 – 71, 80 f., 94, 101
Magazin für Alle 8, 76 Malik-Verlag 9, 57, 59 – 61 Moskauer Rundschau 202
Berliner Arbeiter-Buchvertrieb F. Jung Blätter für Alle 76 Büchergilde Gutenberg 83
Neue Bücherschau 60, 74, 192 New Masses 1, 10 f., 35, 53 f., 81 f., 85 – 90, 92 – 102, 101 f., 115, 184
Clarté
66
Proletarier
4
Daily Worker 189 Der Gegner 59 Der Sturm 61 Die Aktion 59 – 61, 75, 116 Die Linkskurve 1, 8 f., 23 f., 26, 31, 33, 35, 40, 51, 53 f., 82, 85 – 98, 101, 141, 160, 234 Die Rote Fahne 8, 58, 61, 74, 92 Dies und Das 76 Erich Reiss Verlag
184
Hamburger Volkszeitung
189
60
Räte-Zeitung 60 f., 116 Rote Jugend 61 Senki 1, 90 f., 93 f., 200 Simplicissimus 86 Sowjet-Russland im Bild 59 The Dial 86 The Liberator
115 f., 188 f.
UBFA (Universum-Bücherei für Alle) 1, 7 f., 54, 57, 67, 69, 75 – 85, 89 f., 94 – 96, 177, 181 – 185, 192 f., 197, 234
International Publishers 88, 95, 201 Internationale Literatur 97, 103 f., 151, 184 – 187, 191, 193
Verlag für Literatur und Politik 9 Verlag Rudolf Kaemmerer 194 Volksverband der Bücherfreunde 83
Kommunistische Arbeiter-Zeitung 61, 116 Kommunistische Montags-Zeitung 116
Welt am Abend Worker 114
Leipziger Volkszeitung 74 Literatur der Weltrevolution
96 f., 103
https://doi.org/10.1515/9783110668087-010
8, 83